Projekt Stadt: Eine Geschichte der Urbanität 9783035607093

Die Entwicklung der Stadt Was macht Städte so attraktiv und warum sind Fragen der Urbanität heute so spannend? Es geht

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German Pages 448 Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Von der Antike zur Neuzeit
Athen. Die hellenische Entdeckung des Urbanen
Rom. Urbanität der Antike im Großen
Die „Civitas Dei“ der mittelalterlichen Stadt
Die Renaissancestadt. Kriegsmaschine und Humanismus
Die Barockstadt. Aufbruch ins Unendliche
Die Romantik. Der städtische Antiraum bricht herein
Revolutionsraum
Protestantischer Raum. Genese. Bewusstsein und Raum
Die Stadt im 19. Jahrhundert
Sphärenwechsel
Die Geburt der Stadt des 19. Jahrhunderts aus dem Geist des Bergwerks
Paris. Die Poetik des anthropologischen Ortes
Weder Innen noch Außen. Die Passage
Die Passage als Chronotopos
Transformationen der Öffentlichkeit
Öffentlicher Raum
Warenöffentlichkeit durch Emotional Design
Der Flaneur. I. Stadtforscher avant le temps
Der Flaneur. II. Frühe Stadtsüchtige
Der Flaneur. III. Der ennui. Das Leiden des Flaneurs
Vom kollektiven Gedächtnis zum Kunstcontainer. Anmerkungen zu einer Kunstgeschichte des öffentlichen Raumes
Utopie
Der Einbruch der Zeit in die Stadt. Von der urbs zur civitas
Ursprung Apolitik. Von der Makroutopie bis zur Immanenz
Die amerikanische Utopie des Protestantismus
Die Natur als Quelle der Utopie
Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis
Moderne
Die Ermächtigung des Künstlers zum Interpreten des urbanen Raumes
Modernismus von unten
Modernismus und der Kampf um Anerkennung
Der neue Eros des öffentlichen Raumes
Die Temporalisierung des öffentlichen Raumes
Raum-Zeitkontraktionen
Fordismus als Paternalismus und Urbanismus
Fordismus als ökonomischer Aufstieg und kulturelle Krise
New York
Die urbane Mobilmachung 1920–1960. Selbststeigerung. Horizontale und vertikale Kinetik
Robert Moses und die fordistische Intervention
Jane Jacobs. Die Urbanistin mit dem ungebührlichen Verhalten
Postmoderne
Stadt und Angst. Urbane Form und „Maximal-Stress-Cooperation“
Stadt und Angst. Die Geburt der Edge City. Pioniere aus dem Post-Riot-Stress
Stadt und Angst. Californian Urban Dreams and Nightmares. Simulacra, Schizophrenie, Psychasthenie
Die Generic City. Okzidentale Identifikationsprobleme oder Taoistischer Vitalismus
Vorboten der Postmoderne
Vorboten der Postmoderne. Michel Foucaults „Andere Räume“
Die Stadt als Archipel der Kapseln
Die Stadt als Archipel der Kapseln. Kapsel und heterotopischer Urbanismus
Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung?
Ausgewählte Literatur
Bildnachweise
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Projekt Stadt: Eine Geschichte der  Urbanität
 9783035607093

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Projekt Stadt

Manfred Russo

Projekt Stadt Eine Geschichte der Urbanität

Birkhäuser Basel

6 Einleitung 13 Von der Antike zur Neuzeit

15 21 27 33 39 45 53 61

Athen. Die hellenische Entdeckung des Urbanen Rom. Urbanität der Antike im Großen Die „Civitas Dei“ der mittelalterlichen Stadt Die Renaissancestadt. Kriegsmaschine und Humanismus Die Barockstadt. Aufbruch ins Unendliche Die Romantik. Der städtische Antiraum bricht herein Revolutionsraum Protestantischer Raum. Genese. Bewusstsein und Raum

67 Die Stadt im 19. Jahrhundert

69 79 87 97 105

Sphärenwechsel Die Geburt der Stadt des 19. Jahrhunderts aus dem Geist des Bergwerks Paris. Die Poetik des anthropologischen Ortes Weder Innen noch Außen. Die Passage Die Passage als Chronotopos

115

Transformationen der Öffentlichkeit 117 127 137 149 157 165

Öffentlicher Raum Warenöffentlichkeit durch Emotional Design Der Flaneur. I . Stadtforscher avant le temps Der Flaneur. II . Frühe Stadtsüchtige Der Flaneur. III . Der ennui. Das Leiden des Flaneurs Vom kollektiven Gedächtnis zum Kunstcontainer. Anmerkungen zu einer Kunstgeschichte des öffentlichen Raumes

175

Utopie 177 Der Einbruch der Zeit in die Stadt. Von der urbs zur civitas 187 Ursprung Apolitik. Von der Makroutopie bis zur Immanenz 197 Die amerikanische Utopie des Protestantismus 205 Die Natur als Quelle der Utopie 215 Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis

229 Moderne

231 241 249 261 271 283 291 305

Die Ermächtigung des Künstlers zum Interpreten des urbanen Raumes Modernismus von unten Modernismus und der Kampf um Anerkennung Der neue Eros des öffentlichen Raumes Die Temporalisierung des öffentlichen Raumes Raum-Zeitkontraktionen Fordismus als Paternalismus und Urbanismus Fordismus als ökonomischer Aufstieg und kulturelle Krise

315 New York

317

Die urbane Mobilmachung 1920–1960. Selbststeigerung. Horizontale und vertikale Kinetik 327 Robert Moses und die fordistische Intervention 355 Jane Jacobs. Die Urbanistin mit dem ungebührlichen Verhalten 347 Postmoderne

349 359 367 377 387 399 407 417 423

Stadt und Angst. Urbane Form und „Maximal-Stress-Cooperation“ Stadt und Angst. Die Geburt der Edge City. Pioniere aus dem Post-Riot-Stress Stadt und Angst. Californian Urban Dreams and Nightmares. Simulacra, Schizophrenie, Psychasthenie Die Generic City. Okzidentale Identifikationsprobleme oder Taoistischer Vitalismus Vorboten der Postmoderne Vorboten der Postmoderne. Michel Foucaults „Andere Räume“ Die Stadt als Archipel der Kapseln Die Stadt als Archipel der Kapseln. Kapsel und heterotopischer Urbanismus Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung?

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Ausgewählte Literatur 443

Bildnachweise

Einleitung Urbanität – dieser Begriff erfreut sich großer Beliebtheit und ist Gegenstand zahlrei­ cher Diskussionen, zumal er immer mehr auch als ein Ziel städtischer Entwicklung und Politik betrachtet wird. Freilich gibt es keine Übereinstimmung darüber, was man unter Urbanität zu verstehen habe, und es wird schnell klar, dass man es hier mit einem Phänomen zu tun hat, das sich unterschiedlichster Deutungen erfreut.1 Ei­ nige Stoßrichtungen sind aber erkennbar. Nach moderner, weitverbreiteter soziolo­ gischer Ansicht wird Urbanität als eine Lebensart mit einer bestimmten Geisteshal­ tung bezeichnet, die eine zivile Kultur hervorbringt und damit die Bedingungen zur Akzeptanz einer Vielfalt sozialer und ethnischer Lebensformen und Milieus schafft. Aus dieser inspirierten Sicht wird unter Urbanität zumeist eine Form des Zulassens der Differenz verstanden, die die Großstadt durch ihre Überraschungen und Provoka­ tionen des Andersseins bietet. Eine solche Vorstellung wurde vor über einem Jahrhun­ dert durch das Werk Georg Simmels und der Stadtsoziologen von Chicago geprägt und kann auch heute noch Gültigkeit beanspruchen. Dieses Bild von Urbanität wurde bei Richard Sennett und Jürgen Habermas durch den im 18. Jahrhundert entstandenen Typus des metropolitanen Bürgers ergänzt, der über eine nach außen gewandte Le­ bensweise verfügt, die er im öffentlichen Raum der Stadt, in den Cafes, Theatern, Parks und Salons unter Beweis stellt. Dieser Bürger ist expressiv, diskutiert die Angelegen­ heiten der Stadt, weil er es als zivile Aufgabe sieht, sich um deren Belange zu kümmern, und er sich gerne im öffentlichen Raum aufhält. Neben den kulturellen Qualitäten einer zivilen und liberalen Lebensweise, die das Fremde akzeptieren kann, kommt nun auch ein Sinn für städtische Atmosphäre auf, die den morphologischen Qualitäten der Stadt zunehmende Bedeutung beimisst. Diese modernen Versionen mit Ausnahme Sennetts können jedoch nur ein be­ schränktes Spektrum der Urbanitätsvorstellungen beschreiben, da sie eine überwie­ gend soziologisch normative Prägung aufweisen. Es fehlen noch zahlreiche Vorstellun­ gen, die für ein Wissen um die Stadt und des sich darin ereignenden Lebens wichtig sind. Es fehlt der umfassende Blick auf den Raum und auf die morphologischen Ver­ hältnisse der Stadt, auf die Stadtplanung und die Architektur, vor allem aber auf die Ideen und Motive, die den Handlungen in einer Stadt zugrunde liegen und die ihr We­ sen bestimmen. Zugleich gibt es aber auch eine enorme Fülle an städtischen Phäno­ menen, die in ihrer Vielfältigkeit nicht leicht einzuordnen sind. Daher halten wir uns mit Richard Sennett an eine wesentlich ältere Version der Ur­ banität, die bereits in der Genese des Wortes „Urbanität“ enthalten ist, das von Isidor von Sevilla in besonderer Weise geprägt wurde. Er sprach von einer aus wirklichen Steinen erbauten Stadt, wohl in Kontrastierung zur immateriellen Civitas Dei des Au­ gustinus, der Gottesstadt, die transzendental verortet war und eine christliche Form der platonischen Stadt darstellte. Er unterschied urbs als die Steine der Stadt, die die schützende Funktion des Steines bezeichnen, und civitas als die Gemeinde und zu­ gleich die Rituale und Anschauungen, die sich in der Stadt entwickeln. Damit hat er den Rahmen für eine allgemeine Version von Urbanität abgesteckt, dem zufolge man von zwei Formen des urbanen Raumes sprechen kann, dem gebauten Raum als dem Stadtraum der Gebäude, Plätze, Straßen und Wege und dem sozialen Raum, den die 6

Menschen durch ihre Beziehungen wie ein unsichtbares Netz über dieses städtische Gebilde werfen. Man kann diesen Gedanken auch in der Gegenwart fortsetzen. Die Stadt beherbergt die Menschen nicht nur auf die Art, wie der kantische Raum die Din­ ge beherbergt: gleichzeitig, aber im Modus gegenseitiger Ausschließung, sondern in

dung beschreiben, das dieser kommunikativen Situation entspricht, aber eine eben­ so morphologische Dimension aufweist, die sich in den Formen der Stadt ausdrückt. Urbane Situationen sind Sphären eigenen Typs, sie können auf Mustern langer Tradi­ tionen beruhen, und sich, wie es heute zunehmend der Fall ist, in Mikrosphären mit ständig neuer Musterbildung auflösen. Wenn man ein tieferes Verständnis für das Wesen der Stadt und die Bedingungen von Urbanität gewinnen möchte, ist es wichtig, im Sinne Peter Sloterdijks zu verstehen, dass es sich bei der antiken Stadt im Grunde um ein verräumlichtes Immunsystem, in der Sprache der Psychologie: um ein sozial­uterotechnisches Konstrukt handelte. Da­ her war die Einschwörung auf gemeinsame Symbole durch Rituale ebenso wichtig wie die Befestigungsanlagen, wenn nicht gar der Vorrang der religoiden Funktion der Stadtmauern noch vor ihrer militärstrategischen zu sehen ist. Daran erinnert Alberti in seinem 7. Buch de re aedificatoria, wenn er die Gründungsrituale der Alten beschreibt, die sich mit der Weihe der Stadtmauern unter den Schutz einer Gottheit begeben. Die­ se Gründungsrituale zum Schutze einer Stadtperipherie, der Mauern, konnten aber nur deshalb einen Sinn haben, weil es in der Mitte der Stadt ein sakrales Zentrum gab, das bereits in den mesopotamischen Städten durch einen Kultkönig begründet war, der die magische Kraft in seiner Mitte bündelte und sie nach außen sandte. Obwohl die Ein­ wohner dieser Städte den König kaum zu Gesicht bekamen, wussten sie um die heilige Kraft in ihrem Zentrum, die sie schützte. Erst mit der Ausdehnung der Städte konnten die zentrifugalen Kräfte überhand nehmen, und man versicherte sich an der Peripherie der Mauer durch spezifische Rituale der innerstädtischen Immunsphäre. Es handelte sich also bei den städtischen Ritualen um eine zweifache Geste, einer­ seits eine von der Mitte ausgehende, die inspirierte, andrerseits eine zweite, die Peri­ pherie sichernde, die defensiv agierte. Damit wurde der Stadtraum formatiert und zu einer Sphäre gestaltet, innerhalb derer sich die Anfänge der Urbanität entwickeln konnten: als ein von Stadtgottheiten inspiriertes kulturelles Handeln. Die Stadt hatte den Charakter einer Monosphäre, deren heilige Mitte eine Form von Positivität schaff­ te, die der allgemeinen metaphysischen Beschaffenheit der Welt entsprach; sie war Ab­ bild eines Kosmos im Kleinen, ein holistisches Konstrukt, in der Urbanität im moder­ nen Sinn keine Notwendigkeit beanspruchte, weil der moderne Individualismus noch nicht Einzug gehalten hatte Diese seit der Antike bestehende Praxis wurde in der christlichen Stadt beibehal­ ten, wenngleich nun das heilige Zentrum der Stadt durch die Kirche oder Kathedrale beseelt wurde, deren Sakralität durch göttliche Macht gesichert war; der Umgang in Prozessionen war streng geübter Brauch und ist bis heute zu beobachten. Der Feudalis­ mus bediente sich der engen Kooperation mit der Kirche, um in diesem Zentrum auch einen König zu positionieren, der nun dank Verbindung mit dem Heiligen ebenfalls die

Einleitung

der Weise eines psycho­ und soziosphärischen Raumes. Die Anwesenden werden nun selbst raumbildend: „Sie sind ineinander verschränkt und sie bilden im Modus gegen­ seitiger Beherbergung und reziproker Erwartung einen psychosozialen Ort eigenen Typs.“ 2 Daher möchte ich Urbanität als jenes Phänomen der städtischen Sphärenbil­

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Kraft und die Ermächtigung zur magischen Emanation erhielt. Die zentripetale Strahl­ kraft reichte nun weiter als die Stadtmauern und sollte das ganze Land durchdringen. Die morphologischen Auswirkungen auf die Stadtgestalt liegen noch heute vor: in der Form der Stadtzentren, Kathedralen und Königspaläste und der um sie herum gewach­ senen Stadt vom Mittelalter bis zum Barock; ohne Verständnis für deren immunolo­ gisch inspirierte Genese wäre ein Begriff von Urbanität und Stadtform doch sehr ver­ kürzt. Erst vor dem Hintergrund dieser Immunqualitäten der Stadt konnte sich ein zivilisatorisches Projekt entwickeln, das im 18. Jahrhundert einerseits an die Polis des antiken Griechenlandes anschloss, andrerseits aber neue Formen der Öffentlichkeit hervorbrachte, die wesentliche Entwicklungen der kommenden Moderne initiierten. In diesem Zusammenhang veränderten sich die Repräsentationen, die alte kosmo­ logische Ordnung der Stadt löste sich auf, und es kam zu einer Umformatierung des Raumes, den man mit Sennett als protestantischen Raum bezeichnen könnte. Im Pro­ testantismus übernahm nun die Natur die neue Rolle einer Quelle des Guten, die den Menschen damit nicht mehr als ein von Gott geschaffenes, kosmologisches Geschöpf betrachtete, sondern ihn als Naturwesen interpretierte, das durch diese neu entdeck­ te Verbindung mit der Natur wieder zu seinen ureigenen Wurzeln zurückfindet. Daher wird auch das Denken über die Stadt immer mehr durch die Prämissen einer Raum­ vorstellung gesteuert, deren Ursprünge auf vielfache Weise durch die Natur begründet werden, um diese glückliche Einheit zwischen Mensch und Natur wiederherzustellen. Die einfachste Annahme besteht darin, dass nur durch ein Eindringen der Natur als Park oder Garten in die Stadt diese gerettet werden könne. So etwa drückt sich das Denken der französischen Revolution im Gefolge Rousseaus aus. Weitreichender wa­ ren aber die Konsequenzen, die durch neue Überlegungen zur Natur des Menschen an­ gestellt wurden. Denn durch deren Erkenntnis könne man – so das Denken der Auf­ klärung – auch das nötige Wissen für das entdecken, was den Menschen notwendig ist. Hier aber kamen immer neue Varianten der wahren menschlichen Natur in Umlauf, sodass sich kaum Gewissheit darüber einzustellen vermochte. Insofern war es nahe­ liegend, dass die protestantische Interpretation, den Weg zu Gott nur über das Inne­ re, das heißt durch die Natur des Menschen, zu finden, nicht nur Vorbereitung für den Individualismus der Moderne, sondern auch für den neutralen Raum darstellte, der dem Bedürfnis nach Kontrolle und Rationalisierung entsprach und der das Gitter, the grid, der amerikanischen Großstadt hervorbrachte. Es gab aber auch eine Gegenbewegung. Durch die Romantik kam es paradoxerwei­ se zu einer Wiederverzauberung der Stadt, indem die Anthropologie des Raumes neu entdeckt und die alten Zonen der Mitte und der Grenze, der Übergangsbereiche der Stadt und ihrer unergründlichen Tiefen Thema der literarischen Betrachtung wurden. Freilich handelte es sich um eine Mischung aus weißer und schwarzer Zauberei. Die neuen Interpretationen zielten eher auf die Schattenseiten dieser Zonen ab und brach­ ten sie mit der dunklen Seite der menschlichen Natur in Verbindung. Die ästhetische Formel dieser Betrachtung ist häufig unter dem Begriff des Erhabenen einzuordnen, in der Schönheit und Schrecken eine Verbindung eingehen, eine Kombination, die eben­ falls für die Moderne bestimmend wird. Damit wurde der Vorstellung von Urbanität eine völlig neue Dimension eingefügt, indem die Stadt als ein Raum der Verlorenheit des Einzelnen, der Abgründigkeit der menschlichen Natur, der Faszination des Ver­ brechens, kurz als ein Raum des ästhetischen Unglücks dargestellt wurde. Die Stadt 8

mogenen Raum durch den Kapitalismus wieder eine Suche nach den alten Raumprin­ zipien mit ihren bergenden Vermögen auf. Hier ist das großartige Passagenwerk von Walter Benjamin zu nennen, der den Übergangscharakter des urbanen Raumes nach den Passageriten zu deuten suchte, indem er vor allem dem Chronotopos, dem Erinne­ rungsort, eine besondere Stellung einräumte. Damit verlieh er der Stadt eine vorran­ gige Rolle in der Herausbildung der Identität ihres Bewohners, der seine Erinnerungen durch urbane Spuren geringster Materialität speichert, um sie an diesen Orten wieder abrufen zu können. Als Vorbild gilt ihm Charles Baudelaire, dem in der Beschreibung der Bewusstseinslage des Flaneurs und seines Ennuis ein philosophisches Denkmal gesetzt wird. Vor allem wird hier der urbane Raum zu einer Schnittstelle zwischen dem individuellen und kollektiven Gedächtnis, indem der Einzelne in einem größeren Gan­ zen aufgehoben ist, das durch die Aufbewahrung der ephemeren Erinnerung eine Rolle als Identität schützende Sphäre spielen kann. In gewisser Weise geht diese Vorstellung noch darüber hinaus, indem sogar das Nicht­Identische im urbanen Sein der Stadt auf­ gehoben ist. Ein Gutteil moderner Urbanität ist durch die Suche nach dem Nichtiden­ tischen, dem Anderen geprägt. In der Tradition erschien diese Idee zumeist in Gestalt der Utopie, der Suche nach dem nicht existenten Ort; in der Moderne wurde sie durch die Suche nach der Heterotopie abgelöst. Der Einbruch utopischer Gedanken in die Stadt beruhte zumeist auf defizitären sozialen Entwicklungen der urbs und hatte im Wesentlichen von der Antike bis ins mittlere 20. Jahrhundert immer die Bildung einer Gemeinschaft zum Ziel, einer neuen civitas, die das Ideal der Stadt in Form einer konkreten Sozialordnung sehnsüchtig vorstellte und träumte. Den protestantischen Sekten, die sich nach Amerika geflüch­ tet hatten, bot sich nun die Gelegenheit ihre Freiheit im neuen gelobten Land zu reali­ sieren und damit auch ihren utopischen Vorstellungen einer Gemeinschaft Gestalt zu verleihen. Das bedeutete auch die Verwendung bestimmter urbaner und architektoni­ scher Muster, die den religiösen Vorstellungen in der Gestaltung einer Stadt Ausdruck verleihen sollten. Daher hat der Funktionalismus seinen Ursprung im protestantischen, vor allem im puritanischen Rationalismus, der im Geiste der Askese jeden Schmuck als Überflüssigkeit und Abweichung vom Prinzip des reinen zielgerichteten Handelns ver­ urteilen muss. Diese Kombination aus Funktionalismus und Utopie wurde interessan­ terweise zur leitenden Idee des Urbanismus und fand damit Eingang in den Diskurs der Urbanität, allerdings unter kritischem Vorbehalt. Ähnlich verhält es sich mit den Ide­ en der marxistischen Urbanistik. Denn die Utopie liegt als eine Form eschatologischer Erwartung im Wesen der menschlichen Natur und meint mehr als eine Tendenz zur Öffnung im Sinne der Erwartung neuer Möglichkeiten, sie bedeutet immer eine An­ tizipation des Erhofften und damit eine, wenn auch nur momenthafte, Gegenwärtig­ keit dessen, was als Prolepsis, eine Vorwegnahme künftigen Glücks bezeichnet wird. Diese Motivstruktur des virtuellen Möglichkeitsraumes charakterisiert in der Post­ moderne den Urbanitätsdiskurs, insbesondere im Sinne der Erwartungen, die im städ­

Einleitung

wurde so zum Ort, wo die Moral wenig Geltung hat und wo die Ordnung der Gesell­ schaft ständiger Bedrohung unterliegt. Da sich nun auch eine zunehmende Verknüp­ fung bestimmter Zonen mit spezifischen Bevölkerungsschichten herauskristallisierte, wurde die soziale Stadt entdeckt und mit ihr die Empathie mit den Armen und Unter­ privilegierten. Im 19. Jahrhundert kam insbesondere durch die Umwandlung der Stadt in einen ho­

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tischen Raum gedeihen und deren Realisierung heftig diskutiert wird. In der Postmo­ derne dehnt sich die psychosoziale Sphäre der Urbanität in merkwürdigem Maße aus, indem sie die Heterotopie als einen speziellen Typus des Möglichen thematisiert und realisiert. Der moderne Narzissmus bevorzugt jene Momente, die eine Vereinigung mit dem Ideal­Ich zulassen (Lacan), indem sie, wie im Spiegel, einen Blick auf sich selbst aus der Position des Anderen ermöglichen. Die Heterotopie eignet sich in besonderer Weise zur vermeintlichen Erfüllung dieses Wunsches, denn sie vereint Wirkliches und Unwirkliches, handelt es sich doch um jenen Raum, der den Glauben ermöglicht, mich mit dem Anderen, dem idealisierten Bild meiner selbst zu vereinigen. Der urbanistische Zusammenhang zu den anderen Räumen, zur Heterotopie, wird durch die Theorie der Verkapselung hergestellt. Der japanische Architekt Kisho Kuro­ kawa behauptete schon 1969, dass es nur mehr temporäre Formen der Gesellschaft gibt, die in den Kapseln provisorische, ständig wechselnde Zusammenballungen er­ zeugen. Für den Urbanisten Lieven de Cauter stellt die Kapsel als technisches Element der Architektur die Ergänzung zur soziologisch, anthropologischen Dimension der Heterotopie dar: Die Kapsel ist der autogene Behälter, der die entsprechenden Voraus­ setzungen der Immunität liefert und Verwöhnung verspricht. Sie kreiert ein künst­ liches Ambiente, das die Kommunikation mit dem Außen reduziert und ihr eigenes Raum­Zeit­Milieu erzeugt. Dazu zählen neben den Verkehrsmitteln als realen Kap­ seln auch die virtuellen Kapseln wie Bildschirme und Mobiltelefone; diese Mikrokap­ seln werden durch die Makrokapseln der eingezäunten und umschlossenen Gebäude kontrastiert. Diese sind: der Flughafen, die Shopping­Mall, der Themenpark, die Gated Community, die Kollektoren. Wenn es nach De Cauter stimmt, dass die Heterotopie zur Norm der kapsulären Ge­ sellschaft wird, dann vollzieht sich eine grundlegende Transformation ihrer Bedeutung. Während sie von der Tradition her immer als ein Raum der Ausnahme galt, der dem normalen Alltagsraum gegenübersteht, entwickelt sie sich nun zum standardisierten städtischen Typus. Damit droht dem öffentlichen Raum die Existenz eines Restraumes, der im Netzwerk der heterotopischen und kapsulären Knoten übrig bleibt. Aus der Per­ spektive der Urbanität steht nun der öffentliche Raum, der als Ort der Verhandlung öffentlicher Angelegenheiten wie auch der zivilen Expressivität dient, als ein schrump­ fender Raum dem wachsenden Illusionsraum der Heterotopie gegenüber, der von seiner Anlage her auf das Andere abzielt und so die narzisstischen Erwartungen stärkt. Doch umgekehrt kann das Nicht­Identische auch Angst erzeugen. Urbanität kann in Nichturbanität umschlagen, wenn das Immunkonzept der Stadt durch wachsenden Stress in Bedrängnis gerät. Die Ausbildung sämtlicher Formen der Urbanität beruhte auf der Voraussetzung einer gewissen Selbstsicherheit, weil man unter den Bedingun­ gen der psychologischen Immunität problemlos mit Fremden umgehen konnte. Mit der zunehmenden Auflösung der gemeinsamen Sinnsphären kommt eine neue Form des Stresses auf, die für die Entwicklung und Bedrohung der gegenwärtigen Urbani­ tät außerordentlich bedeutsam ist. War die Stadt auch der Ausdruck eines Gemein­ sinnes gegenüber dem äußeren Feind, wird nun die Gefahrenquelle nicht mehr klar ausgemacht, durch diffuse Ängste ersetzt und letztlich im Innen vermutet. Im Kern geht es aber vor allem um die Konsequenzen für die Entwicklung der amerikanischen Großstadt, deren Formierung vielfach von stressinduzierten Handlungen geprägt ist; die aktuellen Trends in Europa deuten auf ähnliche Entwicklungen in der Zukunft hin. 10

Der Diskurs über Urbanität versucht die sphärenbildenden Elemente des städti­ schen Raumes zu erfassen; er enthält sowohl die Ideen von der Stadt als auch die sozia­ len Motivstrukturen. Aus beiden resultieren die Handlungen der Stadtbewohner, die jenes unsichtbare symbolische Netz knüpfen, das über der Stadt liegt. Die Morphologie der Stadt wiederum gibt uns ein Abbild der kulturellen, gesellschaftlichen und politi­ schen Struktur und ihrer Geschichte. All dies zusammen, die Ideen, die Handlungen, die Formen ergeben das Material für den Diskurs des Urbanen, der aus der Vergangen­ heit kommt und uns in die Zukunft leiten und unaufhörlich begleiten wird. Die Stadt ist der Ort, der aufgrund spezifischer Voraussetzungen der Immunsphäre die Möglichkeit zur Entwicklung eines zivilisatorischen Projektes entwickelt hat: sie hat sich von der Idee einer lokalen Gemeinschaft zu einer tendenziell universalistisch, globalen Sphäre gewandelt, die jedem offenstehen soll. Das Gelingen dieses welthistorischen Experi­

1 Thomas Wüst, Urbanitat, Ein Mythos und sein Poten­ tial, VS Verlag, Wiesbaden 2004 , Kap 3.2. Der Autor zählt anhand einer Literaturanalyse über 70 unterschiedliche

Definitionen von Urbanität auf. 2 Peter Sloterdijk, Sphä­ ren III , Suhrkamp, Frankfurt/Main 2004 , S. 307.

Einleitung

ments muss sich noch weisen. Der Autor kann nur darüber erzählen, wie das Projekt Stadt bisher verlaufen ist.

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Von der Antike zur Neuzeit Athen. Die hellenische Entdeckung des Urbanen Rom. Urbanität der Antike im Großen Die „Civitas Dei“ der mittelalterlichen Stadt Die Renaissancestadt. Kriegsmaschine und Humanismus Die Barockstadt. Aufbruch ins Unendliche Die Romantik. Der städtische Antiraum bricht herein Revolutionsraum Protestantischer Raum. Genese. Bewusstsein und Raum

Abb. 1: Plan der antiken Agora von Athen (J. Travlos) um ca. 550 vor Chr. Ein Dokument des berühmtesten öffentlichen Raumes der Antike mit der Agora, die seitlich von Säulenhallen, den Stoen, gesäumt wird. Dort bildet sich früh eine Sphäre des öffentlichen Diskurses aus.

Athen. Die hellenische Entdeckung des Urbanen Urbanität ist ein Begriff, der bereits seit Jahren Hochkultur hat. Einer Ausgabe der Wiener Stadtzeitung Falter konnte man etwa vor einigen Jahren eine Definition von Urbanität im Sinne urbaner Handlungen durch eine pointierte Aufzählung von folgen­ den Tätigkeiten im urbanen Raum entnehmen: Shoppen, Sprayen, Spazieren gehen und – in Holland – auch Schweine züchten. Urbitekten planen dort Hochhäuser für die Schweinezucht im Sinne des gestapelten Bauernhofs.1 Angesichts dieser neuen Univer­ salität des Begriffes Urbanität, der hier neben der Aufzählung von Handlungen eines postmodernen Flaneurs zu einer Verschmelzung der Termini des Architekten mit dem der Urbanität führt und zugleich an eine Art von Gebrauchsrecht dieser Berufsgrup­ pe in der Verwendung dieses Begriffes erinnert, liegt hier ein Versuch des Autors zur Klärung des komplexen Sachverhaltes in der Gestalt einer historischen Ableitung vor. Ohne die Bedeutung der Architektur in Abrede stellen zu wollen, handelt es sich bei Ur­ banität im Wesentlichen um ein präarchitektonisches Phänomen, das überhaupt erst die Bedingungen einer Architektur schafft. Erste Station ist das alte Griechenland in der Zeit des fünften vorchristlichen Jahrhunderts. Bei dem Wort „Urbanität“ selbst handelt es sich um einen Begriff, der erst über ein Jahrtausend danach von dem später heilig gesprochenen Isidor von Sevilla geprägt wurde, indem er von einer aus wirklichen Steinen erbauten Stadt sprach. In seinen Etymologiae, also einem Werk über den Ursprung der Wörter 2, führt er das Wort Stadt, City, Cité auf zwei wesentliche Wurzeln zurück. urbs meint die Steine der Stadt, die die schützende Funktion des Steines bezeichnen, civitas bedeutet eher die Rituale und Anschauungen, die sich in der Stadt entwickeln. In moderner Terminologie könnte man urbs als Hardware und civitas als Software bezeichnen. Die Betonung, die Isidor auf urbs legte, beruhte auf dem notwendigen Heroismus, der zur Neuerrichtung einer Stadt im siebenten nachchristlichen Jahrhundert notwendig war. Insofern ist die Ein­ führung dieses Begriffs in Griechenland eine Form methodischer Fiktion zur besseren Veranschaulichung seiner Entwicklung. Nach dem endgültigen Sieg über die Perser befanden sich die Griechen nun an der Schwelle jenes fünften Jahrhunderts, in dem sich der zweite, vielleicht fundamentals­ te Schritt der politischen und sozialen Entwicklung der Menschheit – nach dem der Sesshaftwerdung – vollziehen sollte. Die erste große anthropologische Wende, der Pro­ zess der Sesshaftwerdung, der ca. acht­ bis zehntausend v. Chr. zurückreicht, zeichnet sich neben den äußerlich sichtbaren Stadterrichtungen strukturell vor allem dadurch aus, dass das kooperative Prinzip der nomadischen Gesellschaft durch ein Abstam­ mungs­a priori, also ein Genealogieprinzip abgelöst wurde.3 Diese frühen Städte waren von Verteidigungsgürteln umgeben und schlossen sich um Getreidevorräte und den Schatz.4 Unter den Wohnstätten der Familien, der Priester, Krieger und Handwerker wurden die Toten in Urnen bestattet. Die Abstammungsideologie musste sich auf die Toten berufen, weil deren Existenz die Zugehörigkeit zu den Ahnen bestätigte. Den Ah­ nen gebührte auch die Verehrung der Lebenden, weil nur sie deren soziale Stellung auf Dauer garantieren konnten. Von damals an legte die Abstammung fest, wer mit wem 15

zusammenleben und zusammenarbeiten konnte. Zugleich etablierte sich ein religiöses System, in dem sich der König auf die Abstammung von den Göttern beruft, sein Wil­ le daher stets als göttlicher Wille erlebt wird. Doch mit der notwendigen Präsenz der Toten, und der aus der Praxis der Totenkulte entstandenen Gottesverehrung, zog auch ein neues Element des Unheimlichen ein. Der anwesende Tote erinnerte stets an die Schuld des Lebenden, an seine Verpflichtung den Toten gegenüber, die ja deshalb ge­ storben sind, um ihm das Leben zu ermöglichen. Daraus erwuchs eine starre Verpflich­ tung der sozialen Ordnung gegenüber, die zum Festhalten an der Tradition verpflich­ tete und vorläufig das Aufkommen von Phänomenen des Urbanen unmöglich machte. Die Geburt der griechischen Stadt aus der Ablösung vom Totenkult Den Griechen gelingt es nun als erstem Volk, sich von den monumentalen Totenkul­ ten, die noch die arabische und vor allem die ägyptische Kultur mit ihren kolossalen Pyramidenbauten beherrschten, mental zu lösen und den Mensch in den Mittelpunkt zu stellen, wie die grandiose Entwicklung der Skulptur vom primitiven Grabmal zur glanzvollen Plastik des menschlichen Körpers unter Beweis stellt. Die bisher omniprä­ senten Toten, die man ja als wirklich anwesend dachte und erlebte, werden zurück­ gedrängt aus dem Haus und aus der Stadt entfernt, indem sie auf einem Friedhof außer­ halb der Stadtmauern begraben wurden, um vor ihnen sicher zu sein. Diese räumliche Distanzierung erfolgt auch von den Göttern. Sie erhalten auf der Akropolis eine eigene Wohnstätte, die man zu ihren Ehren errichtet. Aber das doppelbödige Mysterium des Gottes hat sich im neuen Tempel aufgelöst. Der Tempel ist offen, allen zugänglich und kann überall von der Stadt aus gesehen werden. Der Großteil des Tempels besteht nun­ mehr aus einer zugänglichen Säulenhalle, die Cella hingegen, das eigentliche Heilig­ tum, nimmt nur mehr geringeren Raum ein. Auf dem Tympanon und Fries sind die Skulpturen der Götter sichtbar, die durch diese Bildnisse den Öffentlichkeitscharakter verstärken. Wie schon Hegel festgestellt hat 5, werden die Götter den Menschen ähn­ lich. Diese Wende der Götter von „Innen“ nach „Außen“ hat fundamentale Auswir­ kungen auf die Stadt und die Gesellschaft. Sie überträgt sich auf die mentale Organi­ sation der Griechen in der Weise, dass sie Introspektion überhaupt nicht kennen. Das neue Prinzip der Sichtbarkeit, der Gerichtetheit nach außen, formt die Gestalt der Stadt. Einen Schlüssel zum Verständnis bildet der neue Kult des Körpers und der Nackt­ heit 6, der allerdings im Gegensatz zu aktuellen Verhältnissen nur auf die Männer be­ schränkt war. Der berühmte Thukydides berichtete als erster über die Spartaner, die im Kampf im Gegensatz zu den Barbaren, die zumindest auf einer Bedeckung ihrer Genitalien insistierten, nackt waren. Der griechische Historiker ließ keinen Zweifel daran aufkommen, dass es sich dabei um ein Zeichen avancierter Zivilisation handel­ te. Das Bürgerrecht definiert sich in Griechenland auch über die Teilnahme am Krieg. Die Selbstbegründung der griechischen Demokratie beruht auf der Verwerfung der Todesangst. Die Nacktheit bringt diesen Überschwang und Exzess des Kampfes und die Überwindung der Furcht zum Ausdruck, und wird ein Zeichen der Selbstsicherheit. Erst das gemeinsam getragene Todesrisiko im Kampf schafft die Voraussetzung für die gegenseitige Anerkennung als Bürger. Das Bürgerrecht besaßen in Athen jene erwachsenen Männer, die frei geboren wa­ ren, deren Eltern Athener waren und die am Krieg teilnehmen konnten. Schon allein aufgrund der Verpflichtung des Bürgers zur Teilnahme am beinahe jährlichen Krieg, 16

war die soziale Stellung des Mannes dominant. Die Frau war auf das Haus – den oikos –, beschränkt, auf die Sphäre der alltäglichen, reproduktiven Tätigkeiten; damit war sie vom politischen Leben auf der Polis, das dazu in striktem Gegensatz gesehen wur­ de, im Wesentlichen ausgeschlossen. Da der Grieche davon überzeugt war, in seinen männlichen Nachkommen weiterzuleben, nahm die Frau aber auch eine Schlüssel­ position ein, die ihr ein Recht auf gute Behandlung gab. Mit der Situierung der Frau im Haus vergleichbar ist die Stellung der Sklaven, die ebenso der Sphäre des Ökonomischen zugeordnet wurden. Die griechische Gesell­

Stadtplanung aus dem Geiste der überschwänglichen Nacktheit In der Tat besteht ein innerer Zusammenhang zwischen dem expressiven Körperbild der Griechen, der Erfindung neuer Bauwerke und der Art der errichteten Gebäude. Stoa und Gymnasium sind elementare Bautypen, die auf unterschiedliche Weise auf diese Situation der Extrovertiertheit antworten. Es mag für unser modernes Verständnis von Schule merkwürdig sein, wenn man daran erinnert, dass das Wort Gymnasium von gymnoi, splitternackt kommt. Noch sonderbarer mag es scheinen, dass man die Schule als geförderte Stätte der erotischen Knabenliebe auffasste, ja dass die Homoerotik ne­ ben einer normalen Ehe geradezu als Bürgerpflicht galt. Das Gelände des Gymnasiums mit der palaistra, der Stätte, wo die Ringkämpfe stattfanden und dem dromos, der Rennbahn, war ein Trainingscamp für den Erwerb eines schönen Körpers, ebenso ein Ort zur Übung der Redekunst und der Dichtung. Dieses Gelände diente aber auch der Anbahnung von Liebesverhältnissen zwischen eronomos und erastes. Der erastes, der Ältere und Erfahrenere, konnte den Jüngeren beim Sport beobachten und um ihn wer­ ben. Erst aus diesem Bewusstsein des Unter­Beobachtung­Stehens heraus sah sich der Jüngling zu besonderer Leistung angespornt, das homoerotische Verhältnis hatte den pädagogischen Sinn, die paideia, ein guter Bürger zu werden. Dies motivierte Perikles zu seinem berühmten Vergleich, wonach sich der Bürger in der gleichen Weise in die Stadt verlieben sollte, indem er das erotische Wort für Liebhaber, erastai, verwendete. Eine erotische Beziehung meinte bei den Griechen allerdings die Liebe zu einer höhe­ ren Sache, einer Idee, die modernen sexuellen Implikationen wären unmöglich gewe­ sen. Auch in den homoerotischen Beziehungen wäre eine rein sexuelle Ausrichtung, wie sich am Beispiel des geächteten Analverkehrs erkennen lässt, verpönt gewesen. Die Erfindung des Habitus auf der Agora Die Bürger befanden sich auf der Agora in gewisser Weise in würdevollem Einklang mit dem sie umgebenden Raum. Das Bemühen um eine aufrechte Haltung, die durch eine Mischung aus Zielstrebigkeit und Gleichmut gekennzeichnet war, prägte das

Athen. Die hellenische Entdeckung des Urbanen

schaft beruhte, wie damals anderswo auch, in einem starken Maß auf der Arbeit der Sklaven, da der Bürger ein für heute unglaubliches Maß an Zeit in der Polis und den Versammlungsorten verbrachte und eine persönliche Konzentration der Lebenszeit auf Beruf oder Gelderwerb nur soziale Verachtung zur Folge gehabt hätte. Der Grieche lebte für die Ehre und die Hoffnung, in der Nachwelt erinnert zu werden. Viele Skla­ ven (außer in Sparta) dürften daher aufgrund ihrer völligen Unentbehrlichkeit ein ver­ hältnismäßig angenehmes Leben geführt haben, da aus der griechischen Antike kein einziger Sklavenaufstand bekannt ist, der bei der zahlenmäßigen Überlegenheit der Sklaven durchaus Chancen gehabt hätte.

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Körperverhalten auf der Agora. Die Bürger standen in kleineren Gruppen zusammen oder bewegten sich energisch auf ein bestimmtes Ziel zu. Hier wurde der Habitus des Orthogonalen geprägt. Hier konnte sich die Masse in Würde versammeln. Die Stoa, die beherrschende Architektur der Agora, entstammt ebenfalls dem griechischen Geist der Extrovertiertheit und der Freude am Expressiven. Als Randbebauung offener Plätze ermöglichte sie eine Platzgestaltung der ursprünglich rohen und ungeordneten Agora, die den kommunikativen Anforderungen der betont extrovertierten Gesellschaft ent­ sprach. Die Rückseite der Stoa war zugemauert und bildete den Abschluss des Platzes, die Vorderseite bestand aus einer offenen, der Agora zugewandten Kolonnade. Schon damals beherrschte man die Differenzierung des Raumes, indem man Bereiche unter­ schiedlicher Exponiertheit erzeugte. Wärmere und kältere, geschützte und offene Zo­ nen wechselten einander ab. Die Stoa als Prototyp des gelungenen öffentlichen Raums bot eine bunte Mischung der Bevölkerung. Neben Schaustellern, Artisten, Bettlern, Händlern konnte man bekanntlich sogar Philosophen beobachten, eine Spezies also, die in den modernen Themenparks oder Plazas seltener anzutreffen ist. Andere Tei­ le der Agora waren großen Gerichtsverfahren gewidmet, wo weit über tausend Men­ schen teilnehmen konnten. Das Theater. Die erste Bewusstseinsmaschine zur Erzeugung kollektiver Realität Ein weiterer Prototyp der Stadt, das Theater, entwickelt sich aus einer Raum­Körper Situation, die aus einem spezifischen Medienerfordernis entsteht. Theatron heißt auf griechisch schlicht ein Ort zum Sehen und übte die Menschen in anhaltendes, konzen­ triertes Sehen auf einen Punkt, hier die Spielfläche, ein. Die topologische Ausnützung der Hügel zur Anlage terrassenförmiger Zuschauersitze zählt ebenfalls zu einer der großen Kulturleistungen des griechischen Genius, da sie eine Verbindung von Raum und Stimme schafft, die durch den ansteigenden Raum den Schall der Stimme nicht zerstreute, sondern die Lautstärke sogar steigerte. Im Theater wurde die konzentrier­ te Beobachtung der individuellen Darstellung, und eines einzelnen Redners, kulturell erlernt. Das über längere Zeiten sitzende Publikum wurde auf diese Weise in eine em­ pathische Haltung versetzt und war nun in der Lage sich mit dem Inhalt der Tragödie zu konfrontieren. Architektur und Körper gehen hier fundamentale Verbindungen ein und schaffen erstmals die Voraussetzung für kollektive Imagination. Hier entsteht die erste Maschine zur Erzeugung einer kollektiven Realität. Es ist kein Zufall, dass in Athen im fünften Jahrhundert v. Chr. das Theater am Hügel Pnyx für große politische Versammlungen verwendet wurde, in weiterer Fol­ ge diente die Theaterarchitektur als Modell für Gebäude, in denen Volksversammlun­ gen abgehalten werden. Die Einteilung der einzelnen keilförmigen Segmente nach den Phylen, den einzelnen Stämmen, aus denen sich die Stadt zusammensetzte, ist das bis heute gültige Modell der meisten Parlamente. Die Begräbnisrede des Perikles. Ältestes Dokument der Urbanität Wer sich heute im Zeitalter abgedroschener Phrasen über Politikverdrossenheit und die Ohnmacht in der Telekratie noch im Entferntesten vorzustellen versucht, was für die Griechen die Entdeckung der Demokratie bedeutet haben mag, der hat sich ein neues phantastisches Lebensgefühl – nennen wir es „Urbanität“ – vorzustellen, das in 18

mehreren Gründen wurzelte. Zunächst eine Emanzipation aus der Sphäre der Todes­ furcht und des Unheimlichen, die selbst uns erst einmal gelingen müsste, obwohl wir uns vermutlich über derlei Fragen kaum Rechenschaft ablegen und sie in den Bereich des Psychologischen verschoben haben. Weiters im Bewusstsein all jener Errungenschaften zu sein, also der Stolz frei und kein Sklave zu sein und sich gleichzeitig im Wissen zu wähnen, erstmals in der Ge­

Zentrum stellte und deren Wissenschaft gegen den wuchernden Mythos und dunkle religiöse Kulte auftrat. Im Bewusstsein der neuen kulturellen Eigenschaften war eine wesentliche Voraussetzung für jenes Hochgefühl der Athener geschaffen, dem in der berühmten Rede des Perikles Ausdruck verliehen wird. Noch deutlicher wird die rhetorische Qualität dieser Rede, wenn man den Um­ stand ins Kalkül zieht, dass diese Rede aus Anlass einer Begräbnisfeier der ersten To­ ten des peloponnesischen Krieges gehalten wurde. Anstelle der üblichen Rituale der Beklagung drehte Perikles die Rede sozusagen um, versuchte die Trauer der Eltern in Stolz zu verwandeln und konvertierte die Ansprache in eine grandiose Präsentation des Hochgefühls der Athener über ihre Stadt, das durch Thukydides als das erste Do­ kument der Urbanität überliefert wurde.7 Perikles vermeidet die übliche Aufzählung der militärischen Ruhmestaten, sondern kommt auf den für ihn wesentlichen Punkt: „Aber durch welche Lebensführung wir dahin gelangt sind, mit Hilfe welcher Form der politischen Gemeinschaft, durch welche Eigenschaften unsere Stadt so groß geworden ist, das will ich darlegen, um dann zum Preise der Gefallenen hier überzugehen […].“ Und nun folgen die historischen Worte: „Wir leben in einer Staatsverfassung, die nicht den Gesetzen der Nachbarn nachstrebt, sondern wir sind eher das Vorbild für ande­ re als deren Nachahmer. Ihr Name ist Demokratie, weil sie nicht auf einer Minderzahl, sondern auf der Mehrzahl der Bürger beruht. Vor dem Gesetz sind bei persönlichen Rechtsstreitigkeiten alle Bürger gleich, das Ansehen jedoch, das einer in irgendetwas besonders genießt, richtet sich im Blick auf das Gemeinwesen weniger nach seiner Zu­ gehörigkeit zu einer bestimmten Volksklasse, sondern nach seinen besonderen Leis­ tungen wird er bevorzugt. Auch dem Armen ist, wenn er für den Staat etwas zu leisten vermag, der Weg nicht durch die Unscheinbarkeit seines Standes versperrt. Und wie in unserem Staatsleben die Freiheit herrscht, so halten wir uns auch in unserem Privat­ leben fern davon, das tägliche Tun und Treiben des Nachbarn mit Argwohn zu verfol­ gen. Wir verargen es niemandem, wenn er tut, was ihm gefällt, und setzen auch nicht jene kränkende Miene auf, die ihm zwar nichts zuleide tut, aber doch höchst wider­ wärtig ist.“ 8 Man muss sich vergegenwärtigen, dass diese Worte nicht nur Weltlitera­ tur sind, sondern die Urworte demokratischer Toleranz, so banal sie uns auch scheinen mögen. Sie legen Zeugnis ab vom Willen und der Begeisterung zur positiven Organi­ sation der Masse, und sind unschuldig und frei von aller Verächtlichkeit, die das mo­ derne Denken gegenüber der Masse hegt. Unschuldig ist auch die folgende Äußerung zur Frage der demokratischen Partizipation: „Wir sind die einzigen, die einen Bürger, der keinen Sinn für den Staat hat, nicht für ein ruhiges, sondern für ein unnützes Mit­ glied desselben halten.“ 9

Athen. Die hellenische Entdeckung des Urbanen

schichte der Menschheit herausgefunden zu haben, wie man „menschenwürdig“ lebt. Nämlich nicht mehr als der gehorsame Diener eines unergründlichen göttlichen Geset­ zes, sondern als vernünftig urteilende Menschen, deren Gesetze durch Abstimmung beschlossen und nicht von Göttern erhört wurden, deren Kunst den Menschen ins

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Nun folgt ein Seitenhieb gegen die Spartaner, wo sich Fremde nur vorübergehend aufhalten durften, überwacht wurden und jederzeit ausgewiesen werden konnten: „Auch in den Kriegsvorbereitungen unterscheiden wir uns von unseren Gegnern. Denn unsere Stadt ist jedermann offen, und es gibt keine Fremdenausweisung, durch die wir jemanden hindern, sich zu unterrichten und zu schauen, mag auch ein Feind Nut­ zen aus dem Verzicht auf die Verheimlichung ziehen.“ 10 Hier dokumentiert Perikles erstmals die Haltung einer toleranten und kosmopolitischen Urbanität, die sich nicht durch xenophobe Impulse beirren lässt.

1 Matthias Dusini, „Bright Lights, Pig City“, in: Der Falter 7 / 2002 . Der Urbitekt Winy Maas plant dieses Projekt. 2 Isidor von Sevilla, Etymologiae, Buch X . zit. nach: Richard Sennett, Civitas, Fischer, Frankfurt /Main 1990, S. 25 3 Thomas H. Macho, „So viele Menschen. Jenseits des genealogischen Prinzips“, in: Peter Sloterdijk (Hrsg.), Vor der Jahrtausendwende. Berichte zur Lage der Zukunft,

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Suhrkamp, Frankfurt/Main 1990, Bd. 1, S. 29 – 65. 4 André Leroi-Gourhan, Hand und Wort, Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1980, S. 227. 5 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über Äs­ thetik, Bd. II . Suhrkamp, Frankfurt/Main 6 Richard Sennett, Fleisch und Stein, Berlin Verlag, Berlin 1995. 7 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, Buch II ., Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1970 8 Ebd., S. 37. 9 Ebd., S. 40. 10 Ebd., S. 38 .

Rom. Urbanität der Antike im Großen Rom ist der große Nachfolger Athens. Allerdings war der großen griechischen Errun­ genschaft der Demokratie keine allzu lange Lebensdauer beschieden. Die kurze re­ publikanische Tradition wurde bald von einem mächtigen Kaisertum überlagert und abgelöst. Oder, anders formuliert, die bereits in der griechischen polis enthaltenen Widersprüche werden nun schlagend. Ein Geheimnis des urbanen, griechischen Wun­ ders bestand in der Bewahrung einer gewissen Größe der Stadt, bei deren Überstei­ gung man zur Gründung einer neuen Kolonie gezwungen wurde, was auf die Dauer ein äußerst anstrengendes Unterfangen darstellte. Platon sah als Idealzahl in der Politeia 5.000 Einwohner vor, im Sinne der Möglichkeit eines gemeinsamen Versammlungs­ ortes, doch die Zukunft wies in eine andere Richtung. Für Rom stellten sich die glei­ chen Probleme wie für Griechenland, nur in einem ungleich vergrößertem Maßstab: Rom war ein riesiges städtebauendes Unternehmen, das kurz vor seinem Untergang eine Vereinigung von 5.627 Stadtgemeinden umfasste 1. Aber die Expansion betraf auch die eigene Stadt, die ihre Stadtgrenzen durch Neuziehung des pomeriums mehr­ fach ausdehnen musste. Rom war das größte soziale Experiment der Antike als ihm für einige Zeit die erfolgreiche Vereinigung einer großen Völkerschar gelang. Der Bo­ den, den Rom besetzte, blieb Kulturboden bis in die Gegenwart und Entwicklungsort zahlreicher weiterer gegensätzlicher Phänomene des Urbanen. So ist diese Stadt in ih­ rer Widersprüchlichkeit und Extremität eine der großen Quellen urbaner Faszination, die hier in einigen groben Strichen angedeutet werden soll. Gründungsritual und Immunsystem Eine besonders faszinierende städtebauliche Leistung besteht in der Anwendung des Gittersystems für die Stadt und dessen Anbindung an den Nabel Roms, den umbili­ cus, und der damit vollzogenen Vereinigung von Städtebau und moderner Geometrie bei gleichzeitiger Wahrung einer anthropologisch­psychologischen Endosphäre. Das System eines rechteckigen Rasters war bereits im fünften Jahrhundert von Hippo­ damus von Milet anlässlich der Neuerbauung der gleichnamigen zerstörten Stadt in Anlehnung an noch ältere sumerische und ägyptische Städte erfunden worden, dort aber einfach ohne rituelle Anknüpfung an einen besonderen Ort über das neue Ter­ rain gestülpt worden. Die Römer hingegen versuchten im Sinne eines Körperschemas die Stadt am Nabel, den umbilicus, festzumachen. An diesem Punkt war die Stadt mit den Göttern unter der Erde ebenso wie mit den im Himmel lebenden Gottheiten ver­ bunden. Zur Verbindung mit den chtonischen Gottheiten wurde ein Loch, der mun­ dus, gegraben, in das man Opfergaben legte. Diese Verknüpfung der Geburtssymbolik des Nabels mit der Stadtgeometrie hatte eine kosmologische Dimension und beruh­ te auf der Denkvorstellung einer Notwendigkeit zur Verbindung mit den Kräften des Universums. Das drückte sich in besonderer Weise im Stadtgründungsritus aus, über den schon die antiken Autoren wie Plutarch, Livius und Tacitus ausführlich berichten. Nach der Festsetzung des Mittelpunktes aufgrund der Himmelsbeobachtung nach ei­ nem komplizierten Verfahren wurden Rinder vor den Pflug gespannt, um diese heilige 21

Grenze durch das Ziehen einer Furche zu markieren. Das Pflügen dieser Grenze, pome­ rium genannt, wurde übrigens an den Stellen der geplanten Stadttore unterbrochen, um einen Durchgang zu ermöglichen, ohne die heilige Grenze zu verletzen.2 Nach der Festlegung des Mittelpunktes und der Grenze wurden noch die beiden rechtwinkligen Hauptstraßen gezogen, die sich im Mittelpunkt schnitten, der decumanus von West nach Ost und der cardo von Nord nach Süd. Auf diese Weise wurde ein Achsenkreuz geschaffen, das die weitere Aufteilung der Stadt in symmetrische Quadranten begüns­ tigte und das in jeder römischen Stadt anzutreffen ist. Wenn das Terrain trotz aller Vorteile zur Errichtung einer Stadt nicht zur Anlage eines mundus, also eines Grabens oder einer Höhle, geeignet war, verzichtete man lieber darauf, bis man eine bessere Stelle gefunden hatte. So konnte man Städte geradezu am Fließband entwerfen – eine Notwendigkeit, die angesichts der römischen Eroberungspolitik und Kolonisations­ tätigkeit freilich auch einen Kulturexport bedeutete, der etwa in Britannien oder Gal­ lien eine Verschmelzung mit der ansässigen Lebensform zur Folge hatte und von den Einheimischen bereitwillig akzeptiert wurde. Die Vorstellung der römischen Stadt beruhte also auf dem Bild eines heiligen Stadt­ angers, der nur durch ein besonderes Immunsystem geschützt wird, dessen besondere Mächtigkeit in seiner Unangreifbarkeit aufgrund seines magischen Territoriums liegt und der vor allem von keiner Mauer geschützt zu werden braucht. Diese unscheinbare Furche des pomeriums, die von spärlich gesetzten Ackersteinen gesäumt war und die ein Fremder leicht hätte übersehen können, hatte jedoch nicht nur magische Gewalt, sondern auch höchste zivile Bedeutung. Die Oberkommandeure der römischen Armee mussten bei der Heimreise am pomerium demissionieren und den Befehl abgeben. Die Truppen hatten am außerhalb gelegenen Marsfeld zu verbleiben, ein Einmarsch in die Stadt durch Überschreiten des pomeriums wäre einem Verbrechen gleichgekommen. Ebenso waren Bestattungen innerhalb dieser magischen Furche strengstens unter­ sagt. Gründungsverbrechen und Energiefluss Die sakrale Wirkung der Furche als Grenze beruht übrigens auf dem Gründungsver­ brechen der Ermordung des Remus durch seinen Zwillingsbruder. Remus hatte die erste Furche übersprungen, um den Stadtgründer Romulus zu verhöhnen, worauf ihn sein Zwillingsbruder erschlagen hatte. Dessen Prophezeiung nach werde es künftig je­ dem, der die Grenze Roms zu verletzen suchte, gleich ergehen. Anderen Varianten zu­ folge, Plutarch allein beschreibt deren drei, handelte es sich um einen Kollektivmord durch Aristokraten. Es geht aber in allen Fällen im Sinne Girards 3 um die mimetische Rivalität, deren Objekt Rom ist, und um die nachträgliche Heiligung des Opfers. Re­ mus ist der Sündenbock und transformiert durch sein Opfer den Energiefluss der Ge­ walt der Rivalen in den Mythos, der zur Stiftung der Stadt führt. Die Heraufbeschwö­ rung dieser Aura des ersten Verbrechens wurde bei den Lupercalien am 15. Februar bis in die Spätantike hinein wiederholt. Angetan mit dem Fell des frisch geschlachteten Bockes umkreisten die Luperci in einem Lauf das Stadtgebiet, um die bösen Mächte zu vertreiben. Das Opfer sollte die Mächtigkeit des Gründungsverbrechens aktuali­ sieren und die stiftende Kraft der ersten Furche erneuern. Diese offenbar über viele Jahrhunderte wirksame Methode der Imagination schuf einen Immunraum von der­ art großer Intensität, dass er als Voraussetzung für die Entwicklung zahlreicher, auch 22

widersprüchlicher, urbaner Phänomene gelten muss. Erst auf der Basis dieser Sphä­ re innerer Sicherheit ließ sich das große Experiment römischer Liberalität erproben. Die Transformation des öffentlichen Raumes zum Kaiserforum Zum einen setzte Rom das Erbe Athens und der griechischen Polis fort. Die griechische Agora ging im römischen Forum auf, das aber auch die in Athen abgetrennten Tempel der Akropolis wieder aufnahm und nun in einem wesentlich geordneteren Ausmaß und in wesentlich prächtigerer Gestaltung fortlebte. Das Forum war nun kein über­

Piranesis Entdeckung der Erhabenheit der cloaca maxima Im Jahre 1756 erscheinen die vier Folio­Bände des italienischen Architekturmalers Giovanni Battista Piranesi unter dem Titel Le Antichità Romane, deren Erscheinen er mit dem Anspruch einer Errettung der Spuren vor den Schändungen der Zeit begrün­ dete (vestigia eruderibus). In seinen Kupferstichen verewigt er die Monumente, die nun selbst zu einem flüchtigen Gegenstand geworden sind, für die Nachwelt. Die Zer­ störungen der Zeit sollten durch über 250 Stiche aufgehoben werden, die Rom in der Phantasie wieder aufleben ließ. Mehr noch: In seiner erweiterten Fassung der Vedute, die vier Jahre später erscheinen, nimmt er den Zyklus der Carceri wieder auf. Dabei handelt es sich um seine berühmten, frei entworfenen Kerkerskizzen, die er aber nun mit einem historischen Index versieht und in die frühe römische Kaiserzeit datiert. Er vereinigt seine Archäologie des Traumes mit der Geschichte des römischen Imperiums und setzt seine persönliche Imagination der unterirdischen Gewölbe dem historischen Bewusstsein entgegen. Bei seiner Interpretation des Erhabenen geht er aber völlig neue Wege. Schon die Titanen­Bauten der monoton rohen Formen der unterirdischen Ge­ fängnisse stellen eine Umwertung des klassizistischen Kunstbegriffes dar, der sich

Rom. Urbanität der Antike im Großen

sichtlicher Platz mehr, sondern vielmehr ein ganzer Bezirk, eine komplizierte Anlage aus Tempeln und Altären, Rathäusern und von Kolonnaden eingefassten Plätzen für Volksversammlungen. Die Stoa lebte optisch in den mächtigen Säulenhallen fort, ging funktional aber in die neuen, mächtigen Basiliken ein, die eine Art Indoor­Agora erga­ ben. Dieser neue Gebäudetypus war für Massenveranstaltungen konzipiert und hat­ te seinen Ursprung in griechischen Gerichtsgebäuden, in deren Frontteil sich das Tri­ bunal befand. Die Hauptcharakteristika der Längsachse, der rechteckigen Form und des Dachstuhles bildeten bekanntlich auch die Grundlage der christlichen Basilika, also einer künftigen, geradezu universalen Baugestalt.4 Seit Augustus schmückten die Kaiser die Stadt mit langen Straßen und Kolonnadengängen aus, die nicht nur aus Stein, sondern auch aus hohen Buchsbaumwänden bestanden. Auch wurden die Foren ständig durch neue Bauwerke überlagert oder durch die Gründung neuer Foren, mit denen ein Kaiser seine Vorgänger zu übertrumpfen und sich selbst zu verewigen trachtete, einer Umwertung unterzogen. Das alte Forum Ro­ manum verlor seit Hadrian durch die Abwanderung der Händler an Bedeutung, und die alte multifunktionale Praxis der Agora wurde durch neue, aber zunehmend spezia­ lisierte Nutzungsverhältnisse abgelöst. Auch übernahmen die Basiliken die Agenden des Handels, des politischen Diskurses und anderer Alltagsgeschäfte. Der Gang durch die Straßen und Foren der Stadt wurde auch in zunehmender Weise ein Gang durch riesige Zeremonienräume, die durch ihre Erhabenheit die Bürger an die Präsenz der Herrscher gemahnen und einschüchtern sollten.

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auf die Harmonie der Außenwirkung der Gebäude, der edlen Schlichtheit griechisch inspirierter Tempelarchitektur berufen hatte. In für manche Zeitgenossen geradezu aufreizender Weise widmet sich Piranesi der Abhandlung von Nutzbauten; das Aquä­ dukt wird nun dem Tempel gleichgestellt. Ein besonderes Augenmerk gilt der cloaca maxima, der Kanalanlage der Stadt, als einem Beispiel für die magnificenza. Er begeis­ tert sich für die Größe und Erhabenheit des römischen Abwassersystems und seines zentralen Sammelbeckens am Tiber.5 Auch wir sollten uns dieses Blicks des Piranesi bedienen. Bezeichnenderweise widmet auch Mumford in seinem Rom­Kapitel diesen Anlagen besonderes Augenmerk.6 Und es handelt sich in der Tat um eine faszinieren­ de Steinkonstruktion, die schon vom Anbeginn im sechsten vorchristlichen Jahrhun­ dert geradezu visionär im gigantischem Maßstab einer künftigen Millionenstadt an­ gelegt war, und die – beinahe unvorstellbar – nach 25 Jahrhunderten noch heute in teilweiser Nutzung steht. Mit diesem Phänomen der großen städtischen Anlage, die auch für die Entwicklung einer Massen­ und Alltagskultur Bedingung ist, kommt eine Dimension des Urbanen auf, die den Griechen unbekannt war. Rom erfand die archi­ tektonische Formel zur Errichtung großer öffentlicher Anlagen, die zugleich Orte ei­ ner modernen Massenkultur wurden. Dort wurden erstmals elementare räumliche Lösungen des städtischen Raumes zur Versammlung und Bewegung der Massen ent­ wickelt, die ästhetisch und funktional bis in die Frühzeit des 20. Jahrhunderts Geltung hatten, wenn man etwa an die beiden grandiosen New Yorker Bahnhöfe denkt, von denen nur mehr die Grand Central Station existiert (die abgerissene Pennsylvania Sta­ tion war den Thermen des Caracalla nachempfunden). Der Reichtum der öffentlichen Quellen war derart groß, dass sich Rom die Erfindung des öffentlichen Bades leisten konnte, welches wiederum die Erfindung des Aquäduktes notwendig machte, und da­ mit neben der Entwicklung der Arena städtische Formen für die Massenunterhaltung geschaffen hat, die bis in die Gegenwart gültig sind. Römische Events und negative Urbanität: Todestheater Ein anderer großer Inspirator der Romantik, Edgar Allan Poe, wird anlässlich eines Besuches des Kolosseums derart von der Aura der verstreuten Trümmer und Posta­ mente ergriffen, dass er diese tiefen Empfindungen in Worten festzuhalten versucht. Ein Vers lautet: Grandeur, gloom, and glory Vastness! And Age and Memory of Eld! Silence! And Desolation! And dim Night! 7 Nun war das Kolosseum tatsächlich eine Stätte des Erhabenen und der absoluten Grau­ samkeit. Diese simple Geste des Baumeisters, den Halbkreis des griechischen Amphi­ theaters zu einem Rund oder Oval zu schließen, um daraus die Form der Arena zu schaffen, beruht zum einen auf architektonischer Genialität und wird andrerseits authentisches Zeichen der Ausweglosigkeit der in die Gladiatorenspiele geworfenen Tiere und Menschen. Die Blickorganisation, die bei den Griechen noch auf die Bühne fokussiert war, ist jetzt auf das Zentrum des blutigen Geschehens, die Mitte des Ge­ metzels gerichtet. War die Bühne noch Erscheinungsort von Göttern und Menschen, so verlangt der neue Materialismus der Massenkultur die pure Realität des Todeskamp­ 24

fes. Sie ist eine Einübung in die Anerkennung der Gewalt und in die Erkenntnis, dass man nur als Sieger überleben kann. Dem Kaiser ist es durch die berühmte Geste, der missio, des nach oben oder nach unten gestreckten Daumens, überlassen, über Sieg oder Niederlage zu entscheiden, wobei er wohl beraten ist, nicht gegen die Meinung

Früher Sozialstaat aus dem Geiste des Synoikismos 8 Rom war, wie bereits von Spengler in seinem Untergang des Abendlandes erwähnt wur­ de, durch einen riesenhaften Synoikismos geprägt. Aber schon Vitruv ging davon aus, dass das Feuer älter als das Haus ist. Er sah im Feuer in seiner wärmenden und näh­ renden Funktion und dem es umgebenden Menschenring die Urform der Gesellschaft; in der Fassung des Feuers durch den Herd entstand die Hütte, die diese Funktion in sich aufgenommen hatte. Erst am Feuer und der gemeinsamen Mahlzeit vollzog sich Gesellschaft. Die Grundkonzeption Roms als Stadt beruhte auf diesem Modell des Hau­ ses, und aus diesem Grund befand sich auch der Staatsherd der Vesta auf dem Forum Romanum. Die Vestalinnen sorgten dafür, dass sein Feuer nie erlosch. Aus dieser Vor­ stellung eines Zusammenlebens im Großen heraus entwickelte sich eine gewisser­ maßen primitive Idee der Solidarität, die in eine rudimentäre Vorform des Sozialstaa­ tes mündete. Im Zeitraum zwischen hundert v. und zweihundert n. Chr. wuchs Rom auf eine Größe von mindestens 1,5 Millionen Einwohner heran. Ein Gutteil davon, die Schätzungen gehen weit auseinander, war ausschließlich auf öffentliche Unterstüt­ zung durch Getreidespenden angewiesen. Berüchtigt waren auch die teuren, überfüll­ ten und schäbigen Mietskasernen, die insulae, die häufig vom Einsturz bedroht wa­ ren. Neben der materiellen Basisversorgung wurde auch die Unterhaltung durch die Sensationen der Zirkusspiele und dem gelebten Hedonismus in den Bädern kostenlos gewährt. Die Aufgabe der Volkstribunen bestand hauptsächlich darin, die Forderun­ gen der am politischen Prozess ausgeschalteten plebs an den Senat weiterzuleiten. So war auch das politische Leben Roms durch ein Bündnis zwischen der herrschenden Elite der Aristokratie und dem Proletariat gekennzeichnet, dessen schweigende Zu­ stimmung durch die Sozialleistungen der Getreidespenden und die öffentliche Finan­ zierung der Unterhaltungsmedien Zirkus und Bad erkauft wurde. Diese kalkulierte Großzügigkeit galt allerdings nur für die freien Bürger, nicht für die Sklaven, die in Rom wechselvolle Zeiten erlebten und sich auch zu Aufständen erhoben. andrerseits gab es die Möglichkeiten des Freikaufes und des Freigelassenwerdens, letzteres ein Usus von dem viele Herren in ihrem Testament Gebrauch machten. Vereinzelt gelangten auch Sklaven aufgrund ihrer Tüchtigkeit zu Reichtum und konnten sich freikaufen. Petro­ nius setzte dem Trimalchio, der als reicher Freigelassener die Dekadenz des Adels zu

Rom. Urbanität der Antike im Großen

des Mob zu handeln, der hier die Nicht­Solidarität perfektioniert. Das berühmte Kapitel über die Spiele in Augustinus’ Confessiones macht deutlich, dass die christliche Verfe­ mung der Schaulust hier ihre Wurzeln hat, und ihre Lehren aus der Erfahrung der Ge­ waltfaszination zieht. Gleichzeitig werden die frühen Christen mit jenem Fatalismus konfrontiert, der sie das Ertragen des Märtyrertodes erlernen lässt. Das Rondeau des Kolosseums wird für sie zum Zeichen der Ausweglosigkeit dieser Welt, der nur eine radikale Gegenwelt im Jenseits entgegenzusetzen ist. Es wird anderthalb Jahrtausen­ de währen, bis man in Rom wieder, diesmal am Platz vor St. Peter, durch Bernini eine neue Arena in Form eines Ovals errichten wird, diesmal im Zeichen der christlichen Globalisierung und des religiösen Theaters.

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Neros Zeiten zu überbieten versuchte, im Satyricon ein literarisches Denkmal. Die Be­ schreibung eines Wandgemäldes im Eingang seiner Luxusvilla zeigt Stationen seines Lebensweges; die Beschreibung der ersten lautet: „Es war da eine Sklavenschar mit Preisschildern gemalt und Trimalchio selbst mit langem Haar, wie er, den Heroldsstab in der Hand und von Minerva geleitet, Einzug in Rom hielt […]“ 9 Ein ehemaliger Sklave lässt sich seinen Erfolgsweg vom Sklavenmarkt zur Millionärsvilla in Fresken malen. Erstaunlich hingegen ist die deutliche Verbesserung des Status der Frau im Ver­ gleich zu Griechenland. Die Frauen waren nun erbberechtigt, konnten bei der Ehe­ schließung unter bestimmten Umständen ihr Vermögen behalten, das Haus war nicht nach Geschlechtern differenziert, die Frau konnte es jederzeit nach Wunsch verlassen, und man erwartete von ihr auch das Erscheinen in der Öffentlichkeit und die Teilnah­ me an Gastmahlen. Ein Grund für den Wandel mag vielleicht in einer veränderten Beziehung der Väter zu ihren Töchtern liegen. Von Cicero etwa ist ein umfangreicher Briefwechsel zum Projekt eines Erinnerungstempels nach dem Tod seiner über alles geliebten Tochter Tullia erhalten, in dem er seinem Schmerz Ausdruck verleiht und sich noch große Sorgen um den Fortbestand des Tempels nach seinem eigenen Tod macht.10

1 Lewis Mumford, Die Stadt, dtv, Köln/Berlin 1983 , S. 24 . 2 Plutarch, Moralia, 270 F – 271 A, Leipzig 1971. Zit. nach: Christine Kunst, Römische Wohn­ und Lebenswelten, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, S. 80. 3 René Girard, Der Sündenbock, Benziger, Düsseldorf 1998 . 4 Richard Krautheimer, Early Byzantine Ar­ chitecture, Penguin Books, London/New York 1986, S. 43. 5 Norbert Miller, Archäologie des Traums, dtv, München 1994 , S. 236 . 6 Mumford (wie Anm. 1), S. 252 . 7 Edgar Allan Poe, „The Coliseum“, in: Floyd Stovall (Hrsg.), The Poems of E. A. Poe, Charlotteville 1965, S. 57. 8 Synoikis-

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mos, „Es ist der Gipfel des euklidischen Formwollens innerhalb der politischen Welt. Man kann sich den Staat nicht denken, solange nicht die Nation auf einem Haufen, als ein Leib ganz körperlich zusammensitzt.“ aus: Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, dtv, München 1972 , S. 1033. 9 Petronius, Satyricon Reliquae, 29, hrsg. v. K. Müller, Reclam, Stuttgart /Leipzig 1995 . 10 M. Tullius Cicero, Atticus­Briefe/Epistulae ad Atticum XII 18 ,19 (Sammlung Tusculum) hrsg. v. Helmut Kasten, München/ Zürich 1990.

Die „Civitas Dei“ der mittelalterlichen Stadt Die Wurzeln zum Verständnis der mittelalterlichen Stadt liegen tief in der römischen Vergangenheit der Stadt. Die Römer hatten die antike Stadt über Jahrhunderte zu ei­ nem unvorstellbaren Höhepunkt geführt, hatten den Begriff der Urbanität mit einer ungeheuren Fülle von städtebaulichen Erscheinungen angereichert, hatten durch die von Kaisern und Magnaten finanzierte Nahrungsversorgung breiter Bevölkerungs­ schichten ein erstes riesiges Experiment des rudimentären Sozialstaates veranstaltet und durch die Gladiatorenspiele zugleich den Hedonismus und die Spektakellust in noch nie da gewesener Weise angestachelt, doch war es auf Dauer nicht gelungen, die sozialen Probleme der Menschenmassen einer derart rasant gewachsenen Stadt zu lö­ sen. Die Griechen, die in ihren Städten das Prinzip des öffentlichen Raumes als einer Sphäre des öffentlichen Diskurses unter gleichberechtigten Bürgern eingeführt hatten, wussten genau, dass ab einer bestimmten Größe (Platon sprach in den nomoi 1 von ma­ ximal 5.040 Haushalten, in der Praxis belief sich die Zahl der Bewohner mit den Skla­ ven auf 20 –30.000) diese Form des auf freier Rede beruhenden Stadtwesens gefährdet wurde und man nur durch die Neugründung einer Kolonie Abhilfe schaffen konnte. Doch den nach Erfolg süchtigen Römern gelang es nicht einmal, den Sog der Zuwan­ derung durch die Errichtung neuer Kolonien zu stoppen, und sie begnügten sich da­ mit, die Massen in der Arena eine Ordnung aus dem Geiste des Fatalismus zu lehren, der zufolge es nur Sieger oder Verlierer geben könne. Freilich konnten sie nicht ahnen, dass sie auf diese Weise den geistigen Nährboden für eine neue, fundamental andere Religion, die sich der Opfer und Verlierer annimmt, schufen. In einer Stadt, in der große Massen ständig von Elend bedroht waren, Krankheiten hilflos ausgeliefert waren und in üblen Wohnungen hausten, wurde auf diese Weise ein erlösungsbedürftiges Poten­ tial geschaffen, das freudig die sensationelle Botschaft vernahm, dass die Verlierer im Jenseits zu den Siegern gehören würden, und dass es noch einen anderen, mächtigeren Herren als den Kaiser gäbe, dem man gerne in sein jenseitiges Reich folge. Frühchristliche Räume. Grab und Höhle Die Christen vollzogen den radikalsten Wertewandel der Antike, der alles, was bisher Geltung hatte, in Frage stellte. Die griechischen Ideale der Polis und der republikani­ schen Ideen waren ohnehin schon dem mächtigen Kaisertum zum Opfer gefallen, doch nun wurde auch die extreme Außenorientierung jener ersten Aufmerksamkeitsgesell­ schaft durch eine ebenso extreme Innenorientierung und Konzentration auf den Kreis der Glaubensbrüder ersetzt. Alle körperlichen Vergnügungen des Sportes und Spie­ les der antiken Spektakelgesellschaft wurden ebenso wie die hedonistischen Freuden durch eine asketische, weltabgewandte Lebensweise ersetzt. Alle gesellschaftliche Of­ fenheit und Kontakte wurden zugunsten geheimer Verbindungen mit anderen Chris­ ten geopfert. Daraus entsteht eine radikal andere städtische Morphologie. Die Pracht Roms, die sich in den phantastischen Gebäuden der Paläste, der Villen, der Bäder und der Arena, gespiegelt hatte, wurde plötzlich zum Zeichen einer verkommenen, dem Verfall geweihten Gesellschaft. Die Christen gingen in den Underground und schufen eine neue Gegenkultur zum glanzvollen Rom. Sie feiern ihre verbotenen Messen in Wohnungen oder in den Höhlen unter den römischen Hügeln, wo sie bis zur Zeit der 27

Anerkennung durch Konstantin 313 n. Chr. auch zu Tausenden lebten, um sich der Ver­ folgung zu entziehen. Die Weltabkehr ihres Glauben und die Verwandtschaft mit den alten Mysterienreligionen des Orients, wie etwa den eleusinischen Mysterien in Athen, deren zentrale Glaubensidee in einem Abstieg zum Tode und einer Wiedergeburt liegt, forderten die Sehnsucht nach dem Tode und die daraus folgende Erlösung geradezu heraus. Das Grab und die Höhle waren daher die frühen morphologischen Favoriten dieser thanatologischen Kultur und Religion. Die Krypta war daher ein älteres Raum­ element als die Kirche und avancierte zum notwendigen Fundament des Gotteshauses. Die Gebeine eines Heiligen, eines Märtyrers zeugten von der vorbildlichen Tat eines Christen, der den richtigen Weg in den Tod vorausgegangen war und markierten durch das Grab einen heiligen Ort. Die Kirche nahm auf diese Weise das Thema des heiligen Ortes im alten ethnographischen Sinne wieder auf, indem sie ihn als Ort der Erinne­ rung an das Heilige, durch den Tod Jesu oder eines Märtyrers, mit Reliquien fixierte. Von der „Liquid City“ der Paulusmission zur „Civitas Dei“ des Augustinus Vorerst muss in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass die Entwicklung dieses Typus eines heiligen Ortes erst mit der Spätantike einsetzte.2 Denn das Faszi­ nierende der frühchristlichen Geschichte, wie sie aus den paulinischen Briefen zu er­ sehen ist, bestand in der Anwendung eines völlig anderen morphologischen Modelles der Glaubensverbreitung, einer geradezu modern anmutenden Organisation, die aus­ schließlich auf die Verbreitung der religiösen Botschaften durch Korrespondenz und Reise und, lange vor Errichtung der ersten Kirchen, die Abhaltung der agape in ständig wechselnden Haushalten und Unterkünften praktizierte. Hier war noch die Idee einer Liquid City, abgeleitet von der Idee eines nicht ortsgebundenen Gottes, maßgeblich, vermutlich von den nomadischen Stämmen des Judentums inspiriert, die das Heili­ ge in der Form der Bundeslade mit sich trugen. Die Hauptmotive der Christen lagen damals noch in einer weltabgewandten „Pilgerschaft in der Zeit“ und der bewussten Heimatlosigkeit, die erst im Jenseits aufgehoben werden könne. Mit Augustinus kam nun der erste große katholische Philosoph, der eine Form der Weltbejahung zu ent­ wickeln suchte. Als Bischof von Hippo, einer römischen Stadt in Nordafrika, erkannte er seine Verantwortung für die Verteidigung der Stadt gegen die Barbaren.3 Der von vielen Christen praktizierte, extreme Pazifismus und die Ablehnung der Sesshaftigkeit hatten die völlige Aufgabe der diesseitigen Heimatbeziehung und die Ablehnung jeder städtischen Lebensform zur Folge, und endeten in schweren militärischen Niederlagen Roms, die Plünderung, Tod und Sklaverei mit sich brachten. Mit de civitate dei, oder Vom Gottesstaat 4 entwickelte Augustinus die theologische Grundlage der christlichen Stadt, als der Anleitung für eine christliche Gemeinschaft, wie man sich auch auf der Erde, im Diesseits, für die himmlische Stadt vorbereiten könne. Daher ist de civitate dei eine merkwürdige Mischung aus himmlischer Phantasmagorie, moralischer Beleh­ rung und christlicher Apologetik, die nichts Unmittelbares zur Stadt, jedoch viel zur Gemeinschaft sagt, die aber eine heute weitgehend in Vergessenheit geratene Vermitt­ lung zwischen der Weltflucht der Mysterienkulte und der Bejahung der Schöpfung Got­ tes zustande brachte. Diese Haltung konnte nur durch eine kontrollierende Reflexion eingenommen werden, und stellte folglich eine Anleitung zur kritischen Innenschau und Gewissenserforschung dar. Sie vertiefte die in den confessiones vorgebildeten Ge­ danken zur Innerlichkeit als den Weg, der zur Erleuchtung führt. Diese neue psycho­ 28

Das Innen und die Begründung des Ortes Die Anlage einer Stadt stand nun in den unruhigen Zeiten der Spätantike und der he­ reinbrechenden Wanderungen der großen Stämme im Zeichen der Zuflucht und des Schutzes. Dies betraf aber weniger die Dimension der materiellen Schutzeinrichtungen und der Stadtmauern, sondern die der inneren Motivation. So fand die Idee der psychi­ schen Innenschau auch ein symbolisches Pendant in der Schaffung einer besonders geschützten städtischen Innenzone, eines Raumes, der von der Kirche eingenommen wurde. In beiden Fällen, sowohl im psychischen, als auch im städtischen, bezeichne­ te das Innen eine geschützte Sphäre, die sich vom sündhaften und gefährlichen Raum des Außen absetzt, sei es von den Verlockungen des Begehrens oder den Bedrohungen durch kriminelle Kräfte. Der Erfolg dieses Raummodelles beruhte auf dem hohen Maß symbolischer Kongruenz der psychischen und urbanen Dimensionen. Auch sollte die architektonische Präsenz der Kirche im Innen der Stadt ein Modell des Heiligen dar­ stellen. Trotz eines starken Maßes an Übereinstimmung darf diese spatiale Differen­ zierung nicht mit der einfachen Formel des heiligen und profanen Raumes gleichge­ setzt werden. Denn das Heilige liegt hier nicht nur in der ausgezeichneten Position im Zentrum, in der Mitte einer zweidimensionalen Fläche, sondern im Inneren eines drei­ dimensionalen Raumes und stellt den Schnittpunkt eines Achsenkreuzes dar. Wäh­ rend die horizontale Achse nach dem Prinzip von Endo­ und Exosphäre, wie im ein­ fachen Konzept des sakralen und profanen Raumes, funktioniert, bildet die vertikale Achse nach oben eine Verbindung zu Gott und nach unten zu den Heiligen und Mär­ tyrern. Es empfängt Energie von unten und oben und strahlt sie auf der Horizontal­ ebene nach außen ab. Auch ist dieser innere Raumkern gewissermaßen auf potentiel­ le Erweiterung angelegt, auf Durchdringung und Heiligung des umgebenden Raumes ausgerichtet. Man kann dies gut anhand der Entwicklung gewisser Übergangszonen, wie sie etwa die Freistatt darstellte, beobachten, die zunächst im Vorhof der Kirche an­ gesiedelt war und im Laufe der Jahre neben oder hinter die Kirche in den Garten ver­ lagert wurde und damit den Immunbereich ausdehnte. Die Freistatt war eine Schutz­ zone, die von Kranken, Flüchtlingen oder Verfolgten aufgesucht wurde, um Hilfe und Aufnahme zu erlangen. Die Wirkmächtigkeit dieses Raumes verpflichtete die Mönche und Geistlichen zur Gewährung von Hilfe und erinnert heute daran, dass die Wur­ zeln der modernen Sozialarbeit dem Boden dieser Übergangszonen und ihrer sakra­ len Aura entspringen. Die christliche Ethik bediente sich damals noch dieses Prinzips des Heiligen, wir nennen sie Erinnerungsorte, um die entsprechende Vorstellung von Barmherzigkeit zu erzeugen.6 Denn nur innerhalb dieser Orte im Kirchenbereich ließ

Die „Civitas Dei“ der mittelalterlichen Stadt

dynamische Konstellation erzeugte Hoffnung und wirkte sich entsprechend auf die Zunahme der Stadtgründungen und die städtische Form selbst aus. Die Idee der pro­ lepsis, wie sie im Begriff der urbs des Isidor von Sevilla enthalten ist, und die Vorweg­ nahme der Zukunft bedeutet, beruht ja bereits auf dem wachsenden Selbstvertrauen der Christen, die sich nun, nach dem Niedergang des römischen Imperiums, wieder Stadtgründungen zutrauten. Der darin enthaltene Optimismus ist bis auf den heutigen Tag ein zentrales Element der Urbanität, das uns zwar selbstverständlich, aber für die Landflüchtigen in den Megacities der dritten Welt ein Hauptmotiv für die Hoffnung auf ein größeres Maß an Zukunftserfüllung darstellt oder, in den Worten Lefebvres „nicht als jetzt erreichte Wirklichkeit […] sondern als Ausblick, als aufklärende Virtualität.“ 5

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sich eine Bereitschaft zur Wahrnehmung des Leidens erzeugen und nötigte zugleich zu einer Einfühlung in die Schmerzen der Opfer, die auf diese Weise den Charakter der Realität annahmen, der aber nach Verlassen der Freistatt sofort wieder verflog. Die Verpflichtung war vergessen und man durfte sich zwanglos dem Gegenprogramm ei­ ner Exekution zuwenden. Die Anfänge der Psychogeographie Seit dem 11. Jahrhundert wurde die Idee des Kraftzentrums der Kirche immer häufiger dadurch demonstriert, dass die Gebeine der Heiligen aus der Verborgenheit der Kryp­ ten in die liturgischen Lichtungen gezerrt wurden.7 Neben den Reliquien verkörperten nun auch Schreine die Idee des Ortes, wo sich himmlische und irdische Sphären tref­ fen, und die Wirksamkeit des Numinosen (präsentia) und seine besondere Heilkraft (virtus) begnaden. Sie bildeten ein eigenes Haus des Heiligen und einen Mikrokosmos innerhalb des architektonischen Kirchenbaues und galten nun als die Kraftzentren der Gotteshäuser. Ähnlich den Reliquien stellten sie aber auch die Knotenpunkte eines hei­ ligen Netzwerkes dar, das zum Ziel unzähliger Pilger wurde und dessen Topographie von zahlreichen Reisebeschreibungen erfasst wurde. Vieles davon basierte auf dem Modell der Topologie des Heiligen Landes, das ein Netz christlicher Gedächtnisstätten bildet. Um das Heilsgeschehen auch außerhalb der Kirche erfahrbar zu machen, wur­ den zahlreiche Heiltumsfahrten und Prozessionen in die Umgebung der Kirche in die Stadt unternommen. In dieser Kombination von Stadtbegehung, ritueller Handlung und Schulung des Blickes durch die Betrachtung der verehrungswürdigen Bilder wur­ de erstmals in der Geschichte eine Haltung eingeübt, die als frühes Modell zur Aus­ übung der Psychogeographie gelten kann. Letztlich konnte die situationistische Inter­ nationale auch nur in einem katholischen Land wie Frankreich entstehen, wo es noch die alten Traditionen des Ortes gab und einer der begleitenden Theoretiker – wie Mi­ chel de Certeau 8 – Jesuit war. Im Unterschied zum mittelalterlichen Suchen des Ortes steht allerdings das Verlieren des Ortes und das sich daraus ergebende Abtreiben im städtischen Raum im Vordergrund des „dérive“. Das Außen und die Dynamisierung des Raumes Der Ort mit seiner Hauptfunktion der Repräsentation des Heiligen und der damit ver­ bundenen Erinnerungsfunktion steht in strukturellem Gegensatz zum Raum. Wäh­ rend der Ort äußerste Stabilität der Position besaß und die Idee des Inneren durch Re­ flexion, Anschauung und Erinnerung verkörperte (und durch die Kirche repräsentiert wurde), hatte der übrige städtische Raum den Charakter des Außen, der ungeordneten Welt, die den Prinzipien der Bewegung, des Tausches, und der Aggression gehorch­ te.9 Ein Teil dieses Gebietes war von Mauern umgeben und zählte zum Einflussbe­ reich der Kirche und des Königs, andere Territorien waren nicht befestigt und ent­ standen aus Dörfern oder größeren Höfen. Aufgrund der Verdichtungen kam es auch zu neuen Agglomerationen, die stadtähnlichen Charakter annahmen. Es existierte kei­ nerlei Gesamtplan und die Bautätigkeit, wie auch die Straßenführung nahmen auf die städtische Gesamtform keine Rücksicht, indem sie sich nur an den Grundstücken der ursprüngliche Gemeinde, die eine nach innen ausgerichtete Siedlung darstellte, orientierten. Im übrigen baute man nach persönlichem Interesse und maximaler Aus­ nützung des Grundstückes, der Restraum wurde zur Straße erklärt. Die Gebäude hat­ 30

ten einen Hof, waren aber nach außen weitgehend isoliert und geschlossen, erinnerten einerseits an die Sphäre des antiken Oikos und andrerseits an die gefährliche, unkon­ trollierte Außenwelt, in die man nach der Öffnung des Tores heraustrat. Dennoch ent­ wickelte sich aus diesen kümmerlichen Gassen eine neue Form der Warenöffentlich­ keit, indem durch die Erfindung des Verkaufsfensters mittels Wanddurchbruch eine Verbindung in den inneren Hausbereich hergestellt werden konnte. So wurde durch das ökonomische Handeln der Gewerbetreibenden die hermetische Abgeschlossen­ heit des Einzelhofes aufgelöst und durch die Einbeziehung der Straße Öffentlichkeit geschaffen und eine Dynamisierung des Raumes bewirkt. Während der Ort fest und zeitlos ist, befindet sich der Raum aufgrund seiner Ver­ bindung mit der Dimension der Zeit in potentieller Bewegung. Der homo oekonomicus, wie ihn Weber bezeichnete, ist der Beschleuniger der Zeit, damit auch des Raumes

1 Platon, nomoi 745 b. Sämtliche Werke, Band IX , Insel Verlag, Leipzig, 2001. 2 Harvey Cox, Stadt ohne Gott, Kreuz Verlag, Stuttgart, 1966. 3 Peter Brown, Augusti­ nus von Hippo, Teil V, dtv, München 2000. 4 Augustinus, Vom Gottesstaat, dtv, München 1997. 5 Henri Lefebvre, Die Revolution der Städte, Athenäum, Frankfurt/Main

1990, S. 23. 6 Richard Sennett, Fleisch und Stein, Kap. 4 , Berlin Verlag, Berlin 1995. 7 Horst Wenzel, Hören und Sehen, Schrift und Bild, Kultur und Gedächtnis im Mittel­ alter, C. H. Beck, München 1995, S. 103. 8 Vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Merve, Berlin 1988 . 9 Sennett (wie Anm. 6), Kap. 4 .

Die „Civitas Dei“ der mittelalterlichen Stadt

und trägt zur Erosion des christlichen Ortes bei, indem er die Raumnutzung forciert. Das Christentum verfolgte auf der Basis des sicheren Ortes auch das Prinzip eines Ka­ lenders, der auf der Einteilung der Zeit durch den wiederkehrenden Zyklus der christ­ lichen Feiertage beruhte und das Jahr in gleichmäßige, in sich ruhende Abschnitte teilte. Diese Feiertage bildeten aufgrund ihres Volksfestcharakters auch die Termine für die Messen und Märkte. Die Statik des Raumes wurde durch eine Verdichtung der Zeit durch Mehrung der Feiertage zur Steigerung der Marktfrequenz aufgelöst und hat­ te eine enorme Erweiterung der Warenpanoramen und der temporären, städtischen Raumszenarien zur Folge. Auch die neue, wirtschaftliche Organisationsform der Kör­ perschaft bezog sich auf keinen festen Ort mehr, sondern, wie der Name besagt, auf die Mobilität des Körpers, die tendenziell zur Entgrenzung des Raumes befähigt.

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Abb. 2: Etienne Dupérac, Vedute delle sette chiese di Roma, um 1575. Die berühmte erste Stadterweiterung Roms durch den Papo-Urbanismus erfolgte durch eine sternförmige Verbindung („in sideris formam“) der einzelnen Kirchen, die den Pilgern den rechten Weg wies.

Die Renaissancestadt. Kriegsmaschine und Humanismus Im Jahre 1494 vollzieht sich ein symbolisch folgenschweres Ereignis. Im Zuge einer In­ vasion der französischen Armee in Italien wurden Geschützbatterien eingesetzt, die innerhalb weniger Stunden die Stadtmauern in Schutt und Asche legten, was zur Folge hatte, dass die Franzosen ohne jegliche offene Feldschlacht Florenz, Rom und Neapel eroberten. In Rapallo jedoch explodierte ein auf die Stadtmauern gerichtetes Geschütz, und die verirrte Kugel durchschlug die Fenster der Kirche und tötete zahlreiche Gläu­ bige, die sich in die Kirche geflüchtet hatten. Dies ist der Zeitpunkt der symbolischen Auslöschung der Freistatt als eines Ortes, der kraft seiner Lage und sakralen Ausstrah­ lung bis zu jener schicksalhaften Begebenheit absolute Sicherheit geboten hatte. Mit der neuen Dynamik der topologischen Kräfte vollzieht sich in der Renaissance eine fundamentale Veränderung der Stadt. Die Grundform der alten civitas dei mit dem heiligen Zentrum wird aus zwei maßgeblichen und auch komplementären Gründen nach außen gestülpt. Zum einen aufgrund der Waffenentwicklung und zum anderen wegen einer Neuformatierung des Bewusstseins. Die durch die Schriften Augustinus’ maßgeblich geprägte Innenorientierung weicht allmählich einer neuen Lebenswei­ se, die zwar den persönlichen Motivationsquellen des mittlerweile über Jahrhunder­ te geschulten Inneren entstammt, die aber nicht mehr auf dem Zusammenhang des Menschen mit dem statischen, von Gott geschaffenen Kosmos beruht, sondern die der Haupttendenz nach auf den wachsenden Vorrang der individuellen Freiheit und der Außenorientierung gerichtet war. Gleichzeitig gewannen alte, über tausend Jah­ re vergessene Werte der Antike wie die staatsbürgerliche Beteiligung, die in vielerlei Hinsicht der Struktur des griechischen Bürgerethos, das auf der Erlangung von Ruhm und Ehre beruhte, nahe kamen, wieder an Gewicht. Die Bandbreite der Ideen reich­ te von den großen humanistischen Werken der platonischen Telelogie, die noch den Bezug zur idealen Ordnung in der großen Kette des Seins, wie Ficino oder Pico della Mirandola dachten, bis hin zu dem berühmt berüchtigten „Fürsten“ Machiavellis, der keine apriorischen göttlichen oder natürlichen Ziele des Menschen kannte, dafür aber alle Eigenschaften eines Führers pries, der eine Stadt groß machen könne. Die Städ­ te der Renaissance spiegeln diese Dialektik zwischen der Suche nach Ordnung in der Idealstadt durch phantastische und zugleich humanistischen Prinzipien verpflichtete Stadtmodelle auf der einen Seite und dem Drang zur Größe und des Erhabenen durch eine enorme Kultur der Fortifikation auf der anderen Seite wieder. Daraus resultierte eine Neuformatierung der topologischen, energetischen Konzeption der Stadt: Sforzinda, der Stern. Erste Idealstadt des Humanismus Dort, wo die Stadtplaner der Renaissance eine völlig neue Stadt entwerfen, werden die ästhetischen und gestalterischen Kriterien in ihrer humanistischen Dynamik offen­ sichtlich. Sforzinda gilt hier als das berühmteste Beispiel der ersten radialen Stadt, die Filarete für Francesco Sforza, den Herzog von Mailand, entwarf, in einem in Dialog­ form verfassten Roman beschrieb, jedoch nie realisieren konnte.1 Die Grundform der oktogonalen Zentralstadt ist ein Stern mit acht Spitzen, die durch das Übereinander­ 33

legen zweier Quadrate mit 45° Drehung entsteht. Allein die Interpretationsmöglich­ keiten dieses simplen Grundmodells, das die vier Elemente mit den aristotelischen Qualitäten der Feuchtigkeit und Trockenheit, Wärme und Kälte kombinierte und ein magisches Zeichen der Renaissance darstellte, würde eine Fundgrube für den topophi­ len Stadtträumer ergeben. Das Zentrum der Stadt, das nach ursprünglichen Plänen ein Turm schmücken sollte, ist nun ein leerer Platz, um den sich drei Komplexe gruppie­ ren: der Palast des Fürsten, die Kathedrale und die Märkte mit weiteren öffentlichen Bauten, einem Gebäudes für die kommunale Selbstverwaltung, weiters einer Bank, einer Münze, und einem Bad. Offensichtlich wird hier das Modell der Antike mit den wichtigsten öffentlichen und sakralen Gebäuden angewandt. Vom Zentrum aus füh­ ren die Straßen radial zu den Stadttoren. Etwa in der Mitte des Stadtradius verläuft ein konzentrischer Ring, der abwechselnd von Plätzen und Kirchen gesäumt wird. An der Außenseite befinden sich die Mauern, wo die Stadttore an den inneren, die Türme an den äußeren Winkeln des Sternes liegen. Filarete plante auch eine Reihe von Ge­ bäuden im Sinne des frühen Humanismus, unter anderem ein bemerkenswertes Haus der Tugenden und des Lasters mit einem Bordell im Erdgeschoß, Lesesälen und ei­ ner Bildungsakademie in den oberen Stockwerken. Die sieben Geschosse entsprechen den vier Kardinaltugenden und drei theologischen Tugenden, bzw. den sieben Todsün­ den. Die Motive dazu dürften in einem Denken liegen, das – aristotelisch und neupla­ tonisch geschult – noch die Einheit der Gegensätze zu fassen versuchte und möglicher­ weise die Idee eines notwendigen Durchganges durch alle Sphären auf das Gebäude übertrug. Eine merkwürdig faszinierende Vorstellung von der Vielseitigkeit eines öf­ fentlichen Hauses, die uns im Zeitalter des Primates von Arbeitsteilung, Spezialisie­ rung und Segregation absurd scheinen muss. Die Positionen der Gebäude hat Filarete nicht angegeben, doch scheint ihm auch eine Mischung der Stadt nach verschiedenen Sphären vorgeschwebt zu sein, möglicherweise von mittelalterlichen Darstellungen der Erdenstadt Augustinus’ inspiriert.2 Wahrscheinlich spielt auch das aristotelische Grundschema mit seiner Zonierung aufgrund der Elemente in Zusammenhang mit den darauf zu errichtenden Gebäuden und der Theorie des gemeinsamen Enthaltenseins der Gegensätze eine wesentliche Rolle. Filarete ist neben Alberti einer der Begründer der Kunst der urbanen Komposition und trotz aller nachfolgenden Kritik Vorbild und Basis für weitere Entwicklungen von Giorgio Martini bis zu Leonardo da Vinci. Es ist auch anzunehmen, dass sich manche Ideen in den utopischen Stadtentwürfen und Idealstädten späterer Zeiten wiederfin­ den. Freilich zeitigen die Spannungen, die sich aus den Forderungen eines noch neo­ platonisch orientierten Humanismus nach der Freiheit des Menschen in der Gemein­ schaft ergeben, und den realen politischen Verhältnissen der zumeist von Despoten regierten Städte auch ihren Niederschlag in der forma urbis. Während der Stadtbau­ meister der mittelalterlichen urbs den Dom als zentrale Bauaufgabe betrachtete, so musste der Stadtplaner der Renaissance die Geometrie der Festung auf die ballisti­ schen Kurven der Kanonen abstimmen. Eigentlich kündigt die Gestalt der Sternstadt aufgrund ihres delikaten morphologischen Zustandes schon an, dass sie auf weniger festem Grund als die alte mittelalterliche Stadt steht. Ihre komplizierte geometrische Form entspricht einem Negativ der kinetischen Energie der Geschosse. Über die Stadt wird ein unsichtbares Netz aus Kraftlinien gelegt.

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Die sakrale Neuformatierung und die Geburt der Zitadelle Ganz im Sinne des römischen Rechtes, das eine Einstufung des öffentlich­sakralen Be­

die aber den Zielen der staatlichen – noch identisch mit der städtischen – Souveränität untergeordnet ist, gilt. Im Gegensatz zum Zentrum der mittelalterlichen Stadt, das die heilige Mitte des Gottes und der Ahnengräber in sich barg und dessen Aura nach außen strahlte und etwas von der heiligen Substanz abgab, steht das Energiezentrum der Re­ naissancestadt außen in Form der Stadtmauer und umgibt die Stadt wie ein sakraler Ring oder Gürtel. Natürlich hatten auch die mittelalterlichen Städte Mauern, aber sie gal­ ten eher als notwendiges Übel und hatten aufgrund der weiten Distanz zum strahlenden Zentrum eher schon den Charakter einer auratisch geschwächten Zone, die immer wie­ der durch Prozessionen sakral aufgeladen werden musste. Es ist kein Zufall, dass Alberti auch genau über die Stadtgründungsrituale der Römer und Griechen, wie etwa das Zie­ hen der Gründungsfurche durch Varro und Plutarch, unterrichtet ist und sie in seinem Buch wiedergibt, da er damit die sakrale Position dieses Bautyps untermauern kann. Er ist sich allerdings nicht im Klaren darüber, dass er mit dieser Argumentation auf eine ganz andere Form der Heiligung rekurriert, die nämlich auf dem Geist der Opfer­ handlung und des Sündenbockes beruht. Man darf nicht vergessen, dass diese Grün­ dungsfurche Roms, sulcus primigenus, die im Ritual durch das Ochsengespann gezo­ gen wurde und alljährlich durch die luperci, die Wolfspriester, durch frisches Opferblut erneuert wurde, an die Tötung des Remus durch seinen Zwillingsbruder Romulus er­ innerte, da Remus der Überlieferung nach die erste Ackerfurche übersprungen habe, um den Stadtgründer zu verspotten. Die daher rührende Prophezeiung lautete, dass es künftig jedem, der die Verletzung des römischen Bodens wage, ähnlich ergehen wer­ de. Girard sieht darin einen Beweis für seine These der mimetischen Rivalität, das ab­ solute Objekt der mimetischen Begierde der beiden Brüder war Rom, das aber nur ei­ nem gehören konnte. Aufgrund der Nichtmöglichkeit einer Einigung musste es zum Mord kommen, doch dieses notwendige Opfer versöhnte die feindlichen Parteien und stiftete Frieden. Die jährliche Wiederholung dieses Opfers im Ritual erinnerte an den blutigen Gründungsakt, dessen entströmende Kraft noch immer die Grenzen heiligte. Die Stadt als Kriegstheater-Raum Man könnte auch die Behauptung aufstellen, dass Alberti mit der nachhaltigen Erwäh­ nung dieser Form des Immunschutzes vor allem den sozialen und Gemeinschaft stif­ tenden Charakter der Mauern betonen möchte. Denn es gilt auch die folgende Formel: Die Stadtmauer und Befestigungsanlagen mit ihren kunstvollen Außenwerken, Vor­ sprüngen und Bastionen in Speerform (nach Alberti wie die Finger einer menschlichen

Die Renaissancestadt. Kriegsmaschine und Humanismus

reiches als erhaben und des privat­profanen Bereiches als niedrig vornahm, schreibt Leon Battista Alberti 3 in seinem Lehrbuch die Ausschmückung der Anlagen in der Stadt vor. Analog zur Klassifikation einer sakralen und öffentlichen Sphäre nehmen die Stadtmauern den höchsten Rang, noch vor den Tempeln ein, während die priva­ ten Räume ganz niedrig rangieren. Die Kennzeichnung des Gebäuderanges ergibt sich durch die Ausschmückung mit den geeigneten Ornamenten, dem passenden Deco­ rum. Die sakrale Ordnung ergibt sich aus einer Logik der Wahrung der Souveränität des öffentlich­staatlichen Bereiches, und hier stehen die Stadtmauern als ein Symbol für die Zusammenfassung der Wohnsiedlung, der gesamten städtischen Bevölkerung, während der Tempel allgemein als Zeichen des geistigen Zentrums der Organisation,

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Hand nach dem Beispiel Perugias), von denen aus man die Angreifer unter Feuer neh­ men konnte, sind im Grund nichts anderes als der Energiespeicher der zu ihrer Errich­ tung notwendigen sozialen Arbeit und symbolisieren damit auch den nötigen Einsatz, der zu ihrer Einnahme aufzubringen wäre. Die Bevölkerung materialisiert sich in der Mauer, die nun zum Repräsentanten ihres kollektiven Immunwertes wird. Dieser Einsatz wird noch deutlicher, wenn man an die großen Opfer denkt, die für die Bevölkerung mit dem Bau der Befestigungen verbunden waren. Neben den enor­ men Errichtungskosten überstieg der Platzbedarf sogar die Fläche der ganzen restlichen Stadt. Außerdem verhinderten die Mauern trotz starken Wachstums der Bevölkerung eine Expansion der Stadt, ein Umstand, der auch Alberti zu denken gab. Die lanzenför­ migen Basteien sind aber zugleich das erste Anzeichen der Bewegung in einer festen territorialen Anlage, da sie weit ausgreifen und die Verteidigung dort in den Angriff übergehen lassen, um damit das seitliche Beschießen der Flanken des Feindes zu er­ möglichen und das nahe Aufstellen von Geschützen oder Sturmgeräten zu verhindern. Möglicherweise sind die Basteien der Renaissancestadt jener Ort, an dem die Dia­ lektik von Angriff und Verteidigung sich zu entfalten beginnt, denn obwohl sie zwei­ hundert Jahre Schutz boten, wurden sie mit der Erfindung weittragender Geschütze sinnlos. Von hier aus vollzieht sich eine Entwicklung der strategischen Infrastruktur, die ihren vorläufigen Endpunkt in den gigantischen Bunkeranlagen des Atlantic Walls im Zweiten Weltkrieg an der französischen Küste gefunden hat, mit denen Europa in eine riesige Festung hätte verwandelt werden sollen und von denen Virilio in seiner Bunkerarchäolologie 4 berichtet. Einen Grund für die deutsche Niederlage sieht Viri­ lio gerade in dieser Raumphilosophie eines Kriegesherren, der zu sehr mit dem Boden verbunden ist und nie wirklich an die Eroberung des Luftraumes wie auch des mariti­ men Raumes geglaubt hat. Auch hält er die falsche militärische Psychologie für verant­ wortlich, der zufolge jedes Bombengeschwader, sobald es die Küste passierte, gemel­ det wurde, nach jedem Kurswechsel die Bevölkerung der anvisierten Städte in einem Voralarm erneut gewarnt wurde und dadurch ständig Millionen Menschen durch das Sich­Zusammenziehen von Zeit und Raum in Angst versetzt wurden. Hitlers Boden­ fixiertheit fand ja nicht zuletzt in seinen, bzw. Speers Stadtplanungen ihren Nieder­ schlag, die von der Verbindung von riesigen Achsen mit megalomanen Kuppelbauten nach dem Vorbild des Pantheons träumten und damit noch auf ältere Formen als die Renaissancestadt zurückgriffen und sich auf die Antike bezogen. Die Renaissancestadt ist daher auch jener Ort, an dem durch den Verlust der sakra­ len Potenz des Zentrums und durch die neuen militärischen Bedrohungen die Proble­ matik des Territoriums durch eine Umformatierung der Sakralität und Übertragung auf die Stadtmauern neu definiert wird. Auch andere Neuerungen, die man vielleicht zunächst einem neutralen Funktiona­ lismus zuordnen könnte, unterliegen in Wirklichkeit dem Imperativ des Militärs. Die Wiedererfindung der Geraden in der Stadt basiert auf der Notwendigkeit militärischer Aufmärsche. Wiederum ist es Alberti,5 der auf das Primat der Militärstraßen hinweist, die breiter zu sein hätten als normale Straßen, auf dem Lande eben und schnurgera­ de sein sollten, während er innerhalb der Stadt gelegentliche und leichte Biegungen empfiehlt und damit aus optischen Gründen eine Form der Eurythmik einführt, die aber bei den meisten späteren Autoren wieder verloren geht und die endgültige Durch­ setzung der Geraden im Barock vorbereitet. 36

Diese im Vergleich zum Mittelalter neue Form der Straße wird nun von den Fassa­ den oder Schauseiten der Gebäude eingerahmt und auch hier gelten die Regeln Albertis

Die Erfindung des virtuellen Raumes in der Architektur Der Ursprung des Triumphbogens liegt im Auslass aus der römischen Fortifikationsan­ lage, die aus einem Hauptbogen mit zwei kleineren seitlichen Bögen bestand, die man durch Gitter oder schwere Holztore schließen konnte. Bereits bei den Römern wird diese Form auf den Triumphbogen übertragen und damit eine erste Stufe des Virtuel­ len erreicht. Nach der erfolgreichen Schlacht musste die Armee außerhalb der Mauern warten, und die Feldherren am pomerium ein Demissionsritual durchführen. Erst nach dieser kultischen Reinigung wurde ein Defilee der Truppen in Paradeformation mit­ samt den erbeuteten Sklaven und Gegenständen durch die Stadt zum Kapitol erlaubt. Auch in der Stadt marschierten die Truppen wiederholt durch Triumphbögen. Diese Bögen aus Holz oder Stein glichen den Stadttoren, aber sie führten nicht von einem Außen­ in einen Innenraum. In der Renaissance erfährt der Triumphbogen erneut eine symbolische Steigerung, indem er den Rahmen für Altäre und Theaterbühnen bildet und nunmehr in einen neuen virtuellen Raum des Gottes oder des Dramas führt. Ähnliches gilt für die Aufbringung von Tempelchen auf die Fensterrahmen oder von Teilen der Fortifikationsanlage auf die Sockel der Paläste. Das Haus wird zum imaginären Tempel, der Palazzo zur Festung. Er­ fahrung und Imagination treten auseinander, der Eintritt in den virtuellen Raum ersetzt die unmittelbare Präsenz im realen Raum, da das alte Raumgefühl durch die neu erlern­ te Leseperspektive ergänzt wird und man „den Triumphbogen in den Altar hineinliest“, man im Triumphbogen des Altars noch seine frühere Bedeutung lesen kann und sich des dort kollektiv hervorgerufenen Triumphgefühls erinnert. In das Raumerlebnis wird eine kollektive Erinnerung projiziert, die den virtuellen Raum aufschließt.

1 Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheo­ schaft, Darmstadt 1991. 4 Paul Virilio, Bunkerarchäo­ rie, C. H. Beck, München 1991, S. 55. 2 Spiro Kostof, Das logie, Hanser, München 1992 . 5 Alberti (wie Anm. 3), Gesicht der Stadt, Campus, Frankfurt/Main 1992, S. 186. 4 . Buch. 6 Lewis Mumford, Die Stadt, dtv, München 1984 , 3 Leon Battista Alberti, 10 Bücher über die Baukunst, S. 406. 7. Buch, Hg. Max Theuer, Wissenschaftliche Buchgesell-

Die Renaissancestadt. Kriegsmaschine und Humanismus

über die Würde und Angemessenheit des Decorums von Privathäusern, das sich aller­ dings dem niedrigen profanen Charakter des Privaten entsprechend, auf ein einfaches Ornament beschränkt. Jedenfalls wird hier der Kulissencharakter der Kombination von Stadthäusern und Straße strukturell durch die Schauseite vorbereitet, die sich in ihrer Gestaltung nach der Anlage der Straße ausrichten sollte. Daher sollten die Häuser nach Alberti auf beiden Seiten in geraden Linien stehen und gleich hoch sein. Daraus ergeben sich die ununterbrochene waagrechte Dachlinie, der Rundbogen und die Wie­ derholung einheitlicher Elemente an der Fassade wie Sims, Fenstersturz, Fenster und Säule.6 Dennoch war durch den Verzicht auf zu strenge Kompositionsregeln damals auch noch eine Einfügung in alte Bestände möglich. Es gibt in Italien zahlreiche Bei­ spiele für die behutsame und delikate Verbindung von Renaissancebauten mit älteren Werken. Erst die Ordnungsmacht des Barock erlangte diesen Charakter der völligen Einheitlichkeit und des Absoluten, die mit einer Unerträglichkeit der visuellen Diffe­ renz zum Alten einhergeht.

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Abb. 3: Stadterweiterung in Bath durch John Wood den Älteren und John Wood den Jüngeren (nach John Summerson). John Wood der Ältere plant mit dem umschlossenen Queen Square in Bath (ab 1729) und dann dem kreisförmigen King’s Circus Räume, die ein zivilisiertes Verhalten im Sinne einer Ausgewogenheit zwischen dem Öffentlichen und Privaten ermöglichen. Sein Sohn John Wood der Jüngere erweitert mit dem Royal Crescent in Bath 1767–1777 die Stadt, indem er anstelle des öffentlichen Raumes die Anlage ausschließlich von Grünraum umgibt, in Übereinstimmung mit der damaligen Hinwendung zur Natur als der neuen Quelle des Guten, die an Öffentlichkeit wenig Interesse zeigt.

Die Barockstadt. Aufbruch ins Unendliche Wenn man überhaupt eine klare Differenz zwischen der Stadt der Renaissance und des Barock festzustellen versucht, so liegt diese wohl in der unterschiedlichen Auffassung der Grundgestalt und der anthropologischen Geographie.1 Während die kühnen Ent­ würfe der Renaissancearchitekten auf den Stadtgrundrissen eines Sternes oder ande­ rer geschlossener radial konzentrischer Formen beruhten, deren Hauptmerkmal in der starken Befestigung und Abgrenzung nach außen hin bestand, so ist die Barockstadt durch die Sprengung und Auflösung dieser Grenze in Form der Mauern charakterisiert. Die Gründe dafür kommen von innen und von außen. Zum einen verstärkt sich seit dem ausgehenden Mittelalter die Entkoppelung von Ort und Handlung, das geschütz­ te Innen des heiligen Zentrums verliert gegenüber dem durch die Zeit und Bewegung dynamisierten Außen an Bedeutung. Die sakrale und energetische Umformatierung der Stadt in der Renaissance wurde am besten von Alberti beschrieben, wenngleich diese Ordnung nur bei der Neuerrichtung einer Stadt, einer Idealstadt optimal zu ver­ wirklichen war, deren es nur wenige gab. Was sich veränderte: In der mittelalterlichen Stadt gab es eine klare Differenz zwischen dem sakralen und profanen Raum. Daher be­ gann das drohende Außen der Exosphäre bereits jenseits der Kirchenmauern und der Freistadt, da die sakrale Potenz zur Stadtmauer hin ständig abnahm, hätte man nicht durch Gründung von Klöstern und Kirchen, die wiederum neue energetische Inseln bildeten, in diesen peripheren Zonen gegengesteuert. In der Renaissance griffen die Planungen zur Idealstadt hingegen wieder auf an­ tike Modelle zurück, die im Zentrum zumeist eine öffentliche Sphäre in der Art der Agora vorsahen. Filarete etwa wollte im Zentrum Sforzindas einen öffentlichen Turm errichten, später eine Kombination von Plätzen mit Fürstenpalast, mit Kathedrale und öffentlichen Gebäuden der kommunalen Selbstverwaltung und Märkte. Damit bekun­ dete er nichts anderes als ein pragmatisches Einverständnis mit der städtischen und politischen Realität, die sich innerhalb der vergangenen Jahrhunderte herausgebildet hatte und die von den Polen der zentralen Kathedrale des städtischen Bürgertums und der wachsenden städtischen Präsenz des – im positiven Falle humanistisch ge­ sinnten – Fürsten ausging. In der Festungsstadt der Renaissance wird nun der Bereich der Abwehr, der Schutz vor dem äußeren Feind, deren Manifestation die Zitadelle ist, zur wichtigsten Zone. In diesem Sinne kündigte sich bereits in der Renaissancestadt auch eine gewisse Form der Erweiterung der Endosphäre an, die innerhalb der Stadt im Vergleich zur mittelalterlichen Differenz vom Zentrum zur Mauer, kein wesent­ liches innerstädtisches sakrales Gefälle zur Folge hatte. Die Exosphäre begann nun erst vor der Stadt, gleichzeitig erfolgte eine enorme sakrale Potenzierung der Befesti­ gung. Bei den Griechen und im christlichen Mittelalter hatten die Stadtmauern stets die merkwürdige Position einer Übergangszone, die alle Aspekte des zwielichtigen Charakters aufwies. Durch die Schriften Albertis wurde die sakrale Aufwertung die­ ses Bauwerks durch die Zuschreibung der höchsten kultischen Aufladung belegt, die diese Zweideutigkeit aufhob und zur Folge hatte, dass sie dem Bürger in seiner Rolle als aktivem Verteidiger der Grenzen den gleichen symbolischen Rang wie dem Fürs­ 39

ten einräumte. Doch diese Form des Immunschutzes in Gestalt der Befestigung gerät nun mit Beginn der barocken Phase unter doppelten Druck. Von außen wächst die Be­ drohung durch die Entwicklung weittragender Geschütze, von innen kündigt sich eine Auflösung der Grenzen durch die Entwicklung neuer visueller Gewohnheiten der Per­ spektive an, die am besten durch die berühmte Szenographie des Serlio 2 dargestellt wird. So verläuft die Geschichte der Renaissancestadt unter wachsendem Druck von innen und außen, der zunächst seinen physikalischen Niederschlag in der Hybridi­ sierung der Grenzen findet, ehe er in Form einer enormen expansiven Bewegung nach außen entweicht. Theateroptik und Städtebau Serlio entwickelte Szenographien für das Theater im Stil der antiken Tradition des Vitruv, wobei er zwei urbane Grundtypen als Stadtansichten für das Bühnenbild un­ terschied.3 Die scena comica zeigt einen städtischen Platz, der von einigen Häuser mit Arkaden und Läden im gotischen Stil seitlich begrenzt und nach hinten durch eine Kir­ che abgeschlossen wird. Der Blick wird also im Wesentlichen auf den vorderen Teil der Bühne verwiesen. Die Geschlossenheit des Raumes, die Assoziationen an das Christen­ tum und der Eindruck der Nähe bilden den Rahmen für ein komisches Stück. Ganz an­ ders hingegen sein Entwurf der scena tragica. Hier wird der geschlossene Raum durch eine perspektivische Straßenachse aufgebrochen. In der Fluchtlinie dieser Geraden liegt ein Triumphbogen, dahinter befindet sich etwas seitlich ein Obelisk. Der Blick auf die tragische Bühne findet keine Ruhe, keinen Ort, wo er verweilen kann. Er kann von der Perspektive der Geraden abweichend auf die Spitze des Obelisken oder die Fi­ gur auf dem Giebel des Tores gerichtet werden, er kann ebenso der Fluchtlinie folgend ins Unendliche gleiten.4 Serlio hatte also für die Bühne ein Konzept des tragischen Raumes erfunden, eine Sphäre, die erst durch den Blickwinkel der Perspektive einer neu erworbenen Subjektivität möglich wird. Die Herausbildung des perspektivischen Sehens ist übrigens vor allem ein medientheoretisches Ereignis, sie beruht auf einer Spezialisierung des binokularen Sehens und verdankt ihre mediale Charakterisierung McLuhans Beobachtung, dass auf die Alphabetisierung durch den Buchdruck bald die Verbreitung einer Unmenge von perspektivischen Darstellungen folgte. Als entschei­ dendes Merkmal der Perspektive resultiert die Fähigkeit, in die Tiefe zu sehen. Dieser Blick in die Tiefe ist von höchster kultureller Brisanz, denn er eröffnet ein völlig neues Raumempfinden, das in der Entdeckung und allgemeinen Verbreitung der Vorstellung des Unendlichen gipfelt. Serlio wendet nun die neue Eigenschaft des Unendlichen, die es bisher nur in Zu­ sammenhang mit einer von Nicolaus von Kues eingeführten Attribuierung Gottes ge­ geben hatte, künftig auf den Raum an, implementiert sie in die Kunst der Bühne und des Städtebaus und eröffnet damit eine Dynamik, die bis in die Gegenwart bestim­ mend ist. Serlio macht auch klar, dass der Blick in die Tiefe und die Unendlichkeit des Raumes zugleich die Elemente der Tragik und des Modernen beinhaltet, denn im Gegensatz dazu entspricht sein komischer Raum, die scena comica, einem altmodi­ schen gotischen Marktplatz mit Kirche, der zudem abgeschlossen und nach damali­ gen Begriffen als lächerlich anzusehen ist. Diese Bühne ist noch dem Prinzip des Ortes verpflichtet, verkörpert aufgrund der Geschlossenheit der Szene noch die Einheit von Raum und Handlung und kennt nicht die Öffnung ins Unendliche. 40

Der perspektivische Zentralpunkt der Szenographie entspricht exakt der Sitz­ position des Fürsten oberhalb des Zuschauerraumes, ihm gegenüber liegt der Flucht­ punkt des Verschwindens auf der Bühne. Im Grunde steht nur dem Monarchen der Blick ins Unendliche zu, nur er erträgt die schreckliche Wahrheit eines grenzenlosen

Papo-Urbanismus Als das berühmteste Beispiel der barocken Stadterweiterung gilt das Rom unter Six­ tus V., obwohl er nur von 1585 bis 1590 regierte. Der Ausgangspunkt dieses Unterneh­ mens war die geplante Verbindung aller sieben Hauptkirchen und Heiligtümer durch ein Straßennetz, damit sie ein Wallfahrer innerhalb eines Tages erreichen konnte. Sixtus, ein Franziskaner, der nicht nur die Attitüde des raffinierten Asketen wahrte und zu seinen Melonengerichten den Wein stets mit geschmolzenem Schneewasser zu vermischen pflegte, betrieb auch eine moderne Stadt­ und Sozialpolitik, verbesserte die Wasserversorgung sowie hygienische Bedingungen, reduzierte durch öffentliche Investitionen die Arbeitslosigkeit stark, und ließ unter seinem Planer Domenico Fon­ tana nicht nur die Straßen errichten, sondern „wie ein Mann mit einer Wünschelrute errichtete Sixtus seine Obelisken an Punkten, wo sich im Laufe der kommenden Jahre die wichtigsten Plätze entwickeln sollten“.5 Dieser Plan zeigt in einmaliger Weise den Übergangscharakter vom geschlossenen zum offenen Stadtraum. Das sternförmige System, in sideris formam, verbindet einer­ seits die großen Basiliken miteinander, eröffnet zugleich den Raum innerhalb und außerhalb der Mauern und definiert durch die errichteten Säulen architektonische Knoten, die zu Polen und Spannungspunkten werden, und in perfekter Weise die Pla­ nung der kommenden Jahrhunderte leiten. Diese Obelisken, die noch aus dem alten Rom stammten, dienten aber nicht nur künftigen Stadtplanern, sondern auch den Pil­ gern als Fluchtpunkt am Horizont als Wegweiser ihrer gottgefälligen Reise. Auch hier gilt wieder das visuelle Prinzip des Linearen, der Fluchtpunkt liegt oft gar nicht in einer Kirche, sondern ist erneut ein Zeichen unbestimmter Symbolik, eine sich verjüngende Säule mit einer Kugel an der Spitze, nunmehr ein abstrakter Wegweiser der Pilger. Hier findet ein unbemerkter, in seinen Auswirkungen weitreichender Paradigmenwechsel statt. Zum besseren Verständnis sei auf das nur zehn Jahre vor Sixtus’ Amtsantritt erschienene, zu seiner Zeit berühmte, aber heute längst vergessene Buch Vedute delle sette chiese di Roma von Antoine Lefréry verwiesen, das in der Manier der damaligen

Die Barockstadt. Aufbruch ins Unendliche

Raumes, er nimmt nun jene Position ein, die bisher nur Gott zugestanden ist. Hier kündigt sich bereits seine noch zu beschreibende emanative Rolle als Aussender des Lichtes an, dessen Strahlen zentrifugal vom Emissionspunkt ausgehen. Je ranghöher übrigens, desto ähnlicher der Blickpunkt der anderen Zuschauer. Hieraus folgt, dass Szenographien nicht nur für die Bühne, sondern ebenso für die Stadt Geltung haben und dass seit der Renaissance die Dimensionen von Bühne und Raum, Stadt und In­ szenierung eng verflochten sind und ineinander übergehen. Blick und Emanation des Heiles gleichen einander an wie Vorstellung und Verwirklichung, Plan und Realisie­ rung. Der große Stil der staatlichen Repräsentation wird das wesentliche Gestaltungs­ merkmal des Barock, freilich im Dienste des Monarchen. Und er bedient sich der Wirkung des unendlichen Raumes, der ortlos, ungerichtet und ziellos ist, um seine Erhabenheit, also die Verbindung von Schönheit unter der Erweckung von Angst zu demonstrieren.

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Pilgerkarten verfasst war und nur jene Bauten und Orte der Stadt zeigte, die für die Pil­ ger interessant waren. Dieses alte Stadtbild leitete sich von der christlichen Stadt der Weihekirchen als Ecclesiae Stationales ab, ein Begriff dessen Bedeutung vom militä­ rischen Posten stammt und der auf die Disziplin der christlichen Lebenspraxis verwies, die sich in der regelmäßigen Begehung dieser heiligen Topographie spiegelte. Während also bis zu diesem Zeitpunkt nur die symbolische Qualität der Heiligkeit des Ortes und dessen körperliche Aneignung zumeist in Form ritualisierter Handlungen ohne Inter­ esse am Aussehen ausschlaggebend war, wurde nun das gesamte System der Kirchen in einer theatralischen Szenographie verräumlicht und in einem neugeschaffenen ur­ banen Raum zueinander in eine optisch wahrnehmbare Beziehung gesetzt. Allgemein formuliert, über die Lenkung des Blickes wurden Räume mit Bedeutung aufgeladen, oder überhaupt die Existenz von Räumen ins Bewusstsein gebracht. Für den Pilger bedeutete das ebenfalls eine neue räumliche Erfahrung, denn sein Blick in die Tiefe des Raumes endete nicht in der Verlorenheit der Ferne, sondern wurde auf die Kirche gelenkt und erlernte so das spatio­temporale Prinzip der Erlösung bzw. dessen Konver­ tierung in raum­zeitliche Begriffe. Stadtplatz-Umbau – Vom Symbol zur Perspektive Seit der Renaissance, spätestens aber mit dem Barockzeitalter, geht auch eine Konver­ tierung des öffentlichen Raumes in der Weise vor sich, dass die alten Marktplätze des Mittelalters, die stets ein Ort des Durchganges, des Handels und Tausches, der verwei­ lenden und sich versammelnden Menge, der Straßenhändler, Hausierer und Akroba­ ten, kurzum ein Raum des umfassenden Austausches waren, langsam an Bedeutung verloren. Der Handel wurde spezialisiert, das Gewerbe und die Zünfte verloren die alte Monopolstellung und die abgegrenzten Territorien, aufgrund eines Prozesses der Dere­ gulierung, der einen tiefgreifenden sozialen Strukturwandel zu Folge hatte. In der Renaissance galt noch überwiegend die Tendenz zur Geschlossenheit und die Eingrenzung des Platzes durch Häuser mit langen Arkadengängen, wie noch die Empfehlung Palladios lautete. Mit dem szenographischen Blick kam jedoch ein neues räumliches Denken auf, das auch die Dimensionen der Fülle und der Leere des Rau­ mes und der Masse in die Gestaltung einbrachte. Anhand des prominenten Beispie­ les des Petersplatzes in Rom lässt sich gut erkennen, wie die Platzerweiterung stu­ fenweise vor sich ging. In der Nachfolge Madernas geht es noch darum, den heiligen Raum vor der Kirche zu umschließen. In den nachfolgenden Planungen entsteht eine Öffnung dieses Raumes, um eine Verbindung zwischen dem Heiligen und den borghi, den bürgerlichen Wohnvierteln herzustellen. In diesen Planungsschritten ist zunächst noch das alte Prinzip des heiligen Zentrums, der Freistatt, ihrer Emanationskraft und sakralen Ausgießung in die Umgebung zu beobachten. Mit Bernini zeichnet sich der Paradigmenwechsel vom Symbolischen zur Perspektive ab. Er bezieht die Basilika in die Platzgestaltung ein, um sie hervorzuheben und in ein grandioses Wechselspiel mit dem elliptischen Platz und den Kolonnaden einzubinden. Die Weite des von Men­ schen erschaffenen Raumes inmitten der städtischen Ansiedlung weist hier noch auf die Erhabenheit des Gottes hin, doch dieses Modell wird bald auf die rein weltlichen Verhältnisse des absolutistischen Herrschers übertragen.

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Städtische Strahlungen In der Konstruktion der Idealstadt der Renaissancearchitekten ist die Mitte der Stadt ein freier Raum, der nach den antiken Modellen eigentlich für eine Agora und die Ver­ sammlung der Bürger vorgesehen wäre. Doch im Zeitalter des 16. und 17. Jahrhunderts dominierte in den Städten nicht der freie Bürger, der im Vergleich zum Mittelalter deut­ lich an Einfluss gegenüber dem Fürsten verloren hatte und nun auch das Zentrum sym­ bolisch für sich in Anspruch zu nehmen versuchte. Zugleich breitete sich das Schloss in der Stadt aus und nahm im Gegensatz zur Vertikale der mittelalterlichen Türme eher eine horizontale Geräumigkeit in Anspruch. Der Palast ist mehr als ein Gebäude und wird zum Synonym eines höfischen Lebensstiles, eines Raumes, der das Gesinde und die Höflinge beherbergt und eine entsprechende Atmosphäre erzeugt. Der Fürst er­ kennt die strategische Bedeutung des städtischen Zentrums als einer Quelle der sakra­ len Emanation und erkennt seine Möglichkeiten in der Rolle als Heilsbringer, wenn er die Ermächtigung von oben vorweisen kann. Diese Möglichkeit war schon im corpus mysticum 7 des deutschen Kaisers Friedrich II . angelegt, der nach der mittelalterlichen Rechtstheologie einen zweifachen Körper hatte, einen vergänglichen und einen als unberührbaren Träger des Königtums, der dem christologischen Modell ähnelt und die Ikonographie, die politische Theorie der Monarchie, die Rechtsmechanismen nach der Person und den Erfordernissen der Krone ebenso trennte wie auch verband und in den Ritualen der Krönung, des Begräbnisses und der Unterwerfungszeremonien zum Ausdruck kam. Dieses Modell göttlicher Ermächtigung hatte für das gesamte Reich Geltung und zeigte, wie sich sakrale Bilder mit staatlicher Macht verbinden. Das Strah­ lungsmodell ist aber dieser alten, auf Körpersubstanzialität beruhenden Reichsorga­ nisation technisch überlegen, weil es das Prinzip der Telekommunikation einführt. Das Beispiel Rom belegt den Erfolg einer Stadt als Sendestation, weil es aufgrund der apostolischen Verkündigung die reale Gegenwart des Herren wahr machte, und da­

Die Barockstadt. Aufbruch ins Unendliche

Römische Telekommunikation Gerade das Beispiel Rom macht deutlich, dass seine Position als Welthauptstadt und Zentrum der Christenheit auf der apostolischen Vermittlung und evangelischen Mis­ sion von Paulus und Petrus gründet. Die Märtyrerakten und der Hinrichtungsort des Petrus auf dem Boden des Circus Nero, wo später die nach ihm benannte Kirche errich­ tet wurde, zeugen ja von der Wiederholung des Todes Jesu, diesmal aber auf dem rich­ tigen Terrain und in der richtigen Öffentlichkeit, und begründen die Legitimität eines Ortes, von dem aus die apostolische Mission, die aufgrund der vom Herren verliehe­ nen Vollmacht möglich war, zu führen war. Botschaften von diesem Ort konnten sich auf die Ermächtigung berufen der Menge so zu befehlen, als ob Gott anwesend wäre.6 Im Gegensatz zum modernen Autor, dessen Botschaft unverbindlich und beliebig ist, sprach der Apostel mit einer Vollmacht Gottes, die seine Botschaft als einen Sprechakt der letzten Instanz charakterisierte und auf diese Weise in Rom ein Strahlungszen­ trum theophanischer Vergegenwärtigung begründete. Der Papst sah sich zugleich in der Nachfolge der römischen Kaiser und als Imperator Christi, der von Rom aus das christliche Weltreich gründete. Der Märtyrertod der Apostel in Rom und das Grab des Petrus konstituierten die vertikale Achse und die Schnittstelle als den Ausgießungs­ punkt des Heils, von dem aus das Evangelium verkündet wird. Dieses Modell imperi­ aler Kommunikation wirkt sich von Rom auch auf andere Städte aus.

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mit die ontologische Relevanz eines Nachrichtenimperiums mit zentraler Sendeanlage unter Beweis stellte. Nach diesem Muster des römischen Zentralsenders, der Nach­ richten religiösen Inhalts über weite Distanzen mitteilen konnte, ging auch die Macht monozentrischer Herrschaftssysteme von der Emanationsmitte aus. Die Form der Ba­ rockstadt bildete diesen Sachverhalt der Machtemanation in doppelter Weise ab. Zum einen musste das Strahlungszentrum morphologisch formiert werden, das in der Regel vom Palast bestimmt wird. Zum anderen musste die Stadt durch eine radiale Struktur gekennzeichnet werden, die vom Zentrum ausgeht und im Extremfall bei Neugrün­ dung einen Strahlenkranz formt. Öffentlichkeit als theatrum mundi Während im klassischen Theater der Antike der gesamte Zuschauerbereich durch die Rundform mit gleicher Qualität des Blickes einbezogen war, gab es im Theater des Serlio und den anderen Bühnen seiner Zeit eine Zentrierung auf den privilegierten Blickpunkt des Fürsten. Die Grundidee besteht darin, dass dem Fürsten als Nachfol­ ger der Perspektive Gottes die Welt in der Form des theatrum mundi vorgeführt wird und Geltung für alle Lebensbereiche, auch fern der städtebaulichen Einflüsse, erwirbt. Die alte Metapher der Welt als Bühne meinte ursprünglich die vanitas, also das The­ ma der sinnlosen und eitlen Bestrebungen der Menschen vor dem Hintergrund einer vergänglichen Welt, da letztlich nur das Jenseits zähle. Seit der Renaissance verändert sich diese Vorstellung grundsätzlich und das Theater wird zur Bühne aristokratischer Selbstdarstellung und der Erlernung und Erprobung verschiedener Rollen und Hal­ tungen, sie ist die Produktionsstätte der sozialen Codes. Der Fürst ist im Barock nicht nur der Herr des Blickes, sondern auch der Zeichen und damit die oberste Instanz der Signifikanten. Aristokratie und die Spitzen des aufsteigenden Bürgertums bildeten auf diese Weise eine Öffentlichkeit, die die Welt der Bühne spiegelte und damit die öffent­ liche Geographie bestimmte. Die Art der Begegnung unter Menschen, die Mode und die Umgangsformen wurden im Theater erfunden, vom Hof approbiert und im Straßenbild realisiert. Daraus resultiert auch in späterer Folge die Bildung neuer öffentlicher Sphä­ ren, die auch Teile des Bürgertums einschließen, wie der Park als dem Ort der natür­ lichen Begegnung und das Kaffeehaus als dem Ort des bürgerlichen Räsonnements.

1 Mumford etwa bestreitet überhaupt die Existenz einer klaren Differenz zwischen Renaissance- und Barockstadt. Der Autor dieses Textes hält sich hier aber an die klassische Unterscheidung der Kunstgeschichte, die bekanntlich seit Wölfflin gilt, wonach die Renaissance die geschlossene, der Barock die offene Form bevorzugt. 2 Lewis Mumford, Die Stadt, dtv, München 1984 , S. 440. 3 Sebastiano Serlio, Tutte l’opere d’architettura et prospettiva … diviso in sette libri, Buch IV , Venedig 1619, Reprint 1964 , Rigdewood, Gregg Press, New York. 4 Serlios Entwürfe wurden von Palladio in seinem Teatro Olypico umgesetzt und dort

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von Scamozzi nach seinem Ableben vollendet. Die Eröffnung der Anlage mit Oedipus Rex von Sophokles bestätigte durch seine Ausweglosigkeit jene Tragik des Geschehens, die auch in der optischen Konzeption des ruhelosen Blickes auf der Bühne vollzogen wird. Vgl. Sennett, Civi­ tas, Fischer, Frankfurt/Main 1991, S. 207. 5 Sigfried Giedion, Raum, Zeit, Architektur, Studiopaperback, Artemis, Zürich/München 1984 , S. 87. 6 Sören Kierkegaard, Ge­ sammelte Werke, Abt. 21 – 23, Hirsch und Gerdes, Gütersloh 1984, S. 134 . 7 Ernst Hartwig Kantorowicz, The King’s two Bodies, Princetown University Press, Princetown 1957.

Die Romantik. Der städtische Antiraum bricht herein Mit der Renaissancestadt setzte die Dekonstruktion der alten heiligen Mitte der Stadt, die aus der Ordnung der mittelalterlichen Civitas Dei entstand, ein. Dieses alte Zen­ trum wurde nun zum begehrten Ziel unterschiedlicher Intentionen, die von einer Re­ installation der antiken Agora bis zur Besetzung durch den weltlichen Fürsten reichte. So begann sich im topographischen Zentrum eine widersprüchliche Mehrdeutigkeit abzuzeichnen, die die unterschiedlichen Motive der Nutzer und Inhaber widerspiegelte. Noch aber konzentrierte sich die Energie auf den immunologisch wichtigen Abwehr­ gürtel, die Festungsanlage mit ihren Basteien, um die geschlossene Form mit ihren Ab­ wehrmöglichkeiten der gefährlichen Exosphäre zu bewahren. Im Barock okkupierte der absolute Fürst das Zentrum und setzt auf die Strahlkraft seines göttlichen Lei­ bes im Sinne des Corpus Mysticum, der einer Sonne gleich zum Emanationspunkt des Heiles wird. Mit der zeitgleichen Entdeckung des Unendlichen und der Sprengung der immunologisch wichtigen Außengrenze kam es zu Phasen der Überforderung der Strahlungsenergie des Radius, die anstelle der Ausdehnung ein Sichzusammenziehen und in Extremfällen den Kollaps der zentripetalen Emanation zur Folge haben konn­ te. Dieser Prozess bereitete sich in seinen ideengeschichtlichen Grundzügen bereits in der Renaissance vor, da sich hier erstmals die Bemühungen zur Eindämmung der äu­ ßeren Gefahren als trügerisch erwiesen und sich die Falschheit einer Geborgenheit im Inneren herausstellte. Dantes Inferno. Konstruktion des Höllenraumes Das berühmteste literarische Zeugnis dieses Einbruchs einer schrecklichen Topogra­ phie liegt mit Dantes Divina Commedia vor: Dieses Werk beweist in seinen Gesängen des Infernos, dass die Immunologie des Kreises dekonstruiert werden kann, indem auch der Höllenraum durch eine neunstufige, aus konzentrischen Kreisen bestehen­ de Struktur eines trichterförmigen, umgedrehten Kegels beschrieben wird. Die Hölle rekurriert auf die alten geo­ und theozentrischen Weltbilder, bei denen Gott entweder platonisch, ganz oben und außen im Glanz des Himmels, oder aber neoplatonisch, aus einer transzendentalen, übernatürlichen Mitte strahlend, sich also jeweils in großer Ferne befindlich, imaginiert wird, während die Position der Erde aber jeweils am we­ nig durchlichteten Rand dieser Sphären (vom göttlichen Zentrum aus gedacht) anzu­ geben ist. Der gefallene Engel und Höllenfürst muss daher am untersten denkbaren Pol angesiedelt werden, der nur durch den inneren Erdkern repräsentiert werden kann. Diese Hölle ist aber mehr als ein finsteres Loch, sie ist ein von Dante exakt konstruier­ ter Raum, der übrigens Anleihe von Brunelleschis Dom in Florenz bezogen haben soll, da dieser infernale Trichter so konstruiert ist, dass er genau in die berühmte Kuppel der Kirche eingeschrieben werden kann.1 Damit wird bereits programmatisch klar, dass dieser Raum in Korrespondenz zur Welt stehen muss, wenn das Böse im Symbol einer allumfassenden Sphäre enthalten sein kann. Luzifer residiert in der Mitte der Tie­ fe als der Fürst der absoluten Negativität, der damit erstmals das Prädikat einer eigen­ ständigen Sphäre verliehen wird. Auf diese Weise wird ein endgültiger Bruch mit der 45

Lehre der positiven Substanz Gottes vollzogen, die auch das Übel der Welt stets nur als einen Mangel an Gutem, nicht aber als eigenständige ontologische Größe begriff. In den Termen des damaligen Denkens musste auch das Böse nach der Art eines Rei­ ches geformt sein, mit einem Herrscher an der Spitze, der im Zentrum der Erde hockte. Allerdings handelte es sich hier um ein negatives Zentrum, in dem sich die Welt auf einen Punkt zusammengezogen hatte, um eine Implosion des Raumes und um den Verlust der Kraft zur Bildung eines Radius. Wo sich die Radiusenergie auf einen Punkt zusammengezogen hat, kollabiert der Raum und findet seine soziale Entsprechung in der Depression, der Paranoia, oder Formen der Agoraphobie. Ausdehnungslosigkeit und Fehlen des Hoffnungsraumes zeichnen einen Grundtypus negativer Existenz aus, die auf sich selbst reduziert ist, um sich selbst kreist und zur Aufnahme sozialer Bezie­ hungen unfähig ist. Insofern ist der Raumtypus des Dante’schen Infernos von höch­ ster aktueller Relevanz und kennzeichnet zahlreiche Formen unglücklichen Lebens. Gnostischer Raum Eine andere, meisterliche und auf frühere Imaginationen zurückgreifende Illustration der Hölle verdanken wir Boschs Garten der Lüste, die schon ein städtisches Motiv auf­ nimmt: „Mitten im Höllengrund steht, grell überbelichtet, in seinen Umrissen scharf­ kantig und zerspellt, ein Ungeheuer […] (dessen Rumpf aus einem zerbrochenen Riesen­ ei besteht, Anm. d. A.) […]. Das Innere des Eies ist ein Nobiskrug: Eine phantastische Schenke, worin, vom Feuerschein umflackert, an einem kahlen Tisch drei Gäste vor der Kanne sitzen, indes die Höllenwirtin eine neue aus dem Fasse zapft. Ein Mann, der die­ sen Spuk schon satt bekam, lehnt an dem Rand der Schale und schaut hinunter auf das eisbedeckte Wasser, in dem die Schiffspedale des Gespenstes eingefroren stehen. Als Ganzes wäre dieses seltsame Gewächs am ehesten mit einer Ente zu vergleichen, die ihren schwerfällig hintüberhängenden, gedrungenen Rumpf: So könnte sich in spät­ gotischer Phantasie die mythologische Nemesis gespiegelt haben: Die gans­gestaltige Urweltgöttin, die – nach Eratosthenes (Katasterismoi, Kap. 25) – das so verhängnisvol­ le Weltei ausgetragen hat.“ 2 Dieses Beispiel einer missglückten Schöpfung liegt in der großen Tradition der Gnosis und erinnert an weitere negative Raumphantasien, an die Vorstellung einer Welt als Höhle, die von einem trügerischen Himmelsgewölbe umge­ ben ist. Was für das Licht der Sterne gehalten wird, beruhte nach Meinung der Gnosti­ ker in Wirklichkeit auf dem Phantasma eines durch die Löcher dieser monumentalen Halbkugel strahlenden Lichtes von absoluter Kühle, das aus einem unendlichen, fernen, dahinter liegenden Reich des wahren Gottes gesandt wird. Daher – so dachte man in manichäischen Zirkeln – sehnen sich die Menschen aus dieser bestehenden falschen Welt weg nach einer Wiedervereinigung im Licht, sie leben in einem Heimweh nach dem Licht. In Boullées Grabentwurf für Newton wird ein derartiger Effekt durch trich­ terförmige Löcher in der Wölbung der Innenschale der Kugel erzeugt, indem die gleiche Wirkung eines von außen ins Himmelsgewölbe eindringenden Lichtes simuliert wird. Die Produktion von Raumphantasien des unglücklichen Bewusstseins, wie es He­ gel sagen würde, reicht tief in die Antike zurück, doch ist es der Stadt im Wesent­ lichen bis ins 18. Jahrhundert gelungen, sie nicht in der Architektur real werden zu lassen. Doch mit Edward Burkes 1757 in London erschienener Schrift Vom Erhabenen und Schönen lag erstmals ein programmatischer Text auf, der die psychologische Wir­ kung der Kunst untersuchte und mit der Ablösung des Erhabenen vom Schönen einen 46

neuen Typus von Kunstwerk beschrieb, dessen höchste Qualität auf der Hervorrufung des Schreckens beruht. Sämtliche Attribute des Schreckens Macht, Leere, Finsternis und Einsamkeit, Riesigkeit und Unendlichkeit verursachen den nötigen Impact und Schmerz dieser neuen Form von Ästhetik, die Süße und Schock zugleich evozieren

Labyrinthischer Raum Ein wesentlicher Vorbereiter zur Konstruktion des negativen Raumes war bekanntlich Piranesi, indem er in seinen Stichen der Carceri auf geniale Weise die Raumillusionen des Labyrinths mit den Architekturelementen der Antike zur einer Kerkerdarstellung verband, die bis heute in der Vermittlung des endlosen Schreckens auf Gültigkeit be­ stehen kann. Thomas de Quincey, der seinen Text Confessions of an English Opium­Eater unter Einnahme stärkender Schlucke aus der Karaffe eines halluzinogenen Getränkes zu verfassen pflegte, imaginierte in einem senkrecht angeordneten Labyrinth den in seinem Schwindel erregenden Abgrund seiner eigenen Schöpfung gefangenen Künst­ ler Piranesi, der für immer die unvollendeten Treppen im Labyrinth der Kerkerräume erklimmt.4 Oben angekommen, bricht die Treppe plötzlich steil und ohne Geländer ab, nach unten gähnt der Abgrund, nach oben zeigt der Blick eine höhere, unerreichbare Treppenflucht, auf der wiederum Piranesi zu sehen ist, und so geht es bis ins Dun­ kel der riesigen Halle weiter. Die Bewegung ist ewig, er geht ohne Unterlass, dennoch kommt er nicht voran. Unaufhörliche Bewegung ohne Zielerreichung, ein Stehenblei­ ben in der Bewegung ist Tortur durch Entzug des Ausgangs­ und des Zielortes. Charles Nodier steigert diese Dramatik noch, indem er in der Kurzgeschichte Piranèse, zweifellos durch die Übersetzung des Opium­Eater von Musset inspiriert, die Geschichte fortsetzt und ein Ankommen Piranesis beschreibt: „Doch als er mit letzten Kräften den Aufstieg schafft, erkennt er, dass seine Ankunft auf der untersten Ebene eines neuen Gebäudes erfolgt ist, das dem ersten Gebäude ähnlich ist […].“ 5 Aus diesen Reflexionen einer promenade architecturale heraus entwirft später No­ dier noch einen weiteren Raumtypus des Erhabenen, den Raum des Unheimlichen, des krankhaften Schlafes und der unerträglichen Tortur durch Labyrinthe aus Stein, in denen der vollkommene Grad der Entäußerung gefunden wird, und den die Ärzte in ihrer Profanität als Tod durch Wahnsinn bezeichnen mögen. Doch nach Nodier ist die absolute Innerlichkeit der echte Schauplatz des Unheimlichen und erinnert uns an die eingangs beschriebene Erschöpfung der Radialkraft, die einer Implosion des Rau­ mes gleichkommt. Auch Baudelaire verfasst ein Gedicht, das – von Piranesi beeinflusst – in den Ent­ würfen im Zusammenhang mit Le Spleen de Paris auftaucht: „Anzeichen des Verfalls. Unermessliche Bauwerke, Mehrere, eines über dem anderen, Wohnungen; Zimmer, Tempel, Galerien, Treppen, in die Leere führende Gänge (coecums), Belevedere, Later­ nen, Brunnen, Statuen, Sprünge, Risse, Feuchtigkeit, die aus einem dem Himmel na­ hen Reservoir stammt, Wie soll man die Leute, die Nationen warnen? Wir wollen das Ohr der Intelligentesten erreichen.

Die Romantik. Der städtische Antiraum bricht herein

soll. Freilich wurde damit den Künsten ein enormer Fundus zur Verfügung gestellt, der auch bereitwillig aufgegriffen wurde. Doch bald wurde all dies durch das Ereignis des Jahrhunderts, das die grandioseste Vorstellung der Erhabenheit bot, die französische Revolution nämlich, überlagert und fand auf diesem Weg in den Festzügen und Pro­ jekten zur Stadtplanung Eingang.3

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Ganz oben bricht eine Säule und ihre zwei Enden rücken von der Stelle. Noch ist nichts eingestürzt. Ich kann den Ausgang nicht mehr finden. Ich steige hinab, dann wieder hinauf. Ein Turm­Labyrinth. Ich konnte es niemals verlassen. Ich bewohne für immer ein Gebäude, das von einer geheimen Krankheit betroffen ist. Ich rechne mir im Kopf, zum Vergnügen aus, ob eine so gewaltige Masse von Steinen, von Mar­ morblöcken, von Statuen, von Mauern, die aufeinanderprallen werden, von dieser Un­ zahl menschlicher Hirne, menschlichen Fleisches und zermalmter Knochen sehr ver­ schmutzt sein werden. Ich sehe so grässliche Dinge im Traum, dass ich manchmal nicht mehr schlafen möchte, wenn ich sicher wäre von der Müdigkeit nicht überwäl­ tigt zu werden.“ 6 Hier wird die Raumimagination des Labyrinths unmittelbar auf die Stadt Paris übertragen und der Stadtraum in Bezug zur Faszination des Schreckens, der Erhaben­ heit und der Ausweglosigkeit gesetzt. Ähnliche Passagen lassen sich auch bei ande­ ren Autoren dieser Zeit, wie bei Hugo oder Gautier, finden, wenngleich die Hoffnungs­ losigkeit und die Absenz Gottes bei Baudelaire am ehesten spürbar werden. Die Auswirkungen auf das Stadtbild sind vielfältig und gerade in der Postmoderne von höchster Aktualität. Der Architekt und der Tod: Boullée Burkes Lehre hinterließ bei Boullée den tiefsten Eindruck. Insbesondere dessen Ge­ danken über das Licht und die Dunkelheit als Quelle des Schreckens übten große Wir­ kung auf seine Entwürfe aus. Boullée ging sogar noch weiter, indem er im Zuge sei­ nes Projektes einer Totenstadt – ein normaler Friedhof hätte der nekrophilen Tendenz nicht genügt – die Vorstellung einer „versunkenen Architektur“ durch die Erfindung eines Todestempels mit einer Fassade aus lichtabsorbierendem Material beschrieb. Anlass dazu boten ihm die Beobachtungen während eines nächtlichen Spaziergan­ ges am Land, wo er einen im Mondschein liegenden Wald entlangging: „Mein im Licht entstandener Schatten nahm meine Aufmerksamkeit gefangen (was sicher nichts neu­ es für mich war). Dadurch aber, dass ich mich in einer besonderen Stimmung befand, erschien mir dieses Schattenspiel von größter Schwermut erfüllt. Die Bäume, deren Abbild als Schatten auf den Boden fiel, beeindruckten mich zutiefst, und meine Phan­ tasie vergrößerte noch diesen Eindruck. Ich erblickte damals die düstersten Seiten der Natur; und was sah ich dort? Die Form der Gegenstände, die sich schwarz gegen ein Licht von äußerster Blässe abhob. Es schien als böte sich die Natur meinen Blicken im Trauerkleid dar. Tief beeindruckt von diesen Gefühlen, begann ich von diesem Au­ genblick an, mich mit ihrer besonderen Anwendung auf die Architektur zu beschäfti­ gen. Ich suchte nach einem Projekt, das aus der Wirkung der Schatten entstehen wür­ de.“ 7 „[…] dass man zur Schaffung trauriger und düsterer Bilder, wie ich es in meinen Grabmälern versuchte, durch eine vollkommen kahle Mauer das Skelett der Architek­ tur zeigen muss. Das Bild der versunkenen Architektur gestaltet man durch niedrige und gedrückte, in die Erde gesunkene Proportionen, und schließlich formt man durch die Verwendung lichtabsorbierenden Materials das dunkle Bild einer Architektur ohne Schatten.“ 8 Diese Darstellungsform des Todes durch die Architektur geht über alle vor­ hergehenden Gestalten des negativen Raumes hinaus. Das Bild des langsamen Ver­ sinkens im Tode, die völlige Absenz jeglicher vertikaler Energie, die bei Piranesi stets, wenngleich in Form verzweifelter Bewegung sichtbar wird, erzeugt eine neue Raum­ 48

Erstarrung im Raum – Die Pest in der Stadt In der Sprache der städtischen Topographie bedeuten der Zusammenbruch der Radial­ energie und der Verlust der Mauern eine wachsende Bedrohung des sozialen Immun­ systems. Ein Raum mit fehlenden Außengrenzen ist durch den ständigen Einbruch der Exosphäre gefährdet. Foucault beschreibt genau, wie sich diese extreme Parzellierung und Kontrolle des Raumes erstmals unter den Bedingungen einer Pestseuche konsti­ tuierte. Die Pest erzeugte dieses Szenario der Angst aufgrund ihres vermeintlichen Ur­ sprungs aus der Vermischung der Körper, die sich als eine Folge der Öffnung der Stadt ergeben hatte. „Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung.“ 9 Das Schlüsselwort dieses Vorgangs lautet Erstarrung. Die Bewegung im Raum wird auf das absolut Notwendige reduziert, die Zirkulation friert völlig ein, die Vermischung muss gestoppt werden. Das Militär kontrolliert genau die Befolgung ihrer Anweisun­ gen. Die Zernierung des Stadtraumes wird durch ein perfektes Registrierungssystem ergänzt, der Syndikus überwacht seinen Rayon, berichtet an den Intendanten, der sei­ ne Informationen wiederum an die Schöffen im Rathaus weitergibt, bevor sie der Bür­ germeister erfährt. In diesem geschlossenen, parzellierten und überwachten Raum werden ständig sämtliche Ereignisse registriert und von der Peripherie an das Zen­ trum gemeldet. Foucault erwähnt auch, dass es um die Pest eine ganze Literatur gab, die ein Fest erträumte, sich die Aufhebung der Verbote, das Rasen der Zeit, die respekt­ lose Vermischung der Körper, das Fallen der Masken erwünschte, in der Hoffnung, da­ hinter eine andere Wahrheit zu finden.10 Dieser saturnalischen Umwandlung der Seu­ che in ein orgiastisches Bacchanal steht eine extreme Disziplinierung gegenüber, die aus der Angst vor der Ansteckung den „wahren“ Namen, den „wahren“ Ort, den „wah­ ren“ Körper und die Krankheit durch ein radikales Reglement zu fixieren versucht. Dieses Modell der Ansteckung kann auch auf andere Gruppen übertragen werden und eine medizinische und politische Antwort einfordern und entwickeln, um die Angst vor Aufständen, vor Verbrechen, vor Landstreichern, Deserteuren zu bekämp­ fen. Daraus erwuchs ursprünglich ein Raum der Ausschließung von Bettlern, Land­ streichern und Irren, bevor er in den Einsperrungsraum des psychiatrischen Asyls, der Strafanstalt, des Besserungshauses, Erziehungsheimes und in Teile der Spitäler konvertiert wurde.

Die Romantik. Der städtische Antiraum bricht herein

figur, in der sich Unendlichkeit, Tod und die absolute Leere vereinigen. Dennoch, da es das Nichts nicht gibt, lässt sich auch bei Boullée eine Tendenz zur Unterwerfung un­ ter die Natur als die ultimative Instanz des Seins feststellen, eine Natur allerdings, der der göttliche Hauch der Schöpfung völlig abhanden gekommen ist und die durch den ewigen Rhythmus von Hervorbringen, Vergehen und Verschlingen gekennzeichnet ist. Dies ist insofern bedeutsam, als sich daraus weitreichende Konsequenzen für die Stadt ergeben. Die Erhabenheit des unendlichen Raumes ist hier vor allem durch den Blick erfahrbar – es ist kein Zufall, dass Boullée als Maler begonnen hat –, bei unmittelbarer Präsenz des Körpers in einem städtischen Raum dieses Typus jedoch und der Erfah­ rung des Bewegungsstresses schlägt diese spatiale Beziehung aufgrund der Ziel­ und Ortlosigkeit schnell in Panik und Verzweiflung um und kann entweder in hektische Bewegung oder aber in Erstarrung münden.

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Panoptischer Raum Das Panoptikum von Bentham ist die klassische architektonische Form: „An der Peri­ pherie ein ringförmiges Gebäude; in der Mitte ein Turm, der von breiten Fenstern durchbrochen ist, welche sich nach der Innenseite des Ringes öffnen; Das Ringgebäu­ de ist in Zellen unterteilt, von denen jede durch die gesamte Tiefe des Gebäudes reicht; sie haben jeweils zwei Fenster, eines nach innen, und eines nach außen, sodass die Zelle auf beiden Seiten von Licht durchdrungen wird. Es genügt demnach, einen Auf­ seher im Turm aufzustellen und in jeder Zelle, einen Irren, einen Kranken, einen Sträf­ ling, einen Arbeiter oder einen Schüler unterzubringen. Vor dem Gegenlicht lassen sich vom Turm aus die kleinen Gefangenensilhouetten in den Zellen des Ringes genau aus­ nehmen. Jeder Käfig ist ein kleines Theater, in dem jeder Akteur allein ist, vollkommen individualisiert und ständig sichtbar. Die panoptische Anlage schafft Raumeinheiten, die es ermöglichen, ohne Unterlass zu sehen und zugleich zu erkennen.“11 Das Prin­ zip des Kerkers, das aus einer Kombination von Einsperrung und Verbergung im Dun­ kel bestand, wurde auf die Dimension des Einsperrens reduziert. Fraglos stand hinter dieser Form des Ans­Licht­Zerrens die radikalisierte Aufklärung, die Wahrheit nur als Entbergung denken konnte und daher die Überflutung des dunklen, undurchsichtigen Raumes mit dem wahrheitsbringenden Licht zu ihrem Prinzip machte. Boullée hatte schon früher in seinem Entwurf zu einem Justizpalast eine analoge Hell­Dunkel­Situa­ tion gestaltet, indem er in einer „eindrucksvollen Allegorie der Aufklärung“ 12 die von oben belichteten würfelförmigen Gerichtssäle auf einen halb eingegrabenen Unterbau mit den Gefängniszellen stellte und dies in der Architektenprosa des 18. Jahrhunderts so begründete: „Wenn ich diesen erhabenen Palast auf den finsteren Höhlen des Ver­ brechens errichtete, könnte ich – so schien es mir – nicht nur den Adel der Architektur durch den daraus entstehenden Gegensatz besonders hervorheben, darüber hinaus würde ich auch gleichsam greifbar das eindrucksvolle Bild des vom Gewicht der Jus­ tiz erdrückten Lasters vor Augen führen.“ 13 Tatsächlich aber hatte Claude­Nicolas Ledoux etwa zwanzig Jahre vor Benthams Publikation Das Panoptikum von 1790 einen Idealentwurf der Salines Royales im Esprit de Panoptisme realisiert, gleichwohl aber den Charakter der perfekten Disziplinierung mit dem Auge im Zentrum durch eine spezifische architektonische Gestaltung gemil­ dert. Das Haus des Direktors ist kein Kontrollturm, sondern ein Tempel, der Temple de Surveillance, und die Häuser der Arbeiter sind durch Hecken vor dem direkten Ein­ blick geschützt. Außerdem ähnelt die Anlage, auch aufgrund eines Auditoriums im Hause des Direktors – analog zum berühmten Stich des Coup d’oeil im Theater von Be­ sançon – viel eher einem Theater, denn im Auge des im Zentrum stehenden Betrach­ ters spiegelt sich der Theatersaal, der die Erwiderung des Blicks durch den Betrachte­ ten symbolisiert.14 In diesem früheren Konzept wird der theatralische Aspekt nicht nur auf eine transparente Zelle des/der Arbeiters/Arbeiterin, wie bei Bentham, reduziert, sondern auf die gesamte Anlage übertragen. Der Direktor muss sich auch den Blicken der Arbeiter stellen, er residiert in der Mitte der Stadt als Stellvertreter des Königs bei erlöschender Strahlkraft, das Verhältnis zur Peripherie ist eher durch die Bedingungen eines Theaters der Macht geprägt. Der panoptische Raum im Bentham’schen Sinne ist die entwicklungsmäßige Voraussetzung des seriellen Raumes der Moderne. Die auf­ grund strenger raumzeitlicher Strukturierung ermöglichte und erzwungene Zusam­ menschaltung von Körper und Geste, die mit der Verbindung von Körper und Objekt 50

1 Eugenio Battisti, Brunelleschi, Belser, Mailand Electa, Stuttgart/Zürich 1979, S. 324 . 2 Wilhelm Fränger, „Das Tausendjährige Reich“, in ders.: Hieronymus Bosch, Verlag der Kunst, Dresden 1975, S. 44 . 3 Siehe nächste Folge. 4 Norbert Miller, Archäologie des Traums, dtv, München 1994 , S. 384 . 5 Ebd., S. 388 . 6 Charles Baudelaire, Oevres complètes, Paris 1976, Bd. 1, S. 372 . Dt. Übersetzung (vom Autor teilweise geändert): Baudelaire, Sämt­ liche Werke, Bd. 8 , Hanser, München 1985, S. 315; coecum

heißt eigentlich Blinddarm. 7 Etienne Louis Boullée, Ar­ chitektur, Abhandlung über die Kunst, Artemis, Zürich München 1987, S. 128 . 8 Ebd., S. 70. 9 Michel Foucault, Überwachen und Strafen, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1977, S. 251. 10 Ebd., S. 254 . 11 Ebd., S. 256. 12 Anthony Vidler, UnHEIM lich. Über das Unbehagen in der Architek­ tur, Edition Nautilus, Hamburg 2001, S. 217. 13 Boullée (wie Anm. 7 ), S. 101. 14 Anthony Vidler, Claude­Nicolas Ledoux, Birkhäuser Verlag, Basel 1988 , S. 56.

Die Romantik. Der städtische Antiraum bricht herein

einhergeht und zu einer Verschweißung von Geometrie und Bewegung führt, prägt das spatiale Bewusstsein der Stadtplanung der Moderne vor, allerdings bei einer Neu­ kodierung ähnlicher Sachverhalte. Der panoptische Blick des Aufsehers geht in der Pla­ nungsallmacht des architektonischen Blickes auf.

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Abb. 4: Fête à l’être suprême le 8 Juin 1794 /Fest des höchsten Wesen, J. Duplessi-Bertaux inv. & sculp. 1797. Das Fest ist ein wesentliches Medium der französischen Revolution zur Neuformatierung des urbanen Raumes. Man feierte jedoch keinen christlichen Gott, sondern das sogenannte „Höchste Wesen“, das politisch unverdächtig war.

Revolutionsraum Die französische Revolution gilt bekanntlich als historisches Ereignis der Gesell­ schaftsumwälzung von größter Tragweite. Dem geglückten Versuch einer Befreiung von der Herrschaft der Monarchie und dem Anspruch einer Anwendung der Prinzi­ pien von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit auf alle Menschen steht die Realität einer zeitweiligen Schreckensherrschaft gegenüber, die durch eine Vielzahl von Hin­ richtungen ohne korrekte Gerichtsverhandlung, oft auf bloße Verleumdung hin, ge­ kennzeichnet war. Für Hegel war sie trotz allem ein Beweis für den nicht aufhaltbaren Fortschritt der Menschheit und der Zunahme von Vernunft und Selbstbestimmung. Für den Stadtforscher ist sie ein Ursprungsereignis zahlreicher moderner Phänomene des Urbanen, und auch des Anti­Urbanen. Der Schlüssel zum Verständnis des revolu­ tionären Raumverständnisses liegt weniger in der Architektur als im Fest. Das Fest der Revolution ist das Medium der urbanen Raumgestaltung, indem es durch die Inszenie­ rung von Massenversammlungen den Raum durch die Zuordnung neuer Bedeutungen strukturiert. Es zeigt die Vorstellungen eines neuen Raumes und formatiert durch sei­ ne Prozessionen und Umzüge die Stadt um, es findet neue Orte und lässt durch Nicht­ beachtung alte Orte in Vergessenheit geraten, und vor allem, es formuliert zahlreiche Grundlagen des Raumes der Moderne. Das Fest als Medium des Revolutionsraumes Seit dem Beginn der Revolution ergab sich ein natürlicher Zusammenhang zwischen der Wiedererringung der Freiheit und der Wiedereroberung des Raumes.1 Die Zer­ schlagung der Zäune zur Befreiung der Gärten ermöglichte nun nicht nur ungestörtes Promenieren dort, wo es früher verboten war, sondern bedeutete zugleich die bürger­ liche Aneignung einer habituellen Bewegung, die bisher nur dem Aristokraten, der nicht auf Arbeit angewiesen und daher Herr seiner Zeit ist, vorbehalten war. Es ist ver­ ständlich, dass die Appropriation jenes Raumes, dessen Öffnung erzwungen wurde, eine revolutionäre Vergnügung ersten Ranges darstellte. Schließlich hatten die Den­ ker der Aufklärung, Schriftsteller, Urbanisten und Architekten über ein Jahrhundert lang versucht, den Einfluss der räumlichen Konfiguration auf das öffentliche Wohl zu erklären und den Glauben an die erzieherische Potenz des Raumes aus dem Geist der Utopie zu predigen. Niemand bezweifelte die Macht des Raumes, wenngleich es un­ zureichende Bemühungen gab, eine Kausalität zur Ergründung seines formenden Ein­ flusses auf den Geist zu ergründen. Raum könne einfach von sich aus seine Wirkung geltend machen. Daher schien es logisch, dass eine neue Einrichtung des städtischen Raumes einer neuen politischen Ordnung vorauszugehen habe. Schließlich hatte auch Cäsar eine Änderung seiner Regierungsform durch Änderungen des Zirkus eingeleitet, wie Abbé Brothier in einer Sitzung der Akademie feststellte.2 Eine ingeniöse Raumeinrichtung wäre von sich aus in der Lage, individuelle Fehler zu verhindern. Das Aufstellen eines zivilen Altares in der Nähe eines Versammlungs­ raumes würde den Gesetzgeber zur richtigen Bewältigung seiner Aufgaben veranlas­ sen. Eine vor den Augen der Betrachter ausgebreitete bewusste Geographie würde die alte unbewusste Geographie ersetzen und durch ein vernünftiges Programm der Raumbesetzung, zu der die Entweihung und Neueinsegnung der Plätze, die Numme­ 53

rierung der Häuser und Dekonstruktion der emotionalen Potenz der Kirchen ebenso zählte wie die Zerstörung der alten Embleme, realisiert werden. Das bedeutete aber ein gewaltiges Unterfangen und machte eine spezifische Form des Ritus notwendig, die man durch die Inszenierung einer besonderen Festkultur umsetzte. In der euphemis­ tischen Stimmung meinte man, dass die spezifische emotionale Ladung des Festes in der Lage sein müsse, die traditionelle juristische Einrichtung des Raumes aufzuheben. Analog zum Glauben, dass jeder Konflikt sich in einer architektonisch richtig gestalte­ ten, utopischen Stadt auflösen würde, dachte man jede unliebsame Überraschung und Dissonanz durch ein Fest, das sich seinen Raum geschickt zu wählen weiß, vermeiden zu können. Man müsse nur diesen Raum finden, gegebenenfalls erfinden oder neu ma­ chen, ihn kennzeichnen und leeren, und durch die Einschreibung neuer Figuren und Wege in Form einer revolutionären Weihe neu einsegnen. Revolution ist also Raum­ änderungsprogramm per se. Revolutionsraum und negative Urbanität Aus diesen Gründen und unerhörten Anforderungen an den Raum konnte das Fest oft gar nicht in der Stadt inszeniert werden, sondern musste außerhalb der Stadtmau­ ern, im Feld und auf der Ebene stattfinden. Daher galten zunächst die Wildnis und der weite, freie Raum als bevorzugte Stätten zur Abhaltung des Festes, dem grenzenlosen Naturraum wurde im Sinne der Theorien des Erhabenen, aber auch der Festtheorie Rousseaus der Vorzug vor der Stadt gegeben. Das Fest im Sinne Rousseaus verwirk­ licht sich in der Epiphanie der Transparenz. Die reine Freude ist ohne Objekt, daher meint Rousseau zum Fest: „Was wird man dort zeigen? Eigentlich nichts.“ 3 Nichts zei­ gen heißt die Schaffung eines völlig freien und leeren Raumes. In der Praxis bedeutete das die Entdeckung der Peripherie oder die Besetzung gro­ ßer freier Flächen vor den Stadtmauern. Michelet sieht überhaupt im Marsfeld, einem riesigen leeren Platz das eigentliche Vermächtnis der Revolution für den Pariser Urba­ nismus. „Die Revolution hat als Monument […] die Leere. Ihr Monument ist die Sand­ wüste, so flach wie in Arabien […] Ein Grabhügel rechts und einer links, wie man sie in Gallien aufgeworfen hat, dunkle und zweifelhafte Zeugen zur Erinnerung der Helden.“ 4 Natur in der Stadt Der Naturraum verkörpert die positive Leere und steht im Gegensatz zum Stadtraum, der als Zeichen negativer Fülle gilt. Daher muss die Stadt mit der Natur in Berührung kommen. Nach der Erstürmung der barrières gruben die Gemüsefrauen aus den halles einen Baum der zerstörten Anlagen aus und verpflanzten ihn in die Mitte der place du Carrousel, vor die Fenster des Königs, um die Grenze zwischen Stadt und Land aufzu­ heben und die Versöhnung mit der Natur zu bekräftigen.5 Während der Feste verwandelte sich die ganze Stadt in einen Raum dichter Vege­ tation. Aus Blumen und Früchten wurden Girlanden geflochten, Zweige wurden vor den Haustoren angebracht um die Urbanität des Ambientes zu tilgen. Ganz Paris ver­ wandelte sich in einen wunderschönen Obstgarten. Zugleich zog man aus Gründen der Kontrollierbarkeit diese Simulation einer Landschaft der wirklichen Natur und dem unkontrollierbaren Labyrinth des Waldes vor.6 Der Forderung nach der Erhabenheit des Raumes konnte aber auch aus anderen Gründen am besten in der Natur entsprochen werden. Denn dieser offene Raum hat­ 54

te den zentralen Charakterzug, ein Ort ohne Gedächtnis zu sein und schien auf diese Weise mit der besonderen Eignung ausgestattet, den Eintritt in eine neue Welt zu er­ möglichen. Hier erfolgte der Eintritt in den Zukunftsraum und die Umprogrammie­ rung der Begehrensstruktur auf eine künftige Befriedigung hin. Die christlichen Er­ lösungshoffnungen im Jenseits werden durch die Wahl triebinduzierter Objekte im Diesseits abgelöst. Während die Leidenschaft für den offenen Raum ihre Wurzeln in den Träumerei­ en Rousseaus und anderer Utopisten hatte, schöpften die Menschen der Revolution die motivierende Kraft auch aus dem negativen Modell des aristokratischen Festes, das nach den Regeln der Distinktion teilte, einschloss, und isolierte. Als im Juli und August 1789 die ersten Barrieren und Zollstellen abgerissen worden waren, tanzte das Volk von Paris tagelang um die Pavillons der brennenden barrières, die unter dem

Panorama Der ideale Ort des revolutionären Festes musste ein Panorama ermöglichen, von dem aus alle Bewegungen sichtbar werden und die Intentionen des Organisators unmittel­ bar transparent gemacht werden können.8 Daraus folgte ein pädagogischer Zweck. In­ dem der Betrachter die aus allen Richtungen des Landes zusammenströmenden Men­ schen sah, entstand vor seinen Augen das Bild eines Volkes von Brüdern. Hier vollzieht

Revolutionsraum

dreifachen Verdikt der Einschließung, der Heimlichkeit und des Schattens standen. Einschließung wurde daher sehr bald zum Zeichen der Konterrevolutionäre. Umge­ kehrt schuf es die Bedingungen für ein Bewusstsein, das Freiheit mit ungehemmter Bewegung und ungestörter Zirkulation gleichsetzte. Die Möglichkeit der ungehinder­ ten Bewegung durch die Ausschaltung räumlicher, örtlicher oder sozialer Widerstän­ de sind selbstverständliche Voraussetzungen für die moderne Vorstellung von Hand­ lungsfreiheit. Nur der offene Platz erlaubte die Darstellung der einzigen erwünschten und ständig wiederholten Szene, des Dramas der nationalen Einheit. In der freien Luft, in der reini­ genden Neutralität eines nicht geschlossenen Platzes müssten sich alle Unterschiede von selbst auflösen. So lautete das Grundmotiv zahlreicher Feste der Föderierten. Im räumlichen Arrangement des idealen Festes dürfe nichts begrenzen und nichts ein­ schließen. Als einzig erlaubte Einbettung oder Einschließung des nationalen Festes galt das Himmelsgewölbe, da das Volk als der Souverän niemals in einem von anderen definierten Raum eingeschlossen sein dürfe und es selbst in dieser Situation sein ei­ genes Subjekt und Ornament sein müsse.7 Nur beim Himmelsgewölbe, da es sich um einen theozentrischen Raum, der durch die Emanation eines göttlichen Architekten entstanden ist, handle, könne man eine Ausnahme machen. In dieser unsichtbaren Kuppel manifestiere sich die Transzendenz, die sich im Revolutionsfest ergab und da­ her auch jeglichen Baldachin strikt ablehnte, da er doch zwischen dem Obersten We­ sen (l’Être Suprême), wie die Franzosen ihrem Gott neuerdings zu bezeichnen pflegten, und den Betenden einen Schirm einschob, der inakzeptabel war. Die Grundidee dieser Haltung bestand im Anspruch auf einer direkten Beziehung zwischen Volk und Gott, ohne auf die Mittlerdienste der Priester und der Kirche angewiesen zu sein. Der direkte Zugang zu Gott ohne Einschaltung der Kirche entsprach einer protestantischen Forde­ rung, die den Verzicht auf die heilende Wirkung der Sakramente zur Folge hatte, weil man sich ihrer nicht mehr bedürftig fühlte.

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unter revolutionären Bedingungen die bürgerliche Aneignung die Rolle des Königs durch die Einnahme seiner Perspektive. Zugleich steht die Faszination des Panoramas in direktem Zusammenhang mit der Kontrolle des Volkes durch die Revolutionsregie­ rung. Von hier aus führt eine direkte Linie zum panoptischen Raum. Auch der Ballon­ fahrer, der Aerostat steht als Pionier seiner Zeit in logischer Beziehung zur Politik und Ästhetik der Extension, denn er ist es ja, dem ganz Paris zu Füßen liegt, wenn er in ei­ ner imaginären Geste der Aneignung urbanen Raumes gegen den Himmel schwebt und so die Grenzenlosigkeit des Raumes erlebt. Der Ballonfahrer, der am 10. September im Auftrag der Regierung über Paris flog, berichtete der Versammlung über das rausch­ hafte Ereignis, Paris zu seinen Füßen liegen zu sehen und in gerader Linie über die Champs Élisées, die Tuilerien, den Louvre und den Faubourg Saint­Antoine zu fliegen ohne sich den Krümmungen der Quartiere anpassen zu müssen.9 Übrigens flog auch er entlang der berühmten Achse indem er die königlichen Territorien überquerte und bis zu den berühmten Faubourgs flog, von wo aus die Revolution durch den Marsch der Frauen für billigeres Getreide gestartet war. Neue Raumsymbolik des Festes Trotz aller Präferenz des unendlichen und unbegrenzten Raumes (aber nicht transzen­ dentalen) bestand die Notwendigkeit der Neueinführung von räumlichen und archi­ tektonischen Symbolen 10, wobei der Altar des Vaterlandes als der Mittelpunkt des Festes agierte, weil dort der heilige Schwur auf das Vaterland abgelegt wurde. Ein wei­ teres zentrales Motiv der Projekte bestand in der Gründungssäule, die symbolisch für die Stadt und ihre Neugründung steht und vermutlich auf die frühe griechische Pra­ xis des Hestia­Kultes verweist. Auch die Verwendung von Obelisken und Pyramiden, wohl durch die zeitgleiche Ägyptophilie angeregt, ist überliefert. Jedenfalls steht fest, dass die während der Revolution kreierten Symbole aus­ schließlich als Monumente mit einer nach außen gerichteten Wirkung dienten, In­ nenräume und bewohnte Räume waren absolut kein Thema.11 Diese Vernachlässigung des Innenraums beruhte vermutlich auf der sakralen, katholischen und feudalen Be­ anspruchung des Innenraums der Kirche als Illusionsraum. Es handelt sich dabei um einen Raum der Verborgenheit, den man nur langsam erschließen kann und der seine Geheimnisse nur zögernd und in überraschender Weise preisgibt. Aber dies lief voll­ kommen dem revolutionären, instantanen Prinzip der vollkommenen Sichtbarkeit zu­ wider, die sich sofort und total ergeben musste, gewissermaßen als einem Folgepro­ dukt der Aufklärung, das in Reaktion zur symbolischen Raumordnung der Kirche und ihrer Bevorzugung des Geheimnisses stehen musste. Eine weitere Charakteristik bestand in der Ablehnung der Vertikalen, da man die Dominanz dieser Form über die anderen nicht weiter dulden wollte und diese Ableh­ nung im Aufruf zur Abtragung und Zerstörung der Kirchtürme gipfelte.12 Damit einher ging die Bevorzugung der Ebene und des Flachlandes, wie der Horizontalen überhaupt, da sie in der Lage wären, das Prinzip der Gleichheit viel besser wiedergeben zu können. Die dérives der Revolution Die Projekte der Festzüge, deren Verlauf man anhand des Beispieles der Stadt Caen vollständig dokumentieren konnte,13 kehrten die alte Ordnung der sakralen und profa­ nen Stadt um. Völlig aufgegeben wurden das auf einem Berg gelegene Schloss und der 56

Großteil der Kirchen. Nur zwei Kirchen mit besonderer Eignung zum Versammlungs­ ort standen in weiterer, umgewidmeter Verwendung. Grundsätzlich konnte man zwei Haupttypen in Bezug auf die urbane Nutzung des Umzuges beobachten. Zunächst be­ standen jene Projekte, die die alte Handelsstadt mit der klassischen Stadt verbanden. In der Handelsstadt befand sich der Kornspeicher, der in vielen Orten als Ausgangspunkt der Revolution galt, der Marsch durch die alte Stadt diente der Besichtigung der Sitze der enthobenen Mächtigen. Nach und nach setzte sich jedoch ein zweiter Typus durch, der die völlige Abkehr von der traditionellen Stadt zum Ziel hatte und in gewisser Weise

Der urbane zéro degré der Revolution Nach der allgemein verbreiteten Rechtstheologie des Mittelalters besteht der König aus zwei Körpern, bei dem einen handelt es sich um das vergängliche, sterbliche Element, jener Körper in den er geboren wird und der nach seinem Tod verfällt, und um seinen unsterblichen Teil, der in seiner Ikonographie und den Rechtsinstituten weiterlebt und durch bestimmte Rituale ständig erneuert und bekräftigt wird.14 Der Ursprung dieser Konstruktion liegt zweifellos im Christentum und der Person Christi oder den älteren Traditionsströmen des Priester­Königs. Damit wurden die Staatsgeschäfte sakralisiert aber gleichzeitig der Übergang ins Profane auf eine besondere Weise organisiert, so­ dass sich daraus eine symbolische Ordnung mit höchster sozialer Wirkung und ei­ ner Eignung zu langlebiger und akzeptierter Strukturbildung entwickeln konnte. Die forma urbis ist nicht zuletzt ein Ergebnis dieser Lage. „Der König stirbt niemals“ war noch die im 18. Jahrhundert bei breiten Kreisen der Bevölkerung gültige Meinung. Die neue Regierung gedachte das Gegenteil zu beweisen und auch den König mit der neu­ en Errungenschaft der Guillotine bekannt zu machen. Die Wahl des Exekutionsortes dürfte nicht zufällig auf den Place du Carrousel gefallen sein, zumal man die Guillo­ tine vom Place de Grèves, der nur ca. 3.000 Zuschauer fasste, dorthin verlegen mus­ ste. Dennoch bestand der Grund für die Umsiedlung des Exekutionsortes nicht im größeren Fassungsraum von 20.000 Menschen, sondern in seiner höheren symboli­ schen Potenz. Denn dieser Platz war im Auftrage des Großvaters des amtierenden Kö­ nigs, Louis XV., von Gabriel errichtet worden und lag durch ein zur Verfügung gestell­ tes Stück Brachland vor dem Sitz und Garten des Königs. Durch die Errichtung einer Monumentalstatue der Figur des Louis XV. wurde das Zentrum der Stadt markiert. Man darf annehmen, dass hinter der Wahl dieses Ortes zur Hinrichtung nicht nur po­ litische Überlegungen und Ressentiments, sondern neben der physischen Auslöschung

Revolutionsraum

Grundtendenzen des modernen Urbanismus einführte. Zur Erschließung neuer Wege wurden Durchbrüche in der Stadtmauer gestattet, die den Zugang zu neuen Terrains mit dem Charakter dezentrierter Orte und Naturräume ermöglichten. Die Aufspren­ gung der alten Stadtgrenzen ging mit der völligen Aufgabe der zerbröckelnden Fortifi­ kationsanlagen einher. Es gab aber auch Festzüge, die eine Verbindung der Altstadt mit den Quartieren des neuen Urbanismus in den Vorstädten herstellten. Als Ergebnis der festlichen Projekte auf der Suche nach der neuen Stadt könnte man die Bevorzugung folgender Elemente festhalten: Die ebene Stadt anstelle der höher gelegenen Stadt, der Sumpf anstelle der Zitadelle, die Prärien gegenüber den steilen Straßen der Burg, die müßige anstelle der aktiven Stadt, indem man den Geschäftsstraßen und dem Kai den Rücken zuwandte. Ebenso präferierte man die geräumige und ruhige Stadt des noch nicht parzellierten Geländes gegenüber der zerstückelten, lauten und verstopften Stadt.

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auch ein Akt der symbolischen Ausradierung der Markierung durch die königliche Sta­ tue von Louis XV. intendiert war. Die Exekution Louis XVI . selbst ist als merkwürdig gespenstisches Ereignis über­ liefert. Einerseits wurde die Versammlung einer großen Menge auf diesem Platz zur Beiwohnung dieser Hinrichtung, die ein neues Zeitalter ankündigen sollte, organi­ siert, andrerseits war man sich der Reaktionen des Volkes nicht sicher. Man vermied das Spektakel der sonstigen Exekutionen und versetzte das Volk damit in eine eher apathische Stimmung. Die Masse war zwar anwesend, konnte aber durch die ange­ ordnete, weite Distanz zum Schafott praktisch nichts sehen. Viele Zuschauer glaub­ ten, dass das abgeschlagene Königshaupt zu sprechen beginnen könne oder dass der König eine ergreifende Rede halten würde. Daher wurde ein breiter Kordon von Sol­ daten um die Schädelstätte aufgestellt. Um Louis XVI . begreiflich zu machen, dass er auch hier keine Sonderstellung beanspruchen könne, wurde die gleiche Guillotine der Massenhinrichtungen verwendet und auch die Klinge mit dem Blut des unglück­ lichen Vorgängers nicht gesäubert. Verständlicherweise konnte es hier nicht mehr um die Gefahr einer Ansteckung gehen, sondern die Vermischung königlichen Blutes mit bürgerlichem Lebenssaft galt aus royalistischer Sicht als wenig wünschenswert. Mit der Hinrichtung wurde die Doppelcodierung des Zentrums der Stadt durch das Geschlecht in einer merkwürdigen Zeremonie, die den Tod und die Leere 15 zum Ziel hatte, ausgelöscht. Der Ort wurde zum zéro degré, dem Null­Punkt der königlichen Stadt, ohne aber seine zentrale Rolle als Mittelpunkt zu verlieren. Im 19. Jahrhundert wurde der Platz, der mehrmals umbenannt wurde, zunächst Place de la Revolution, später Place de la Concorde hieß, zum Ausgangspunkt der Stadtplanung und der Bil­ dung der zentralen Achse von Paris, die über die Champs Élisées zum Arc de Triomphe auf dem Place de L’Étoile führte und von dort aus weiter bis La Défense. Hittorf defi­ nierte den Place da la Concorde als Achsenkreuz und ließ in den 1830er­Jahren einen 240 Tonnen schweren Obelisken in der Mitte des Platzes aufstellen, um erneut eine Markierung des Zentrums als Fokus der Perspektiven und Ikone der Eintracht anzu­ bringen. Haussmann jedoch ließ den Obelisken 1852 wieder entfernen, da er die De­ monstration zentraler Macht mit seinen Vorstellungen der axialen Perspektive nicht vereinbaren konnte. Die Verwandlung von Paris in eine Stadt der Zirkulation wäre durch ein Bauwerk behindert worden, das die durch den axialen Blick erzeugte trium­ phale Perspektive mit dem Charakter des Unendlichen behindert hätte. Revolutionsarchitektur. Hyperzirkulation Die Revolution erfindet durch die Inszenierungen des Festes die Masse neu und man muss an dieser Stelle den Umstand in Erinnerung rufen, dass seit dem römischen Zir­ kus vor 1.500 Jahren keine vergleichbaren Massenveranstaltungen für das Volk mehr stattgefunden hatten, dass das Volk als Masse ohne den König als Repräsentanten zu keinem gemeinsamen Ausdruck gekommen war. An diesem Punkt kommen nun die Entwürfe von Boullée wieder ins Spiel, dessen Revolutionsarchitektur die Entwick­ lung der Massengesellschaft vorausahnte und auf den architektonischen Begriff brach­ te. Zwei Gebäudetypen sind hier zu nennen, die Passagenkonstruktion des Gemeinde­ palastes und das riesige Amphitheater. Zur Charakterisierung des Munizipalpalastes, einer Art riesenhaften Volkspalastes als „das gemeinsame Haus aller“, „sah ich Galerien vor, die nach allen Seiten miteinan­ 58

der verbunden waren, und unzählige Öffnungen, so dass eine Vielzahl von Menschen ohne Durcheinander frei ein­ und ausgehen könnte.“16 Der Gemeindepalast führt hier den neuen Raumtypus der Passage als einen städtischen Prototyp der Zukunft, der auf Zirkulation und Verkehr beruht, ein.17 Es ist ein Gebäude, das „allen gehören soll“ – und nun folgt eine theoretisch bedeutsame Bemerkung: „Ein Haus, das für alle da war, musste notwendigerweise eine Art Bienenstock darstellen, ja ohne Zweifel ist ein Ge­ meindehaus ein menschliches Bienenhaus […].“18 Die Anwendung einer biologischen Metapher auf die Gesellschaft, deren Identifikation mit einem Insektenstaat, beruht auf der Erfahrung der Revolution, der daraus folgenden Vermassung und dem sich ab­ zeichnenden Ende des Individuums und könnte auch als zynische Gleichsetzung gel­

Revolutionsarchitektur. Amphitheater als Erregungsmaschine „Das Kolosseum ist eines der schönsten Monumente Italiens“ so leitet Boullée die Pro­ jektbeschreibung seines Zirkusprojektes, einem Gebäude in der Form eines gigan­ tischen Kolosseums, das er am Place de l’Étoile errichten wollte, ein. Der Anblick repu­ blikanischer Tugenden sollte die Menschen einander als freie Bürger der Stadt näher bringen. „Man stelle sich dreihunderttausend Menschen vor, vereint in einem Am­ phitheater, wo niemand den Blicken der Menge entgehen könnte. Das würde einen einzigartigen Eindruck machen: Die Schönheit dieses erstaunlichen Schauspiels näm­ lich käme durch die Zuschauer selbst und entstünde durch sie.“ Boullée erkennt hier intuitiv das Selbsterregungspotential der Masse durch die Mimesis der gegenseitigen Blicke als die energetische Basis eines derartigen Gebäudes. „Denn was gäbe es Fes­ selnderes als den Anblick dieser herrlichen Arena, gefüllt mit einer glänzenden Jugend, die danach strebt, sich auf allen sportlichen Gebieten auszuzeichnen, die zum Beispiel bei Wettrennen ihre ganze Beweglichkeit entfaltet und bei militärischen Übungen ihre Eignung zur Verteidigung des Vaterlandes beweisen würde. […] Die gesamte Öffent­ lichkeit könnte dort genau betrachten und entscheiden, was der Nation zur Ehre gerei­ chen und die Bewunderung des Auslandes erregen würde.“19 An anderer Stelle übernimmt er wortwörtlich Teile eines Memorandums, in dem die römische Tradition der Spiele, vor allem der Wagenrennen gerühmt wird, weil sie damit einen ungeheuren Beitrag zur Prachtentfaltung Roms und der Darstellung sei­ ner Größe geleistet habe. Boullée weiß aus den alten Berichten um die Funktion der Arena und die ungeheure Qualität der Erregung der Menschen durch den Wettkampf, der den Sieger hervorbringt. Er denkt hier die Massenkultur voraus, indem er dem Fest einen permanenten Ort zur Feier des Siegers zuweisen möchte. Schon zu Zeiten des

Revolutionsraum

ten, wenn nicht das Bild des idealen Tierstaates Element der zeitgenössischen Literatur gewesen wäre. Jedenfalls bereiten diese Planungen eine völlige Neuorientierung der Stadt in Bezug auf ihre Erschließung vor. Die Passage ist der Übergangsort schlecht­ hin und durch absolute Zweideutigkeit charakterisiert, dabei ergeben sich neue Fra­ gen: Erfolgt hier bereits die Demontage des anthropologischen Ortes durch die Trans­ formierung in Nicht­Orte oder soll hier eine Art Super­Agora geschaffen werden? Doch die Angabe eines konkreten Zweckes würde den Architekten überfordern, er träumt eher von Räumen, er ahnt Entwicklungen voraus, für die er einen poetischen Ausdruck sucht. Jedenfalls verschwimmt mit dem Typus der Passage die Unterscheidung zwi­ schen städtischem Raum und kolossalem Gebäude, in weiterer Folge zwischen Innen und Außen.

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Ancien Régime war es bei von der Stadtverwaltung organisierten Festen immer wieder zu schweren Unfällen mit zahlreichen Toten gekommen, so etwa bei der Heirat von Louis XVI . mit Marie Antoinette, auch das wiederum auf der Place Louis XV., der späteren Place de la Concorde.

1 Mona Ozouf, La fête revolutionaire. 1789 – 1799, Galli­ mard, Paris 1976, S. 148 . 2 Etienne­Louis Boullée, Archi­ tecture; essai sur l’art, Artemis, Zürich/München 1987, S. 115. 3 Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Wider­ ständen, Fischer, Frankfurt/Main 1988 , S. 145. 4 Michelet, Histoire da la Révolution francaise, Préface de 1847, zit. nach Mona Ozouf, S. 177 (vom Autor übersetzt). 5 Ozouf (wie Anm. 1). 6 Ozouf (wie Anm. 1), S. 178 . 7 Ozouf (wie Anm. 1), S. 152. 8 Ozouf (wie Anm. 1), S. 153. 9 Ozouf (wie Anm. 1), S. 157. 10 Ozouf (wie Anm. 1), S. 159. 11 Ozouf

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(wie Anm. 1), S. 162. 12 Ozouf (wie Anm. 1), S. 161. 13 Jean­ Claude Perrot, Genèse d’une ville moderne. Caen au XVIII e siècle, Verlag Mouton, Paris/La Haye 1975. 14 Ernst Hartwig Kantorowicz, The King’s Two Bodies, Universi­ ty Press, Princetown 1957. 15 Richard Sennett, Fleisch und Stein, Berlin Verlag, Berlin 1995, S. 377. 16 Boullée (wie Anm. 2), S. 106. 17 Zum Thema Passage siehe Kap.: Weder Innen noch Außen. Die Passage, S. 97. und Die Passage als Chronotopos, S. 105. 18 Boullée (wie Anm. 2), S. 106. 19 Boullée (wie Anm. 2), S. 111 – 112.

Protestantischer Raum. Genese. Bewusstsein und Raum Es gibt einen prinzipiellen Zusammenhang zwischen der Entwicklung des protestan­ tischen Bewusstseins im Sinne von Max Weber und dem daraus resultierenden Ver­ mögen zur Raumbildung. Dieses wird durch die Logik des neutralen Raumes realisiert und basiert auf der endgültigen Auflösung aller Vorstellungen eines heiligen Raumes. Der Protestant, der den Glauben an die heilende Wirkung der Sakramente verloren hat und aufgrund seines Wissens um den Verlust der Heilssicherheit das „unglückliche Bewusstsein“ entwickelte, ist zur Individualität und zur Suche eines persönlichen We­ ges, der diesen Verlust kompensieren kann, „verdammt“. Daraus folgte bekanntlich die wesentliche Strategie einer Neuformatierung der Arbeit im Sinne systematischer Lebensführung, die seit dem 19. Jahrhundert die Kultur des Westens hervorbringt, dominiert und eine moderne Industriegesellschaft erst möglich macht. Während dem gläubigen Katholiken aufgrund der Sakramente die Heilsgewissheit stets neu eröffnet wurde und er schon deshalb nicht in gleichem Maß dem inneren Zwang zur Regelmä­ ßigkeit und Gewissenhaftigkeit der Arbeit verfiel, da ihm die Beichte stets die Heils­ gewissheit neu eröffnete, hatte sich der Protestant dieser Möglichkeiten entledigt und war nun auf die regelmäßige Kontrolle und Befragung seines „Inneren“, ob er sich denn auf dem richtigen Weg bei seiner Suche nach Gott befinde, angewiesen. Der prinzi­ piellen Unbeantwortbarkeit dieser Frage folgte daher die Lehrmeinung der protestan­ tischen Sekten, dass der richtige Weg an der Erfolgskurve des Menschen im jetzigen Leben zu erkennen sei. Denn daran ließe sich ermessen, dass hier jemand aufgrund ei­ ner richtigen Lebensführung ein Zeichen der Zustimmung Gottes erhalten habe. Aus der nun ständig notwendigen Kontrolle des Inneren resultierte eine neue rationale Lebensführung, die durch regelmäßige Befragung auch das Prinzip der permanenten Rationalisierung und Verbesserung einführte. Der alte katholische Dialog mit dem Inneren hatte das Bild Gottes zur Grundlage. Im Sinne des berühmten Gleichnisses in der civitas dei von Augustinus, das das Leben in dieser irdischen civitas als einen Weg darstellte, der wie in einem Tunnel, an dessen Ende das Licht wartet, zu Gott führen müsse, war das Ziel als Bild quasi sichtbar. Be­ dingt durch den neuen intensiven Dialog mit dem Inneren hingegen, wie ihn die Pro­ testanten führten, wurde das Bild Gottes verloren, ja man bestritt sogar dessen Exis­ tenz im Sinne ikonoklastischer Tendenzen und jeder musste es auf seine eigene Art ohne Erfolgsgarantie wieder finden, um damit die Entwicklung des modernen Indi­ viduums, dessen Inneres ebenfalls in tausend Kämpfe mit ungewissem Ausgang ver­ strickt ist, einzuleiten. „Die Kirchen in der Mitte der traditionellen europäischen Dörfer und Städte zeigten für das Auge unverkennbar, wo Gott zu finden war. Sie umschrieben einen Raum des Wiedererkennens. Gott ist lesbar: Er befindet sich drinnen, im Inneren der Freistatt, ebenso wie im Inneren der Seele. Draußen gibt es nur Preisgegebenheit, Unordnung und Grausamkeit. Das puritanische Innere hingegen war unlesbar, ein Kriegsschau­ platz, auf dem das Gewissen selbst mit sich kämpfte […]“.1 Die alte Raumordnung im Außen durch die Einschreibung heiliger Orte wird zu Gunsten einer permanenten An­ 61

strengung zur Selbstfindung im Inneren aufgegeben. „Das Versagen der Wörter bei der Offenbarung der Seele verband sich mit einem gesteigerten Selbstbewusstsein in ei­ nem unermesslichen, fremden Raum. Da es an einer dem inneren Erleben angemesse­ nen Sprache fehlte, verschloss es sich zunehmend in der Seele jedes Einzelnen, wurde unaussprechlich und ließ sich allenfalls andeuten. Der innere Raum des mittelalter­ lichen Katholizismus war ein physisch greifbarer Raum, den die Menschen miteinan­ der teilen konnten. Der innere Raum des Puritanismus war ein Ort des radikalen Indi­ vidualismus, und er war unangreifbar. Das Auge des Puritaners konnte nur in dieses innere Selbst blicken. Draußen war nichts.“ 2 Daraus folgte die protestantische Vorstellung, das Außen als wertlos anzusehen: „Die Wahrnehmung der äußeren Leere macht den Blick nach innen nur umso wertvol­ ler.“ 3 Diese asketische Grundhaltung hat die folgenreiche Tendenz zur Verleugnung vi­ sueller Werte. Aus Gründen der Angst vor falscher Ablenkung durch nichtige Elemente erwächst eine neue Logik des neutralen Raumes. Gewiss, das alte christliche Zentrum spiegelte die Unterordnung unter eine Autorität und eine erkennbare Mitte wieder. Die neue protestantisch inspirierte Raumvorstellung jedoch drückt eine neue Form egois­ tischer Macht aus, die aus dem Kampf um die Selbstbeherrschung im Inneren resultiert und allen Ansprüchen anderer Menschen als störenden Elementen des Außen feind­ lich gegenübersteht. Diese Grundhaltung erstreckt sich in der Moderne auf die meisten Individuen und lässt sich nach wie vor an der Art der Wahrnehmung von devianten Personen und Obdachlosen im Stadtraum beobachten. Die bloße Präsenz dieser Leute erregt Unwillen und Abwehr, da sie die Neutralität des Außen für die in Selbstgefechte verwickelten Menschen gefährdet. Von der Neutralisierung zur Naturalisierung des Raumes Die nachhaltigste Konsequenz besteht darin, dass der Platz aufhört, Zentrum zu sein. Er bildet nicht mehr den Bezugspunkt für die Erschließung von neuem städtischen Raum. Die Plätze waren jetzt nur noch willkürlich verteilte Punkte zwischen den unre­ gelmäßigen Blocks sich ins Endlose dehnender Bauparzellen. Am deutlichsten ist dies am grid, dem Raumgitter der amerikanischen Stadt zu beobachten. „All diesen Projekten fehlt eine Vorstellung von ihren eigenen Grenzen und von einer Form, die sich diesen Grenzen fügt; das Resultat dieses amorphen Bauens sind Orte ohne Charakter. Das Gitter als solches ist, wie gesagt, nicht die Ursache für diese Verödung; die Neutralität kann die Gestalt einer endlos gerasterten Stadt, aber auch die einer von gewundenen Straßen durchzogenen Siedlung, von unwillkürlich zusam­ mengewürfelten Läden, von auswuchernden Bürostädten oder Industriegebieten an­ nehmen. Aber die neuere Geschichte des Gitters zeigt uns besonders deutlich, wie sich die moderne Neutralität dort ausbreitet, wo eine protestantische Sprache des selbst und des Raums zu einer modernen Ausprägung von Macht wird“ 4 Dieser Prozess der Auflösung der zentralen Plätze, den Sennett hier durch das ame­ rikanische Beispiel beschreibt, setzte allerdings bereits im 18. Jahrhundert in den euro­ päischen Großstädten ein. Vor allem in London wird im Zuge der Stadterweiterung nach dem großen Brand durch die Errichtung von weit außerhalb der Stadt liegen­ den Squares mit einer einrahmenden Blockbebauung begonnen. Diese Squares, die zunächst vor allem in Covent Garden und Bloomsbury liegen, sind voneinander un­ abhängig und getrennt und werden erst im Zuge späterer Bebauung zusammenge­ 62

führt. Sie stellen symbolisch nichts anderes als ein Stück Natur in der Form einer Wie­ se mit Sträuchern und später auch mit Bäumen bepflanzten Grünlandes dar, um das herum Menschen angesiedelt werden. Initiiert wurde diese Entwicklung durch eng­ lische Aristokraten und Grundbesitzer, wie dem Earl of Bedford, dem Earl of Sout­ hampton oder dem Earl of Leicester schon im 17. Jahrhundert und unterschied sich von den europäischen Platzgründungen in Rom und Paris durch die erstmalige gestalteri­ sche Einbeziehung der Natur.5 Die ersten Bewohner waren bürgerliche Personen, die bereits eine ausgeprägte Vorstellung einer Privatsphäre durch einen Rückzug in die Natur hatten. Überdies wurde auf diesen Plätzen ein Verbot für Straßenhändler und Hausierer erlassen. Man könnte hier eigentlich von der Erfindung des Themenwoh­

Bath: Urbane Differenzen zwischen Vater und Sohn John Wood Sennett führt zwei Architekten des 18. Jahrhunderts, Vater und Sohn John Wood, und ihre Projekte in der englischen Kurstadt Bath an, die beide, aber in unterschiedlicher Weise, um das Thema Stadt, Raum und Natur kreisen. John Wood, der Ältere, begann 1727 mit dem Queens Square. Der Platz ist wie der Hof vor einer Villa angelegt, statt einer Villa auf der Nordseite befindet sich eine Gruppe von Häusern, die trotz unter­ schiedlicher Nutzung eine einheitliche Fassade aufweisen. Die anderen Seiten werden von ähnlichen Gebäuden eingerahmt. Sie geben keinerlei Hinweis auf die Verschie­ denheit und Vielfalt der hinter den Fassaden verborgenen Aktivitäten der Kurgäste, die von Krankheit aber auch von Vergnügen diktiert waren. Wood umschloss die Men­ schen auf doppelte Weise: „Hinter den Fassaden der Häuser und als Masse, indem er Promenaden anlegte, […] welche die Menschen als ein bewegliches Ganzes in sich fas­ sten. Er sah im Platz und den von ihm ausgehenden Hauptstraßen eine Art von Be­ hältnis für die Masse.“ 7 Am King’s Circus, nördlich des Queens Square, wurde eine ring­ förmige Anlage mit in Höhe und Fassadengestaltung gleichen Häusern errichtet. Der Blick aus dem Fenster zeigte ein Gegenüber von gefälligem Äußeren und konnte ent­ lang der Wölbung des Raumes gleiten. Während der Platz von Menschen belebt war,

Protestantischer Raum. Genese. Bewusstsein und Raum

nens sprechen. Die Gegenwart anderer Menschen, die urbane Realität schlechthin, stört die Selbst­ findung, die mit der Suche des individuellen Heiles unteilbar verknüpft ist. Da die Ge­ sellschaft die Negation der Natur darstellt, muss das Ich die Natur der Gesellschaft vorziehen. Erst die Abwendung von der Gesellschaft und die Rückkehr in die Einsam­ keit ermöglichen die unmittelbare Begegnung. „Der Rausch der Eigenliebe und der Lärm der Welt verdunkelten in meinen Augen die Frische der Wäldchen und störten den Frieden des Zufluchtsortes. Umsonst drang ich in die Tiefe der Wälder, eine lästi­ ge Menge folgte mir überall hin und verhüllte mir die ganze Natur. Erst nachdem ich mich von den gesellschaftlichen Leidenschaften und ihrem traurigen Gefolge befreit hatte, fand ich sie in all ihrem Zauber wieder“ 6 Rousseau, der glänzende Chronist des protestantischen Bewusstseins und Schilderer der inneren Zerrissenheit, weist auch auf ein besonderes Motiv der Natursehnsucht hin, die Möglichkeit die Meinung der An­ deren vergessen zu können. Die Spiegelung der eigenen Person erfolgt nicht mehr in den Blicken der anderen, jenem Charakteristikum der Urbanität, sondern in der Natur durch die Begegnung mit ihr. Zugleich auch kann er sich ein glückliches Zusammen­ sein der Menschen nur in dörflicher Umgebung vorstellen. Nun finden all diese Ele­ mente Eingang in der Raumgestaltung der Stadt.

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spielte sich hinter den Fassaden das private Leben ab. Für Sennett gilt dies als Beispiel für zivilisiertes Verhalten, da hier die Differenz des belebten und urbanen Raumes, die der Platz hervorbringt und das Leben hinter den Fassaden, das verborgen bleibt, von diesem Ring eingerahmt wird. Der Sohn, John Wood der Jüngere, vollendete dieses Projekt, allerdings nach den neuesten Kriterien der Aufklärung. Er baute, im Sinne Sennetts, freilich nicht mehr im Geist „zivilisatorischen“ Verhaltens, also in Formen, die die Unterschiede der Men­ schen verdecken, sondern im Sinne der Aufklärung und ihrer spezifischen Natur­ sehnsucht. Zivilisiertes Verhalten hatte im 18. Jahrhundert vor allem aufgrund der Inanspruchnahme der Aristokratie den Charakter von zwar sehr verfeinertem, sehr höflichem, aber die Affekte unterdrückendem und verlogenem Getue erworben. Die eigentliche Leistung des zivilisierten Verhaltens zur Ermöglichung eines urbanen Kli­ mas wurde aufgrund der Identifikation mit aristokratischen Lebensformen, man den­ ke nur an die Feinentwicklung des Rokoko, vergessen. Freilich stand die Beurteilung dieses Sachverhaltes im Schatten der historischen Auseinandersetzung zwischen Bür­ gertum und Aristokratie, wo sich der Bürger als der ehrliche, der Stimme seines Ge­ wissens folgende Mensch im Sinne Rousseaus imaginierte und die Aristokratie wegen ihrer, vor allem in Frankreich entwickelten, gekünstelten Lebensformen unter den Ver­ dacht der „Oberflächlichkeit“ stellte. John Wood, der Jüngere baute jedenfalls eine Verbindungsstraße, die vom Circus, den sein Vater angelegt hatte, zu einem völlig neu strukturierten Ensemble führte, den Royal Crescent, der dreißig in einem Segmentbogen angeordnete Häuser umfasste, die in ihren Fassaden und der ionischen Gliederung völlig den Projekten seines Vaters gli­ chen. Doch bestand ein fundamentaler städteplanerischer Unterschied darin, dass er diese Anlage zur Natur hin öffnete, er mit einer großen architektonischen Geste die Stadt in die Natur ausgreifen ließ. Damit war eine große Folgewirkung für weitere ähnliche Projekte gegeben, wie für den Lansdowne Crescent, einer sich den Konturen der Landschaft anschmiegenden, schlangenförmigen Anlage von Gebäuden. Für John Wood, den Jüngeren, war die Straße kein Behältnis, er sah sie eher als ein Instrument zur Ableitung von Menschen in die Natur, während sich sein Vater noch um die Zusam­ menführung und Konzentration an einem Ort bemüht hatte. Die Menge wird aus der Stadt geführt und zerstreut, die Peripherie gewinnt an Be­ deutung, das Zentrum verliert. Die im Zentrum erzeugte Differenz kann nicht gelöst, sondern nur in die Randbezirke ausgetragen werden. Die Stadt spiegelt den Kultur­ kampf der Klassen wider. Diese Dialektik, die im protestantischen Bewusstsein wurzelt, bildet die Ausgangslage einer sich bis in die Gegenwart permanent differenzierenden Kulturentwicklung, die ständig neue Formen generiert. Sie erzeugt die Makrostruktur, die unzählige Mikrodialoge hervorbringt, deren Herkunft und Ableitung vom Grund­ problem längst vergessen ist. Die daraus abzuleitende Grundfigur der Aufladung des Innen auf der Suche nach Gott und individueller Heilsfindung geht im 19. Jahrhundert in die Suche nach Authentizität über, nach der jeweiligen Echtheit, nach einer zutref­ fenden Repräsentation. Aus diesem Konflikt heraus entsteht die moderne Kunst. Die Stadt wird zum Kampfplatz, wo die klassische Moderne mit dem Argument der höhe­ ren Ehrlichkeit gegen den Historismus antritt. Die Natur wird zum Grund, die Stadt zur Figur. Daraus folgt der Kampf um die authentische Darstellung, der bis in die Ge­ genwart reicht. 64

Urbane Versöhnungsstrategien durch Natur „Wenn sich Amerikaner in der Epoche des Hochkapitalismus eine Alternative zum Git­ ter vorstellten, dann dachten sie stets an eine zwanglose Ländlichkeit, an schattige Parks, eine Promenade, aber niemals an die kräftige Faszination der Straße, des öf­

1 Richard Sennett, Civitas, Fischer, Frankfurt/Main 1991, S. 67. 2 Ebd., S. 67. 3 Ebd., S. 68 . 4 Ebd., S. 74 . 5 Sigfried Giedion, Raum, Zeit, Architektur, Artemis Zürich 1984 , S. 434 . 6 Jean Jaques Rousseau, Träumereien ei­ nes einsamen Spaziergängers, S. 739, zit. nach Jean Starobinsky, Rousseau, Eine Welt von Widerständen, Fischer, Frankfurt/Main 1993, S. 69. 7 Ebd., S. 127. 8 Sennett (wie Anm. 1), S. 80. 9 Sennett (wie Anm. 1), S. 81. 10 Als Beleg

für das Gelingen dieses Naturtheaters fällt mir die Anekdote des Friedrich Torberg ein, der zur Zeit seines New Yorker Aufenthaltes in den 1940 er Jahren von einem anderen österreichischen Emigranten berichtete, der seine Freizeit im Central Park auf einem Hügel sitzend verbrachte, da er sich dort glaubhaft einbilden konnte, sich in den Ferien in Altaussee zu befinden.

Protestantischer Raum. Genese. Bewusstsein und Raum

fentlichen Platzes, des Zentrums, wo man der komplexen Lebendigkeit der Stadt be­ gegnete.“ 8 Die Planungsgeschichte des Central Parks macht deutlich, dass man für die Anlage des Parks einen Leerraum auswählte, der so kunstvoll angelegt wird, dass man sogar die Straßen unter das Geländeniveau des Parks versenkte, um sie unsichtbar zu machen. „Hier tritt die ganze Gespaltenheit dieser Art von Städtebau zu Tage. Beim Bauen tut man, als lebte man im leeren Raum; um sich dann der gebauten Umwelt zu erwehren, tut man so, als lebte man gar nicht in der Stadt.“ 9 Sennett weist hier mit Recht auf diesen fundamentalen Widerspruch hin, der auf dem gespaltenen Bewusst­ sein beruht, das einerseits ganz Amerika einem Gitterraster unterordnet, andrerseits aber bei den mühsam abgerungenen Parkflächen die perfekte Illusion eines unberühr­ ten Naturraums erzeugen möchte.10 Freilich verfügen die Amerikaner auch über eine Naturlandschaft, die in außerordentlicher Weise die scheinbare Grenzenlosigkeit des Landes symbolisiert. Wenn eine Ablenkung des inneren Kampfes durch den Außenraum erlaubt ist, so darf es sich nur um Naturraum handeln. Denn nur die Naturwelt spiegelt aufgrund ih­ rer Erhabenheit die Größe und Unermesslichkeit des Innen wieder. Jenes Innen, das aufgrund des Verlustes des Gottesgrundes, der geschützten Sphäre nunmehr in die Unendlichkeit auf­ und einbricht, das sein Zentrum verloren hat. Die Naturwelt ist die einzige Bühne, die diesem heroischen Kampf im Inneren angemessen ist. Nur Na­ tur kann einer asketischen Haltung entsprechen, bzw. den neutralen Raum auffüllen. Das sich vereinzelnde Individuum zieht die Natur dem „Anderen“ vor, der durch seine Anwesenheit die Konzentration der Austragung des inneren Konfliktes in der Weise stört, wie heute Bettler nur aufgrund ihrer Präsenz im Straßenbild feine Störungen des Bewusstseins verursachen.

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Die Stadt im 19. Jahrhundert Sphärenwechsel Die Geburt der Stadt des 19. Jahrhunderts aus dem Geist des Bergwerks Paris. Die Poetik des anthropologischen Ortes Weder Innen noch Außen. Die Passage Die Passage als Chronotopos

Sphärenwechsel Die französische Revolution hatte die Neuformatierung der Stadt vorexerziert. Die alte Trennung zwischen sakralem und profanen Raum, die durch ein heiliges Zentrum in der Stadt begründet und zunächst durch die Kirche und später durch den König ma­ gisch aufgeladen wurde und seit der römischen Antike bestimmend war, galt nun end­ gültig nicht mehr. Die Hinrichtung des Königs an jenem Platz in Paris, der das Denkmal seiner Ahnen beherbergt hatte, bedeutete nicht nur die reale, sondern auch die symbo­ lische Ausradierung des Geschlechtes und seiner städtischen Verwurzelung. Die meta­ physische Ordnung der Stadt war endgültig zerstört, die Kraft ging nun nicht mehr in konzentrischen Wellen abnehmender Stärke von der Mitte zur Peripherie aus. Die Geschichte der Stadt ist stets eine Geschichte des Verlassens der Endosphäre und des Hinausgehens ins Offene. Die Sprengung der Endosphäre hatte sich schon in der Renaissance und im Barock mit einem Übergang vom ummauerten und geschlos­ senen zum offenen Raum, vom körperlichen Kontakt mit dem sakralen Terrain zur visuellen Orientierung hin vollzogen, doch dies erfolgte stets durch eine Erhöhung der Strahlungsintensität und Reichweite des Zentrums, das über einen größeren Raum zu verfügen hatte. Doch bisher war in der europäischen Stadtgeschichte noch kein kö­ nigliches Strahlungszentrum derart spektakulär und gewaltsam wie in der französi­ schen Revolution ausgelöscht worden. Der Ort der Hinrichtung, die vormalige Place Louis XV., die im 19. Jahrhundert mehrmals umbenannt wurde und zunächst Place de la Révolution, später Place de la Concorde hieß, blieb aber im Sinne eines zéro de­ gré Ausgangspunkt der Stadtplanung und der Bildung der zentralen Achse von Paris.1 Dennoch hatte bereits der Papo­Urbanismus des römischen Barocks in der Stadt­ erweiterung Roms durch die Erfindung städtischer Achsen zu den Kirchen außerhalb der alten Mauern bzw. Obelisken hin die Einführung der langen Straße, und das Prin­ zip der linearen Wege innerhalb des Stadtraumes vorbereitet. Zunächst dienten diese Straßen den Pilgern zur Wallfahrt, wobei einerseits durch die Sichtbarmachung des Zieles in der Ferne das moderne perspektivische Sehen eingeübt wurde und andrer­ seits durch den körperlichen Vollzug des Schreitens der alte christlich­jüdische Gedan­ ke der Pilgerfahrt auf Erden zu den ecclesiae stationales als den heiligen Pilgerstätten verinnerlicht wurde. Im Barock wurde diese Form des feierlichen Schreitens zur Kirche mit dem Ziel der inneren Einstimmung auf die Transzendenz durch die erhabene Be­ wegung auf den großen städtischen Achsen, die zu den Palästen oder anderen Denk­ mälern und erhabenen Stätten der absoluten königlichen Macht führten, abgelöst. Die Annäherung an das Zentrum der königlichen Emanation bedeutete nur eine leichte Umwandlung des religiösen Erlebnisses in eine ähnliche Erfahrung der königlichen Macht. Dabei wurde ein Übergang vom Schauer des Religiösen zum Schrecken des Er­ habenen angesichts der Relation der Größe der königlichen Paläste zur Geringfügigkeit der eigenen Existenz hin vollzogen. Im Zuge der bürgerlichen Revolution wird nun die Monarchie durch den Staat er­ setzt, der kein vergleichbares Kraftzentrum mehr aufweist, das alle Wege an sich zieht oder von sich aus in die Ferne richtet. Kraft wird nun durch Bewegung erwartet, durch imaginäre Maschinen, die Leben produzieren und damit die Form der Stadt verän­ dern. Daraus folgt der Vorrang der zur Bewegung nötigen Elemente, der Verkehrswege, 69

die eine neue Entwicklungsstufe der räumlichen Schneise ankündigen und mit der Hybridisierung des Weges zum Boulevard realisiert werden. Damit einher geht eine Umwandlung des Stadtraumes: Das wachsende Verkehrsnetz zieht eine Zunahme der Transitionszonen innerhalb der Stadt nach sich. Diese Entwicklung fördert nahtlos den Übergang zur reinen und linearen Bewegung, der auch vielfach mit der strategischen Kontrolle der Stadt einhergeht. Die von Haussmann neu geschlagenen Sichtachsen in Paris verfolgen bekanntlich neben ästhetischen und sanitären Zielen auch militärtech­ nische Ziele – die Möglichkeit rascher Truppenverlegungen. Der Staat, der sich an die Stelle des Königtums gesetzt hat, kann die riesigen Alleen und Plätze für die Aufmär­ sche gebrauchen und entdeckt seine Liebe zum leeren Raum, den er schnell mit den Militärs füllen kann. Dieser Raum strahlt nun eine Kraft aus, die sich aus den Quellen der kinetischen Faszination und der damit suggerierten Gewalt speist, und der mit kei­ ner sakralen Ermächtigung mehr verbunden ist Die kinetische Energie der bewaffne­ ten Truppe füllt das Vakuum des spirituellen Zentrums. Voraussetzung all dieser Ent­ wicklungen war allerdings die Herausbildung einer neuen Vorstellung von Stadt, die zur Zugrundelegung eines neuen Denkschemas führte. Die Naturalisierung durch das neue Körperbild der Stadt Dieser Wandel beruhte auf dem großen Paradigmenwechsel des Körperbildes 2 und einer grundlegenden Neukonzeption der Naturwissenschaften, die sich seit dem 17. Jahrhundert vollzogen hatte. War seit der Antike die Vorstellung eines Körpers gül­ tig, dessen Antriebsprinzip nur in der Seele liegen konnte, so fand schon während des Mittelalters ein schrittweiser Übergang zu neuen Körperbildern statt, die aber immer noch auf einem grundsätzlich spirituellen Körper beruhten. Zunächst hatte Johannes von Salisbury das Herz in seiner politischen Metaphorik des Gesellschaftskörpers als jene Stelle bezeichnet, die der König und seine Räte einnahmen, also den ranghöchsten Ort. Henri de Mondeville hingegen glaubte durch die Idee der Synkope ein Koopera­ tionsprinzip der Organe entdeckt zu haben, wonach diese im Falle der Bedrohung ei­ nes Organes durch Verletzung und Krankheit einander durch das Senden von Körper­ säften im Sinne der humoralen Lehre zu Hilfe kämen. Die für die Geschichte der Stadt entscheidende Wendung ergab sich jedoch durch die revolutionäre Entdeckung Harveys im 17. Jahrhundert, die übrigens auf den Da­ maszener Ibn al Nafis, der im 13. Jahrhundert in Kairo lebte, zurückgehen dürfte, dass der Blutkreislauf durch das Herz angetrieben wird.3 Durch diese Einsicht wurde nicht nur das Herz von einem göttlichen Organ zu einer Pumpe, einer ordinären Maschine degradiert, sondern die Entzauberung des Körpers führte auch in den kommenden Jahrhunderten zu einer völligen Verrohung bei der Durchführung wissenschaftlicher Experimente, die sich unter anderem durch systematische Vivisektion, durch das He­ rausreißen des Herzens bei lebenden Tieren und ähnliche Versuche auszeichneten. Die Konsequenzen dieser Entdeckung für die Stadt waren in zweifacher Hinsicht ähnlich. Einerseits brachte die neue Vorstellung der Zirkulation analog zum Bild der Arterien und Venen die Priorität entsprechender Straßen, Verkehrswege und Kanä­ le vor den Gebäuden und Parkanlagen; die Stadt sollte wie ein gesunder Körper beim Bluttransport durch freies Fließen des Verkehrs und saubere Straßen funktionieren. andrerseits war man auch im Umgang mit bestehenden Strukturen wenig zimper­ lich, denn von nun an galt der Stadtkörper ebenfalls als ein Organismus, an dem man 70

zum Zwecke besserer Ventilation und Durchströmung die Methoden der invasiven Chirurgie anwenden könne, wobei der Schnitt in die Organe sowohl die Gebäude als auch die darin wohnenden Menschen betraf. Die Stadt wird zur funktionierenden Körpermaschine, die nicht mehr durch eine geistige Kraft bewegt wird, sondern auf einer natürlichen, energetischen Basis beruht. Obwohl man auch diese nicht wirklich bestimmen kann, lässt sich zumindest der Nachweis führen, dass ein Zusammen­ hang zwischen Zirkulation und Energie besteht. Eine Erhöhung des energetischen In­ puts steigert die Bewegung, wie auch umgekehrt die Bewegung die Nachfrage nach Energiezufuhr steigert. Dass sich eine Konstruktion nach dem Maschinenparadigma auch totlaufen kann, zählt erst zu den Entdeckungen der Postmoderne. Die Idee der Zirkulation ist revolutionär, weil sie die Idee des Mittelpunktes, des Zentrums aufgibt und damit Denkvorstellungen, die über zweitausend Jahre gültig

Zirkulation und atmosphärische Probleme Die Implementierung des Zirkulationsparadigmas war aber keine geradlinige Entwick­ lung, sondern ein langwieriger komplizierter Prozess, der sich nur aufgrund der auf­ tretenden Widersprüche etablieren konnte. Im 19. Jahrhundert wird aufgrund der Be­ völkerungsexplosion der großen Städte ein Problem schlagend, das auch den Wandel der endosphärischen Verfassung der Stadt zum Paradigma der Zirkulation beschleu­ nigt. Jede Stadt erzeugt eine Atmosphäre, die sich aus der Summe der frei werdenden Geruchspartikel ergibt und die allen Bewohnern eine Geruchsglocke überstülpt. Deren besondere Eigenschaft besteht in der raumbildenden Qualität, indem sie zunächst von ihren Erzeugern als natürliche Emanation wahrgenommen wird, als nicht störender Eigengeruch, der als Teil der örtlichen Identität erlebt wird.

Sphärenwechsel

waren, ablöst. Nicht nur für die alte Medizin war es schockierend zu erfahren, dass der Körper nicht von der Seele, oder zumindest einem analogen Organ wie dem Herzen, ei­ ner Quelle gleich mit Lebenskraft versorgt werde, auch für die Raumordnung der Stadt und ihren Vorstellungen von sakral und profan entsprach der Verlust des Zentrums und seiner Substitution durch die Zirkulationsidee einer kopernikanischen Wende. Die Erfolgsgeschichte des Kreislaufparadigmas gilt bis heute für die meisten Be­ reiche des wirtschaftlichen und städtischen Lebens, als die Formel, die Reichtum, Ge­ sundheit und Hygiene zu garantieren scheint. Mit der Zirkulationsmetapher dürften die endosphärischen Denkmuster der Stadt vorläufig widerlegt worden sein, da für die Idee des Kreislaufs das Innen­Außen­Schema und die Vorstellung des geschützten Innenraumes irrelevant zu sein scheinen. Mit der Zirkulation ergibt sich vor allem die Notwendigkeit, eine offene Verbindung mit dem Außen zu erhalten. Damit erhöht sich aber zugleich das Risiko, die Kontrolle über die eingeführten Substanzen zu verlieren. Schon die Römer wussten um das exosphärische Risiko des von außen kommenden Wassers, weihten die Quellen Gottheiten und Nymphen und errichteten deren Sta­ tuen an den Brunnen. So galt die Nymphe Carmenta als die Behüterin der Gebärenden, und die römischen Matronen feierten ihr zu Ehren vom 11. bis 15. Jänner die Carmen­ talien.4 Hinter diesem Brauch steckt ein doppeltes Motiv. Die Neugeborenen, die aus der Exosphäre kommen und daher potentielle Gefahrenbringer für die Bewohner sind, werden mit dem von außen kommenden und daher gefährlichen Wasser der Quelle identifiziert; der durch die Obhut der Nymphe gewährte Schutz des Wassers erstreckt sich damit auch auf die Gebärerin.

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Erst durch die wachsende Mobilität kommen die Stadtbewohner mit anderen Endosphären in Kontakt und nehmen plötzlich das als Gestank wahr, was im eigenen Binnenraum als Normalklima erlebt wird. Plötzlich werden einzelnen Stadtteilen, Or­ ten oder Räumen besondere geruchliche Charakteristika zugeschrieben, die oft genug einer negativen Aura gleichen. Denn der Gestank stinkt nicht nur, sondern macht vor allem Angst vor Krankheit oder anderen lebensbedrohenden, aber nicht klar definier­ baren Gefahren. Zugleich hat das Miasma subversive Eigenschaften, da es mit der Luft kommt, überall eindringen kann und die Feststellung der Urheberschaft oft erschwert oder unmöglich ist. Die Angst und der Verdacht auf Vergiftung schädigen die Atmo­ sphäre oft nachhaltiger, als es tatsächlich der Fall ist, und bewirken damit die Auf­ lösung des endosphärischen Immunschutzes. Zugleich erstreckt sich der Verdacht auf alles, was mit fremdem Geruch behaf­ tet ist – das betrifft Abkömmlinge anderer Kulturen und Religionen in besonderem Maße. Die antisemitischen Widerwärtigkeiten bei der Darstellung des Zwiebel fres­ senden Juden zählen zum Illustrationsstandard des 19. Jahrhunderts. Die modernen Identitätskonstruktionen, die sich in der Stadt des 19. Jahrhunderts heranbilden und bis heute volle Gültigkeit haben, die ihre eigene Nichtidentität und Fremdheit kaschie­ ren, sind dem Auftauchen der starken Differenz nicht gewachsen und führen aus Grün­ den der Abwehr zeitweilig zu einer kollektiven Vorstellung der Fratze des monströsen Anderen. Die große Umformatierung der Stadt im 19. Jahrhundert beruht also in negativer Hinsicht auf der endgültigen Zerstörung der gemeinsamen Atmosphäre der alten Stadt, auf der Verseuchung der Luft und des Wassers und auf den katastrophalen Wohnver­ hältnissen der unteren Schichten, die wiederum als Ausdruck der sozialen und wirt­ schaftlichen Lage zu sehen sind. Geographie der Exkremente und Ammoniapolis. Die Stadt aus Urin Das atmosphärische Problem der Stadt ist schon uralt und geht auf die Geruchslage des Binnenraums aufgrund der hygienischen Bedingungen der Reproduktion zurück. In Rom waren Sklaven für die Entleerung der Nachttöpfe zuständig. Nur in den Paläs­ ten gab es Marmorlatrinen, in den insulae hingegen, den Mietshäusern, waren nur Lö­ cher am Fuße der Treppe eingelassen, vielfach wurde aber das Geschäft einfach auf der Straße verrichtet. Im Mittelalter wurden Schweine auf der Straße gehalten, um den Unrat zu beseitigen. Die Entsorgung des Nachtgeschirrs durch das Fenster ist legendär und soll manchem Edelmann beim Minnedienst übel mitgespielt haben. Auch im Barock gab es noch keine grundlegende Änderung. Erst in London ins­ tallierte man nach dem großen Brand um 1660 an den Straßenkreuzungen „laystalls“ zur Sammlung der Abfälle, die an die Straßenreiniger verkauft wurden. Lediglich die Häuser der Bemittelten verfügten über einen Abort, aus dem die Fäkalien mehrmals in der Woche entfernt wurden. Die zunehmende Einführung des Wasserklosetts in den Haushalten der oberen Schichten, um 1850 sind es insgesamt 300.000 Haushalte 5, die trotz Verbots zumeist an alte offene Kanäle angeschlossen wurden, führten zu ei­ ner Verseuchung der Themse.6 Zwanzig Jahre später waren diese Probleme durch die Wasserbauingenieure allerdings behoben, was den jungen Prince of Wales, den spä­ teren Edward VII ., zur respektvollen Bemerkung veranlasste, dass er im Falle einer Berufswahl hydraulischer Ingenieur geworden wäre.7 72

Das Minarett. Die frei schwebende Abortschüssel Um die Probleme der Desodorierung und die Angst vor Krankheitserregern in den Gefängnissen, Kasernen und Krankenhäusern in den Griff zu bekommen, stellte Duponchel 1858 in den Annales d’hygiène publique ein bemerkenswertes und skurriles Projekt vor, um den Fäkalgestank in den kollektiven Einrichtungen zu vernichten und die Disziplin durch eine besondere Architektur zu erzwingen.11 Der Autor schlägt zur Desodorierung der Kasernen und Spitäler die Errichtung eines als „Minarett“ bezeich­ neten Latrinenturms vor, dessen Architektur zwischen einem Mastkorb und dem von d’Arcet entwickelten Taubenschlag liegt und dem Benützer keine Chance zur Verun­ reinigung lässt. Der vom Hauptgebäude abgesonderte Latrinenturm ist durch einen schmalen Gang vom Gebäude aus zu begehen, die Becken selbst befinden sich auf einer runden Plattform und sind mit dem zentralen Rondeau nur durch einen schmalen Me­ tallsteg verbunden. Der Ort der Notdurft selbst ist eine frei schwebende Abortschüssel, zu deren Erreichung und Benützung man sich an Eisengriffen festklammern muss. Da

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Paris hinkte London in dieser Entwicklung deutlich hinterher, obwohl die Wasser­ verbrauchsziffern erheblich höher waren. Zwar hatte sich im 18. Jahrhundert in Frank­ reich ein Gesundheitswesen installiert und aus dieser Funktion auch die „urbane Frage“ formuliert, die zur Einrichtung einer „topographischen Toilette“ 8, zur Straßen­ reinigung und Abfallsammlung und dessen Ausbringung vor die Stadt führte. Allerdings wurde der Vorschlag zum Bau von Wasserklosetts schon 1835 abgelehnt, da man damit den bedeutenden Wirtschaftszweig der Exkrementensammler, die vor allem auf Pferdemist spezialisiert waren, abgeschafft und damit der Düngerversor­ gung der blühenden Landwirtschaft, die ein Sechstel des Pariser Bodens bebaute, schwer geschadet hätte. Obwohl die Befürworter der Schwemmkanalisation ständig das Argument wiederholten, dass nur dieses System die dauernde Bewegung und die notwendige Zirkulation der Exkremente gewährleiste, um der Gefahr der Stagnation zu entgehen und auch die ständige Kontrolle der Ströme zu ermöglichen, wurden sie nicht gehört. Denn die Experten der Gegenseite sprachen sich vehement gegen den Ver­ lust der Fäces aus. Chevreul wies auf die Gefahr der Desinfektion hin, die eine Verar­ mung der Ausscheidungsstoffe bewirke; die Gesundheitspflege vergesse diesen Aspekt völlig, die Schwemmkanalisation sei der Archetyp der Verschwendung, da jede Ver­ flüssigung des Senkgrubeninhalts zu einer Verringerung des Stickstoffgehaltes führe. Die Kloakenfeger kannten dieses Phänomen. „Sie schätzen die festen Ausscheidungen, die sich in den Gruben der Armen sammeln, weit mehr als die dünnflüssige Masse, die sie bei den Reichen vorfinden. Mit größter Präzision ordnet Belgrand den jewei­ ligen Wert der Ausscheidungsstoffe einer sozialen Stufenleiter zu. Das Ergebnis seiner Arbeit ist eine topographische Gliederung der Hauptstadt unter dem Gesichtspunkt des Stickstoffgehalts der Exkremente“ 9, eine Geographie der Exkremente. Die chemi­ sche Industrie regte zahlreiche Projekte an, um direkt aus den Ausscheidungsstoffen neue Produkte, vor allem Dünger zu gewinnen. 1844 träumt Garnier von der Errich­ tung eines umfangreichen industriellen Komplexes zur chemischen Behandlung von Urin, den er Ammoniapolis nennen will.10 Das utilitaristische Denken der Zeit, nichts anderes als ein Vorläufer des heutigen Recycling­Denkens, geht ebenfalls sehr kreis­ lauforientiert vor, zumal die Geruchsbelästigung noch kein öffentliches Thema ist, da die sensibleren bürgerlichen Nasen weit entfernt wohnen.

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es weder Wand noch Boden gibt, kann von den Soldaten oder Gefangenen auch nichts verunreinigt werden. Der Kot wird durch senkrechte Rohre abgeleitet, die Luft durch vier Ventilatoren entsorgt. Es ist bedauerlich, dass Foucault von dieser wunderbaren panoptischen Errungenschaft, wenngleich es sich nur um ein nicht realisiertes Projekt handelte, keine Notiz nahm. Miasma Neben dem Hauptproblem der öffentlichen Kloaken tritt in der Hierarchie der Ängste nun der Gestank der Mietshäuser an führende Stelle. Die Berichte der Inspektoren und Sozialforscher 12 sprechen von den Geruchsschwaden des in den Rinnen stagnieren­ den und in das Mauerwerk eingesickerten Urins, der den Besucher verfolgt, ehe er sich durch einen langen schlauchartigen Gang zum Innenhof vorgearbeitet hat, um die elenden Wohnungen zu erreichen. Man geht durch niedrige und düstere Gänge, die ei­ nem stinkenden Rinnsal als Bett dienen, einem zähflüssigen Strom aus denkbar unflä­ tigem Schmutz, der aus allen Etagen herunter regnet. Oder man lese die Schilderung eines Innenhofs, der so eng, dunkel und feucht ist, „dass man sich auf dem mit Unflat bedeckten Grund eines Brunnens glaubt. Hier sammeln sich Essensreste und verdorbe­ ne Nahrungsmittel, hier staut sich das dreckige Spül­ und Waschwasser. Ein Gemisch aus ungleich verpesteten Dämpfen steigt zu den Etagen auf, belagert die Wohnungen mit widerwärtigem Gestank. In diesem Repräsentationssystem erscheint die Treppe als Umflut: eine übelriechende Kaskade stürzt von einem Treppenabsatz zum nächsten, gespeist von den Latrinen, deren stets offen stehende Türen einen obszönen Blick auf die von Kot überschwemmten Sitze bieten.“13 Die Wohnräume sind klein und überfüllt. Es herrscht ein wildes Durcheinander von Gerätschaften, schmutziger Wäsche und Geschirr. Inmitten dieser Unordnung kauert der Arme, oft in Gesellschaft seiner Tiere. Diese Schilderung der Enge des Raumes mit der winzigen Schlafstelle in Verbin­ dung mit den schachtartigen Innenhöfen und schlauchförmigen Gängen muss bei dem an Großzügigkeit und Geräumigkeit gewohnten Bourgeois Angst vor dem Ersticken hervorrufen. Die Angst vor Luftknappheit begründet auch die Abneigung vor allen niedrigen Räumen, wie der Pförtnerloge, dem Hinterladen des Krämers, der muffigen Studentenbude oder den Kammern der Dienstboten. Damit einhergehend bildet sich eine somatische Abneigung gegen alle Zuwanderer aus den Provinzen, die ihre länd­ lichen Gewohnheiten des Haushalts und der Lebensmittellagerung mit entsprechen­ der Geruchsintensität beibehalten. Sozialer Status wird auch über die hygienische Kon­ notierung und einen Code der Gerüche definiert. Die niedrige soziale Stellung des im Dreck Arbeitenden wird durch den Gestank, den er ausströmt, verdoppelt. Die soziale Frage wird auch zu einer hygienischen Frage, da die damaligen Theorien des Miasmas eine Ansteckung auf dem Geruchswege durch schwere Erkrankungen befürchteten. Später konnte man, vor allem durch Pasteurs Versuche, beweisen, dass die Krankheits­ erreger in den Flüssigkeiten verbleiben und die Mikroben bei deren Verdampfung nicht durch Luft verbreitet werden. Dadurch wurde beim Gestank die Angst vor dem Mias­ ma genommen und der Ausbau der Schwemmkanalisation weiter verzögert. Aber der Gestank der großen Mietshäuser, der in Paris auch auf der über Jahrzehnte währenden Weigerung der Hausherren, Kanalanschlussgebühren zu zahlen, beruhte, führte zur symbolischen Abwertung dieses Haustyps und beförderte die Phantasien des länd­ lichen Wohnens in der unverdorbenen Natur weiter. 74

Das Haus im Übergang Die Situation spiegelt auch den Untergang des Hauses als der Klammer zwischen der öffentlichen und privaten Stadt, der vermittelnden Einheit, durch welche die Koope­ ration zwischen der Stadt und dem bürgerlichen Leben sichtbar gemacht wurde. Seit dem Mittelalter hatte der Hausherr aufgrund des Hausbesitzes Bürgerrecht. Damit war ihm neben der Macht aber auch Verantwortung über die im Hause wohnenden Men­ schen zugeteilt. Hausherren aller nach Zünften geordneten Gewerbe und deren Ab­ hängige, vom Gesinde über die Gesellen bis zu den Lehrbuben, wohnten unter einem Dach. Das Haus umfasste durch die gewerbliche Tätigkeit die wirtschaftliche Einheit der Familie als einer Produktionsgemeinschaft.

wohl die hausherrliche Gewalt als auch den Hausfrieden betrafen, der die sozialen Agenden der Vorsorge beinhaltete. „Hausgemeinschaft bedeutet […] Solidarität nach außen und kommunistische Gebrauchs­ und Verbrauchsgemeinschaft der Alltags­ güter, nach innen in ungebrochener Einheit auf der Basis einer streng persönlichen Pietätsbeziehung.“14 Das Haus war auch Abbild der sozialen Ordnung, da durch die Stellung im Hausver­ band der Anteil am Raum zugewiesen wurde. Der soziale Rang drückte sich im Allge­ meinen durch die Distanzierungsmöglichkeit zwischen Arbeits­ und Lebensraum aus. Wer gleich im Arbeitsraum schlief, in Küchen, Kellern, Werkstätten oder Heuböden, hatte den geringeren Rang. In den meisten Handwerkerhaushalten schliefen die Gesel­ len in der Werkstatt, während im Kamin gekocht wurde. Erst in vermögenderen Ver­ hältnissen konnten sich Ansätze eines Privatlebens herausbilden, indem man separate Kammern für das Gesinde und Schlafzimmer für den Hausherren einrichtete. Zugleich entwickelten sich kleine Individualsphären in den Halbstöcken und Dachböden und Höfen, die als winzige Szenerien des Lebens in Erscheinung treten. Im Wesentlichen galt die Hausöffentlichkeit, die in den unmittelbaren Stadtbereich des Platzes und der Straße eingebunden war; die Trennung zwischen Wohnort und Arbeitsraum war noch nicht vollzogen. Auch zeichnete sich bei wohlhabenderen Bürgern eine Nachahmung der Aristokratie und ihrer Repräsentation im Haus ab, indem sie Empfangsräume ein­ richteten. Im 19. Jahrhundert existiert dieses Modell nicht mehr. Die industrielle Revolution hat den kleingewerblichen Anteil der Wirtschaft weitgehend verringert und der Zu­ strom der ländlichen Bevölkerung in die Stadt hat die Struktur der Bevölkerung und des Hauses radikal verändert. Die Stadt wird in Orte der Produktion und Reproduktion, ebenso wie das Leben in die Dimensionen des Wohnens und Arbeitens aufgespalten. Es gibt nur mehr die Privatheit einer Wohnung, selbst wenn es sich um eine verkom­ mene Absteige handelt. Die Entflechtung der traditionellen Verschränkungen führt zur Abstraktion des Hauses von den Bewohnern. Die topologische und stadtbürger­ liche Verankerung der Person durch das Haus wird aufgehoben, die Person der Masse, der Bevölkerungsmenge zugeschlagen. Das Haus verwandelt sich in ein Element eines globalen, homologen und rein quantitativen Raumes, der durch das Medium Geld, das heißt durch das System des Kapitalismus vermittelt wird. Der Spekulant tritt nun auf den Plan. Der Wert des Hauses besteht nicht mehr in seiner Eigenschaft als sozialer Ort und qualitatives Bauwerk, sondern in seinem Renditeversprechen.

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Der Hausherr war auch die Verlängerung des Armes des Landesherren bzw. der städtischen Macht. Im Haus waren die zentralen Rechtsverhältnisse vereinigt, die so­

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Topos Sanierung Die optimalen Bedingungen zur Kapitalisierung des Grundes und der Realisierung der Rendite bestehen beim Zusammentreffen mehrerer Faktoren, die unterschiedlichen Ebenen entstammen. Die Notwendigkeit der Sanierung eines Stadtgebietes aufgrund dessen systematischer Vernachlässigung, wie es aufgrund der hygienischen Katastro­ phe in den meisten Städten des 19. Jahrhunderts der Fall war, führt zu einer Verknüp­ fung von sozialer und hygienischer Argumentation. Im 19. Jahrhundert bedient man sich zunächst noch eines Bildes vom Ausschneiden der kranken Teile, das insofern durch besondere soziale Brutalität gekennzeichnet ist, als damit neben den herunter­ gekommenen Häusern auch die dort wohnende Bevölkerung gemeint ist. Der Begriff der Sanierung kommt aus der Sprache der Hygiene, indem er Gesundmachung durch die sechs Elemente der sex res non naturales des Neohippokratismus, der auf die Re­ zeption Galens zurückgeht, erklärt, und sich dabei hauptsächlich auf den alten Begriff der circumfusa, jener Dinge, die die Person umgeben, stützt.15 Dieser Vorläufer des Um­ weltbegriffes befördert die Empfehlung des Arztes zur Gesundung der Stadt neue Ge­ bäude mit Wohnungen besserer sanitärer Bedingungen zu bauen, womit in der Praxis des 19. Jahrhunderts allenfalls der Anschluss des Hauses an das Schwemmkanalnetz gemeint ist. In der Realität der ersten großen Sanierung von Paris durch Haussmann stellte sich heraus, dass die neuen Wohnungen nur für Mieter errichtet werden, die zur Zahlung höherer Mieten in der Lage waren. Sozial niedere Schichten wurden an den billigeren Stadtrand abgesiedelt. Da Arbeiter aber mangels Verkehrsmittel auf eine Wohnung in der Nähe der Fabrik angewiesen waren, konnten sie auch gar nicht weiter wegziehen, sondern mussten in erschwinglichen, aber weiterhin schlechtesten räumlichen und sanitären Verhältnissen wohnen. Die Deportierung des Proletariats an die Periphe­ rie, die mit der Erfindung der Vororte einherging, die das Zentrum verbürgerlichte und entvölkerte, führte aber zu dessen gewaltsamer Rückkehr. Ebenso führte dies zur Renaissance der Utopien, die eine ferne Ordnung phantasieren, die mit der realen Situation nichts zu tun hat, und die zumeist auch wieder von einer Strahlungsmitte träumen. Fouriers garantisme, das utopische Modell einer Wohnstadt, entspricht ei­ ner radialen Anlage im Stil der Renaissance, die aber in konzentrischen Ringen um ein Zentrum angeordnet ist.16 Raumkrankheit und urbanistische Ideologie Die aufgrund der fortschreitenden Sphärenzerstörung notwendige Einführung hygie­ nischer Begriffe hat fatale Nebenwirkungen, da sie die Stadt zunehmend als kranken Organismus, als einen Raum, der unter einer Krankheit leidet, betrachtet. Der Raum steht paradigmatisch für die Gesellschaft, die Pathologie des Raumes wird auf eine Gemeinschaft übertragen, nun gilt es diese durch Urbanismus zu heilen. Der Urba­ nist, der zumeist auch Architekt ist, versteht sich als Arzt im Sinne der aggressiven Heilkunde der Moderne, die mit Heilung immer gewaltsame Entfernung der Sympto­ me unter Einsatz technischer Hilfsmittel verbindet. Das verleiht der Argumentation, die sich zunächst im politischen Ausdruck der eigenen Humanität kaum erwehren kann, bis sie von der Sprache der Technokraten übernommen wird und sich zuneh­ mend verselbstständigt, ein enormes moralisches Gewicht. Hier treffen sich politische und ökonomische Interessenten, die in unterschiedlichsten institutionellen Ausfor­ 76

1 Siehe dazu Kap.: Die Romantik. Der städtische Anti- Courbin, S. 169. 12 Adolphe Auguste Mille, „Rapport sur le raum bricht herein, S. 45. 2 Richard Sennett, Fleisch und mode d’assainement des illes en Angleterre et en Ecosse“ Stein, Berlin Verlag, Berlin 1995. 3 Ebd. 4 Mario San- in: Annales d’hygiène publique et de médecine légafilippo, Francesco Venturi, Die Brunnen von Rom, Hir- le, Paris 1855, zit. nach Courbin, S. 201. 13 Courbin (wie mer Verlag, München 1996, S. 18 . 5 Alain Courbin, Pest- Anm. 5), S. 202 . 14 Max Weber, Wirtschaft und Gesellhauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs, schaft, Abschnitt Typologie der Städte S. 727 – 824 , J. C. B. Fischer, Frankfurt/Main 1993 , S. 227. 6 Ivan Illich, H 2 O Moor, Tübingen 1980, S. 214 . 15 L. J. Rather, „The six und die Wasser des Vergessens, Rowohlt, Hamburg 1987, things non natural“, in: Clio Medica 3, 1968 , S. 332 – 347; S. 117. 7 Ebd. 8 Courbin (wie Anm. 5) , S. 121. 9 Cour- auch: Georg Wöhrle, Studien zur Theorie der antiken bin (wie Anm. 5), S. 160. 10 Courbin (wie Anm. 5), S. 160. Gesundheitslehre, Franz Steiner Verlag, Stuttgart 1990. 11 Edmond Duponchel, „Nouveaux systèmes de latrines 16 Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheopour les grands établissements“, in: Annales d’hygiène rie, C. H. Beck, München 1991, S. 326. publique et de médecine légale, Paris 1858 , zit. nach

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mungen, aber stets mit der der gleichen Strategie bis heute vorgehen. Diese bedeutet immer Ausschneiden, Trennen und Aushöhlen städtischen Raumes, damit er der für seine Verwertung vorausgesetzten Abstraktion, der des homologen Raumes, auch real gerecht wird.

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Abb. 5: Barrikade in der Rue St. Martin in Paris am 23. Februar 1848 . Walter Benjamin sah in der Barrikade einen Vorboten des Surrealismus, weil sie mit der Ansammlung verschiedenster Objekte auf der Straße ein surreales Bild erzeugt. Illustr. Zeitung, 11. März 1848 , Bd. X , N° 245, S. 177.

Die Geburt der Stadt des 19. Jahrhunderts aus dem Geist des Bergwerks Es gibt einen geschichtsphilosophisch bemerkenswerten Zusammenhang, auf den Lewis Mumford im Kapitel „Coketown“ seines Werkes Die Stadt aufmerksam macht: Die Stadt des 19. Jahrhunderts ist ein atmosphärisches Komplement des Bergwerks, dessen schmutziggraue Welt in die Stadt hineinverlegt wurde. So schreibt er über die Verbindung von Bergwerk, Stadt und Eisenbahn: „Von den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts an wurde die Umwelt, die früher auf den eigentlichen Standort des Bergwerks beschränkt war, von der Eisenbahn überallhin getragen. Wohin auch die eisernen Schienen liefen, das Bergwerk mit sei­ nem Abfall lief mit. Während die Kanäle der eotechnischen Phase mit ihren Schleu­ sen und Brücken und Zollhäusern, mit ihren gepflegten Ufern und gleitenden Kähnen ein neues ästhetisches Element in die ländliche Umgebung gebracht hatten, schlugen die Eisenbahnen der paläotechnischen Phase ihr riesige Wunden. […] In den Gruben­ städten konnte man den typischen Vorgang des Abbaus, des Untergrabens, am deut­ lichsten wahrnehmen, aber die Eisenbahn übertrug diesen Prozess im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts auf fast alle Industrieorte.“ 1 Zudem ist heute weitgehend vergessen, dass viele der wichtigsten Erfindungen, die nun in der Stadt ihre Anwendung fanden, aus dem Bergbau stammten. Die Eisenbahn, der Aufzug, der unterirdische Tunnel sowie die künstliche Beleuchtung und Belüftung wurden schon Jahrhunderte vor der industriellen Revolution im Bergbau erdacht und erprobt, selbst der Prototyp der Dampfmaschine diente ursprünglich zum Auspum­ pen der Schächte.2 Das Bergwerk war also in vielerlei Hinsicht eine Simulation städ­ tischer Verhältnisse der Zukunft, nicht nur für mechanische Erfindungen, sondern auch für die Entwicklung jenes harten und selbstbewussten Persönlichkeitstypus des Bergmanns, dessen Tätigkeit durch die ständige Konfrontation mit dem Tod Ähnlich­ keit mit dem Beruf des Soldaten aufweist und auch ein vergleichbares Ethos des Hel­ dentums und der Selbstaufopferung hervorbringt. Aus dieser Figur wird die spätere Gestalt des Arbeiters mit seinen heroischen Elementen des Helden der Arbeit und des Klassenkampfes entwickelt. Zugleich übertragen sich Elemente des destruktiven Charakters des Bergwerks, bzw. auch der seiner Besitzer mit ihrer Rücksichtslosigkeit der Umwelt gegenüber, auf die Stadt und die sozialen Verhältnisse. Dazu kommt der Umstand, dass die Metal­ lurgie seit Jahrtausenden mit der Idee des Opfers und des Selbstopfers verbunden ist. Die Herstellung von Metallen wird als Schöpfungsakt erlebt, der Blutopfer notwen­ dig macht. Die Schmiede sind Nachfolger der Schamanen und spielen aufgrund ihrer antiterritorialen Genese immer eine zwielichtige Rolle, die sich in vielerlei Hinsicht in der Industrie des 19. Jahrhunderts fortsetzt. Die großen Risiken des Bergbaus wur­ den durch die Aussicht auf die großen Gewinne aufgehoben, der Geist des Kapitalis­ mus kam hier durch die industrielle Revolution zu einer frühen Blüte. Denn der Berg­ bau stand im Kontext der Gießereien und der Eisenindustrie, die wiederum durch ihre 79

Produkte die Voraussetzungen zur Maschinenproduktion schufen und die Einführung weiterer neuer Industrien wie der Textil­ oder Glasindustrie ermöglichten. Diese Synthese wurde durch die Erfindung der Dampfmaschine ermöglicht, die ihrerseits aus der Verbindung von Mechanisierung und Abbau hervorging. Zwei kon­ träre Erfahrungen, die Beobachtung der Bewegungen der Himmelskörper, die die Er­ kenntnis eines Höchstmaßes an mechanischer Regelmäßigkeit ermöglicht hatte, und der physikalische Vorgang des Zerlegens, Pulverisierens, Ausglühens und Schmel­ zens, der durch die Alchimisten begonnen worden war, führten zur Entwicklung der Dampfmaschine als Antriebskraft. Der Ort, wo die Dampfmaschine stand – vor der Entwicklung der Eisenbahn waren dies in der Regel die Kohlenreviere –, konzentrierte die Kraft der Maschine und bereitete die Technik der Ballung vor, indem er die Produk­ tion zentralisierte, die Materialien zusammenführte und die Arbeiter vom Land an­ saugte. Durch die neuentwickelten Transportsysteme der Eisenbahn konnte die Kohle auch in die Stadt geliefert werden und machte damit die Dampfmaschine vom Stand­ ort der Kohlenförderung unabhängig und eine Verlagerung an strategisch geeignete­ re Orte möglich. Energie und Stadtgestalt Daraus resultieren die drei neuen, zentralen urbanen Elemente des 19. Jahrhunderts 3: die Fabrik, die Eisenbahn und der Slum, wobei die Fabrik zum Kern des neuen städ­ tischen Organismus wurde. Die Überlagerung der alten mittelalterlichen Stadt durch diese neue Struktur, deren Ursprung im Bergwerk liegt, beruhte auf einer völlig ande­ ren topographischen Logik, die, von utilitaristischen Motiven gespeist, für die Bildung des neuen Stadtgrundrisses verantwortlich wurde. Zunächst wurde die Stadt durch die Zufuhr von Kohle in die Lage zur Erzeugung einer ungeheuren Menge von Energie versetzt. Diese Anreicherung und Umwandlung von Kohle in kinetische Energie erfolg­ te in den Anlagen der Fabriken, den Orten der Maschine. In Folge dieser an den Para­ digmen einer energetisch bestimmten Produktionslogik orientierten Raumplanung wurde die Fabrik zum jeweiligen Zentrum eines bestimmten geographischen Raumes und beanspruchte, ihrem Rang einer zentralen Schnittstelle entsprechend, ungehin­ derte Wege der Zufuhr durch Eisenbahnen und der Abfuhr durch Wasserwege und Kanäle, zumeist natürliche Wasserstraßen, nämlich Flüsse. Als zusätzliches, der Logik des Produktionsprozesses untergeordnetes Element wurde der Arbeiter benötigt, der durch die Abwanderung vom Land in die Nähe sei­ nes Lebensmittelpunktes, der Fabrik, umgesiedelt wird. Die Landbevölkerung, die für viele Jahrhunderte einen durch die Kirche zentrierten Raum bewohnt hatte, lebte nun im Umkreis eines neuen gemeinschaftlichen Mittelpunktes, der Fabrik. Dieses neue Zentrum unterwirft nun die soziale und natürliche Umwelt seinen Bestimmungen und Zwängen. Patrick Geddes nannte diese neuen städtischen Gebilde, die weder isoliert auf dem Land lagen noch an einen historischen Kern gebunden waren, Conurbation, die Kohlen­ ballung.4 Sie erstreckten sich mit gleichmäßiger Dichte über große Flächen ohne Mit­ telpunkte in einem städtischen Brei, und es existierten keine politischen Institutionen, die ihre Angehörigen zu einem aktiven Stadtleben zusammenschließen konnten. Auch wurden die Überschüsse kaum in diese Industriedörfer investiert. Die Umweltfolgen waren gravierend. 80

Die Fabriken beanspruchten die besten Standorte am Wasser aus Gründen des Wasserbedarfs bei der Produktion und vor allem wegen der einfachen Entsorgung sämtlicher Abfälle. Die Flüsse wurden für Generationen in offene Abfallkanäle der Fär­ bereien und der chemischen Industrie verwandelt. Die Wohnhäuser für die Arbeiter und ihre Familien wurden von Spekulanten in unmittelbarer Nähe der Fabriken, oft in den frei gebliebenen Räumen zwischen Lagerschuppen, Hallen und Bahnhöfen, ange­ legt. Diese Arbeiterhäuser waren hart an den Rand von Stahlwerken, Färbereien, Gas­ werken oder Eisenbahnschächten erbaut und oft auf mit Asche, Glasscherben und Müll

Eisenbahn. Der Bahnhof als transitorisches Bauwerk Die zweite Formkraft ist die Eisenbahn, die mehr als jeder andere Einzelfaktor auf die viktorianische Stadt einwirkt. „Sie war verantwortlich für die dichte Bebauung, sie prägte den Charakter der Innenstädte ebenso wie den der öden Außenbezirke und der Vorstädte. Sie bestimmte Tempo und Ausmaß des Wachstums; und sie stellte wahrscheinlich den wichtigsten Faktor auf dem städtischen Immobilienmarkt des 19. Jahrhunderts dar.“ 5 Die Bahn verändert durch die Schienenschächte und die neu­ en Bahnhöfe die Physiognomie der Stadt enorm: „die Stadtpläne werden innerhalb ei­ ner Generation uniformisiert durch die mächtigen geometrischen Linien, auf denen die Ingenieure die Bahnen in sie hineinführen.“ 6 Die Bahnen wurden zumeist an die Peripherie der alten Zentren herangeführt, wo auch die Bahnhöfe angelegt wurden. Der Bahnhof ist daher – schon aufgrund seiner Lage außerhalb der alten Stadtmau­ ern – ein Fremdkörper mit ambivalentem Charakter, der sich auch in seiner Gestalt insofern ausdrückt, als er als mi­usine und mi­palais bezeichnet wurde (halb Fabrik, halb Palast). Die Kombination aus den in Steinarchitektur errichteten Empfangsge­ bäuden und den Eisen­Glas­Hallen des Bahnhofes stellten eine Novität für die dama­ lige Zeit, lange vor der Erfindung des Hybriden, dar. Diese Kopfbahnhöfe prägten das Gesicht der europäischen Großstädte und leisteten in einer großartigen Konzeption der Schleuse die Vermittlung zweier Verkehrsräume. Das klassizistische Empfangs­ gebäude aus Stein gehört zum urbanen Raum und übergibt oder übernimmt den Ver­ kehr aus dem industriellen Bereich der gläsernen Halle der Eisenbahn. Der Reisende, der in der Stadt ankommt, erfährt eine Verkleinerung des unbegrenzt anmutenden Raumes der durchfahrenen Landschaft bereits in der Halle, ehe er im steinernen Ge­ bäude auf intimere, städtische Dimensionen transformiert wird. Der Abreisende er­ fährt eine Vergrößerung ins Erhabene beim Durchschreiten der Räume, ehe er die Reise mit der Eisenbahn antritt, ein Mitte des 19. Jahrhundert vielfach noch drama­ tisches Ereignis. Ab 1860 jedoch werden die Warteräume mit der Schleusenfunktion, die zwischen Empfangsgebäude und Bahnsteighalle lagen, an die Peripherie verlegt und durch eine direkte und offene Verbindung abgelöst.7 Die Reisenden hatten sich an die jähen Über­ gänge gewöhnt. Dennoch erinnert das Motiv des Triumphbogens, das viele Bahnhöfe im Historismus beibehalten, an dessen ursprünglich transitorische Funktion als Tor zwischen dem Bewegungsraum und dem Stadtinneren.

Die Geburt der Stadt des 19. Jahrhunderts aus dem Geist des Bergwerks

aufgeschüttetem Gelände oder am Rand einer Kohle­ oder Schlackenhalde gelegen. Der Gestank der Abfälle, der Qualm der Schornsteine und der Lärm der Maschinen beglei­ teten die Bewohner ihr ganzes Leben.

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Hydrokratie. Kontrolle der Ströme Eine weitere Dimension der urbanen Erweiterung ist die Schaffung einer unterirdi­ schen Stadt, in der ein riesiges Geflecht von Versorgungsanlagen unter der Erde ver­ legt wird. Tunnel und Untergrundbahn stellen ein weiteres Erbe des Bergwerkes dar, waren aber auch schon in der Antike und in späteren Zeiträumen in der Form von Stol­ len und Laufgräben zur Einnahme barocker Festungen bekannt. Die Unterminierung der Stadt ist immer mit Elementen des Bedrohlichen verbunden und unterliegt daher zumeist weitgehend der Verdrängung. Die Stadt, die so sehr die Notwendigkeit des Sichtbaren betont, schweigt über ihre dunklen Tiefen. Die städtische Unterwelt gleicht einem Totenreich, und die Metaphern, die ein Journalist zur Beschreibung eines Ab­ wasserkanals in Piccadilly verwendete, haben immer noch Geltung: „Es war wie die Überquerung des Styx. Der Nebel war uns von den Straßen her gefolgt und trieb über dem stark riechenden, fleckigen Fluss wie ein Hadesstrom.“ 8 Dieser Schleier der Verdrängung erstreckt sich aber auch auf die Versorgungs­ und Entsorgungskanäle, als ob man den eigenen Körper in seinem Inneren nicht sehen wollte, weil uns dieser Blick in Kenntnis von unerträglichen Wahrheiten setzen könnte. Wie die Geschichte der Abfallbeseitigung zeigt, wehrten sich die Städte aus verschie­ denen Motiven, auch der Angst vor der Unterminierung, lange gegen den Bau solcher Anlagen. Erst die über Jahrzehnte währende Unerträglichkeit des Gestankes führte in London zur Errichtung geeigneter Anlagen. Wasserleitungen erhöhten die Standards der Hygiene, Kloaken entsorgten die unbrauchbaren Materialien, Gasrohre und elek­ trische Kabel bildeten ein großes Versorgungsnetz zur Energieverteilung, die U­Bahn eine enorm leistungsfähige Verkehrsanlage. Durch diese Kanalisierung wird auch eine Strategie der Herrschaft über das Stadt­ territorium verfolgt. Die klassische Untersuchung von Wittfogel, der die Entstehung der orientalischen Hochkulturen durch die Kontrolle über die Bewässerungsanla­ gen erklärte, ist in ihren Grundideen auch auf die Stadt anwendbar. Macht und Kana­ lisierung, das heißt Kontrolle über die Strömungen, weisen enge Zusammenhänge auf. Wenn in der Stadt des 19. Jahrhunderts erstmals systematisch eine unterirdische Vernetzung durch Röhren, Leitungen, Kanäle und Pipelines erfolgt, so erlangen diese Versorgungsleistungen einen Doppelcharakter, der sich durch die unterschiedlichen Zugangschancen ergibt. Wer über die Leitungen verfügt, mit denen Gas, Wasser, spä­ ter Strom und die Menschen selbst transportiert werden, wer die Ermächtigung zum Transport und dessen Instrumente in der Hand hat, der hat kraft der Kontrolle der hydraulischen Systeme auch die Stadt in der Hand. Die Stadt beginnt im 19. Jahrhun­ dert den Ausbau zu einem durchkanalisierten System, das in „Flüssigkeiten“ denkt und in der Steuerung von Strömen Erfahrung sammelt. Das Prinzip der Ökonomie der Ströme ist einfach, es beruht auf der Nutzung des Gefälles zwischen Orten mit höhe­ ren Mengen benötigter Substanzen und Orten mit geringeren Mengen. Durch die Strö­ mung wird bei Bedarf aus dem Reservoir in die Räume des Mangels umgeleitet. Dieses Grundprinzip, das ja auch in der Ökonomie gilt, erzeugt zugleich ein System von Nach­ frage, Werten und knappen Gütern. Für die Stadt erzeugt dies eine Umformatierung von einem Raum der Orte, die durch besondere Wege verbunden sind, und diese achsialen Verbindungen durch be­ sondere gestalterische Qualitäten auszeichnet, indem man ihren städtischen Land­ schaftscharakter unterstreicht – als Charakterisierung der Idee diene hier die barocke 82

Planung –, zu einem Raum des Netzes, das städtisches Gelände in Interessensgebiete aufteilt und ein Territorium feinster Durchäderung und Kontrolle herstellt. Orte gelten von nun an nur mehr aufgrund ihrer strategischen Bedeutung, die sie im Kontext des Netzes haben und entweder durch Fülle oder Mangel gekennzeichnet sind. In diesem Sinne handelt es sich um Positionen, die durch Kategorien der Nachfrage, des Bedarfes und Marktes definiert werden.

Die weltweit erste U­Bahn, die in London ab 1860 gebaut wurde, demonstriert das eben Gesagte in anschaulicher Weise. Sie verband das Zentrum mit der Peripherie und ver­ änderte durch diesen Anschluss der äußeren Gebiete die Immobilienlage radikal. Die­ ser Vorgang hatte weitreichende soziale Folgen, indem er das Zeit­Raum­Gefüge der Stadt von Grund auf veränderte und eine völlig neue Situation des räumlich Erreich­ baren herstellte. In London kontrollierte seit Jahrhunderten eine kleine Zahl aristokra­ tischer Grundbesitzer große Teile der innerstädtischen Areale – übrigens auch noch heute, was paradoxerweise der Stadtentwicklung oft gut tut, da diese Besitzer auf­ grund ihres immensen Immobilienreichtums keine überzogenen Renditeerwartungen haben –, unterlagen aber aufgrund des Mangels gesetzlicher Bestimmungen und der fehlenden zentralen Verwaltung keinerlei Einschränkungen. Zahlreiche Projekte der Stadterneuerung führten zum Abriss alter Slums und zur Absiedelung der Bewohner in stadtnahe Elendsviertel in Eastend und südlich der Themse, einer frühen Form der Gentrification. Immerhin erlaubte das billige Massen­ transportmittel, die U­Bahn, nun eine Verbesserung der Lebensverhältnisse durch bil­ ligeres Wohnen weit außerhalb der Stadt. Zugleich wurde der Erwerb oder die Miete billiger Reihenhäuschen mit kleinen Gärten für Arbeiter erstmals möglich, was als eine für europäische Verhältnisse vorbildliche Entwicklung gelten konnte und auch von großem Einfluss auf die späteren Siedlerbewegungen in Österreich und Deutsch­ land war. Allerdings wurde damit auch die unkontrollierte Ausdehnung Londons gefördert. Überdies konnte man in der City erstmals das Phänomen der schwankenden Dichte des Zentrums nach Tageszeiten beobachten. Das Prinzip des Blutkreislaufes, der durch Arterien und Venen die Versorgung des Organismus übernimmt, kam nun auch in der Stadt in Anwendung: Die Zufuhr von Arbeitskräften erfolgte morgens und ihre Ablei­ tung am Abend.9 Ausdehnung Allerdings ging damit auch eine bemerkenswerte Entgrenzung der Stadt einher, die freilich in London Tradition hatte. Bereits 1580 hatte ein elisabethinischer Erlass ver­ boten, „dass in einem bisher bewohnten Haus mehr als nur eine einzige Familie un­ tergebracht wird oder hinfort wohnt“, um damit die Überbevölkerung einzudämmen und gleichermaßen“ die Errichtung von Häusern im Umkreis von drei Meilen vor den Stadttoren zu verbieten.“10 Dennoch ist die Vorstellung, dass ein Haus nur von einer Familie bewohnt werden solle, die auch die Stadtentwicklung des 17., 18. und viel­ fach sogar des 19. Jahrhunderts prägte, von tiefergehenden konservativen Vorstellun­ gen, die zumindest aus dem Mittelalter stammen, gekennzeichnet. Einen Hinweis zur Interpretation dieser bemerkenswerten Tatsache liefert vielleicht der Umstand, dass

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U-Bahn

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die Zulassung von Neubauten nur bei einer Neuerrichtung „auf alten Fundamenten“11 gewährt wurde. Die außerordentlich tiefe Beziehung der Engländer zum Grund findet ja auch in der Tatsache Ausdruck, dass die Titel der Aristokraten immer an das Land gebunden waren und daher nur der Älteste Land und Titel erben konnte, während die Geschwis­ ter nur noch ein bis zwei Generationen niedere Titel führen durften, ehe sie wieder in den Bürgerstand zurücksanken. Möglicherweise hatten aufgrund des strengen genea­ logischen Prinzips das Haus und der Grund den Vorrang vor gesamtstädtischen For­ derungen, die dieses Recht eingeschränkt hätten. Überdies bestand Groß­London bis 1888 aus Dutzenden von Gemeinden ohne gemeinsame Stadtregierung, außer einem Metropolitan Board of Works, und hatte daher keine gemeinsame Raumplanung, was die Stadt in einen völligen Gegensatz zu Paris und der zentral gelenkten Umformung durch Haussmann stellte. Der vom protestantischen Bewusstsein geprägte Individualismus der Engländer drückte sich offenbar in einer spezifischen und konsequenten Anthro­ pologie des Hauses aus, die ein Primat gegenüber anderen, eher gemeinschaftlich ori­ entierten Formen des größeren Mietshauses zur Folge hatte. Dazu zählte ein Stückchen Grün, das selbst im kleinsten Hinterhof präsent war, um die Illusion des Naturraumes aufrecht zu erhalten. Im Zusammenhang mit dem englischen Haus muss auch unbedingt auf Ruskins Werk Stones of Venice hingewiesen werden, dessen Effekt darin bestand, dass nun ein Baustil der oberitalienischen Gotik mit farbiger Backsteinarchitektur, „streaky bacon style“, nicht nur ganz England und seine Kolonien, sondern auch den gesamten nord­ amerikanischen Raum eroberte und bis heute in größter Dichte präsent ist. Dieses erfolgreiche Geschmacksmuster, das ursprünglich im Sinne der nationalen Erneue­ rung an die Gotik erinnern sollte, dessen Wirkungsgeschichte sich nicht mit Ruskins Intentionen deckte und dessen massenhafte Verbreitung von Ruskin auch bald als unheimlich empfunden wurde, stellt noch heute eine universale urbane Textur ang­ loamerikanischer Städte und möglicherweise die erfolgreichste Designidee aller Zei­ ten dar. Soziale Enthemmung. Vergnügungsmasse Die Entgrenzungserscheinungen der Stadt äußern sich nicht nur in der extremen Aus­ dehnung, sondern vor allem im völlig neuen Phänomen der Vergnügungsmasse. Die Vorstellung, die diese Masse abgibt, unterscheidet sich deutlich von dem, was Rous­ seau als das Schauspiel des Festes bezeichnet hat, wobei das Volk ein Schauspiel freu­ diger Befriedigung beim Winzerfest bietet, und das gewissermaßen ein Vorspiel zum Fest der Revolution darstellte. Durch keine Tradition gefestigt, durch kein Ritual ge­ ordnet, durch kein Element des Theaters zivilisiert, wird hier erstmals in der Geschich­ te ein rohes, trostloses Ausleben der Primärtriebe praktiziert, wie der Bericht Dosto­ jewskis aus dem Kapitel mit dem bezeichnenden Namen „Baal“ zeigt: „Man erzählt mir zum Beispiel, dass sich jeden Samstagabend eine halbe Million Arbeiter und Arbeiterinnen mit ihren Kindern wie ein Meer in die Straßen der Stadt ergießt, die sich besonders in gewisse Stadtteile drängend, um dann die ganze Nacht bis fünf Uhr früh morgens Feiertag zu halten, das heißt sich viehisch satt zu essen und voll zu trinken nach der ganzen durchhungerten Woche. In den Fleisch­ und Ess­ warenläden brennt das Licht in dicksten Flammenbüscheln, die grell die Straße erhel­ 84

Kristallpalast. Der erste theme park Die eigentliche urbane Sensation in der Mitte des Jahrhunderts ist aber jenes Bauwerk, das für Kunsthistoriker die Ankunft der Moderne in der Architektur ankündigt, indem hier erstmals serielles Bauen durch vorgefertigte Glas­ und Stahlteile ermöglicht wur­ de. Innerhalb eines knappen Jahres wurde von Joseph Paxton von Juli 1850 bis Mai 1851 im Hyde Park ein riesiger Wintergarten von 1.801 Fuß Länge und 450 Fuß Breite, dessen Mittelschiff 100 Fuß Höhe erreichte, aufgestellt, der die Weltausstellung auf­ nehmen sollte. Der Ursprung des Bauwerks liegt in den botanischen Ambitionen der aus den Kolonien heimgekehrten Aristokraten, die auf diese exotische Welt der Palmen und Orchideen auch im trüben England nicht verzichten wollten und daher Experi­ mente mit Palmenhäusern anstellten. Das Ziel bestand in der Herstellung einer künst­ lichen Atmosphäre, in der auch fremde Pflanzen gedeihen konnten. Aber in diesem Wunsch nach der Verpflanzung einer fremden Welt durch Simulation ihres Klimas drückte sich bereits das Motiv des Themenparks aus, jener Landschaft, die vermutlich als das prägende urbane Phänomen des 21. Jahrhunderts in Erscheinung treten wird. Das Bauwerk, das in seinem Inneren auch noch zwei ausgewachsene Ulmen beher­ bergte und durch ein außerordentliches Raumerlebnis einer „ins Monumentale gestei­ gerten Gleichförmigkeit“13, einer Form des seriell Unbegrenzten charakterisiert wur­ de, erfuhr von den Zeitgenossen überschwängliches Lob. William Thackeray dichtete zur Eröffnung eine Ode14 : A palace as for fairy prince, A rare pavilion, such as man Saw never since mankind began, An built and glazed. Dostojewski ist vor allem angesichts des tiefen Kontrasts des Kristallpalastes zu ande­ ren Erscheinungen der Großstadt tief berührt:

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len. Es ist geradezu, als werde für diese weißen Neger ein Ball veranstaltet. […] Alles ist betrunken, doch ohne Fröhlichkeit, ist vielleicht finster, schwer, und alles ist irgend­ wie eigentümlich stumm. Die Frauen stehen den Männern nicht nach und betrinken sich gleich diesen; die Kinder laufen und kriechen zwischen ihnen umher. […] Volk ist hier überall Volk, hier aber war alles so kolossal, so grell, dass man gleichsam körper­ lich fühlte, was man sich bislang nur geistig vorgestellt hatte. Ja, hier sieht man nicht einmal mehr Volk, sondern Verlust des Bewusstseins, systematischen, gehorsamen, geförderten. Und man fühlt, wenn man all diese Parias der Gesellschaft sieht, dass für sie die Prophezeiung noch lange nicht in Erfüllung gehen wird, dass sie noch lange kei­ ne Palmenzweige und weißen Gewänder erhalten werden. […] Dort in Hay­Market habe ich Mütter gesehen, die ihre eigenen kleinen Töchter zu diesem Gewerbe anleiteten. Und diese kleinen, vielleicht zwölfährigen Mädchen fas­ sen einen bei der Hand und bitten einen, doch mit ihnen zu gehen. […] Einmal erblick­ te ich in dem Gewimmel der Straße ein Kind, ein Mädchen von höchstens sechs Jah­ ren, bestimmt nicht älter, in Lumpen gekleidet, schmutzig, barfuß, ausgemergelt und blaugeschlagen […] dieses Kind ging mit dem Ausdruck eines solchen Kummers, einer so hoffnungslosen Verzweiflung im Gesicht […]“12

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„Diese Tag und Nacht hastende Stadt und wie ein Meer unumfassbare Stadt, des­ sen Gepfeif und Geheul der Maschinen, diese über den Häusern dahinjagenden Eisen­ bahnen, diese Dreistigkeit des Unternehmensgeistes, diese scheinbare Unordnung, die im Grunde die bourgeoise Ordnung in höchster Entwicklung ist, diese vergiftete Them­ se, diese mit Kohlenstaub durchsetzte Luft, diese großartigen Squares und Parks, die­ se unheimlichen Stadtwinkel wie Whitechapel mit seiner halbnackten, wilden und hungrigen Bevölkerung, die City mit ihren Millionen und dem Welthandel, der Kris­ tallpalast, die Weltausstellung […] ja die Ausstellung kann einen stutzig machen. Man spürt die furchtbare Kraft, die hier alle diese unzähligen Menschen aus der ganzen Welt zu einer einzigen Herde zusammengetrieben hat; man fühlt, dass hier bereits etwas erreicht ist: ein Sieg, ein Triumph. […] Menschen, die alle mit einem einzigen Gedanken gekommen sind, die still, unablässig und stumm sich in diesem riesenhaf­ ten Palast umherdrängen. Das ist irgendwie wie ein biblisches Bild, irgendetwas von Babylon, ist wie eine Prophezeiung aus der Apokalypse, die sich leibhaftig verwirk­ licht hat […].“15 Great Victorian Way Es gibt ein weiteres, unausgeführtes Projekt von Paxton, das Dostojewski vermutlich sprachlos gemacht hätte, einen Plan, in dem er eine 16 km lange Galerie aus Glas in London vorschlug. Damit wäre die City der Stadt durch einen ringförmigen Boulevard umfasst worden und hätte zugleich auch im Inneren einige künstliche Räume erhalten. Es wäre eine fantastische Passagenlandschaft geworden, die sämtliche Architektur­ utopien einer Stadtüberdachung, die im 20. Jahrhundert aufgekommen sind, über­ flüssig gemacht hätte. Zugleich kündigte sich bereits ein ungestilltes Verlangen nach Raumerweiterung und Atmosphärenwandel, der die steinschweren urbanen Welten von Grund auf verändert, an. Eine Sehnsucht nach Leichtigkeit und glücklichen Inseln im städtischen Raum wird hier formuliert, deren Einlösung noch bevorsteht.

1 Lewis Mumford, Die Stadt, dtv, München 1984 , S. 525. und Stein, Berlin Verlag, Berlin 1995, S. 414 . 10 Ackroyd 2 Lewis Mumford, Mythos der Maschine, dtv, Frankfurt (wie Anm. 8), S. 118 . 11 Ebd. 12 Fjodor M. Dostojewski, 1986 , S. 503 . 3 Mumford (wie Anm. 1), S. 533 . 4 Mum- Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, Piper, München ford (wie Anm. 1), S. 547. 5 John R. Kellett, The impact 1992, S. 784 – 785. 13 Nikolaus Pevsner, Architektur und of Railways on Victorian Cities, London/Toronto 1969, Design, Prestel, München 1971, S. 258; Leonardo Benevolo, S. XV. 6 Ebd. 7 Caroll Meeks, The Railroad Station, New Geschichte der Architektur des 19. und 20. Jh., Bd. 1, dtv, York 1995, S. 79. 8 Peter Ackroyd, London. Die Biographie, München 1988 , S. 153 . 14 Ebd., S. 258 . 15 Dostojewski Knaus, München 2002, S. 573. 9 Richard Sennett, Fleisch (wie Anm. 12), S. 779 / 780.

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Paris. Die Poetik des anthropologischen Ortes Der Verlust des Zentrums hat eine überraschende und unvorhersehbare Entwicklung der Stadt zur Folge, wie am Beispiel Paris erneut nachgewiesen werden soll. Merkwür­ digerweise kommen durch die Öffnung der Stadt und ihre beginnende Expansion die alten anthropologischen Strukturen des Ortes und des Territoriums – die über lange Zeit von den zentralistischen Strukturen überlagert, dominiert worden und vergessen gewesen sind – aufgrund der Wiederentdeckung durch Schriftsteller und ihre Übertra­ gung in die Sprache der Poesie zu neuer Bedeutung. Victor Hugo ist in Hinblick auf die­ se topologische Überprüfung der Stadt und des Aufspürens alter Substanzen an erster Stelle zu nennen. Seine Romane und Texte sind Belege für eine urbane Feinfühligkeit und erzeugen eine zweite, imaginäre Schicht der Stadt, ein neues Gewebe der Bedeu­ tung. So kommen in seinem Werk Les Misérables die uralten Zonen der Artemis, das städtische Umland, die Peripherie ebenso zur Sprache wie der Zugang zum Untergrund und die Unterwelt selbst. Dort entstehen neue Orte der Imagination, die im Schick­ sal der Romanfiguren eine wichtige Rolle spielen, aber zugleich auf die Einbildungs­ kraft des Lesers einwirken und real werden. Komplementär zu dieser Entwicklung der poetischen Beschreibung verläuft der Expansions­ und Zirkulationsprozess mit seiner Neustrukturierung des Verhältnisses zwischen Körper und Stadtraum. Durch das Auf­ kommen des Omnibusses entsteht eine erste Form der beschleunigten Massenbewe­ gung, die nur drei Jahrzehnte später zur U­Bahn in London führt. Die Möglichkeit zur schmerzfreien Entfernung hat neue Näheverhältnisse des Urbanen sowohl räumlicher als auch sozialer Art zur Folge. Die Entdeckung der Peripherie Die Idee des Zentrums beginnt sich bereits im 18. Jahrhundert aufzuweichen, indem die städtische Aristokratie in Frankreich Paris verlässt und wieder auf das Land zieht. Paris umgibt sich mit galanten Horten, den „folies“, kytherischen Inseln, die auch Charles Baudelaire beschrieben hat, von wo aus sich eine äußerst verfeinerte Rokoko­ kultur ausbreitet. Im 19. Jahrhundert wird das Land durch die Eisenbahn neu entdeckt, die Landschaft und der Bauer werden mit neuen Augen gesehen, und durch die auf­ kommende Siedlungstätigkeit, die von neuartiger Naturliebe inspiriert ist, entstehen die Vorstädte, die banlieus. Die Gründe für diese Verschiebungstendenz vom Zentrum zur Peripherie liegen neben der Hauptursache der Revolution und der Demontage des Königs in der damit einhergehenden Abnahme der Strahlungskraft des Zentrums – im Sinne einer symbolischen Abwertung des zentralistischen Denk­ und Machtmodells. Doch die Ablösung dieses Jahrtausende alten, religiös motivierten und anthropolo­ gisch begründeten Modells erzeugt nicht notwendigerweise eine topographisch ein­ leuchtende und emotional nachvollziehbare Nachfolge­Morphologie. Jedenfalls flie­ ßen nun die Ideen der Grenze, der Peripherie, der Öffnung und Dispersion nach und versuchen eine geistige Besetzung des alten Terrains, um es neu zu gestalten. Das revo­ lutionäre Motiv der Aufsprengung korreliert mit der Entdeckung der Peripherie, die zwar in dieser Phase dem Zentrum noch nicht entgegengesetzt wird, aber erstmals 87

Beachtung findet. Damit einher geht auch der sich ankündigende Verlust der Perspek­ tive in der Kunst, der im 19. Jahrhundert vorbereitet wird und der die Aufgabe einer zentralistischen, ursprünglich aristokratisch privilegierten Sichtweise eines Weltaus­ schnittes zur Folge hat. Die Dezentrierung der Darstellung und des Blickes werden noch weitreichende Auswirkungen auf die Stadtwahrnehmung und die Gestaltung ha­ ben. Vorläufig fühlen sich die Künstler vom Jahrhunderte währenden Blickzwang auf das Zentrum befreit und entdecken in der Bewegung des Sich­Umdrehens die Periphe­ rie, als den Raum zwischen innen und außen. Dieser neue Raum der Grenze, der Bar­ riere und der Vorstadt hat durchaus mythenbildende Potenz, zumal die zentrifugale Kraft, von der er durchflutet ist, für die Entwicklung des 19. Jahrhunderts bestimmend sein wird. Die Kolonialexpansion kann sich nur aufgrund dieses zentrifugalen Zuges entwickeln und wahrscheinlich bedeutet die Entdeckung der Peripherie nur die ers­ te Station jener expansiven Bewegung, die zu der ganz großen Ausdehnung der euro­ päischen Völker dieser Zeit führt. Im Zeichen des Saturn. Die Melancholie der Vorstadt Victor Hugo beschreibt in Les Misérables die Vorstadt aus der Perspektive des Flaneurs und legt damit ein frühes Bekenntnis der Topophilie zur Peripherie ab. Zugleich er­ kennt er genau die Schwelle zwischen Stadt und Umwelt, zwischen Kultur und Natur. „Sinnend umherirren, das heißt bummeln, ist ein guter Zeitvertreib für Philoso­ phen, besonders in dieser etwas zwitterhaften, ziemlich häßlichen, aber bizarren und aus zwei Welten bestehenden Flur, die gewisse Großstädte und Paris umgibt. Die Bann­ meile beobachten heißt ein Amphibium beobachten. Ende der Bäume, Beginn der Dä­ cher, Ende des Grases, Beginn des Pflasters, Ende der Furchen, Beginn der Läden, Ende der Wagenspuren, Beginn der Leidenschaften, Ende des göttlichen Gemurmels, Beginn der menschlichen Unruhe, das macht sie ungemein interessant. […] Der Schreiber die­ ser Zeilen vagabundierte lange Zeit vor den Toren Paris herum, und für ihn ist das eine Quelle weit zurückreichender Erinnerungen. Dieser kurze Rasen, diese steinigen Pfa­ de, die Kreide, der Mergel, der Gips, die herbe Monotonie des brachliegenden Landes, die Gärtner zwischen dem Frühgemüse, die man plötzlich in einer Senke sieht, diese Mischung von Wildem und Bürgerlichen, diese verlassenen weiten Flächen, auf denen die Trommler aus der Garnison lärmend üben und eine Art Schlachtgestotter hervor­ bringen, diese Einöden tagsüber, Räuberhöhlen in der Nacht, die Mühle, die sich lang­ sam im Winde dreht, die Förderräder der Steinbrüche, die Schenken an den Ecken der Friedhöfe, der geheimnisvolle Reiz der hohen düsteren Mauern, die unversehen riesi­ ge, unbebaute und von der Sonne überflutete Grundstücke voller Schmetterlinge ein­ grenzen, das alles zog ihn an. Fast niemand auf Erden kennt diese eigenartigen Orte […] die Pierre Plate bei Châtillon, wo es einen alten, stillgelegten Steinbruch gibt, der nur noch dazu dient, Pilze wachsen zu lassen, und den an der Erdoberfläche eine Falltür aus morschen Bohlen verschließt. Die römische Campagne ist ein Begriff, die Pariser Bannmeile ein anderer. In dem, was uns ein Horizont bietet, nichts weiter als Felder, Häuser oder Bäume sehen, heißt nicht tiefer eindringen. Die Stelle, an der eine Ebene in eine Stadt übergeht, ist stets von ergreifender Schwermut durchdrungen. Natur und Menschheit sprechen hier gleichzeitig zu einem.“ 1 Die tiefe Melancholie der Übergangszone wird hier erstmals ganz deutlich ausge­ sprochen. Zudem breiten sich dort jene Orte aus, die Michel Foucault später als die 88

die soziale Dimension der outlaws, also jener sozialen Randgruppen, die sich nach ih­ rem Status in der sozialen Topographie möglichst weit außerhalb der Stadt ansiedeln müssen, um sich dem Arm des Gesetzes zu entziehen. Der Charakter dieser Zone mit dem Übergang von innen nach außen, der nach den uralten Regeln des anthropologi­ schen Territorialismus verläuft, ist hier noch räumlich mit der Stadtgrenze identisch. Musste man sich früher beim Wiedereintritt in die Stadt oder in das geschützte Terri­ torium einem speziellen Reinigungsritual unterziehen, so tritt merkwürdigerweise nach dem Entfallen dieses Ritus die Melancholie an seine Stelle. Der sanfte Schmerz, der zugleich schön ist und der die meisten bei der Betrachtung der Peripherie befällt, jene unbestimmte Traurigkeit also, die so eng mit der Wahrnehmung dieser Zone ver­ bunden ist, verbindet sich in der Moderne mit dem moralisch Erhabenen im Sinne Kants. Kant hält die melancholische Stimmung für eine Vorstufe der moralischen Haltung. Der Himmelskörper der Melancholie ist der Saturn, weil in den alten astrologischen Aussagen als ein düsterer Himmelsherrscher beschrieben. Saturn ist die lateinische Bezeichnung des Titanen Kronos, der auch der Vater des Zeus ist, und der von seinen eigenen Söhnen entthront wurde. Die Zuordnung zum Traurigen beruht auf seinem ka­ tastrophalen Schicksal, seiner Misshandlung und seiner Gefangenschaft im Tartarus. Er ist, so die Verse des Manilius, von seinem Thron gestürzt und von der Schwelle der Götter verjagt und an das umgekehrte Ende der Himmelsachse verbannt worden, um dort seine Kräfte auszuüben. In der Astrologie beherrscht er die Fundamente des Uni­ versums, nämlich den imum coeli genannten untersten Abschnitt des Himmels, von dem aus er die ganze Welt gleichsam in umgekehrter Perspektive, von einem grund­ sätzlich feindseligen Standpunkt aus anblickt.2 Diese Stellung in der äußersten Zone des Himmels, der Saturn ist damals der äußerste Planet, den man vor der Erfindung des Fernrohres sehen kann und der daher als Begrenzung des Himmelssystems ge­ dacht wird, hat ihn zum Gott der Peripherie gemacht, später auch zu einem italie­ nischen Flurgott. Seine Traurigkeit im Sinne der Charakterlehre beruht aber auf der Distanz zum Zentrum und seiner Stellung in der Verbannung. Diese melancholische Stimmung ist der Peripherie auch heute zu eigen, es ist schwer zu sagen, ob dafür die Schwingungen, die der Zentrumsverlust des Saturn ausgelöst hat, oder der Übergang von Stadt zu Land, von Kultur zu Natur verantwortlich sind. Unterwelt und Mundus „Paris steht über einem Höhlensystem, aus dem Geräusche der Métro und Eisenbahn heraufdröhnen, in dem jeder Omnibus, jeder Lastwagen langaushallenden Widerhall erweckt. Und dieses große technische Straßen­ und Röhrensystem durchkreuzt sich mit den altertümlichen Gewölben, den Kalksteinbrüchen, Grotten, Katakomben, die

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„Heterotopien“ bezeichnen wird, also jene Orte, die in der Geschichte der Stadt immer schon an der Grenze angesiedelt gewesen sind. Kasernen zum Grenzschutz, Fried­ höfe, die sich allerdings bis ins 18. Jahrhundert im Herzen der Stadt neben der Kir­ che befunden haben und erst dann aufgrund eines fundamentalen Einstellungswech­ sels und aufkommender Distanz zu den Toten nach außen verlegt worden sind. Auch das Gewerbe mit seinem Eindringen in die Naturzonen, wie die Steinbrüche, ebenso die Gärtner, die den postrevolutionären Gourmets der Stadt das Frühgemüse liefern. Die düsteren Schenken und Räuberhöhlen ergänzen dieses romantische Bild durch

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seit dem frühen Mittelalter Jahrhunderte hindurch gewachsen sind. […] Auch sonst warf diese unterirdische Stadt für die, die sich in ihr ausgekannt haben, ihren greif­ baren Nutzen ab. Denn ihre Straßen schnitten die große Zollmauer, mit der die fermiers généraux ihre Rechte auf Abgaben von der Einfuhr sich sicherten. Der Schmuggel­ verkehr im sechzehnten und achtzehnten Jahrhundert ging zum größten Teil unter der Erde vor sich. Wir wissen auch, dass in Zeiten öffentlicher Erregung sehr schnell unheimliche Gerüchte über die Katakomben umliefen, zu schweigen von den prophe­ tischen Geistern und weisen Frauen, die von rechtswegen dahin zuständig sind.“ 3 So notiert Walter Benjamin im Kapitel „Antikisches Paris, Katakomben, démolitions, Un­ tergang von Paris“, die Rede ist von den alten Kalksteinbrüchen aus römischer Zeit, die ein miteinander verbundenes unterirdisches System von Kavernen bilden, und gibt damit einen Hinweis zu diesem merkwürdigen Sachverhalt eines subterranen, aber zugleich urbanen Raumes. Lässt sich ein derartiger Zusammenhang historisch recht­ fertigen oder ist er nur ins Reich der Phantasie zu verweisen? Zu Benjamins Zeiten war die Forschungslage zu diesen Fragen vielleicht noch unklarer, heute weiß man genau­ er über den realen Hintergrund dieser Unterweltverbindung, der aus der Tradition der Stadtgründung kommt, Bescheid. Der Mundus war ein Loch, das in der Antike anlässlich des Stadtgründungsritus in die Erde gegraben wurde und das eine oder zwei Kammern beinhaltete, die den Göt­ tern der Unterwelt geweiht waren. Er war ein Höllenloch, das die Verbindung zu den Göttern der Unterwelt herstellen sollte. Die Siedler füllten Früchte und andere Gaben in dieses Loch in der Hoffnung die Götter gütig zu stimmen. Dann bedeckten sie das Loch, stellten einen viereckigen Stein auf und entfachten ein Feuer. Strukturell gleicht dieser Ritus den Fruchtbarkeitsbräuchen, die ebenfalls durch Opfer, die in Erdlöcher und Gruben gelegt werden, charakterisiert sind. Der Glaube an die Geburt aus der Tie­ fe der Erde beruht auf dem Mythos der großen Mutter und stellt einen klassischen Fruchtbarkeitskult der Agrarvölker dar, der in allen Kulturkreisen zu finden ist und auch stets eine große Nähe zum Tod aufweist. Diese Verbindung zur Unterwelt wird nun durch Hugos Roman wieder aufgenommen und damit eine Markierung jener Räu­ me der Fruchtbarkeit und des Todes, der Geburt und des Begräbnisses vorgenommen. Bei Hugo werden die Ideen der künftigen Menschheit in der Unterwelt entwickelt, die Revolutionen beziehen ihre Energie ebenfalls von unten. Der Begriff der Subversion ist im 19. Jahrhundert die erste Erscheinungsform der politischen Idee und kann sich nur von unten her ausbreiten. Taupe Crime. Der Maulwurf Verbrechen Die Unterhöhlung der Stadt eröffnet eine zusätzliche, unterirdische Szenerie des Ver­ borgenen. Neben der Vernetzung durch ein gigantisches Röhrensystem zur Versor­ gung und Entsorgung ist das Höhlensystem der Stadt die Beherbergungsstätte einer Art von Parallelgesellschaft, die in der Abgeschiedenheit des Untergrundes lebt, sich aber eines Tages wieder an das Licht begeben wird, wenn der Zeitpunkt der Revolution gekommen ist. Die Unterhöhlung der Stadt entspricht zugleich der der Gesellschaft. Im Untergrund werden verborgene Diskurse geführt, die den Boden für eine neue Ge­ sellschaft vorbereiten sollen und deren Protagonisten auf den richtigen Moment der Erhebung warten. Zunächst setzt Hugo mit einer Metapher der Bühne und ihrer Ver­ senkungsmechanismen ein: 90

„Die menschliche Gesellschaft hat das, was in den Theatern Versenkung genannt wird. Ihr Boden wird allenthalben unterminiert, bald für das Gute, bald für das Böse.“ Noch eindringlicher setzt er mit dem Gleichnis des Bergwerks, seinen Stollen, Minen und Schächten fort. Immer wieder seien im Lauf der Geschichte die großen Verände­ rungen emporgestoßen um zu stürzen, was oben bestimmend war, die alten Regeln umzustoßen, um der gesellschaftlichen Entwicklung neue, bessere Wege zu weisen. „Unter dem Bau der Gesellschaft, diesem großartigen, kunstvollen Gemäuer, finden sich Aushöhlungen aller Art. Da gibt es die Mine der Religion, der Philosophie, der Po­ litik, der Ökonomie und der Revolution. Der eine hackt mit dem Gedanken, der andere mit der Zahl, der dritte mit dem Zorn. Man ruft und gibt sich Antwort von einer Kata­

näre von Luther über Descartes und Voltaire bis zu Robespierre, Marat, Babeuf mussten so lange im Untergrund verbringen, bis sich ihre Überlegenheit über die oben verwirk­ lichte. Ihre Unterdrückung ist eine geschichtsphilosophische Notwendigkeit und das Wissen um ihre künftige Überlegenheit lässt sie in der Tiefe verharren. „Die Geburts­ wehen der Zukunft gehören zu den Visionen der Philosophen. Eine Welt als Fötus in der Vorhölle, was für ein unerhörtes Bild.“ 5 Karl Marx hat den proletarischen Kampf im 19. Jahrhundert in Europa durch das Bild des Maulwurfs, der seine unterirdischen Gänge gräbt, illustriert. Dieser Maulwurf kommt in Zeiten offener Klassenkonflikte an die Oberfläche, um sich dann wieder in den Untergrund zurückzuziehen. Diese Zeit ist aber nicht vergeudet, denn er gräbt wei­ ter Tunnel um im richtigen Moment an die Oberfläche zurückzukehren. „Brav gewühlt, alter Maulwurf!“ 6 In den oberen Abschnitten des Untergrunds wird die Zukunft gedacht, in diesem großen, dem Licht unzugänglichen Raumgeflecht der Katakomben, – aber es gibt noch tiefere Schichten des Untergrundes, die nur mehr Verbrecher beherbergen, doch dort wo Verbrechen und dumpfe Stupidität herrschen, ist nichts Produktives zu erwarten: „Unter all den Minen und Stollen, unter dem ganzen unermesslichen, unterirdischen, Adergeflecht und der Utopie, noch viel tiefer in der Erde […] eine fürchterliche Stätte. Sie haben wir Versenkung genannt. Hier ist das Reich der inferi, und es geht dem Ab­ grund zu. Hier verschwindet die Uneigennützigkeit. Der Dämon zeichnet sich undeut­ lich ab; jeder für sich. Das augenlose Ich heult, sucht, tastet und nagt. Der soziale Ugo­ lino steckt in diesem Schlund. Die scheuen Silhouetten, die in dieser lichterlosen Gruft umherstreichen, fast Tiere, fast Gespenster, fragen nicht nach dem allgemeinen Fort­ schritt, sie ahnen nichts vom Gedanken und vom Wort, ihr einziger Wille ist die indi­ viduelle Sättigung. Sie sind nahezu ohne Bewusstsein und innerlich auf erschrecken­ de Weise ausgelöscht.“ 7 Doch auch sie sind im Grund ohne Schuld, denn das Licht der Aufklärung und der Vernunft hat sie nie erreicht, Bücher haben sie nie in die Hand bekommen. „Zerstört den Keller der Unwissenheit und ihr rottet den Maulwurf Ver­ brechen (taupe crime) aus.“ 8 Die Barrikade: Vorbote des Surrealismus Aus dieser räumlichen Disposition des Unten kommt es durch die Erhebung, ein Begriff der den Aufstieg von unten impliziert, zur Szene der Barrikadenschlacht, die auf dem Aufbegehren der Unteren beruht, die sich ihr Recht erkämpfen wollen. Der Kampf der

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kombe zur anderen. Sie verzweigen sich darin in alle Richtungen. Manchmal begegnen und verbrüdern sie sich.“ 4 Die großen geistigen Rebellen und politischen Revolutio­

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Unterdrückten geht in einer spontanen, explosionshaften Bewegung aus der Tiefe der Stadt selbst hervor. Die Aufständischen nützen die besondere räumliche Situation der verwinkelten Gassen, die ihr Territorium darstellen und verwenden auch spontan die Materialien, die sie in die Hand bekommen können, für den Kampf. Gewehre und Pis­ tolen kommen aus den Waffenläden, die Barrikaden entstehen aus den Pflastersteinen, aus Türen, Matratzen und umgekippten Wagen. Die Barrikaden sind strategisch meist ohne Wert und eher Ausdruck des Aufbegehrens und der Wut. Bemerkenswert ist neben der politischen Bedeutung jedoch die Komposition der Materialien, die die Jahrzehnte spätere Erfindung des Surrealismus antizipiert und übertrifft. „Die Barrikade von Saint­Antoine war ungeheuerlich. Drei Stockwerke hoch und siebenhundert Fuß lang, versperrte sie von einer Ecke zur anderen die breite Zu­ fahrt zur Vorstadt, das heißt drei Straßen […] Die Frage: Wer hat das gebaut? war eben­ so berechtigt wie die Frage: Wer hat das zerstört? Es war die unvorbereitete Aufwal­ lung. Da, nehmt die Tür, das Gitter, das Vordach, den Fensterrahmen, das zerborstene Fensterbecken, den gesprungenen Kochtopf! Gebt alles her! Werft alles, alles hin! Schiebt, wälzt, schuftet, zerschlagt, verwüstet, reißt alles ein! Mitgewirkt hatten hier das Pflaster, der Bruchstein, der Balken, die Eisenstange, der Lumpen, die zerbrochene Fensterscheibe, der Stuhl ohne Strohsitz, der Kohlstrunk, der Fetzen, der Plunder und die Verwünschung. Das war groß und zugleich klein, war der an Ort und Stelle vom wüsten Durcheinander parodierte Abgrund. Die unförmliche Maske neben dem Atom, das losgerißene Mauerstück und der verbeulte Blechnapf, eine bedrohliche Verbrüde­ rung der Trümmer.“9 Doch im Verlauf des Aufstands zeigt sich die Unterlegenheit der Aufständischen gegen die Ordnungskräfte des reichen Paris, diese machen den Höhlenbewohnern die Stadt streitig und drängen sie zunächst in die Seitengassen ab. Die Ausgänge werden abgeschnitten. Die Situation der nächtlichen Hetzjagd ist ausweglos, Fluchtversuche nach oben durch Überklettern der Mauer scheinen unmöglich. Es gibt nur mehr ei­ nen Rückweg, zurück in die Unterwelt, durch einen Kanaldeckel in die Kloaken: „Der Untergrund von Paris, könnte das Auge durch seine Oberfläche dringen, würde den Anblick einer riesenhaften Buschkoralle bieten. Ein Schwamm besitzt kaum mehr Öff­ nungen und Gänge als die sechs Meilen im Umkreis messende Erdscholle, auf der die uralte große Stadt ruht. Abgesehen von Katakomben, die einen gesonderten Keller er­ geben, abgesehen von dem unentwirrbaren Gitterwerk der Gasleitungen und ganz zu schweigen von dem weitverzweigten Röhrensystem für die Quellwasserverteilung auf die Straßenbrunnen, bilden die Kanäle für sich allein auf beiden Ufern ein gewaltiges, geheimnisvolles Netz, ein Labyrinth, dessen Faden sein Gefälle ist.“ Graham Green als der Verfasser von Der Dritte Mann hat seinen Hugo gelesen, eine Ausbildung in Oxford und Agententätigkeit im britischen Geheimdienst tragen eben Früchte, die Unterwelt­ szene hat ein berühmtes literarisches Vorbild. Der Omnibus. Verkehr wird öffentlich 1828 wurde auf den Boulevards mit der Station Porte Saint­Martin die erste regelmä­ ßig befahrene Strecke des öffentlichen Verkehrs geschaffen. Diese Verkehrslinie wur­ de von Droschken mit einem Fassungsraum für sechzehn Passagiere in regelmäßi­ gen Intervallen befahren, hatte Haltestellen zum Zusteigen und ihre Preise waren so günstig, dass sie von allen benützt werden konnte. Daher gab das Unternehmen die­ 92

sem ersten System des öffentlichen Verkehrs den Namen „Omnibus“, Lateinisch für „für alle“. Ein Begriff, der sich in der Welt des Verkehrs bis heute erhalten hat. „Durch die Verbindungen, die zwischen den verschiedenen Wagen eingeleitet worden sind, ist jetzt Paris wie mit einem Omnibusnetz überzogen, dessen Maschen so eng inein­ andergreifen, dass man für den geringen Preis von 6 sous sich von allen Punkten nach allen Punkten hin begeben kann.“10 Nach 1830 kamen durch die Deregulierung zahl­

Urbanität, die heute so selbstverständlich sind, dass sie nur durch Abstraktion wieder vorstellbar werden. Als wichtigstes Erlebnis gilt den Zeitgenossen die Erfahrung der égalite, der Gleichheit, durch die vermischte Präsenz aller Bevölkerungsschichten. So sitzen Livrierte neben eleganten Damen, Arbeiter im Kittel neben Aristokraten. Im Omnibus wird die Erfahrung des beliebigen Kontaktes gelernt. Ein Zitat von Georg Simmel erinnert uns daran, dass zuvor die gemeinsame Präsenz von Menschen automatisch zur Kommunikation führte. Es wäre unvorstellbar gewesen, dass Men­ schen in einem Zugabteil sitzen ohne miteinander zu sprechen. Vor der Erfindung der öffentlichen Verkehrsmittel im 19. Jahrhundert waren die Menschen nach einem Sim­ meldiktum überhaupt nicht in der Lage, sich minuten­ bis stundenlang gegenseitig anzublicken, ohne miteinander zu sprechen. Da aber in Zeiten der wachsenden Men­ schenmengen dieser kommunikative Kontakt nicht immer erwünscht ist, kommt es durch eine spezifische Haltung des Großstädters zur Verweigerung der Kommunika­ tion, die Simmel als Reserviertheit und Blasiertheit bezeichnet.11 Diese Haltung ent­ steht aufgrund der psychohygienischen Notwendigkeit einer Vermeidung innerer Re­ aktionen und des sich nicht immer Einlassen­Könnens bei fortwährender Berührung mit anderen Menschen. Der Vorteil dieser Reaktion liegt aber auch in der gleichgül­ tigen Akzeptanz von Erscheinungen, die eine innere Aversion hervorrufen und erhöht damit auch die persönliche Freiheit. Dieser so selbstverständlich scheinende doch grundlegende anthropologische Lernschritt des Sich­Distanzierens trotz gemeinsamer Präsenz ist ein klassischer Topos der Urbanität, der von Simmel entdeckt und beschrie­ ben wurde. „Im allgemeinen betrachtet ist der Omnibus das ergötzlichste Panorama von der Welt. Außer den Kaffeehäusern und Kirchhöfen, ist er der einzige Ort auf Erden, wo alle Menschen vollkommen gleich sind, d. h. alle Menschen welche 30 Centimes Ver­ mögen haben. Eine Omnibusfahrt hat endlich eine tief philosophische Bedeutung; sie gleicht dem menschlichen Leben. Wie Omnibus­Passagiere kommen wir hiernieden an, niemand weiß, woher; nehmen nebeneinander Platz und machen vorübergehende Bekanntschaften mit Leuten, welche der selbe Reisezweck mit uns zusammenführt. Wenn sie unterwegs aussteigen, erlöscht ihr Andenken gar bald in unserem Gedächt­ nis, weil andere Reisende ihre Stelle besetzen.“12 Schmerzlose Geschwindigkeit. Urbane Entfernung Bewegung im Raum, die Überwindung größerer Distanzen ist eine körperliche Leis­ tung, die in ihrer Kapazität limitiert ist. Wer die Grenzen seiner Möglichkeiten über­ schreitet, wird dies durch eine körperliche Antwort des Schmerzes erfahren. Auf diese Weise ist der Bewegungsraum des Menschen zunächst auf natürliche Weise einge­ schränkt, erst durch die Domestizierung des Pferdes seit der Antike lassen sich auch

Paris. Die Poetik des anthropologischen Ortes

reiche andere Linien dazu, die zumeist von unterschiedlichen jeweils konkurrierenden Unternehmen befahren wurden. Der Omnibus vermittelt einige Grunderfahrungen der

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über Land größere Distanzen bewältigen, durch die Einführung des Postverkehrs und der Kutsche werden überregionale Verkehrslinien möglich. In der Stadt, die zunächst auf eher engem Raum innerhalb ihrer Mauern existiert, besteht vor ihrer Phase der Ausdehnung kein großer Bedarf an Verkehrsmitteln, da die Einwohner an ihre Vier­ tel durch Arbeit und Wohnen gebunden sind. Pferdefuhrwerke dienen hauptsächlich dem Warentransport. In der Möglichkeit zur anstrengungsfreien Bewegung liegt eines der Geheimnisse des urbanen Fortschrittes. Komfort scheint zunächst nicht mehr als ein Mittel zur Be­ friedigung der Bequemlichkeit zu sein, tatsächlich aber reichen seine Leistungen wei­ ter und dienen der Abschirmung von äußeren und inneren Reizen des Körpers. Das Gehen und Laufen, jene Bewegungsarten, die der Mensch kraft eigener Organe be­ herrscht, sind den Sinnesorganen angepasst, übermäßige Steigerungen führen zum Schmerz und einem Anzeigen der Grenzen der Belastbarkeit. Höhere Geschwindigkei­ ten erfordern daher eine Lösung des Fußes vom Boden und eine Verlagerung auf an­ dere, fremde Ebenen wie Tierrücken oder Fahrgestelle ebenso wie eine Veränderung der Sinnlichkeit. Bereits die Verlagerung auf den Rücken des Pferdes ist nur durch eine Zähmung des Tieres und neue Kontrolle über den eigenen Körper möglich. Die Erfin­ dung des Stuhles und seine Anbringung am Fahrzeug, kurz die Erfindung des Gefährts initiieren einen Prozess zunehmenden Tempos, der die Sinne anspannt und langfris­ tig überfordert.13 Mit der Erfindung der öffentlichen Verkehrsmittel, die zunächst noch mit Pferden betrieben werden, ergibt sich noch keine dramatische Beschleunigung, jedoch eine schleichende Veränderung der Größe des Stadtraumes durch Öffnung des herkömm­ lichen Bewegungsradius, der auf die unmittelbare Wohnumgebung beschränkt war. Diese Aufhebung der realen Größe der Stadt macht den Anfang einer Zerstörung der sozialen Nähe und des anthropologischen Ortes, die beginnende städtische Omniprä­ senz steht in enger Beziehung mit dem gleichzeitig stattfindenden Prozess der territori­ alen Ausdehnung. Durch den Verlust des urbanen, sakralen Zentrums entsteht ein zen­ trifugaler Sog, der aufgrund der Möglichkeit zur Vereinigung zweier gegensätzlicher Elemente – Unbewegtheit und Beschleunigung – zum Auslöser einer Fluchtbewegung wird. Die Unbewegtheit bzw. Schmerzfreiheit des Körpers durch das Sitzen führt zur Flucht nach innen und einer Steigerung der Einbildungskräfte. Die Mobilität führt zur Flucht nach außen, zu steigender Geschwindigkeit und räumlicher Desorientierung. Die Steigerung der Einbildungskräfte wirkt wiederum nach außen durch den Wunsch nach Zunahme der Beschleunigung, die aufgrund wachsender technischer Kompetenz realisierbar wird. Das 19. Jahrhundert ist durch eine fortwährend wachsende Reise­ geschwindigkeit gekennzeichnet. Die Möglichkeit zur schmerzlosen, sitzenden Bewe­ gung erzeugt die fließende Ablösung vom anthropologischen Ort und die Auflösung der territorialen Bindungskräfte im reizstarken urbanen Raum. Nur in der Poesie lebt dieser Raum weiter.

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Paris. Die Poetik des anthropologischen Ortes

1 Victor Hugo, Die Elenden, Manesse Verlag, München S. 1305. 10 Eduard Kolloff, Paris. Reisehandbuch, Paris 2000, S. 670. 2 Raymond Klibansky/Erwin Panovsky/Fritz 1849, S. 124; vgl. Benjamin (wie Anm. 3), S. 534 . 11 Georg Saxl, Saturn und Melancholie, Suhrkamp, Frankfurt/Main Simmel, „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: ders., 1990, S. 220. 3 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Aufsätze und Abhandlungen. Gesamtausgabe, Bd. 7, Suhr­ Gesammelte Schriften, Bd. VI ., Suhrkamp, Frankfurt/Main, kamp, Frankfurt/Main 1995. 12 Eduard Kolloff, Schilde1983 , S. 137. 4 Hugo (wie Anm. 1), S. 827. 5 Hugo (wie rungen aus Paris, Bd. 1, Hamburg 1839, S. 413. 13 Vgl.: Anm. 1) S. 828 . 6 Karl Marx, „Der achtzehnte Brumai­ Die Werke von Paul Virilio, Der negative Horizont, Hanser, re des Louis Bonaparte“, in: Karl Marx/Friedrich Engels, München 1989; ders., Fahren, Fahren, Fahren, Merve, Ber­ Werke, Bd. 8 , Dietz, Berlin 1972 . 7 Hugo (wie Anm. 1), lin 1978 . S. 829. 8 Hugo (wie Anm. 1), S. 831. 9 Hugo (wie Anm. 1),

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Abb. 6: Paul Klee, Angelus Novus (1920). Motiv des berühmten geschichtsphilosophischen Essays von Walter Benjamin: „Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ Walter Benjamin, Thesen über den Begriff der Geschichten (1940), Gesammelte Schriften, Bd. III , Bd. I/2, S. 697.

Weder Innen noch Außen. Die Passage Einleitend sei nochmals kurz darauf verwiesen, dass die Stadt des 19. Jahrhunderts einen Verlust in ihrer Rolle als Zentrum auf Kosten neuer Ideen der Dispersion, der Grenzaufsprengung hinnehmen muss. Infolge dieser zentrifugalen Tendenz kommt nun der Peripherie – als dem Raum zwischen dem Innen und Außen – eine neue Rolle in der Stadtwahrnehmung zu, und die Stadtgrenze wird mit urbaner Semantik gela­ den, wobei in gewisser Weise die uralten Sphärenbegriffe der Exo­ und Endosphäre wieder Wirksamkeit erlangen. Das ab der Mitte des Centenniums neu erwachende Interesse an der Vorstadt bewegt sich aber auch vor einem größeren kosmopolitischen Hintergrund, indem es mit einer ästhetischen Bewegung einhergeht, die, durch die Erfahrung der kolonialen Expansion und den Kontakt mit afrikanischen, asiatischen und amerikanischen Ethnien geprägt, ein zunehmendes Interesse an fremden Kultu­ ren entwickelt. Mit dieser Neugier verändern sich die Einschätzungen des Orients und anderer nach heutigem Sprachgebrauch als indigene Kulturen zu bezeichnender Völ­ kerschaften radikal, indem sie eine Wendung der intellektuellen Tradition zu den Be­ griffen des Anderen und der generellen Figur der Alterität bewirken. Dies schlägt sich auch in der eigenen Kultur durch eine Würdigung des Primitiven, des Wahnsinnigen und des Prinzips der Differenz nieder und führt zu einer überraschend einsetzenden, positiven Umwertung des bestehenden Bildes. Ebenso müsste man als vorbereitende Faktoren auch noch andere Phänomene der Raumöffnung ins Treffen führen, wie die wachsende Mobilität durch die Eisenbahn und den Telegraphen. Das Resultat dieser Raumöffnung aufgrund des Verlustes der radialen Kraft der Zentrumsstrahlung, die alles um sich gruppierte und nicht nur eine topologische, sondern auch eine Mitte des Denkens herstellte, die das reale und phan­ tasmagorische Zentrum der Existenz im Sinne eines monotheistischen Gottesbegriffes bildete, führte nun zu anderen Denkformen, die eher Netzwerken und der Möglichkeit der Verbindung heterogener Elemente gleichen. Während in der alten Ordnung die Dinge ihren Platz vom Zentrum aus zugewiesen erhalten hatten und sich nicht belie­ big mit anderen verbinden konnten – eine Situation, die nur der Traum ermöglicht –, fielen nun diese Schwellen der Zuordnung innerhalb eines bestimmten Kreissegmen­ tes und ermöglichen unzählige neue Kombinationen. Die Kunst des Surrealismus ist das Medium, das diese Entwicklung antizipiert und in vielfältiger Weise zum Aus­ druck bringt. Walter Benjamin versuchte nun durch die Anregungen des Surrealis­ mus diese Entwicklung der Neuverbindung heterogenster städtischer Elemente unter dem Begriff der Passage zu erfassen. Die Passage ist ein Bautyp des 19. Jahrhunderts, der erstmals eine Zone des Überganges von der Straße zum Haus kreiert und damit die Aufhebung der Grenze von Haus und Stadtraum erfindet. Obwohl ein Gebäude aus dem Paris des vergangenen Jahrhunderts, wird es erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts anlässlich seiner drohenden und auch bald vollzogenen Demolierung von den Litera­ ten entdeckt und thematisch fruchtbar gemacht. Für Benjamin wird die Passage der Schlüsselbegriff zum Verständnis von Stadt und Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, von dem aus sich erst die Gegenwart erschließen ließe. Es ist also dieser geheimnisum­ 97

wobene Begriff der Passage, der eine Klammer für die Verbindung einer ontologisch und chronologisch differenten Welt bildet und mit dem rückblickend nicht nur die Stadt des 19. Jahrhunderts neu gesehen und verstanden werden kann, sondern auch die Architektur der Stadt des 20. Jahrhunderts mitbestimmt wird. Zugleich sind in ihm zahlreiche Elemente enthalten, die urbanes Denken überhaupt ermöglichen. Passage könnte als Synonym für Urbanität überhaupt gelten, und die Rezeptionsgeschichte des Begriffes verläuft komplementär zum Denken des Urbanismus. Die Passage ist der Ort der Verknüpfung heterogener Elemente, indem sie unter der notwendigen Einhaltung der Regeln der Anthropologie einen Möglichkeitsraum der Urbanität schafft. Letztlich ist die Passage selbst ein Ort zwischen Innen und Außen, zwischen Haus und Straße, der die Idee der Polis mit der Idee des Wohnens in einem neuen Raumbegriff vereinigt. Die Entdeckung dieses Zusammenhanges fällt aber, wie erwähnt, in die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts, in der man durch Versuche der Neuformatierung der Wahr­ nehmung plötzlich die Realität städtischer Phänomene in ihrer Bruchhaftigkeit neu zu begreifen begann. Giorgio de Chirico erzählt etwa, dass er zu Beginn des 20. Jahr­ hunderts während seines Parisaufenthaltes die Gegend des Montparnasse besonders schätzte, da sie eine Grenze zwischen dem Industrie­ und Handwerkerviertel des 14. Arrondissements und dem bürgerlichen und gelehrten Quartier Latin darstellte, in dem sich zwei Welten begegneten und sich Fabrikschornsteine auf den bürgerlichen Wohnhäusern abzeichneten. Der Maler war von dieser Grenzsituation innerhalb der Stadt fasziniert, da sie die damals ruhige, plüschige Welt des bürgerlichen Wohnens mit der Dynamik der Fabrik in unmittelbare Verbindung und einen Zustand des Kon­ trastes und der Unabgeschlossenheit mit sich brachte. Ein anderes Beispiel der neuen Wahrnehmung bietet etwa ein Bild von Ernst Ludwig Kirchner, die Bahnhofseinfahrt Bahnhof Löbtau, wo sich der Blick des alten Vedutenmalers auf die Eisenbahn nun zum Blick aus der Eisenbahn wandelt und die topographische Verschiebung der Stadtre­ zeption dokumentiert.1 Denn auf diesem Bild geht der Blick von den Schienen aus aus­ schließlich auf Hinterhäuser und Rückfassaden, also auf einen für die Vedutentradi­ tion völlig ungewohnten und schockierenden Anblick. Der Reisende erreicht mit der Eisenbahn die Stadt auf einem Weg, der nicht für den Anblick gedacht war, nicht auf Betrachtung hin angelegt war. Die Eisenbahn kann auf ihrem Weg durch die Stadt sehr indiskret sein, wenn sie Gärten und Siedlungen passiert und den Blick auf jene Zonen der Verborgenheit richtet, die kein Interesse an der öffentlichen Beobachtung haben, sie ignoriert die bis dahin geltende Ordnung von Vorderfront und Hinterhaus, von Fas­ sade und Baukörper. Der große Aufwand, der im 19. Jahrhundert der plastischen Gestaltung der Straßen­ front und der Liebe zur dekorierten Fassade galt, wurde durch das neue Verkehrsviertel radikal entwertet, und es dauerte nicht lange, bis in der Architektur durch Theo van Doesburg in seinem Manifest Auf dem Weg zu einer plastischen Architektur die Forde­ rung nach der Abkehr vom Frontalismus und der Abschaffung der Fassade aufgestellt wurde. Die Betrachtung des Hauses als Plastik geht von einem Gesamtblick auf das Haus aus, das durch seine Verwandlung in ein plastisches Objekt auch einen Status­ wechsel vollzieht und auf seine Rolle im Ensemble der Straße verzichtet. Paradoxer­ weise wird nun die Unansehnlichkeit der Hinterhäuser und Hausrücken als Maßstab für die neuen Regeln der Betrachtung herangezogen, derzufolge alle Seiten als gleich­ wertige Größen zu gelten haben. 98

Die Entdeckung der Passage de l’Opéra auf der Suche nach den Heterotopien Doch der entscheidende Impuls in der Kunst der Verbindung heterogener Elemente

nig schönen, östlichen Bezirke von Paris, die kaum je das Interesse der Menschen er­ weckt haben, um dort eine Erkundung des Terrains vorzunehmen. Auf dieser Suche nach den Heterotopien entdeckt er die Stadt neu, indem er durch einen Blickwech­ sel seine Aufmerksamkeit jenen Orten des Alltags zuwendet, die zu damaligen Zei­ ten aufgrund ihrer Banalität keinerlei Interesse geweckt haben. „Das Licht durchflutet in bizarrer Weise jene überdachten Galerien, die man häufig in Paris in der Nähe der großen Boulevards findet und die man irritierenderweise Passagen nennt, als ob es in diesen dem Tageslicht entzogenen Gängen niemandem erlaubt wäre, länger als ei­ nen Augenblick zu verweilen. Meergrüner, gewissermaßen tiefseehafter Lichtschein, der der jähen Helligkeit ähnelt, die aufleuchtet, wenn man einen Rock hochhebt und darunter ein Bein bloßlegt. Der von einem Präfekten des Zweiten Kaiserreichs in die Hauptstadt importierte typisch amerikanische Zwang, dem Pariser Stadtplan einen neuen, schnurgeraden Zuschnitt zu geben, wird den Fortbestand dieser menschlichen Aquarien bald unmöglich machen; ihr ursprüngliches Leben ist schon erloschen, doch verdienen sie es, als Unterschlupf etlicher moderner Mythen betrachtet zu werden; denn erst heute, da die Spitzhacke sie bedroht, sind sie wirklich zu Heiligtümern ei­ nes Kultes des Ephemeren geworden, sind sie zur gespenstischen Landschaft der Ver­ gnügen und der verruchten Berufe geworden.“2 Aragon beschreibt hier, dass es Orte in der Stadt gibt, die durch ihre Abgeschiedenheit eine Sphäre der urbanen Phantasien erzeugen, Räume, denen das Tageslicht entzogen und die in irisierendes meergrünes Licht getaucht sind, eine bizarre Kulissenwelt überlebter Geschäfte und Vergnügungs­ formen, die von der Modernisierung betroffen und mit den unübersehbaren Zeichen des Niedergangs behaftet sind. Im Zuge des Durchbruches des Boulevard Haussmann wurde die zu diesem Zeit­ punkt bedrohte Passage de l’Opéra, die einige Jahre später (1925) auch abgerissen wur­ de, Gegenstand eines Textes, der nicht nur für Benjamin selbst, sondern auch für die Ideenwelt des Urbanismus von grundlegender Bedeutung ist. „Während hier dem mo­ dischsten Paris ein neuer Durchgang bereitet wurde, ist eine der ältesten Passagen der Stadt verschwunden, die Passage de l’Opéra, die der Durchbruch des Boulevard Hauss­ mann verschlungen hat. Wie dieser merkwürdige Wandelgang es bis vor kurzem tat, bewahren noch heute einige Passagen in grellem Licht und düsteren Winkeln raumge­ wordene Vergangenheit. Veraltende Gewerbe halten sich in diesen Binnenräumen und die ausliegende Ware ist undeutlich oder vieldeutig. Schon die Inschriften und Schil­ der an den Eingangstoren (man kann ebenso gut Ausgangstoren sagen, denn bei die­ sen seltsamen Mischgebilden von Haus und Straße ist jedes Tor Eingang und Ausgang zugleich), schon die Inschriften, die sich dann innen, wo zwischen dicht behängten Kleiderständen hier und da eine Wendeltreppe ins Dunkel steigt, an Wänden wieder­ holen, haben etwas Rätselhaftes. ALBERT au 83 wird ja wohl ein Friseur sein und Mail­ lots de théâtre werden Seidentrikots sein, aber diese eindringlichen Buchstaben wol­ len noch mehr sagen. Und wer hätte den Mut, die ausgetretene Stiege hinauf zu gehn in das Schönheitsinstitut des Professeur Alfred Bitterlin. Mosaikschwellen im Stil der alten Restaurants des Palais Royal führen zu einem Dîner de Paris […].“ 3

Weder Innen noch Außen. Die Passage

geht von den surrealistischen Schriftstellern aus. Louis Aragon unternimmt mit sei­ nen Freunden in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts Ausflüge in die äußeren, we­

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Für Benjamin stellt dieser Bautyp des 19. Jahrhunderts nicht nur ein Phänomen architektonischer Wahrnehmung oder besonderer poetischer Qualität dar, sondern es ist dieser Bautyp, der für ihn im Zentrum seiner geschichtsphilosophischen Konst­ ruktion des gleichen Zeitraums steht, um damit auch eine fundamentale Bestimmung des 20. Jahrhunderts zu erklären. Während es für Aragon und die Surrealisten primär um eine poetische Darstellung dieser bizarren Welt aufgrund des absurden Kontextes geht, sieht Benjamin darin durch eine Analyse des Bedeutungsgehaltes der Passage eine Erweiterung der geistigen und wissenschaftlichen Anwendungsmöglichkeiten, die sich auf die gesamte Gesellschaft erstreckt. Das Faszinosum des Textes erklärt sich für Aragon und Benjamin aus der Konkretheit, wie sie nur durch dichterische Gestal­ tung, nicht aber durch konventionelle wissenschaftliche Beschreibung hervorgerufen werden könne und mit der sich ein ganz bestimmtes Bild einer Epoche wiedergeben lasse. Die Konkretheit wird gerade durch diese Versammlung der heterogenen Dinge an einem Ort, gewissermaßen einer frühen Installation von Objekten unterschied­ lichster Herkunft, Bedeutung und Zeit erzeugt. Diese Genauigkeit des Bildes lässt sich aber nur aufgrund der Beobachtung eines solchen mit Phantasmen aufgeladenen Raumes erzielen, die zu ihrer Wiedergabe der Poesie bedürfe und daher auch keine Ablösung der dichterischen Methode ohne fun­ damentale Verluste zulasse. Diese Methode verlange eine Abkehr von den cartesiani­ schen Prinzipien und die Einlassung auf eine höhere Glaubwürdigkeit der sinnlichen Erkenntnis, der Phantasien und nicht zuletzt der Wahnvorstellungen, wie sie Benja­ min bereits anhand seiner Protokolle des Haschischkonsums festhielt, alles zuguns­ ten einer unvoreingenommenen Sammlung der Phänomene des Raumes, auch wenn sie aus dem Reich des Traumes, des Rausches, der Halluzination oder der Magie stam­ men. „Wolkenatmosphäre, Wolkenwandelbarkeit der Dinge im Visionsraum“ 4, so ein Eintrag Benjamins unter „erste Notizen“. Dabei geht es um eine Aufhebung der star­ ren Subjekt­Objekt­Beziehung und das Betreten eines Visionsraumes, wie er eben auch durch die Passage verkörpert wird. Das harte Subjekt tritt in einen Raum ein, der ein Bild­Raum ist, allerdings durch Bilder, die durch eine Materialisierung des Imaginären zustande kommt, aber zugleich von inneren Bildern erzeugt von solchen Objekten, die in phantastischen Zusammenhängen stehen, und es gelingt ihm durch diese Kontami­ nation der Wahrnehmung mit visionären Elementen des Tagtraumes eine Lockerung seiner alten Subjektivität zugunsten einer Erweiterung des Bewusstseins. Die Passage ist ein fensterloser Raum, in dem sich Haus und Straße, Innen und Außen überlagern und durchdringen und zugleich die körperlichen Bedingungen der Rezeption neu ge­ stalten. Der kontrollierende Raumsinn des Außenraumes wird schwächer, und die Ein­ bildungskraft wie auch das Erinnerungsvermögen nehmen zu, die leibliche Bewegung des Flaneurs tut das Ihre zur kinästhetischen Verschränkung zwischen Raum und Kör­ per. Der Raum gewinnt zunehmende Macht über die Regungen von Geist und Körper. Auch die Welt der Waren wird durch Ausstrahlung wirkmächtig, doch ist es in diesem Falle der frühen Passage noch die Materialität der vergangenen Dingwelt, deren Phy­ siognomie zerstört und grotesk ist, von Objekten, deren Träume, die sie einst besetzten, längst abgezogen wurden. Sie verwandeln die Passage in ein Panoptikum des vergan­ genen Jahrhunderts, in einen Erinnerungsraum, in dem sich die vergangene Ordnung der Dinge auflöst und sie in absurde, spielerische Kombinationen zerfallen: „An diesen Höhlenwänden wuchert als unvordenkliche Flora die Ware und geht, wie die Gewebe 100

in Geschwüren, die regellosesten Verbindungen ein. Eine Welt geheimer Affinitäten: Palme und Staubwedel, Fönapparat und die Venus von Milo, Prothese und Briefstel­ ler finden sich hier wie nach langer Trennung zusammen. Lauernd lagert die Odaliske neben dem Tintenfass, Adorantinnen heben Aschenbecher wie Opferschalen. Diese Auslagen sind ein Rebus […].“ 5

schreibt das Ritual und den Mythos in alten agrarischen Kulturen, mit dem Übergänge zwischen bestimmten Zeit­Räumen, wie zum Beispiel im Initiationsritus von der Kind­ heit zum Erwachsenenstatus reguliert werden. Dieser Bereich der Passage ist zunächst durch eine klare Abtrennung von der säkularen, profanen zur sakralen Zeit bzw. vom profanen zum sakralen Raum gekennzeichnet. Innerhalb dieses Raumes, der sakralen Charakter hat, verliert das Subjekt in der ersten Phase seine vorhergehenden Eigen­ schaften, um auf einen neuen Zustand vorbereitet zu werden. In der nächsten Phase wird der Passageraum ein Zeit­Raum der Ambiguität, ein Zwischenstadium, das von van Gennep in seinem klassischen Werk Übergangsriten als limen bezeichnet wird, der den Übergang von der alten Existenzform wie zum Beispiel der Kindheit zur neuen des Erwachsenen strukturiert, indem er die Elemente des Vergangenen auflöst und durch verschiedene Rituale auf die kommende Phase vorbereitet. In der dritten Phase der Angliederung oder Inkorporation finden die Rituale und Handlungen statt, die in Hin­ blick auf die Rückkehr in die Gesellschaft in einer zumeist höheren Position durchlau­ fen werden. Die Narben, die während der Initiationsriten häufig beigebracht wurden, sind Körpermarkierungen und gelten als Erinnerung an die Beendigung des alten Le­ bens und zugleich als Zeichen nach Innen und Außen. Aber es gab auch einen anderen Typus von Passagezone, wie etwa den Grenzüber­ gang zwischen verschiedenen Territorien, der durch ein Heiligtum, Opferstätte oder Idol von Weg­ und Schutzgottheiten gekennzeichnet ist, um sich für den Eintritt in die exosphärische Fremdwelt vorzubereiten. Ebenso gab es Passagestellen zur jen­ seitigen Welt in der Form von Naturheiligtümern wie Erdspalten oder Höhlen, um mit Geistmächten Kontakt aufzunehmen. Das Prinzip der Passage im apotropäischen Sinn besteht in der Verbindung zwischen unterschiedlichen Räumen, zeitlicher oder topographischer Natur, da Verhalten und Bedeutung stets an eine räumliche Ord­ nung gebunden sind und bestimmte Orte und Zeitpunkte (als Orte im Zeitraum) ein entsprechendes Verhalten hervorrufen. Die Idee des Übergangsrituals besteht in der Herstellung einer Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen Räumen. Sie ist not­ wendig, weil die unterschiedlichen Räume von jeweils differenten Gottheiten und überirdischen Kräften bestimmt werden und ein übergangsloser Eintritt in eine ande­ re Zone aufgrund des schutzlosen und unvorbereiteten Betretens eines fremden Kraft­ feldes schwerste und verderbliche Folgen nach sich ziehen könnte. Der Passagenraum Benjamins kann an die alten magischen Praktiken des Über­ gangs anschließen.„Man zeigte im alten Griechenland Stellen, an denen es in die Unter­ welt hinabging. Auch unser waches Dasein ist ein Land, in dem es an verborgenen Stel­ len in die Unterwelt hinabgeht, voll unscheinbarer Örter, wo die Träume münden. Alle Tage gehen wir nicht ahnend an ihnen vorüber, kaum aber kommt der Schlaf, so tas­ ten wird mit geschwinden Griffen zu ihnen zurück und verlieren uns in den dunklen

Weder Innen noch Außen. Die Passage

Die Passage als ein Ort des Übergangs (rite de passage) Der Begriff des Passageraums oder Passageritus kommt aus der Ethnologie und be­

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Gängen. Das Häuserlabyrinth der Städte gleicht am hellen Tage dem Bewusstsein; die Passagen (das sind die Galerien, die in ihr vergangenes Dasein führen) münden tags­ über unbemerkt in die Straßen. Nachts unter den dunklen Häusermassen aber tritt ihr kompakteres Dunkel erschreckend heraus, und der späte Passant hastet an ihnen vor­ bei, es sei denn, dass wir ihn zur Reise durch die schmale Gasse ermuntert haben.“ 6 In weit fortgeschrittenen Kulturen besteht zwar noch die gleiche Grundkonstella­ tion des Zwischenraums, doch wird hier die liminale Phase als die Ambiguität eines Zeit­Raums beschrieben, in dem Elemente der alten Kultur zunächst isoliert, zerlegt und wie im Spiel neu verbunden werden.7 Die Bindekräfte der existenten Kultur verlie­ ren in dieser liminalen Zone an Einfluss und ermöglichen neue Kombinationen. Wäh­ rend aber die alten, tribalen Kulturen keine Individualisierung vorsahen, sind moder­ nere Passagerituale gerade durch diese Möglichkeit charakterisiert, indem der Prozess von Trennung, Schwelle und Umwandlung von kulturellen Symbolen durch Einzel­ personen, etwa Künstlern, vollzogen werden kann und die Neukombination auch ins Kollektiv eingehen kann. Das duale Prinzip der Übergangszone. Topos und Chronotopos Die Passage ist folglich als eine Übergangszone zu bezeichnen, deren zentraler Aspekt entweder im Raum oder in der Zeit liegt, also Topos oder Chronotopos, obwohl stets beide Momente enthalten sind. Bei Benjamin liegt der Schwerpunkt der Haupttypen wohl beim Chronotopos, also dem Aspekt der Überlagerung verschiedener Zeiten im Raum, obwohl er immer von einem konkreten Raum ausgeht, in dem sich die Ver­ bindungen verschiedener Elemente ergeben und daraus neue Dimensionen entstehen. Der Ausgangspunkt ist eben der Grundtyp der Passage: „Wir haben, sagt der Illustrier­ te Pariser Führer, ein vollständiges Gemälde der Seine­Stadt und ihrer Umgebungen vom Jahre 1852, bei den inneren Boulevards wiederholt der Passagen gedacht, die da­ hin ausmünden. Diese Passagen, eine neuere Erfindung des industriellen Luxus, sind glasgedeckte, marmorgetäfelte Gänge durch ganze Häusermassen, deren Besitzer sich zu solchen Spekulationen vereinigt haben. Zu beiden Seiten dieser Gänge, die ihr Licht von oben erhalten, laufen die elegantesten Warenläden hin, so dass eine solche Passa­ ge eine Stadt, eine Welt im Kleinen ist, in der der Kauflustige alles finden wird, dessen er benötigt. Sie sind bei plötzlichen Regengüssen der Zufluchtsort der Überraschten, denen sie eine gesicherte, wenn auch beengte Promenade gewähren, bei der die Ver­ käufer auch ihren Vorteil finden.“8 Benjamin bezeichnet diese Stelle selbst als den locus classicus seiner Darstellung, da sich von hier aus bereits die Verbindung zu weiteren zentralen Elementen seiner Arbeit wie dem Flaneur, der Langeweile und der Bauweise der Passagen mit der besonderen Bedeutung der Transparenz durch den Einsatz des Glases abzeichne. Die Schlüssel­ stellung der Passage beruht auf ihrer besonderen Architektur, mit der sie Straße und Haus verbindet, und aus dieser urbanen Position entfaltet Benjamin seine Theorie des 19. Jahrhunderts, in der die Welt der Ware Einzug hält und die unterschiedlichen So­ zialcharaktere der bürgerlichen Protagonisten der postrevolutionären Phase vom Fla­ neur bis zur Hure beleuchtet werden. Der Flaneur nimmt durch sein Verhalten selbst die Stellung eines Mediums ein, das die heterogenen Momente des urbanen Lebens durch sich hindurch lässt. Auch spiegelt er das Gedächtnis der Stadt durch die Wahr­ nehmung ephemerer Erscheinungen, die für ihn zur Allegorie werden, wider. 102

Passage als Topos Von den Passagen insbesondere als Eisenbauten gilt: Der wesentlichste Bestandteil ist ihre Decke. Die Passage ist ein überbauter Raum, nicht ein umbauter.9 Die Seiten­ wände sind gleichsam verborgen, da sie in erster Linie in ihrer Funktion als Wände des Hauses und nicht der Halle dienen. Sie nimmt die Verbindung von Haus und Stra­ ße auf und schafft damit jenen neuen Typus von urbanem Zwischenraum, der weder Haus noch Straße ist. Hier kommt ihr partieller Ursprung aus dem Gewächshaus zum Vorschein, und dessen Eigenschaft zur Temperierung von empfindlichen exotischen Pflanzen, die nun auch zur Herstellung einer dem Menschen angenehmen Atmosphäre, eines freund­

Traumhaus In der Abteilung „Traumhaus, Museum, Brunnenhalle“ notiert Benjamin zu Traum­ häusern des Kollektivs: Passagen, Wintergärten, Panoramen, Fabriken, Wachsfiguren­ kabinette, Kasinos, Bahnhöfe 12 und umreißt damit einen Typus urbaner Gebäude, die für das 19. Jahrhundert maßgeblich sind. Das Traumhaus ist vom Charakter her eben­ falls ein Ort des Übergangs, in dem eine Schwelle vom Wachsein zum Traum angelegt ist: Wir sind arm an Schwellenerfahrungen geworden. „Das Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns geblieben ist.“13 Diese Traumhäuser, bei denen es sich im Wesent­ lichen um Gebäude des Historismus handelt, sind Illusionsräume, die mit der Macht ausgestattet sind, die Bilder anderer Zeiten und Orte hervorzurufen. „Ja, diese Zeit war ganz auf den Traum eingerichtet, war auf Traum möbliert. Der Wechsel der Stile, das Gotische, Persische, Renaissance etc.“14 Selbst Kirchen finden Eingang in diesen Katalog, indem sie durch ihre Architektur eine Rückverwandlung in den profanen Raum eines Ballsaales andeuten. „Das Traum­ haus der Passagen findet sich in der Kirche wieder. Übergreifen des Baustils der Pas­ sagen in die sakrale Architektur. Über Notre Dame de Lorette: Das Innere derselben ist unstreitig höchst geschmackvoll, nur ist es nicht das Innere einer Kirche. Der mächtige Plafond würde den glänzendsten Ballsaal der Welt würdig schmücken; die zierlichen broncenen Lampen mit ihren matt und bunt geschliffenen Glaskugeln scheinen aus den elegantesten Cafés der Stadt herbeigeschafft zu sein.“15

Weder Innen noch Außen. Die Passage

lichen urbanen Binnenklimas genutzt werden kann. Sie ist eine atmosphärische Insel der postrevolutionären französischen Gesellschaft, die den urbanen Raum neu fasst. Sie steht auch kunsthistorisch an einer Schwelle zwischen den Typen von profan­ em und sakralem Raum. Die Passage bleibt an der Grenze zum Breitraum stehen, ihre Höhe entspricht nahezu ihrer Breite. Das ist ein Fundament für das Altmodische ihrer Erscheinung. „So lange Kirchenräume mehr sein wollen als Versammlungsräume, so­ lange sie den Gedanken des Ewigen bergen wollen, wird der ungeteilte Raum ihnen nur bei einem Übergewicht der Höhe über die Breite genügen.“10 Benjamin merkt dazu an, dass etwas Sakrales, ein Rest vom Kirchenschiff dieser Warenreihe, die die Passage ist, bleibe und sie damit funktional schon im Gebiet des Breitraums, architektonisch aber noch in dem der alten Halle stehe.11 Insofern nimmt sie auch in architekturgeschicht­ licher Hinsicht, was die Hallen anlangt, eine Zwischenstellung ein, indem sie zwi­ schen Kirchenraum und der neueren Breithalle, die aus dem italienischen Schlossbau der Hochrenaissance stammt, und über die Galerie des französischen Königsschlosses letztlich im 19. Jahrhundert auf die Lager­, Markt­, und Fabrikhallen übertragen wurde.

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Ein öfters wiederkehrender Typus: „Passage als Brunnenhalle zu denken. Man möchte auf einen Passagenmythos mit einer legendären Quelle im Mittelpunkt, einer im innersten Paris entspringenden Asphaltquelle stoßen. Noch die ‚Bierquellenʻ ha­ ben ihr Dasein von diesem Brunnenmythos. Wie sehr auch die Heilung ein rite de pas­ sage, ein Übergangserlebnis ist, das wird in jenen klassischen Wandelhallen lebendig, in denen auch die Leidenden gleichsam ihrer Genesung entgegenwandeln. Auch diese Hallen sind Passagen.“16 Weder Innen noch Außen Um eine besondere Form des Traums handelt es sich, wenn sich das Haus, die Woh­ nung in Straße verwandelt: „Das Interieur tritt nach außen. Es ist, als wäre der Bürger seines gefesteten Wohlstands so sicher, dass er die Fassade verschmäht, um zu erklä­ ren: mein Haus, wo immer ihr den Schnitt hindurch legen mögt, ist Fassade. Solche Fassaden besonders an Berliner Häusern, die aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts stammen: ein Erker springt nicht heraus, sondern springt – als Nische – herein. Die Straße wird Zimmer und das Zimmer wird Straße. Der betrachtende Passant steht gleichsam im Erker.“17 Die Idee des In­den­Raum­Springens, bzw. das Zimmer nach außen zu stülpen, beruht auf dem Wunsch, die Wohnung nie mehr verlassen zu müs­ sen und dennoch keinen Weltverzicht leisten zu müssen. Die Frühform des Cocoonings kündigt sich ebenso an wie das neue Repräsentationsbedürfnis des Bürgers jeglicher Schattierung, der sein Selbst in Personalunion mit seiner Wohnung überall zu zeigen wünscht. Bei der Öffentlichkeit handelt es sich nun um eine Polis, in der jeder sein Zimmer mitnimmt. Oder man traut sich ins Außen, ins Offene nur bei Mitnahme des sicheren Interieurs zu treten.

1 Walter Grasskamp, „Die Malbarkeit der Stadt“, in: Manfred Smuda (Hrsg.), Die Großstadt als Text, Fink Verlag, München 1992, S. 281. 2 Louis Aragon, Der Pariser Bau­ er, Surkamp, Frankfurt/Main 1996, S. 18 . 3 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V/ 2, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 1041. 4 Ebd., V/ 2, S. 1024. 5 Ebd., V/ 2, S. 1045. 6 Ebd., V/1, S. 135. 7 Victor Turner, Vom Ritual

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zum Theater, Campus, Frankfurt/Main 1995. 8 Benjamin (wie Anm. 3), V/ 1, S. 83 . 9 Benjamin (wie Anm. 3), V/ 1, S. 221. 10 Benjamin (wie Anm. 3), V/ 1, S. 222 . 11 Benjamin (wie Anm. 3). 12 Benjamin (wie Anm. 3), V/ 1, S. 511. 13 Benjamin (wie Anm. 3), V/ 1, S. 617. 14 Benjamin (wie Anm. 3), V/1, S. 282. 15 Benjamin (wie Anm. 3), V/ 1, S. 512. 16 Benjamin (wie Anm. 3). 17 Benjamin (wie Anm. 3).

Die Passage als Chronotopos Das Passagen­Werk hat Walter Benjamin als sein opus magnum von 1927 bis zu seinem Tod 1940 beschäftigt, dennoch konnte es nicht fertig gestellt werden und ist uns nur in Fragmenten erhalten. Die Stoßrichtung der Arbeit konnte zumindest durch einige zwi­ schen 1935 und 1939 verfassten Exposés, die einen Abriss der Stoffe und Themen geben, hinreichend deutlich gemacht werden. Es hätte „nichts Geringeres als eine materiale Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts dargestellt, wäre es vollendet worden“.1 Aus der Sicht der Kulturwissenschaft galt es lange als das bedeutendste Werk seiner Zeit. Aus der Sicht einer Geschichte der Urbanität hat Benjamin hier eine neue Raum­ figur erfunden, bzw. eine uralte wiederentdeckt, einerseits die Passage als eine reale Architektur des 19. Jahrhunderts, andrerseits den anthropologischen Ort des „Rite de Passage“. Die Passage Benjamins ist als Übergangszone immer auch mit einem anderen potentiellen Raum verbunden. Der universelle Schwellencharakter, der sich daraus er­ gibt, verleiht ein Potential, das ununterbrochen zu neuen Raum­Koppelungen einlädt und verführt, zugleich aber auch eine verwirrende Zweideutigkeit zur Folge hat. Ben­ jamin selbst konnte keine ausreichende Klärung schaffen, im Gegenteil, durch die Fül­ le des Materials hat er die Möglichkeit zu nahezu unbegrenzter Deutung geboten, die noch keineswegs ausgeschöpft ist. Die Passage ist ihrer Hauptsache nach ein Übergang zwischen Wohnung und Stra­ ße, nach aktuellen Begriffen könnte man in gewisser Weise von einer Passage zwischen öffentlich und privat sprechen. Sie vereinigt Elemente beider Sphären, die des Hauses und die des öffentlichen Stadtraumes. Die Wurzel des Architekturverständnisses liegt nach Benjamin schon im Mobiliar eines Bürgerhauses des 19. Jahrhunderts. Durch die vom Kind phantasierte Dämonie (der guten und bösen Geister, Anm. d. A.) des historis­ tischen Mobiliars dient die Wohnung als ein Schauplatz in der die Urgeschichte in ih­ rer magischen Dimension mit der Gegenwart verschmilzt. „Wohnen – noch immer ist es ein Hausen, ein Geschehen voller Angst und Magie, das vielleicht niemals verzeh­ render war, als unter der Decke des zivilisierten Daseins und der bürgerlichen christ­ lichen Kleinwelt.“ 2 Es ist der Traum des Kindes, den Benjamin auf der Reise in die ent­ schwundene Kindheit entdeckt, der in die Architektur eingeht und die entsprechende Erfahrung prägt. So lassen viele Stellen in seiner ab 1932 verfassten Berliner Kindheit er­ kennen, dass sich die zentralen Elemente seiner Stadtwahrnehmung bereits in frühen Jahren ausprägten. In der alten von Karyatiden getragenen Loggia seiner elterlichen Wohnung erspürt er schon die Besonderheit jenes Bauelementes und ergänzt sie mit der Vorahnung eines Übergangsraumes zur Stadt, der einen Schlüssel zur Erinnerung birgt. „An ihnen hat die Behausung des Berliners ihre Grenze. Berlin – der Stadtgott sel­ ber – beginnt in ihnen. Er bleibt sich selbst so gegenwärtig, dass nichts Flüchtiges sich neben ihm behauptet. In seinem Schutze finden Ort und Zeit zu sich und zueinander. Beide lagern sich hier zu seinen Füßen. Das Kind jedoch, das einmal mit ihm im Bunde gewesen war, hält sich, von dieser Gruppe eingefaßt, auf seiner Loggia wie in einem längst ihm zugedachten Mausoläum auf.“ 3 Die Straße, bzw. der öffentliche Raum der Stadt gilt Benjamin als Wohnung des Kollektivs. Private Geborgenheit ist gewiss nicht ihre Aufgabe, schließlich zeigen bereits im 19. Jahrhundert die Konstruktionsaufgaben des Bahnhofs, der Ausstellung und des Warenhauses, dass „das Auftreten großer Mas­ 105

sen auf dem Schauplatz der Geschichte schon vorgesehen (ist)“. Dabei vollzieht sich eine wesentliche Transformation der Wahrnehmung, indem Architektur nicht mehr primär optisch, sondern taktil rezipiert wird, was durch den Verlust der Aura gravie­ rende Folgen auslöst. Die Geschichte der Passagen ist für Benjamin daher im Wesentlichen eine Beschrei­ bung des Verlustes des Traumcharakters der Passage, der in ihrer Anfangsphase un­ gleich stärker ausgeprägt war als zur Zeit seiner eigenen Niederschrift, bzw. der Kon­ zeption des Passagen­Werkes ein Jahrhundert später. Der mythische Raum der frühen Passagen verändert durch die wachsende Verschmelzung mit der Straße sein Wesen. Zugleich entspricht dieser Zusammenhang auch in vielerlei Hinsicht dem wechseln­ den Verhältnis zwischen privatem und öffentlichem Raum. Die Passage ist für Benjamin auch Unterwelt, daher mythischer Raum mit einem topographischen Konzept, der den Zugang zum Verständnis der Epoche des 19. Jahr­ hunderts liefert. Sie nimmt die Straße ins Haus zurück, betont den Stillstand. Einerseits führt sie zur Verlangsamung des Verkehrs, der notwendig ist um sich auf den Genuss der Ware einzustimmen und von der Hektik der Produktion abzusetzen. Die Passage ist daher auch der Ort, wo Wirtschaft und Ästhetik zueinanderfinden und als „Urland­ schaft der Konsumption“4 erscheinen. Andrerseits erzeugen Mode, Reklame und Archi­ tektur die Welt eines kollektiven Traumes, den Benjamin wegen der allegorischen Be­ deutung des Interieurs und der verblichenen Werbezeichen zu deuten versucht. Die Drei-Stufentheorie der Passage Nach Benjamin könnte man von einer in drei Stufen gegliederten Geschichte der Passa­ gen sprechen. Zunächst die Frühphase der Passagen aus der ersten Hälfte des 19. Jahr­ hunderts, in denen sie mit Marmorverkleidung, Holztäfelungen und der Gliederung durch Messingprofile in Erscheinung treten. Sie sind zu diesem Zeitpunkt noch die Feenpaläste des Luxushandels für die Aristokratie und das neue Großbürgertum mit einem extrem individuierten und verfeinerten Angebot, das zumeist in Handarbeit hergestellt wird. Ihr Übergang in die zweite Phase beginnt genau zu dem Zeitpunkt als die neue Form der Massenproduktion den Siegeszug der Ware durch die sie beglei­ tende Reklame ermöglicht und zu diesem Zweck auch eine Umwandlung und Weite­ rentwicklung der Passage in den neuen Typus des Warenhauses notwendig machte, aber zunächst bei friedlicher Koexistenz mit den alten Passagen, in denen nun auch die massenproduzierte Ware Einzug hält. Aber im Grunde zeichnet sich ab dem Ende des 19. Jahrhunderts auch die dritte Stufe, ihr Verfall nämlich ab, indem sie sich aufgrund der mangelnden Modernität nun ihrerseits in einen Erinnerungsraum verwandeln, der immer mehr verstaubte und schwer verkäufliche Ware birgt, die erst unter dem Blick des Surrealisten wieder zu Leben und Sinn kommt. Denn diesen unterirdischen Warensammlungen, Fossilien der Alltags­ und Industriegeschichte wird durch ihr Er­ wecken durch den allegorischen Blick eine zweite Lebenschance gegeben, indem sie zu Zeichen eines Erinnerungsraumes werden und in die Lage versetzt werden, ein Bild der Geschichte voller Poesie abgeben zu können, das im Gegensatz zur offiziellen Geschichtsschreibung mit ihrer konstruierten Linearität des Zeitverlaufs und des be­ haupteten Finalismus steht. So leitet Benjamin den Kommentar der Zeitgleichheit des Abbruchs einer der äl­ testen Passagen, der Passage de l’opéra, zugunsten eines Durchbruchs des Boulevard 106

Haussmann 5 mit der Beschreibung einer Neuerrichtung ein: „In der Avenue der Champs­Elysées zwischen neuen Hotels mit angelsächsischen Namen wurden vor kurzem Arkaden eröffnet und die neueste Pariser Passage tat sich auf. Zu ihrer Ein­ weihung blies ein Monstreorchester in Uniform vor Blumenparterres und Springbrun­ nen. Man staute sich stöhnend über Sandsteinschwellen an Spiegelscheiben entlang, sah künstlichen Regen auf kupferne Eingeweide neuester Autos fallend, zum Beweis der Güte des Materials, sah Räder in Öl sich schwingen, las auf schwarzen Plättchen in Straßchiffren Preise der Lederwaren und Grammophonplatten und gestickten Ki­ monos. In diffusem Licht von oben glitt man über Fliesen […].“ 6 Diese Kontrastierung der Entstehung und Einweihung einer neuen Passage mit dem Tod jener alten Passage, die von Aragon entdeckt wurde, versucht die Beschreibung des gleichzeitigen Unter­ gangs und Aufgangs zweier Traumwelten in Passagenform, die jedoch unterschied­

Der Traum. Wider die Entzauberung Der Traum ist für Benjamin wesentlich mehr als ein allgemeiner Begriff, er bezeich­ net das 19. Jahrhundert als ein Zeitalter des Traums und glaubt an den Umschlag des Erwachens im 20. Jahrhundert, eine Perspektive, die aufgrund der allgemeinen Situa­ tion jener Zeit durch den Faschismus und die revolutionären Hoffnungen des Marxis­ mus genährt wurde. Allerdings nimmt Benjamin nicht den marxistischen Standpunkt des unausweichlichen Fortschrittes und einer Vorstellung von Emanzipation durch technokratische Naturbeherrschung ein, der gemäß alles Stehende und Ständische zu verdampfen hat, sondern entwickelt zahlreiche Ansätze für eine subtile Theorie, die eine Versöhnung mit der Vergangenheit sucht. Benjamin ist alles andere als ein blin­ der Revolutionär, der jede neue Form begeistert als Ausdruck des naturgesetzlich ab­ laufenden geschichtlichen Fortschrittes begrüßt, sondern er kann durchaus die Quali­ täten der traditionellen bürgerlichen Ästhetik des Scheins verstehen. Daher plädiert er gegen die Entzauberung der Welt und für eine Theologie, die den Schein als göttlich notwendige Verhüllung von Dingen für uns zu retten in der Lage ist. Die Vorstellung, dass sich das Schöne nur kritischer Transparenz und sachlicher Vigilanz verdanken könne, fällt ihm schwer. Wenn er die Moderne überhaupt zu akzeptieren in der Lage ist, dann nur dort, wo er Momente naturgeschichtlicher Entwicklung zu erkennen glaubt. Zum Beispiel dort, wo er durch den Einfluss von Sigfried Giedion Darstellung der Räu­

Die Passage als Chronotopos

licher Charakteristik sind. Bezeichnenderweise bedeutet jedoch die neue Passage des Pariser Art Déco um 1930 aufgrund ihres paradigmatischen Auslageninhaltes einer in­ dustrialisierten Welt, dem Automobil nämlich, das Ende der Physiognomik der Ding­ welt, da die Technik den Untergang der Traumwelt befördert und gerade das Auto be­ reits damals das Vorbild für die kommende Architektur und fordistische Stadtplanung darstellte. Indem die Passage dem Auto als dem zentralen Symbol der schleichenden Stadt­ zerstörung Raum gibt, übt sie ihr Ende als Traumsphäre ein. Die Verbindung von Auto und Passage ist Symbol der völligen Öffnung zur Straße und der Übernahme der Pas­ sage durch den öffentlichen Raum, der weder Eignung noch Absicht zum Traum hat „Der Traum eröffnet nicht mehr eine blaue Ferne. Er ist grau geworden. Die graue Staub­ schicht auf den Dingen ist sein bester Teil. Die Träume sind nun Richtweg ins Banale. Auf Nimmerwiedersehen kassiert die Technik das Außenbild der Dinge wie Banknoten, die ihre Gültigkeit verlieren sollen.“ 7

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me des „Neuen Bauens“ durch das Prinzip der Konstruktion erstmals eine alternative Denkmöglichkeit entdeckt, die Passage nicht nur als Traum, sondern auch als eine historische Konstellation, die die Struktur des Erwachens hat, zu interpretieren. „Die durchaus auf Zeitlichkeit, Dienst, Veränderung, gestellte Konstruktion folgt als einzi­ ger Teil im Gebiet des Bauens einer unbeirrbaren Entwicklung. Die Konstruktion hat im 19. Jahrhundert die Rolle des Unterbewusstseins. Nach außen führt es, auftrump­ fend, das alte Pathos weiter; unterirdisch, hinter Fassaden verborgen, bildet sich die Basis unseres ganzen heutigen Seins.“ 8 Dem steht aber wieder die vom Surrealismus erlernte Beobachtung entgegen, dass gerade diese alten drapierten Dinge auf uns wir­ ken. andrerseits: Im Veralteten arbeiten die Energien weiter und die sich zersetzenden Bedeutungen könnten vielleicht gegen die bürgerliche Welt gerichtet werden? Letztlich setzt sich aber sein kritisches, auch aus der Lage der Zeit heraus geprägtes Geschichts­ bild durch, das den Umschlag von einer durch Traumbefangenheit bestimmten Wahr­ nehmung in die nüchterne Helle des Bewusstseins wohl theoretisch, nicht aber ästhe­ tisch nachvollziehen kann. Zyklische Traumzeit. Der Einbruch des Traumes in die Realität Der Traum hat die besondere Eigenschaft, das Gewesene, die Vergangenheit so zu wie­ derholen, als ob sie uns zustoßen würden. Dies ist keineswegs als bloße Metapher zu verstehen, sondern als Durchgangsstadium im Sinne einer Naturgeschichte: „Und doch heißt Träume erzählen nichts anderes. Und nicht anders kann man von den Passagen handeln, Architekturen, in denen wir traumhaft das Leben unserer Eltern, Großeltern nochmals leben wie der Embryo in der Mutter das Leben der Tiere.“ 9 Die Passage ist ein geschichtsphilosophisches Zeichen, das aufgrund seiner nicht existenten Außen­ seite einer Monade gleicht, die fensterlos ist und nur einen Einblick, hingegen keinen Ausblick erlaubt, darin gleicht sie dem Traum, auch verbinden sich in ihr alle Dinge. Der Traum selbst ist das Medium durch den die Vorstellung einer zyklischen Struk­ tur von Geschichte, in welcher die Gegenwart als Erlöserin einer auf sie bezogenen Ver­ gangenheit ins Bewußtsein eintritt. Benjamin verwendet in diesem Zusammenhang auch den Begriff der Rettung, der durchaus theologische Züge der jüdischen Religion aufweist, es geht um die Rede vom Echo einer verstummten Vergangenheit, das in der Gegenwart wieder hörbar zu machen ist, und um die Bergung der im Bruch mit dem bisherigen Geschichtsverlauf verschütteten Elemente der Tradition. Der Traum ist a) ein historisches und b) ein kollektives Phänomen.10 Neben Mode und Technik ist es vor allem die Architektur, die eine paradigmatische Rolle ausübt. Alle Kollektivarchitektur des 19. Jahrhunderts stellt das Haus des träumenden Kollek­ tivs.11 Das Traumhaus, von dem bereits in der letzten Folge die Rede war, ist seinem Charakter nach ebenfalls eine Passagezone, die das Gehäuse für Illusionsräume dar­ stellt, in dem der mühelose Übergang in alle Zeiten, zu verschiedensten Stilen und Epo­ chen wie der Gotik oder der Renaissance möglich ist. Das Traumhaus kann aber auch ein Erscheinungsort der Gespenster sein und den Übergang in eine andere Welt, vor allem jener der Toten und Ahnen ermöglichen. Das Traumhaus stellt durch den Effekt der Maskerade, der Maske die Verbindung zur Vergangenheit her. Erst daraus kann die tiefe Erkenntnis erwachsen, dass das Neue keineswegs als erstmalig und einma­ lig zu begreifen ist, sondern längst in der Form des Alten, den „traumgestalten Vorfor­ men“ aufgefasst wurde, so wie „die ersten Fabriken sich an die überkommene Form 108

Die Passage als Chronotopos. Erwachen, Erinnerung, Rettung Was ist aber der zugrundeliegende Sinn dieser surrealen Operation einer Lektüre der Objekte, was lässt sich aus der zufälligen Anordnung dieser Gegenstände in einer alten Passage erkennen? Es ist die Ungleichzeitigkeit der Herkunft der Dinge, die hier auf­ einandertreffen, aber eben kraft des gemeinsamen Ortes die merkwürdige Asynchro­ nie zur Darstellung bringen können. Die Großstadt ist Gedächtnis­ und Bildraum von sich überlagernden Zeitzeichen, die erst aufgrund einer am Surrealismus geschulten Wahrnehmung erkennbar werden. Der Abfallhaufen der wertlosen Symbole, der ver­ gangenen Moden und Ideologien bildet ein Szenario, das den Zusammenhang von Kul­ tur und Tradition neu formuliert und mit den Fragmenten der Identität die Geschichte der bürgerlichen Welt neu beleuchtet. Auch hier spielt der Traum keine geringe Rolle, weil nach Benjamin der Surrealismus in Paris „in Gestalt einer inspirierenden Traum­ welle über seinen Stifter hereinbrach“.17 Er operiert in diesem Zusammenhang mit zahlreichen Begriffen wie dem der Ret­ tung, des dialektischen Bildes, des Traumes und des Erwachens, der Erinnerung um sich diesem prinzipiellen Sachverhalt in zahlreichen Aufsätzen, anzunähern. Ein Be­ griff, der diese geschichtliche Erkenntnisform umreißt, ist der des dialektischen Bil­ des: „Das dialektische Bild ist ein aufblitzendes. So, als ein im Jetzt der Erkennbarkeit aufblitzendes Bild, ist das Gewesene festzuhalten. Die Rettung, die dergestalt – und nur dergestalt – vollzogen wird, lässt immer nur an dem, im nächsten Augenblick schon unrettbar verloren (sich) vollziehen.“18 Dieser aufblitzende Moment eines Jetzt, das den unaufhörlichen Fluss der Geschichte stoppt schafft den rettenden Ort: „Die Ge­ schichte ist Gegenstand einer Konstruktion, deren Ort nicht die homogene und leere Zeit füllt, sondern die von Jetztzeit erfüllte bildet.“19 Er meint auch das dialektische Bild ist „der in der materialistischen Geschichtsschreibung konstruierte Gegenstand

Die Passage als Chronotopos

des Wohnhauses klammern, die ersten Autokarosserien Karossen nachbilden“12, die Passage schon als Tempel, als Kirchenschiff erschienen ist. Im Traum gelten auch andere Zeitverhältnisse einer endlosen, nicht ablaufenden, zyklischen Zeit, die im Gegensatz zur linearen homogenen und historischen Zeit steht, die erst beim Erwachen ins Bewusstsein eintritt. „Das träumende Kollektiv kennt keine Geschichte. Ihm fließt der Verlauf des Geschehens als immer Nämliches und immer Neuestes dahin. Die Sensation des Neuesten, Modernsten ist nämlich eben­ sosehr Traumform des Geschehens als die ewige Wiederkehr alles Gleichen. Die Raum­ wahrnehmung, die dieser Zeitwahrnehmung entspricht, ist die Durchdringungs­ und Überdeckungstransparenz der Welt des Flaneurs.“13 Hier findet sich wieder der Anschluss an die alte Passage, die – im Gegensatz zur Neueröffneten – Zeugnis gibt vom Verfall der bürgerlichen Welt, indem sie durch die Ansammlung grotesk veralteter Waren die Auflösung alter Ordnungen durch die surre­ ale Vermischung der Dinge exemplifiziert. „Organische und anorganische Welt, nied­ rige Notdurft und frecher Luxus gehen die widersprechendste Verbindung ein, die Ware hängt und schiebt so hemmungslos durcheinander wie Bilder aus den wirresten Träumen“14 … „Ferngläser und Blumensamen, Schrauben und Noten, Schminke und ausgestopfte Ottern, Pelze, Revolver.15 […] Welt von besonders geheimen Affinitäten: Palme und Staubwedel, Föhnapparat und die Venus von Milo, Champagnerflaschen, Prothesen und Briefsteller.“16

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selber“20, der sich vom Schema der Progression in eine leere und homogene Zeit frei­ gemacht hat, um nicht – wie leider die Geschichte aus heutiger Sicht gezeigt und Ben­ jamin immer schon befürchtet hat – die destruktiven Energien des historischen Ma­ terialismus auszulösen. Entscheidend ist es, „die Bewegung der Gedanken“21 zum Stillstand zu bringen. Dies ist der Punkt an dem die Geschichte als Monade erscheint, das weitaus mehr als ein subjektives Bild bedeutet, sondern „objektive Kristallisatio­ nen der geschichtlichen Bewegung“22 enthält. Durch diese Komprimierung wird ein Ausdruck der geschichtlichen Bewegung erzeugt, der die Notwendigkeit der Erlösung aktualisiert und zugleich das Erscheinen des Messias bewirkt: „Der historische Mate­ rialist geht an das Vergangene nur da heran, wo es ihm als Monade entgegentritt. In dieser Struktur erkennt er das Zeichen einer messianischen Stillstellung des Gesche­ hens; anders gesagt einer revolutionären Chance im Kampfe für die unterdrückte Ver­ gangenheit.“23 In der Monade verdichtet sich die Vergangenheit zum Augenblick. Diese Zeitform der Monade, die den Fluss der Zeit überschreiten kann, indem sie die Zeit zum Stillstehen bringt, bedarf eines Ortes, der dieses Moment der Rettung zum Ausdruck bringt. Diese Verräumlichung der Zeit, dieses Stillstehen der Zeit an einem bestimm­ ten Ort, der für Benjamin paradigmatisch durch die Passage gegeben ist, ist Ausgangs­ punkt der Rettung. Es ist eine ganz außerordentliche Zeit, nicht homogen, auch nicht zyklisch, sondern komprimiert wie in der Monade. Das Bild der Vergangenheit, das die Rettung enthält, ist seiner weiteren Bedeutung nach ein Erinnerungsbild. „Es ähnelt den Bildern der eigenen Vergangenheit, die den Menschen im Augenblick der Gefahr antreten. Diese ‚Bilder‘ kommen, wie man weiß unwillkürlich.“24 Die unwillkürliche Erinnerung ist die Erinnerungsform der retten­ den Erfahrung. Die Erinnerung bewahrt etwas auf, das noch nicht stattgefunden hat und das ständig davon bedroht ist, im destruktiven Gang der Geschichte zu verschwin­ den. Dabei handelt es sich um eine besondere Form der Geschichte, „die nicht alleine eine Wissenschaft, sondern nicht minder eine Form des Eingedenkens ist. Was die Wissenschaft festgestellt hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glück) zu einem Abgeschlossenen machen und das Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie; aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschich­ te grundsätzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologi­ schen Begriffen zu schreiben versuchen dürfen“.25 Die grundsätzlichste Aufgabe einer Geschichtsschreibung wäre das Eingedenken, eine Form der Empathie, die weit über das bloße Erinnern hinausreicht, und das von der Wissenschaft festgestellte in der Weise modifiziert, indem sie die Reparatur des vergangenen Unrechts einklagte, eine Forderung die in der Theologie nur mit dem Jüngsten Gericht und der Auferstehung des Fleisches gedacht werden kann. Angelus Novus. Der Engel der Geschichte Im Jahre 1939, ein Jahr vor seinem Tod auf der Flucht vor den in Frankreich nach­ rückenden deutschen Truppen verfasste er, tief deprimiert aufgrund des Stalin­Hit­ ler­Paktes die Geschichtsthesen, die in jener berühmten 9.These des Angelus Novus kulminieren. „Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine 110

wendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene wie­ der zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradies her, der sich in seinen Flü­ geln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Die­ ser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen zum Himmel wächst. Das was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“26 Dieser geradezu prophetisch wirkende Text rührt aus der Tradition der jü­ dischen Mystik, die von Menachem Scholem, einem Freund Walter Benjamins als die Welt des tikkun beschrieben wird. Das Verweilen, das Wecken der Toten und das Zu­ sammenfügen des Zerschlagenen meint demnach „nichts anderes als die Wiederher­ stellung des Ganzen“ 27, und entspricht damit einer archaischen Gedankenfigur der Erlösung. Das Erscheinen des Messias ist jenes Siegel, das auf den Abschluss dieses Prozesses der Wiederherstellung, tikkun gesetzt wird. Wenn jedes Ding an seinen Ort gesetzt sein wird und der Makel von allen Dingen ausgebessert sein wird, so bedeutet dies die Erlösung. Nun gilt diese jüdisch, theologische Vorstellung für das Auftreten des Messias, bei Benjamin aber kommt jeder Generation die messianische Aufgabe des tikkun zu. Es gibt geheimnisvolle Beziehungen zur Vergangenheit „Streift denn nicht um uns selber ein Hauch der Luft, die um die früheren gewesen ist? Ist nicht in Stim­ men denen wir unser Ohr schenken, ein Echo von nun verstummten? Haben die Frau­ en, die wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so dann besteht eine Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserm. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangen­ heit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen“.28 Der Flaneur weiß um dieses Geheimnis: „sie (die Straße) leitet ihn durch eine ent­ schwundene Zeit. Er schlendert die Straße entlang; ihm ist eine jede abschüssig. Sie führt hinab, wenn nicht zu den Müttern so doch in eine Vergangenheit, die umso tiefer sein kann, als sie nicht seine eigene, private ist. Dennoch bleibt sie immer Vergangen­ heit einer Jugend […] Bei dieser Melodie erkennt er wieder, was um ihn ist; nicht als Vergangenheit aus der eigenen, der letzten Jugend, sondern eine vordem gelebte Kind­ heit spricht ihn an und es gilt ihm gleich: ist es die eines Ahnen, ist es die eigene.“ 29 Wir haben hier die äußerste Dehnung der Passage erreicht, indem sie einen phantas­ magorischen Raum bildet, der durch die Vorstellung des Zutritts zu der Welt der Ah­ nen zumindest für einen Moment lang die Idee einer unbeschreiblichen Versöhnung und Aufhebung aller nichterfüllten, auch eigenen Wünsche ermöglicht. Dieser seltene Augenblick äußerster Gewissheit des eigenen Heils, das nur durch die Versöhnung mit den Taten der Alten und einer Imagination des wiederhergestellten Glückes der frühe­ ren Geschlechter möglich ist, ist seit jeher in zahlreichen Strömungen des jüdischen, gnostisch inspirierten Glaubensguts verankert. Die hier überraschend manifest wer­ dende, zwischen negativer Theologie und tiefer Religiosität schwankende Position des marxistischen Denkers Benjamin macht verständlich, dass er zu den Vorformen der Passage auch den Tempel schon gezählt hat.

Die Passage als Chronotopos

Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zuge­

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Die Moderne. Ära der hybriden Übergänge Benjamin war immer Skeptiker der Ansicht, dass Entzauberung Fortschritt bedeutet. Die Moderne ist für ihn eher Entleerung, die von der Herrschaft der Ware, der Reklame abgelöst wird, sie bewirkt „dass das Gesicht der Welt gerade in dem, was das Neues­ te ist, sich nie verändert, dass dies in allen Stücken das Nämliche bleibt“30 vergleich­ bar dem modernen Journalismus, der durch „die Neuheit und die sie chockartig be­ fallende Entwertung“31 charakterisiert ist. Aber die Moderne ist unaufhaltbar. Durch die Industrialisierung werden die frühen Eisenkonstruktionen der Passage aus ihren traumverhafteten Bekleidungen gelöst und verwandeln sich durch die Verwendung von Eisen und Stahl zu Großanlagen des Verkehrs. Das Sichtbarwerden der Konst­ ruktion ist Zeichen der geschichtlichen Veränderung der Raumerfahrung, und einer neuen Wahrnehmungsform, die das Bewusstsein aus der Traumsphäre reißt und in einen Raum neuer Helligkeit zieht. „Die rauschhafte Durchdringung von Straße und Wohnung, die sich im Paris des 19. Jahrhunderts vollzieht – und zumal in der Erfah­ rung des Flaneurs – hat prophetischen Wert. Denn diese Durchdringung lässt die neue Baukunst nüchterne Wirklichkeit werden. So macht Giedeon bei Gelegenheit darauf aufmerksam: „Ein Detail einer anonymen Ingenieursgestaltung: Bahnübergang wird Architekturmitglied (nämlich an einer Villa).“32 Die Passage ist daher auch ein pro­ phetisches Zeichen, das die Zukunft des kommenden Jahrhunderts vorausahnte, ihre Form war versteckter Ausdruck, der durch die Hegemonie der Konstruktion enthüllt wurde. Nun kommt die Zeit neuer hybrider Übergänge, die den kulturellen Ausdruck der Ware durch die Auseinandersetzung des Alten mit dem Neuen prägen wird. Diese Einschätzung lässt sich auch auf die Gegenwart übertragen.

1 Rolf Tiedemann, „Vorwort“, Bd. V , in: Walter Benja- V/ 2, S. 1045. 17 Benjamin (wie Anm. 2), Bd. II / 1, S. 296. min, Gesammelte Schriften, Band V/ 1, S. 11. 2 Walter 18 Benjamin (wie Anm. 2), Bd. V/ 1, S. 592 . 19 BenBenjamin, Gesammelte Schriften, Bd. III , S. 145. 3 Ben- jamin (wie Anm. 2), Bd. I/ 2 , S. 701. 20 Benjamin (wie jamin (wie Anm. 2), Bd. IV / 1, S. 296 . 4 Benjamin (wie Anm. 2), Bd. V/ 1, S. 592. 21 Benjamin (wie Anm. 2), Bd. Anm. 2), Bd. V/ 2, S. 993. 5 Siehe das Zitat in: dérive 18 , I/2 , S. 702 . 22 Theodor W. Adorno, Über Walter Ben­ S. 36;. vgl. Heinz Brüggemann, „Passagen“, in: Michael jamin, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1970, S. 22 . 23 BenOpitz/ Erdmut Wizisla (Hgg.), Benjamins Begriffe, Suhr- jamin (wie Anm. 2),Bd. I/ 3 , S. 1251. 24 Benjamin (wie kamp, Frankfurt/Main 2000, Bd. 2 , S. 573 – 618 . 6 Ben- Anm. 2), Bd. I/ 3, S. 1243. 25 Benjamin (wie Anm. 2), Bd. jamin (wie Anm. 2), Bd. V/ 2 , S. 1041. 7 Benjamin (wie V/ 1, S. 589; vgl. Detlev Schöttger, „Erinnern“, in: Opitz/WiAnm. 2), Bd. II /1, S. 620. 8 Sigfried Giedion, Bauen in zisla, (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 260 – 298 . 26 Benjamin (wie Frankreich­Bauen in Eisenbeton, Berlin 1928 . 9 Ben- Anm. 2), Bd. I/ 2 , S. 697. 27 Scholem, Die jüdische Mys­ jamin (wie Anm. 2), Bd. V/1, S. 161. 10 Benjamin (wie tik in ihren Hauptströmungen, Suhrkamp, Frankfurt/Main Anm. 2), Bd. V/ 2 , S. 1214 . 11 Benjamin (wie Anm. 2), 1967, S. 294 . 28 Benjamin (wie Anm. 2), Bd. I/ 2 , S. 693. Bd. V/2. S. 1012. 12 Benjamin (wie Anm. 2), Bd. V/ 1, S. 110. 29 Benjamin (wie Anm. 2), Bd. V/ 2, S. 1052. 30 Benjamin 13 Benjamin (wie Anm. 2), Bd. V/2 , S. 678 . 14 Benja- (wie Anm. 2), Bd. V/ 2, S. 676. 31 Benjamin (wie Anm. 2), min (wie Anm. 2), Bd. V/ 2 , S. 993 . 15 Benjamin (wie Bd. V/2, S. 695. 32 Benjamin (wie Anm. 2), Bd. V/ 1, S. 534. Anm. 2), Bd. V/ 2, S. 994 . 16 Benjamin (wie Anm. 2), Bd.

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Transformationen der Öffentlichkeit Öffentlicher Raum Warenöffentlichkeit durch Emotional Design Der Flaneur. I . Stadtforscher avant le temps Der Flaneur. II . Frühe Stadtsüchtige Der Flaneur. III . Der ennui. Das Leiden des Flaneurs Vom kollektiven Gedächtnis zum Kunstcontainer. Anmerkungen zu einer Kunstgeschichte des öffentlichen Raumes

Abb. 7: Gustave Eiffel, Au bon Marché (1971–1880). Émile Zola hat diesem Warenhaus im Roman „Das Paradies der Damen“ (1884) ein literarisches Denkmal gesetzt.

Öffentlicher Raum Sphärenbildung Die Entwicklung der forma urbis, der Stadtgestalt, folgt einem uralten anthropologi­ schen Gesetz, dem zufolge sie sich nach dem Prinzip von Endo­ und Exosphäre, vom geschützten, geheiligten Zentrum aus, in dem sich die Quelle göttlicher Kraft befindet, in konzentrischen Bewegungen als eine Folge der Emanation nach außen hin erwei­ tert und vergrößert. Die Außengrenzen selbst sind wiederum nebst ihrer strategischen Rolle der Verteidigung eine Zone, in der das Territorium durch magische Aufladung vor der Bedrohung durch die Exosphäre geschützt wird. In ontologischer Hinsicht ließe sich die Wahl des zentralen Ortes aber auch als ein Templum, als ein Ausschnitt aus der Welt auffassen, der Sein überhaupt erst ermöglicht bzw. durch eine primäre räum­ liche Differenz zu Bewusstsein bringt. Daraus resultieren die Regeln von sakralem und profanem Raum, die stets unterschiedliche Markierungen und Valeurs nach sich zie­ hen und eine Strukturierung des städtischen Raumes bilden. Religiöse Vorstellungen prägen so lange das innere und äußere Bild der Stadt, bis sie im Zuge einer Säkularisie­ rung durch neue äußere Einflüsse bis zur Unkenntlichkeit verändert bzw. durch para­ religiöse, neopagane Pseudomorphosen überlagert werden. Es gibt in der Geschichte der Urbanität vielleicht nur ein einziges weiteres genera­ tives Prinzip der urbanen Raumwerdung oder der im Sinne Lefebvres als Raumpro­ duktion bezeichneten Entwicklung, das eine ähnliche Rolle in der anthropologisch­ sozialen Morphologie beanspruchen darf, nämlich die Dialektik von öffentlichem und privatem Raum. Sie entsteht in gewisser Weise aus der Notwendigkeit einer Vermitt­ lung von Endo­ und Exosphäre, wo die Bestimmung der Endosphäre im Allgemeinen durch die räumliche Situation des eigenen Clans und die der Exosphäre durch die Terri­ torien der anderen Clans erfolgt. Die Antike – Polis und Agora Bekanntlich wäre die Schaffung der athenischen Demokratie niemals ohne die durch Kleisthenes in die Wege geleitete freiwillige Aufteilung der Stämme und ihre räum­ lich durchmischte Ansiedlung in den verschiedenen Bezirken der Stadt möglich ge­ wesen. Erst die soziale Homogenisierung des Raumes und das aus den gemeinsamen Kriegsdiensten erwachsende Selbstverständnis für Gleichheit der Bürger, die sich als Homoioi, Ähnliche, bzw. als Isoi, Gleiche bezeichnen, machte die Schaffung eines ge­ meinsamen Zentrums, der Agora, und ihrer politisch repräsentativer Institutionen, des Bouleuterion, des Prythaneion und der Ekklesia, möglich. Unter diesen Bedingun­ gen eines Staatswesens freier, gleichwertiger Bürger und repräsentativer Institutionen kamen nun erstmals der Öffentlichkeit und der Macht der Rede entscheidende Bedeu­ tung zu. Entscheidend war auch, dass sich jene Sphäre der Öffentlichkeit in völligem Kontrast zu allen Mysterienreligionen und weitgehend abseits von den göttlichen Be­ zirken der Akropolis und anderer heiliger Stätten befand und somit eine offene, un­ verborgene, unter allen Augen sichtbare Versammlung des freien Bürgers zur Äuße­ rung seiner Meinung ermöglichte und durch weitgehende Ausschaltung der einstmals mächtigen Priesterschaft eine Vorbedingung funktionierender Demokratie schuf. 117

Der Begriff der griechischen Agora bezeichnete damit nun einen zweifachen Typus von öffentlichem Raum: Erstens jenen konkreten Ort der Agora, auf den im Sinne des aristotelischen Raumbegriffes des Topos gezeigt werden kann, und zweitens jene Sphäre, die alle weiteren Elemente des Öffentlichen im Sinne des Begriffes der Chora umfasst, die nicht unbedingt örtlich zu bestimmen sind, die aber in dieser umhüllen­ den Sphäre enthalten sind. Der konkrete Ort der Agora ist das materiell sichtbare Sub­ strat des sozialen Ortes mitsamt seinen Gebäuden und ihren symbolischen Bedeutun­ gen, während die abstrakte Sphäre des Öffentlichen am ehesten jenen Diskursraum bezeichnet, der zur Aufrechterhaltung der Communitas erforderlich ist und der zwar auch an Orten stattfindet, aber die topologische Dimension transzendiert. Mit dieser einfachen Gliederung hofft der Autor diese Vieldeutigkeit und Unschärfe des Begriffes vom öffentlichen Raum, die sich bis heute fortgesetzt hat, einer vorläufigen Klärung unterzogen zu haben, wenn man auch zahlreiche wechselseitige Bezüge des konkreten Stadtraumes und der allgemeinen politischen Sphäre in Rechnung stellen muss. Wenn auch die Konzentration in der Darstellung dieses Textes auf das Primat des konkreten Raumes abzielt, so kann doch auf die gleichzeitig erfolgende Einsicht, dass die Genese dieses Raumes auch immer von den Bedingungen der allgemeinen Sphäre des Öffent­ lichen abhängig ist, nicht verzichtet werden. Letztlich währte aber auch die Geschichte der Öffentlichkeit im Rahmen der grie­ chischen und der nachfolgenden römischen Demokratien nicht sehr lange, indem sie von der Herrschaft des Kaisertums und der Volkstribunen abgelöst wurde. Das bedeu­ tete aber keineswegs das Ende des öffentlichen Raumes im Sinne eines Raumes, der größere Menschenmassen zum Zwecke der Vergnügung vereinigt, sondern nur das Ende einer Sphäre der freien Versammlung von Bürgern mit dem Ziel der politischen Selbstbestimmung. Freilich war die Möglichkeit direkter Demokratie auch immer mit der Kontrolle des Wachstums der griechischen polis verbunden, deren Größe kaum die Zahl von ca. 6.000 freien Bürgern überstiegen haben dürfte und deren Bürger bei größerem Zu­ wachs zu Umsiedlungen oder Neugründungen von Städten gezwungen wurden. Auf diese Weise der numerischen Begrenzung war in den entscheidenden Volksversamm­ lungen im Pnyx immer noch die Anwesenheit aller Bürger gewährleistet, die zugleich in direkter phonetischer und optischer Verbindung mit den Rednern standen und auf kei­ ne mediale Vermittlung angewiesen waren. Zudem galt damals noch keine Trennung zwischen privat und öffentlich in einem völlig anderen Sinn, da sich der Grieche nur in der Öffentlichkeit als Mensch fühlte und die Privatsphäre kaum je thematisiert wurde, was mithin einen deutlichen Gegensatz zur Situation der Moderne, in der der Großteil der Bürger seine Identität nur aus der Privatsphäre heraus bilden kann, darstellt. Freilich zeichneten sich schon in der römischen Antike durch die Einführung der blutigen Gladiatorenspiele schwere Verfallserscheinungen ab, indem hier die Öffent­ lichkeit als eine Sphäre der Zurschaustellung brutaler Spiele missbraucht wurde, da sie die visuelle Dimension des Öffentlichen mit der von niederen Instinkten motivierten Schaulust der Massen vereinigte. Auch errichtete der Römer ein Prinzip des schlech­ ten Privaten im Sinne einer Unterwerfung unter die Augenlust, die nur der negativen Aufladung des Inneren und der Abwendung von Gott dient, wie es durch das berühmte Beispiel des Augustinus in den Confessiones über den Besuch seines Freundes bei den Spielen überliefert ist. 118

Die mittelalterliche Öffentlichkeit Daher nimmt in der Geschichte der christlichen Stadt der öffentliche Raum im poli­ tischen Sinne, wenn man ihn mit der griechischen Polis vergleicht, auch nur eine nach­ geordnete Rolle ein, da die Formatierung der Stadt erneut nach den Prinzipien des sakralen und profanen Raumes erfolgte, der ein spirituelles Innen von einem welt­ lichen Außen trennt. Der ursprünglich strenge Dualismus eines Innen, das durch sakrale Kraft aufgeladen ist, und eines Außen, in dem man weitgehend schutzlos allen Gefahren ausgeliefert ist, einer Endosphäre, die kraft ihrer Magie eine sittlich­mora­ lische Wirkung erzielt, und einer Exosphäre, in der diese Moral sofort wieder ihre Geltung verlieren kann, wurde im Mittelalter durch die Einrichtung einer Passage­ zone, der Freistatt, entschärft. Die Ausstrahlung der Kirche erstreckte sich nun auch auf den Vorraum, den umlie­ genden Raum der Freistatt, der zu einer besonderen Zone der Zuflucht und der Barm­ herzigkeit für sozial Bedürftige und Kranke wurde, die sich hier präsentierten. Damit war er als eine Art halböffentlicher Zwischenraum zur profanen Stadt zu sehen, der sich zu einem Platz entwickelt und auf dem im Mittelalter auch Reden gehalten, öf­ fentliche Rituale und Passionsspiele veranstaltet wurden.1 Die sakrale Emanation des Kircheninneren wurde durch die Prozessionen, durch Begehungen und Weihehand­ lungen mit den katholischen sacra im Stadtraum verbreitet, der nun vorübergehend in einer merkwürdigen Weise Heiligkeit und Öffentlichkeit vereinigte. Aus der Position der Nähe zum sakralen Zentrum entwickelte sich auch eine Schnittstelle der urbanen Wege die zumeist durch die Anlage eines Marktplatzes ge­ festigt wurde, der den Stellenwert einer Agora als Ort der sozialen Zusammenkunft und Durchmischung wesentlich steigerte. Zudem gewann der öffentliche Raum auch seine Rolle als ökonomischer Katalysator wieder, indem er zum Zentrum des Handels und Warentausches gemacht wurde, der erst im Verlauf späterer Jahrhunderte wieder in feste Gebäude und Geschäfte übersiedelte. Ein weiterer Bereich des öffentlichen Raumes existierte allerdings auch nicht, denn der Rest der Stadt war völlig verbaut. Es herrschte eine Anarchie der Baufreiheit. „Der fragmentarische Charakter der öffentlichen Sphäre spiegelte in der Topographie der Stadt die Schwäche des Staates wider, seiner Machtmittel, seiner finanziellen Ressour­ cen und seines Durchsetzungswillens. Die Straßen waren in der Regel so schmal, dass

Öffentlicher Raum

Der noch folgenreichere Schritt zur Erschütterung der nach Ansicht römischer Bür­ ger zunehmend verkommenen Öffentlichkeit war die Einführung der orientalischen Kulte. Mit ihren geheimen Lehren lösten sie das Pantheon der alten römischen Götter ab. Diese waren ihrem Wesen nach noch mit den griechischen Göttern verwandt, die sich ja noch durch eine besondere Erscheinung und Außenorientierung, durch Schön­ heit, Körperlichkeit und Sichtbarkeit ausgezeichnet hatten. Die neuen Kulte hingegen mit ihren alten Opferpraktiken der Wiedergeburt und den geheimen Zusammenkünf­ ten an okkulten Orten fanden in der Verborgenheit statt und scheuten die Öffentlich­ keit. Sie zählten zur Dimension des Inneren und Privaten. Auch das Christentum ging aus einer ähnlichen Konstellation hervor, und die agape­Feiern der Urchristen fanden an geheimen, häufig wechselnden Orten statt, um vor der Verfolgung geschützt zu sein, ehe das Christentum von Konstantin zur Staatsreligion erhoben wurde und nun selbst in der Öffentlichkeit in Erscheinung trat.

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sechs oder sieben Meter Breite schon Staunen erregte. Die Städte bildeten ein labyrint­ hisches Gewirr winziger Gassen und Sackgassen, Durchgänge und Höfe, die Plätze wa­ ren klein, und nur selten öffnete sich eine Gebäudeflucht und gab den Ausblick frei; die Verkehrswege waren ständig verstopft.“ 2 Das gesamte Mittelalter hindurch spielte sich daher das öffentliche Leben auch aufgrund der räumlichen Voraussetzungen auf den Marktplätzen ab, ohne sich jedoch der potentiellen politischen Bedeutung dieser Sphä­ re in besonderer Weise bewusst zu sein. Im Feudalismus war politische Mitsprache auf den Hof des Königs oder Lehnsherren beschränkt, in manchen freien Städten je­ doch konnten sich Ansätze demokratischer Willensbildung im Verband der Zünfte he­ rausbilden und wurden durch den Bau eines Rathauses auch öffentlich unterstrichen. Das 18. Jahrhundert und die Re-inventio der Öffentlichkeit Erst im 18. Jahrhundert bildete sich eine anschauliche und bewusste Differenzierung zwischen den öffentlichen und privaten Sphären heraus, die nun auch eine räumlich morphologische Gestalt erhielt. Der Grenzverlauf zwischen diesen beiden Sphären wurde in Analogie zu einer Balance zweier konträrer Ansprüche, nämlich dem der Zivi­ lisation und dem der Natur gesetzt. Die Zivilisation wurde durch ein kosmopolitisches, öffentliches Verhalten, die Natur durch die Ansprüche der Familie repräsentiert. Die zivilisatorische Einstellung ermöglichte einen emotional befriedigenden Umgang mit den Fremden, ohne aber auf eine vernünftige Wahrung der Distanz zu verzichten. Der public man war ja eine Erfindung des 18. Jahrhunderts und bezeichnete den Typus von Mensch, der keine Scheu hatte, in die Öffentlichkeit zu treten, und der mit der ständi­ gen Konfrontation durch Unbekanntes und neue Situationen vertraut war. Zugleich bestand in der Stadt eben jene Form von Raumpotential, in dem neue Orte für öffentliche Begegnungen hervorbracht wurden. Dabei handelte es sich zu­ nächst um öffentliche Parks, um Cafés und Theater. Öffentliche Plätze hatte es na­ türlich schon vorher gegeben, Marktplätze hatten diese Funktion seit dem Mittelalter und können sich auf ihren Ursprung in der Agora berufen. Sie waren der Ort der Men­ schenansammlungen zum Zweck des Handels, aber auch zur Betrachtung der Darbie­ tungen von Schauspielern und Akrobaten und anderer Aufschichtungen gemeinsamer Aktivitäten. Diese Plätze hatten ihre angestammte Lage im Zentrum, verloren jedoch im Zuge der Stadtmodernisierungen und Erweiterungen des 18. Jahrhunderts in den großen eu­ ropäischen Städten ihre alte Funktion. Dafür gab es viele Gründe; entscheidend dürf­ te das Wachstum der Bevölkerung gewesen sein, das mit dem Verlust einer sozialen Homogenität einherging. Die Multifunktionalität des Platzes ging aufgrund der Ver­ sammlung von sich gegenseitig als unbekannt und fremd fühlenden Menschen verlo­ ren. Die klassische Funktion der Agora konnte sich auf den öffentlichen Plätzen nicht mehr etablieren. Die notwendige Naivität im Umgang mit dem Fremden war durch den sozio­ökonomischen Wandel und die Erweiterung der Städte verloren gegangen. Das neue Übermaß an Fremdheit, das durch die Unterhöhlung der klassischen Hierarchien, deren Herrschaft zwar mit Kontrolle, aber dafür auch mit der Vertraut­ heit eines Bewusstseins, wen es zu respektieren hatte, verbunden war, musste durch neue Modi des Vertraut­Werdens korrigiert werden. Die alten Kriterien zur Einschät­ zung einer Person wie Herkunft und familiärer Hintergrund oder Beruf allein waren nicht ausreichend, sondern mussten durch neue, vom Hof übernommene Umgangs­ 120

formen befestigt werden. Die Thematisierung dieser Formen, die von der Konversa­ tion bis zur Kleidung hin reichten, ging vom Theater aus, das ursprünglich nur für die höfische Gesellschaft zugelassen gewesen war, nun aber zunehmend auch größeren Publikumsmengen den Zutritt erlaubte. Daraus resultierte die Entwicklung von Codes der Geselligkeit, die eine Begegnung von einander Unbekannten erleichterte, durch die Verfeinerung der Manieren wurden Schwierigkeiten der Annäherung vermindert und die aufgrund der alten anthropologisch fundierten Ängste vor dem Fremden errichte­ ten Barrieren überwunden.

besondere Sphäre der Öffentlichkeit dar, in der Hof, Aristokratie und Bürger aufein­ ander trafen. Es war aber auch noch der Ort der offiziellen Präsentation von Stücken, die als Aussagen über allgemeine, verbindliche Wahrheiten galten. Die künstlerische Verknüpfung von Bedeutung mit Zeichen im Sinne einer privaten Erfahrung und einer Individualisierung der Kunst und deren öffentliche Transformation stand noch bevor. Zunächst galt im Prinzip noch der Code des Barocktheaters im Sinne einer von Gott eingerichteten Weltordnung, die als universeller Verbund von allgemeinen Wahrhei­ ten zu verstehen war. Noch waren keine privaten Elemente der indviduellen Erfahrung enthalten, noch wurde die absolute Herrschaft der Monarchen als natürlich gefügte Ordnung verstanden, an der es nichts zu rütteln gab. Auch am Theater galt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch die Konvention der Zeichen, die als angemessene, allgemein verbindliche Repräsentation des Bezeich­ neten verstanden wurden. Ein Beleg dafür ist die relativ geringe Zahl neuer Stücke, die von der Comédie Française aufgenommen worden waren, obwohl sich die Zuschauer­ menge von 100.000 im Jahr 1737 auf 175.000 im Jahr 1765 erhöht hatte. Zuschauer und Schauspieler bildeten eine gemeinsame Sphäre, junge Leute und Mitglieder der Ober­ schicht nahmen sogar Plätze auf der Bühne ein, um die Existenz einer gemeinsamen Welt unter Beweis zu stellen.3 Das Repertoire bestand aus alten, vertrauten Stücken, die während des Spiels oftmals unterbrochen wurden, weil das Publikum bei gelun­ genen Passagen nach bis zu achtfacher Wiederholung verlangte, um auf diesem Weg die direkte szenische Herstellung einer Verbindung zwischen Schauspielern und Publi­ kum einzufordern. Das Theater war ein festes Ritual zwischen Publikum und Schauspielern, das je­ doch nur aufgrund der hohen Konventionalität der Stücke und ihrer Bekanntheit funk­ tionierte, indem es durch seine Verlässlichkeit als Medium neben bloßer Unterhaltung auch Identitätssicherung bot. Durch die Teilnahme und Einbeziehung des Publikums entstand eine Form von öffentlicher Sphäre, die jede Unwirklichkeit des Spiels zu ver­ meiden suchte. Auch galt zu jener Zeit eine andere Auffassung von Theater, die noch vom Barock herrührte und auf spezifische Zwecke, wie eben die unsichtbare Darstel­ lung des Weltenlaufes, abzielte und nichts mit dem späteren autonomen Kunstwerk, das seinen Zweck in sich selbst trägt, zu tun hatte. Die Vermischung von Schauspie­ lern und Publikum, das jederzeit in das Stück einsteigen konnte, erzeugte eine Form von öffentlicher Verständigung, die Konventionalität des Stoffes erzeugte einen Grad allgemeiner Akzeptanz und vermied die durch die spätere Kunst aufkommende, inten­

Öffentlicher Raum

Das Theater. Öffentlichkeit durch den Code der Konventionalität Im 17. und 18. Jahrhundert war das Theater der erste reguläre Ort der Begegnung zwi­ schen dem Hof und dem langsam aufkommenden Bürgertum und stellte damit eine

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sive Innerlichkeit. Denn im Verlauf des 18. Jahrhunderts veränderte sich das Zeichen von seiner konventionellen zu einer symbolischen Bedeutung hin, die keine unmittel­ bare automatische Verständigung mehr ermöglichte, sondern erst eine Entschlüsse­ lung, eine Interpretation verlangte, die aber mit einer Aufgabe der verbindlichen Kon­ ventionalität verbunden war. Die Aufklärung – Öffentlichkeit durch Sympathie unter den Menschen Der geistige Hintergrund dieser Ära des 18. Jahrhunderts liegt in der Aufklärung, die schon allein aus Gründen der Opposition zur Religion, vor allem zum Katholizismus und dessen Glaubenspräferenz des wahren Glücks in der jenseitigen Dimension, eine hartnäckige Befürwortung des Glückes im Diesseits zu begründen suchte. Ein zur Stüt­ zung der Theorien der Utilitaristen notwendiger Grundgedanke bestand in der Grund­ annahme einer allgemeinen Sympathie der Menschen zueinander, die nur aufgrund ungünstiger gesellschaftlicher und politischer Umstände nicht zum Tragen käme. Vor­ aussetzung dieser Theorie war eine noch vom neoplatonischen Erbe herrührende Af­ fektenlehre, die analog zu der damals auch in der Philosophie allgemein gültigen Lehre Newtons von der Schwerkraft in Kategorien einer Anziehungskraft des Guten dach­ te. Bei einer richtigen Organisation der natürlichen Energien der Sympathie müssten sich die Probleme der Gesellschaft lösen lassen. Die plötzliche sympathetische Anmu­ tung erzeuge einen Modus der Einheit mit anderen Menschen. Diese Modi der Erzeu­ gung von Sympathie bestanden in der Herstellung von Situationen, die gegenseiti­ ges Vertrauen erweckten. Geeignete Rahmen fand man im Naturraum des Parks oder an Orten, wo eine Schaffung von Öffentlichkeit durch die Aufhebung sozialer Diffe­ renzierung stattfand, wie im Café oder Theater. Öffentlichkeit wurde als eine Form der Versammlung von Menschen gedacht, deren Sympathie in die richtigen Bahnen gelenkt worden war, eingedenk des Satzes von Hume, wonach das einzige Problem des Menschen nicht im Mangel an gegenseitiger Sympathie bestehe, sondern in deren Parteilichkeit, die sich nur auf die eigene Familie richte.4 Öffentliche Räume der Aufklärung – die heitere Einheit durch den Park Das 18. Jahrhundert hat das Verhältnis zwischen dem Selbst und der Umwelt noch of­ fen verstanden. „Das Innenleben war noch nicht gegen die Umwelt abgeschottet, es stand vielmehr offen wie ein Fenster. Und dank der überquellenden Fülle der Natur er­ blickte man durch dieses Fenster eine einladende Szenerie.“ 5 Menschliche Natur und materielle Umwelt standen noch in offener Beziehung zueinander, die Trennung von Natur und Kultur stand erst bevor.6 Die Introspektion des protestantischen Geistes, der zufolge nur die pure, ungekünstelte Natur die Einsamkeit und das Innen des von den Gnadenmöglichkeiten abgeschnittenen Menschen spiegeln könne, hatte noch keine umfassende Verbreitung gefunden. Daher war auch noch jene Verbindung von Natür­ lichem und Künstlichem in der Architektur der Parkanlagen des jardin anglais möglich, die von den Engländern nach William Chambers 7 als ha­has, als sunk fences bezeichnet wurden. Dabei handelt es sich um in Gräben versenkte Zäune, die den Eindruck einer unbegrenzten Landschaft, die von sich völlig ungehindert bewegenden Pferden und Rindern durchstreift wurde, vermittelten. Das ha­ha war der Ausdruck der Überra­ schung, wenn man plötzlich auf dieses vorher nicht wahrgenommene Hindernis stieß. Jedenfalls konnte auf diese Weise auf einem Gutshof die Illusion einer freien, natür­ 122

die Welt eines ungezügelten, üppigen und völlig natürlichen Wachstums suggerier­ ten. Niemand wunderte sich darüber, dass in dieser üppigen Fülle der Natur so be­ queme Wege vorhanden waren, und hätte sich deswegen die Illusion zerstören lassen. Die Schöpfung des Menschen beeinträchtigte in keiner Weise die Wahrnehmung einer wilden Natur. Follies, künstliche Ruinen und chinesische Tempel vervollständigten diesen pittoresken Eindruck, mittels Felsen und Steinen wurde das Bild einer „unge­ zwungenen“ Natur noch vervollständigt. Die physische Anregung durch Gestaltung galt der Aufklärung im 18. Jahrhundert als positiv und wertvoll, weil sie nach Meinung der Autoren das Streben nach orga­ nischer Einheit von Mensch und Natur förderte. Dies auch im konkreten gesellschaft­ lichen Sinne der Begegnung von Menschen unterschiedlichen Standes, indem nun auch den arbeitenden Klassen Zutritt zu den Parks gewährt wurde und die Promena­ de zu einer neuen Form der Geselligkeit avancierte und eine neue spezifisch räumliche Form von Öffentlichkeit hervorbrachte. Dahinter standen das Grundanliegen der Überwindung der Unterschiede und eine daraus resultierende Idealisierung der organischen Ganzheit, ohne aber davon über­ wältigt zu werden. Der Architekt und Raumplaner Jacques­Ange Gabriel setzte die Technik des ha­ha auch auf der Place de la Concorde ein, um den Verkehr zu beruhi­ gen und zu ordnen.8 Um den Kreisverkehr in der Mitte des Platzes herum wurden vier tiefe Gräben zur Anlage eines damals noch sehr seltenen Rasens ausgehoben, die nun die Aufgabe hatten, die Fuhrwerke von den Fußgängern funktional abzutrennen, aber auch beide Elemente wieder optisch zu vereinheitlichen. Dieser Versuch einer Uni­ fizierung beruhte ebenfalls auf einer heiteren, natürlichen Verbindung, die ihren Illu­ sionscharakter nicht zu verbergen trachtete. Übrigens galt dieser Erfindungsreichtum auch für das Haus des 18. Jahrhunderts. Er lief auf die Schaffung eines Typus von Interieur hinaus, das dem nachfolgenden vikto­ rianischen Haus völlig entgegengesetzt war. Komplizierte Sprungfedermechanismen sorgten für ein Verschwinden der Betten in Wandschränken. Bücherregale drehten sich auf versteckten Zapfen und schwenkten die Bibliothek des Hauses in die Richtung eines kleinen Schlafzimmers, um die Möglichkeit einer kleinen Pause zu erhalten. Die Tendenz dieser Einrichtungen lief auf die Aufhebung der Arbeitsteilung des Hauses hinaus. Sie versuchte die Spezialisierung der Räume zu unterlaufen und stellte damit das Gegenteil der späteren funktionalen Gliederung des viktorianischen Hauses dar. Die Aufhebung der Grenzen zwischen den Räumen durch mechanische Vorrichtungen zielte ebenfalls auf die Herstellung einer Einheit der Familie ab, die noch nicht von den Tendenzen der Innerlichkeit und räumlichen Absonderung des nachfolgenden Jahr­ hunderts betroffen waren. Auch die Privatsphäre der Familie war nach den damals geltenden Vorstellungen einer konventionalisierten Gemeinschaftssphäre organisiert. Die Maschine der Aufklärung strebte nach Transparenz oder Durchsichtigkeit der Umwelt. Der versenkte Zaun des ha­ha verfügt über die Fähigkeit, die Illusion einer

Öffentlicher Raum

lichen Gemeinschaft von Mensch und Tier erzeugt werden. Ohne wirklich auf diese Täuschung hereinzufallen, wurde das Vergnügen dieses Anblicks der friedlich weiden­ den Herde durch das Bewusstsein, die eigene Hand bei der Gestaltung im Spiel gehabt zu haben, noch verstärkt. Ähnliche Kriterien galten für die Anlage von Parks, die aufgrund spezieller Pflanz­ techniken durch kalkulierte Unordnung und Blütenfülle von importierten Sträuchern

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Einheit von Mensch und Natur herzustellen. Dennoch ist die Grenze ebenso transpa­ rent wie das Selbstbewusstsein durch die selbsterzeugte oder durchschaute Illusion eine Steigerung erfährt. Unter der Bedingung des freien Blickes über die Grenze auf das Offene hin ist man auch in der Lage, ein Spiel der Einheit zu inszenieren. Diese Er­ fahrung einer Ganzheit in der Natur war kalkuliert und gewissermaßen kontrolliert, nur ein Spiel, sie war nur als Anregung gedacht, als maßvolle Mimesis in ihre Rhyth­ men, nie jedoch als eine Überwältigung durch die Natur. Die Natur schien aufgrund ihrer Rolle als Wiege des Menschen die Voraussetzungen für die Erfüllung einer Ein­ heit zu bieten. Diese durch die Aufklärung hervorgerufenen Verschmelzungswünsche beruhten auf dem Wissen und der Erfahrung der kulturellen und sozialen Differenzen, sie zielten auf eine Überwindung der Unterschiede durch die Herstellung organischer Einheit im Raum der Natur. Das Café als öffentlicher Ort der zivilisierten Begegnung – Einheit durch Diskurs War die Aufklärung in dieser Frage der Herstellung einer organischen Ganzheit mit der Natur eindeutig auf Seiten der Befürworter, so stand sie anderen Zivilisationstech­ niken mit der Absicht einer Bildung von sozialer Einheit durch Höflichkeit weitaus skeptischer gegenüber. Als zivilisiert galten Verkehrsformen, die man jedem gegen­ über, unabhängig vom Stand, anwenden konnte und die den Umgang der Menschen miteinander erleichterten. Die Geselligkeit beruhte auf entspannten und eher unper­ sönlichen Formen, die Fähigkeit zur Deutung von Anspielungen war ebenso wichtig wie die Bereitschaft, Anteil an der Gegenwart anderer zu nehmen. Entscheidend ist die Nichtunterscheidung von Freund und Fremden – beide genießen die gleiche Aufmerk­ samkeit. Jede Begegnung hat ihren spezifischen Wert, der sich nicht nach dem Grad der Vertrautheit oder der familiären Nähe richtet. Naturgemäß hatten diese Umgangs­ formen, die durch eine gewisse Nonchalance gekennzeichnet waren, ihren Ursprung in der aristokratischen Gesellschaft. Es ging bei dieser Form von Zivilisation nicht um die Idee einer organischen Einheit, sondern vielmehr um einen Modus, der den Kon­ takt mit Unbekannten möglich machte. Daher wurde auch kein Wert auf Betonung der Identität gelegt, also genaue Fragen nach der Herkunft des Gesprächspartners gestellt, da sie eine Annäherung erschwert hätten. Die Gesprächsformen verliefen deshalb im Rahmen einer „unpersönlichen“ Sprache, hielten gewisse Konventionen genau ein und vermieden es, „Innerlichkeit“ zur Rede zu bringen. Aber genau diese Berufung auf allgemeine Verkehrformen ohne Intimität wurde von den Vertretern der Aufklärung aus verschiedenen Gründen kritisiert. Höflichkeit erzeuge durch Komplimente nur sterile Formeln oder Ausfluchten und Notlügen, sie führe nicht zu wirklicher Anteilnahme. Außerdem sterbe aufgrund ihrer ritualisier­ ten Höflichkeit jegliche Erfindungsgabe. Sie bevorzugten eine völlig andere Form der Rede und des Gesprächs, nämlich den frei fließenden Diskurs, wie er im Kaffeehaus geführt wurde. Dort erwarteten sie die Stimme der organischen Einheit.9 Die Summe der einzelnen Äußerungen repräsentierte die Stimmungslage der Stadt. Hier kam es zur bis heute noch gültigen Hochschätzung der Kommunikation im Sinne eines pho­ netischen Erlebnisses. Indem nämlich die Stimmen der anderen Menschen ins eigene Gehör drangen, konnte man das körperliche Erlebnis spüren, wurde man unmittel­ bar von anderen Menschen affiziert. Dies war auch ganz im Sinne der Sympathielehre, die in der Affektion durch den anderen Menschen ein zentrales positives Element sah. 124

Die Cafés waren im 18. Jahrhundert ein beliebter Treffpunkt der Menschen in den europäischen Großstädten. Im Gegensatz zu den Kneipen, die durch den Alkohol­ ausschank den Menschen eher zum Rausch und der allzu gelösten Zunge verleiteten, stand im Café die kultivierte Kommunikation im Mittelpunkt. Als Prinzip galt die Mög­ lichkeit der freien Teilnahme am Gespräch, unabhängig von Bekanntheit oder Ein­ ladung. Daher galten die Rangunterschiede temporär für nichtig, da sie die Herstel­ lung wichtiger Informationsverbindungen verhindert und auch den Gesprächsfluss gehemmt hätten. Die Informationssammlung galt als wichtiger Effekt der Cafés. Das Versicherungswesen und andere wirtschaftliche Branchen erkannten bald dessen Be­ deutung – Lloyd’s of London ging bekanntlich aus einem Café hervor. Es gab zu Beginn des 18. Jahrhunderts im Café noch eine Geselligkeit, die nicht auf einem Symbolsystem beruhte, das auf Rang, Herkunft und Geschmack verwies,

Sympathie und Architektur ‒ Einheit durch Kunst im öffentlichen Raum Der Prototyp der erhabenen Architektur ist der Tempel oder die Kirche, also jene Orte, die ein Heiligtum beherbergen. Allerdings setzt die Möglichkeit eines Erlebnisses von magischer Wirkung auch ein religiöses Bewusstsein einer realen Präsenz des Gött­ lichen voraus, das im Protestantismus jener Zeit nicht mehr vorhanden war. Zur Er­ zeugung einer ähnlichen Wirkung, die im Sinne der Sympathielehre zur Herstellung einer Einheit von Mensch und Natur notwendig wird, war ja der englische Park er­ funden worden. Aber aus diesem Park als dem Naturraum der Aufklärung gingen nun merkwürdigerweise auch die neuen Formen und Ideen der Architektur hervor. War schon der Park im Grunde ein paraurbanes Element, so war es diese Architektur eben­ so. Chambers entwickelte in seinem Traktat Projekte für Szenerien für verschiedene Jahreszeiten. Er spricht dabei unter Berufung auf die Beschreibung des Jesuiten At­ tiret von 400 palastartigen Gartengebäuden im kaiserlichen Park von Peking, die die Grenze von Park und Garten zu überspielen hatten. Die Übertragung dieser Formen der Gartenkunst – ohne allerdings dessen ethnographisch­religiösen Hintergrund des Buddhismus zu verstehen – auf die Stadtplanung sind ein zentrales Element der Ar­ chitekturdiskussion des 18. Jahrhunderts. Eremitagen, Ruinen von Kastellen, Paläste, Tempel, verlassene religiöse Gebäude und halbversunkene Triumphbögen zählen zu den autumnal scenes und dienen der Durchsetzung der sensualistischen Theorie des Landschaftsgartens, erzielen aber auch größten Einfluss auf die Revolutionsarchitek­ tur von Boullée, der seine caractère­Bestimmungen daraus ableiten wird.11 Ähnliches gilt für die berühmte Grotte im Zentrum der Gartenanlagen von Twickenham, die von

Öffentlicher Raum

sondern wo Konversation ohne Betonung der eigenen Persönlichkeit möglich war. Es existierten auch Theatercafés, in denen ebenfalls nach den Regeln der Pointe und des settling mit vielfacher Wiederholung bestimmter gelungener Sätze agiert wurde. Wenn ein Redner oder Diskutant einen gelungenen Satz sagte, wurde er vom Publikum auf­ gefordert, diesen zu wiederholen, als ob man sich auf der Bühne eines Theaters dieser Zeit befunden hätte. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts wurde jedoch diese Form der Sprache als ein konven­ tionalisiertes Zeichensystem von der neuen Institution des Clubs her in Bedrängnis gebracht.10 Der Club wurde durch strenge Aufnahmeverfahren zu einem Ort gemacht, wo das wohlhabende Bürgertum und die soziale Elite sich die Gesprächspartner selbst aussuchen konnten, und damit nach den Regeln des Privaten organisiert.

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William Pope inszeniert wurde. Sie ist Abbild einer newtonisch verstandenen Welt und einer camera obscura, in der vermutlich die Quelle für die Darstellung des Kosmos in Boullées Monument für Newton zu sehen ist.12 So nimmt die Entwicklung der Kunst im öffentlichen Raum einen merkwürdigen Verlauf, indem sie vom Park aus startet und ihren Weg in die Stadt nimmt, um dort die Vorboten der Moderne zu implantieren.

1 Richard Sennett, Civitas, Fischer, Frankfurt/Main 1991, S. 34 . 2 Philippe Contamine, „Bäuerlicher Herd und päpstlicher Palast: 14 . und 15. Jahrhundert“ in: Philippe Ariès/Georges Duby (Hgg.), Geschichte des privaten Le­ bens, Bd. 2 , Fischer, Frankfurt/Main 1990, S. 410. 3 Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, Fischer, Frankfurt/Main 1986, S. 105. 4 David Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, 2. Bd., Meiner, Hamburg 1978, S. 232. 5 Sennett (wie Anm. 1), S. 104. 6 Hume (wie Anm. 4), S. 373; auch Hume hält Natur und Kultur noch für ein Ganzes und lehnt alle Thesen ab, die alles

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vom Instinkt, einer Dimension des Innen abhängig machen; vgl. Gilles Deleuze, David Hume, Campus, Frankfurt/Main 1997, S. 41. 7 William Chambers, A Disserta­ tion on Oriental Gardening, London 1772, S. 93, zit. nach Hanno Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie, C. H. Beck, München 1991, S. 298 . 8 Sennett (wie Anm. 1), S. 124 . 9 Sennett (wie Anm. 1), S. 112 . 10 Sennett (wie Anm. 1), S. 115. 11 Chambers (wie Anm. 7 ), S. 298; Etienne-Louis Boullée, Architecture: essai sur l’art, dt. Übersetzung, Zürich/München 1987, S. 67. 12 Chambers (wie Anm. 7 ), S. 294 .

Warenöffentlichkeit durch Emotional Design Die Öffentlichkeit des 18. Jahrhundert war nach Richard Sennett durch bestimmte Ele­ mente der Urbanität und Zivilisiertheit charakterisiert, die – von der Aufklärung und der Sympathielehre inspiriert – verschiedene Orte der Begegnung hervorbrachten. Be­ stimmte räumliche Typen konnten eine Sphäre der Öffentlichkeit erzeugen, wie der Park und das Café, wo eine zivilisierte Begegnung zwischen Fremden und Menschen unterschiedlichen Ranges möglich wurde. Für das Gelingen des Gesprächs stellte sich in diesen Fällen ein gewisser Code des Allgemeinen und Konventionellen als notwendig heraus, um eine gemeinsame Basis des Diskurses zu erhalten und allzu persönliche Gesichtspunkte, die nur Divergenzen hervorbringen würden, zu vermeiden. Zum Verständnis dieser uns heute fremd er­ scheinenden Möglichkeit einer weitgehenden Ausschaltung des Persönlichen, die uns auch als grobe Beschneidung der Autonomie vorkommen muss, ist auf die damalige Formen des Bewusstseins und der Psychodynamik zu verweisen, die noch nach der klassischen Charakterlehre verstanden wurden und nicht die Merkmale dessen auf­ wiesen, was wir heute als „Persönlichkeit“ bezeichnen. Eine Persönlichkeit, wie wir sie heute sehen, ist durch ein hohes Maß an Inner­ lichkeit und ein daraus resultierendes expressives Bedürfnis gekennzeichnet. In der prärevolutionären Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, die noch ständisch organisiert war, begannen sich unter dem Einfluss des Protestantismus und bestimmter Tenden­ zen der Aufklärung erst langsam gewisse Formen der Innerlichkeit zu entwickeln, die im 19. Jahrhundert für die Massenkultur wirksam wurden. Jetzt trat der Typus der „Persönlichkeit“ auf den Plan, die sich auf ein Inneres berief, aber aus gesellschaft­ lichen Gründen nur bestimmte Rollen zur Darstellung bringen konnte, die jedoch oft in Widerspruch zu ihren inneren Motiven standen. Die Differenz zwischen Innen und Außen, zwischen Fühlen und sichtbarem Handeln wuchs. Die zunehmende Diskrepanz zwischen Sein und Schein führte auch zur Notwen­ digkeit, bei der Begegnung mit Unbekannten vom Äußeren auf den wahren Kern der Person, ihr Inneres schließen zu müssen. Daher stilisierte sich die Persönlichkeit zu einem symbolischen Gebilde, das aufgrund bestimmter äußerer Details einen Schluss auf das dahinterstehende Ganze zuließ. Damit wurde ein Spiel eröffnet, das unend­ liche Möglichkeiten der Lesbarkeit, aber auch des Irrtums zuließ, und nach Sennett zugleich fatale Auswirkungen auf die Öffentlichkeit zeitigte. Denn der mit der Inner­ lichkeit einhergehende Zwang zur Privatheit und die zunehmende Angst, sich durch unbedachte Äußerungen zu verraten bzw. einen falschen Rückschluss auf das eige­ ne Wesen zu ermöglichen, führten zu einem Niedergang dieser klassischen Phase der urbanen Öffentlichkeit. Dies bedeutete keineswegs ein Ende öffentlicher Räume oder Lokale, sondern ein Ende der Wirkungsmacht der öffentlichen Institutionen zur Herstellung von Einheit durch freie Kommunikation zwischen Fremden und Perso­ nen unterschiedlichen Ranges. Der öffentliche Raum wurde nunmehr von Privatleu­ ten, die überwiegend private Interessen verfolgten und sich der Maske bedienten, be­ völkert. 127

Der öffentliche Raum der Stadt wurde durch den Industriekapitalismus und den Druck des Privaten, der stets auf die Verschleierung der materiellen Verhältnisse aus ist, umgeformt und in einen Raum der Warenöffentlichkeit transformiert. Die Ware galt nun als ein probates Medium zur Selbsterzeugung von Persönlichkeit, indem sie die entsprechenden symbolischen Merkmale lieferte. Die Mutation der Passage zum Warenhaus Man könnte Walter Benjamin dahingehend interpretieren, dass die Passage als eine Keimzelle der Stadt zu gelten hat, deren räumliches Potential im Sinne einer geneti­ schen Disposition zur Annahme vielerlei Gestalten befähigt ist. Im konkreten Falle ist es die vielleicht weitreichendste Anlage des urbanen Supersymbols, das im Rahmen des frühen Kapitalismus im 19. Jahrhundert aufgrund seiner Wandlungsfähigkeit auch als Vorläufer des Warenhauses in Erscheinung treten kann. Eine der Wurzeln der Pas­ sage bzw. des Warenhauses liegt vermutlich im orientalischen Basar 1, der im 19. Jahr­ hundert auch als Dekorationsmodell in vielen Warenhäusern diente. Allerdings war die Passage zur Zeit ihrer Blüte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch eher Zen­ trum des Kleinhandels 2, das sich aus einer Reihe Läden von Handwerkern und Händ­ lern zusammensetzte. Aber im kommerziellen, kapitalistischen Kontext der Passage wird die Funktion der Straße, die aus Handel und Verkehr besteht, durch die Reduktion des Verkehrs auf die des Handels konzentriert: „Sie ist nur die geile Straße des Handels, nur angetan, die Begierden zu wecken. Weil in dieser Straße die Säfte stocken, wuchert die Ware an ihren Rändern und geht phantastische Verbindungen wie das Gewebe in Geschwüren ein.“ 3 Verlangsamung der Bewegung auf der Straße ist zugleich auch der genuine modus movendi des Flaneurs, der den Raum eher schlendernd durchstreift, die Blicke auf sich zu ziehen versucht und sich, so Benjamin, als Ware gibt, um hier eine zentrale Facette der Existenz im Kapitalismus mimetisch zu antizipieren. Wo sich der Bewegungsfluss verlangsamt, beginnt nun quasi naturgesetzlich die Ware das Terrain zu erobern und prägt eine zentrale Dimension in der Kommerzialisierung des urbanen Raums. Die Pas­ sage alten Typs entsprach bald nicht mehr den räumlichen Anforderungen, die sich durch die analog zur Konzentration der Produktion sich vollziehende Konzentration der Konsumption ergeben hatten. Émile Zola hat dem großen Warenhaus Bon Marché in seinem Roman Das Paradies der Damen 4 ein literarisches Denkmal gesetzt, indem er sehr früh die merkwürdigen Zusammenhänge der Verführungskraft der Ware und der Mechanismen des Verkaufs beschrieb. So verschlingt das Warenhaus des Gustave Mouret nach und nach den ganzen Häuserblock. Der mehrgeschossige Koloss aus Eisen, Marmor und Glas, in dem Mas­ sen von Angestellten unübersehbare Mengen von Stoff und Textilien verkaufen, bildet ein in sich geschlossenes System und weist zudem den Charakter einer Stadt in der Stadt auf. Die Warenelemente sind räumlich und sachlich in Bezirke mit jeweils be­ sonderer Eigenart aufgeteilt und bilden so eine Sozietät zwischen den Waren und ih­ ren Verwaltern. Das Warenhaus befindet sich in ständiger Ausdehnung, umgreift pro­ gressiv immer größeren Raum, zerstört die Konkurrenz sukzessiv und weckt immer neue Bedürfnisse der Kundschaft, um zugleich Mittel zu deren Befriedigung anbieten zu können. Zola gibt vor allem in der Beschreibung der Schaufenster die impressionis­ 128

tische Sicht seiner Zeit wieder, wo die einzelnen Dinge – Spitzen, Tuchballen, Paletots, Schaufensterpuppen, Samtmäntel – nicht mehr singulär erfasst werden, sondern sich vermischen und disparate Botschaften der Fülle aussenden. Zugleich erfasst Zola auch den Maschinencharakter des Warenhauses durch die Me­

Die Performation der Öffentlichkeit durch die Ware Und wie verlief die reale Geschichte dieses Warenhauses? 1852 eröffnete Aristide Bouci­ cault in Paris ein kleines Einzelhandelsgeschäft namens Bon Marché und versuchte drei neue Geschäftsideen zu realisieren.6 Die Handelsspanne jedes einzelnen Artikels sollte klein sein, dafür die Menge der umgesetzten Artikel groß. Jeder Artikel sollte einen festen, ausgezeichneten Preis haben: Jedermann sollte ohne Kaufzwang das Ge­ schäft betreten können, um sich darin umzusehen. Die Idee des Festpreises war nicht ganz neu, doch war bis in die letzten Jahre des ancien régime das Verteilen von Handzetteln mit festen Preisen für Waren verboten. Der neue Festpreis hatte einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die Kauferfahrung, da er die gesamte mit dem Kaufakt verbundene Theatralik des Feilschens von Käufern und Verkäufern überflüssig machte. Vorher traten diese als Schauspieler an die Öffent­ lichkeit, um in Gebärden der gespielten Entrüstung und der Schmerzensausdrücke das Drama eines Kaufs zu zeigen. Denn in der Anthropologie des Tausches stehen am Ende von Produktion und Verteilung ohne festen Preis die Pose, die Übervorteilung und die Taktik, um die Schwäche des Gegenübers auszumachen. Das Wechselspiel zwischen den beiden Akteuren erzeugte eine soziale Verbindung und zwang zur aktiven Teilnahme; hatte aber letztlich aufgrund des hohen Zeitauf­ wandes für die erforderlichen rhetorischen Spiele nur bei geringen Warenmengen einen Sinn. Die Massenproduktion der Waren erforderte jedoch einen schnelleren Absatz, der ein Festpreissystem erforderlich machte, zumal die Unternehmer ihren zahlreichen Angestellten nicht zutrauen konnten, so geschickt und motiviert zu feil­ schen wie sie selbst. Eine weitere notwendige, urbane Voraussetzung zu dieser Entwicklung bestand in der Veränderung der Verkehrssysteme, der Errichtung großer Straßen wie der Pariser Boulevards, der Einführung des öffentlichen Verkehrs, der erst die Ansammlung der Masse benötigter Konsumenten ermöglichte. Die Errichtung eines Warenhauses ren­ tierte sich erst jenseits einer bestimmten Umsatzgröße 7 und konnte auch erst in einer verkehrsmäßig erschlossenen Großstadt realisiert werden. Die Standardisierung der Waren beruhte auf Gütern mittlerer Qualität mit einer geringeren Gewinnspanne als früher, die jedoch durch den erhöhten Umsatz und die höhere Kaufkraft der Arbeiter und Angestellten kompensiert wurde.

Warenöffentlichkeit durch Emotional Design

tapher einer mit Hochdruck arbeitenden Maschine, die unter ständigem Schnauben ihre Kunden verfeuert und sie der Kasse zuschleudert, indem sich auch die Frauen der Kraft und der Präzision des Räderwerks unterwerfen. Die sinnliche Ausstrahlung des Warenhauses besteht aus einer Mischung aus Helligkeit, Dichte, Vibration, Hitze und Lärm und unterliegt einem energetischen Taktwechsel mit einem täglichen Anlaufen und einer Steigerung bis zum Überdruck bis zur allmählichen Verebbung. Benjamin be­ merkt auch: „Zum ersten Mal mit der Gründung der Warenhäuser begannen die Konsu­ menten sich als Masse zu fühlen. (Früher lehrte sie das nur der Mangel.) Damit steiger­ te sich das circensische und schaustückhafte Element des Handels außerordentlich.“ 5

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Die Mystifizierung der Ware durch Sympoesie Sennett sieht einen Zusammenhang zwischen der neuen Passivität des Käufers, der nicht mehr zu handeln braucht, und der veränderten Rolle der Ware, die durch die Auslösung von Assoziationen bei den Käufern den Anreiz zum Konsum bewirken. Denn durch die spektakelhafte Präsentation der Waren und durch die Kombination mit exotischen Gegenständen ließen sie aufgrund der so eintretenden gegenseitigen Stützung den reinen Gebrauchscharakter in den Hintergrund treten. Die ständige Su­ che der Warenhausbesitzer nach exotischen nouveautés sollte banalen Gebrauchs­ gegenständen zu Attraktivität aufgrund eines Warenappeals der Fremdheit, Aura und Exotik verhelfen. Die Mystifizierung der Ware führte zu weiteren Inszenierungen der Warenhaus­ besitzer, die Schaufenster einließen und sie mit aufwendigen Dekorationen versa­ hen. Das überraschendste Ergebnis dieser Entwicklung der Besetzung der Ware mit persönlichen Empfindungen und der Rolle des passiven Beobachters bestand in der Etablierung eines neuen Glaubhaftigkeitscodes der Ware. Durch die Auslösung von Assoziationen, die nicht unmittelbar mit dem Gebrauchswert der Ware in Verbin­ dung standen und die von Marx als Warenfetischismus bezeichnet wurden, konnte ein Bild der Gräfin X , das neben einem zehn Francs­Kleid aufgehängt wurde, diesem Stück plötzlich eine Aura des Aristokratischen verleihen.8 Töpfe und Pfannen konnten durch die Aufstellung in der Dekoration eines orientalischen Harems den Reiz der Exo­ tik erwerben. Marx sprach in diesem Zusammenhang des Produktes von einer „gesell­ schaftlichen Hieroglyphe“, da sie aufgrund der Assoziationen, die nichts mit dem Ge­ brauchswert der Ware zu tun hatten, die realen Produktionsbedingungen der Arbeiter verschleierte. Heute tritt uns diese Kritik wieder in Gestalt der „No Logo“­Bewegung und ihrer Kritik an den Arbeitsbedingungen der Arbeiter in der Dritten Welt in Er­ scheinung, auch wenn es für uns heute praktisch unmöglich ist, von dieser uns so selbstverständlichen Konzeption der Ware zu abstrahieren, vor allem auch weil wir uns heute von den Waren weniger denn je durch ihren Gebrauchswertcharakter an­ sprechen lassen. Durch die affektive Besetzung der Ware und die Passivität des Beobachters entstand eine neue Form der Öffentlichkeit, die auf der Grundlage von äußeren Erscheinungs­ bildern als Signalen des individuellen Charakters basierte. Die Ware entwickelte sich zum scheinhaften Ausdruck der Persönlichkeit des Käufers und der Käuferin, ein Pro­ zess, der nur deshalb funktionieren konnte, weil die Warenzeichen von den anderen als Hinweis auf den inneren Charakter aufgefasst wurden. Im 19. Jahrhundert formier­ te sich die neue Wissenschaft der Ethologie im Versuch, diesen kleinen Zeichen und Signalen der Persönlichkeit nachzugehen, um daraus auf das Verhalten der Menschen schließen zu können. Die Vermessung der Schädelformen, die Neigung der Handschrift, die Bewegung der Gesichtsmuskeln beim Weinen oder im Zorn, wie sie Darwin in einer Studie untersuchte, oder Carlyles in Sartor Resartus entwickelte Theorie der Kleider als Gleichnisse der Seele, sie alle sind als Bemühungen einer Entschlüsselung der Masken der Menschen zu sehen, weil nun die Masken zu Gesichtern geworden waren. Die Maske wurde nun als integraler Teil des Charakters aufgefasst, sie war Ausdruck eines Selbst. Zum Verständnis der relevanten Psychodynamik muss man in das 18. Jahrhundert zurückblenden, denn damals hatte ein Kleidungsstück noch nichts mit der inneren Empfindung des Trägers zu tun, es war ein konventionalisiertes Kennzeichen des so­ 130

Das Metadesign der neuen öffentlichen Sitten. Die Persönlichkeit im 19. Jahrhundert Die Mystifizierung der Ware setzt ein bestimmtes Bewusstsein voraus, das erst durch ein Menschenbild, wie es durch den Begriff der Persönlichkeit verdeutlicht wird, fruchtbar werden kann. Nach heutigem Verständnis denkt man bei diesem so selbst­ verständlichen Begriff an eine quasi anthropomorphe Facette des Menschen, die zu al­ len Zeiten Bestand hatte, und unterschlägt dabei den Umstand, dass die „Persönlich­ keit“ in der Geschichte der Autonomieentwicklung bzw. der Ausformung des Selbst erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts massenhaft Gestalt annahm. Die Entwicklung der Rolle der Persönlichkeit in der öffentlichen Sphäre korreliert mit der Geschichte der Säkularisierung und beginnt zu dem Zeitpunkt, als der Glau­ be an eine objektive Naturordnung durch eine auf die persönliche Wahrnehmung und Erfahrung begründete Weltsicht ersetzt wird, die zugleich eine deutliche Verstärkung des Selbst mit einem Wichtignehmen der eigenen Empfindungen notwendig macht. Der Glaube an die Richtigkeit der eigenen Wahrnehmung und Gefühle tritt an die Stel­ le des älteren Glaubens an die Natur, als man die Menschen noch nicht als Persönlich­ keit, sondern allenfalls als unterschiedliche Typen nach der Temperamentenlehre mit einem „natürlichen Charakter“ betrachtete. „In ihr trat an die Stelle einer Ordnung der Natur die Einordnung der natürlichen Erscheinungen. Die ältere Naturordnung wurde dadurch glaubhaft, dass sich jeder Tatsache und jedem Ereignis ein fester Platz in ei­ nem umfassenden System zuweisen ließ; die Einordnung natürlicher Erscheinungen gewann ihre Glaubhaftigkeit schon auf früherer Stufe, dort, wo sich eine Tatsache aus sich heraus verstehen ließ und deshalb real erschien. Die Naturordnung verwies auf säkuläre Transzendenz, die Einordnung natürlicher Erscheinungen auf säkuläre Im­ manenz. Die Persönlichkeit war Ausdruck dieses Glaubens an eine Welt der immanen­ ten Bedeutungen.“ 9 Mit diesem Satz deutet Sennett, vermutlich unter Bezug auf Ernst Cassirers Philosophie der Aufklärung, den Wandel von der Anschauung einer durch eine feste Naturordnung definierte Welt, die aufgrund ihrer Derivation von der Schöpfungs­ geschichte noch absolute Verbindlichkeit und Transzendenz ihrer Erklärungen erzeug­ te, hin zum Glauben an die Richtigkeit der persönlichen Wahrnehmung und ihrer Ver­ arbeitung durch die Einbildungskraft, die auf reiner Immanenz beruht. Der subjektive Grad in der Festigung der Anschauung war naturgemäß im ers­ ten Fall wesentlich höher, da das Immanenzprinzip einen permanenten empirischen Nachweis der Richtigkeit des eigenen Urteils verlangt, der vielfach größter Ungewiss­ heit unterliegt. Von diesem Zeitpunkt der Genese der Persönlichkeit an diente Wis­ senschaft als Immunisierungsmittel und Ersatz der Religion, und die Konzentration der gesamten Kultur und Kunst galt seit der Romantik immer mehr dem unmittel­ bare Dasein des Menschen. Erleben und Erfahrung wurden zur Grenze dessen, was der Mensch glauben konnte, daher mussten Unmittelbarkeit, Empfindung und Konkretion

Warenöffentlichkeit durch Emotional Design

zialen Ranges, allenfalls in hohen sozialen Rängen konnte man innerhalb dieses kon­ ventionellen Rahmens mit der eigenen Erscheinung spielen. Hingegen konnte einem gegen Ende des 19. Jahrhunderts das richtige Kleid, auch wenn es von der Stange kam, das Gefühl geben, dass man züchtig oder verrucht sei; die Kleider waren nun ein Aus­ druck des Selbst geworden. Und Ähnliches galt sogar für einen simplen Topf, der sich nur in einem Schaufenster mit der Dekoration der geheimnisvollen Küche des Orients befinden musste.

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zu den einzigen Feldern der Anschauung werden, die eine Gewissheit der Verhältnis­ se und ein Wissen um die Richtigkeit der Dinge möglich machte. Die paradoxe Ent­ wicklung bestand nun aber darin, dass die Entmystifikation der Natur und der Götter durch eine Remystifikation der eigenen Existenz kompensiert wurde, die sich in der Aufladung des eigenen Lebens mit Bedeutung vollzog und zu einem Gebilde führte, das mit dem Begriff der Persönlichkeit beschrieben werden kann. Die Persönlichkeit wird nun in das System des Glaubens an die Immanenz als kom­ plementäres Element eingeführt. „Persönlichkeit“ wurde im vorletzten Jahrhundert zur Schlüsselkategorie, um die dem menschlichen Leben immanente Bedeutung zu be­ greifen. So wie man „die Familie“ als feste biologische Formation in der Geschichte zu betrachten pflegte, begann man sich „Persönlichkeit“ als eine menschliche Konstante vorzustellen. Mit dem Verlust der Religion und des Glaubens an eine absolute Natur ge­ wann die Unmittelbarkeit von Empfindung und Wahrnehmung an Gewicht; die Phä­ nomene erschienen nur mehr im unmittelbaren Erleben als real. Die Menschen ihrer­ seits neigten dazu, die Unterschiede zwischen den unmittelbaren Eindrücken, die sie beieinander weckten, immer wichtiger zu nehmen und sie als Grundlage ihrer gesell­ schaftlichen Existenz zu verstehen. Der unmittelbare Eindruck, den ein einzelner, von anderen unterschiedlicher Mensch hervorrief, galt als Indikator seiner „Persönlichkeit“. Die Persönlichkeitsauffassung des 19. Jahrhunderts unterschied sich grundlegend von der alten Idee des natürlichen Charakters, die im Sinne der Temperamentenlehre noch jeden Menschen mit einem natürlich vorgegebenen Charakter ausgestattet sah, der eine fixe charakterliche Disposition aufgrund des Temperaments mit sich brachte, denn während der natürliche Charakter als gemeinsamer Besitzstand der Menschheit angesehen wurde, differiert die Persönlichkeit von Mensch zu Mensch. Bei der Anschauung des natürlichen Charakters, wie sie im 18. Jahrhundert noch vorgeherrscht hatte, gab es noch keine Differenz zwischen dem äußeren Erscheinungs­ bild der Gefühle und dem inneren Wesen des Menschen. Man war der, als der man er­ schien. Zum Verständnis muss noch eingefügt werden, dass neben den Merkmalen des natürlichen Charakters innerhalb der ständischen Gesellschaft ein Erkennen des Ranges der jeweiligen Person auch aufgrund der Kleiderordnungen sehr leicht möglich und ein „updressing“ zum höheren Stand schwerst verpönt war. Hier herrschte eine große Stabilität zwischen dem sozialen Rang und den äußeren Zeichen. Diese soziale Identität zwischen Innen und Außen bedurfte noch keiner Konstruktion des Selbst im Sinne einer Persönlichkeit. Erst mit der Wandlung der Erscheinung vollzog sich auch ein Wandel des Selbst. „In dem Maße, wie der Glaube der Aufklärung an ein allen Menschen Gemeinsames untergeht, wird ein Zusammenhang zwischen dem Wechsel der äußeren Erschei­ nung und der Instabilität der Persönlichkeit hergestellt. (9a) Während der Bürger des 18. Jahrhunderts noch durch relativ stabile Identitätsbeziehungen gekennzeichnet war, beruhte die Identität der nachrevolutionären Persönlichkeit auf der Wahl seiner selbst. Er wählte jene Dinge aus, die er aufgrund seiner eigenen Urteilsfähigkeit als authen­ tisch erachtete. Und er versuchte seine Persönlichkeit nach diesen Kriterien zu gestal­ ten, im Wissen, dass auch die Wahrnehmung seiner Person den gleichen Regeln unter­ liegt, nach denen er selbst die Welt sieht. Daher wurde das Verständnis der Person durch die Analyse der Einzelheiten von Kleidung, Sprache und Verhalten erlangt. Die äußere Erscheinung stand in keiner Dis­ 132

tanz zum Selbst, sondern gab Hinweise auf die Empfindungen, zugleich aber tran­ szendierte das Selbst nicht mehr seine Erscheinung, sondern war auf sich selbst in sei­ ner weltlichen, säkularen Dimension reduziert. Kleider haben nach Carlyle „unsagbar große Bedeutung“, weil der äußere Eindruck, den jemand hervorruft, dessen authen­ tisches Selbst nicht verbirgt, sondern zumindest teilweise erkennbar macht.“ Die Persönlichkeit wird nun zur neuen Kategorie in der öffentlichen Sphäre des 19. Jahr­ hunderts und bringt Passivität, Mystifikation der äußeren Erscheinung und des zwi­ schenmenschlichen Austausches. Die Passivität ergibt sich nach Sennett aus der Rol­ le des Beobachters, der sich aus strategischen Gründen in der Öffentlichkeit bedeckt halten muss, um seine Interessen zu verbergen und die Zeichen der anderen zu stu­

Balzacs Vie Elégante und die Physiologie der Toilette Die Verbindung des säkularen Glaubens an die Persönlichkeit mit dem Kapitalismus der Industriegesellschaft erhält durch das Werk von Balzac eine literarische Darstel­ lung, die auch den Soziologen interessieren muss. Die Befreiung des modernen Men­ schen von traditionellen Pflichten und Bindungen verrückt den alten Maßstab bzw. führt zur Maßstabslosigkeit, indem nun kleine moralische Verderbtheiten, Kränkun­ gen, Anflüge gedankenloser Grausamkeit eine moralische Absolutheit erlangen, weil durch den Wegfall der alten Standards die Zeichenhaftigkeit jeder Handlung große psychologische Folgen auslösen kann. Der Handelnde, der nur seinen Ambitionen un­ terworfen ist, muss jede Einzelheit wahrnehmen und interpretieren, da die Entlastung des transzendentalen Prinzips verlorengegangen ist. Für Balzac reift die Menschheit nun in der Großstadt heran und bietet damit den Grund, die Stadt Paris als einen Ort des sozialen Werdens zu studieren, ohne auch die niedrigsten Eigenarten zu vergessen. Die ambivalente Haltung Balzacs aus Liebe und Abscheu zu Paris ergibt sich aus der Analyse der äußeren Erscheinungen in jedem ihrer Details. Der Charakter und die Persönlichkeit eines Menschen verraten nicht nur etwas über die Details der Persön­ lichkeit, sondern über die Gesellschaft als Ganzes. Jede Figur, jede Szene wird zu einer Chiffre der sozialen Ordnung. „In den Romanen von Balzac ist das Geflecht der Einzelheiten so angelegt, daß all­ gemeine gesellschaftliche Kräfte nur in dem Maß Bedeutung erlangen, wie sie in in­ dividuellen Fällen widergespiegelt werden können.“10 Balzac kann also zeigen, dass allgemeine gesellschaftliche Kräfte den einfachsten Szenen des Alltags innewohnen, die unter normalen Umständen kaum sichtbar gemacht werden können und nur durch seine Meisterschaft ans Licht gelangen. Das Allgemeine kann nur durch die Analy­ se der Konstellation psychologischer Symbole vor Augen geführt werden, die auf un­ scheinbaren, bedeutungslosen Details beruhen. Diese Art von Darstellung erzeugt den Eindruck, dass die ganze Stadt von Informationen mit geheimer Bedeutung überquillt. Zudem vollzieht sich durch die Aufblähung der Details und die Verwandlung in ein Miniaturbild der Gesellschaft ein Verlust der Beständigkeit der Wahrnehmung und Passivität. Auch die Kleidung spielt in Balzacs Werken eine wichtige Rolle. „Im Ancien Régime hatte jede Klasse der Gesellschaft ihre Tracht. Man erkannte den Herren, den Bürger, den Handwerker an seinem Habit. […] Schließlich wurden die Franzosen völlig gleich in ihren Rechten und auch in ihrer Toilette und der Unterschied in Stoff und Schnitt

Warenöffentlichkeit durch Emotional Design

dieren.

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unterschied sich nicht mehr nach ihren Verhältnissen. Wie sich nun auskennen in­ mitten dieser Uniformität? Durch welches äußere Zeichen den Rang des Individuums unterscheiden? Von nun an wurde der Krawatte eine neue Bestimmung gegeben. Von diesem Tag an ist sie ins öffentliche Leben getreten; Sie hat eine soziale Wichtigkeit er­ langt, denn sie war aufgerufen, die völlig ausgelöschten Nuancen der Toilette wieder­ herzustellen, sie wurde das Kriterium, wonach man den Mann „comme il faut“ und den Mann ohne Bildung erkennen konnte.“11 Die Kleidung verrät nicht nur den Charakter des Trägers, sondern sie hat auch ma­ gische Wirkung, indem sie bei Veränderungen den Träger glauben macht, dass er sich selbst verändert habe. Die Charakterveränderungen der Kleidung führen bei Balzac zu einem eigenartigen Motiv: „Die äußere Erscheinung ist zur Maske geworden, die dem Menschen, der die Maske trägt, die Illusion eines eigenständigen, festen Charakters verschafft, während er doch in Wirklichkeit nur Gefangener seiner augenblicklichen Erscheinung ist. Dahinter steht das große Thema des 19. Jahrhunderts: Die Angst vor der unwillkürlichen Charakteroffenbarung. Eine Grenze zwischen dem inneren Cha­ rakter und der augenblicklichen äußeren Erscheinung ist nicht erkennbar; wenn sich also die äußere Erscheinung verändert, so offenbaren sich jedem genauen Beobachter auch die inneren Wandlungen. Maskierung gibt es nicht; jede Maske ist ein Gesicht. Immanenz der Persönlichkeit, Unbeständigkeit der Persönlichkeit, unwillkürliche Of­ fenbarung der Persönlichkeit – Balzac zeigt diese Dreiheit als Gefängnis.“ 12 Die Zerstückelung der Hauptstadt aufgrund der klassenmäßigen Differenzierung wurde zu einer bürgerlichen Erfahrung, während die Arbeiter an die Grenzen ihres Quartiers gefesselt waren. Balzac hat die ganze Stadt im Blick. Die gesellschaftlichen Beziehungen sind in den Details der persönlichen Erscheinung eingelassen. Die Waren­ produktion und das Warenhaus beruhen auf der Personalisierung dieser gesellschaft­ lichen Verhältnisse. „Es gab einmal einen Mann, der vorgab, er könne am Ausdruck der Gestalt erkennen, aus welchem Viertel die Passanten kämen, denen er begegnete: Die­ ser Nebenerbe des Doktor Gall und Lavaters wusste anhand der Nuancen der Physio­ gnomie die schwere ländliche Langeweile des Jardin des Plantes von der eleganteren und zivilisierteren der Tuilerien zu unterscheiden, das affektierte Gähnen des Boule­ vard du Gand vom methodischen Gähnen der Petite­Provence. Nach ihm gab es in jedem Viertel eine Atmosphäre, einen Einfluss, dem man sich unmöglich entziehen konnte, und jemand, der von der Rue Mouffetard oder der Place Maubert käme, könnte es nicht verhindern, in seinen Gesten, in seiner Körperhaltung, in seiner Kleidung, im Ton seiner Stimme etwas Gewöhnliches und Triviales zu haben, das ihn beim Pilgern im Quartier Latin verriet.“13 Frederick Worth – added value durch frühes branding Infolge der vermeintlichen und realen Lesbarkeit der Zeichen der Mode entstanden eine defensive Haltung in Kleiderfragen und ein Niedergang um 1840. In der glanz­ losesten Dekade in der Geschichte der Damenmode wurde der weibliche Körper in plumpe Gewandung gepresst, und auch die Kleidung des Mannes zeichnete sich durch seltene Farblosigkeit aus. Durch die enorme Aufwertung des Erscheinungsbildes und den Glauben, daraus den Charakter des Mitmenschen erkennen zu können, wurde die Kleidung aus Gründen der Vorsicht, aber auch aufgrund neuer industrieller Techniken immer homogener und einförmiger. Wie verlief also dieser Weg zur der Einförmigkeit 134

der Kleidung, und warum konnte trotz der zunehmenden Neutralität der Glaube an die Möglichkeit des Charakterablesens weiter bestehen? Die Uniformität entstand durch die Technik der Nähmaschine. Seit ihrer Einfüh­ rung um 1825 konnte man zur Massenproduktion der Kleidung übergehen, und 1857 wurde in Paris durch den Engländer Frederick Worth der erste Modesalon eröffnet, der auch maschinelle Fertigungsmethoden anwandte. Schnittmuster machten nun die

Unterschiede im Erscheinungsbild zwischen Oberklasse und Bürgertum subtiler. Da­ mit wurden die Bedingungen geschaffen, die zur Geburt der Marke führten, denn auf­ grund der allgemeinen Erschwinglichkeit und Zugänglichkeit der Mode bestand nun Bedarf an neuen Mitteln zur Differenzierung. Während vorher die Dame der Gesellschaft den Stoff auswählte und nach ihren Vorstellungen von der Modemacherin schneidern ließ, brachte Worth als erster in der Produktion den Schnitt des Kleides, das Material und die Muster des Stoffes zusammen und konzentrierte die Modeherstellung in einem Haus. Durch die Anfertigung von Mo­ dellen wurde das Unikat abgelöst und die serielle Produktion ermöglicht. Nun stellte die Trägerin des Kleides nicht mehr ihren eigenen Geschmack, sondern den ihres Mo­ demachers aus, sie wurde zu seinem Mannequin. „Während unter dem Ancien Régime die Königin Marie Antoinette die Künste der namenlosen Modemacherin Marie Bertin unter ihrem Namen vorführt und den eigenen guten Geschmack ausstellt, bezeugt die Kaiserin Eugénie den ihren dadurch, dass sie den seinen, den Geschmack von Worth trägt. Im Modehimmel strahlen nicht mehr die Namen einiger weniger Damen, son­ dern die Namen der Modemacher.“14 Der Modemacher avanciert zum Künstler:„Die Moden, die Gautier 1858 neugierig machten, die Baudelaire 1860 faszinierten und Mallarmé 1874 beschäftigten, waren allesamt Nebenprodukte des Hauses Worth. Mehr als irgendeinem einzelnen Dichter oder Maler gelang es Charles Worth, der Mode eine Aura zu verschaffen und sie als neue Kunst für die Moderne zu propagieren.“15 Worth macht aus einem Handwerk eine Kunst. 1840 kam er von London nach Paris, 1855 gewannen seine Kleider den ers­ ten Preis auf der Weltausstellung, 1858 eröffnete er sein erstes Modehaus in der Rue de la Paix, 1863 wurde er offizieller Ausstatter am kaiserlichen Hof und konnte auch des­ sen Fall unbeschadet überstehen. Er ist nicht nur der erste, dem die Zusammenlegung der Produktion gelang, sondern vor allem der erste, der die Schaffung eines eigenen Namens, einer eigenen Marke erreichte. Dies war nur einem Künstler möglich, der ein Werk herstellt, das durch die Unverwechselbarkeit des Stils gekennzeichnet ist. Worth trat mit dem Habitus des genialen, exzentrischen und inspirierten Künstlers auf und ließ sich in seinen Inszenierungen von Richard Wagner anregen, der seinerseits auf die Selbstporträts von Rembrandt’schen Posen und Kleidern rekurrierte.

Warenöffentlichkeit durch Emotional Design

Produktion komplizierter Kleiderformen auf technischem Weg möglich, sodass die ty­ pischen Vereinfachungen der Kostüme auf ihrem Weg von der innovativen Elite hin­ ab zum imitierenden Bürgertum, das nun ebenfalls guten Geschmack demonstrieren konnte, wegfielen. Aufgrund des Wegfalls dieser Vereinfachungen wurden jetzt die

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1 Walter Benjamin, Gesammelte Werke, Bd. V/ 1, Suhr- Bd. 6, Paris 1835. Zit. nach: Karlheinz Stierle, Der Mythos kamp, Frankfurt/Main 1991, S. 98 . 2 „All diese Passa- von Paris, dtv, München 1998 , S. 246. 3 Benjamin (wie gen und Höfe bergen eine besondere Bewohnerschaft Anm. 1), Bd. V/ 1, S. 90. 4 Émile Zola, Das Paradies der von Arbeitern und Fabrikanten, die eine Menge von Ge- Damen, Hyperionverlag/Kurt Wolff Verlag, Leipzig/Müngenständen herstellt, die in der Welt des Handels un- chen 1927. 5 Benjamin (wie Anm. 1), S. 90. 6 Hrant ter dem Namen Artikel aus Pariser Herstellung bekannt Pasdermadijan, Das Warenhaus. Entstehung, Entwick­ sind: wie Schmuck aus Eisen und vergoldetem Kupfer, lung und wirtschaftliche Struktur, Westdeutscher Verlag, Bronzen, Fächer, Regenschirme, Handschuhe, Strohhü- Köln 1954 . 7 „Umsatz des Bon marché von 1852 – 1863 te, Kunsttischlerarbeiten, Kurzwaren, Posamentierwaren, von 450000 frc auf 7 Millionen frc gestiegen.“ Benjamin Federn, Blumen, Papparbeiten, Brieftaschen, Spielwaren, (wie Anm. 1), S. 107. 8 Richard Sennett, Verfall und Ende Knöpfe, Hosenträger, Siegellack usw.“ (S. 105) „[…] einem des öffentlichen Lebens, Fischer, Frankfurt/Main 1990, Limonadenhändler, vier bis fünf Modistinnen, zwei oder S. 191. 9 Ebd., S. 196 . 9 a Ebd. 10 Ebd., S. 205 . 11 Hodrei Hutmachern, einem Damenschuster, einem Stiefel- noré de Balzac, Traité de la vie élégante, Comédie hu­ schuster, drei Kurzwaren- und Parfümhändlerinnen, ei- maine, Bd. XII , Gallimard, Paris 1981, S. 259. Zit. Nach nem Korsettgeschäft, einem Spazierstock- und Regen- Stierle. 12 Sennett (wie Anm. 8), S. 207. 13 Honoré de schirmhändler, einem Maronenhändler, einem Depot für Balzac, „La jeunesse française“, in : Œuvres complètes platiniertes Geschirr, einer oder zwei Konditoreien, vier de Honoré de Balzac, Bd. XXI , Œuvres diverses, Callmann Schneidern, zwei Juwelieren, einem Papiergeschäft, ei- Levy, Paris 1879, S. 216. 14 Barbara Vinken, Mode nach nem Geschäft für Kinderspielzeug, einem Musikhändler, der Mode, Fischer, Frankfurt/Main 1993, S. 27. 15 Sima einem Optiker, einem Graveur, zwei Lektürekabinetten, ei- Godfrey, „Haute Couture and Haute Couture“, in: Denis ner fahrbaren Toilette und einem Lebensmittelhändler.“ Hollier (Hrsg.), A New History of French Literature, MA (S. 109), aus: Auguste Luchet, Nouveau Tableau de Paris, 1989, S. 768 .

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Der Flaneur. I . Stadtforscher avant le temps Der große Transformationsprozess der Öffentlichkeit, der sich seit dem späten 18. Jahr­ hundert vollzogen hat, hatte neben der Neuformatierung aller Lebensbereiche auch einen besonderen Typus von Persönlichkeit hervorgebracht, der nun eine gewisse Katalysatorfunktion des Urbanen erfüllte, indem er selbst eine Rolle der Vermittlung innerhalb der neuen städtischen Masse einnahm. Diese Masse des 19. Jahrhunderts konnte nicht mehr durch die öffentlichen Institutionen, wie die des Cafés, des Theaters oder anderer öffentlicher Räume der Begegnung, einen Ausdruck des Gemeinsamen finden, weshalb sie nun die Straße, das Warenhaus oder andere Vergnügungsräume bevölkerte. „Schon das Straßengewühl hat etwas Widerliches, etwas, wogegen sich die menschliche Natur empört. Diese Hunderttausende von allen Klassen und aus al­ len Ständen, die sich da aneinander vorbeidrängen, sind sie nicht alle Menschen, mit denselben Eigenschaften und Fähigkeiten, und mit demselben Interesse, glücklich zu werden? […] Und doch rennen sie aneinander vorüber, als ob sie gar nichts gemein, gar Nichts miteinander zu thun hätten, und doch ist die einzige Übereinkunft zwischen ihnen die stillschweigende, daß jeder sich auf der Seite des Trottoirs hält, die rechts von ihm liegt […] Die brutale Gleichgültigkeit, die gefühllose Isolierung jedes einzel­ nen auf seine Privatinteressen tritt umso widerwärtiger und verletzender hervor, je mehr die einzelnen auf den kleinen Raum zusammengedrängt sind.“ 1 Dieses Zitat, das Benjamin aus Engels Bericht über die arbeitende Klasse in England entnommen hat, zeigt schon das isolierte Verhältnis des Einzelnen in der Masse zueinander, in das der Flaneur insofern, zumindest scheinbar, Eingang findet, als er einen Hohlraum schafft, den er durch Beobachtung und Beschreibung ausfüllt. Der Flaneur ist damit nicht nur ein Stadtforscher avant le temps, sondern auch jemand, der vermeint, einen objektiven Ausdruck für diese Verhältnisse finden zu können. So zumindest die Vorstellung von Benjamin, indem er unter Bezug auf das berühmte Porträt von Constantin Guys, das Baudelaire in Der Maler des modernen Lebens verfasste, den Maler­Flaneur als das Me­ dium der Stadt bezeichnete, der tagsüber sein Leben in der Masse verbringt, seine Ein­ drücke körperlich aufsaugt und abends diese Bilder des Urbanen ins Werk transfor­ miert.2 Es ist der Aufenthalt in der Masse, der nach der geschichtsphilosophischen bzw. informierten Medientheorie Benjamins die Transmitterfunktion einer Objektivierung der Verhältnisse möglich macht. Émigration intérieure Die postrevolutionäre Gesellschaft von Frankreich hat einen neuen Typus von Verlier­ er geschaffen: den Aristokraten in der émigration intérieure. Es war klar, dass einem jungen Aristokraten nach der Revolution nicht mehr die Welt in der Weise offen stehen konnte, wie es zuvor der Fall gewesen war, als noch das System der uneingeschränk­ ten Meritokratie herrschte, demzufolge höhere Ämter nur an verdienstvolle Personen von adeliger Herkunft vergeben worden waren. Nun mussten junge Aristokraten zu­ schauen, wie ungestüme revolutionäre und bürgerliche Parvenüs von größter Vulga­ rität höchste Ämter kraft bestimmter Tüchtigkeiten und Eigenschaften besetzten, die 137

noch nie zum Kanon der erstrebenswerten aristokratischen Qualitäten gezählt hatten. Juristen und Physiokraten gaben nun den Ton an, die Errungenschaften der Revolution kamen hauptsächlich der Entwicklung bürgerlicher Freiheiten zugute, deren Hauptziel eher im schnellen Reichtum denn in einer Verwirklichung der edlen Revolutionsideale bestand. Die neue Egalität der Gesellschaft war nur die Basis für die Schlacht um den sozialen Aufstieg, der allerdings vielfältige Formen neuer Ungleichheiten begründete. Die Aristokratie war in den Jahren nach der Revolution von der Teilhabe an der postre­ volutionären Gesellschaft weitgehendst ausgeschlossen, der junge Aristokrat war nun als jemand zu bezeichnen, der nichts mehr werden konnte. Doch selbst als nach einer Phase der gesellschaftlichen Reintegration der Aristo­ kratie und der Wiedererlangung vieler Ämter in der Restaurationszeit zwischen 1815 und 1830 im Jahre 1830 die Familien des alten französischen Adels aufgerufen wurden, dem neuen König Louis Philippe den Treueeid zu schwören, da verweigerten dies viele. Erneut traten sie von ihren Ämtern zurück und zogen sich auf ihre Landsitze zurück, um nicht einer Clique von Neureichen durch ihre Zustimmung moralische Unterstüt­ zung zu gewähren. Denn Louis Philippe, obzwar selbst ein Spross des Hauses Orléans, war für sie zum Repräsentanten eines neuen bourgeoisen Zeitalters geworden, in dem Börsenspekulanten und korrupte Juristen den Ton angaben. Der freiwillige Rückzug der alten großen Familien aus der Öffentlichkeit wurde als émigration intérieure be­ zeichnet. Dieses völlig neue Verhaltensmuster einer freiwilligen Machtaufgabe und eines Rückzuges aus der Welt, zumindest aber von der Stadt aufs Land, übte große Faszination auf viele jüngere Menschen aus, die in der neuen Industriegesellschaft ebenfalls ein Gefühl der Entfremdung verspürten. Merkmale dieser neuen Stimmung bestanden in einer Ironisierung des Karrieredenkens und aller dazugehörigen Am­ bitionen auf das Studium oder den Beruf. In der Zeitschrift Caricature gab der junge Daumier sein Debüt, indem er den König als Birne zeigte, die als neuer Gargantua un­ ablässig mit Körben von Geld genährt werden musste, und diese Differenz zwischen reicher Kost und geringer geistiger Kapazität sichtbar machte. So vollzog sich ein radi­ kaler Bruch des Ehrgeizes bei vielen Mitgliedern einer Jahrhunderte währenden Elite, die trotz ihrer Ausstattung mit Erziehung und Intelligenz nun nichts mehr werden wollte. Allerdings konnten die Aristokraten nicht voraussehen, dass durch diesen frei­ willigen Rückzug nun auch die eigenen Werte, die auf Tradition und Wahrung der Ge­ schichte beruhten, einer zunehmenden Verunsicherung ausgesetzt wurden, und die erhoffte Festigung der eigenen Integrität verkehrte sich in das Gegenteil eines Ver­ lustes der Verankerung. Wer nicht reich genug war um von den Erträgen seiner Güter zu leben, befand sich in einer schwierigen Lage, denn er konnte sich kein standesge­ mäßes Leben mehr leisten, hatte den Anschluss an die eigenen Traditionen verloren ohne in der neuen Gesellschaft je heimisch geworden zu sein. Aristokratisches Ehr­ gefühl und die Vorstellungen angeborener Superiorität waren nicht mit einem durch­ schnittlichen bürgerlichen Leben, das nur dem Erwerbsstreben gewidmet ist, verein­ bar. Dies waren die psychodynamischen Voraussetzungen für den Aufstieg einer funda­ mentalen Figur in der Geschichte der Urbanität, die als Vorläufer des Flaneurs bezeich­ net werden kann, des Dandys.

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Der Dandy Das Ideal des Aristokratischen kann hier nur in Bezug auf Geist und Empfinden gel­

ebenfalls die Absurdität des Verhaltens aus, wenn er bestimmten Details der Kleidung und des Aussehens eine besondere Vorrangstellung einräumt. „Darum auch besteht, in seinen Augen, denen es vor allem um Distinktion geht, die Vollkommenheit des An­ zugs in der absoluten Einfachheit, die in der Tat immer noch die beste ist, sich zu unter­ scheiden.“ 3 Wenn jedoch der heutige Leser dem Irrtum anheim fallen möchte, diese Eigenschaft des Dandys bereits durch den Erwerb eines Designeranzuges mit mini­ malistischer Machart annehmen zu können, sollte er sich auch die folgenden Gebote zu Herzen nehmen. Diese Bindung an augenscheinliche Trivialitäten des Äußeren ist das Merkmal eines ungewöhnlichen Menschen, der unter allen Umständen, selbst in Todesgefahr seinen Stil zu wahren weiß. „Ein Dandy mag ein blasierter Mensch, auch ein leidender Mensch sein; in letzterem Fall jedoch wird er lächeln wie der Lakedämo­ nier unter dem Biß des Fuchses.“ 4 Die Einhaltung dieser starren Forderung im Geist der Stoa ist „eine tägliche Übung zur Stärkung der Willenskraft und zur Zucht der Seele.“ Diese Forderung nach der Aufrechterhaltung der Doktrin der Eleganz und Originalität legt ihren Anhängern die furchtbare Formel auf: Perinde ac cadaver! 5 „Ob diese Männer sich Raffinés, Incroyables, Beaux, Lions oder Dandies nennen, alle haben den gleichen Ursprung; allen eignet der gleiche Charakter des Widerspruchs und der Auflehnung; alle sind Vertreter dessen, was das Beste am menschlichen Stolz ist, des bei den Heutigen allzu seltenen Bedürfnissen, die Trivialität zu bekämpfen und sie zu vernichten. Dem entspringt, bei den Dandies, diese hochmütige Attitude einer herausfordernden Kaste, unbeschadet aller Kaltsinnigkeit. Der Dandyismus erscheint vor allem in Übergangszeiten, wenn die Demokratie noch nicht allzu mächtig, wenn die Aristokratie ins Wanken geraten ist und ihre Würde noch nicht gänzlich einge­ büßt hat.“ 6 Der Dandy ist jemand, der keine Hoffnung auf die Kraft des öffentlichen Diskurses setzt, der überhaupt nicht an die Möglichkeit öffentlicher Vermittlung glauben kann, da seine Haltung des aristokratischen Stolzes damit nicht zu vereinen ist. Dies drückt auch schon sein Habitus aus, der im Vorhinein alle Illusionen der sympathischen Be­ gegnung abwehrt. „Die besondere Schönheit des Dandy liegt vor allem in dem Aus­ druck der Kälte, der dem unerschütterlichen Entschluß entstammt, sich nicht rühren zu lassen; als glimme da ein Feuer, das sich höchstens andeutet, das zwar auflodern könnte, sich dessen aber enthält.“ 7 Für den Dandy, den Benjamin für den letzten Hel­ den in einem bürgerlichen Zeitalter hält, besteht bekanntlich nach der Geschichts­ philosophie Hegels in der bürgerlichen Gesellschaft gar keine Verwendung mehr, weil er derjenige ist, der die historische Aufgabe hatte, durch außergewöhnliche Taten Un­ ordnung in Ordnung zu verwandeln, eine Aufgabe, die nun vom Staat selbst übernom­

Der Flaneur. I. Stadtforscher avant le temps

ten und entwickelt eine eigene Form des Ausdrucks, den Dandy. Der Dandy steht in der Kontinuität der aristokratischen Tradition, was ihn zum Aristokraten macht, ist das, was ihn anspornt oder nicht anspornt. Um das Leben hat der Krieger keine Angst, während er sehr um seine Ehre besorgt ist. Die Ehre kann unter Umständen den Ein­ satz von Besitz und Vermögen notwendig machen, das Leben kann wegen einer Tri­ vialität im Duell aufs Spiel gesetzt werden und es ist gerade die Absurdität der Sache, die ihre Pointe ausmacht. Im Dandy spiegelt sich noch etwas von diesem Heldentum, denn ihn zeichnet

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men wurde und Heldentum nicht mehr notwendig macht. Im Gegenteil, der Held stört das moderne Getriebe, denn von Ehrsucht getriebener Tatendrang ist aufgrund sei­ ner Unruhestiftung und Dysfunktionalität unerwünscht. Ähnliches gilt für den Dan­ dy. Seine Unangepasstheit in einer bourgeoisen Gesellschaft, die seiner Vorstellung von Ehre aufgrund ihrer Falschheit, Raffgier und Würdelosigkeit nicht entsprechen kann und in der er kein bloßes Rädchen abzugeben bereit ist, verschließt ihm die Pforten bür­ gerlicher Karriere, öffnet ihm aber die Stadt zu einer neuen Existenzform, der flânerie. Leser der Stadt. Frühe Flaneure Die flânerie selbst ist eine der Boheme verwandte Lebensweise und kommt erstmals in einer Literaturgattung, die Benjamin als panoramatisch bezeichnet, zur Erschei­ nung, in der die Stadt und sämtliche ihrer Physiognomien beschrieben werden. Diese zunächst eher kleinbürgerlich orientierte Literatur, die das bürgerliche Leben Revue passieren lässt, ging erst langsam in die Form des gehobenen Feuilletons über, in dem die großen Literaten Frankreichs wie Hugo, Balzac und Baudelaire an die Öffentlich­ keit traten. Diese Literaturgattung der physiognomischen Beschreibung stammt be­ reits aus dem 18. Jahrhundert und beruht auf einer Grunderfahrung der Stadt, jener der Fremdheit. In der Stadt begegnet einem der Andere grundsätzlich als ein Frem­ der, als eine Erscheinung, die nicht sofort einzuordnen ist, sondern die erst wie ein Bild gelesen werden muss, um Spuren der Identität oder Geschichte zu erkennen. Die Dichte der Information, die in der Stadt gelesen werden kann, um die Wahrnehmung in ihrer Gesamtbedeutung, die sich erst durch die Zusammenhänge erschließt, zu er­ fassen, bedarf einer Analyse der Zeichen. Die Fremdheit setzt schon in der Nachbar­ schaft ein, wo man den Tod eines Nachbarn oft erst durch die Begräbnisanzeige er­ fährt, wie schon von Mercier Ende des 18. Jahrhundert erwähnt.8 Im Kapitel „Blindheit“ beschreibt Mercier andere Erfahrungen der Anomie, wie die des blinden Aneinander­ Vorübergehens, und nimmt damit Baudelaires Gedicht A une passante vorweg. „Man geht aneinander vorüber ohne sich zu kennen. Diese Frau, die zu diesem Mann passen würde und die sein Glück ausmachen könnte, wird von ihm hart gestoßen ohne über­ haupt wahrgenommen worden zu sein. Jene Person, die eine Seele besitzt, die in Sym­ pathie zu unserer steht, verläßt einen Kreis oder eine Versammlung im selben Moment, wo wir getroffen hätten, was wir seit so vielen Jahren vergeblich suchen.“ 9 Es ist die Verdammnis der großen Stadt einander zu sehen ohne sich zu kennen. Das Potential der Menschen, die einem nur im Modus der Fremdheit begegnen, kann nur in seiner Abwesenheit erkannt werden, das Sichtbare verweist immer auf das Unsichtbare. Stets werden wir mit unbekannten Lebensvorgängen, mit einer besonderen Geschichte und spezifischen Moral konfrontiert, die nur aus den Spuren heraus lesbar ist. Daher bedarf es des Beobachters, der an der Kleidung den Handwerker, Bürokraten, Arbeiter oder den Provinzler erkennt, der aus der Physiognomie die verborgenen Leidenschaften und Schicksale erkennt und bei dem darüber hinaus alles Erscheinende in einem großen, unbegreiflichen Zusammenhang steht, der den Geist der Stadt ausmacht. Für den Be­ obachter der Stadt wird alles ein Zeichen für das Ganze und seinen widersprüchlichen und unbegreiflichen Gesamtsinn. Im Tableau de Paris wird diese Semiotik der Stadt in allen Details festgehalten. Die Beschreibung geht auf das Einzelne in allen seinen Ver­ bindungen zum Allgemeineren ein und ordnet diese den entsprechenden Serien zu. Durch die Metapher wird es wie im Falle des Pars pro Toto ein Teil, der für das Ganze 140

steht, durch die Metonymie wird zwar auf etwas anderes verwiesen, das aber eben­ falls in einer indirekten Beziehung zum Ganzen der Stadt steht. Die Stadt wird in ihre kleinsten Einzelteile zerlegt und neu geordnet. Der Leser der Tableaus erfährt die Stadt noch einmal und erkennt die Ungenügsamkeit seiner Wahrnehmungen, da er das Ver­ borgene nicht gesehen hat. So wird der Leser auf ein höheres Niveau ästhetischer Erfahrung gehoben und kommt damit zu einer Steigerung und Intensivierung des Bewusstseins, indem die Stadt mit dem eigenen Lebenszusammenhang verbunden wird. Denn Mercier fügt

Der philosophische Flaneur Die moderne Stadt hat kein feststehendes Zentrum mehr, daher kann prinzipiell im Moment der Betrachtung und Entschlüsselung alles zum momentanen Zentrum wer­ den. Die Zeichen der Stadt befinden sich im Modus der Verdeckung und verweisen im­ mer auf ein prinzipiell Abwesendes, das erst zu enthüllen ist. An dieser Stelle kommt die Figur des Stadtphilosophen ins Spiel. Im antiken Athen war zwar das religiöse Zen­ trum der Akropolis mit Absicht abseits von der Agora errichtet, damit sich das öffent­ liche Leben ungestört auf dem Marktplatz und unter der Stoa abspielen konnte und die Demokratie nicht in ungesundem Ausmaß dem Kult verfallen konnte. Die Stadt Athen aber wurde nicht mehr durch ein Zentrum und den Priester repräsentiert, sondern das Zentrum der Agora verwies durch seine demokratischen Institutionen der Versamm­ lung auf die reale Präsentation des Volkes, das sich selbst darstellte und daher keiner Repräsentation bedurfte. Sprachlich wurde die Stadt jedoch durch den Philosophen auf den Begriff gebracht, der im Dialog mit philosophisch informierten Bürgern seine The­ sen entwickelte. In Paris, der Stadt ohne Zentrum, in der nun aber alles grundsätzlich zum Zentrum werden konnte, bedurfte es einer neuen Generation von Stadtphiloso­ phen, die sich nun eher als Leser der Verhältnisse verstanden, denn das dialogische Prinzip war in der unübersehbar großen Stadt ohne Agora zum Scheitern verurteilt. Anstelle des Zentrums setzte der Philosoph den Geist, den Zeitgeist, der für eine tem­ poräre Verdichtung von Kultur und Geist steht, und der nun Form und Richtung des Denkens bestimmte. Nur der Denker, der Philosoph ist in der Lage, das Chaos der Stadt zu entziffern und ihren Zeichen die angemessene Bedeutung zu verleihen. Diese Dia­ phanie des Stadtgeistes kann sich mangels Zentrum nun überall in der Stadt vollzie­ hen, ist nicht vorhersagbar und erfordert höchste Mobilität und Wachheit. Dies sind

Der Flaneur. I. Stadtforscher avant le temps

auch Kritik an Missständen an, macht praktische Verbesserungsvorschläge oder ap­ pelliert an die öffentliche Meinung in Fragen der Gestaltung und steht damit völlig in der Tradition des Diskurses der Aufklärung. Mercier entwickelt ein Bewusstsein für den Sinn der Stadt, indem er ständig vom Zufälligen und Besonderen ausgeht, um es dann in den größeren Zusammenhang einzubringen. Das Disparate wird einer Klas­ se oder Gattung zugeordnet, oder zumindest einer Serie zugeteilt, um auf eine höhe­ re Stufe der Logik der städtischen Verhältnisse zu gelangen. In gewisser Weise geht Mercier in seinen Texten bereits auf die fragmentierte Wahrnehmung des Städters ein, weil er ständig neue Aspekte der städtischen Realität wie eine moderne Stadtzeitung aufgreift und sich damit dem Modus der zerstreuten Wahrnehmung des urbanen Le­ sers anpasst. Es handelt sich um den Zustand der Geistesgegenwart, der im Leser die ständige Bereitschaft für ein neues Abenteuer aufgrund einer neuen Konfiguration der Verhältnisse eröffnet.

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die Bedingungen, die die Existenz des Flaneurs möglich und notwendig machen, denn nun wird ein Philosoph in Bewegung verlangt, der sich die Stadt zu Fuß erschließt, um ihren Zeichen zu folgen und sie zu lesen. Die Philosophen der Antike hielten sich in der Akademie oder in der Stoa auf und hatten ihre Stadt fest im Blick, sie führten Dialog miteinander; Platon ließ in Der Staat Sokrates im Gespräch mit Glaukos als den Füh­ rer der Stadt bzw. des Staates bezeichnen. Von solchen Ansprüchen kann der moder­ ne Philosoph höchstens träumen, wenn er sich auf seinen Wanderungen in der Stadt befindet, um sich das fremde Terrain anzueignen. Die moderne Stadt hat ihr Zentrum, ihre Mitte verloren und kann daher nicht mehr auf die durch Tradition geprägte urba­ ne Perzeptionsweise der prärevolutionären Zeit rekurrieren. Denn der Flaneur kann die Stadt nicht mehr im Ganzen denken, sondern er wird mit dem philosophischen Geist einer dezentrierten Stadt konfrontiert, die ihm aber aufgrund seiner Präferenzen und Lebensumstände dennoch zur Heimat wird: „Es sind gerade die großen Städte, die der Philosoph liebt, obwohl er sie verdammt, denn dort verbirgt er sein mediokres Schicksal besser und braucht auch nicht mehr darüber zu erröten; denn er lebt dort freier in der Masse verloren; denn er findet mehr Gleichheit in der Vermischung der sozialen Stände; denn dort kann er sich seine Lebenswelt aus­ suchen und sich der Dummen und Lästigen entledigen, was man an kleinen Orten nicht vermeiden kann; er findet dort auch ein reicheres Material zur Reflexion; Alltags­ szenen werden seinen zahlreichen Erfahrungen hinzugefügt; die Vielfalt der Objek­ te liefert seinem Genie die Nahrung, die es braucht.“ 10 Mercier deutet hier bereits die prekäre soziale Position des Philosophen an, der unter den kleinbürgerlichen Lebens­ verhältnissen leidet und sich für diesen Mangel an Stil nur durch die Vitalität einer in­ spirierenden Umgebung zu entschädigen weiß, wo sich Geist, Luxus und ambiguente Moral zu einem permanenten Schauspiel verbinden. Es gab übrigens noch einen Punkt der Stadt Paris, wo sich die Verhältnisse in solchem Maße verdichten, dass man diesen Ort beinahe als ein Zentrum des Geistes bezeichnen könnte, das Palais Royal, das schon Diderot als Szenerie des Le Neveu de Ra­ meau beschrieben hatte. Mercier schwärmte schon davon als dem einzigartigen Punkt auf der Erde, wo selbst ein Gefangener erst nach vielen Jahren an die Freiheit denken würde. Nirgendwo sonst könne man Konversation mit derartiger Lebhaftigkeit betrei­ ben und wer einmal in den Genuss dieser Unterhaltungen gekommen sei, wolle nicht mehr in die profanen Zirkel gewöhnlicher Menschen eintreten. Ein Geheimnis dieses Erfolges des Palais Royal, das direkt neben dem Louvre liegt, beruhte auf einer neuartigen Vermischung aller Schichten. Ursprünglich wurde das Palais von der Familie d’Orléans als ein rechteckiges Gebäude, das einen Park um­ schließt, errichtet. Im Erdgeschoß wurde es von offenen Kolonnaden eingesäumt und der Park wurde durch eine lange, hölzerne Galerie, der galerie du bois, in zwei Hälften getrennt. Durch die Freigabe zu kommerzieller Nutzung durch die Herzöge von Or­ léans entstand nun direkt neben dem Louvre ein Haus, das Cafés, Bordelle und Spiel­ casinos, Läden, die mit gebrauchten Kleidern handelten, Leihhäuser und zwielichtige Börsenmakler enthielt. „Ein junger Mann, der gerade sein Wochengehalt in den Armen eines geschlechtskranken Freudenmädchens verloren hatte, mußte nur den Blick über die hölzerne Galerie auf den Westflügel des Palais Royal richten, um im ersten Stock­ werk vielleicht den Anblick des Herzogs von Orléans zu erhaschen, der an einem der hohen Fenster stand und das profitable Treiben beobachtete.“11 142

Ein neuer Typus des Flaneurs ist jener philosophische Stadtspaziergänger, der auf den Transport im öffentlichen Omnibus verzichtet und die Stadt zu Fuß erschließt. Er ist nicht auf jene Form der Entfernung aus, die vom Verkehrsmittel ermöglicht wird, sondern der Weg ist mit dem Ziel identisch. Die oppositionelle Haltung zur gesell­

Der Detektiv Diese Entschlüsselung bleibt aber ein zentrales Motiv des Flaneurs, das auf die Phy­ siognomiker wie Gall und Lavater zurückgeht. „Sie versicherten, jedermann sei von Fachkenntnis ungetrübt, imstande, Beruf, Charakter, Herkunft und Lebensweise der Passanten abzulesen. Bei ihnen scheint diese Gabe als ein Fähigkeit, die die Feen der Großstädter in die Wiege legen“, daran schließt Benjamin die Frage an: „was sind die Gefahren des Waldes und der Prärie mit den täglichen chocs und Konflikten in der zivilisierten Welt verglichen? Ob der Mensch auf dem Boulevard sein Opfer unterfaßt oder in unbekannten Wäldern seine Beute durchbohrt – bleibt er nicht hier und dort das vollkommenste aller Raubtiere.“12 Je mehr Menschenkenntnis, desto besser die Chance nicht zu den Düpierten zu zählen. Die beunruhigende und bedrohliche Seite des städtischen Lebens zeigt sich, wo die gegenseitige Unbekanntheit auch einen Kon­ trollverlust des Verhaltens der städtischen Masse nach sich zieht. Sie erscheint nach Polizeiberichten als ein Asyl, das den Asozialen vor seinen Verfolgern schützt. Sie steht, nach Benjamin, im Zentrum der Detektivgeschichte. „In Zeiten des Terrors, wo jedermann etwas vom Konspirateur an sich hat, wird auch jedermann in die Lage kommen, den Detektiv zu spielen.“13 Dies ist die Bestimmung des Flaneurs, der durch seine Kunst der Beobachtung eine Anwartschaft zum Detektiv erworben hat. Baudelaire hat – wie Benjamin ver­ merkt – durch das Übersetzen der Detektivgeschichten Edgar Allan Poes diese für die Gattung adoptiert und in sein eigenes Werk aufgenommen. Denn Poe hat erstmals

Der Flaneur. I. Stadtforscher avant le temps

schaftlich verordneten Beschleunigung des Bürgers, der jeder Verzögerung mit Unge­ duld begegnet, wird ihm zu einem Grundprinzip. Aus der ihm erwachsenden Fülle der Zeit vermag er manche banale Erscheinung des Augenblicks trotz ihrer Flüchtigkeit wahrzunehmen und in den Horizont seines Stadtbewusstseins zu rücken. Auch hier gilt das Prinzip der Vernetzung durch die Zeichen, die stets auf anderes verweisen und wo jedes eine Erinnerung wachruft. Nun beobachtet man aber auch einen Flaneur, der nur mehr wegen der Zerstreuung lebt und in der Wahrnehmung des Besonderen aufgeht, ohne eine Verbindung zum All­ gemeinen zu suchen. Diesem Flaneur ist die Kunst des Lesens der Zeichen und Spuren fremd. Wenn er einmal aus Müdigkeit einen Spaziergang unterbricht und in eine öf­ fentliche Bibliothek eintritt, so wird er in seiner Verlegenheit höchstens einen Robin­ son Crusoe verlangen. Seine Lektüre beschränkt sich auf das Lesen der Programme von Theatern, die er nie besucht. Vor den Auslagen der Buchhändler hält er mechanisch an, um die Illustrationen eines Buches zu betrachten. Satirische Bücher und Pamphlete liest er in mehreren Sitzungen, während er immer wieder in Buchhandlungen einkehrt. Allerdings liegt auch hier der Schwerpunkt im zerstreuten und gedankenverlorenen Erfassen dessen, was zufällig ins Blickfeld gerät, und im Unterschied zum philoso­ phisch informierten Flaneur hat er kein Interesse an einer Entschlüsselung der Zei­ chen oder an der Verknüpfung von Signifikat und Signifikans, um das Abwesende zu ermitteln und das Verdeckte zu enthüllen.

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neue Methoden der wissenschaftlichen Erzählung, der modernen Kosmogonie und der Darstellung pathologischer Erscheinungen angewandt. Die Ergebnisse dieser Analy­ sen werden von Baudelaire übernommen. „Als disjecta membra kennen die Fleurs du Mal drei von ihren entscheidenden Elementen: das Opfer und den Tatort („Une mar­ tyre“), den Mörder („Le vin de l’assassin“), die Masse („Le crepuscule du soir“). Es fehlt das vierte (der Detektiv, Anm. d. A.), das dem Verstand erlaubt, diese affektschwangere Atmosphäre zu durchdringen. Baudelaire hat keine Detektivgeschichte verfaßt, weil die Identifikation mit dem Detektiv ihm nach seiner Triebstruktur unmöglich gewe­ sen ist.“14 Der urbane Raum als Tatort Der urbane Raum wird somit neu formatiert, indem er den Ort der Tat einrahmt und bestimmt. Der Tatort bildet ein neues Zentrum. Aus der Masse spalten sich zwei Ele­ mente ab, das Opfer und der Täter, die durch eine verbrecherische Handlung verbun­ den sind. Der soziale Raum der Stadt wird durch mehrere komplizierte Operationen be­ stimmt. Das Eintauchen des Täters in die Masse, die gleichzeitige Suchbewegung des Detektivs, der sich ebenfalls in der Masse befindet und nun in eine neue Handlungs­ beziehung zum Täter eintritt. War jedoch das alte Zentrum ein Raum des Vertrauens aufgrund seiner Sakralität, sind diese neuen temporären Zentren, die sich aus der Si­ tuation der Tat ergeben, Mittelpunkte eines Raumes der Drohung und der potenziellen Panik. Offen bleibt nur noch die Frage, welcher Substanz man sich zugehörig fühlt, der des Verbrechens oder der des Beobachters, wobei die erstere die Dimension der Kraft bedeutet, während der Beobachter die Rolle des Teufels einnimmt. Ein zentrales Motiv der Detektivgeschichten besteht im Verwischen der Spuren des Einzelnen in der Menge der Großstadt. Davon handelt die berühmte Erzählung Poes Der Mann in der Menge. Diese Geschichte ist von allen umrankenden Stoffen befreit und auf ihre reine Handlungsstruktur von drei Elementen reduziert. Der Verfolger, die Menge und ein Unbekannter, der sich immer in der Mitte zwischen den beiden aufhält. Die­ ser Unbekannte stellt einen neuen Typus von Flaneur dar, dem es in seiner eigenen Gesellschaft nicht geheuer ist und der deshalb die Menge sucht. Die Eingangssitua­ tion der Geschichte spielt sich in einem Londoner Café an einer der belebtesten Stra­ ßen ab, wo der Erzähler sitzt und seine Aufmerksamkeit dem bewegten Leben auf der Straße widmet. Diese Blicksituation von innen nach außen durch die Glasscheibe lässt sich als die Urszene in der Geschichte des Flaneurs und geradezu als die ontologische Grundsituation der Moderne bezeichnen. Denn hier wird der neue räumliche und kör­ perliche Zusammenhang zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten beschrie­ ben. Der urbane Raum wird damit zu einem sozialen Medium, das vorwiegend über optische Kommunikation erschlossen wird. Beim Erzähler handelt es sich in Poes Ge­ schichte um einen Rekonvaleszenten, der sich nach langer Krankheit erstmals wieder in der Öffentlichkeit befindet und das Leben auf der Straße begierig in sich aufnimmt. Die Wahrnehmung kommt nicht zur Ruhe, sondern wird immer mehr durch den Blick auf die Straße angestachelt. Sie verläuft zunächst von oben nach unten, das heißt sie selektiert nach sozialer Klasse: „Es waren zweifellos Leute der besseren Stände: Kauf­ herren, Notare, Börsenspekulanten und sonstige Geschäftsleute – Müßiggänger und andere […]“15, dann folgen die Angestellten zweier verschiedener Klassen, die Kommis der großen Reklamefirmen und die Angestellten alter solider Häuser, bis er schließlich 144

auf die Taschendiebe, Gewohnheitsspieler, Hausierer, Bettler, Invaliden, Prostituier­ ten, Kuchenverkäufer, Packträger, Kaminfeger, Kohlenträger, Orgeldreher, Affenfüh­ rer, Bänkelsänger, zerlumpten Künstler und erschöpften Arbeiter zu sprechen kommt. Mit zunehmender Dauer des Abends wächst das Interesse an den Erscheinungen fieberhaft an, das künstliche Gaslicht tritt an die Stelle des Tageslichtes und die Be­ leuchtung ruft schaurige Effekte auf den Gesichtern der Passanten hervor. Die Welt des real beobachtbaren Sozialen verliert sich im Zwielicht der abendlichen Gasbeleuch­ tung und der Übergang in eine andere, unbekannte Sphäre steht unmittelbar bevor.

Der Beobachter als Teufel Der Monotheismus und hier zunächst das Christentum postulieren eine Welt, in der es einen göttlichen Ursprung der Schöpfungsgeschichte gibt und daher die Vorstellung eines zweiten Ursprungs oder eines zweiten Gottes radikal ausschließt. Die Existenz des Bösen in der Welt wird zunächst nicht einem Fehler in der Schöpfung eines unge­ schickten Demiurgen, wie es die gnostische Tradition behauptet, sondern der mensch­ lichen Freiheit des Willens zugeordnet, die im Modell des Engelsturzes prototypisch vorgegeben ist. Bei Augustinus ist dieser Sachverhalt ausführlich beschrieben. „Fragt man aber nach der Ursache der Unseligkeit der bösen Engel, zeigt sich klärlich nur eine, die Abkehr von dem, der zuhöchst ist, und die Hinkehr zu sich selbst, die nicht zuhöchst ist. Wie soll man diesen Fehler anders bezeichnen als Hochmut?“ 17 Im En­ gel Luzifer bildete sich erstmals ein Wille aus, der in der Revolte einer Wegdrehung oder Abwendung von Gott und allem, was dieser Ordnung zugehört, gipfelt. Er ent­

Der Flaneur. I. Stadtforscher avant le temps

Nun folgt der Moment, wo die geheimnisvolle Hauptfigur eines älteren Mannes mit einem Gesicht, das einen Künstler an die Darstellung Satans gemahnen müsste, vom Erzähler durch das Fenster erblickt wird und er von einem unwiderstehlichen Verlan­ gen nach Bekanntschaft erfüllt wird, das ihn zur Verfolgung des Mannes anstiftet. Der Fremde verfolgt einen rätselhaft und ziellos scheinenden Gang, ist von größter Unruhe erfüllt. Planloses Hin­ und Hergehen wechselt mit dem Betrachten der Auslagen mit einem wilden und starren Blick. Nachdem die Verfolgung erneut das Café erreicht hat, von dem sie ihren Ausgang genommen hat, aber bald darauf weitergeht, erkennt der Erzähler zunehmend, dass der Fremde nur das Ziel hat inmitten der Menge zu sein und bei zunehmender Ruhe der Stadt ein immer tieferes Eintauchen in die Welt des Elends und Verbrechens benötigt, um die Menge zu finden, die er zum Leben braucht. Die Jagd geht bis zum nächsten Morgen weiter und setzt sich nach der dritten Ruhepause im gleichen Café bis zum Abend fort, ehe der Erzähler seine Verfolgung aus schwerer Er­ schöpfung abbricht. Das Rätsel des Fremden hat er nicht gelöst, er weiß aber, dass es sich um einen Verworfenen handeln muss, der, von inneren Qualen getrieben, nicht zur Ruhe kommen kann. Er „ist die Verkörperung, ist der Geist des Verbrechens. Er kann nicht allein sein. Er ist der Mann in der Menge […].“ Aber diese Erscheinung eines bösen Herzens ist unergründlich, „und vielleicht ist eine der Barmherzigkeiten Gottes, daß es sich nicht lesen läßt“.16 Das Drama des Fremden bleibt unerkannt, ebenso sei­ ne Qualität als Faszinosum, die bis zur Selbstaufgabe gehen kann. Diese Unlesbarkeit ließe sich als ein Einbruch des Unheimlichen der Stadt interpretieren, wo etwas auf­ grund seiner Unerträglichkeit nicht zur Sprache kommen kann. Es zeigt aber auch das ungeklärte Verhältnis zwischen dem Beobachter und der Masse, das in der Tradition des Teufels steht.

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wickelt Eigensinn, löst die erhabene Einheit mit Gott und die Anschauung des Einen auf und verfällt in eine bösartige Privatheit. Dieses Ende einer Symbiose mit Gott, die­ ses Heraustreten aus der systemischen Geschlossenheit des Einen macht aber erst die Beobachterposition möglich. Er kann daher nach Luhmann erst auf diese Weise ei­ nen Standpunkt beziehen, von dem aus sich die Einheit der Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf erkennen lässt. „Der Versuch eine Grenze zu ziehen, um von der anderen Seite aus Gott und die Schöpfung zu beobachten, galt in der alten Welt als Fall des Engels Satan. Der Be­ obachter muß sich ja, da er das Beobachtete und anderes sieht, für besser halten und damit Gott verfehlen.“18 Der Beobachter ist daher aufgrund seines Heraustretens in das Außen erst in die topologisch notwendige Voraussetzung einer Beobachterposi­ tion geraten. Der Beobachter kann nur außerhalb der Situation stehen, so wie sich der Teufel vom großen Anderen wegdrehte und auf Selbstorientierung umstellte. Die Auf­ gabe der Einheit zwischen Schöpfer und Geschöpf bringt die Prinzipien des Abstandes und der Fremdheit in die Welt. Wie schon eingangs erwähnt, besteht ein Grundprinzip der Stadt in der gegenseitigen Fremdheit der Menschen. Die Masse ist nur eine Begeg­ nung einander zufällig begegnender Individuen, die nicht vereinigt sind, der Beobach­ ter derjenige, der nie zu einer Einheit mit ihnen finden kann und aus der christlichen Tradition des Sündenfalls heraus bestimmt wird, die in paradoxer Weise auch von der Systemtheorie bestätigt wird. Baudelaire hat diese Situation am besten verstanden und über neo­augustinische und Pascal’sche Denkmotive verinnerlicht, um sie in sei­ nem Werk zu äußern. Panikraum Die bereits angesprochene Eignung des städtischen Raumes zur beliebigen Hervor­ bringung von Tatorten kann jeden Ort betreffen. Jeder Raum birgt ein Potential zum Tatort, vor allem wenn er menschenleer und beunruhigend ist. Es sind vor allem die Unscheinbarkeit der Räume und die Abwesenheit von Handlung, der Umstand, dass sich nichts in ihnen tut, die sie gefährlich machen. „Der Glaube an die Anwesenheit feindlicher Mächte gehört dem Bereiche unserer tieferen Überzeugungen an. […] Aber was in den Traumlandschaften des Krieges gültig war, das ist auch in der Wachheit des modernen Lebens nicht tot. Wir schreiten über gläserne Böden dahin, und ununter­ brochen steigen die Träume zu uns empor, sie fassen unsere Städte wie steinerne In­ seln ein und dringen auch in den kältesten ihrer Bezirke vor. Nicht ist wirklich und doch ist alles Ausdruck der Wirklichkeit.“19 Der nächtliche Ausflug dreier berühmt gewordener Protagonisten des Surrealismus in Paris in den Park Buttes Chaumont mit dem Zwecke der Vertreibung ihres ennui ließ bereits vorher eine Fata morgana in ihren Köpfen erstehen. „Diese große Oase in ei­ nem von kleinen Leuten bewohnten Stadtviertel, einer anrüchigen Gegend, in der ein berüchtigtes Mordlicht herrscht, dieses verrückte, im Kopf des Architekten aus dem Konflikt zwischen Jean­Jacques Rousseau und den wirtschaftlichen Bedingungen des Pariser Lebens geborene Areal.“ 20 Die Vorstellung dieses Parks, dessen Einrichtung durch eine Mischung von sozialen und „grünen“ Motiven aber auch ökonomischen Einschränkungen der Kommune gekennzeichnet ist, scheint bereits alle Merkmale ei­ nes Panikraumes aufzuweisen. Nebenbei ist hier schon ein Phänomen zu beobach­ ten, das für viele öffentliche Grünräume gilt, die eigentlich aus Gründen der Hygiene 146

(Luft, Licht und Sonne für das Volk) errichtet wurden: sie weisen eine gleichermaßen erstaunliche Eignung zum Panikraum auf, deren Gründe im Dunklen liegen, vermut­ lich aber mit dem ungeklärten Verhältnis der modernen Masse zum Raum in Verbin­ dung stehen. Mit dem Taxi brechen sie abends auf und erreichen schließlich nach einer nächt­ lichen Fahrt durch düstere Arrondissements den Eingang: „Man kann sich vorstellen, in welche Stimmung die drei Gefährten in dem Augenblick geraten, als sie feststellen, daß das Tor der Buttes geöffnet ist […] sie erinnern sich an die große Selbstmörder­

1 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Menschen S. 105 – 128. 9 Ebd., Bd. 1, Chap. XCIV , Aveuglement, S. 173. in England, Leipzig 1848 , zit. nach Walter Benjamin, „Das 10 Ebd., Bd. 1, Chap. VI, Patrie du vrai Philosophe, Paris des Second Empire bei Baudelaire“,in: Walter Ben- S. 14 . 11 Richard Sennett, Fleisch und Stein, Berlin Verlag, jamin, Gesammelte Schriften, (hrsg. v. Rolf Tiedemann), Berlin 1995, S. 345 . 12 Benjamin (wie Anm. 1), S. 541 – 542. Bd. I/ 2 , Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 561. 2 Ebd., 13 Benjamin (wie Anm. 1), S. 543 . 14 Benjamin (wie S. 550; in einer Überarbeitung dieses Essays hat Benja- Anm. 1), S. 345. 15 Edgar Allan Poe, Erzählungen in zwei min diese Anlage des Flaneurs nach Poes „Mann in der Bänden, Bd. I, Nymphenburger Verlagshandlung, MünMenge“ wieder relativiert; über einige Motive bei Baude- chen 1965, S. 210. 16 Ebd., S. 220. 17 Aurelius Auguslaire siehe Benjamin (wie Anm. 1), S. 627. 3 Charles Bau- tinus, Vom Gottesstaat, Buch 12, Kap. 6., dtv, München delaire, Sämtliche Werke, Briefe, Bd. 5, Aufsätze zur Li- 1994 . 18 Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesell­ teratur und Kunst, Hanser, München/Wien 1989, S. 242. schaft, Bd. II ., Suhrkamp, Frankfurt/Main 1997, S. 848 . 4 Ebd., S. 242 . 5 Ebd., S. 243 . 6 Ebd., S. 244 . 7 Ebd., 19 Ernst Jünger, Das abenteuerliche Herz. Sämtliche S. 245. 8 Louis-Sébastien Mercier, Tableau de Paris, Bd. 1, Werke, Bd. 9, Essays, Klett-Cotta, Stuttgart 1979, S. 148 . Chap. XXII . Voisinage, Amsterdam 1783 , S. 38; vgl. Karl- 20 Louis Aragon, Der Pariser Bauer, Suhrkamp, Frankheinz Stierle, Der Mythos von Paris, dtv, München 1998 , furt/Main 1996, S. 151. 21 Ebd., S. 154 .

Der Flaneur. I. Stadtforscher avant le temps

brücke, von der, bevor man sie mit einem Gitter versah, sogar Passanten in den Tod sprangen, die das ursprünglich nicht vorhatten, die aber plötzlich vom Abgrund an­ gezogen wurden.“ 21 Das Wesen dieses Raumes liegt nicht in den dort tatsächlich ver­ übten Verbrechen oder der vermeintlichen Lebensgefahr der Besucher, sondern in der düsteren Atmosphäre, die er aufgrund von Gerüchten und Mythen über die dort statt­ findenden Verbrechen oder schauerlichen Ereignisse verbreitet. Dieser nur temporär von der Masse angeeignete Raum kann sich jederzeit in ein Areal des absoluten Nichts verwandeln, in das nun die Energien des Bösen einströmen. Es bedarf jedoch des Flaneurs zum Erspüren dieser Dämonie der von einer un­ persönlichen Gewaltsamkeit durchströmten Räume der Moderne, die ihre alte anth­ ropologische Struktur verloren haben und als homogene, dem Verwertungsprinzip unterworfene Räume erscheinen. Sie sind nunmehr unwirkliche Orte, die aus der Pro­ duktion des Raumes heraus gebildet werden, abstrakte Verwertungsinteressen wider­ spiegeln und jeder Tradition des Ortes beraubt wurden. Der Flaneur ist jemand, der noch in der Lage ist, Wesen und Charakter des Ortes jenseits seiner Bestimmung durch Kapitalakkumulation und Tauschwert zu erfassen, er ist derjenige, den der Raum nach Benjamins Diktum anblinzelt, um ihn zu fragen: „Was hat sich in mir zugetragen?“

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Abb. 8: Carl Ludwig Jessen, Pariser Café (1868/1889). Die frühe Darstellung eines Cafés, das zum Boulevard hin geöffnet ist und so den öffentlichen Raum nutzt.

Der Flaneur. II . Frühe Stadtsüchtige Gérard de Nerval. Der Erfinder der urbanen Abschweifung – Pérégrinations nocturnes Gérard de Nerval ist zunächst als einer der Begründer des Feuilletons zu bezeichnen, indem er als einer der ersten von seinen Reisen in den Orient, nach Südeuropa und Deutschland berichtete und die Erfahrung des Fremden und Imaginären einbrachte. In Voyage en Orient zeigte er Phantasie – und Nachtstücke aus Kairo, dem Libanon und Istanbul. In anderen Texten befasste er sich schon mit Facetten des urbanen Lebens von Paris wie der Hinterwelt des Pariser Theaters, einer obskuren Welt von Seiltän­ zern und Pantomimen, die auf dem abgelegensten Teil des Boulevard du Temple, auch „boulevard du crime“ genannt, angesiedelt war. Diese Welt des Schmierentheaters, die bereits durch das moderne Vaudeville überholt war, bot dem Archäologen des populä­ ren Theaters einen Blick auf das kärgliche und doch faszinierende Dasein einer artisti­ schen Zwischenwelt, die aus Féerie, Pantomime, Artistik und Puppentheater bestand. Hier wurde noch ein Theater für jene Illiterate geboten, die die Welt noch durch die Wahrnehmung eines Kindes betrachten konnten und den quasi unverdorbenen Blick des Volkes repräsentierten, ehe die Ablösung durch die neuen kleinbürgerlichen Unter­ haltungsmedien wie die des Vaudevilles erfolgte. Durch diese literarische Einübung in Berichte über Unbekanntes, die stets im Modus der Reise erschlossen wurde, wurde aus Nerval, dem pérégrin, dem Pilger ins Fremde zuletzt jemand, dem sein Reiseziel abhanden gekommen ist und dessen pérégrinations in divagations abgleiten. Er ist der literarische Erfinder der urbanen Abschweifung, die ihn zum programmatischen Ahn­ herren des dérive, zum Vorläufer der Surrealisten und Situationisten macht. Im Gegen­ satz zu seinen berühmten Nachfolgern ist er allerdings heute weitgehend vergessen. Ein weiteres, vorletztes Mal in seinem Leben nahm Nerval diese frühen Wande­ rungen, pérégrinations, die ihn in die dämmrigen Zonen der Stadt auf der Suche nach dem alten Theater geführt hatten, bevor dieses durch die Folies­Dramatiques zum Ver­ schwinden gebracht wurde, wieder auf und wählte sich für die „Oktobernächte“ dies­ mal neben einer Konfrontation mit der Pariser Nacht die Peripherie zum Thema. Genau handelt es sich um einen Bericht über eine Tour durch das nächtliche Paris und eine missglückte Landpartie.1 Er, der schon weite Teile der Welt befahren hatte, begnügte sich diesmal mit einer kurzen Reise in die unmittelbare Nähe der Vorstädte, die aber trotzdem dem weiten Publikum unbekannt waren. In diesem riesigen Territorium ei­ ner aus verschiedensten Vororten und Kleinstädten zusammenwachsenden Großstadt entdeckt de Nerval das Prinzip der Abschweifung. Sein Reiseplan sieht zunächst ganz einfach aus: zunächst mit der Eisenbahn ins nahe Meaux. Doch schon in Paris gerät sein Vorhaben durcheinander, weil der Fahr­ plan der Linie Paris­Straßburg geändert wurde. Während er also in der Wartezeit durch die Stadt spaziert, trifft er einen Flaneur und Nachtschwärmer, mit dem er in eine hei­ ße Diskussion über ein philosophisches Problem gerät, dass er prompt den Pferde­ Omnibus zum Bahnhof und somit auch den letzten Zug des Tages verpasst. Weil der 149

nächste Zug erst morgen Früh fährt, begibt er sich in ein Café, wo ihm zufälligerwei­ se ein Exemplar der Revue Britannique mit einem Stadtbild von Charles Dickens in die Hände gerät. Der Bericht über die Obdachlosen erfüllt ihn mit derartiger Faszina­ tion, dass er ihr phantastisches Leben nachmachen möchte, um damit ein Motiv für die nachfolgenden Abenteuer zu erhalten, da er davon ausgeht, dass die Realität des wirklichen Lebens jeden Roman übertrifft. Mit dem ihn begleitenden Flaneur gerät er als ein spectateur nocturne, als ein Wanderer mit seinem Schatten immer tiefer in das nächtliche Paris mit zahlreichen exotischen Aufenthalten, wie etwa am Montmart­ re, der damals noch ein Steinbruch und eine Unterkunft der Landstreicher war. Völ­ lig übernächtigt nimmt er schließlich den Frühzug nach Meaux, wo er aufgrund eines trostlosen Oktoberregens in ein merkwürdiges Café verschlagen wird, wo durch ein Plakat ein Schauspiel mit einem bizarren Naturwunder einer Frau mit roter Merino­ wolle am Kopf anstelle von Haaren angekündigt wird. Dieses Geheimnis muss ergrün­ det werden, man besucht die Vorstellung und der Abend endet in einem Saufgelage mit der Schauspieltruppe und einem Albtraum. Die Omnibuslinie nach Dammartin wird daher wieder verpasst, von wo aus der Autor nach Senlis zu Fuß weiter wollte, um von Senlis nach Creil mit dem Omnibus zu fahren, wo ihn ein Freund, ein limonadier zur Otterjagd erwartet, wie der Leser erst jetzt erfährt. Also bleibt nur die Linie nach Nanteuil, von wo man ebenfalls Senlis zu Fuß erreichen kann. Dort regnet es aber so stark, dass man den Umweg über Crespy­ le­Valois nehmen muss, wo ihn schließlich eine irrtümliche Verhaftung ereilt und er die Nacht im Gefängnis verbringt. Frühe dérives: divagations Der Rahmen von Nervals Oktobernächten wird durch den Raum der Peripherie von Pa­ ris geprägt, der durch ein Netz von Eisenbahnen und Pferdeomnibuslinien erschlossen wird und das einzig reale Element dieses Raumes darstellt, weil nur damit eine Verbin­ dung der heterogenen Teile ermöglicht wird. Wenn nun aber, wie durch den Ausbau der strahlenförmig ins Zentrum führenden Eisenbahnlinien das alte Omnibuswesen verfällt, gerät das gesamte Raum­Zeitgefüge ins Wanken: „Das Netz der Eisenbahnen hat den ganzen Verkehr in den dazwischenliegenden Landstrichen durcheinander gebracht. Der weitläufige Mischmasch der Orte nördlich von Paris entbehrt der direkten Verbindungen. Man muß mit der Eisenbahn zehn Mei­ len nach rechts oder achtzehn Meilen nach links fahren, um dann sein Ziel mittels Anschlusszügen zu erreichen, die noch einmal zwei oder drei Stunden brauchen, um einen in Gegenden zu befördern, wohin man früher in insgesamt vier Stunden ge­ langte.“ 2 Wer der Verbindungen (communications) beraubt ist, der fällt auch aus dem Netz, das den Großraum der Stadt zusammenhält und dieser neuen Stadt, die sich aus den zahlreichen Vororten zusammensetzt erst eine Wirklichkeit verleiht. Der Erzäh­ ler, der ständig durch Verspätungen oder Fahrplanänderungen sein Ziel verfehlt, wird aber durch das Warten in einen zweiten imaginären, aber vielleicht realeren Raum als das Paris der Eisenbahn­ und Omnibuslinien versetzt. Das Eintauchen in diese Sphäre, die als Folge der scheinbar zufälligen Konfrontation mit der Literatur von Dickens zu sehen ist, führen ihn zur Prägung des Begriffes der Abschweifung und er stellt selbst quasi programmatisch fest: „Gleichwohl steht am Anfang meiner Abschweifungen die Lektüre eines Artikels von Charles Dickens.“ 3 Er verwendet das Wort divagations für 150

Abschweifungen und weiß noch nichts davon, dass 100 Jahre später eine Gruppe von Künstlern ein ähnliches Verhalten mit dérive bezeichnen wird. Diese Abweichungen, die den Zugang zu neuen Welten eröffnen, finden zunächst im nächtlichen Paris statt. Auf das Umherirren am Montmarte bei den Obdachlosen folgt der Aufenthalt im Cafe der Blinden, das seinen Namen aufgrund der dort spiel­ enden, blinden Musikanten führt, weil sich dort während der Revolutionszeit Dinge abspielten, die selbst das Schamgefühl eines Orchesters hätten verletzen können, und wo diesmal der Ball der Hunde stattfindet. Anschließend geht man zum Rôtisseur, wo man Zeuge eines kleinen Dramas eines unglücklichen Alkoholikers wird, um sich da­ nach in die Hallen zu begeben, um dem Cidre zu später Stunde zuzusprechen. Schließ­ lich endet die Nacht bei Paul Niquet, ein kahles Etablissement, das alle gescheiterten Existenzen zu später Stunde vereinigt. Dieser Gang durch das nächtliche Paris, das

Charles Baudelaire. Der Künstler als Mnemotechniker. Der Flaneur und der Erinnerungsabdruck der Masse Constantin Guys ist ein Maler, ein Künstler­Flaneur, der nach Benjamin quasi als Me­ dium zwischen Baudelaire und der Masse vermittelt. Er wurde von Baudelaire in Der Maler des modernen Lebens als ein Beispiel für den Mann in der Menge im Sinne von E. A. Poes berühmtem Text beschrieben. „Hinter dem Fenster eines Caféhauses sitzt ein Genesender und betrachtet genußvoll die Menge; in Gedanken mischt er sich in alle Gedanken und Vorstellungen, die um ihn her wogen. Vor kurzem erst dem Schat­ tenreich des Todes entronnen, atmet er mit Wonne alle Keime und Ausströmungen des

Der Flaneur. II. Frühe Stadtsüchtige

eine neue urbane Dimension der Fremdheit und des Wahnsinns zeigt, wo die Rea­ lität des Lichtes und des Tages keine Geltung mehr haben, erinnert auch an Dantes Wanderung durch die Hölle. Zugleich ist es aber eine ständige Erinnerung an die un­ terschiedlichen Schichten der Realität, die die Großstadt selbst birgt oder durch die eigene Phantasie vermittelt. Schließlich endet der Gang durch Paris mit einem Alb­ traum: „Flure – endlose Flure! Treppen – Treppen, die Leute hinaufsteigen, hinuntergehen, wieder hinaufsteigen, und deren Fuß stets in ein schwarzes, von Rädern aufgewühltes Wasser unter riesigen Brückenbogen taucht.4 in einem Labyrinth von Gebälk. Hinauf­ gehen, hinuntergehen oder durch Flure hasten – und das mehrere Ewigkeiten lang. […] Sollte das die Strafe sein, zu der ich verdammt bin für meine Fehltritte? Ich würde lieber leben!!!“ 5 Die nuits d’octobre erschienen in der Zeitschrift L’Illustration Ende Oktober bis Anfang November 1852 in zunächst 26 Kapiteln. Kurz danach konnte er mit seinem Verleger einen Vertrag über ein weiteres Pariser Tableau das den Titel Les nuits de Paris tragen sollte. Nerval nahm allerdings als ruheloser Flaneur sein Vorhaben einer Mime­ sis der Obdachlosen und permanenten nächtlichen Exkursion zu ernst. Immer wieder musste er Aufenthalte in Nervenanstalten einlegen. Den Plan einer zweiten Orientreise musste er aufgeben, so verfasste er mit Aurélia noch einmal einen phantastischen Ro­ man, der zwar keine pérégrinations enthält, in dem aber Paris trotzdem den Schau­ platz eines Einbruches des Traumes in die Stadt darstellt. Kurz nach der Fertigstellung im Januar 1855 setzte er nach dem erfolglosen Versuch in einer frostigen Nacht Ein­ lass in einer üblen Absteige zu finden, seinem Leben durch Erhängen an einer Straßen­ laterne ein Ende.

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Lebens ein; da er im Begriff stand, alles zu vergessen, erinnert er sich und brennt vor Verlangen, sich aller Dinge zu erinnern.“ 6 Bereits hier wird prototypisch auf das Kon­ tinuum unserer Existenz, die ausschließlich zwischen Erinnern und Vergessen liegt, hingewiesen. Tagsüber taucht er in die Menge ein und empfängt die Stromstöße des modernen Lebens, sein Tageslauf kann als ein kontinuierliches Paris Gedicht gelesen werden. Im Blick des Künstlers wird die Stadt zur Landschaft: „Er betrachtet die Land­ schaften der Großstadt, steinerne Landschaften, die der Nebel liebkost oder die im scharfen Sonnenlicht liegen.“ 7 Doch erst wenn die Stadt zur Ruhe gekommen ist, be­ ginnt das wahre Leben von Guys als Künstler, in der Einsamkeit des nächtlichen Zim­ mers verwandelt er die flüchtigen Bilder des erlebten Tages in Kunst und hebt sie auf die Ebene ästhetischer Realität. „Und wenn die anderen nun schlafen, sitzt er über seinen Tisch gebeugt, denselben Blick auf das Papier gerichtet, den er soeben auf die Dinge geheftet hielt; er hantiert mit Bleistift, Feder, Pinsel, läßt das Malwasser bis zur Decke spritzen, wischt die Feder an seinem Hemd ab, eilig, heftig, aktiv, als fürchte er die Bilder könnten ihm entwischen, einsam, doch wie mit sich selbst im Streit liegend und sich selbst anfeuernd.“ 8 Die rezipierte Welt wird in einem geheimnisvollen Prozess der Transformation nach einer Auseinandersetzung zwischen dem inneren Bild und der ausführenden Hand, vor allem aber zwischen dem Vermögen des Gedächtnisses und des Willens im Medi­ um der Kunst manifestiert. „Und die Dinge erstehen wieder auf dem Papier, natürlich und mehr als natürlich, schön und mehr als schön, einzigartig und von begeistertem Leben erfüllt wie die Seele ihres Urhebers. Die Phantasmagorie ist der Natur abgewon­ nen worden. Alle Materialien, die das Gedächtnis gespeichert hatte, ordnen sich, fügen sich, klingen zusammen und gewinnen jene schwer errungene Idealisierung, die das Resultat einer kindlichen Wahrnehmung ist, das heißt einer geschärften und aufgrund ihrer Unbefangenheit magischen Wahrnehmung.“ 9 Hier wird ein Produktionsprozess dargestellt, in dem der Künstler durch Gedächtnisleistung zum Medium der Stadt wird. Dank seiner kindlichen, übersensiblen Wahrnehmungskraft wird der Künstler in die Lage versetzt, sich mit Wahrnehmungen vollzustopfen, die aufgrund ihrer Dichte und Intensität über den Prozess der Erinnerung wieder ins Bewusstsein und nach außen drängen, um aber jetzt in einer neuen, künstlerischen Seinsform zu erscheinen. Der Maler­Flaneur ist kein schöpferischer Geist, sondern er ist nur ein Aufnahmegerät, wie es dem Status des Mannes in der Menge entspricht. Benjamin erinnert an anderer Stel­ le daran: „Die Lebensweise des Bohémiens hat dazu beigetragen, einen Aberglauben an das Schöpferische in Kurs zu setzen.“10 Der Flaneur ist nur das Medium der Stadt, er transformiert die der Natur abgewonnenen Bilder ins Werk. Dennoch ist sein Bild nicht reine Wiedergabe, sondern er verfügt über die wesentliche Gabe die Essenz der Mode jenseits ihrer aktuell gültigen Bedeutung zu erfassen. Welche zeitlosen Erfah­ rungen lassen sich aus den flüchtigen Erscheinungen ablesen? „Für ihn geht es dar­ um, der Mode das abzugewinnen, was sie im Vorübergehenden an Poetischem enthält, aus dem Vergänglichen das Ewige herauszuziehen. […] Denn es ist sehr viel bequemer, alles in der Kleidung einer Epoche für absolut hässlich zu erklären, als sich darum zu bemühen, die in ihr enthaltene geheimnisvolle Schönheit zum Vorschein zu bringen, wie gering und beiläufig sie auch ist. Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchti­ ge, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwan­ delbare ist.“11 Indirekt handelt es sich hier um frühe Aussagen zur Nobilitierung der 152

Alltagskultur, indem der Mode auch ein transtemporaler Ausdruck zugesprochen wird, den wir heute als Zeitgeist bezeichnen würden. Sie muss allerdings aus dem Strom der Zeit herausgelöst werden, um in einem Akt der Erinnerung aus dem Flüchtigen und Ephemeren das Bild von etwas Bleibendem zu bezeichnen

Allegorie und Palimpsest So lautet denn der eigentliche Schlüsselsatz des Flaneurs Baudelaire, den sich auch Walter Benjamin zum zentralen Motto seiner stadttheoretischen Überlegungen ge­ macht hat „Tout devient pour moi l’allegorie“. Die allegorische Dimension der städti­ schen Zeichen, wo ein jedes auf ein anderes, älteres verweist führt zum Gedächtnis der Stadt, das mit der eigenen, persönlichen Geschichte eng verwoben ist. Diese Theorie des Gedächtnisses12, das durch die allegorische Wirkung der urba­ nen Zeichen bestätigt wird beruht auf Thomas De Quinceys Lehre vom Palimpsest, die er in seinen Confessions of an English Opium Eater niedergelegt hat. Dieser vergleicht dort das Gehirn mit einem Palimpsest, einem Pergament, dessen Schrift in der Anti­ ke für neue Überschreibungen gelöscht wurde, die aber durch die moderne Chemie rekonstruiert werden kann, und was er im Falle des Gehirns ebenso durch die Wir­ kung des Opiums herzustellen glaubte. Von dieser Form einer frühen und recht wilden Psychotherapie versprach sich De Quincey eine Heilung von seinen offensichtlich auf schmerzhafte Kindheitserinnerungen zurückgeführten Traumata, die ihm aber nicht zuteil wurde, sondern relativ früh ins Grab brachte, während sie ihm zumindest eine temporäre Erleuchtung in seiner literarischen Tätigkeit einbrachte.

Der Flaneur. II. Frühe Stadtsüchtige

Urbane Mnemotechnik Die entscheidende Entdeckung Baudelaires besteht in einer Form der Mnemotechnik, in der Gedächtnis und Imagination zusammenspielen. Zur Anregung der Imagination des Lesers wird auf Bilder zurückgegriffen, die von der Kraft des Gedächtnisses le­ ben. Baudelaire ahnte schon, dass die Gefahr einer Abnahme der Sensibilität, die als eine Folge der urbanen Blasiertheit im Sinne des Simmel’schen Gedanken vom Reiz­ schutz wirksam wurde, nur durch eine neue Verbindung seiner Bilder mit der Kraft des subjektiven Gedächtnisstromes zu kompensieren war. Hinzu kam, dass die moder­ ne Wahrnehmung auch das Gedächtnis veränderte, und Erinnerungen immer subjek­ tiveren Charakter annahmen. Daher steht diese Theorie im Zeichen des Überganges von der klassischen ars memoria, der Kunst des Gedächtnisses, zur vis memoriae, der Kraft des Gedächtnisses. Damit erfolgt die energetische Aufladung der Gedächtnis­ bilder durch das Subjekt, die zu einem völligen Verblassen der traditionellen, allge­ mein verbindlichen ars memoriae führte. Neben der Schrift, als dem zentralen Träger der Erinnerung kommt nun auch der urbane Raum als Ort der Ablagerungen von Ge­ dächtnisspuren ins Spiel. Die Stadt war immer schon ein Ort, der Identität und Erinnerung vereinigte. Aller­ dings wurde die Kontinuität überwiegend durch die Genealogie von Familien, Dynas­ tien oder Nationen gewahrt und stand nicht in einer authentischen Beziehung zur sich langsam entwickelnden Subjektivität. Im Zeitalter der bürgerlichen Emanzipation kam Identität nun in zunehmendem Maße durch das Bewusstwerden einer persön­ lichen Lebensgeschichte zustande. Baudelaire hat in dieser Verknüpfung von Subjekt und Stadt Bahnbrechendes geleistet.

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Baudelaire hat das Werk transponiert und in dieser Fassung das Palimpsest eben­ falls mit dem Gedächtnis verglichen, da es ebenfalls das Vermögen besitzt, die zahl­ reichen Schichten von Gedanken, Bildern und Gefühlen abzulagern und „notwendi­ gerweise einen Zusammenklang zwischen den widerstreitenden Elementen stiftet“.13 Diese Herstellung einer gewaltsamen Harmonie zwischen den disparaten Elementen der Erinnerung wird zum zentralen Moment seines literarischen Konzeptes einer urba­ nen Dichtung, wie anhand der teilweisen Wiedergabe des klassischen Gedichtes „Der Schwan“, le cygne, aus den Fleurs du Mal zu zeigen ist. Schwanengesang Le cygne Hat unversehens mein Gedächtnis zur Fruchtbarkeit erregt, als mein Weg mich über das neue Carrousel führte.– Das alte Paris ist nicht mehr (die Gestalt der Stadt wechselt rascher, ach! als das Herz eines Sterblichen); Nur im Geist seh ich noch dieses ganze Barackenlager vor mir, diese Haufen grobbehauener Kapitelle und Säulenschäfte, das Unkraut und die großen Blöcke, die vom Wasser der Pfützen grüne Flecken hatten, und, hinter Scheiben blitzend, des Werkzeugs wüster Stapel. Dort erstreckte sich vormals eine Menagerie; dort sah ich eines Morgens, zur Stunde, da unter hellen Frosthimmeln die Arbeit erwacht, da die Straßenkehrer die stille Luft mit Wirbelstürmen schwärzen, Einen Schwan, der aus seinem Käfig entwichen war, und, mit dem Schwimmfuß das trockene Pflaster scharrend, über den holprigen Boden sein weißes Gefieder schleifte. An einem wasserlosen Rinnstein riß das Tier den Schnabel auf. Und badete mit fahriger Gebärde die Fittiche im Staub, und sprach, im Herzen seines schönen Heimatsees gedenkend: „Wasser, wann wirst du endlich niederregnen? Wann wirst du donnern, Wasserstrahl? Ich sehe, wie der Arme, ein unheilvolles Zeichen wunderlicher Sage, Zum Himmel manchmal, gleich dem Menschen bei Ovid, zum schadenfrohen, grausam blauen Himmel auf zuckendem Halse sein durstgequältes Haupt reckt, als schleudere er Vorwürfe gegen Gott! Paris verändert sich! nichts aber hat in meiner Schwermut sich bewegt! Neue Paläste, Gerüste, Steinböcke, alte Vorstädte, alles wird mir zur Allegorie und meine liebsten Erinnerungen lasten schwerer als Felsen.14 Melancholie und Erinnerung Le cygne beschreibt eine Kombination von Wahrnehmungen und Erinnerungen, die sich in zahlreichen Schichten über die Stadt gelegt hat. Diese Reihe von einander über­ lagernden inneren Bildern unterschiedlicher Zeitstruktur führt nach Baudelaires Vor­ stellung zu einer Verdichtung, die eine größere Wirklichkeit der Stadt und auch des 154

Wasserlache. Dieses Bild erscheint dem Autor des Gedichtes vor seinen Augen, als er gerade die neue Place de Carrousel überquert, die durch den großen städtebaulichen Impetus des Second Empire im Stile des imperialen Verständnisses Napoleon III . er­ richtet worden war. Die neu angelegte Place du Carrousel lag ursprünglich nach der Erweiterung des Louvres wie ein Innenhof vor den Tuilerien und wurde an den Seiten durch die Häuserblocks des alten Bezirks eingesäumt. Daher wird der Anblick dieses neu errichteten, eleganten Platzes durch eine zusätzliche Erinnerung an den jahre­ langen Zustand der Baustelle begleitet: Denn noch wenige Jahre zuvor war an diesem Ort das alte Paris mit seinen verwinkelten Straßen zu sehen, Häuser mit verfallenen Fassaden, weil die Besitzer keine Reparaturen mehr vornehmen wollten, kurze Gas­ sen mit düsteren und verlassenen Häuserblocks, die von verfallenen Baracken, durch Abbruch entleerte Grundstücke, verkommene Gärten und große morastige Flächen gesäumt wurden. Gleichzeitig wurde bereits das Baumaterial für die große Baustel­ le auf den freien Plätzen gelagert, Galerien für die behauenen Steine errichtet und das Abbruchmaterial auf die steppenähnlichen Grünflächen geschüttet. Aufgrund genau­ er zeitgenössischer Berichte weiß man, dass sich in der Zwischenzeit vom Abriss des alten Paris bis zur Fertigstellung der Louvre­ Erweiterung im Sinne einer temporä­ ren Nutzung dort eine bunte Gesellschaft von marchands de bric­à­brac, Trödlern und auch Tierhändlern niedergelassen hatte. Unbekannte Maler stellten ihre stümperhaf­ ten Werke, die im Stile der Akademie gehalten waren, aus, während in den benach­ barten Tierkäfigen die Hunde heulten und die in Holzkästen eingesperrten Schwäne stumm litten. Man weiß auch, dass Baudelaire damals am gegenüberliegenden Kai im Hôtel Voltaire gewohnt hat und ihn ein regelmäßiger Weg über die Place de Carrousel zum Ausgang des Louvre geführt hatte. Im Gedicht wird nun das Bild des aus seiner Menagerie entflohenen Schwanes, der sich in einer verzweifelten Gebärde im Staub einer ausgetrockneten Wasserlacke wälzt, als eine dritte Ebene neben dem realen Platz und der Erinnerung an seinen frü­ heren Zustand eingefügt. Dieses Bild des sich im Schmutze wälzenden Schwanes er­ zeugt nun eine merkwürdige Mischung aus Absurdem und Lächerlichen, die aber auch durch die Anklage des Schwanes, der den Hals gegen den Himmel reckt, ins Erhabene transformiert wird. Heute würde diese Botschaft allenfalls von Tierschützer­Organi­ sationen aufgenommen werden, doch die eigentliche Suggestivität des Gedichtes und der Figur des Schwanes beruht auf der damals vorausgesetzten Kenntnis der antiken Schwanenmythen. Ovid berichtet im zweiten Buch der Metamorphosen (Vers 367 – 587) über Cygnus, der sich in einen Schwan verwandelt hatte, um über den unglücklichen Phaeton zu trauern und Platon schreibt im Phaidon16 über Sokrates, dass er sich in einem, in Vorahnung seines kommenden Todes singenden Schwans selbst erkannt hatte. Der Schwan wird hier zum Symbol des in die feindliche Welt geworfenen We­ sens, das den Eindruck erweckt, durch den gebogenen, konvulsivisch zuckenden Hals dem Himmel seine Anklage entgegenzurufen. Dieses an sich ephemere Bild eines ver­ zweifelten Tieres korrespondiert nun mit der Erinnerung an die Baulandschaft, die durch die Lagerung der Säulenschäfte und Kapitelle den Charakter eines mytholo­

Der Flaneur. II. Frühe Stadtsüchtige

Subjektes erscheinen lässt.15 Das Gedicht nimmt in Baudelaires Phantasie seinen Aus­ gang durch eine typische Erinnerung an eine Begebenheit, wie sie nur einem Flaneur widerfährt, wenn er durch die Stadt geht. Ein Schwan hat sich aus seiner Menagerie befreit und wälzt sich in einer verzweifelten Geste im Staub einer ausgetrockneten

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gischen Griechenlands angenommen hat und übermalt das gegenwärtige Bild der neu­ en Place de Carrousel in ihrem aktuellen Glanz, ihrem splendeur. Der Platz selbst ist ein Meisterstück der Selbstinszenierung des Second Empire, der neuen Bürgergesell­ schaft, die sich zwar in der Nachfolge der Monarchie sieht, deren Selbstdarstellung aber durch Fortschrittsorientierung und völlige Gedächtnislosigkeit geprägt ist. Bau­ delaire hingegen ist jemand, dem „alles zur Allegorie wird“, dessen Anblick der Stadt von schwermütigen Erinnerungen überlagert wird und bei dem die Bilder des Urbanen sehr schnell eine Verbindung mit der Melancholie aufnehmen. Erst deren psychische Energie verleiht den Bildern eine Kraft der Belebung, die gewissermaßen das Komple­ ment zur aggressiven Stimulierung der Utopie abgibt. Strukturell gelten diese Bedin­ gungen des städtischen Umbaus und der damit einhergehenden Gedächtnislosigkeit heute mehr denn je. Der melancholische Ton ist nur mehr selten zu hören und ist eher den verstörten Kommentaren marginaler Randgruppen vorbehalten, wenn ihnen ein liebgewordenes städtisches Biotop abhanden gekommen ist.

1 Zur Poetik und Struktur von Nervals Reisen: Ross Chambers, Gérard de Nerval et la poétique du voyage, Paris 1969; vgl. Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris, München 1998 , S. 671 – 676. 2 Gerard de Nerval, „Die Oktobernächte“, in: Werke II, Winkler Verlag, München 1988 , S. 492 . 3 Ebd., S. 488; im französischen Original heißt es „la source des divagations“, Nerval de Gerard, Oevres, texte etabli, présenté et annote´par Albert Béguin et Jean Richer, Bd. I, Paris 1974 , S. 109. 4 Bernhard Dieterle, „Zeittafel“, in: Nerval (wie Anm. 2) S. 556. 5 De Nerval (wie Anm. 2), S. 484 . Dieses Traumbild erinnert an Piranesis Kerkerimpressionen, die auch von De Quincey in seinen „Confessions of an English Opium Eater“ beschrieben worden sind. (Anmerkungen, in: Nerval (wie Anm. 2), Stierle (wie Anm. 1), S. 683. 6 Charles Baudelaire, Sämtliche Werke, Bd. 5 , Hanser, München/Wien 1989,

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S. 220. 7 Charles Baudelaire, „Pariser Traum“, in: Die Blu­ men des Bösen, Sämtliche Werke, München/Wien 1989, Bd. 3, S. 262. 8 Ebd., S. 224 . 9 Ebd., S. 225. 10 Walter Benjamin, Charles Baudelaire, Das Paris des Second Empire bei Baudelaire, Gesammelte Schriften, Bd. I/ 2 , Frankfurt/Main 1991, S. 574 . 11 Baudelaire (wie Anm. 6), S. 226. 12 Baudelaire, „Ein Opiumesser“, in: Die künst­ lichen Paradiese, B. 6; mit dieser Transposition übertrug er De Quincey’s Werk ins Französische. 13 Baudelaire, Die künstlichen Paradiese, B. 6, S. 174 . 14 Baudelaire, „Der Schwan“, in: (wie Anm. 7 ), S. 227. 15 Zur Deutung des Gedichtes: Hans Robert Jauß, „Zur Frage der Struktureinheit älterer und moderner Lyrik“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, N. F 10, 1960, S. 231 – 266; vgl. Stierle (wie Anm. 1), S. 852 – 868 . 16 Platon, Phaidon, Sämtliche Wer­ ke, Bd. IV , Frankfurt/Main 1991, 85 a, b.

Der Flaneur. III . Der ennui. Das Leiden des Flaneurs Charles Baudelaire hat durch sein Werk Der Spleen von Paris die Beschreibung durch­ gehender existenzieller Stimmungen, darunter insbesondere jene des ennui als einer Form von Langeweile und Verdrossenheit, die ganz eng mit der Erfahrungswelt des Ur­ banen und des Flaneurs verbunden ist, in das Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Paris ist als Mittelpunkt des modernen Lebens jener Ort, der einerseits durch die Er­ fahrung der Entfremdung eine neue Form der Einsamkeit zulässt, zugleich aber daraus eine neue Form von Steigerung an Subjektivität möglich macht. Man muss hier vor­ ausschicken, dass diese Form existenzieller Langeweile bereits ein spezifisches Maß an Subjektivität voraussetzt und damit einen bestimmten Entwicklungsstand des mo­ dernen Subjekts markiert. Dieses muss durch eine schweifende innere Bewegung des Denkens zu einem Selbstbewusstsein gelangt sein, um überhaupt zur Empfindung der Langweile fähig zu sein. Diese Form der inneren Bewegung des Denkens, die zugleich durch ein aufmerksames Bewusstsein kontrolliert wird, wurde von Rousseau in sei­ nem letzten Werk der Rêveries du promeneur solitaire (dt.: Träumereien eines einsamen Spaziergängers) erstmals in der Weise eines inneren Diskurses vorgeführt und galt auch für Baudelaire als Modell der von ihm gewählten Form der Darstellung, die in beson­ derer Weise eine Anschauung der condition humaine ermöglichte. So zitiert Baudelaire schon im ersten Gedicht des Spleens, Der Fremdling, Rousseau, indem er dessen Ein­ gangsworte aus den Rêveries paraphrasiert: Wen liebst du am meisten, rätselhafter Mensch, sprich? Deinen Vater, deine Mutter, deine Schwester oder deinen Bruder? Ich habe weder Vater noch Mutter, weder Schwester, noch Bruder.1 Dieses radikale Bekenntnis zur Einsamkeit, von Rousseau schon in den Rêveries vor­ weggenommen und auf eine völlige Entschleierung der Dinge abzielend, führt zu einer neuen Art von Transfiguration.2 Das Vermögen sich dieser nackten Wahrheit zu stel­ len und diese auch anzuerkennen beruht auf der Fähigkeit zur eingehenden Betrach­ tung. Die Anerkennung der Sinnlosigkeit der Dinge führt zu einer Befreiung aus der Gefangenschaft in der Banalität und Leere der Gesellschaft. Aus der kühlen und illu­ sionslosen Betrachtung schöpft der Flaneur sein Gefühl der Kraft und Freude. Dieser Vorgang ist neben der spezifischen Denkbewegung auch mit einer zweiten räumlichen Bewegung verbunden: mit einer Abwendung vom Zentrum und dem Aufsuchen eines ex­zentrischen Standpunktes, der in einem Verhältnis zur Entwicklung eines Verfah­ rens steht, die Ekstase des Subjekts zu erlernen. Diese Art der Bewegung ist die dem Flaneur gemäß. Flucht aus dem Zentrum. Rousseaus Entdeckung der ekstatischen Existenz Rousseau war der erste Bewohner der Großstadt, der trotz oder gerade aufgrund seines Aufenthaltes im Zentrum des kommunikativen und literarischen Geschehens in Paris und der damit einhergehenden Einsicht in die völlige Unmöglichkeit der Herstellung 157

einer Verbindung mit anderen Menschen sich zu Ende seines Lebens an den Stadtrand begab. Dies war der einzige Ort, wo er glaubte, noch bei sich sein zu können, wobei er durch die Entdeckung einer neuen Form der informellen Meditation den Übergang von der rêverie zur Wahrnehmung des Präsenten vollzog. Durch die Abkehr von den Philosophen der Aufklärung und ihrer Kampfgemeinschaft hatte er diese verständ­ licherweise zu heftigen Gegnern seines Werkes gemacht. Auf der Flucht vor seinen Feinden, Verfolgern und dem Hass der Kritiker setzte er den Schlussstein seines Werks mit den Träumereien eines einsamen Spaziergängers und verlieh diesem eine neue In­ tensität und Authentizität, indem er auf radikale Weise als erster die Erfahrung einer Entfremdung zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft niederschrieb und damit ein vernichtendes Urteil über den aktuellen Stand der städtischen Zivilisation abgab. „So bin ich nun allein auf dieser Welt, habe keinen Bruder mehr, keinen Nächsten, keinen Freund, keine Gesellschaft außer mir selber […].3 Alles was außerhalb meiner ist, erscheint mir nun fremd. Weder nächste, noch Gleichgesinnte noch Brüder sind mir verblieben. Ich fühle mich auf dieser Erde so un­ heimisch, als wäre ich von einem anderen Planeten herabgefallen. Das wenige, das ich um mich herum erkenne, bedrückt, ja zerreißt mein Herz.“ 4 Es bedurfte dieser Einsicht in die Stadt als einen Ort der völligen Einsamkeit, um von diesem Nullpunkt aus eine neue Sicht auf die eigene Existenz zu gewinnen. Rous­ seau erkannte nämlich, dass die Entfremdung, die auf der Erkenntnis der Nichtpas­ sung zwischen Mensch und Welt beruht, auch mit einem Gewinn verbunden sein kann. Die Unheimlichkeit der Stadt galt ihm als Prämisse des entscheidenden Umstandes, dass er die Pariser Umgebung und vor allem die paradigmatische Petersinsel, wo er ei­ nige Wochen verbrachte, als einen Ort des reinen Existierens entdeckte, die ihm die Möglichkeit bot seine Existenz nicht mehr als Engpasssituation zu begreifen, sondern in der Form der Träumerei eine Empfindung für das reine Dasein zu wecken. Zugleich erkannte er erstmals, dass er die anderen eigentlich nur für den Traum brauchen kann, und schuf damit ein radikales literarisches Eingeständnis der realen Asozialität des Menschen, die nur im Denken, nicht aber im Leben aufgehoben werden kann. Der an­ dere kommt nur im Innen vor. Die nachhaltigste Verwandlung besteht aber letztlich in Folgendem: Rousseau schaffte es auf seinen langen Spaziergängen in der Pariser Um­ gebung aus seinen Desillusionierungen, seiner Verbitterung und seinem Verfolgungs­ wahn nur über die Wahrnehmung der Natur und die Beobachtung der eigenen Gefühle seine Gemütsruhe wiederzufinden und sie sogar in ein Glücksgefühl zu verwandeln. Er studierte eigens Botanik, um die Pflanzen, die er vor den Pariser Boulevards fand, be­ stimmen zu können, um zumindest mit der Natur jene Heimlichkeit zu erwirken, die ihm mit den Menschen von Paris verwehrt blieb. Die Erfahrung der Entfremdung bietet neue Möglichkeiten zur Steigerung des Be­ wusstseins und der Sensibilität, die den Boden für die Glückerfahrungen der rêveries bereiten. Das tiefe Erlebnis der Einsamkeit ist eine notwendige Erfahrung und Vor­ aussetzung für das Auffälligwerden der eigenen Existenz und die daraus resultieren­ de Ekstase, nämlich das Bemerken des eigenen Herausragens (ex­stare) aus der Flach­ heit der Welt. Die Spielart moderner Urbanität radikaler Prägung fordert eine Grunderfahrung der Einsamkeit, die naturgemäß die alte Ordnung einer Einbettung in die Geborgen­ heit einer von Gott erschaffenen Welt aufhebt. Das Verblassen des alten metaphysi­ 158

schen Zentrums und der Verlust des Vertrauens auf die daraus hervorgehende Ema­ nation göttlichen Heiles macht aus der Stadt einen Raum der sozialen Öde und der Unmöglichkeit echter menschlicher Kontakte, eine Lage zu deren Erkenntnis und Ein­ sicht ein gewisser Heroismus notwendig wird, der zum vorrangigen Thema der Lite­ ratur wird. Diese Grunderfahrung ist aber keineswegs leicht zu haben und stellt sich nicht von selbst ein. Auch zerfällt sie in verschiedene Formen des Erlebens, die die not­ wendige Voraussetzung für tiefere Einsichten bieten. Eine zentrale Rolle spielt in die­ sem Zusammenhang die Stimmung des ennui, der Langeweile und der Verdrossenheit, die in einem Umkehrverhältnis zur Ekstase steht und wie das nachfolgende Beispiel von Baudelaires „La chambre double“, (dt.: „Das zweifache Zimmer“), aus dem Spleen de Paris 5 belegt, auch das Verhältnis einer Wechselwirkung aufweisen kann und auf diese Weise einen basalen Zusammenhang von Ekstase und Langeweile verdeutlicht.

„Ein Zimmer, das einem Traum gleicht, ein wahrhaft geistiges Zimmer, in dessen regloser Luft ein zartes Rosa, ein weiches Blau schwimmt. Die Seele nimmt dort ein Trägheitsbad, von Wehmut und Wünschen aromatisiert. – Es ist etwas Dämmriges, Bläuliches, Rosenfarbenes; ein wollüstiger Traum während einer Sonnenfinsternis. Die Möbel haben längliche, hingesunkene, schmachtende Formen. Die Möbel scheinen zu träumen; als wären sie mit einem bewusstlosen Leben begabt, wie die Pflanzen und Mineralien. Die Stoffe sprechen eine stumme Sprache, wie die Blumen, wie der Himmel, wie die Sonnenuntergänge. […] Reichlich rieselt Musselin von den Fenstern und vor dem Bett; er ergießt sich in schneeigen Kaskaden. Auf dem Bett ruht die Göttin, die Herrin der Träume. Doch wie kam sie hierher? Wer hat sie hergeführt? Welche Zaubermacht hat sie auf diesen Thron des Traumes und der Wollust gelagert? […] Welchem wohlwollenden Dämon verdanke ich es, so umgeben zu sein von Geheimnis, von Schweigen, von Frieden und Duft? O Seligkeit! Was wir gemeinhin Leben nennen, selbst in seiner glücklichsten Gelöstheit, hat nichts gemein mit diesem höchsten Leben, das ich jetzt erfahre und das ich genieße, Minute um Minute, Sekunde um Sekunde! Nein es gibt keine Minuten mehr, es gibt keine Sekunden mehr! Die Zeit ist verschwunden; die Ewigkeit herrscht, eine Ewigkeit der Wonnen!“

Der Flaneur. III. Der ennui. Das Leiden des Flaneurs

La chambre double Langeweile und Verdrossenheit können unter spezifischen Umständen in das Gegen­ teil einer ekstatischen Erfahrung umschlagen bzw. gibt es auch den umgekehrten Weg eines Rückfalles in den ennui, wie Baudelaires Dichtung beweist. Im „Gedicht in Prosa“ geht Baudelaire zunächst von der Beschreibung einer ekstatischen Vereinigung zwi­ schen dem Einwohner und dem Raum des Zimmers selbst ein. Im ersten Teil des Ge­ dichts erfolgt die Wiedergabe der ekstatischen Stimmung, in der die Grenzen zwischen dem Ich und dem Raum verschwimmen, ein Moment seliger Zeitlosigkeit aufkommt, ein Zustand höchsten Glückes, in der sich kein Widerstand zwischen das Ich und die Welt schiebt, die paradigmatisch durch das Zimmer gegeben ist.

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Nach dieser ekstatischen Korrespondenz mit dem glücklichen Raum verwandelt sich das gleiche Zimmer durch einen Schlag an die Tür jäh: „Und ein Gespenst trat herein. Ein Gerichtsvollzieher, der mich im Namen des Gesetzes foltern kommt; eine niederträchtige Konkubine, die mit ihrem Jammergezeter die Erbärmlichkeiten ihres Lebens den Schmerzen des meinen hinzufügt; oder auch der Laufbursch eines Zeitungsdirektors, der die Fortsetzung des Manuskripts fordert. Das paradiesische Gemach, die Göttin, die Herrin der Träume, die Sylphide, wie der große René sagte, aller dieser Zauber ist vor dem rohen Faustschlag des Gespenstes zerstoben.“ Der hocherregte Zustand der Nerven, der den Eindruck des phantastischen und glück­ lichen Zimmers bewirkte, führt nun zu einer ebenso intensiven Wahrnehmung der Gegenwirklichkeit. Denn nun gerät das Zimmer zum Albtraum, zum Schrecken des Spleens. Der choc über das Eindringen der wirklichen Welt mit ihren Profanitäten führt zu einem Umschlagen der Rezeption, die nun völlig in den ennui kippt. „,O Grauen‘ ich weiß! Ich weiß! Ja, diese Stätte der ewigen Verdrossenheit (ce séjour de l’éternel ennui) ist wohl mein Aufenthalt. Da sind sie: die albernen, verstaubten, abgestoßenen Möbel; der Kamin ohne Flamme, ohne Glut, widrig verspuckt; die trüben Fenster, wo der Regen seine Furchen durch den Staub gezogen hat; die Manuskripte, durchstrichen oder unabgeschlossen, der Almanach, in dem die bösen Tage mit Bleistift vermerkt sind! […] Oh ja die Zeit ist wieder da; die Zeit herrscht als Gebieterin jetzt; und mit dieser scheußlichen Alten ist ihr ganzes teuflisches Gefolge zurückgekehrt: Erinnerungen, Versäumnisse, Krämpfe, Angst, Schrecken und Grauen, Wutanfälle und Nervenleiden.“ […] Der Schrecken des ennui beruht hier auf dem choc des Wechsels und dem Einbruch des Zeitgefühls, einem Gefühl der Langeweile und unendlichen Verdrossenheit, das einer Auslieferung an die Zeit entspricht. Die Acedia-Tradition Hier liegt in moderner Form erneut jene stimmungsmäßige Grundsituation vor, die bereits unter anderem Begriff als acedia, im Mittelalter als die Krankheit der Mönche bekannt war und die erstmals bei den Eremiten der Wüste aufgetreten ist, wenn sie in den Zustand der Trübseligkeit und Hoffnungslosigkeit gerieten. Die Beschreibung des Euagrios Pontikos geht von einem Mittagsteufel aus (daemon meridianus), der die Mönche überfällt und die Sonne aussehen lässt, als stände sie still.6 Die Dinge drängen auf einen zu und erscheinen völlig entseelt. Der Mönch verabscheut plötzlich den Ort, an dem er sich befindet, beginnt sein Leben zu hassen und möchte sein früheres Le­ ben wieder aufnehmen. Dante verewigte im siebten Gesang der Göttlichen Komödie die accidiosi, die in einen tiefen Sumpf verbannt worden waren, weil sie sich der elenden Stimmung hingegeben hatten.7 Acedia galt im Mittelalter eher als eine Sünde, weil sie 160

eine Hingabe an die teuflischen Versuchungen der mit der Langeweile verbundenen moralischen Schwächen bedeutete, seit der Renaissance wurde sie eher der melan­ cholia und damit einer körperlichen Grunddisposition zugeordnet. Die Philosophie der Langeweile wird durch die Theorie Pascals begründet, der die Lehre des Buches Kohelet erneuert, wonach das gottlose Handeln des Menschen nur sinnlose, törichte Eitelkeit sein kann und ein Leben ohne Gott eine Verurteilung zur Langeweile nach sich zieht. Das einzige, was uns in unserem Elend tröstet, ist die Zer­ streuung, aber gerade das ist unser größtes Unglück, meint Pascal.8 Die Vergnügun­

nomen der Langeweile eine Schlüsselrolle in der Geschichte der Subjektivität spielt. Langeweile setzt Selbstbewusstsein voraus, ein Sich­Selbst­Auffälligwerden als Indi­ viduum, das nach der Ablösung von Gott im religiösen und philosophischen Sinn mit einem Sinnanspruch an die Welt herangeht, der durch die traditionellen Erklärungs­ modelle nicht mehr gedeckt werden kann. Für viele hängt der Subjektivismus mit der kopernikanischen Wende Kants zusammen, die lange vor dem von Nietzsche verkün­ deten Tod Gottes stattgefunden hat und die Gott als den Garanten einer Erkenntnis der Ordnung des Universums abgelöst hat. Das daraus resultierende Hauptproblem für die Moderne besteht nun aber in der zwangsläufigen Übernahme der Rolle Gottes durch den Menschen. Die Eigenschaften, die im Polytheismus den Dingen selbst beigelegt worden, später im Monotheismus auf einen einzigen Gott übergegangen sind, werden nun als Elemente der Konstitution der Welt durch das menschliche Subjekt gesehen. Das durch die Säkularisierung entstandene Sinnvakuum muss nun vom Subjekt selbst gefüllt werden und führt zu Sehnsüchtigkeit und Langeweile, zum ennui, weil dem Subjekt diese Füllung weder von außen noch durch sich selbst gelingt. Kierkegaard schreibt: „Langeweile ist der dämonische Pantheismus. Bleibt man ihr als solcher stehen, so wird sie das Böse, sobald sie dagegen aufgehoben wird, ist sie wahr; sie wird aber nur dadurch aufgehoben, daß man sich unterhält – ergo muß man sich unterhalten.“ 9 So ist Kierkegaards Ästhetiker in Entweder – Oder ein Romantiker, der in einem Lebensstil verhaftet bleibt, da er in ständiger Flucht vor der Langeweile lebt und nach seiner Theorie der „Wechselwirtschaft“ ständig frühere Genüsse über­ treffen muss. Die Strategie besteht in der permanenten Umwandlung von Langwei­ ligem in Interessantes. Dazu empfiehlt er als komplementäres Verhalten, das richtige Verhältnis von Erinnern und Vergessen einzuhalten. Gegen zu starke Erinnerungen, die als untrügliches Anzeichen übertriebener Hoffnung gelten, rät er: „Nil admira­ ri ist darum die eigentliche Lebensweisheit. Jedes Lebensmoment darf nur so viel Bedeutung für einen haben, daß man es in jedem beliebigen Augenblick vergessen kann; jedes einzelne Lebensmoment muß aber andrerseits soviel Bedeutung für einen haben, daß man sich jeden Augenblick seiner erinnern kann“ 10. Kein Lebensmoment ist so bedeutungsvoll, dass er es nicht vergessen, aber auch nicht so bedeutungslos, dass er sich nicht daran erinnern könnte. Mit diesem Zitat nimmt Kierkegaard schon sehr viel von der „Blasiertheit“ des Städters voraus, die Attitude des geringen Engage­ ments, die Simmel als die vornehmliche Eigenschaft der modernen Urbanität bezeich­ net hat.

Der Flaneur. III. Der ennui. Das Leiden des Flaneurs

gen, die zum Vergessen dieses Zustandes und der Vermeidung der Langeweile gesucht werden, bewirken nur eine weitere Entfremdung. Denn sie bedeuten nur eine Flucht vor der Wirklichkeit und dem Verdrängen der Einsicht des eigenen Nichts, das der Mensch ohne Gott ist. Man muss in diesem Zusammenhang feststellen, dass das Phä­

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Für Kierkegaard ist das Gefühl der Langeweile eher dem aristokratischen Men­ schen vorbehalten: „Diejenigen, die andere langweilen, sind Plebs, der Haufe, der un­ endliche Menschenklüngel im allgemeinen; die sich langweilen, sind die Auserwähl­ ten, der Adel.“11 Damit ist auch wieder die Verbindung zum Flaneur hergestellt, der ja seine Herkunft von der nutzlos gewordenen Aristokratie des postrevolutionären Frankreich ableitet, für die die Langeweile zu einem existenziellen Ausdruck ihrer Überflüssigkeit geworden ist. Langeweile und Exzentrizität Eine gehobene Strategie der Unterhaltung als Waffe gegen die Langeweile zielt auf die Haltung des Exzentrikers ab: „Man macht etwas Zufälliges zum Absoluten und als sol­ ches zum Gegenstand absoluter Bewunderung.“12 Und ergänzend heißt es: „Wer ästhe­ tisch lebt, dessen Stimmung ist immer exzentrisch, weil er sein Zentrum in der Peri­ pherie hat. Die Persönlichkeit hat ihr Zentrum in sich selbst, und wer nicht sich selbst hat, der ist exzentrisch.“13 Die Analyse der Exzentrizität, die für Kierkegaard in engster Verbindung mit der Langeweile steht, führt zu einer weiteren, für die urbane Situation bedeutenden Er­ kenntnis, dass nicht dem Exzentriker langweilig ist, sondern dass das Zentrum, seine Bewohner und ihre Werte langweilig sind.14 Aus dieser Sicht des Décadents, Melan­ cholikers und Flaneurs erscheinen die Hauptsachen, das Zentrum, das Ethos, das Le­ ben, die Pflichten und Verbindlichkeiten, die Wahrheiten, Überzeugungen und Gesin­ nungen nicht als zu gut oder zu böse, zu hässlich oder zu schön, zu wahr oder zu falsch, sondern schlicht als zu langweilig und werden nun nebensächlich. Er folgt allerdings nicht der Strategie der Zerstreuung, als der einfacheren und zugleich auch langweili­ gen, sondern entwickelt durch seine Abneigung gegen die Langeweile des Erlaubten und Notwendigen einen Weg in die Sphäre des Ästhetischen, die von Kierkegaard als das Interessante bezeichnet wurde. Dessen Charakter ergibt sich jedoch nicht aus einer substantiellen Beziehung zum Zentrum bzw. wegen seiner moralischen und ästheti­ schen Werte, sondern es rückt die Peripherie in das Zentrum. Der Exzentriker bewegt sich außerhalb des Zentrums, obwohl er aus dem Innen des gemeinsamen Raumes von Zentrum und Peripherie kommt, ihn aber nie transzendiert, und immer den Blick von der Peripherie aus auf das Zentrum behält. Damit unterscheidet sich der Exzentriker vom Utopisten, der den nicht existenten Ort in der Zukunft sucht und das Zentrum entweder vergessen hat oder vielleicht ein Neues gründen möchte, und vom Nostalgiker, der den Ort und auch das Zentrum in der vergangenen Zeit zu finden glaubt. „Der Exzentriker flüchtet die Langeweile, indem er sein Selbst in das Äußerste, das heißt Nebensächlichkeiten platziert, es darin konzen­ triert und damit verliert.“15 Daher verliert er sein Herz an jene Dinge, die der Welt als wenig wertvoll oder bedeutsam gelten. Das gilt auch für den urbanen Raum. Die Passage. Der langweiligste Raum der Stadt Daher hat Walter Benjamin folgerichtig den Raum der Passage unter anderem auch der Rubrik „Langeweile, ewige Wiederkehr“ des Passagen­Werkes zugeordnet und damit einen genuinen räumlichen Zusammenhang zwischen der Langeweile und dem ex­ zentrischen Ort der Passage bewiesen, wenngleich er diesen Gedanken nicht weiter ausgearbeitet hat. Die Passage war zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung durch die Surrea­ 162

listen und kurz vor ihrem Abriss der langweiligste urbane Raum, den man sich den­ ken kann, die verkommene Passage de l’opéra ist raumgewordene Vergangenheit, ein Pandämonium des bürgerlichen Zeitalters, das mit uraltem Kram als Erinnerung an die Warenwelt vergangener Tage vollgeräumt war. Sie wurde daher durch Benjamins Adoption in das Passagen­Werk zu dem Raum, der zu dieser Zeit in größter Distanz zum Zentrum stand, aber dennoch auf dieses verwies. „Langeweile ist ein warmes, graues Tuch, das innen mit dem glühendsten, farbigs­ ten Seidenfutter ausgeschlagen ist. In dieses Tuch wickeln wir uns, wenn wir träu­ men. Dann sind wir in den Arabesken seines Futters zuhause. Aber der Schläfer sieht grau und gelangweilt darunter aus. Und wenn er dann erwacht und erzählen will, was er träumte, so teilt er meist nur diese Langeweile mit. Denn wer vermöchte mit ei­ nem Griff das Futter der Zeit nach außen zu kehren? Und doch heißt Träume erzählen

Langeweile und das einzig Neue, der Tod „Die Mode ist die ewige Wiederkehr des Neuen“ schreibt Benjamin und rührt damit an jenem Sachverhalt, der schon durch Kierkegaards Überlegungen zum Ästhetiker vor­ bereitet wurde. Um der Langeweile zu entgehen müssen ständig neue und intensivere Erlebnisse aufeinander folgen, weil das Erlebnis nicht die Erfahrung ersetzen kann. Die Vorstellung von einer permanenten Fütterung mit Impulsen glaubt jene substan­ tielle Anreicherung des Subjekts herstellen zu können, wie sie nur durch die Erfahrung, die einen tieferen persönlichen Sinn erzeugt, erfolgen kann. Jedes Neue verheißt die Hoffnung auf individuellen Sinn, aber es altert rasch und kann höchstens vorüberge­ hend das Sinnversprechen einhalten. Das Neue wird bald zur Gewohnheit und mündet in Verdruss, sobald man die Ähnlichkeit mit älteren Dingen bemerkt und die angeb­ lichen Unterschiede sich als falscher Schein herausstellen. An anderer Stelle erinnert Benjamin: „Das letzte Gedicht der Fleurs du Mal: ‚Le Voyage‘. ‚O Mort, vieux capitaine,

Der Flaneur. III. Der ennui. Das Leiden des Flaneurs

nichts anderes. Und nicht anders kann man von den Passagen handeln, Architektu­ ren, in denen wir traumhaft das Leben unserer Eltern, Großeltern nochmals leben wie der Embryo in der Mutter das Leben der Tiere. Das Dasein in diesen Räumen verfließt denn auch akzentlos wie das Geschehen in Träumen. Flanieren ist die Rhythmik die­ ses Schlummers. 1839 kam über Paris eine Schildkrötenmode. Man kann es sich gut vorstellen, wie die Elegants in den Passagen leichter noch als auf den Boulevards das Tempo dieser Geschöpfe nachahmen.“16 In diesem Zitat verbindet sich der ennui des Flaneurs mit der ewigen Wiederkehr im Sinne von Nietzsches Zarathustra, wonach jedes individuelle Leben nichts anderes als die Wiederholung der schon gelebten Leben der Ahnen bedeutet. Benjamin führt diese Vorstellung der ewigen Wiederkehr jedoch in seinen Geschichtsthesen theolo­ gischen Charakters vom Engel der Geschichte anders aus und auch wieder eine jü­ dische Idee der Erlösung im Sinne des tikkuns ein, worunter die Wiederherstellung eines ursprünglich Ganzen zu verstehen ist.17 Im Übrigen gilt ihm die Passage als Zei­ chen des kollektiven bürgerlichen Traumes im 19. Jahrhundert, der durch diese Hohl­ form des mythischen Passagenraumes gegeben ist, während er das 20. Jahrhundert als durch ein Erwachen, eine neue Gegenwärtigkeit charakterisiert. Hinter dem Au­ ßen der Langeweile hat sich ein Prozess des Unbewussten abgespielt, der im Sinne der dialektischen Entwicklung der Geschichtsphilosophie ein Erwachen der Menschheit im 20. Jahrhundert vorbereitete.

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il est temps! Levons l’ancre!‘ Die letzte Reise des Flaneurs: der Tod. Ihr Ziel: das Neue. ‚Au fond de l’inconnu pour trouver du Nouveau!‘ Das Neue ist eine vom Gebrauchswert der Ware unabhängige Qualität. Es ist der Ursprung des Scheins, der den Bildern unveräußerlich ist, die das kollektive Unbewusste hervorbringt. Es ist die Quintessenz des falschen Bewusstseins, dessen nimmermüde Agentin die Mode ist. Dieser Schein des Neuen reflektiert sich, wie ein Spiegel im andern, im Schein des immer wieder Gleichen.“18 Der Tod ist das einzig Neue, das es noch gibt und jedem bevorsteht. Der Flaneur weiß letztlich, dass er den ennui nur auf diese Weise überwinden kann und so enden die Fleurs du Mal mit der Mahnung zum Aufbruch zur letzten Reise, die endlich ein neues Ziel vorsieht. O Tod, alter Kapitän, es ist Zeit! Laß uns die Anker lichten! Dieses Land hier sind wir leid, o Tod! Laß uns ausfahren. Ob Meer und Himmel auch schwarz wie Tinte sind, unsere Herzen, die du kennst, sind voller Strahlen! Flöße uns dein Gift ein, daß es uns stärke! Wir wollen, so sehr sengt dieses Feuer uns das Hirn, zur Tiefe des Abgrunds tauchen, Hölle oder Himmel, gleichviel! Zur Tiefe des Unbekannten, etwas Neues zu erfahren.19

1 Charles Baudelaire, Sämtliche Werke, Briefe, Bd. 8 Eingeordnete Papiere, 8 . Zerstreuung, Reclam, Stuttgart Le Spleen de Paris, Hanser München/Wien 1985, S. 119. 1997, S. 93 – 104 . 9 Sören Kierkegaard, Entweder – Oder, 2 Charles Taylor, Quellen des Selbst, Suhrkamp, Frank­ dtv, München 1988 , S. 336 . 10 Ebd., S. 340. 11 Ebd., furt/Main 1994 , S. 752. 3 Jean Jacques Rousseau, Träu- S. 335. 12 Ebd., S. 348 . 13 Ebd., S. 791. 14 Konrad Paul mereien eines einsamen Spaziergängers, Reclam, Stutt­ Liessmann, Der gute Mensch von Österreich, Essays gart 2003, S. 7. 4 Ebd., S. 14 . 5 Baudelaire, (wie Anm. 1) 1980 – 1995 , Sonderzahl, Wien 1996 , S. 136 . 15 Ebd, S. 127. 6 Siegfried Wenzel, The Sin of Sloth: Acedia in S. 137. 16 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. V/ 1, Medieval Thought and Literature, The University of North Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 161. 17 vgl. Kap 13 , Carolina Press, Chapel Hill 1967; vgl. Lars Svendsen, Kleine „Die Passage als Chronotopos“ 18 Benjamin (wie Anm. 16), Philosophie der Langeweile, Insel, Frankfurt/Main/Leip­ S. 55. 19 Baudelaire (wie Anm. 1), Bd. 3, Die Blumen des zig 2002 . 7 Dante Alighieri, Die Göttliche Komödie, In­ Bösen, S. 339. sel, Frankfurt/Main 1974 , S. 41. 8 Blaise Pascal, Gedanken,

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Vom kollektiven Gedächtnis zum Kunst­ container. Anmerkungen zu einer Kunstgeschichte des öffentlichen Raumes Die neuere Entwicklung der Öffentlichkeit ist von England aus zu erforschen. Eng­ land ist im 18. Jahrhundert die führende Handelsmacht der Welt mit dem Zentrum London, das zum gigantischen Warenlager und Umschlagplatz geworden ist. Die po­ litische und ökonomische Lage wird durch die Einrichtung fortschrittlicher demokra­ tischer und wirtschaftlicher Institutionen wie das Parlament und zugleich von Börse und der Bank von England abgesichert. Die alten und neuen gesellschaftlichen Eliten der Aristokratie und des reichen Bürgertums nähern sich einander an und bilden einen gemeinsamen Block, der sich weniger als neue Klasse, sondern eher als eine „Öffent­ lichkeit“ begreift. Damit ist eine Haltung gemeint, die sich durch gemeinsame Verhal­ tensmuster der Zivilisiertheit und den Umgang mit aufgeklärten Menschen auszeich­ net und sich an den Mustern des Benehmens der Aristokratie, ihrer Selbstsicherheit und Eleganz orientiert und nicht die kleinbürgerlich starre Einhaltung der Gesetze fordert. Denn auch wenn die moralischen Standards noch volle Geltung haben, so ge­ ben Affekte und Geschmack doch ein besseres Bild der Persönlichkeit ab als ein unter dem Einfluss des ideologischen Eifers protestantischer Prediger stehendes Individu­ um. Aufgrund der sicheren sozialen Position kann sich die Oberschicht auch eine Öff­ nung im Umgang mit Menschen geringeren Status erlauben, die auf der Basis gemein­ samer Sensibilität und der Vernunft beruhen und eine Ausblendung der differenten sozialen Stellung ermöglicht. Andere Gemeinsamkeiten bestehen in der Ablehnung religiösen Eiferertums, aber auch der Innerlichkeit des häuslichen Individuums. Man hält sich an die Unmittelbarkeit des empirisch erfassbaren Lebens, an die Affekte und Appetenzen der Zivilgesellschaft. Der englische Empirismus versucht im Gegensatz zum deutschen Rationalismus, der vom Allgemeinen zum Einzelnen gelangen möchte, vom Einzelnen zum Allgemei­ nen aufzusteigen. Im Gegensatz zu den Schwierigkeiten des deutschen Idealismus, Impulse und Empfindungen überhaupt dem Bereich der Vernunft zuzuordnen – man erinnere an Hegels Ablehnung einer Ästhetik des Riechens, Tastens oder Schmeckens und der alleinigen Zulassung des vermeintlich begierdelosen Gesichtssinnes und des Gehörs – hat der Empirismus das Problem, zu einer Vorstellung des Allgemeinen und Ganzen zu kommen. Ist er in gewisser Weise nicht zu sehr dem Körper verbunden und von der Macht der Sinne gefangen, um sich durch den Begriff zu erheben? Keineswegs, denn genau diese Rationalität der Welt wird ja durch das feine Sensorium des Körpers in seinen Spuren aufgedeckt und der ästhetische Geschmack (im Sinne von aisthesis, Wahrnehmung) hat vielleicht das größere Gespür für die moralische Wahrheit. Das ist der berühmte moralische Sinn des 18. Jahrhunderts, der nach Meinung der Moralisten des 18. Jahrhunderts zwischen richtig und falsch entscheiden lässt. Anstelle einer ide­ alistischen Vorstellung vom Ganzen wird der soziale Zusammenhalt auf diese sinn­ liche Weise weit tiefer empfunden. Die vorherrschenden moralischen Werte dürfen keine abstrakten Ideen bleiben, sondern müssen mit dem Geschmack von Pfirsichen 165

behaftet sein, um wie von selbst die Entscheidung für sie zu erleichtern. Die Fragmen­ tierung der Gesellschaft macht eine totale Sicht oder alles überblickende Vernunft oh­ nehin unmöglich, daher lässt sich nur an den Regungen der individuellen Sensibilität die Eingliederung in den sozialen Organismus erkennen. Durch Sympathie und Mit­ leid werden wir, ohne dass dies von der Vernunft durchschaut werden könnte, anein­ ander gebunden und zur Harmonie veranlasst. Diese Ästhetisierung der Moral drückt Shaftesbury völlig klar aus, indem er den Sinn für Moral „in wahrer Antipathie und Ab­ scheu gegen Ungerechtigkeit und Unrecht und in wahrer Neigung oder Liebe zu Billig­ keit und Recht um ihrer selbst und um ihrer natürlichen Schönheit und Würde willen“ sieht. Moralisches Verhalten muss durch die Affekte vermittelt werden können und wo dies nicht erfolgt ist es auch nicht moralisch. Die zentralen Güter der Schönheit, der Wahrheit und des Guten sind identisch. Tugend ist schön. Auch Hutcheson teilt diese Ansicht über die Schönheit des tugendhaften Handelns und die Hässlichkeit des Bösen. Daher besteht auch eine Beziehung zwischen Politik und Ästhetik, die Liebe zur Schönheit „kommt sozialen Neigungen entgegen und trägt wesentlich zu jener Tugend bei, die ihrerseits nichts anderes ist als eine Liebe zur Ord­ nung und Schönheit in der Gesellschaft“.1 „Das gute Leben, der gute Charakter sind derart beschaffen, daß alles an ihnen seinen richtigen Ort einnimmt und im richtigen Verhältnis steht – nicht mehr und nicht weniger. Der Schlüsselbegriff ist also der pla­ tonische oder stoische Begriff einer aufs Gute hin geordneten Ganzheit von Dingen. Die Normen nach denen man leben soll – die naturgegebenen feststehenden Kriterien für das Richtige – findet man dadurch, daß man die Gesamtordnung, in die man gestellt wird, erfaßt. Der Gute liebt die gute Ordnung der Dinge.“2 Ein weiterer Schlüsselbegriff ist die „natürliche Zuneigung“, dass wir von Natur aus das Ganze lieben und unter den richtigen Bedingungen auf die ganze Gesellschaft, ja sogar in eine selbstlose Liebe zur gesamten Menschheit übergehen können.3 Diese Ästhetisierung des sozialen Lebens und die daraus folgende Stabilisierung einer sozialen Ordnung macht aus der Gesellschaft so etwas wie eine schöne Maschi­ ne, die Adam Smith folgendermaßen beschreibt: „Daß die Tendenz der Tugend, die Ordnung der Gesellschaft zu fördern, und die Tendenz des Lasters, diese Ordnung zu stören, sobald wir die Sache kühl und philosophisch betrachten, der Tugend eine sehr bedeutende Schönheit und dem Laster eine bedeutende Häßlichkeit verleiht, das kann […] überhaupt nicht in Frage gezogen werden. Die menschliche Gesellschaft er­ scheint, wenn wir sie in einem gewissen abstrakten und philosophischen Licht, wie eine große, ungeheure Maschine, deren regelmäßige und harmonische Bewegungen tausend angenehme Wirkungen hervorbringen. Wie bei jeder anderen, schönen und edlen Maschine, die das Erzeugnis menschlicher Kunst ist, alles, was die Tendenz hat, ihre Bewegungen reibungsloser und ruhiger zu machen, aus dieser Wirkung eine ge­ wisse Schönheit empfangen würde; und umgekehrt alles, was die Tendenz hat, diese Bewegungen zu stören, aus diesem Grund Mißfallen erregen würde, so muß die Tu­ gend, welche gleichsam die feine Politur an den Rädern der Gesellschaftsmaschine ist, notwendig Wohlgefallen hervorrufen; während das Laster wie der schlechte Rost, der schuld ist, wenn die Räder knarren und sich aneinander reiben, uns notwendig anstö­ ßig erscheinen muß.“ 4 Wenn die Gesellschaft nach dem Muster einer schönen Maschine funktionieren soll, kann man der gesamten Öffentlichkeit, als deren spezifischen Ausdruck den Cha­ 166

rakter eines Kunstwerkes beimessen. Zunächst sind es jene Bereiche, in denen sich die Menschen näherkommen. Daher hat Richard Sennett richtigerweise diese spezifi­ schen Orte der Begegnung unterschiedlicher Schichten des 18. Jahrhunderts mit dem Park, dem Cafe und dem Theater beschrieben, wo aufgrund bestimmter konventiona­ lisierter Codes Kontakt zwischen Fremden, und freie Kommunikation zwischen Ari­ stokratie und Bürgertum ermöglicht wurde, eine Situation, die in den Jahrhunderten zuvor noch undenkbar gewesen wäre und die eine zentrale psychohistorische Vor­ aussetzung der Aufklärung bildete. Damit ist allerdings noch nicht die gesamte Sphä­

Der Historismus. Öffentlicher Raum und Decorum Bis zum Ende des 19 Jahrhunderts stand die Entwicklung der modernen Industriestadt unter dem Paradigma des Bildes, einer Praxis, die den Bilderrahmen in seiner rah­ menden Funktion und im Sinne des Enblems einer geschlossenen und vereinigten räumlichen Ordnung sah. Voraussetzung dafür war die Demokratisierung der Perspek­ tive, die das Individuum durch seinen Sichtkegel mit der Welt verband und als ein Zwischenergebnis der Geschichte der Wahrnehmung, die damals vom Symbol bis zur Herausbildung der Perspektive reichte, zu werten ist. Der Blick auf das Gute entsprach einer perspektivischen Sicht, innerhalb der es enthalten sein musste. So konnte durch die Zentrierung des Auges auf das Kunstwerk von den sich außerhalb des Rahmens befindlichen Verzerrungen abgelenkt werden, die Korrespondenz zwischen Auge und dem perspektivischen Stadtausschnitt hatte zudem die Erzeugung eines reflexiven Zustandes des Selbst­im­Bild­Enthaltenseins zur Folge (im Gegensatz zu den in der Moderne nachfolgenden Versuchen der Dezentrierung, die auf eine Entfernung des Ichs, bzw. eine Auslieferung an andere Kräfte), die zur Einheitlichkeit des Bildes noch beitrug. Es geht bei diesem Blick auch um „eine Geometrie der Herrschaft über den Wahrnehmungsraum“ 5 die ihren Ausgang im privilegierten Blick des barocken Herr­ schers hatte und sich in der Konstruktion des barocken Theaters ausdrückte. Die De­ mokratisierung ermächtigt nun jeden Bürger zu diesem Blick, der eine kontrollierende Verbindung zwischen dem Selbst und dem Feld der Perzeption herstellt. Zumeist de­ finierte der Bilderrahmen auch den narrativen Rahmen, innerhalb dessen eine urba­ ne Geschichte im Kontext eines nationalen Heroismus erzählt wurde. Im Zusammen­ spiel von gemalten Bildern und ihrer theatralischen Inszenierungen agierten sie als Verstärkung des Dekorums, um Triumphakte und heroische Ereignisse wiederaufle­ ben zu lassen, wie sie in Wien durch die Kunst Franz Makarts prototypisch verkörpert wurden. Kunst und Didaktik verschmolzen zu einem Gesamtkunstwerk. Historische Monumente und bürgerliche Plätze galten als Artefakte der nationalen Geschichte und

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re des öffentlichen Raumes umfassend charakterisiert, wenngleich es sich um den atmosphärischen Kern, in dem eine Verbindung zwischen Raum und offener Kommu­ nikation unter einander gleichgestellten Bürgern hergestellt wird, handelt. Hier spielt die Wiederentdeckung der griechischen Antike eine zentrale Rolle, denn ohne den ge­ danklichen Hintergrund der antiken Polis und Agora und ohne die sich anbahnende Gräcophilie der aristokratischen Protagonisten wäre der Versuch einer Reproduktion dieser politischen Struktur zum Scheitern verursacht gewesen. Aber seit dem 18. Jahrhundert wird nun auch der Raum tendenziell unter dem Ge­ sichtspunkt seiner öffentlichen „Qualität“ betrachtet, wie im folgenden Abriss darge­ stellt werden soll.

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wurden daher mit größter Sorgfalt bei der Verwendung der Zeichen im Sinne ihrer er­ zieherischen Relevanz behandelt. Ihre Visualisierung wurde tatsächlich mit der Behut­ samkeit der Ausgestaltung eines Ornaments betrieben, um sie in szenischen Arrange­ ments umzusetzen und ikonisch zu gestalten, alles im Dienste der Zivilisierung des Geschmacks und der Moral der urbanen Bevölkerung. Die Architektur stand im Diens­ te der Vermittlung der Botschaft einer Macht, deren Monumente von vorbildlichen Ta­ ten, nationaler Einheit und industrieller Glorie handelten. Die Ausgestaltung des öffentlichen Raumes stand im Dienste eines Decorum, das sich noch von der Antike und ihrer Neurezeption als Ornamentum in der Lehre Alber­ tis herleiten lässt, in der das Erhabene dem öffentlichen Raum vorbehalten ist, wäh­ rend sich das Private mit dem Profanen zu begnügen hat. Allerdings scheint es auch ein Merkmal des Historismus zu sein, dass sich auch der private Bereich des bürger­ lichen Wohnbaus in seiner der Öffentlichkeit zugewandten Seite, der Fassade nämlich, zunehmend ornamentalen Motiven des Erhabenen bediente. Kunst ist vor dem Hintergrund eines Konzeptes von „Staat“ zu verstehen, in dessen Rahmen das Decorum die Aufgabe hat, mittels entsprechender symbolischer Darstel­ lung eine Stärkung der synthetischen Verbindung der Massen zu erzielen, um ihnen das Gefühl der Bildung einer kollektiven Einheit auf der Basis eines kollektiven, natio­ nalen Gedächtnisses zu vermitteln. In der Stadt des kollektiven Gedächtnisses besteht eine fundamentale Beziehung zwischen der Architektur, der urbanen Form und der Geschichte.6 Die Stadt ist der kollektive Ausdruck einer Historie und einer Architektur, die sich im Gewebe der Stadt durch die Spuren vergangener Architektur, der Stadtpla­ nung und der öffentlichen Monumente niederschlägt. Die Vorstellung einer „öffentli­ chen Kunst“ der Regierung hatte die Darstellung einer effizienten und harmonischen Ordnung auf der Grundlage eines Konstruktes heroischer Geschichte zur Folge, die durch Monumente und Denkmäler symbolisch repräsentiert und deren Botschaft an die Bürger durch entsprechende architektonische Gestaltungen im öffentlichen Raum herangetragen wurde. In diesem Bewusstsein der Notwendigkeit eines Ornamentums des öffentlichen Raumes wurden die Architekten auch dazu angehalten, neben der Einrichtung von Promenaden und festlichen Strukturen, die Stadt mit kollektiven Einrichtungen, aber auch ruhigen Orten des Rückzugs zur Erlangung einer funktionalen und ästhetischen Qualität auszustatten. Die ikonische Ausgestaltung der Gebäude brachte auch jene Flut an mythologischen Figuren mit sich, die eine Beseelung des öffentlichen Raumes beabsichtigte, der bis in die Vorhallen der Mietvillen reichte. Benjamin gedachte in seinen Berliner Kindheitserinnerungen der Karyatiden und Atlanten, der Puten und Pomonen, die ihn damals stumm anblickten, wobei ihm jene aus dem Geschlecht der „Schwellenkundigen“ also die mythologischen Figuren der Passage, die den Schritt ins Dasein oder in ein Haus behüteten, am nächsten standen. Zudem ging es auch um die Erfüllung kultureller Bedürfnisse, die durch sozialen Wandel, politische Revolutionen und anderen Katastrophen gestört worden waren. Ein bürgerlich geprägter Wunsch nach Unterhaltung, Vergnügen und Phantasie im Reich der Ästhetik kam auf, der einen Ausgleich zur Sphäre der Arbeit, Politik, Krankheit und extremen Überfüllung der Stadt bringen sollte, freilich bei gleichzeitiger Verdrängung und Vernachlässigung der sozialen Frage der Arbeiterschaft, die im späten 19. Jahr­ hundert ihre eigene Öffentlichkeit begründen wird. Von hier aus führte ein separa­ 168

ter Weg der Stadtentwicklung in die Moderne, wenngleich mit unterschiedlichen Prä­ missen, wie sie in den Differenzen zwischen den sowjetischen Stadtgründungen und dem Wiener Wohnbau des „Roten Wiens“ zutage getreten sind. Während die russische Moderne grosso modo das Scheibenmodell des internationalen Stils bevorzugte, wur­ de in Wien noch eine raffinierte Spätform des Decorums durch die zahlreichen Otto Wagner Schüler angewandt, die sicherlich dem bürgerlich orientierten Geschmack der Mehrheit entsprach. Aber auch hier wurde die Öffentlichkeit auf die Höfe mit ihren Versorgungseinrichtungen und das darin ablaufende Leben konzentriert, nach außen erfolgte eher Abschließung, ein urbanes Leben im heutigen Sinne war eher schwer möglich.

Im 20. Jahrhundert setzte eine Verwandlung der historistischen Stadt zu einer Me­ tropolis ein, die neue, unbekannte Züge eines optisch­künstlerischen Experiments an­ nehmen sollte. Die visuelle Harmonie des öffentlichen Raumes war durch die Erfah­ rung der modernen Reise und der damit einhergehenden Transformation von Raum und Zeit in ein, vom simultanen Blick des Künstlers verwandeltes, offenes und ex­ pansives Feld verwandelt worden. Durch diese für die Moderne maßgebliche Voraus­ setzung der neuen Erfahrung der Bewegung in der Stadt entstand eine Tendenz zur Auslöschung des traditionellen perspektivischen Sinnes für die bildliche Einrahmung, da die Wahrnehmung der Stadtlandschaft aufgrund der neuen Mobilität in eine Serie von flüssigen Impressionen überging. Die Haftung am Platz oder im Milieu löste sich in kaleidoskopischen Arrangements von Bildern und Formen auf, die Beziehung zum anthropologischen Ort wurde geschwächt. Diese Auflösung der festen Formen und der monumentalen urbanen Gesten des Historismus entsprach einem neuen Ausdruck, der die verschiedensten Bereiche der Kunst und Architektur durchzog. Diese Frag­ mentierung des Blickes bewirkte auch die Auflösung der traditionellen ästhetischen Werte des Decorums, die Erschütterung der ikonographischen Konnotationen und die generelle Abwertung jeglicher historischen Bedeutung. Der Zeitpfeil der Kultur, der über lange Zeiten hinweg auf der Suche nach Sinn in die Vergangenheit gewiesen hatte, richtete sich nun in die Zukunft, deren Sinn der Künstler nun im Voraus proleptisch zu bestimmen hatte. Daher wurde das pittoreske Bild der Stadt als Kunstwerk im Sinne von Camillo Sitte durch die Stadt als Panorama im Sinne von pan­horan, das heißt alles sehen oder ganz sehen, ersetzt, die eine völlig neue Stadt mit aufragenden Wolkenkrat­ zern und metropolitanen Ausmaßen ermöglichte. Wenn es überhaupt noch einen Blick oder eine Ansicht gab, aus der sich eine räumliche Ordnung der Stadt zu erkennen gäbe, so bestanden sie in der Vogelschau, im Blick von oben, von dem aus eine Entschlüsse­ lung des städtischen Chaos möglich war, um dessen Neuordnung zu fordern. Diese neue Sichtweise setzte aber eine Dekonstruktion des alten Raum­Zeitgefüges, die als notwendige Bedingung des perspektivischen Blickes diente, voraus, die bereits durch die Eisenbahnreise des 19. Jahrhunderts ausgelöst worden war, indem sie die Perzeption des Dazwischen­Seins, mithin des Weges und der Erfahrung des Übergan­ ges von Zonen, von der Endosphäre zur Exosphäre nach und nach ausgelöscht hatten. „Indem der Raum zwischen den Zielorten, der traditionelle Reiseraum vernichtet wird, rücken diese unmittelbar aneinander, sie prallen geradezu aneinander.“ 7 Die Eisen­ bahnreise reduzierte die Zeit, die dem Raum zwischen zwei bekannten Punkten auf

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Die Moderne. Metabolismus der urbanen Substanz

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dem Plan entsprach und rückte entfernte Orte der Welt in die Nachbarschaft, um da­ mit das Phänomen einer Panoramisierung der Stadt erlebbar zu machen. Trotz oder gerade wegen der Fragmentierung in zahllose isolierte Ansichten, ist es der heroischen Leistung des Stadtplaners und Architekten vorbehalten, die Kontrolle über die Stadt kraft seiner Eignung zum pan­horan (Alles­Sehen) zu erlangen. Daraus erwächst der Traum des Fordismus als eine schöne Maschine, die von Le Corbusier im plan voisin und der Charta von Athen von 1933 vorgestellt wurde. Hier sollte der Raum selbst zu einem Brennpunkt sozialer Betrachtung und zum Gegenstand von Investi­ tion und Kontrolle einer Fachöffentlichkeit werden: Architekten und Stadtplaner zer­ schneiden den Raum im Sinne des Fordismus in kleine Einheiten und komponieren da­ raus ein nach technischen und ästhetischen Kriterien neu strukturiertes Ganzes, das eine Öffentlichkeit überflüssig macht. Öffentlichkeit aus dieser Sicht repräsentiert die vielstimmige, irrationale Unordnung auf der Basis falschen Begehrens, die durch eine funktionale Ordnung zu ersetzen ist. Anstelle von Öffentlichkeit wird allenfalls eine formale Öffnung der Baukörper hergestellt, wie durch die Glasfassade des Hochhauses eine scheinbare Öffentlichkeit hergestellt wird. So basierte diese neue künstlerische Wahrnehmung für Stadt und Architektur, wie an dem prototypischen Beispiel Le Corbusiers zu demonstrieren ist, auf dem einsa­ men Blick eines potentiell Reisenden, die sich geradezu im Auftrag einer kosmischen Neuordnung der Welt wähnte, der Inneres und Äußeres umkehrte und in fremdarti­ gen gegensätzlichen Fragmenten und paradoxen Ansichten wiedergab. Allerdings ist ohne Kenntnis der Standorte des Erbauers, von dem aus der Bauort arrangiert wurde, kein Nachvollzug seines Blickes möglich. Wie sollte daher die einsame Repräsentation vor den Augen eines Architekturgenies zu einer gemeinsamen Sicht der Stadt als einer Voraussetzung der Öffentlichkeit, bzw. des öffentlichen Raumes führen? Aber auch vor dem politischen Hintergrund der 20er und 30er Jahre, der durch zer­ brechende Demokratien, Faschismus und Kommunismus gekennzeichnet war, ist es verständlich, dass man der Dimension des Öffentlichen keine große Bedeutung im Sin­ ne einer Lösung der politischen und sozialen Fragen beimessen konnte. Der öffentliche Raum war das Kampffeld der Parteien, die Aufmarschzone radikaler rechter und linker Demonstranten. Er schien daher in vielen Fällen eher ein Hindernis zur Bewältigung der anstehenden Probleme als eine Medium der Lösung zu sein. Kunstproduktion und Rezeption im öffentlichen Raum Angesichts der realen Situation der Städte der Gegenwart wird auch die Rolle der Grün­ derzeitstadt und insbesondere ihre Qualität des öffentlichen Raumes rehabilitiert. Heute kann man den Versuch des 19. Jahrhunderts besser verstehen, sich in ihrer tur­ bulenten Zeit des großen künstlerischen Erbes der Vergangenheit bedient zu haben, um durch die Wiederspiegelung in den stilistischen Bezügen die Sicherheit der tradi­ tionellen Ordnung der vorindustriellen und vorrevolutionären Zeit zu erlangen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, nahmen in der Stadt des 19. Jahrhundert Ein­ kaufs­, Freizeit­ und Unterhaltungszonen für die bürgerlichen Bewohner bereits einen großen Teil des öffentlichen Raumes ein. Daher widmeten sich die Künstler nicht nur der Selbstdarstellung dieses neuen Publikums im öffentlichen Raum, und etablier­ ten es als Sujet der Malerei, indem sie die promenierenden Bürger auf den Boulevards und Kurorten darstellten, sondern die Architekten gestalteten diese Stätten der Unter­ 170

haltung, indem sie mit ihrem Design die Stadtlandschaft des 19. Jahrhunderts in ein riesiges, öffentliches Kunstwerk mit neuen Parks und Promenaden, riesigen Kaufhäu­ sern und Theatern, phantastischen Ausstellungshallen und luxuriösen Hotels, wie monolithischen Bahnhöfen und majestätischen Banken und Bürohäuser verwandel­

durch die aktuelle Art der baukünstlerischen Behandlung und Sanierung häufig, zer­ stört aber von der Erlebnisgesellschaft, dankbar angenommen. Gleichzeitig wird auch die kritische Deutung aus der Perspektive des Künstlers des frühen 20. Jahrhunderts mit seinem Anspruch auf Authentizität verständlich, da der freie künstlerische Ausdruck zu dieser Überreaktion geradezu veranlasst werden musste, wenn er sich mit dem populären Geschmack der Bourgeoisie konfrontiert sah, der sich in der Neigung zur Show, der Tendenz zur Selbsterhöhung, und – gepaart mit Konformität und Mittelmäßigkeit – im Gefallen an purer Unterhaltung und modi­ schen Stilen ausdrückte. Manche Architekten und Künstler fühlten sich auch durch die konservative Kontrolle der offiziellen Akademien und deren Zusammenspiel mit den Regierungsautoritäten, die damals die Verantwortung für die Ausschmückung des öffentlichen Raumes der Stadt mit Objekten einer am Dekorum orientierten Architek­ tur erlangt hatten, in ihren Ausdrucksmöglichkeiten gehemmt. Denn die historisti­ sche Verkleidung der öffentlichen Gebäude, wie der Oper, Theater, Regierungsgebäude, Universitäten, Museen, Bibliotheken und Stadthallen, wie auch der neuen Eisenbahn­ stationen mit ihren massiven Hotelkomplexen schien eine Verdeckung der wahren konstruktiven und tragenden Struktur mit sich zu bringen, die einem authentischen künstlerischen Ausdruck zuwiderlief. Aus dieser Situation kristallisierte sich eine Unterscheidung der Avantgarde zwi­ schen Hoch­ und Massenkultur heraus, da sie die Invasion der Marktwirtschaft in die künstlerische Produktion als eine Erschütterung des reinen authentischen Aus­ drucks ansehen musste, die abzulehnen war. Dieser Durchdringung der Kultur mit Ware, der Massenkultur musste eine künstlerische Autonomie entgegengesetzt wer­ den, die naturgemäß nur von einer Elite verstanden werden konnte und auch nur von weniger Künstlern getragen werden konnte, da sie ihre von Mäzenaten geförderte Stel­ lung außerhalb des Marktes verloren hatten, von der aus Widerstand hätte geleistet werden können. Hier liegen die Wurzeln des modernen Künstlertums. So kam die Vorstellung einer Abschließung von der Populärkultur, obwohl sie zu Beginn der Bewegung der Moderne eine Inspirationsquelle der Kunst war. Die Rekla­ me, die Ästhetik der Maschinen, die Kinetik der Fahrzeuge und die Energie der Elek­ trizität waren die Quellen der Anregung, weil sie als Phänomene der Industriegesell­ schaft Zukunftshoffnungen erweckten. Eine Reform der Ästhetik, wie sie vom Bauhaus und Le Corbusier gepredigt wur­ de, brächte als Resultat zahllose Verbesserungen der sozialen Beziehungen hervor. So

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ten. Zu diesem Zeitpunkt war die Kunst der Stadtgestaltung noch nicht durch die Dif­ ferenzierung in Hoch­ und Massenkultur problematisiert worden, sondern die auf der Idee des Decorums beruhende Gestaltung entsprach den Vorstellungen einer umfas­ senden Öffentlichkeit. Wenn es unterschiedliche Auffassungen gab, so galten sie nicht dem Prinzip des Eklektizismus, sondern der Angemessenheit der Wahl der Stile für die jeweilige Bauaufgabe. Walter Benjamin hat bekanntlich diese Stadt des Historis­ mus im Passagen­Werk als eine transzendendentale Erinnerungslandschaft beschrie­ ben, deren wahrer Glanz erst im Verfall sichtbar wird. Exakt diese Dimension wird

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entstand der Glaube an eine soziale Revolution durch Design, an eine Befreiung der Gesellschaft durch totales Neudesign der Alltagswelt vom Besteck bis zum Fertighaus und durch die Nutzung der neuesten industriellen Produkte und technologischen Ent­ wicklungen bei gleichzeitiger Maximierung der organisatorischen Effizienz, der aber im wesentlichen zur Durchsetzung der fordistischen Stadt und des Purismus führte. Am Ende der Moderne hatte man die ästhetischen Fragen ihres Ursprungs vergessen und während der über einige Jahrzehnte reichenden Nutzung ihrer Gebäude wurde sie durch die spielerischen und ornamentalen Gesten und primären Zwänge des All­ tagslebens entzaubert. Die Kunst der Moderne wurde nun Bestandteil der Museen für moderne Kunst, der Werbeanzeigen für modernen Lebensstil, im Design der Alltagsobjekte und Wohnun­ gen, und zog unangefochten in die Pläne der Stadtentwicklung ein. Die aktuelle Ästhe­ tisierung des Alltagslebens und seiner Formen der visuellen Kommunikation verbrei­ teten nun die Lehre der Moderne im Rahmen des stilistischen Pluralismus, der den langen Marsch der Ware durch die Kultur ankündigte. Mittlerweile befindet sich die Ästhetik der Moderne in einer Pluralität von Gestaltungsformen und Stilen, wo jede ein unterschiedliches Konstrukt an Bildern, Objekten und alternativen Lebensstilen vor­ stellt. Und diese Imagekonstrukte und Atmosphären der Milieus, die sich vollkommen jenseits jedes oppositionellen und authentischen Purismus, den die Moderne einst vor­ schlug, bewegen, wurden zur Motivationskraft des zeitgenössischen Konsums. Der öffentliche Raum als Kunstcontainer In der Postmoderne tritt nun erneut der Künstler als ein Player im Kampf um den öf­ fentlichen Raum auf, und zwar hauptsächlich in seiner neuen Rolle als Hersteller von Installationen. Denn der Raum, insbesondere auch der öffentliche Raum ist das natür­ liche Medium der Installation. Die traditionellen Kunstmedien werden alle nach ih­ ren Medienträgern definiert. Leinwand, Stein oder Film, im Falle der Installation ist es eben der Raum.8 Im Falle der Ausstellung des Privaten im öffentlichen Raum bleibt das Kunstwerk immobil, während der Zuschauer zirkuliert, das Kunstwerk wird dem Be­ trachter zum ästhetischen Urteil angeboten. Bei der vom Kurator ausgewählten Kunst handelt es sich nicht um eine gesellschaftlich offiziell geltende und staatlich beglau­ bigte wie auch allgemein verpflichtende Geschichte, sondern um den individuellen Ausdruck eines Kurators, um im Rahmen seiner Strategie einen Künstler den öffent­ lichen Raum im Museum oder in der Stadt nach persönlichen Kriterien ausgestalten zu lassen. Man erkennt, dass hier der öffentliche Raum, wobei der Unterschied zum Mu­ seum verschwindet, zum temporären Archiv für die Durchführung privater künstle­ rischer Projekte wird.9 Der Autor braucht einen Ort, der als ein Ort der Kunst markiert ist und durch eine besondere topologische Beschaffenheit charakterisiert ist, nämlich einer Überschneidung von privatem und öffentlichem Raum. An diesem Ort muss das Ergebnis einer privaten ästhetischen Entscheidung öffentlich zugänglich werden, um sich manifestieren zu können. Nur durch öffentliche Manifestation des Autors kann die individuelle Autorschaft anerkannt werden, da die verwendeten Gegenstände auf­ grund ihres Readymade Charakters nur durch die Markierung durch den Künstler spe­ zifische kontextuelle Bedeutung erhalten, diese Markierung bedarf eben des konkre­ ten öffentlichen Ortes. Die topologische Markierung übernimmt die Funktion, die einst der Bilderrahmen inne hatte, sie wird zum Nachfolger des Bilderrahmens. Der Ort der 172

1 Anthony Ashley Cooper Earl of Shaftesbury, Characte­ Studie zum kollektiven Gedächtnis, UVK Verlag, Konristics, Vol 1, Gloucester/ MA 1963 , S. 79. 2 Charles Tay- stanz 2003; vgl. Christine Boyer, The City of collective lor, Quellen des Selbst, Suhrkamp, Frankfurt 1996 , Memory, MIT Press Cambridge, Cambridge/ MA /London S. 45. 3 Ebd., S. 452 . 4 Adam Smith, Theorie der ethi­ 1996. 7 Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisen­ schen Gefühle, Meiner, Hamburg 1977, S. 526 . 5 Jean bahnreise, Fischer, Frankfurt 1989, S. 39. 8 Boris Groys, Francois Lyotard mit anderen, Immaterialität und Post­ Topologie der Kunst, Hanser, München/Wien 2003, S. 27. moderne, Merve, Berlin 1985 , S. 86 . 6 Maurice Halb- 9 Ebd., S. 26. 10 Ebd., S. 23. wachs, Stätten der Verkündigung im heiligen Land. Eine

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Kunst wird wichtiger als die Auswahl der Dinge.10 Allerdings ist damit auch nur der Ort im Sinne seiner Eigenschaft als Schnittstelle einer Raum­Zeitkonstellation zu se­ hen, die physischen Qualitäten und sonstigen Bedeutungskomponenten sind Merkma­ le, auf die der Künstler eingehen kann, aber deren er nicht bedarf, und meist auch nicht wirklich berücksichtigt. Für das Verständnis und auch Selbstverständnis des autono­ men Kunstwerkes ist prinzipiell nur die abstrakte Raum­Zeitrelation wichtig, schließ­ lich hat sich diese Kunstform aus dem abstrakten Raum des white cube im Museums heraus entwickelt und das Readymade war ursprünglich überhaupt nur zeit­ und nicht ortsgebunden.

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Utopie Der Einbruch der Zeit in die Stadt. Von der urbs zur civitas Ursprung Apolitik. Von der Makroutopie bis zur Immanenz Die amerikanische Utopie des Protestantismus Die Natur als Quelle der Utopie Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis

Abb. 9: Umberto Boccioni, La strada entra nella casa/Die Straße dringt in das Haus ein (1911). Die futuristische Sicht zeigt in der Simultaneität der Wahrnehmung die Durchdringung des privaten Raumes durch den öffentlichen Raum. Es gibt keine Abschottung nach außen mehr, das Öffentliche und das Private vermischen sich, Zeit und Raum gehen ineinander über.

Der Einbruch der Zeit in die Stadt. Von der urbs zur civitas Wenn man den Begriff der Utopie in einen Diskurs über Urbanität einführt oder den philosophischen Ort innerhalb einer Geschichte der Urbanität sucht, wird man unver­ mutet mit einer Reihe von theoretischen Problemen konfrontiert, die das Thema der Stadt nochmals um eine große Zahl schwer beantwortbarer Fragen erweitern. Denn hier wird nun ein latenter Antagonismus im Wesen der Stadt manifest, der unter kon­ ventionellen Bedingungen selten konkret durchdacht wird. Die urbs, von der der Be­ griff des Urbanen kommt, implizierte ursprünglich die Vorstellung von einer Stadt, die eher den materiellen und profanen Aspekten einer Stadt wie dem Schutz vor der Außenwelt in Kriegszeiten und der Durchführung des Handels gewidmet ist, während die civitas eher den Begriff der Gemeinschaft und die damit verbundenen, zumeist re­ ligiösen Rituale zur Festigung meinte. Die urbs ist, wenn man von Kriegzeiten absieht, relativ offen und auch zur Absorption einer gewissen Menge von Fremden imstande, steht andrerseits gewissen problematischen Entwicklungen auch relativ gleichgültig gegenüber, die civitas hingegen beruht auf einem verbindlicheren Regelwerk, dessen Einhaltung auch gefordert wird, wenn die gemeinsamen Werte bedroht scheinen. In­ sofern ist hier die Tendenz zur Errichtung einer strafferen Ordnung unübersehbar, zu­ mal sie der freien Vereinbarung der Bürger, der cives, entspricht. Der moderne Begriff der Urbanität bezieht sich daher nicht ohne Grund auf die urbs, die sich durch eine grö­ ßere Offenheit, Freiheit, aber auch Permissivität aufgrund des niedrigeren Ordnungs­ niveaus auszeichnet. Die Utopie als der Einbruch der Zeit in den Stadtraum Der Einbruch eschatologischer Gedanken in die Stadt, der mit der Idee einer Utopie verbunden ist, beruhte bei Betrachtung einer Geschichte der Utopie in soziologisch­ politischer Hinsicht zumeist auf defizitären Entwicklungen der urbs, die die Sehnsucht nach besseren Bedingungen widerspiegelte, und hatte im Wesentlichen immer die Bil­ dung einer Gemeinschaft zum Ziel, einer neuen civitas, die das Ideal der Stadt in Form einer konkreten Sozialordnung vorstellte. So zumindest die Entwicklung von der An­ tike bis ins mittlere 20. Jahrhundert. Seit der klassischen Moderne, die noch von der Substanz und dem Mythos der Utopie zehrte, hat sich die Idee dieser verflacht und vorläufig an Bedeutung eingebüßt. Doch grundsätzlich liegt die Utopie als eine Form eschatologischer Erwartung im Wesen der menschlichen Natur und meint mehr als eine Tendenz zur Öffnung im Sinne der Erwartung neuer Möglichkeiten, sie bedeutet immer eine Antizipation des Erhofften und damit eine, wenn auch nur momenthaf­ te, Gegenwärtigkeit dessen. Nichts anderes bedeutet der Begriff der Prolepsis, der eine Vorwegnahme künftigen Glücks bezeichnet und der seinen Alltagsausdruck in selte­ nen Fällen in einer oft tiefen Vorfreude findet, einer Freude, die sich beim Eintreten des erwünschten Ereignisses meist gar nicht mehr einstellt. Augustinus hat an eini­ gen Stellen seines Werks diesen Gedanken großartig erfasst. In der Prolepsis erleben wir immer für einen Augenblick die Ewigkeit, die Dauer, die wir in der normalen Suk­ zession der Zeit, die an uns ständig vorbeigleitet, gar nicht erleben können. Es bedarf 177

einer tiefen Hoffnung und vielleicht auch Verzweiflung, um diesen Moment der Ewig­ keit einfangen zu können, aus dem sich der Geist der Utopie speist. Zugleich besteht in den realen Städten, die sich aus einer utopischen Konzeption ableiten, immer der Versuch, die Ewigkeit mittels einer perfekten Ordnung quasi einzufangen und für im­ mer festzuhalten. Diesem Fehler erlag schon Platon in seinen Versuchen, eine von der Idee abgeleitete Ordnung für die Stadt zu erfinden. Doch der notwendige Antagonis­ mus eines Anspruchs auf perfekte Ordnung durch das notwendige Bild einer Utopie und der Unmöglichkeit dies in der Sukzession des Zeitlichen zu realisieren, durchzieht die Planung der Stadt bis heute. Die Krise der Polis. Utopie statt Urbanität Die Entwicklung Athens seit dem Peloponnesischen Krieg machte den Philosophen be­ wusst, dass auch mit der Polis und der Demokratie etwas von Grund auf nicht stimmte. Ihr fehlte ein ideales Ziel, das über die eigene beschränkte Existenz hinauswies. Die für die Griechen neue materielle Orientierung durch die Handelserfolge der Schifffahrt bewirkte einen Niedergang der Prinzipien der Gerechtigkeit und der Mäßigung. Einige Gruppen der Elite zogen sich von der Polis zurück, um sich wie etwa Pythagoras und seine Schüler von fernöstlichen Lehren inspiriert der Entwicklung neuer reiner Le­ bensweisen zu widmen. Zugleich tauchte eine neue Literaturgattung auf, die sich mit dem Entwurf idealer Gemeinwesen befasste, was als untrügliches Anzeichen dafür gelten konnte, dass die Polis, die bisher als die Verwirklichung eines idealen Gemein­ wesens angesehen worden war, in die Krise geraten war. Wenn der Philosoph nach Platon als derjenige gilt, der die Idee und damit das We­ sen einer Sache am besten erfassen kann, so ist es schlüssig, dass ihm auch am ehesten die Kompetenz zur Konzeption einer Stadt gegeben ist. Naturgemäß versuchte er dies von seinem Konzept des Idealismus abzuleiten. Platon war bekanntlich der Ansicht, dass die Idee unter bestimmten Umständen in den entsprechenden Formen erschei­ nen könne und diese idealen Formen umgekehrt durch ihre Gestalt die Idee sichtbar machen können. Die Aufdeckung der Grundstruktur der Ordnung als einer Idee des Guten ist Aufgabe des Philosophen. Denn er ist noch am ehesten in der Lage, die Ideen in Wahrheit und nicht in der verzerrten Form des Scheins zu sehen. Entscheidend ist vor allem der Gedanke, dass der Blick auf die Ordnung auch auf den Philosophen zurückwirkt, indem er selbst geordnet wird, das heißt zur Bildung einer Ordnung befähigt wird.1 Ähnliches gilt auch für den Bürger einer Stadt, die in harmonischer Ordnung existiert und die dadurch eine positive Rückwirkung auf ihn ausübt. Von hier aus sind die Vorstellungen einer Auswirkung der Form auf die Funk­ tionsweise der Gesellschaft und das Verhalten der Bürger anzusetzen, die sich bis in die Gegenwart trotz konträrer Ideologien gehalten haben. Immer noch kursiert die fixe Meinung, dass die gute Form der Stadt demnach auch bessere Bürger erzeugt, obwohl Platon niemals einen konkreten Stadtplan beschrieben hat, wenn man von der vagen Darstellung einer Stadt in den Nomoi absieht. In diesem Falle handelt es sich um eine um eine Burg herum angelegte, von einer Ringmauer umgebene Stadt, in der jedem Bürger zwei Häuser, eines in Zentrumsnähe, eines am Stadtrand zustehen.2 Bemer­ kenswert ist nur die Kreisform der Stadt, die für damalige griechische Verhältnisse ungewöhnlich war. Grundsätzlich geht es Platon um die Einhaltung der Gesetze der geometrischen Harmonie, um sich der Idee und dem Wesen der Stadt anzunähern, wo­ 178

bei er bei der Form nicht an die Gestaltung des Stadtraumes, sondern vor allem an die Struktur der Gesellschaft dachte. Daher dachte Platon in diesem Zusammenhang von Form und Idee weder an Künstler noch an Architekten, die in der griechischen Antike ohnehin nur eine untergeordnete und aus heutiger Sicht auch sehr verschiedene Rolle spielten. Die platonische Skepsis gegenüber der Kunst und den Künstlern ist hinläng­ lich bekannt, sie würden nur schlechte Abbilder des Urbildes bzw. der Idee als einer objektiven Wesenheit schaffen und damit die Menschen in die Irre führen. andrerseits hat Platon durch die Engführung seiner Begriffe der Anschauung und der Aufrichtung der Seele durch die Geometrie, um die Idee besser erkennen zu kön­ nen, die Tendenz zu dieser Interpretation der Wirkung der Stadtform auf die Menschen

Platon als Planer Platon sieht die Situation so: Die Ordnung des Einzelnen und des Ganzen sind dialek­ tisch verbunden. Die vier Wege zur anschauungsmäßigen Erkenntnis dieser Ordnung vor der dialektischen Verknüpfung bestehen in der Arithmetik und in der Geometrie, in den stereometrischen Körpern und der Astronomie. Jede dieser Wissenschaften zieht, wie in der Politea im Dialog zwischen Glaukon und Sokrates beschrieben wird, die Seele nach oben.3 Die Anschauung einer rechten Ordnung bedarf einer entspre­ chenden mathematisch­geometrischen Konstellation, um eine Lenkung zum Ideen­ himmel zu ermöglichen. Platon hat daher in der Politea die soziale Zusammensetzung und Struktur der idealen Gesellschaft der Stadt genau beschrieben, wenngleich er die topographische Struktur und das architektonische Aussehen der Idealstadt kaum be­ rücksichtigt hat, weil er vermutlich griechische Standards voraussetzte, die ihm wohl nicht erwähnenswert erschienen. Platon war vielmehr der paideia, der Erziehung, ver­ pflichtet und hatte keinerlei architektonisch gestalterischen Interessen – und wenn man den modernen Begriff der Stadtplanung einführen wollte, so hätte er nur das befürwortet, was der Stadtverteidigung und seinen Vorstellungen von askesis und me­ tanoia, der Umwandlung der Seele entspricht. Bezeichnend ist auch, dass die einzi­ ge ausführliche Schilderung einer Stadt, wo Platon im Kritias die Megalopolis Atlan­ tis darstellt, nach dem Muster ägyptischer und babylonischer Großstädte gezeichnet wird, die durch ihre Wucherungen und sich ständig wiederholenden Grundmuster ei­ nes Rastersystems mit ausgedehnten Kanalanlagen und einem riesigen Königspalast als negatives Beispiel dient, das durch seine Form schon den Keim künftigen Nieder­ gangs in sich trug. Die Unübersichtlichkeit einer Megalopolis erlaubt weder eine theo­ ria noch den platonischen Vertikalismus durch die Idee der Geometrie und kann daher kein Gutes bewirken. Freilich leidet die Konzeption der Stadt als einem idealen Gemeinwesen dort am meisten, wo sie aus der Unschärfe allgemeiner sozietärer Harmonie heraustritt und konkrete Normen vorschlägt. Platon teilt die Klassen der idealen Stadt – Philosophen, Krieger, Handwerker und Bauern – streng voneinander, sodass er nach Lewis Mum­ ford 4 die Ordnung eines Insektenstaates erzeugte, indem er die Zerlegung der Gesell­ schaft in soziobiologische Strukturen aufgrund der angeborenen Unterschiede und keine Möglichkeit einer Überwindung der Klasse oder Wechsel eines Berufes vorsah. Platon sah vielmehr aufgrund seiner Vorstellung sozialer Geometrie innerhalb der Be­

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vorgegeben, die sich letztlich bis zur Vorstellung der deterministischen Wirkung der Architektur in der Moderne fortentwickelte.

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rufe eine strenge lebenslange Spezialisierung vor, weil diese viel eher den Begabun­ gen und dem Nutzen der Gesellschaft entspreche. Auch die strikte Vorgabe der Stadt­ größe mit 5.040 wahlberechtigten Bürgern, die einer Gesamtsumme von ungefähr 20.000 Menschen entspricht, mit der Unterteilung in die gleiche Anzahl an Grund­ stücken, die auf zwölf Segmente verteilt werden, schließt jede Möglichkeit einer Wei­ terentwicklung der Stadt aus und kann bei einer Überschreitung der Größe nur eine Neugründung zur Folge haben. Im Grunde denkt Platon nostalgisch und träumt von ei­ ner Stadt, die sich an den frühen Aristokratien Spartas orientiert und deren soziale Be­ dingungen er zu rekonstruieren versucht. Anlass dafür ist vermutlich der Niedergang Athens – trotz oder vielmehr aufgrund seiner Demokratie – und der Sieg Spartas, das von einem Tyrannen angeführt wurde, im Peloponnesischen Krieg. Die Athener waren durch die herrschenden Werte der Polis, die sich in Kunst und Rhetorik ausdrückten, und anderen Effekten, die der demokratischen Öffentlichkeit zuzuschreiben waren, verweichlicht und zu einer Abkehr von den Prinzipien der Mäßigung und Vernunft ver­ führt worden. Die Spartaner hätten hingegen durch kluge und strenge Gesetze, strik­ te Zensur und autoritäre Macht das Gute erhalten und den Sieg davongetragen. Platon beschneidet daher die persönlichen Freiheiten des Bürgers zugunsten einer stärkeren Institution des Staates, der über der Familie steht und auch Eigentumsbeschränkun­ gen verfügen kann. Die Herrschaft wird von den Philosophen ausgeübt, die darin von den Wächtern und Kriegern unterstützt werden. Ein wesentlicher Schwerpunkt gilt also auch der Wehrfähigkeit und somit dem Bekenntnis zur Selbsterhaltung, was an­ gesichts des Schicksals der Bürger unterlegener Städte in der Antike, das oftmals in die Sklaverei führte, verständlich, wenngleich heute wieder schwerer nachvollziehbar ist. Trotz all dieser nicht eben revolutionären Inhalte hat aber die Schrift der Politeia nie aufgehört, „wie eine sozialistische, ja kommunistische Schrift zu wirken.“ 5 Letztlich ist sich Platon der Möglichkeit des Scheiterns seines Staates bewusst, denn er weiß, dass sich das Gute nicht leicht durchsetzt schließlich auch aus eigener Erfahrung in Syrakus, wo ihm die Gründung eines Idealstaates nicht gelungen war. Augustinus’ De civitate dei Wie auch immer die Einschätzung von Platons Staatenlehre ausfallen mag, sie ist das bedeutendste Modell einer Idealstadt, die insbesondere durch ihre geometrische Har­ monie der Gesellschaft bis in die Moderne nachklingt. Sie beeinflusste bereits Augus­ tinus Gottesstaat, wenngleich dieser im Vorhinein im Jenseits angesiedelt wurde, weil sich Augustinus gar keinen Idealstaat auf dieser Welt vorzustellen vermochte und er am ehesten den Widerspruch der utopischen Idee verstanden hat. Die civitas dei ist ei­ gentlich eine civitas peregrina, eine durch die Zeit wandernde Gemeinschaft der Chris­ ten, die sich noch an das ursprüngliche Glück erinnert und von daher weiß, was sie in der Transzendenz erwartet. Bei einer Ableitung der utopischen Idee von Augustinus beruht die Möglichkeit zur Prolepsis nur auf der Fähigkeit der Wiedererinnerung an ei­ nen einstigen absoluten Zustand des Glücks, die in Analogie zu Platon steht. Denn wie könne man denn überhaupt ein künftiges Glück erahnen, wenn man es noch nie erlebt hat. Insofern verfolgt Augustinus die platonische Idee in der civitas dei konsequenter als dies Platon bei seinen eigenen Staatsprojekten gelingt. Der Begriff der platonischen Idee im Sinne einer Anwendung auf die Stadt impli­ ziert bereits, dass nur Auserwählte in der Lage sind eine Annäherung an ihr Wesen zu 180

erreichen und dass bei einer Anwendung auf die Stadt diese nur durch eine besondere geometrische Form, die aber eher in der geometrischen Konstruktion der Gesellschaft selbst liegt, erscheinen kann. Zugleich aber wird diese Konstruktion auch in der klaren Gestalt der Stadt sichtbar. Von hier aus ist auch die nahe Verwandtschaft der Idealstadt mit dem Begriff der Utopie zu beschreiben. Denn u­topos meint „Nirgend­wo“, einen Ort, der real noch nicht existiert, den es aber als Ideal schon im Denken des Autors gibt und der nur noch in das Wollen überzugehen braucht.

Thomas Morus’ Utopia Thomas Morus wählt die gleiche Fabelform, indem er im zweiten Buch seiner Schrift „De optimo rei publicae statu sive de nova insula Utopia“ die Insel gleichen Namens vor­ stellt, auf der 54 weitgehend identische Städte gleichmäßig im Abstand von 40 Kilome­ tern verteilt sind und in dieser Idealform Platons Vorstellungen nicht widersprechen. Morus zeigt dort einen vornehmen Kommunismus, der Züge eines sozialistischen und primitiv­agrarischen Idealstaates trägt, das „erstere neue Gemälde demokratisch­kom­ munistischer Wunschträume“. Eine formale Demokratie wird durch eine materiell­ demokratische ergänzt, wo Kollektivwirtschaft mit öffentlicher Freiheit und Toleranz verbunden ist, daher auch eine „Art liberales Gedenk­ und Bedenkbuch des Sozialis­ mus und Kommunismus“ 7 darstellt. Es gibt Glaubensfreiheit, eine für die Zeit der Glau­ benskriege natürliche Wunschvorstellung. Entscheidend ist die Abschaffung des Pri­ vateigentums, Häuser und Wohnungen werden alle zehn Jahre durch Los gewechselt, um auch nicht den Schein des Eigentums aufkommen zu lassen. Jedes Haus hat eine Tür zu den im Gegensatz zur spätmittelalterlichen Realität sehr breiten Straßen und ei­ nen Garten. Der gärtnerische Eifer soll sogar durch Wettbewerbe angestachelt werden. Die Zusammenfassung der Haushalte in der Nachbarschaft macht gemeinsame Speise­ säle und Kindergärten notwendig, um von der Hausarbeit zu entlasten. Auch wird nur

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Frühe Fabelstädte So erschien 1516 die Schrift des englischen Kanzlers Thomas Morus, die in der Form eines Schiffermärchens abgefasst ist. Ein Weltreisender erzählt seinen Freunden von der fernen glücklichen Insel. Dieses Märchen basiert auf einer wesentlich älteren Ver­ sion aus der Zeit der enormen Erweiterung des geographischen Horizonts in der Anti­ ke durch die Feldzüge Alexanders. Diese hellenistische Utopie, die zu einer ähnlichen Zeit wie Platons Kritias und dessen Schilderung von Atlantis entstanden ist, beruht auf einem merkwürdigen Fragment, dem Roman des „Euemeros“ 6. Dieser fährt von Ara­ bien nach einem bisher verborgenen Land, der Insel Panchaea. Dort lebt ein Volk, das ohne Mühe gemeinsam produziert, den Ertrag gleichmäßig verteilt. Es gibt keinen Kö­ nig, das Volk wird von sanften Priestern freundlich geleitet, da die Gesetze von Zeus so vollkommen gelehrt wurden, dass das Volk keines weiteren Eingriffes von oben mehr bedurfte. Eine andere Utopie, die „Sonneninsel“ des Jambulos, „ein kommunistisches und kollektives Fest“ beschreibt noch besser und durchdachter den Kollektivismus und die Ökonomie der Insel im Stile eines Naturmythos, der an den Helioskult erinnert. Das Dionysische wird durch die Aufhebung aller Standesunterschiede in Rausch und Fest erlebt. Der Handlungsraum dieses Staatsromans befindet sich auf sieben Äquato­ rinseln, wo Eigentumslosigkeit und Abschaffung der Sklaverei ebenso gelten, wie die völlige Kastenlosigkeit.

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sechs Stunden täglich gearbeitet, der Rest der Zeit ist dem Spiel und Sport in der Natur oder dem Studium gewidmet. Jede Stadt auf Utopia wird in vier Viertel geteilt 8, in der Mitte jedes Viertels be­ findet sich der Marktplatz mit Läden und Geschäften. Grundlage des demokratisch­ repräsentativen Systems bildet eine Nachbarschaft, die aus 30 Familien besteht und die jeweils einen Gemeinderat wählt. In Summe besteht die Stadt aus 6.000 Familien, die eine Gesamtbevölkerung von ca. 100.000 ergibt. Bei Überschreitung dieser Zahlen ist eine weitere Kolonisierung notwendig. Campanellas Civitas solis Ein Gegenstück zu Morus’ bürgerlicher Utopie ist Campanellas Sonnenstaat, die Civitas solis, die 1623 erschienen ist. Auch hier wieder das Muster eines Reisenden, der bei der Weltumseglung auf der Insel Taprobane (Ceylon) gelandet ist und von Einheimischen zum Sonnenstaat geführt wird. Neben der romanhaften Einkleidung fällt das Inge­ nieurtechnische der Civitas auf, die wie ein gleichzeitiger Festungsplan von Vauban konstruiert ist. Campanella möchte in seinem Staat zeigen, dass nicht nur der Mensch, sondern auch der Staat ein Abbild Gottes ist. Die Sozialutopie steigt vom obersten We­ sen herab und gleicht den Emanationen eines göttlichen Sonnensystems. Daher exis­ tiert hier nicht die Utopie der Freiheit, sondern der personlosen Ordnung im Sinne der „rechten Zeit, der rechten Lage und der rechten Ordnung aller Dinge“.9 Es herrscht eine fanatische Ordnung, die durch eine völlige Abhängigkeit von der Astrologie, von den Sternen charakterisiert ist. Alles steht im Zeichen der Planeten und des Tierkreises. Das häusliche wie das öffentliche Leben der Solarier, der Verkehr wie die Stadtanlage, selbst Bad, Mahl und rechter Beischlaf geschehen nach Sternstunden. Freiheit hat sich nun erübrigt, da in dieser Sterndiktatur alles nach den höheren Gesetzen der Astrolo­ gie bestimmt wird und damit den Bürger von der Notwendigkeit der Wahl entlastet. Es geht bei Campanella um die Aufhebung des unbeherrschbaren Zufalls, aber auch Glücksfalles, indem hier eine mächtige positive Ordnungsmacht vom Zentrum aus wirkt. Politisch gleicht alles einem Staatssozialismus, der das Eigentum abgeschafft hat. Der Staat garantiert die Güterverteilung und bezieht seine Macht aus einer spezi­ fischen Metaphysik, die Obrigkeit spiegelt die Grundkräfte der kosmischen Ordnung, drei Primalitäten des Seins, und zwar Sapientia, Potentia und Amor, werden durch drei Fürsten repräsentiert, ähnlich einem kabbalistischen Raum, um dem Chaos des Außen entgegenzuwirken. Resümierend bezeichnet Bloch Morus als den Ahnen des liberal­föderativen So­ zialismus, der von Robert Owen an aufkam, und Campanellas Entwurf als die Sozial­ utopie mit Strenge und disponiertem Glück.10 Utopischen Schriften weisen natürlich immer politischen, agitatorischen Charakter auf und sind aus einer bestimmten defi­ zitären realen Lage heraus verfasst. Morus, der übrigens seit 1935 von der katholischen Kirche als Heiliger verehrt wird, schrieb sein Werk zur Zeit erbitterter Religionskrie­ ge; Campanella, der siebenundzwanzig Jahre in spanischen Kerkern verbracht hatte, glaubte an die Ankunft seines Staates, der übrigens vom künstlichen Jesuitenstaat in Paraguay ebenso zentralistisch praktiziert wurde und sah die damaligen Großmächte Spanien und Frankreich nur als Werkzeug einer beschleunigten Ankunft seines mes­ sianischen Reiches.11

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der kennt sie alle; so gleich sind sie sich, sofern nicht die Bodengestalt das verhin­ dert.“12 Standardisierung, Reglementierung und kollektive Herrschaft sind zwangs­ läufig die Merkmale dieser nach Bloch vergleichsweise liberalen Utopie. Morus geht in seiner Utopie von den Unzulänglichkeiten der mittelalterlichen Stadt aus, die sich durch ein Übermaß an privatem Reichtum und eine strenge hierarchische Auftei­ lung der Gewerbe und Berufe auszeichnete, wie auch dem Gegensatz zum Land, den er durch eine ländliche Erziehung der Stadtbürger auszugleichen versuchte. Und den­ noch ist es merkwürdig, kaum versucht man die Utopie in eine städtische und sozia­ le Form zu bringen, wird das Ergebnis merkwürdig langweilig. Man muss daraus den Schluss ziehen, dass nur die Kraft des Mythos, der bei Morus von späteren Rosen­ kreuzern und Reformatoren wie Comenius alchemistisch gedeutet wurde, weil Utopia durch die Absprengung der Insel vom Festland aus der schlechten Welt quasi wie Gold aus Blei herausdestilliert wurde, und der bei Campanella deshalb funktionierte, weil die Astrologie eine höhere göttliche Macht verkörperte und damit den kosmischen Ein­ klang sicherstellte, die Anziehungskraft der Schriften ausmacht. Grundsätzlich funktionieren die platonisch inspirierten Städte nach einer politi­ schen Theologie, die von einem kosmisch inspirierten und gesteuerten Kommunitaris­ mus ausgeht. Es gibt ein real anwesendes Prinzip der höheren Vernunft, das ihre Hand­ lungen leitet. Die Stadt muss als harmonische Zusammenfügung ihrer Teile an der göttlich­geometrischen Ordnungsstruktur des Universums teilhaben. Gemeinschafts­ lehre ist nur als Gotteslehre möglich, die aber nur von Philosophen zu erkennen ist. Für den Protestanten Mumford ist bezeichnenderweise dieser utopische Anteil, des­ sen Mehrwert nur bei der Akzeptanz und dem Verständnis einer Einbettung der Stadt in eine Kosmologie und einer höheren Geometrie schlagend wird, aus der Nüchtern­ heit des protestantischen Kommunitarismus heraus gar nicht mehr einsichtig, da er auf Inspiration höherer Quellen, einer magischen Formel gleich, nicht viel geben kann. Für den Empiristen kann eine Utopie nur solange funktionieren, als sie im Bereich des Möglichen liegt, je näher sie dem Bereich des Wirklichen kommt, desto mehr ver­ blasst ihr Glanz. Die Freiheit wird dann immer zugunsten einer höheren Notwendig­ keit aufgegeben. Wenn diese Notwendigkeit auf einer höheren Ordnung basiert, die man zu akzeptieren bereit ist, kann man die Freiheit auch als darin aufgehoben be­ trachten. Das ist die Sichtweise aller kommunistischen Regime. Im Zeitalter fortge­ schrittener Individualität erleben wir jedoch die Paradoxie des doppelten und daher antagonistischen Anspruchs einer Kraft der Utopie, die aus dem Möglichen kommt, um sie zugleich im Namen einer Freiheit und Ablehnung aller Notwendigkeit nicht wahr werden zu lassen. Ernst Blochs Geist der Utopie Doch ist damit der Geist der Utopie noch lange nicht ausgeschöpft. Ernst Blochs gleichnamiges Werk ist wohl der tiefstreichende Text zu diesem Thema und, obwohl

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Die reale Utopie. Von der Möglichkeit zur Wirklichkeit Mumford wiederholt bei Amaurote, so der Name der Musterstadt von Morus, seine be­ reits bei Platon geäußerte Kritik, dass Morus gerade im Moment der Umsetzung seiner sozialen Verbesserungen die Phantasie stockte, die Städte selbst sind einförmig und langweilig. Morus schreibt selbst, allerdings im Sinne positiver Würdigung, weil eben die Einheitlichkeit soziale Diskriminierung vermeide:„Wer eine dieser Städte kennt,

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er Kommunist und Jude ist, liegt die Quelle seiner Inspiration in den mittelalterli­ chen, christlichen Texten eines Joachim von Fiore. Denn im Gegensatz zu den ratio­ nalen Sozialutopien eines Morus oder Campanella, die zwar relativ genaue institu­ tionelle Einzelzüge, die für bürgerliche Emanzipation und sozialistische Tendenzen anschlussfähig waren, entworfen hatten, damit aber allenfalls Modelle für liberale oder autoritative Staaten vorlegten, gilt Bloch die mythisierend christliche Denkart des Mittelalters als diejenige, die den Endzweck nicht verloren hat. „Es hielt sich in dem gärenden, traumschweren Morgenrot, das die joachitische, die täuferische Utopie bis zum Rand erfüllte und ihr den ganzen Himmel zum Osten machte […] Joachim war zwingend der Geist christlich revolutionärer Sozialutopie: so hat er gelehrt und fortge­ wirkt. Er setzte fürs Gottesreich, nämlich fürs kommunistische, zuerst einen Termin und rief zu seiner Einhaltung. Er hat die Theologie des Vaters abgesetzt, ins Zeitalter der Furcht und Knechtschaft zurückversetzt, Christus aber in einer Kommune aufge­ löst. Hier wie nirgends war die soziale Erwartung Ernst, die Jesus in den neuen Äon gesetzt hatte und die von der Kirche zu Heuchelei und Phrase gemacht worden war.“13 Bloch geht zunächst von einer gnostischen Einstellung aus, in der diese Welt ein bloßer Irrtum des Schöpfers ist, ein „Sarg des gottverlassenen Seins“.14 Diese vom De­ miurgen geschaffene Welt besteht nur als unsere verhinderte Selbstbegegnung. Die alte gnostische Formel, dass das Erscheinen der Welt eben darauf beruht, weil wir uns selbst nicht haben und die Erlösung erst durch Gnosis, das Wissen um uns, entstehen kann, weil dies das Verschwinden dieser falschen Welt zu Folge hat. „Das moralische Als Ob erscheint hier wesentlich doch als ein theologisches Noch Nicht.“15 Es geht um die Überbrückung zwischen dem schädlichen Raum des Bestehenden und der Utopie, in dem durch das Licht des moralischen Ichs ein Noch Nicht als Forderung an uns doch schon jene Realität besitzt, das die Spuren der Utopie auch bei uns sichtbar werden lässt. Die Utopie kann nur durch diese Temporalisierung, die sich zu diesem Zeitpunkt noch auf die geschichtsphilosophische Deckung durch Hegel bezieht, eine Wirklichkeit erzeugen, in der die Sehnsucht nach ihr lebendig sein kann. Blochs Wille zum Reich versteht sich als Christusmystik nach dem Tod Gottes. „Weil der Himmel zögert, auf Erden zu werden, soll ein heroisch­mystischer Atheis­ mus, in verzweifelter Empörung den an sich ohnmächtigen Gott in die Erscheinung zwingen.“16 Bloch verknüpft mystischen Atheismus und proletarische Revolution und formt daraus einen chiliastischen Begriff von Kommunismus, der den Marx’schen in sei­ nem Positivismus verblassen lässt. Das revolutionäre Subjekt weiß, dass diese Welt irdisch nicht realisierbar ist, sondern nur in spiritualer Gemeinschaft einer civitas dei mythisch realisierbar ist. Daher sieht Bloch in den chiliastischen und täuferischen Sekten eine Wahlver­ wandtschaft mit der alten katholischen Idee, noch vor der Entstehung des protestan­ tischen Reformeifers, der nur den Geist des Kapitalismus genährt hat. Dort, im Mit­ telalter ersteht Katholizismus noch als echte Idee des Allgemeinen und der religiös gefärbten Solidarität, der das Individuum belässt, wie es ist und nicht den „entarteten Individualismus der Neuzeit“ initiiert. Die Idee der Kirche im Sinne der Tröstung und Hilfe kommt als leitende Erziehungsmacht zur Hilfe, als Ort metaphysischer Predigt­ gewalt, nicht als die wirkliche Kirche. Es geht letztlich um eine Klärung der von den großen, autoritären theologischen Antworten befreiten Fragen der Metaphysik, um 184

Der gotische Dom als Ort der Utopie Bloch sieht im Bolschewismus eine Wiederholung der täuferischen Gotteskämpfe ge­ gen die negative Welt, die durch einen Demiurgen geschaffen wurde, aber keiner weiß, wann die Utopie wirklich real wird. Daher kann sie vorläufig nur im Inneren des Men­ schen durch die Ästhetik erscheinen, um dem Labyrinth der Welt zu entkommen. Ganz im Sinne Hegels findet er im gotischen Dom den Höhepunkt der organischen Linie und damit der bildenden Kunst überhaupt. Für Hegel findet die Baukunst bekanntlich ihre Vollendung in der gotischen Kathedrale, sie ist für ihn das Abbild des himmlischen Je­ rusalems. Für Bloch macht das Schmuckwerk im äußeren Material einen Exodus, der der Musik in der Qualität ihrer Expressivität gleich kommt. Im Ornament des orga­ nisch Abstrakten kann der Mensch das Organische auf höherer Stufe wiedererkennen und damit „das leise Wiedersehen des Ich mit dem Ich, der Ich sein werde: als gotische Entelechie der gesamten bildenden Kunst“.18 Im gotischen Schmuckwerk der Kathedra­ le sieht der Mensch sein eigenes Telos auf der höchsten und letzten Stufe verwirklicht, so wird er dereinst zu sich kommen. „Der Mensch, nicht die Sonne, nicht Geomantik und Astrologie, sondern der Mensch in seiner allertiefsten Inwendigkeit, als Christus, wurde hier das alchymische Maß aller Baudinge. Blickt man nur lange genug hinein, in dieses Blühen und seinen Lauf, so sieht man seine innerste Seele selber darin fließen, und sie wandelt sich darin, wandelt sich zu sich hin. […] es ist ein steinernes Schiff, eine zweite Arche Noah, die Gott entgegenfliegt, die Spitze des Turmes verwandelt sich zur Kreuzesblume als dem mystischen Kehlkopf, der das Kreuz des Sohnes empfängt: und über all diesen Wundern – ‚Wie führt mich jeder Schritt so weit!‘ – ‚das ist ein tief Ge­ heimnis, zum Raum ward hier die Zeit‘.“19 Die letzten Dinge und tiefsten Geheimnisse stehen im christlichen Dom zur Offen­ barung bereit, man muss sie nur für sich erkennen. Bei Bloch steht alles im Zeichen der Antizipation, nur durch Vorschein oder Vorwegnahme lässt sich die Utopie als virtuel­ le Vollendung zumindest im Inneren ersehen. Mehr ist nicht möglich, denn eines steht fest: die Utopie ist „irdisch nicht realisierbar“.20

1 Walter Schulz, Metaphysik des Schwebens, Untersuchun­ S. 567. 7 Ebd., S. 603 . 8 Mumford (wie Anm. 4), S. 379. gen zur Geschichte der Ästhetik, Neske Pfullingen 1985, 9 Mumford (wie Anm. 4). 10 Bloch (wie Anm. 5), S. 614 . S. 207. 2 Platon, „Nomoi“, Gesetze V, 745 c–e, in: Pla­ 11 Bloch (wie Anm. 5), S. 608 . 12 Mumford (wie Anm. 4), ton, Sämtliche Werke, Bd. 9, „Nomoi“ Übers. v. Friedrich S. 380. 13 Bloch (wie Anm. 5), S. 59. 14 Ernst Bloch, Schleiermacher, Insel, Frankfurt/Main 1991. 3 Platon, Geist der Utopie, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1964 , S. 208 . Politeia. Der Staat VII , 525 – 529, in: Platon, Sämtliche 15 Ebd., S. 224 . 16 Nobert Bolz, Auszug aus der ent­ Werke, Bd. 5, „Politeia“, Übers. v. Friedrich Schleierma- zauberten Welt, Fink, München 1994 , S. 22 . 17 Ernst cher, Insel, Frankfurt/Main 1991. 4 Mumford, Lewis, Bloch, Durch die Wüste. Frühe kritische Aufsätze, SuhrDie Stadt. Geschichte und Ausblick, Bd. 1, dtv, Mün- kamp, Frankfurt/Main 1997, S. 35. 18 Bloch (wie Anm. 14), chen 1984 S. 207. 5 Bloch, Ernst, Das Prinzip Hoffnung, S. 39. 19 Bloch (wie Anm. 14), S. 40. 20 Bloch (wie Bd. 2 , Suhrkamp, Frankfurt/Main 1976 , S. 566 . 6 Ebd., Anm. 14), S. 201.

Der Einbruch der Zeit in die Stadt. Von der urbs zur civitas

neue Offenbarungsgehalte zu generieren, „roten Glauben“ mit Sinn zu erfüllen und die Frage nach dem Wozu mit spiritueller Macht zu laden. Russland, so träumt Bloch 1918, das Reich der Revolution, soll zugleich eine Ökumene des Geistes werden. Bloch wen­ det sich gegen die rein ökonomische Sichtweise des Marxismus, die vergessen habe, „daß Sozialismus Theologie war, bevor er Nationalökonomie wurde“.17

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Abb. 10: Das Himmlische Jerusalem, aus: Liber Floridus des Lambert von Saint-Omer (2. Hälfte 12. Jhd.) Das neue, am Ende der Apokalypse entstandene himmlische Jerusalem ist ein beliebtes Motiv für die Darstellung der Utopie. Diese Vision entspringt dem neutestamentlichen Buch der Offenbarung des Johannes.

Ursprung Apolitik. Von der Makroutopie bis zur Immanenz Die Krise der Stadt ist die Voraussetzung der Utopie. Unter den Verfallserscheinungen der Polis blühen die Utopien am besten. Es handelt sich um Gegenentwürfe zur beste­ henden Ordnung, die zunächst in der Form einer literarischen Erzählung, eines uto­ pischen Narrativs, eines utopischen Mythos Form annehmen und im 19. Jahrhundert auch in zunehmender Weise in die Praxis umgesetzt werden. Bei der Utopie handelt es sich zunächst immer um ein Versprechen einer besseren Ordnung, einer funktio­ nierenden Gemeinschaft, einer gelungenen Stadt. Naturgemäß stehen die verschiede­ nen utopischen Modelle, unabhängig von ihrer mythischen Grundstruktur, die den Wunsch nach Erlösung von den bestehenden Problemen einschließt immer auch in Zu­ sammenhang mit jeweils aktuellen sozialen Bewegungen und entsprechenden ideolo­ gischen Denkrichtungen. Zudem ergibt sich eine neue Konkretheit, die diese idealen Ordnungen auch in die Praxis umsetzen möchte. Hier schlägt der Architektur eine Sternstunde, die ihr neu­ en Stoff für Jahrhunderte bietet. Denn wenn in den alten platonisch und augustinisch inspirierten Utopien noch die praktisch unrealisierbare Idee des Staates oder eines himmlischen Jerusalems im Vordergrund steht, so muss sich im Zeitalter des kom­ menden Materialismus eine Manifestation der idealen Gemeinschaft zeigen, sie muss zur Form kommen. Die Utopie muss die Seinsform des Mythos verlassen und erschei­ nen, in der Wirklichkeit eine Gestalt annehmen, sie muss das Unmögliche geschehen machen, nämlich einen Ort einzunehmen. Es zählt zur Paradoxie der Architektur, dass sie diesen Versuch des ontologisch Unmöglichen, nämlich einer Vereinigung von Möglichkeit und Wirklichkeit im Zuge der utopisch inspirierten Projekte im 19. Jahrhundert unternimmt und daraus eine überaus wirksame Produktionsweise entwickelte, die in der Moderne des 20. Jahr­ hunderts erst voll zur Geltung kommt. Der Architektur gelingt es in diesem Zusam­ menhang vorläufig zum letzten Mal eine symbolische Wirkung zu entfalten, die der ursprünglichen Bedeutung des Symbols (tó sýmbolon kommt von symbállein) ent­ spricht, indem das Allgemeine mit dem Besonderen zusammenfällt, was im Grie­ chischen mit „zusammengeworfen wird“ zu übersetzen wäre. Die architektonische Utopie versucht die gesamte Potenz des Allgemeinen zu beanspruchen, das Gebäu­ de ist mehr als ein Gebilde aus Stein und Holz, es ist Teil der Stadt und soll ein ech­ tes Symbol der Gemeinschaft sein, so wie es die Kirche oder der Tempel darstellt, wo die symbolische Verknüpfung von Sakralität und Ort vollzogen wird und die Vielfalt des Volkes unter dem Dach des Tempels zur Einheit findet. Insofern steht die Utopie auch immer in einem dialektischen Widerspruch zur Urbanität, die in dieser Suche der Utopie nach einer Einheit auch immer das Risiko sieht, die Differenzen in unzu­ lässiger Weise zu beseitigen. Das gilt für alle Bereiche des Lebens und betrifft auch die Architektur. Die reale und symbolische Verkörperung der Urbanität vollzieht sich his­ torisch erstmals in der Agora der griechischen Polis, wo der demos die Macht über­ nommen hat.

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Der Widerspruch zwischen dem öffentlichen Raum der Agora und dem Raum der Utopie Gleichzeitig vollzieht sich im antiken Griechenland nach der Befreiung vom Despoten ein symbolisch folgenreicher Schritt im Sinne einer Neugründung der Stadt aus dem Geist der Demokratie durch die erste Ausbildung einer öffentlichen Sphäre, die in ge­ wisser Weise dem Einheitsgedanken und der Klarheit der Repräsentation zuwider­ läuft. Denn in der hellenischen Demokratie wird die Herstellung von Einheit von einer neuen Form der Meinungsbildung, der Öffentlichkeit nämlich abhängig gemacht, wo durch Diskussion und freie Abstimmung eine gemeinsame Politik beschlossen wird, die aber letztlich immer durch eine Mehrheit entschieden wird, die sich gegen eine Minderheit durchsetzt. Die öffentliche Meinung hat keineswegs den Status einer all­ gemein gültigen Wahrheit, sondern ist eine sehr volatile Angelegenheit und die Agora ist keineswegs der Ort, an dem sich zwangsläufig das Gute, das Wahre durchsetzt oder das Schöne hervorgebracht wird. Schon durch die Abtrennung des religiösen Bezirks der Akropolis von der Agora wird auf eine gewisse Unvereinbarkeit zwischen diesen beiden Sphären hingewiesen. Durch die neue Gemeinschaft der Polis wurde die alte Anthropologie des heiligen Or­ tes der Tempelstadt belassen und durch die neuen Modelle einer Demokratie und ei­ nes öffentlichen Raumes, der Agora abgelöst und erweitert. Dies war auch insofern notwendig, als erst durch die Abtrennung der Akropolis von der Agora sich die Ein­ wohner Athens nicht mehr auf ihre Verwandtschaft mit den Toten des Clans bezogen, der göttlichen Ursprungs ist, sondern nun auch mit anderen Familien zusammenleben konnten, weil sie durch diese Strategie in die Lage versetzt wurden, aus der Geschlos­ senheit der Clan­Endosphäre auszubrechen, mit anderen Familien zu koexistieren und die Erweiterung zur demokratischen Polis zu leben. Der symbolische Transfer von der Familie (phyle) zur Vermischung in der Polis entspricht dem eines Übergangs vom To­ tenkult zur demokratischen Verfasstheit der Stadt, vom Tempelgrab zur Agora mit dem Theater und der Stoa. Die Agora wird mit ihren zahlreichen baulichen Erfindungen, die durch sie hervor­ gebracht wurde, zum Generator einer neuen öffentlichen Architektur. Die Stoa als der nach hinten geschlossene, aber zur Agora hin offene Säulengang wird zum Prototyp öffentlicher Architektur mit geschützten und exponierten Stellen, wo sich freie Bürger in angemessener Weise begegnen können. Die Erfindung der Skene und des Zuschau­ erraums im Amphitheater werden bald nicht nur im Theater, sondern auch an anderen Orten, die Elemente einer Bühne aufweisen, wie etwa die politischen Versammlungs­ orte des Bouleuterions, des Rathauses, als bauliche Gestalt wirksam. Aber auch die Gebäude außerhalb der Agora, wie das Gymnasium mit der Palästra, das Stadion oder das Bad, das von den Römern zur großartigen Thermenarchitektur weiterentwickelt wurde, zählen seit zweieinhalb Jahrtausenden zu den Standards öffentlicher Archi­ tektur. Die Griechen selbst unterschieden noch nicht strikt zwischen Schein und Sein, das öffentliche Handeln selbst galt in seinem Vollzug als die einzig mögliche Form der sich im Handeln vollziehenden Enthüllung einer Person, die weitere Wahrheiten aus­ schloss, weil sie im Sinne von Nietzsches Diktum aus Tugend oberflächlich waren. Aus der modernen Perspektive des Staates im 19. Jahrhunderts eignete diesen öffentlichen Gebäuden daher eine hohe symbolische Qualität, weil sie Allgemeines und Besonde­ res vereinigen können, weil das Volk hier seine demokratischen Handlungen vollzog 188

und unter dem symbolischen Schild der Architektur jeder einzelne enthalten sein soll­ te, die Vielfalt des Volkes in ihren spezifischen Aktionen in der Einheit des Gebäudes ihren Ausdruck finden konnte. Im Wesentlichen handelte es sich bei dieser Symbolik um eine Repräsentation des Volkes, die allerdings nicht durch die höchste denkbare symbolische Potenz einer göttlichen Macht ergänzt wurde. Das symbolische Problem der Demokratie ergibt sich dann, wenn – wie es aller­

ren Anfangspunkt einer Theorie der anderen Stadt ansieht, die durch die Gründung der Akademie außerhalb der Stadt symbolisiert wird, um ihre Unabhängigkeit und Überlegenheit von der Agora zu demonstrieren.1 Der Justizirrtum, durch den Sokra­ tes als der beste und gerechteste Mann zu Tode kam, ist das Zeichen dafür, dass auch die Stadt nicht unbedingt der Ort des guten Lebens sein muss, und dass letztlich auch die Demokratie zu schwersten Fehlentscheidungen imstande ist. Es liegt daher in der Konsequenz des platonischen Denkens und der Philosophie überhaupt, dass die Stadt, die in der Realität schlecht funktioniert, nun einer Neugründung im Reich der Ideen unterzogen wird. Wenn man sich nicht mehr der eigentlichen Stadt zugehörig fühlt, wenn einem in der eigenen Stadt die Verwirklichung der Ambitionen verwehrt bleibt, so kann man es entweder bei der Rolle des Zuschauers belassen oder letztlich den apolitischen Versuch eines Neudenkens der Stadt, wie den platonischen Staat oder die Gesetze, unternehmen, um eine Stadt im Reich der Ideen neu zu situieren, die man ge­ meinhin als eine Utopie bezeichnet. In dieser Polis der Utopie, bei der es sich immer um die andere Stadt, die Allopolis handelt, gilt nicht die normale städtische Realität des politischen Kampfes, der sich auf der Agora abspielt und wo der Kampf um den Ruhm Sieger und Verlierer erzeugt, sondern dieses Gemeinwesen ist von einer höheren Vernunft geleitet und es waltet ein Stadtgeist, der einen Vorschuss auf den Ideenhimmel leistet. Daher ist die Utopie das ultimative Symbol einer städtischen Politik, die ohne öffentliche Sphäre auskommt, weil diese auch als Raum der Gegensätze, des Streites und der rhetorischen Überre­ dung gilt, wo sich keineswegs das Agathon, das Gute durchsetzen muss, und wo man sich nicht auf die Vernunft verlassen kann, kraft der sich das Besondere, das Einzelne mit dem Allgemeinen treffen und die Vielfalt in der Einheit vollzogen wird. Die vorhin beschriebene Symbolik der öffentlichen Architektur kann nicht diese fiktive Kraft der Repräsentation erreichen, da der öffentliche Raum nie von allen als der ihre bezeich­ net werden kann. Die Architektur hat immer eine Schlüsselrolle in der Vermittlung der städtischen Idee der Utopie eingenommen, die von einer neuen besseren Ordnung träumte und die damit stark dem Platonismus und damit den reinen geometrischen Formen ver­ pflichtet war. Zugleich befand sie sich damit im Gegensatz zur Agora mit der größeren Tendenz zum aristotelischen Hylemorphismus, der besser die dialektische Spannung zwischen Form und Stoff begriffen hat, die Frage nämlich, wie dem Stoff die Form ver­ liehen wird, wie der Materie die Form durch die Idee aufgezwungen wird und wie die

Ursprung Apolitik. Von der Makroutopie bis zur Immanenz

dings im Wesen der Demokratie liegen kann – sich nicht mehr alle Bürger repräsen­ tiert fühlen, wenn sie sich nicht mehr in der Einheit der Stadt, heute des Staates aufge­ hoben fühlen. Dann verlieren die Symbole zwar nicht ihre Bedeutung, aber ihre Kraft, was erheblich schwerer wiegt. Auch die athenische Demokratie erlebte ihren Einbruch, der wieder in die Apolitik zurückführte. Die Hinrichtung des Sokrates ist jenes Ereig­ nis, das die philosophische Geschichtsschreibung in diesem Zusammenhang als ih­

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vielfältige Gestalt der Stadt in der Realität bestimmt wird. Denn die Architektur ging nicht aus der Idee der Stadt, sondern aus der Realität der antiken Stadt hervor, wie be­ reits in den Schriften des großen Klassikers Vitruv zu ersehen ist. Die makrokosmische Hyperrealität des Körpers als Modell der Idealstadt Die Beantwortung der Frage nach der Einheit von Mensch, Haus und Welt, wie sie durch die utopische Symbolik gestellt wird, ergibt sich immer erst im Nachhinein, nach dem Verlust der Einheit. Einheit kann erst ab dem Zeitpunkt der Erfahrung ihres Verlustes reflektiert werden, da eine Spiegelung erst bei einem Gegenüberstehen mög­ lich wird, das die Notwendigkeit einer Trennung des Ganzen voraussetzt. Das Modell nach dem nun die Einheit von Stadt und Welt vorgestellt wurde, war der menschliche Körper, der von Gott verliehen wurde, denn er stellte die höchste Form eines Organis­ mus dar. Daher muss man sich nun in Überlegung der symbolischen Frage der Utopie in diesem Zusammenhang auch in Erinnerung rufen, dass die Stadt über Jahrtausende keineswegs nur im Denken der Utopie – als ein Teil des Makrokosmos gedacht wurde und damit ein essentielles Teilelement der Welt darstellte, das durch Schöpfungsakte und durch Mitwirkung eines Gottes entstanden ist. Der Umbilicus, der Stadtnabel und der mundus als eine Art tiefer Grube in Rom erinnern noch an diese präsymbolische Verbindung und den Glauben an ein Hervorkommen aus der Erde. Die an diesem Ort abgehaltenen Zeremonien und Rituale galten immer einer Erneuerung dieses Bünd­ nisses mit den Kräften des Kosmos. Die Vorstellung des Stadtnabels, des Umbilicus, war keine Abstraktion sondern entsprach über Jahrtausende dem Bild der Stadt als einen menschlichen Körper, der selbst einmal auf geheimnisvolle Weise zur Welt ge­ kommen ist und der mit Organen und Gliedern ausgestattet ist, die von den Gebäuden gebildet werden. Auch Alberti schrieb noch ganz im Sinne einer körperhaften Vorstel­ lung: „Man baue daher so, dass man an den Gliedern nie mehr wünscht, als vorhan­ den sind, und nichts, was vorhanden ist, irgendwie getadelt werden kann.“ 2 Schon seit der Antike wurde im Banne des makrokosmischen Denkens der Körper mit der Geo­ metrie in Verbindung gebracht, indem die klassische vitruvianische Figur Kreis und Quadrat mit dem Körper in Beziehung setzte. Renaissancekünstler wie Serlio und Leo­ nardo zeichneten ähnliche anthropomorphe Figuren.3 Auch bei Leonardo bildeten der Nabel den Mittelpunkt, Finger und Zehenspitzen die Eckpunkte eines Quadrats. Im­ mer bestand die Vorstellung eines großen geordneten Ganzen, das alles vom Großen bis zum Kleinen umfasste und jedem seinen Platz zuwies. Daraus entstand die sym­ bolische Begründung der Architektur, weil jedes Gebäude noch den holistischen An­ spruch beinhaltete, einen gemeinsamen höheren Ursprung zu haben und daher Teil eines übergeordneten städtischen Ganzen zu sein, das mit dem Kosmos verbunden ist. Jedes Haus war ein Mikrokosmos, das im Körper der Stadt und damit im Makrokos­ mos aufgehoben war. Logischerweise erwuchs daraus die Notwendigkeit einer organischen Architektur, die sich an der Schönheit und Regelmäßigkeit des menschlichen Körpers, der im Mittel­ punkt der Schöpfung stand, zu orientieren hatte. Wie schon aus Albertis Werk zu er­ sehen ist, hat der Architekt neben den Kriterien der utilitas, der Nützlichkeit auch jene der pulchritudo, der Schönheit und der ornamenta, des Schmuckes, zu berücksichti­ gen.4 Albertis Begriff der concinnitas 5, des Ebenmaßes, wird durch die harmonische 190

Vereinigung der Zahl, der Beziehung und der Anordnung hergestellt und stellt sicher, dass die Gesetze der Eurythmie, der Proportionen und Symmetrie eingehalten werden. Allerdings zeigt der Umstand, dass schon bei Alberti das Grundproblem der Architek­ tur und des Ausdrucks zwischen Schein und Sein zur Sprache gebracht wurde, indem er den Schmuck nicht mehr als integralen Bestandteil der Architektur, sondern als er­ dichteten Schein bezeichnete 6, dass der Glaube an die makrokosmische Einbettung der

heit des städtischen Körpers, indem Architektur durch Scheinhaftigkeit die Kraft der Repräsentation zu verlieren drohte. Nun war Alberti ein Bürger der Renaissance mit gesellschaftlichen Ambitionen, der die Rolle des Architekten in der Gesellschaft festi­ gen wollte, aber keinerlei utopische Ziele verfolgte. Im Quattrocento folgten ihm jedoch eine Reihe von Architekten und Autoren, die immer noch einen Zusammenhang von Idealstadt und Körper im Sinne einer Anthro­ pomorphie postulierten, mit dieser Vorstellung aber immer mehr in den Bereich der Utopie abdrifteten. Während die Stadt immer wildwüchsiger wurde, versuchten die Architekten ihre Vorstellung einer städtischen Ordnung von einer Idee abzuleiten und eine Stadt zu konstruieren, die noch keinen Ort besaß, einer Utopie eben. Gleichzei­ tig dachten sie immer noch anthropomorph: Filarete, der mit Sforzinda eine Form von Stadtutopie geschaffen hatte, die als oktogonale Zentralstadtanlage mit einem radia­ len Straßensystem versehen war, nahm erneut die menschlichen Proportionen als Be­ zugssystem und entwickelte eine Anthropometrie der Säulenordnung, deren Propor­ tionen auf den Körpermaßen beruhen, demnach ist etwa die dorische Säule nach der misura grande 9 teste (Köpfe) groß.7 Francesco di Giorgio Martini entwickelte diesen Ansatz noch weiter, indem er auch das Gebälk der Tempelarchitektur vom Kopf ablei­ tete und den Tempel in jedem Detail mit den menschlichen Proportionen in Bezie­ hung setzte.8 Daraus entwickelte er eine Art von Modulsystem, das in gewisser Wei­ se als Vorläufer von Le Corbusiers Modulor gelten kann. Martini betrachtete die Stadt als Körper, der die Festung wie ein Kopf aufgesetzt werden sollte.9 Der Umstand, dass er den zentralen Platz in der Stadt, in Hinblick auf den Umbilicus zum realen Nabel der Stadt erklärte, von dem aus die Nahrungsversorgung analog zur Nabelschnur be­ trieben werde, zeigt die immer noch bestehende Hyperrealität des makrokosmischen Denkens an, die in gewisser Weise präsymbolisch ist, weil hier noch alles für real ge­ nommen werden kann.10 Der architektonische Eros Mit seiner Hypnererotomachia Poliphili hat der Dominikanermönch Francesco Colon­ na eine der merkwürdigsten Utopien im Zeichen eines Liebeskampfes im Traum ge­ schaffen, der im Rahmen einer Traumwanderung durch eine in Ruinen versinkende Antike unerhörte Architekturbeschreibungen liefert.11 Polfilio führt seine Geliebte Po­ lia durch eine phantastische Traumlandschaft in der er unter anderem einen riesigen Turm als gewaltige Stufenpyramide beschreibt, oder einen monumentalen Elephan­ ten aus Obsidian phantasiert, der einen grünen Obelisken auf dem Rücken trägt, der später von Bernini vor S. Maria sopra Minerva realisiert wurde. Den Höhepunkt bildet eine Beschreibung des Tempels per architectonica arte rotondo der Venus Physizoa, der Stätte eines Initiationskultes ins Reich der Venus.12 Der eigentliche utopische Ort ist

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Stadt im Niedergang war. Denn damit traten nicht nur Form und Dekor auseinander, es zerfiel nicht nur die symbolische Funktion des Ornamentums, sondern die Ein­

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aber die Insel Kythera, wo sich auch schließlich die Vereinigung von Polfilio und Po­ lia vollzieht, eine kreisrunde Insel mit konzentrischer Einteilung, die Architektur und Natur in einer geplanten Einheit verbindet, auch an das platonische Atlantis erinnert, das durch abwechselnde Gürtel aus Wasser und Erde um einen zentralen Hügel her­ um charakterisiert ist. Bei Colonna sind die anthropomorphen Vorstellungen der Ar­ chitektur oft mit erotischen Assoziationen zu Polia verbunden, so gemahnt ihn etwa ein Mausoleum an die Brüste der geliebten Polia.13 Der Dominikaner ist ein früher Architekturerotiker, der sich eine Mischung von Idealstadt, locus amoenus und ein Reich der Venus zusammenträumt, die durch eine äußerst gelehrsame Komposition aus anthropomorphen Architekturvorstellungen und Geheimlehren des Quattrocento gekennzeichnet ist. Das Werk war zu seiner Zeit nur wenigen bekannt, übte aber im Frankreich des 16. Jahrhundert über die Rezeption von Jean Martin14 und später, 1804 durch eine freie Übersetzung von J. G. Legrand eine große Wirkung aus.15 Solare Hypersymbolik Diese spezifische symbolische Dimension der Architektur und ihre Einbindung in den Kosmos ist auch in der Utopie von Campanellas Citta del Sole enthalten. Der Sonnen­ staat ist als Neuschöpfung in der Analogie zur biblischen Genesis zu verstehen.16 Der Bericht über den Sonnenstaat soll etwas repräsentieren, was es noch nicht gibt. Die Stadt liegt im kosmischen Schnittpunkt von Elliptik und Äquator, wo sich zwei in die vier Himmelsrichtungen führende Straßen im rechten Winkel kreuzen und das Kreis­ mit dem Kreuzsymbol verbinden. Der Zentraltempel ist ein gestufter, kreisrun­ der Säulenbau, in dessen Mittelpunkt, der sich präzise in der Mitte der Weltachse be­ findet, der Hauptaltar angeordnet ist, auf dem Erd­ und Himmelskarten ausgebreitet sind. Der Raum wird von einer siebenarmigen kugelförmigen Planetenlampe beleuch­ tet, über dem Altar befindet sich ein mit Sternen als Himmel bemaltes Kuppelgewöl­ be, alles ist als Symbolisierung des kosmischen Weltbildes anzusehen, wie es auch die sieben konzentrischen Mauerringe der Stadtanlage vorstellen.17 Zugleich kündigt sich auch eine Erweiterung des Symbolbegriffes an. Die Stadt, die man auch als gebauten Astralmythos in einer kreisförmigen Gestalt bezeichnen könn­ te, nimmt nun durch die zahlreichen Bilder, die überall angebracht sind, eher den Cha­ rakter einer „planetarischen Sonnenallegorie“ an. „Die Stadt ist Erkenntnisarchitektur mit emblematisch ausgestalteten Außenseiten.“18 und verweist nun von der Astrono­ mie bis zur Medizin, von der Zoologie bis zur Politik auf die relevanten Wissensberei­ che der Zeit hin. Diese Explosion der Zeichenhaftigkeit, die nun vom Symbol bis zur Allegorie geht, ist als ein generelles Zeichen der unglaublichen Anstrengung um eine Darstellung des Allgemeinen und der richtigen und umfassenden Repräsentation zu sehen, die in der Renaissance und im Barock zur vollen Blüte kommt. Zugleich ist die­ se Überfülle an Symbolik ein indirekter Hinweis darauf, dass hier der Glaube an das Repräsentierte im Schwinden ist und durch ein unglaubliches Maß an Zeichen zum Erscheinen gezwungen werden soll. Daher schwingt im Hintergrund ein gnostisch inspirierter Wille mit, der unter Aufbietung aller makrokosmischer Kräfte und deren Symbole den Gott zum Erscheinen zwingen möchte. Formal betrachtet nimmt die bauliche Ausführung der Sonnenstadt daher auch in gewisser Weise aufgrund ihrer symbolischen und allegorischen Fülle die „architecture 192

parlante“ vorweg, die im Newton Kenotaph der Revolutionsarchitektur von Boullée später verwirklicht wurde. Zwischen Campanella und Boullée liegt aber ein weiter Weg, der eine Umwandlung vom makrokosmischen, göttlichen Körper zum objektiven, von der Natur bestimmten Körper mit sich brachte. Durch die Ablösung vom kosmischen Denken entwickelte sich eine neue Vorstellung eines Ursprungs der Stadt aus der Natur, die unter Verzicht auf die Rolle des Schöpfers eine tendenzielle Umwandlung und Aufweichung der symbo­ lischen Klarheit bewirkte. Die Architektur übernahm nun die traditionelle Annahme aus der Physik und Medizin, dass analog zur Ausstattung des menschlichen Körpers mit einem bestimmten Charakter durch die Natur, dieser Sachverhalt auch für die

Fouriers Utopie der Immanenz Der vorläufig letzte große utopische Autor, der den Körper und die Stadt, allerdings auf völlig neue Weise zusammendachte, war der Franzose Charles Fourier. Er war gewis­ sermaßen Schüler der französischen Aufklärung, insbesondere der neuen materialisti­ schen Psychologie und ihrer Hauptexponenten Condillac und Cabanis, die die Wissen­ schaft vom Menschen auf Physiologie, Psychologie und Ethik beschränkten und eine Identität von Geist und Körper erklärten. Indem die Affekte des Menschen die grund­ legende Kategorie des menschlichen Handelns bildeten, wurde der Körper die zentrale Instanz dieses originellsten aller utopistischen Denker. Freilich ist das Ergebnis mehr als paradox. Denn Fourier versuchte die Ordnung eines im Grunde immer noch plato­ nischen Staates mit einer körperlich und hedonistisch inspirierten Lehre zu vereinigen, für die eine platonische Idee eine völlige Unbekannte darstellt. Fourier ist der erste völlig materialistische Utopist, dessen Theorie der natürlichen Leidenschaften der Menschen eine neue substantielle Begründung der Stadt abgibt. Mit seiner Theorie verfeinerte er das Konzept der Sympathielehre, indem er nun glaub­ te, die Menschen aufgrund ihrer von Natur aus angeborenen Leidenschaften klassi­ fizieren zu können und ein System zu entwickeln, das sie aufgrund ihrer jeweiligen daraus resultierenden Anziehungskräfte zu einer harmonischen Gesellschaft formt.19 Denn durch die Kenntnis der jeweiligen Lüste würde die richtige Zusammenfassung der entsprechenden Menschen in Gemeinschaften die Herstellung einer universellen Ord­ nung ermöglichen, die dem natürlichen „Unitismus“ oder Harmonismus des Menschen entspricht. Fourier war der erste, der völlig auf den platonischen Staat als Denkhilfe ver­ zichtet und eine Utopie der Immanenz auf der Grundlage einer materialistischen Psy­ chologie errichten möchte. Aus einer Kenntnis der Leidenschaften heraus müsste man die Gesellschaft richtig gruppieren können. „Die Leidenschaft ist die nicht reduzierbare Einheit der Fourierschen Kombinatorik, das absolute Graphem des utopischen Textes.“20

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Bauwerke Gültigkeit haben müsse. So wie man den Charakter des Menschen aufgrund gewisser physiognomischer Zeichen zu erkennen glaubte, so gedachte man auch Bau­ werke ihrem caractère entsprechend nach außen zu identifizieren und sichtbar ma­ chen zu müssen. Das Wesen eines Bauwerks äußerte sich durch seinen Charakter, der Architekt hatte nun die Natur nachzuahmen. Nun kamen Fragen der richtigen und fal­ schen Nachahmung ins Spiel, die bis in die Funktionalismusdebatte des 20. Jahrhun­ dert führt. Wir wenden uns jedoch einem anderen Denker, der noch den Glauben an den Körper bewahrte, jedoch unter einem völlig anderen Zeichen eine neue Tradition der immanenten Utopie begründete, zu.

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Diese Leidenschaften haben drei Ursprünge 21, erstens den Luxismus, das Verlan­ gen nach Luxus, das den sensitiven Leidenschaften der fünf Sinnesorgane entspricht, zweitens den Gruppismus, das Verlangen nach Gruppenbildung, das durch vier Lei­ denschaften Ehre, Liebe, Freundschaft und Verwandtschaft geprägt ist und drittens den Seriismus, das Verlangen nach Serien, die man als die drei distributiven Leiden­ schaften bezeichnen könnte. Während die ersten neun aus der klassischen Psycho­ logie kommen, sind die letzten drei Fouriers Erfindung. Die Dissidente, die Streitlust, ist die Leidenschaft der Intrige, der berechnenden Manie, der Kunst Unterschiede, Rivalitäten und Konflikte auszunützen. Die Komposite ist die Leidenschaft des Über­ schäumens, der Exaltation und der Romantik. Die Variante oder Alternierende, bzw. der Schmetterlingstrieb ist das Bedürfnis nach periodischer Verwandlung, jede Hand­ lung und jedes Vergnügen sollen nach zwei Stunden wechseln. Diese gilt solchen In­ dividuen wie der mythischen Figur des Don Juan, die ständig Beruf, Manie, Begehren und Liebschaften wechseln und von der Gesellschaft verachtet werden, von Fourier jedoch hoch eingeschätzt werden, da sie als ein Agens der universellen Transition wir­ ken und die Möglichkeit viele Leidenschaften schnell zu durchlaufen, bieten. Denn die letzten drei Eigenschaften erlauben es durch die Regeln der Distribution, die anderen Leidenschaften, die für sich allein nutzlos wären, in eine Folge glänzender Kombina­ tionen zu verwandeln, indem sie in Verbindung mit einer anderen Leidenschaft Ver­ söhnung, Gleichgewicht und Bewegung herstellen.22 Das Wesen der Leidenschaft be­ steht aber nicht in der besonderen Form des Gefühlsausdruckes, sondern in der über ihre Anziehungskräfte geschaffenen Einheit eines transindividuellen Körpers, der sich aus 1.620 Charakteren zusammensetzt. Die Leidenschaften sind die klaren und glücklichen Grundelemente der Natur, die wie ein Text gelesen werden müssen, um sie durch Entgegensetzung mit anderen Vorlieben zu kombinieren. So werden etwa die Liebhaber der Bergamottbirne mit den Liebhabern der Butterbirne in ein codiertes Int­ rigenspiel verwickelt, in der sie ihre Streitlust (cabalistique) ausleben können. Fouriers Beweggrund besteht nicht in Gerechtigkeit, Gleichheit oder Freiheit, son­ dern in Lust. „Der Fourierismus ist ein radikaler Eudämonismus.“ 23 Ein besonderes Merkmal liegt im hohen oralen Anteil an der Sinnlichkeit. Liebe und Nahrung sind die großen Quellen der Lust, die immer parallel gesetzt werden. Eine besondere Stärke liegt in der Imagination des Details. Fourier ist ein Liebhaber des Kompotts, das er in den Rang einer philosophischen Nahrung erhebt, weil sich hier das Zusammentreffen von Festen und Flüssigen der Typus des Übergangs, der Mischung, des Neutrums und der Dämmerung ergibt. „Das Zusammengesetzte und nicht das Einfache stillt den Durst, das Begehren.“ Die Harmonie muss so süß wie Zucker sein. Zuvor muss es eine Um­ codierung vom Symbol der Armut und der harten Arbeit zum Objekt des Begehrens ge­ ben, das es zum Nahrungsmittel des höchsten Luxus macht. „Dann wird man den Kin­ dern Kompott zu einem Viertel mit Zucker geben, weil es bei gleichem Gewicht billiger sein wird als Brot […]; Hauptnahrungsmittel des Menschen darf aber nicht das Brot sein, ein einfaches Nahrungsmittel, das nur aus einer Zone kommt, sondern die ge­ zuckerte Frucht, ein zusammengesetztes Nahrungsmittel also, das die Produkte zwei­ er Klimazonen vereinigt.“24 Fourier ist der Erfinder der Hybridformen, der die reinen Formen exaltieren lässt. Bloch bewunderte den geschichtsphilosophischen Sinn Fouriers, der – obwohl kei­ neswegs Kommunist – nicht daran glauben kann, dass die bürgerliche Gesellschaft 194

von sich aus verbesserbar sei und lobt den Satz wonach „in der Zivilisation die Armut aus dem Überfluß selbst entspringt“. Mit anderen Worten, dass der wachsende Reich­ tum keine gerechte Verteilung mit sich bringe und Elend immer nur die dialektisch notwendige Kehrseite des kapitalistischen Glanzes darstelle.25 Für Fourier ist die ak­ tuelle Entwicklung der Gegenwart, die er als die fünfte Stufe der historischen Entwick­ lung und als kapitalistische Zivilisation bezeichnet, zugleich aber auch als unglück­ selige Barbarei verstanden wird, zu überwinden um auf die Stufe des Garantisme zu gelangen, der nun, wie Bloch meint, durch eine Wunschphantasie geprägt wird. Ge­ nossenschaftliche Organisation der Gütererzeugung und Güterverteilung sollen durch Institutionen wie Sparkassen und genossenschaftliche Versicherungsgesellschaften

Der Phalanstère. Die Stadt als Kompott Wenn man die Metapher von Barthes zur Charakterisierung des Fourierschen Werkes als die Zusammenstellung eines gewaltigen Kompotts akzeptiert, so ließe sich das auch auf den Kern seiner Stadtidee übertragen, wobei daran zu erinnern ist, dass Kom­ pott von Kompositum kommt. Das Wesen der Stadt bei Fourier wird durch den Pha­ lanstère am ehesten erfasst. Denn dieses Grundelement der Stadt selbst ist eine Hy­ bridform aus Palast, Kirche, Wohnhaus und Werkstätte und umfasst damit nahezu alle Typen klassischer Gebäude in einem. Es gibt keine Differenzierung zwischen pri­ vat und öffentlich, weil in der Utopie der harmonischen Gesellschaft der Rückzug ins Private auf das Minimum beschränkt wird, was auch die Gegensphäre der Öffentlich­ keit überflüssig macht. Eine besonders wichtige Rolle spielen dafür die Passagen als Übergangszonen, denen große Beachtung geschenkt wird und die die verschiedenen Einrichtungen miteinander verbinden. Die Anlage der Phalanstères entspricht nach einer Beschreibung von Victor Con­ sidérant, eines Schülers Fouriers, dem eines großen dreiflügeligen Gebäudes, das dem des königlichen Schlosses in Versailles ähnelt.27 Bei Fourier gliedert sich die Anla­ ge nach den Funktionen. In den Flügeln befinden sich etwa die Werkstätten oder die Gästeräume, im Mittelpunkt das logistische Zentrum, der Tour d’ordre, das Gottes­ haus, Speisesäale, die Bibliothek, ein Carillon (Glockenspiel) für zeremonielle Zwecke sowie Brieftaubenschläge. „Die Topographie des Phalanstère zeichnet einen ursprüng­ lichen Ort, der im Großen und Ganzen den Palästen, Klöstern, Landsitzen und Wohn­

Ursprung Apolitik. Von der Makroutopie bis zur Immanenz

garantiert werden und in Arbeiterstädten und Phalanstères realisiert werden. Diese Gemeinschaften agieren auf der Basis eines kollektiven Eigentums, obwohl das Privat­ eigentum im Gegensatz zu den sonstigen Utopien nicht völlig abgeschafft wird, kollek­ tiver Führung und Gewinnteilung. Das Leben sollte sich in Radialstädten vollziehen, die aus drei weitgehend gleichförmig bebauten Ringen bestehen. Im inneren Ring be­ findet sich die zentrale Stadt, im zweiten Ring die Vorstädte und große Fabriken, im äußeren Ring weitere Vorstädte mit breiten Straßen. Den nachhaltigsten Eindruck hin­ terließ der Vorschlag der Errichtung von Phalanstères, in denen die Menschen wohnen sollten. Nach seiner merkwürdigen Taxinomie würden jeweils 1.620 Menschen darin wohnen, um die insgesamt 810 Typen der menschlichen Natur zu berücksichtigen. In gewisser Weise entsprechen diese Zahlen einem delirierenden Protest der gegen das Dezimalsystem, gegen die Aufrundung und die geläufige Soziologik gerichtet ist, so wie etwa das absurde Kalkül, dass die Größe eines sozietären Menschen genau 84 Zoll und 7 Fuß betragen wird.26

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komplexen entspricht, an dem die Organisation des Gebäudes und die Organisation der Baufläche eins sind, sodass (und das ist eine ganz moderne Ansicht) Architektur und Urbanismus einander aufheben zugunsten einer allgemeinen Wissenschaft vom menschlichen Ort, dessen erstes Kennzeichen nicht mehr Schutz ist, sondern Zirku­ lation: der Phalanstère ist ein abgeschlossener Ort, in dessen Inneren man zirkuliert (es gibt jedoch Ausflüge nach draußen: das sind die großen Reisen der Gruppen, um­ herziehende ‚Partys‘). Dieser Raum ist natürlich funktionalisiert.“28 Hier wird bereits die Idee der permanenten Zirkulation und Bewegung, die von dem Situationisten Con­ stant über hundert Jahre später entdeckt wird, vorweggenommen. Kommunikation ist das wichtigste und weil die sozietären Menschen ihre ganzen freien Tage zusammen in andauernder Lust verbringen, gehen sie am Abend nur ungern nach Hause und es genügt ihnen ein kleiner Verschlag zum Schlaf. Sehr viel wichtiger als dieser margi­ nale Privatbereich sind die Übergangszonen und die Verbindungsräume. Mit großer Sorgfalt „beschreibt Fourier daher die überdachten, geheizten und ventilierten Ver­ bindungswege, die mit Sand bedeckten unterirdischen Gänge und die erhöhten, von Säulen getragenen Galerien, durch die die Paläste und Landhäuser der Nachbarsip­ pen miteinander in Verbindung stehen sollten“.29 Nur für das Liebesleben ist ein ge­ schlossener Ort zugelassen. Dem organisierten, permanenten räumlichen Austausch entspricht auch eine chronologische Abgrenzung, ein Timing, das alle zwei Stunden einen Wechsel der Leidenschaften vorsieht, um die Erhöhung der Lebenspotenz zu gewähleisten. Roland Barthes bezeichnet daher das Fourieristische Leben als eine rie­ sige Party. Der sozietäre Mensch ist von halb vier Uhr morgens bis elf Uhr abends auf und spielt eine Reihe von Rollen, die immer aus einer Affirmation seiner Leidenschaf­ ten besteht, der Phalanstère ist der Ort der permanenten Party.30

1 Peter Sloterdijk, Der ästhetische Imperativ, Kap. IV , „Stadt und Architektur“, Abschnitt 3, EVA , Hamburg 2007; vgl. Platon, „Apologie“, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Insel, Frankfurt/Main 1991. 2 Leon Battista Alberti, Zehn Bü­ cher über die Baukunst, Buch I, Kap. I, (nach Max Theuer), Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1991, S. 49. 3 Richard Sennett, Fleisch und Stein, Berlin Verlag, Berlin 1995, S. 13 . 4 Alberti (wie Anm. 2), Buch IV , Kap. I. 5 Alberti (wie Anm. 2), Buch IX , S. 492. 6 Alberti (wie Anm. 2), Buch VI , S. 294 . 7 Hanno-Walter Kruft, Ge­ schichte der Architekturtheorie, C. H. Beck, München 1991, S. 57. 8 Ebd., S. 63. 9 Ebd., S. 61. 10 Ebd., S. 63 . 11 Johannes Odenthal, Imaginäre Architektur, Campus, Frankfurt/Main/New York 1986, S. 58 . 12 Kruft (wie Anm. 7 ), S. 66 – 68 . 13 Kruft (wie Anm. 7 ), S. 68 . 14 Kruft (wie Anm. 7 ), S. 133. 15 Odenthal (wie Anm. 11), S. 57. 16 Jörn Garber, „Von der urbanistischen Großutopie zur naturalen

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Kleinutopie“, in: Hubert Gassner/Karlheinz Kopanski/Karin Stengel (Hgg.), Die Konstruktion der Utopie, Jonas Verlag, Marburg 1992 , S. 18 . 17 Kruft (wie Anm. 7 ), S. 108 . 18 Garber (wie Anm. 16), S. 18 . 19 Charles Fourier, Theorie der vier Bewegungen und der allgemei­ nen Bestimmungen, Europäische Verlagsanstalt, Frankfurt/Main 1966 . 20 Roland Barthes, Sade. Fourier. Loyola, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1986, S. 116. 21 Ebd., S. 117. 22 Ebd., S. 117. 23 Ebd., S. 95. 24 Charles Fourier, Oeuvres Complètes, Bd. IV , S. 19; zit. nach Barthes (wie Anm. 20), S. 134 . 25 Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. II , Suhrkamp, Frankfurt/Main 1976, S. 651. 26 Barthes (wie Anm. 20), S. 120. 27 Thierry Parquot/Marc Bédarida, Habiter l’Utopie, La Familistère Godin à Guise, Editions de La Vilette, Paris 2004 . 28 Barthes (wie Anm. 20), S. 130. 29 Barthes (wie Anm. 20), S. 131. 30 Barthes (wie Anm. 20), S. 129.

Die amerikanische Utopie des Protestantismus Man muss beim grassierenden und nicht unbegründeten Antiamerikanismus der jetzi­ gen Tage in Erinnerung rufen, dass die Vereinigten Staaten jenes Land waren, das sich die Realisierung der politischen und demokratischen Utopie zum Ziel gesetzt hatte. Die Wurzeln und Energiequellen für diese Intention wurden zweifelsohne im Bereich des protestantischen Christentums herausgebildet, weil die in Europa oft verfolgten und nicht geduldeten Sekten im neuen Amerika das gelobte Land zu sehen glaubten, das ihnen in der Bibel bei der Einhaltung des rechten Glaubens versprochen worden war. Es liegt im Charakter der Sekten, dass sie aufgrund der notwendigen Abgren­ zung zu den anderen Religionsgemeinschaften immer auf eine starke Gemeinschaft angewiesen waren und zugleich aufgrund der geringen Priester­ und Predigerschar eine völlig andere Form der Organisation entwickelt hatten, als etwa eine katholi­ sche europäische Gemeinde, die ungleich autoritätsgläubiger war. Insofern waren die Ausbildung eines konsequenten Individualismus, der ja auch eine Konsequenz der Einhaltung der Glaubensvorschriften war, und die Praktizierung einer gemeinschaft­ lichen Verwaltung der Gemeinde zur Entwicklung eines demokratischen und zivilen Bürgerbewusstseins äußerst förderlich. Dass letztlich der berühmte „persuit of hap­ piness“ eher die individuelle Verwirklichung vor das Gemeinschaftswohl stellte, ist auch eine Folge des protestantischen Bewusstseins, das den individuellen Erfolg stets als Zeichen der Gottgefälligkeit interpretierte und somit eher als ein Wahrnehmen der Verantwortung vor Gott interpretierte. Aber es steht fest, dass für die Einwanderer des 17. und 18. Jahrhunderts ein besonderer Geist der Utopie spürbar wurde, der für ihre Handlungsorientierung maßgeblich war. Totales Design im Geist der Religion Den protestantischen Sekten, die sich nach Amerika geflüchtet hatten, um hier eine neue religiöse Freiheit zu genießen, bot sich nun die Gelegenheit ihre Freiheit im neu­ en gelobten Land zu realisieren und damit auch ihren utopischen Vorstellungen einer Gemeinschaft Gestalt zu geben. Das bedeutete auch die Verwendung bestimmter ur­ baner und architektonischer Muster, um ihren religiösen Vorstellungen bei der Gestal­ tung einer Stadt Ausdruck zu verleihen. Dabei handelte es sich zumeist um regelmäßi­ ge Muster nach der Art des Schachbretts, weil diese Gleichmäßigkeit der Grundstücke und ihrer Anordnung auch den ethischen Prinzipien der Gleichheit entsprach. Bei den Shakern oder Mormonen etwa verlief der Grundriss der Stadt wie in Salt Lake City quadratisch, weil dies einer biblischen Beschreibung der Städte der Leviten entsprach und auch auf die Vorschläge Ezechiels zum Bau Jerusalems zurückgeführt werden konnte. Diese manische Anwendung des rechten Winkels führte übrigens bei den Shakergemeinden nicht nur zu einer linearen Anordnung der Dörfer und Felder, son­ dern selbst Brot und Fleisch musste in Würfel geschnitten werden. Die Grundlage für dieses rigorose Design wurde in der Sektion IX der Millenium Laws niedergelegt zur Verhinderung einer tendency to feed the pride and vanity of man und zur Vermeidung der superfluity.1 Die Shaker waren also die erste Religionsgemeinschaft, die bereits 197

für ihre Glaubensgenossen das totale Design vorschrieben, unter völlig anderen Vor­ zeichen, aber unter vergleichbaren Bedingungen des Zwangs, wie er eigentlich erst in den letzten Jahren in der gegenwärtigen Gesellschaft zu erleben ist, wenngleich heute die religiösen Gründe in soziale Zwänge konvertiert wurden. Das strenge Design der Häuser, Alltagsgegenstände und Möbel der Shaker erfreut sich noch heute großer Be­ liebtheit bei den Puristen, wenngleich hier alles andere als Vanitasmotive maßgeblich sind. Wenn jedoch damals Schönheit als natürliche Folge von Schlichtheit und Funk­ tionalität gesehen wurde, so war dies keine ästhetisch begründete Haltung, die über­ flüssige Schmuckelemente verbot, sondern eine Folge eines religiös fundierten Aske­ tismus aus dem Geist der protestantischen Sekten, der in Zusammenhang mit einer Neuinterpretation der christlichen Tradition des Opfers zu sehen ist. Die religiöse Ar­ gumentationskette und die psychodynamische Manifestation ist dabei folgende 2 : Das Opfer findet nicht mehr durch die blutige Opferung von Tieren statt, sondern wurde durch das Sühneopfer Christi bewahrt. Zugleich sollen diese nutzlosen Opfer durch Gaben des Herzens und Entsagungen des inneren Selbst ersetzt werden. Die daraus re­ sultierenden Praktiken der Askese verlangen einen Triebverzicht und führen zu einem inneren Empfinden als dem wesentlichen Element eines neuen moralischen Gefühls­ zustands, der über einen Läuterungs­ und Reinigungsvorgang des Selbst in ein rech­ tes Verhältnis zu Gott kommen möchte. Hieraus folgt eine moralische Einstellung zur Umwelt, die durch ihre asketische Grundhaltung nur einfache geometrische Formen ohne jeden Dekor für gerechtfertigt hält. Schönheit wird hier nicht ästhetisch, sondern moralisch begründet, was in völligem Gegensatz zur heutigen Rezeption puristischer Formen der Moderne steht, obwohl auch diese in der ethischen Tradition der Utopie entstanden sind. Der Funktionalismus als Erbe des Utopismus Der Funktionalismus hat seinen Ursprung im protestantischen, vor allem puritani­ schen Rationalismus, der im Geiste der Askese jeden Schmuck als Überflüssigkeit und Abweichung vom Prinzip des reinen zielgerichteten Handelns verurteilen muss. Erfolg wird in diesem Denken nicht durch die mimetische Einfühlung in Schnörkel, sondern durch die Bündelung aller Energien auf ein Ziel erreicht. Daher ist die Verselbständigung des Schachbretts zum Gitter schon vorgegeben, die wiederum als Vorbote eines künftigen Funktionalismus zu sehen ist, der in seiner Konzentration auf das Wesentliche reduziert ist und keines Ornaments mehr bedarf. Der Bildhauer Horatio Greenough, der mit Ralph Waldo Emerson befreundet war, und der protestantischen Gruppe der Transzendentalisten entstammte, gilt als der ameri­ kanische Begründer des Funktionalismus, er forderte eine Suche der Konstruktions­ prinzipien in der Natur mit der Beobachtung der Skelette und der Haut der Tiere zu beginnen.3 Daher müsse die Planung von innen nach außen verlaufen und der äuße­ re Ausdruck habe der inneren Aufgabe zu entsprechen. Diese Form des organischen Bauens ist nur der Ausdruck eines von der Natur vorgegebenen Funktionalismus, der zur Herstellung von natürlichen Maschinen führt. Greenough leitete dieses Funk­ tionsprinzip vom Gesetz der göttlichen Schöpfung ab, zu dessen Einhaltung er sich aus religiösen Gründen verpflichtet fühlte. In seinen Schriften beruft er sich immer auf das Wort Gottes und versteht sich nur als ein Botschafter seiner Nachrichten. Er 198

erkannte wohl die Gefahr einer nakedness der Architektur, doch bezeichnete er diese als majesty of the essential 4. Hier kündigt sich bereits das Suchen nach dem Essentiellen,

ne.5 Vom protestantischen Kunstethos Greenoughs und Emersons gibt es bekanntlich eine direkte Verbindung zur Chicago School of Architecture, wo diese Lehre auf einen fruchtbaren Boden fiel und wesentlich zur Begründung des funktionalistischen Stils beitrug. Man muss an dieser Stelle die Frage erheben, wie denn die Frage der Funktion, die in der klassischen Philosophie völlig nachrangig war und allenfalls dem Bereich der techne zugeordnet war, überhaupt eine derart wichtige Rolle einnehmen konnte, dass ihr geradezu eine spirituelle Bedeutung zukam. Nach Bacons New Atlantis ist die alte Wissenschaft erkenntnismäßig wertlos, da sie nur zu Spekulationen und Wortklaube­ reien führte und damit den eigentlichen Zweck der Ermöglichung guter Werke, der aus dem Feld der Moral kommt, verfehlt. Die Erkenntnisse, die sich aus der Beobachtung der Natur ergeben, müssen über Ursachen und Wirkungen hinausgehen und zum Wohl und Nutzen der Menschheit beitragen. Daher rückt mit dem Puritanismus nun die instrumentelle Haltung in den Mit­ telpunkt der neuzeitlichen Kultur.6 Er leistete einen erheblichen Beitrag zu einer Um­ wandlung und zu neuen Vorstellungen einer sinnvollen Ordnung des Kosmos, indem dieser nicht mehr als eine Ordnung von Zeichen oder Ideen handelt, deren Einheit ein sinnvolles Ganzes bildet, das durch Betrachtung zugänglich wird, sondern nun als Ordnung aufeinander einwirkender Dinge gesehen wird, die in ihrer Einheit ein kom­ plexes Ganzes von ineinander verzahnten Zwecken ergeben.7 Dahinter liegt eine ur­ sprüngliche Einheit nach dem Plan Gottes, die der Mensch nun durch die Wissenschaft herauszufinden hat, um allmählich die Absichten Gottes zu verstehen. Wissenschaft und Kunst erfordern nun eine Haltung, die die Schöpfung nicht mehr als von sich aus wertvollen Selbstzweck ansieht, sondern sie wie ein Werkzeug behandelt. Die Funk­ tion ist nun nicht nur eine technische Bestimmung, sondern erfüllt darüber hinaus ei­ nen moralischen Zweck, der einen religiösen Ursprung aufweist. Der Funktionalismus ist damit eine authentische Haltung, der diese moralische Aufgabe in einen adäquaten Ausdruck überführt. Für die Architektur bedeutet dies, dass die Funktion eines Gebäu­ des Organisation und Form bestimmen muss, ohne dass damit hier die später erfol­ gende Identifikation von Funktion mit der Konstruktion und technologischen Grund­ struktur bereits vorherrschend war. Die anthropomorphe Basis des Hauses als eines umweltlichen Lebensraumes wird nun in die Funktion des Wohnens überführt, wie sie etwa bei Corbusier ein halbes Jahrhundert später in der Wohnmaschine gipfelt. Die Entwicklung verläuft schrittweise, multidimensional und in allen Bereichen der Ar­ chitektur, wenngleich der Funktionalismus der erste ist, der diesen Umstand auch in der Form ausdrücken möchte. Auch haben sich die Bedeutungen ständig verschoben. „Form follows function“ etwa bei Sullivan meinte nur, dass die Form Ausdruck der Funktion sein müsse, weil nur auf diese Weise das Wesen des Bauwerks korrekt dar­ gestellt würde, die Funktion aber auch eine soziale oder etwa demokratische sein kön­ ne, was übrigens auch den gegenwärtigen Interpretationen der Architektur wesent­

Die amerikanische Utopie des Protestantismus

nach dem was gelegentlich als die Quintessenz bezeichnet wird, an. In eine ähnliche Kerbe schlägt Emerson, wenn im Artikel „Thoughts on Art“ in der programmatischen Zeitschrift der Transzendentalisten The Dial von der Fitness als der untrennbaren Be­ gleitung der Schönheit die Rede ist, sodass man sie miteinander identifizieren kön­

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lich näher kommt, als die Lehre des puristisch orientierten Funktionalismus. Sullivan versuchte primär menschliche Funktionen und Grundbedürfnisse auszudrücken und daraus entsprechende konstruktive Gesetzmäßigkeiten abzuleiten, konnte daher noch einen elaborierten Ornamentismus ausleben.8 Daraus resultierte übrigens eine gewis­ se Nähe zur caractère­Lehre in der französischen Architektur, weil auch hier der Cha­ rakter und damit die Funktion des Gebäudes ausgedrückt werden sollte. Bei Sullivans Partner Adler konnte man allerdings bereits eine deutliche Wandlung des Funktions­ begriffs feststellen, indem er das Ornament nicht mehr erwähnt und nur mehr von Glas, Stahl und vor allem der Technologie als den Hauptfaktoren des neuen amerika­ nischen Stils spricht.9 Die Interpretation der Funktionsbegriffe und ihrer Formen ver­ lief unterschiedlich, doch in der Tendenz immer mehr in die Richtung einer Betonung der Konstruktion. Vom amerikanischen Funktionalismus ausgehend wurde es nun möglich, dass das Design in einer nahezu spirituellen Dimension Aufwertung erfährt, weil jede funktionale Position optimal nur durch eine entsprechende religiös­mora­ lische Motivation zu realisieren ist. Damit rückte auch der Prozess der Gestaltung in den Mittelpunkt dieses Motivkreises und machte die Arbeit am Design selbst zu einem Suchvorgang nach der optimalen Umsetzung der Funktion. Die Psychodynamik eines religiös inspirierten Asketismus wandelt sich in der Utopie zum Design der besseren Welt, und bei dieser kann es sich nur um eine bessere Maschine handeln. Man darf die Folgewirkungen des utopischen Denkens, das dem Geist des Purita­ nismus und der protestantischen Sekten entstammt, nicht unterschätzen, da es nun in Form eines strengen Instrumentalismus Einzug in die reale Welt hält und einen kon­ kreten Materialismus befördert. Mit dem rein funktionsorientierten Denken wird der Natur und dem Menschen jedes telos abgesprochen, die schwerwiegendste Folge des Funktionalismus besteht jedoch darin, dass jedes funktionalistische Design bereits ein Ablaufdatum mit sich trägt, da es dem Gesetz der permanenten Rationalisierung unterliegt, das ständig neue Lösungen und neue, der Funktion besser entsprechende Formen generiert, bzw. hervorzubringen gezwungen ist. Die Geschichte des Designs wird so zu einer Abfolge sich ständig einer Neufassung unterziehender Dinge und fügt sich damit in den riesigen Gesamtprozess des technisch ökonomischen Komplexes, der unter dem Druck der permanenten Verbesserung steht. Die hierfür notwendige Einstellung ist die einer umfassenden Kontrolle der technischen Prozesse, die nur aus einer ursprünglich religiös begründeten Haltung der Askese und Selbstkontrolle ent­ stehen konnte. Der überraschendste Effekt besteht jedoch in der allmählichen Um­ wandlung der inneren Haltung in eine Form des ästhetischen Purismus, der sich im Verlauf der Jahrzehnte von der religiösen Fundierung völlig entfernt, um zu einer zen­ tralen Richtung der architektonischen Gestaltung zu werden. Das asketische Element wird beibehalten verwandelt sich jedoch in eine Ästhetik der Strenge, die die Flut des Materials und der Form unter Kontrolle zu halten hat, um das Gesetz der Funktion in seiner wahren Reinheit zu ergründen. Der Gewinn des Architekten besteht im Bewus­ stsein eines Heroismus, der nicht nur selbst den Verlockungen der billigen einschmei­ chelnden Formen des Ornaments zu widerstehen vermag, sondern die Gesellschaft davor zu schützen hat, um die Gestaltung auf das höhere Niveau einer Funktion zu heben und sich dem daraus resultierenden Kanon an Regeln zu unterwerfen, der eine entsprechende Ausdifferenzierung von Form und Material vorsieht.

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Die amerikanische Utopie des Protestantismus

Utopische Stadtgründung. Amerikanischer Protestantismus und römischer Kolonialismus Wenn die Rede von der Begründung des amerikanischen Utopismus durch die religiö­ sen Sekten des Protestantismus ist, so darf nicht eine zweite Wurzel vergessen wer­ den, die erst im Zusammenspiel mit der ersteren die Ermöglichung einer Entfaltung des amerikanischen Traumes gewährleisten sollte. Es geht dabei um eine Vermählung des amerikanischen Protestantismus mit Elementen eines römischen Imperialismus, die eine Wirkung hervorbrachte, die die USA zur Weltmacht machen sollten. Thomas Morus hatte in gewisser Weise diese amerikanische Stadt der Zukunft schon vorgedacht. Denn dort wo Morus in Utopia die soziale Stadt der Zukunft Amau­ rotum darstellte, dachte er bereits unbewusst in den Dimensionen eines Kolonialher­ ren. So übertraf er bei weitem die Proportionen einer zeitgenössischen realen mittelal­ terlichen Stadt, denn seine Stadt misst drei Kilometer im Quadrat und die Verteilung der Bevölkerung von sechs bis 16 Menschen auf eine Familie, von denen es insgesamt 6.000 geben soll, ergibt in Summe mindestens 100.000 Menschen.10 Ab dieser Grenze ist ein weitere Kolonisierung und Stadtgründung vorgesehen, die im Prinzip ohne Ein­ schränkung verlaufen kann und in der Lage ist, zahllose weitere Städte hervorzubrin­ gen. Das mathematische Prinzip des Infinitismus trifft auf das der Diskretion der Zahl. So ist neben der klaren demographischen Einteilung auch die Form der Stadt durch absolute Gleichförmigkeit gekennzeichnet, reglementiert und durch kollektive Herr­ schaft geführt. Die Ordnung der Utopie kann sich keine Differenz vorstellen, das de­ mokratische Ziel der Gleichheit der Bürger muss gewissermaßen Langweiligkeit und Monotonie in Kauf nehmen, wie Lewis Mumford als Kritiker des utopischen Denkens nicht müde wird zu betonen. Was er jedoch missversteht, ist, dass der Anspruch auf Abwechslung und Vielfältigkeit damals nicht in das Bedürfnisrepertoire des asketi­ schen Protestantismus eingeschrieben ist. Aber die reale Siedlungsgeschichte der Vereinigten Staaten verlief so 11: William Penn, der Gouverneur von Pennsylvania und Quäkerpriester, wurde durch eine Schen­ kung des englischen Königs zum Eigentümer eines 120.000 Quadratkilometer großen Gebiets in New Jersey, in dem er sein heiliges Experiment einer Republik von Königen zur Erneuerung der Menschheit durchzuführen gedachte. Die Gründung der Stadt Phila­ delphia erfolgte durch die Erstellung eines Schachbrettmusters, das auf die gesamte Hal­ binsel übertragen wurde. In seinem Memorandum zur Gründung der Stadt schrieb Penn: „Jedes Haus soll […] in der Mitte seines Grundstücks stehen, so dass genügend Platz für Gärten und Obstbäume bleibt; es soll eine grüne Landschaft sein, die durch kein Feuer verwüstet werden kann und die stets natürlich bleiben wird.“12 Das Schachbrettmuster bedeutet hier eine endlose Aneinanderreihung von Gärten, die dem Traum einer Garten­ stadt entspricht, wo die Natur schädliche Einflüsse einer urbanen Gesellschaft fernhält. Im Übrigen gab es auch keine öffentlichen Einrichtungen, kein Zentrum, nicht einmal, im Gegensatz zu anderen neuenglischen Städten, ein Versammlungshaus der Puritaner. Die Stadt war hier nichts anderes als eine Gemeinschaft protestantischer Christen, die durch ihre unmittelbare Verbindung zu Gott auf keine weltlichen Instanzen angewie­ sen waren. Öffentlichkeit konnte gar nicht erst entstehen. Freilich zeigte der Verlauf der Stadtgeschichte, dass ab dem Zeitpunkt, als die Stadt nicht mehr unter der Kontrolle der Quäker stand, auch die Parks und grünen Zonen der radikalen Verbauung unterzogen wurden und die evangelische Gemeinschaft vom Kapitalismus abgelöst wurde.

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In Nordamerika entstanden im 18. Jahrhundert weitere Städte im Schachbrett­ muster, weil damit auch die reale Utopie einer Gesellschaft von gleichberechtigten Grundstücksbesitzern ausgedrückt wurde. Die Land Ordinance von 1785 teilte das Land in jeweils sechs Quadratmeilen große townships auf, die wiederum weiter in sich ge­ gliedert waren. Damit war für das gesamte Land ein nach allen Seiten hin gleiche Ei­ genschaften aufweisender Kataster geschaffen worden, der sowohl an die römische Landvermessung erinnert, als auch an die Grundstücksbemessung in Morus’ Utopia denken lässt.13 Man muss daran erinnern, dass es sich beim Gitter und Schachbrett­ muster um keine Erfindung der amerikanischen Protestanten handelt, sondern dass dieses Modell bereits seit der griechischen Antike und vor allem in der Stadtplanung der römischen Kolonien eingesetzt wurde. Das Prinzip einer tabula rasa galt nicht nur in der Kolonisierung, sondern es entsprach auch dem Ordnungsdenken der Utopie, dass es das Gitter aufgrund seiner Übersichtlichkeit und Regelmäßigkeit, die in völli­ gem Gegensatz zum Chaos der über Jahrhunderte gewachsenen mittelalterlichen Stadt stehen, bevorzugt. Washington D.C. : Demokratischer Utopismus oder römische Magnitudo Auch Thomas Jefferson, der Architekt, Politiker und spätere Präsident galt als Anhän­ ger dieser Methode der Landeinteilung, weil er damit im Sinne eines demokratischen Ideals alle Bürger am ehesten zu Grundbesitzern machen zu können glaubte. Daher stand die Planung von Washington unter ähnlichen Vorzeichen, da man aufgrund po­ litischer Interessen beschlossen hatte, keine bestehende Stadt auszubauen, sondern ein beinahe tropisches Sumpfgebiet in eine Landeshauptstadt zu verwandeln. Jeffer­ son hatte zur Gründung Washingtons einen entsprechenden Straßenplan mit Schach­ brettmuster nach den streng geometrischen römischen Vorstellungen eines Gitters vorgesehen. Die Regierungsgebäude hätte er wie ein römischer Feldherr genau in die Mitte der Stadt gesetzt, eine Achse nach dem Muster von Cardo und Decumanus errich­ tet, zumal man ohnehin einen lateinischen Traum träumte, indem man Teilen des Ge­ ländes sogar römische Namen verlieh.14 Aber die richtige Gestalt einer vom römischen Geist des Imperiums inspirierten Stadtgründung war damit noch nicht gegeben. Ob­ wohl Jefferson seine Romanophilie später durch den Bau seiner Villa in Monticello und die Gründung der Universität in Virginia erfolgreich stilistisch unter Beweis stellte15, wurde die Intention einer utopisch fundierten Stadtgründung erst durch das Auftre­ ten von Pierre Charles L’Enfant, einem idealistischen Franzosen, der sich im Revolu­ tionskrieg der amerikanischen Seite angeschlossen hatte, in die richtige forma urbis gebracht. Ihm war die Aufgabe eines neuen Designs übertragen worden, als er in einem Brief 1791 an den damaligen Präsidenten Washington herbe Kritik an dem Gitterplan „als er­ müdend und schwächlich […]einer kalten Vorstellungskraft entsprungen, der ein Ge­ fühl des wirklich Großartigen und des wahrhaft Schönen fehlt“16 geäußert hatte: Den Gitterplan hielt er für flaches Gelände passend, nicht aber für das vorgesehene ab­ wechslungsreiche Gelände, das er genau untersuchte, um sich von der Topographie inspirieren zu lassen. Er war von der beherrschenden Lage des Jenkins Hill gefesselt, der „wie ein Podest auf seine Bebauung wartete“17 und zum späteren Standort des Ka­ pitols wurde. An diesem Ort plante er auch ganz im Geiste eines barocken Baumeis­ ters wie Bernini mit dem Wasser aus dem Tiber einen Wasserfall hinunterstürzen zu 202

lassen.18 Weiters versuchte er die natürlichen Merkmale in Hinblick auf eine Hierar­ chie der öffentlichen Gebäude wie des Kapitols, des Weißen Hauses, des Obersten Ge­ richtshofs und anderer Gebäude zu ermitteln und war damit der erste Planer seit den Woods in Bath, der ein schwieriges Gelände ausnutzen wollte, ohne es zu beseitigen.

Stadt mit Verkehrsknoten und Zentren, durch ein Netz strahlenförmig angeordneter Straßen verbunden, die das Gitter durchschnitten. Die wichtigsten Avenuen waren 48 Meter breit und selbst die kleineren Avenuen, die zu öffentlichen Gebäuden oder Märkten führten, hatten 40 Meter Breite, die übri­ gen Straßen waren immer noch 27 bis 33 Meter breit.20 Die Avenuen waren beidseitig mit Bäumen bepflanzt und bezweckten das Bild von riesigen Alleen. Als Gipfel dieser großzügigen Anlage sah L’Enfant zusätzlich eine 1.600 Meter lange Mall mit 150 Meter Breite vor, die sich vom Fuß des Jenkins Hill, dem Ort des Kapitols nach Westen zum Potomac ziehen sollte. Die Avenuen, die den Namen der einzelnen Staaten trugen, er­ öffneten großartige Aussichten über die Stadt und auf die Plätze, die mit Denkmälern und Brunnen geschmückt werden sollten. Sie sollten den Eindruck erwecken, als ob sie eine unmittelbare Verbindung in das jeweilige Land herstellten bzw. eine gesamte Region in der Stadt zusammenläuft. Das nach Osten gerichtete Kapitol sollte das Land zum Anacostica in die Stadt einbeziehen, das President’s House am Rande von George­ town würde den Westen einschließen. Diese beiden wesentlichen Bauten sollten durch die 50 Meter breite Pennsylvania Avenue verbunden werden. L’Enfant plante im Geiste des europäischen Barocks, inspiriert durch die Champs Elyssées und Versailles, wo er seine Jugend verbracht hatte, ehe ihn das Schicksal nach Amerika führte. Washington war von diesem 1791 vorgelegten Entwurf beeindruckt und verteidig­ te ihn gegenüber den Landbesitzern, erst als das gesamte Ausmaß seines Planes be­ kannt wurde – L’Enfant hütete sich den Plan herauszugeben und dauerhaft studieren zu lassen – musste er ihn entlassen, da eine Realisierung des utopischen Planes völ­ lig unmöglich schien. Von den 25.000 Hektar, die der Plan für das gesamte künftige Stadtgebiet umfasste, wurden 1.450 für Straßen und 219 für öffentliche Gebäude, Parks und Anlagen gewidmet.21 Mumford bemängelt trotz der Würdigung des Gesamtplanes das Verhältnis zwischen dem dynamischen und statischen Raum, zwischen den Fahr­ zeugen und Gebäuden, aufgrund seiner Verschwendung kostbaren städtischen Bo­ dens, zumal in der ersten Ausbaustufe nur 793 Hektar, weniger als der für Straßen und Avenuen benötigte Boden, für die Aufteilung in Baugrundstücke überblieben. Überdies wollte L’Enfant zunächst die Straßen und einige öffentliche Gebäude errichten, bevor die Baugrundstücke abgesteckt wurden. Durch diese insgesamt 20.272 Grundstücke erhielt man Wohnraum für nur 120.000 Menschen, während das Straßennetz für eine Stadt von mindestens einer halben Million Einwohner ausgelegt war. Diese Aufteilung bewährte sich erst weit über hundert Jahre später, sie war aber zuvor über Jahrzehnte der Grund für die Stagnation der urbanen Entwicklung. Erst seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts kam ein starkes Wachstum auf, das sich im 20. Jahrhundert fortsetz­ te. Auch wenn die Nachfolger L’Enfants seinen Plan verwässerten, der im Grund auch existierte, weil Ellicot 1792 eine Kopie anfertigte, da L’Enfant ihn nie herausgab, bietet er ein grandioses Beispiel einer utopisch inspirierten Stadtgründung, die nur aufgrund der Kompromisslosigkeit seines Protagonisten zustande kam.

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Zwischen den Gebäuden wurden große Achsen als Verbindung gelegt, während der Raum dazwischen mit einem Gitternetz ausgefüllt wurde.19 Das Ergebnis war eine

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L’Enfant strebte ebenso eine Mischung politischer und sozialer Institutionen an, ganz im Sinne des frühen republikanischen Forums in Rom. Der Kongress „sollte Teil eines Platzes für den Aufenthalt aller sein, entlang jeder seiner Seiten mögen Theater gebaut werden, Versammlungsräume, Akademien und alle Arten von Häusern, die die Gelehrten anziehen und den Müßigen Anziehung bieten können“ 22, wie er in einem Schreiben an den Präsidenten Washington mitteilte, wo er die Notwendigkeit zur Ge­ staltung eines urbanen Raumes darzustellen versuchte. Obwohl viele Elemente der Planung barocken Charakter aufweisen, spricht Sen­ nett mit Recht aufgrund der vielen Zentren und gemischten Geschäfts­ und Wohn­ vierteln von einer starken Berücksichtigung der Zirkulation unter dem geistigen Ein­ fluss der Aufklärung. Vor allem wurde L’Enfant durch das sumpfige Gelände und das drückende Klima zur Schaffung städtischer Lungen gezwungen, also Naturräumen, die das freie Atmen ermöglichen. Damit antizipierte er die Zirkulationsanforderungen einer Stadt für 200 Jahre, einerseits jene des Verkehrs, andrerseits die der notwendigen klimatischen Bedingun­ gen durch eine Klimatechnik des Naturraumes. Eine weitere, vielleicht die vorläufig letzte Dimension des sozialen Utopismus, er­ gab sich in Washington durch den starken Zuzug der befreiten Sklaven nach der Ein­ führung des Sklavereiverbotes in den Nordstaaten im Jahr 1862, diese strömten aus den ländlichen Gegenden Virginias, wo sie gearbeitet hatten, nun nach Washington und machten bald ein Drittel der Bevölkerung aus. Während des Bürgerkriegs wurden Anfänge der Gleichberechtigung gemacht, erste öffentliche Schulen für Schwarze ent­ standen, Schwarze wurden in Ämter der Stadtverwaltung gewählt, die Howard Uni­ versity, die amerikanische Hochburg schwarzer Erziehung, 1867 gegründet. Frederick Douglas, ehemaliger Sklave und bedeutendster Kämpfer für die Gleichberechtigung der Schwarzen zu seiner Zeit, gab eine Wochenzeitung heraus. Trotz einer wechsel­ haften Geschichte mit vielen Rückschlägen ist Washington auch heute mit 70 Prozent Anteil an Schwarzen ein schwarzes Zentrum, wo einerseits eine äußerst erfolgreiche schwarze Mittelschicht mit dem höchsten Durchschnittseinkommen schwarzer Haus­ halte in Amerika lebt, andrerseits aber in manchen Vorstädten auch extrem hohe An­ teile an Drogenkriminalität und Gewalt zu beobachten sind.23

1 Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheo­ rie, C. H. Beck, München 1991, S. 406 . 2 Vgl. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung, Vorlesung XX , Insel Verlag, Frankfurt/Main 1997. 3 Kruft (wie Anm. 1), S. 401. 4 Kruft (wie Anm. 1), S. 402. 5 Kruft (wie Anm. 1), S. 404 . 6 Charles Taylor, Quellen des Selbst, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1996, S. 377, 409. 7 Ebd., S. 412. 8 Kruft, (wie Anm. 1), S. 411. Auch das Ornament entspricht der Logik des Wachstums, weil es aus organisch keimhaften und anorganisch geometrischen Grundformen besteht, die eine spezifische Ausdrucksform menschlicher Aktivität darstellen und damit einer inneren Kraft Ausdruck verleihen. Hier ergibt sich eine Nähe zu Ruskins Theorie des Ornaments. 9 Kruft (wie Anm. 1), S. 412. 10 Lewis Mumford, Die Stadt, dtv, München 1979, S. 380. 11 Ruth Eaton, Die

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ideale Stadt, Nicolai, Berlin 2001, S. 92. 12 Spiro Kostof, Das Gesicht der Stadt, Campus, Frankfurt/Main/New York 1992, S. 144 . 13 Eathon (wie Anm. 11), S. 86. 14 Richard Sennett, Fleisch und Stein, Berlin-Verlag, Berlin 1995 , S. 332 . 15 Vincent Scully, New World Visions of Household Gods & Sacred Places, Little, Brown, New York/Boston 1988 , S. 74 – 82 . 16 Elisabeth S. Kite, L’En­ fant and Washington, Princeton 1967, S. 21; zit. nach Sennett (wie Anm. 14), S. 332 . 17 Kostof (wie Anm. 12), S. 209. 18 Mumford (wie Anm. 10), S. 471. 19 Kostof (wie Anm. 12), S. 209. 20 Mumford (wie Anm. 10), S. 470. 21 Mumford (wie Anm. 10), S. 470. 22 Sennett (wie Anm. 14), S. 333 . 23 Jochen W. Siemens, Washington D. C. , DuMont, Köln 1991, S. 116.

Die Natur als Quelle der Utopie Im Zuge der Säkularisierung und der Ablösung von einem durch Schöpfung begründe­ ten Menschenbild vollzieht sich ein Erkenntnisprozess, der zu einer Neuformatierung führt, indem die Referenz Gottes durch die der Natur ersetzt wird und indem nun eine Vorstellung vom Menschen entsteht, die durch die Feststellung von menschlicher Sub­ jektivität und von Selbstbewusstsein begründet wird. Diese Fähigkeit basiert auf einer Auffassung, die den Weg zur Vernunft über eine Überwindung der Begierde durch die Vernunft sieht, diese aber nicht mehr im Sinne einer mönchischen, für die Gesellschaft wenig nutzbringenden Haltung, sondern durch eine neue Wertschätzung des profanen Lebens zu realisieren glaubt. Diese alte Askese wird durch die neue Form der „inner­ weltlichen Askese“ 1 ersetzt, die den Beruf und die Berufung in den Mittelpunkt rückt. Es handelt sich dabei um eine merkwürdig ambivalente Haltung zur Welt, die wir einerseits lieben und andrerseits verachten sollen. Wir sollen mit einer Gesinnungs­ ethik auf die Welt eingehen, aber uns durch den Gebrauch der Dinge nicht zu sehr an sie binden. „Eifer in den weltlichen Geschäften und dennoch Unempfänglichkeit für die Welt.“ 2 Die über den Neoplatonismus und Protestantismus eingeführte Bejahung des gewöhnlichen Lebens und die Ablehnung der alten Mönchsfrömmigkeit und Ver­ ehrung des Asketismus führen zu einer neuen Art von Lebensführung hinsichtlich der Produktion und Reproduktion. Dies erfordert eine neue Einstellung zur Natur, indem der Mensch nun durch die Aneignung und Umwandlung der Natur seine Welt mit einer riesigen Fülle neuer Objekte ausstattet, um das neu erwachte Begehren zu befriedigen, aber diese Haltung andrerseits auch religiös rechtfertigen zu können. Der Utilitarismus begründet diese Einstellung durch den großen gegenseitigen Nutzen und führt den Be­ griff des Sozialen ein. Der Protestantismus bestimmte diese Art der Führung eines ge­ wöhnlichen Lebens, das nicht von der mönchischen Pflichterfüllung dominiert wird, theologisch, die Utilitaristen im Sinne der instrumentellen Vernunft. Die äußere und die innere Natur Zwar sind auch bei Autoren von Descartes über Locke bis Kant die Ehrfurcht gebieten­ den Kräfte der menschlichen Vernunft und des menschlichen Willens noch von Gott geschaffen und Teil von Gottes Plan, und sie sind auch bestimmend für das Bild Got­ tes, das wir uns von ihm in unserem Inneren machen. Der große und in seinen Folgen damals noch gar nicht absehbare Sachverhalt besteht aber darin, dass die Quellen der ethischen Bewertung der Welt nun in uns liegen und damit die Voraussetzung einer nicht theistischen Moral geschaffen wurde, einer Moral, die wir in unserem Inneren erst erschließen müssen. Die Vorstellung einer göttlichen Vorsehungsordnung aufgrund einer positiven Schöpfung entwickelt sich im Zuge der Säkularisierung weiter zum Bild einer Natur, die als ein aus ineinandergreifenden Wesen gebildetes Geflecht zu verstehen ist, das auf die Erhaltung jedes seiner Teile hinwirkt, wobei die Umdeutung nun darin besteht, dass das uralte Prinzip der Entelechie diesem Geflecht aus Leben und dem Glück der darin enthaltenen Geschöpfe dient. Das Ziel ist nun der Mensch selbst. Der Weg dahin erfolgt nun über eine von göttlicher Schöpfung abgekoppelte Natur, die den Menschen einerseits als Umwelt umgibt, andrerseits aufgrund des Körpers auch Teil seiner selbst 205

ist. Zu diesem Sachverhalt haben wir aber nicht nur durch die Vernunft Zugang, son­ dern auch durch die Gefühle und dies erfahren wird durch unsere innere Natur. Wir haben zu den Prinzipien der Natur, die auf ein allgemeines Wohl ausgerichtet ist, in unserem Inneren Zugang. Damit wird die Natur zu einer neuen, von Gott unabhängi­ gen Quelle der Ethik. Zugleich löst sie sich von ihrem Urheber und wird zur wichtigsten Moralquelle und zur wichtigsten Handlungsgrundlage. Nun steht das desengagierte Subjekt, der Mensch ohne Gott, an einer Stelle, wo der Platz für Gott vorbereitet war, und nimmt eine Haltung ein, wie es sich für das Ebenbild Gottes schickt.3 Der Glaube an die ineinandergreifende Ordnung entspricht dem Grundgedanken der jüdisch­christlichen Religion, führt zur Bejahung des gewöhnlichen Lebens und erweitert die christliche Vorstellung, dass die Güte Gottes darin besteht, sich um das Wohl der Menschen zu kümmern. Die älteren christlichen Vorstellungen waren ja vom Wert des Verzichts ausgegangen, bzw. dass der Wert eines Gutes dadurch bestimmt wird, dass man darauf verzichtet. In den neueren protestantischen Auffassungen setzt sich aber der Gedanke durch, dass man über den Genuss der Güter bzw. durch sie hin­ durch auf Gott treffen könne. „Wir sollten zwar die Dinge der Welt lieben, doch unsere Liebe sollte sozusagen durch sie hindurchgehen hin zu ihrem Schöpfer.“4 Die Vorstel­ lung eines Weges zu Gott war nicht mehr durch die mönchischen Ideale der Askese, sondern durch ein Lob des profanen Lebens und ein neues Prinzip der Fülle gekenn­ zeichnet, zu dessen Verwirklichung der Mensch befähigt und befugt ist.5 Eine Annähe­ rung an diese Sichtweise wurde durch die neoplatonische Philosophie ermöglicht, die durch eine radikale Umkehr der Ideenlehre und platonischen Seinsordnung nun zum Schluss kam, dass das Gute notwendigerweise existiert und sich in einer unendlichen Fülle von Wesen entfalten muss, weil jede Idee eine irdische Entsprechung hat, die zumindest potentiell vorhanden ist und nun vom Menschen zu entdecken ist. Daraus folgte eine Pflicht zur Erforschung und Entschlüsselung der Natur und in weiterer Fol­ ge führte diese Idealisierung einer Mannigfaltigkeit zu einer Forderung nach bewus­ ster Nachahmung und sogar Vermehrung der Fülle der Natur.6 Die Problematisierung dieser Mannigfaltigkeit im Sinne einer ökologischen Integration in die Welt wird erst in der heutigen Zeit durch Bruno Latour vorgenommen. Der Pragmatismus eines Ba­ con, der über viele Jahre höchste Ämter in England ausübte, konnte auf der Grundlage dieser Neueinschätzung der Natur, die nun den Menschen in ihren Mittelpunkt gestellt hatte, ein neues Konzept zur Erforschung der Natur entwickeln, um ihr die Geheimnis­ se zu entlocken und sie damit dem Wohl des Menschen zugänglich zu machen. Auch die Realisierung dieser Naturauffassung bedurfte einer utopischen Formulierung, um eine entsprechende Verbreitung der Ideen zu fördern. Francis Bacons New Atlantis. Ein Forschungscluster im frühen 17. Jahrhundert und die Erfindung der Naturpolitik Die entscheidendste und wirksamste Utopie stellt Francis Bacons (1561–1626) New Atlantis dar, obwohl dieses Werk im Zusammenhang mit der Stadtforschung kaum er­ wähnt wird, da die städtischen Auswirkungen eher indirekt und weniger vordergrün­ dig oder spektakulär sind. Tatsächlich aber ist diese Utopie für die moderne Gegenwart mehr bestimmend als alle anderen. Denn Bacon entwirft das Bild einer Gesellschaft, die dadurch charakterisiert ist, dass sie durch eine Umwandlung der Natur durch wis­ senschaftliche Erkenntnis ihre Existenz neu bestimmt und die gesamte gesellschaftli­ 206

Atlantis ist zweifellos nach dem platonischen Mythos benannt, stellt aber kein versun­ kenes Reich dar, sondern ist ein Ideal der Zukunft; und die Reisenden werden von der Insel entlassen, um ihre Erfahrungen in aller Welt zu verkünden. Der auf der Insel ge­ legene Staat nennt sich Bensalem und dessen interessanteste Institution ist die „Ge­ sellschaft des Hauses Salomon“, die auch das „College of the Six Days Work“ genannt wird, ein Orden, der von einem Verfassungsstifter des Landes Salomona eingerichtet wurde. Solon und Salomona ist übrigens eine Namenskreuzung aus dem athenischen Staatsmann Solon und dem weisen Fürsten der Juden, Salomon. „Der Zweck unserer Gründung ist die Erkenntnis der Ursachen und Bewegungen sowie der verborgenen Kräfte in der Natur, und die Erweiterung der Grenzen der menschlichen Herrschaft bis an die Grenzen des überhaupt Möglichen.“ 7 Der Tätigkeitsbereich des Hauses Salomon ist primär auf das Wohlergehen des eigenen Staates Bensalem bezogen, wenngleich auch universelle Ziele angegeben werden. Der für die Geschichte der Urbanität und die Stadtforschung faszinierende Umstand besteht nun in der Darstellung der über 20 Forschungseinrichtungen, die von diesem Autor des frühen 17. Jahrhunderts beschrieben worden sind.8 Besonders eindrucksvoll sind die unterirdischen Labors, die bis zu einer Tiefe von 500 Meter in die Berge hin­ eingetrieben werden, um dort Materialforschung für künstliche Stoffe wie Dünger und Treibstoffe zu betreiben, während Forschungstürme, die bis zu 800 Meter hoch sind, auf den Bergen zum Zweck der Meteorologie und Astronomie errichtet werden. Ande­ re Anlagen wie künstliche Strömungen und Wasserfälle, Brunnen und Quellen sowie eine mechanische Windanlage dienen der Material­, Lebensmittel­ und Strömungs­ forschung, der Meeresentsalzung und medizinischen Forschung. Großraumlabors simulieren die Bedingungen für Wetterkunde und künstlichen Schnee oder fliegende Wesen. Weiters gibt es Gesundheitslabors, Chambers of Health, und medizinische Bä­ der, Baumschulen, zoologische Gärten und umfassende Tierzucht, ernährungswissen­ schaftliche Labors für Brauereien, Bäckereien etc., Geschmackslabors, optische Werk­ stätten, die alles über Licht untersuchen, ebenso wie akustische Werkstätten, die von akustischen Fernleitungen bis zur Tiersprache alles erkunden, mechanische Werkstät­ ten für Triebwerke, Kriegsgerät, Flugzeuge, U­Boote, Roboter und Automaten, mathe­ matische Institute und Betrugslabors (Labors für Sinnestäuschungen), die Betrug in der Wissenschaft aufdeckten. „Wir haben allen Brüdern unter Geld­ und Ehrenstrafen untersagt, etwas Natürliches durch künstliche Zurüstung als wunderbar vorzuführen, sondern rein wie es ist und ohne jeden Schein einer Wunderhaftigkeit.“ 9 Bemerkens­ wert ist hier die Verwendung des Begriffes „natürlich“ für etwas Technisches, was den Bedeutungswandel unterstreicht und zugleich das Künstliche, das eigentliche Techni­ sche als Betrug qualifiziert. Äußerst interessant ist die Organisation des Hauses Salomon. So gibt es zwölf Händler des Lichts, die aus fremden Ländern Bücher und Experimentalanordnungen heimbringen, eine Art von Betriebsspionage, weiters gibt es drei Depredators, Beute­ sammler, die alle Versuche, die es in Büchern gibt, sammeln, drei Mystery­men, die ebenfalls Experimente sammeln, drei Pioneers or Miners probieren neue Experimen­ te aus. Dann gibt es Compilers, die zusammenfügen, drei Dowdrymen or Benefac­ tors, Wohltäter, die die Auswirkungen auf die tägliche Praxis beurteilen, drei Lamps,

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che Praxis danach ausrichtet. New Atlantis ist eine Insel, die die Seefahrer nicht durch eigene Leistung, sondern durch Glück nach einem schweren Sturm erreichen. New

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die die Arbeiten begutachten, und drei Interpreters of Nature, die die bisherigen Ent­ deckungen zusammenfassen und in Axiome und Aphorismen fassen.10 Faszinierend ist die Aktualität dieser Utopie und die Beschreibung aller For­ schungsorganisationen, die auch heute noch volle Geltung hat. Für Bacon benötigen Ideen einen Beweis ihrer Durchführbarkeit, sonst werden sie als mangelhaft abgelehnt. Jeder Erkenntnisprozess wird in einer gleichzeitigen Arbeitsorganisation begleitet, um die Nutzenfunktion zu gewährleisten. Forschung muss ihren Gebrauchswert sofort un­ ter Beweis stellen, um politisch verwertbar zu sein. Die Utopie bricht nach dem Bericht über das Haus Salomon gleich ab und die Gäs­ te werden entlassen. Insgesamt handelt es sich vordergründig um keine radikale Uto­ pie, da keine hohen Anforderungen an die Menschen gestellt werden. Keine Gleich­ heitsideale, keine Umverteilung von Land und Gut, keine Verherrlichung des einfachen Lebens, keine Unterwerfung unter eine despotische Gerechtigkeit. Es gibt dafür eine Quelle der Utopie, die üppig fließt: Fortschritt durch Wissenschaft und Technik. An­ stelle einer Umverteilung knapper Güter tritt die Herstellung neuer Güter, deren Vertei­ lung auch nach sozialen Gesichtspunkten erfolgen kann. In Bensalem wird die Integra­ tion ins Gemeinwesen hoch eingeschätzt, es werden angenehme und sichere Zustände garantiert, ohne schwer erfüllbare soziale oder psychologische Forderungen an die Leute zu stellen. Entscheidend ist die wissenschaftliche Politik des Hauses Salomon, da zu jener Zeit in England Wissenschaft und Technik noch kleine Nebenrollen in der Gesellschaft spielten. Somit kann man Bacon als den Erfinder der systematischen Naturpolitik bezeichnen. Es dauerte noch zwei Jahrhunderte, ehe die Konsequenzen des wissenschaftlichen Fortschrittes ihre volle Auswirkung auf die Gesellschaft, die städtische Organisation und Formation entfaltete und nun gerade wegen der nicht eingetretenen Erwartungen zu einer großen Welle der Formulierung neuer Utopien führte. Die utilitaristische Ver­ nunft brachte eine enorme Steigerung der Produktion mit sich, konnte aber die damit verbundenen sozialen Folgen nicht hinreichend bewältigen. Zwei Wege der sozialen Repräsentation der Natur. Die Abwendung von der instrumentellen Naturauffassung und die Suche nach der inneren Natur Paradoxerweise befördert gerade diese Wende des protestantischen Christentums zur Fülle der Welt den Atheismus. Denn gerade aufgrund der nicht immer einsichtigen Be­ stätigung dieses Umstandes einer Fülle des Lebens bzw. der Meinung, dass sich Gott eben doch nicht herablässt in seiner Sorge um das Wohlergehen der Menschen, kom­ men atheistische Tendenzen auf, die aber ihren Bezugspunkt ebenfalls in der Natur su­ chen. Man glaubte einfach, dass gewisse Lebensgüter leichter umsetzbar wären, wenn sie nicht mit theistischen Quellen in Zusammenhang stünden. So verbanden sich ei­ nerseits die desengagierten Kräfte der Vernunft weiterhin mit einer instrumentellen Deutung der Natur und andrerseits erfolgte eine neue Konzentration auf die Kräfte der schöpferischen Phantasie, die nun mit einem Gefühl der Natur als innerer Moral­ quelle einherging.11 Damit waren nun zwei Entwicklungen beobachtbar: Einerseits die instrumentelle Beziehung zur Natur mit der Konsequenz ihrer Verwertung und Ausbeutung, weil man diese als neutralen, beliebig formbaren Stoff betrachtete, der nur auf seine Umgestal­ 208

tung wartete, um mit diesen neuen Formen das universelle Glück zu erzeugen, das ja zu Beginn der instrumentellen Aneignung durchaus als zentrales Motiv firmierte. Und

zur Verbindung mit der Natur, einer Versöhnung der Spaltung zwischen Vernunft und Empfinden, einer Überwindung der Trennung zwischen den Menschen und nach der Schaffung von Gemeinschaftsbeziehungen.13 Obwohl die romantischen Naturreligio­ nen ausgestorben waren, war die Idee der Offenheit für die Natur im Menschen immer noch äußerst wirksam. Dieser Kampf zwischen der instrumentellen Vernunft und der Naturauffassung im Sinne einer Tendenz zur Wiederentdeckung unserer Offenheit für die Natur wurde nun für die moderne Kultur bestimmend und prägte seit dem Beginn der Industrialisierung auch ein neues Wunschbild der Stadt, das zwar von der Notwen­ digkeit der Industrialisierung bestimmt war, aber auch der inneren Natur des Men­ schen entsprechen sollte. Die Stadt, ursprünglich als ein Teil des Makrokosmos gesehen, später in der mittel­ alterlichen Stadt in sakrale und profane Zonen geteilt, danach von den Herrschern als Raum der Machtrepräsentation gedeutet, wurde seit der Aufklärung zu einem Ort der Manifestation unterschiedlicher Naturinterpretationen, wo die Natur – in der Dik­ tion des Utilitarismus – auf ihre Eignung zum gegenseitigen Nutzen der Menschen hin untersucht wird. Daraus resultiert für die Stadt aufgrund der instrumentellen Beziehung zur Natur ein Prozess der Industrialisierung, die auf dem neu organisierten Prozess der Arbeits­ teilung basiert, wie er durch die englischen Ökonomen, vor allem Adam Smith, propa­ giert wurde. Als Konsequenzen bekannt sind soziale Probleme und der ungleich ver­ teilte gesellschaftliche Reichtum, weniger denkt man an die enorme Fülle neuer Dinge jeglicher Art, die in die Stadt Einzug hielten und nun diese aus der Position der Öko­ logie völlig veränderten. Die Natur war nun ein Außen, deren Stoff unentwegt durch Verwandlung in die Stadt eingeführt wurde. War sie früher der Ort eines Gottes, wurde sie nun ein Ort der Natur oder in der Sprache Bruno Latours ein Ort der neu rekrutierten nicht­menschlichen Lebewesen, aber auch der Artefakte, mit denen man nun gemeinsam leben muss. Nach Latour be­ darf es im Sinne einer politischen Ökonomie der Zukunft ohnehin einer Repräsenta­ tion der Assoziationen zwischen Menschen und nicht­menschlichen Wesen durch ein explizites Verfahren, damit sich entscheiden lässt, wodurch sie in einer gemeinsamen Welt versammelt und wodurch sie vereint werden. Die Stadt könnte man dann mit ei­ nem Begriff Latours als Pluriversum bezeichnen.14 Die instrumentelle Vernunft hat durch ihre Versuche einer Naturbeherrschung die Ökologie der Stadt schwerwiegend verändert. Damit sind nicht nur die von der Indust­

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andrerseits das riesige Feld der Natur als innere Moralquelle, das direkt zur Entstehung der Romantik führte. Die instrumentelle Einstellung führte zu einer Objektivierung der Natur, wo sie nur als neutrale Ordnung der Dinge gesehen wird. Durch diese Ob­ jektivierung wurde eine moralische Unabhängigkeit und Distanz im Umgang mit ihr erzeugt, die damit eine Trennung der Menschen von dem inneren und äußeren Elan der Natur bewirkte. Denn nach Meinung mancher Zeitgenossen fehlte dem Leben der instrumentellen Vernunft die Kraft, das Pulsierende und die Freude, die von der Ver­ bindung mit dem Elan der Natur herrühren kann.12 Die instrumentale Haltung verhin­ dere dies geradezu und hemmte die Öffnung des Menschen zur Natur. Daher strebte die Romantik nach einer Wiedervereinigung, einer Rückführung

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rialisierung verursachten Schäden gemeint, sondern auch die Eingriffe in das Gefüge der sozialen Ordnung. Das Aufkommen der proletarischen Schichten, die Bedrohung der städtischen Handwerker durch Industrie und Handel, die Landflucht, alles zählt zu den Auswirkungen der Naturpolitik Politischer Messianismus als Utopie Aber – um wieder auf die Aufklärung zurückzukommen – man darf nicht vergessen, dass die Bewältigung und Beherrschung der Natur auch ein Zeichen der Freiheit des Menschen ist, das heißt, dass die Vernunft in einen Gegensatz zur Natur geraten muss, wenn sie ihre Autonomie bewahren will. Als Gefahr sahen die Denker der Aufklärung hier ein völliges Aufgehen und Versinken in die Einheit mit der Natur, verbunden mit einem völligen Aufgeben der Autonomie. Daher sprach Schiller in seiner ästhetischen Erziehung des Menschen, dass der Mensch den Bruch zwischen Vernunft und Natur her­ beiführen muss, um sein Vermögen des rationalen Denkens und der Abstraktion zu entfalten.15 Der Mensch könne aber auf einer höheren Stufe zur Natur zurückkehren, nachdem er eine Synthese aus Vernunft und Begehren hergestellt hat. Die ursprüng­ lich paradiesische Einheit von Natur und Vernunft geht getrennte Wege und gelangt schließlich doch wieder zu einer versöhnenden Erfüllung. Dieses Bild liegt der christ­ lichen Erlösungsgeschichte zugrunde, wo nach der Spaltung der Ureinheit zwischen Vernunft und Empfinden und der Spaltung zwischen den Menschen es nun auf einer dritten höheren Stufe wieder zur Versöhnung kommt, unter Mitnahme der Vorteile der zweiten spaltungsreichen Periode, nämlich der durch Vernunft erworbenen Frei­ heit. Dieses Element des jüdisch­christlichen Erbes wurde im 18. Jahrhundert in Ge­ stalt des politischen Messianismus, wie am Beispiel der Französischen Revolution zu beobachten ist, wieder aktuell. Seine Wurzel liegt im Werk des Joachim von Fiore, der den Anbruch dieses dritten Zeitalters vorhersagte, das Zeitalter des Geistes, der Spiri­ tualität, das nach dem Zeitalter des Vaters (Altes Testament) und dem Zeitalter des Sohnes (Neues Testament) anbrechen würde. Wir verstehen nun besser, warum Ernst Bloch diesen Autor als den einzigen ernst zu nehmenden Utopisten akzeptieren konn­ te.16 Dieser Messianismus ist eng mit der Geschichte der Utopien und protestantischer Sekten verbunden, wobei dem Buch Daniels und seiner Weissagung einer Herrschaft Gottes nach jener der weltlichen Reiche eine bedeutende Rolle zukommt.17 Aber es gibt ebenso säkularisierte Tendenzen, wie sie im Fall der Französischen Revolution erkenn­ bar werden, die zu unmittelbaren Erwartungen eines dramatischen Wandels führen. Über Hegel wird dieses Gedankengut von Marx aufgenommen und fließt in seine Theo­ rie der Entfremdung ein. Messianismus und der in seiner Folge auftretende Utopismus sind also nicht auf bestimmte Weltanschauungen geprägt, sondern können sowohl im Gefolge religiöser als auch materialistischer Ideologien auftreten. Rousseau. Die innere Natur Man kann also erkennen, dass die erste Ablösung der theistischen Lehre durch einen von der Vernunft geleiteten Utilitarismus eine instrumentelle Haltung beförderte, die einen Dualismus von Ratio und Empfinden, und wenn man so will, von Geist und Kör­ per nach sich zog und gerade in einem Abgeschnittenwerden vom Elan der Natur gip­ felte. Auch wenn sich der Utilitarismus eines humanen Menschenbildes befleißigte und die Natur als einen riesigen Bereich von füreinander bestehenden Zwecken, die im 210

Rousseau. Natur als Medium von Transparenz und Klarheit Die Beschreibung des Walliser Gebirges zu Beginn schildert die Landschaft einer an­ deren Welt, die von einer magischen Transparenz gekennzeichnet ist. „Das alles stellt den Augen eine unaussprechliche Mischung dar, deren Schönheit noch durch der Luft Dünne vermehrt wird; die Entfernungen scheinen kleiner als auf den Ebenen, wo der Luft Dicke den Erdboden in einen Schleier hüllt, der Horizont zeigt den Augen mehr Gegenstände als er zu fassen können scheint; kurz, das Schauspiel hat etwas Zauberi­ sches, Übernatürliches, das Geist und Sinne entzückt; man vergisst alles, vergisst sich selbst, und weiß nicht mehr, wo man ist.“18 Transparenz erzeugt hier einen Hauch von Magie, indem alles in lichte Klarheit ge­ taucht wird, und durch das Erlebnis der vollkommenen Reinheit der Landschaft be­ ginnen die Grenzen des Individuums zu schwinden um sich in einer Einheit mit der Welt zu fühlen. „Stellen Sie sich eine ideale Welt vor, die der unseren ganz ähnlich und dennoch da­ von verschieden ist. Die Natur ist daselbst eben dieselbe, wie sie auf unserer Erde ist, allein ihre Ökonomie ist merklicher, ihre Ordnung ist auffallender und deren Anblick bewunderungswürdiger; die Formen sind zierlicher, die Farben lebhafter, die Gerüche angenehmer und alle Geschöpfe anziehender. Die ganze Natur ist daselbst so schön, dass, indem durch ihre Betrachtung die Seelen mit Liebe für ein so schönes Gemäl­ de entzündet werden, sie ihnen nebst dem Verlangen, zu einem so schönen System

Die Natur als Quelle der Utopie

Dienste des Menschen stehen, betrachtete, führte dies zu einer unter dem Primat der Ökonomie stehenden Gesellschaft, die der inneren Gefühlsnatur des Menschen keine Beachtung schenkte. Die utopischen Pläne und Stadtgründungen konnten nicht mehr in der Sprache des Utilitarismus kommunizieren, sondern waren auf die Herstellung neuer Bilder gelingender Gemeinschaft angewiesen, die nun auch auf ein neues Bild der Natur verweisen sollten. Dies ist der Zeitpunkt, wo die Stadt und die Natur in eine neue Verbindung treten, wo die Stadt als grüne Stadt gedacht wird. Daher ist dies der Moment, wo Rousseau auf den Plan tritt und auf eine neue Di­ mension der Natur hinweist, die mit den weitreichendsten kulturellen Konsequenzen verbunden ist, die von ihm selbst kaum intendiert waren. Rousseau hatte auch nie da­ ran gedacht eine grüne Stadt zu erfinden, er war immer eher Stadtflüchter und auch gelegentlich Stadthasser, aber seine spezifische Sicht der Natur als einem neuen Me­ dium der Reinheit, Transparenz und Offenheit führte zu einer späteren Übertragung dieser Eigenschaften und seines Trägers in die Idealstadt. Rousseaus Neuerung bestand darin, dass die neue Ethik im Sinne einer Nacheife­ rung der Natur das Gute nun durch die Wendung nach Innen ebendort zu finden glaubt, indem die eigenen Neigungen und Empfindungen zu Rate gezogen werden. Nach Rous­ seau besteht das Glück darin, dass wir im Einklang mit unseren Gefühlen, der „inneren Stimme“ leben, wobei er als Protestant sich hier auch in der alten christlichen Tradi­ tion des Augustinus bewegt, wie durch die Wahl des Titels der Selbstbekenntnisse pro­ grammatisch vorgeführt wird. Diese neue Philosophie des Empfindens hat auch kul­ turelle Auswirkungen, indem das damit verbundene Naturgefühl zu einer mächtigen Kraft wird, das spezifische Naturszenerien nun als Zeichen der natürlichen Güte und der Freiheit sieht. In erster Linie ist hier Die Neue Héloise zu nennen, die als nicht inten­ dierten Nebeneffekt den Tourismus in die Schweizer Berge initiiert hat.

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das ihrige beizutragen, die Furcht einflößt, seine Harmonie zu stören; daraus entsteht eine außerordentliche Reizbarkeit, welche diejenigen, die damit beglückt sind, einen unmittelbaren Genuß gewährt, der den Herzen unbekannt ist, die durch dieselben Be­ trachtungen nicht belebt worden sind.“ 19 Was Rousseau begehrt ist „ein durchsichtiger Raum, worin die Seele Transparenz der Luft annimmt“.20 „Nachdem ich in den Wolken einhergegangen war, erreichte ich eine heitere Gegend, wo man im Sommer Donner und Sturm unter sich entstehen sieht […] Hier entdeckte ich auf merkliche Art in der Reinheit der Luft, in der ich mich befand, die wahre Ursa­ che der Veränderung meiner Gemütsverfassung und der Rückkehr jenes inneren, so lange verlorenen Friedens.“ 21 So schreibt Jean Starobinsky: „Diese klarere Tönung der Luft ist nicht dem Gebirge oder einer anderen Landschaft vorbehalten, sie sind eine Eigenschaft des Glücks, eine Metamorphose, die die Erhebung der Seele in die sie umgebende Welt zu projizieren vermag.“ 22 „In ihrer Gesamtheit erscheint uns die Die Neue Héloise wie ein Wachtraum, in dem Rousseau dem imaginären Ruf einer Klarheit folgt, die er in der wirklichen Welt und in der Menschengesellschaft nicht mehr findet: ein reiner Himmel, offenere Herzen, ein gleichzeitig intensiveres und durchsichtigeres Universum.“23 Die für uns relevante Schlussfolgerung aus diesen Zitaten besteht darin, dass wir den ästhetischen Natur­ begriff von Rousseau klarer fassen können. Es handelt sich hier noch um einen präro­ mantischen Begriff, der der Natur selbst noch keinen Ausdruck zubilligt, wie etwa Natur als Symbol, wo ein Allgemeines durch ein Besonderes ausgedrückt wird, aber auf was sollte denn Natur außerhalb sich selbst verweisen, wenn sie auf alle theisti­ schen Bezüge verzichten musste. Eher noch besteht eine Ähnlichkeit zu den moder­ nen Begriffen der Atmosphäre, wie sie etwa durch eine drückende Gewitterstimmung oder durch einen heiteren Garten gekennzeichnet sind. Rousseau sieht in der Natur eher Eigenschaften, die er als Projektionen eingebracht hat und die sich insbesondere durch Klarheit, Transparenz, Offenheit und Durchsichtigkeit auszeichnen. Dieses Na­ turbild steht in völligem Gegensatz zu den späteren romantischen Naturvorstellungen eines tiefen, geheimnisvollen Waldes oder eines gewaltigen Wassers. Es ist eigent­ lich auch nur in Kontext zu gewissermaßen utopischen Vorstellungen der Menschheit und der Gesellschaft hervorgebracht worden und dem Charakter nach daher auch eine Natur, die nach ihren utopischen Eigenschaften hin beschrieben wurde. Es ist daher auch kein Zufall, dass diese Elemente einer transparenten Natur sich so zwanglos mit den Raumgestaltungen und Festen der Französischen Revolution 24 und den späteren Architekturgestaltungen der Moderne zusammenspannen ließen, da es sich um eine „ehrliche Natur“, die ihre Erschlossenheit unter Beweis stellt, handelte. Natur ist kein Mittel zur mimetischen Einübung in komplexe ornamentale Formen, kein Ausleben der Phantasie in die Tiefen der Seele, wie sie etwa später anhand der Ro­ mantik erlebt wurde, sondern etwas das auf Erweiterung, Auflösung der Geheimnisse durch Transparenz und ein Zerreißen der Nebelschleier aus ist. Diese ästhetische Naturvorstellung, die eine sehr raumbezogene und raumerwei­ ternde Komponente aufweist, befähigt sie zum Einsatz in den Bereich des Urbanen, der im 19. Jahrhundert vielfach selbst zu einer Sphäre des Opaken und der wilden Ballung gemacht wurde. Wahrscheinlich hätte ohne diesen Naturbegriff, der die morpholo­ 212

gischen Möglichkeiten eines solchen transparenten Raums überhaupt erst formulierte, gar keine moderne Architektur entstehen können. Ausblick auf die Gartenstadt Der neue Typus von utopischen Idealstädten war nun auf die Aufhebung der bisherigen Trennung von Stadt und Land ausgerichtet und versuchte eine „neue Art von Siedlung zu schaffen, die in wohldurchdachten Ausmaßen ein Zwischending zwischen Stadt und einem großen Bauernhof darstellt: klein genug, um einen engen Zusammenhang aller Einzelbereiche zu gewährleisten, aber doch groß genug, um ein ausgefülltes und von außen unabhängiges Wirtschafts- und Kulturleben zu ermöglichen“.25 Das

1 Max Weber, „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ in: Max Weber: Die protestantische Ethik. Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Mohr, Tübingen 1978 , S. 174 – 179. 2 John Cotton; zit. nach Edmund Sears Morgan, The Puritan Family, Harper & Row, New York 1966 , S. 42 . 3 Charles Taylor, Quellen des Selbst, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1996, S. 557. 4 Ebd., S. 394 . 5 Arther O. Lovejoy, Große Kette der Wesen, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1993. 6 Ebd., S. 368 . 7 Francis Bacon, The works of Francis Bacon, Coll and ed. by James Spedding, James/Robert L. Ellis/Douglas D. Heath, Bd. 3 ., London 1859 ; Stuttgart: Faksimile-Nachdruck Fromann Verlag, 1961, S. 156; zit. nach Wolfgang Krohn, Francis Bacon, C. H. Beck, München 1987, S. 173 . 8 Vgl. ebd., zit. nach Krohn S. 174 . 9 Vgl. ebd., zit. nach Krohn, S. 175 . 10 Krohn (wie Anm. /), S. 176 . 11 Taylor (wie Anm. 3), S. 565. 12 Taylor (wie Anm. 3), S. 669. 13 Taylor (wie Anm. 3), S. 668 . 14 Bruno Latour, Das Parlament der

Dinge, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2001, S. 59. 15 Taylor (wie Anm. 3), S. 671. 16 Vgl. Manfred Russo, „Geschichte der Urbanität. Utopie I“, in: dérive, 27 (April –Juni 2007 ). 17 Taylor (wie Anm. 3), S. 673 . 18 Jean-Jacques Rousseau, Die Neue Héloise. Werke in vier Bänden, Bd. I, Winkler München 1978 , S. 78 . 19 Jean-Jacques Rousseau, Gespräche. Schriften in zwei Bänden, Bd. I, Hanser, München 1987, S. 263. 20 Jean Starobinski, Rousseau. Eine Welt von Widerständen, Fischer TB , Frankfurt/Main 1993, S. 125. 21 Jean-Jacques Rousseau, An den Marquis Mira­ beau, 31. Jan. 1767; zit. nach Starobinski (wie Anm. 20), S. 126 . 22 Starobinski (wie Anm. 20), S. 126 . 23 Starobinski (wie Anm. 20), S. 127. 24 Vgl. Manfred Russo, „Geschichte der Urbanität. Revolutionsraum“, in: dérive, 13 (Oktober – November 2003). 25 Leonardo Benevolo, Die Geschichte der Stadt, Campus, Frankfurt/Main/New York 1990, S. 805.

Die Natur als Quelle der Utopie

Grundmodell beruhte auf der Phalanstère Fouriers, die ein Zusammenleben durch genaue Kenntnis der Natur des Menschen und seiner Bedürfnisse ermöglichen sollte und wo sich im Sinne einer utilitaristischen Utopie alle persönlichen Zwecke zu einem harmonischen Ganzen vereinigen ließen. Robert Owen, ein englischer Industrieller und Philantrop, führte zunächst eine Reihe von sozialen Neuerungen wie etwa das Verbot von Kinderarbeit in seiner eigenen Spinnerei in New Lanark in Schottland ein und plante eine Reihe von Siedlungen, die er in Amerika wie zum Beispiel in New Harmony in Indiana errichten wollte, die aber letztlich an der Realisierung scheiterten. Die berühmteste Industrieanlage befand sich in einer Vorstadt von Chicago und gehörte zur Pullman Company, die Autos und Fahrzeuge herstellte.

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Abb. 11: Norman Bel Geddes, New York World’s Fair, Eingang zum ‚Futurama‘, Pavillon der ‚General Motors‘ NY, von Norman Bel Geddes und Albert Kahn Associates (1939). Die World Fair von 1939 zählte zu den Lieblingsprojekten von Robert Moses, weil sie den fordistischen Fortschrittsgeist Amerikas und New Yorks weltweit zur Schau stellte. Für den Anblick der neuesten Modelle stellte man sich gerne stundenlang an.

Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis Anlässlich einer aktuellen Ausstellung im Architekturzentrum Wien über die „White City of Tel Aviv“, die auf einem Masterplan von Patrick Geddes beruht, ohne allerdings auf die Hintergründe seiner Arbeit einzugehen, sei dieses außergewöhnlichen Stadt­ planers gedacht, der in seiner Arbeit vielfältigste Theoriestränge zu verflechten ver­ suchte um daraus eine Synthese zu einer Theorie der Stadt zu entwickeln. Patrick Geddes (1854 – 1932) ist ohne Zweifel einer der Gründungsväter der moder­ nen Stadtplanung, ein Erfinder der conservative surgery, des bewahrenden Eingriffs oder des Begriffes der conurbation. Wenn aber zeitgenössische Planungen wie Howards „Garden­City“, Garniers „Cité Industrielle“ oder Le Corbusiers „Ville Radieuse“ größte Aufmerksamkeit auf sich zogen, so wurde Geddes’ Beitrag wenig beachtet. Die Erneue­ rung der Altstadt von Edinburgh ist eines der besterhaltensten Beispiele seiner Arbeit, weitere finden sich in Schottland, England und Indien. Den nachhaltigsten Einfluss dürfte Geddes auf Lewis Mumford ausgeübt haben, beide führten eine intensive ge­ meinsame Korrespondenz und man findet bei Mumford eine Umwandlung von Geddes’ Biologie in eine Geschichtsphilosophie der Stadt. Die Stadttheorie des Patrick Geddes ist eines der merkwürdigsten, aber zugleich auch eines der originellsten Konzepte einer Stadt, das auf der Auffassung beruht, dass die Stadt durch die Kräfte der Natur hervorgebracht wird. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um eine Theorie, die auf Basis einer Kombination von biologischen Argu­ menten und platonischer Philosophie, die sich auch zeitweise überlagern, eine holisti­ sche Erklärung der Stadt versucht, die ihrem Charakter nach eine einmalige Mischung aus wissenschaftlicher und künstlerischer Theorie darstellt. Die damaligen Erkennt­ nisse der Biologie wurden mit zeitgeistigen Kunstprämissen zu einer in ihrer Art bei­ nahe einzigartigen Stadttheorie verflochten, die heute kaum noch bekannt ist. Geddes geht entsprechend dem Denken seiner Zeit von einer Art von biologischem Grund­ gesetz aus, mit dessen Hilfe das Phänomen Stadt erklärbar werden soll. Soziologische, psychologische, ökonomische und religiöse Gründe werden zu einer umfangreichen Anthropologie der Stadt verwoben, die den Willen der Natur zum Aus­ druck bringt, wobei sich dieser Wille konkret durch den Begriff des Protoplasmas ana­ log zur „Substanz“ Haeckels manifestiert. Dabei handelt es sich um eine Substanz, die als Grundstoff der Welt gilt, auf den alle Vielheit zurückgeführt werden kann, aus dem alles hervorgeht. Dieses spinozistische Konzept, das den Dualismus zwischen Geist und Materie aufheben möchte, führt bei Geddes, dem gleichzeitigen Anhänger von Platons Staat, zu einer Umwandlung der platonischen Idee, die nun nicht mehr dem Ideenhimmel entspringt, sondern quasi aus der Natur kommt. Körper und Geist oder Materie und Energie sind untrennbar verbunden, daher ist die Stadt auch immer Aus­ druck des materialistischen Geistes, der sich selbst aus der Beziehung von Mensch und Umwelt entfaltet. Daher weist seine Theorie auch viele Ähnlichkeiten mit zeitgenössi­ schen Kunsttheorien auf, die von einem allgemeinen Willen, wie etwa dem Weltwil­ len im Sinne Schopenhauers ausgehen. Denn die Stadt ist für ihn eine Emanation der kosmischen Lebenskraft, die von einer unbekannten Schöpfungskraft geschaffen wird, 215

die aber wissenschaftlich nicht vollständig zu erfassen ist, sondern sich nur durch Offenbarung zeigt. Daher arbeitet der Stadtforscher ähnlich wie ein Künstler als ein Gefäß einer un­ sichtbaren Kraft, die ihn und seine Arbeit leitet. Ein Merkmal dieses Schaffens ist bei ihm die Idee eines Genius Loci oder die eines Tempels, die, wie um die Jahrhundert­ wende vielfach verbreitet, sich in Vorschlägen zur Errichtung von verschiedensten Tempeln äußert, mit deren Hilfe das Wesen der Stadt am ehesten ausgedrückt werden kann. Oder genauer: als Orte, wo sich die Natur in ihrer spirituellen Vielfalt, die eben auch eine Stadt hervorbringt, offenbart. Diese Idee ähnelt der einer anthroposophi­ schen Architektur, indem ihre Formen nicht wie eine semantische Operation als reprä­ sentative Zeichen fungieren, die auf etwas anderes, einen geistigen Inhalt hinweisen, sondern wo der Tempel als eine Lichtung des Spirituellen, deren Quelle zweifellos der Natur entspringt, erscheint. Der Stadtforscher Geddes wird durch das Vorhaben an die­ ser oder jener Stelle einen Tempel zu errichten selbst ein Teil der Natur, der natura na­ turans. Letztlich ist der Stadtplaner selbst ein Empfänger der kosmischen Kraft, die den Weltprozess steuert und die hier in die Errichtung einer Stadt fließt. Geddes unterschei­ det auch zwischen zwei Formen der Planung, die in einem Institute of Synthesis zusam­ men erstellt werden sollten: der „Town Plan“ ist der Führer der äußeren und säkularen städtischen Existenz, der „City Plan“ ist der Traum seines inneren und sakralen Lebens.1 Man muss hinzufügen, dass die Idee einer Errichtung eines Tempels für Kunst um die Jahrhundertwende kein außergewöhnliches Thema war; in Wien verfügen wir mit der Secession von Olbricht über ein Paradebeispiel eines Tempels der Kunst und es gibt zahlreiche andere in Europa. Geddes selbst verfasste an die 17 große Projekte, die Tem­ pel und Tempelstrukturen aufwiesen (Schottland, England, Indien, Israel). In diesem Sinne sei auch zur Planung von Geddes zu Tel Aviv ergänzend vermerkt, dass er als Zentrum seiner Planung der weißen Stadt anstelle des Rondeaus ein Okto­ gon vorgesehen hatte, das in seiner urbanen Vorstellung für einen Kristall des Lebens stand.2 Daraus darf man aus dem Kontext seines Werkes heraus schließen, dass die­ ser für ihn mehr als ein formaler Mittelpunkt, so etwas wie ein Omphalos, die Nabel­ schnur der römischen Stadt gewesen sein dürfte, aber nicht als ein Symbol, sondern als eine Lichtung, die das Auftauchen oder Wiederauftauchen des jüdischen Volkes an diesem Ort im Sinne einer natürlichen Bewegung deutete. Im Übrigen schlug er für Tel Aviv auch ein Amphitheater vor, vor allem aber sei an seinen Plan einer Great Hall für die Universität in Jerusalem erinnert, die vom Architekten und Schwiegersohn Frank C. Mears als riesiges Kuppelgebäude konzipiert war.3 Auch wenn Geddes’ Ansatz einer Biopolis kein großer Erfolg beschert war, so ist es erstaunlich, dass heute durch den Ansatz Bruno Latours eine Rückkehr der Biolo­ gie in die Sozialwissenschaften erfolgt, wodurch viele Gedanken eines biologischen Holismus unter dem Titel einer Netzwerkanalyse wiedereingeführt werden. Das von der Moderne eingeführte Konzept der Beherrschung und Nutzbarmachung der Natur konnte nicht mit diesem holistischen Blick agieren, der nun über die Theorie von La­ tour wieder Einzug hält. Die urbanistische Triade Place-Work-Folk Geddes war der Meinung durch die Anwendung seiner Stadttheorie die richtige Form der Stadt zu designen. Seine berühmte Triade von place, work und folk bildet die Grund­ 216

struktur der Stadt, er glaubt eine Analyse der Stadt nur durch die drei Gesichtspunk­ te des geographischen, des historischen und vor allem des spirituellen Aspektes voll­ ziehen zu können, die in direkter Verbindung zu der Triade stehen. Geddes’ Eigenart liegt in seinem Holismus, der die Stadt nur ganzheitlich denken kann und damit in

te Konsequenzen seiner geographischen und historischen Analysen, die nach einer holistischen Lösung verlangen. Geddes ist kein Planer, der sozialtechnisch argumen­ tiert, sondern biologische Argumente verwendet, wie es damals, erst zu Beginn einer Existenz der Sozialwissenschaft, sehr häufig der Fall war, dass soziale Zusammen­ hänge biologisch begründet wurden. Im Übrigen fand die Biologie über Talcot Pars­ sons auch später Eingang in die Soziologie, wo sie zur Systemtheorie mutierte, die nun soziale Organismen darstellt. Der Begriff der Biologie wurde in jenen der Gesellschaft integriert. Als Grundlage der Theorie muss man zwei Hauptquellen ansehen. Die Biologie ist nicht nur jenes neue akademische Feld, in dem er seine Ausbildung als Stadtplaner er­ hielt, sondern auch der Referenzrahmen seiner Annahme der Stadt als eines Organis­ mus, im Sinne einer organischen Einheit. Die zweite Quelle ist die Platonische Repu­ blik, der Staat, der für ihn eine unerschöpfliche Ressource an Ideen und Anregungen bereithielt. Geddes ist primär ein Biologe, ein Wissenschaftler des Lebens, für den die Stadt die höchste Form der evolutionären Entwicklung darstellt, die aber auch auf Ge­ meinschaft und Kooperation beruht. Sein Werk ist in zahlreichen Publikationen ver­ streut, es gibt aber kein opus magnum, wo eine Synthesis aller Gedanken vorgenom­ men wird. Der Zusammenhang der Formen des Lebens und ihrer Beziehung zur Umgebung ist Gegenstand der Naturwissenschaft. Darwins These der natürlichen Selektion, die auf der Existenz einer Spezies und ihrer Variationen aufgrund des Überlebens durch bessere Anpassung an die Bedingungen der Umgebung beruht, erfordert das Studium der Konditionen und das der Qualitäten jener Spezies, die eine optimale Anpassung erreichten. Weil sich aus evolutionärer Sicht ohne Kenntnis der Umwelt die Differen­ zen der verschiedenen Spezies nicht ausmachen lassen, rückt die Beziehung von Leben und Umwelt ins Zentrum der biologischen Interessen von Geddes. Über die Inspirati­ on durch den französischen Philosophen Fréderic Le Play, dessen Philosophie auf der Triade von lieu, travail und famille beruhte, entwickelte er ein analoges Schema mit place, work und folk oder auch mit environment, function und organism.4 Durch die Kate­ gorie Arbeit, als Ergebnis menschlicher Mühe und Aktivität, wird der Mensch, obwohl ein Exemplar des organischen Lebens, in die zentrale Position im Verhältnis zwischen Umgebung und menschlichem Wesen gerückt. Dies unterscheidet ihn von Tieren und Pflanzen und ermöglicht eine Veränderung seiner Umwelt durch Arbeit im Sinne der evolutionären Entwicklung. Diese gedankliche Operation ist für das 19. Jahrhundert weit verbreitet, es sei nur an Hegel, Marx und Engels erinnert, für die ebenfalls die An­ eignung der Welt über die Arbeit erfolgt.

Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis

krassem Gegensatz zur Praxis der Stadt jener, aber auch der gegenwärtigen Zeit steht. Im Sinne dieser Suche nach dem Ganzen gibt es in Geddes’ Werk und Planungen für Schottland, Indien und Palästina zahlreiche spirituelle Bezüge zu den griechischen Göttern und Musen, ebenso wie großartige architektonische Vorschläge für die Errich­ tung religiöser aber auch säkularer Tempel, die alle den Aspekt des Spirituellen unter­ mauern. Dabei handelt es sich indes um keine wilden Phantasien, sondern um direk­

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Andrerseits gibt es noch eine zweite Verbindung zwischen der Biologie und dem triadischen Grundschema, bei der die menschliche Gesellschaft ähnlich wie ein biolo­ gischer Mechanismus, wie Pflanzen­ oder Tiergemeinschaften gesehen werden kann. Leben ist demnach ein Prozess, der sich über den Austausch von Materie und Ener­ gie vollzieht, und ein Begriff, der sich auf die Klassifikation individueller Organismen, aber auch ganzer Städte anwenden lässt. Geddes vertritt auch eine ökologische For­ mel: Durch die Unterscheidung von Notwendigkeiten (necessaries) und Über­Notwendig­ keiten (super­necessaries) kommt er zu den Gütern des täglichen Bedarfs, die der biolo­ gischen Reproduktion dienen, und solchen, die überwiegend ästhetischen Bedürfnissen zugutekommen.5 Weil höheres Leben aber auf höher entwickelten Nervensystemen be­ ruht, so verlangt dieses auch mit Recht nach mehr super­necessaries. Deren Produktion sollte daher ausgeweitet werden, wenngleich hier nach den Kriterien längerer Haltbar­ keit produziert werden sollte, was auch den dringenden Erhalt älterer Güter einschließt. Das biologische Netzwerk der Stadt

PLACE-FOLK (“NATIVES”)

WORK-FOLK (“PRODUCERS”)

FOLK

PLACE WORK

WORK

FOLK-WORK

PLACE

WORK-PLACE

FOLK-PLACE

Tabelle 1: Die Triade place-work-folk. Quelle: Volker M. Welter, Biopolis Patrick Geddes and the City of Life, S. 34 .

Jedes Dorf, jede Stadt, jede City kann durch Anwendung der Triade place­work­folk erklärt werden.6 Dabei stehen diese drei Grundbegriffe in einer wechselseitigen Be­ ziehung. Beim Begriff place­work steht zunächst der Ort (place) im Vordergrund, der zunächst durch seine natürlichen Vorteile dominiert, erst durch das Aufkommen des Feldes oder Gartens, des Hafens, der Mine oder der Werkstatt kommt es zum work­ place, wo die Arbeit nun an die erste Stelle rückt.

FOLK

WORK

PLACE

(a) Individuals

(a) Occupations

(a) Work-Places

(b) Institutions

(b) War

(b) War-Places

(b) Satistics and History

(b) Geograph

TOWN

SCHOOL (b) History (“ Constitutional” ) (a) Biography

(“ Military” ) (a) Economics

(a) Topography

Tabelle 2: Die richtige Stadt (die Stadt der Handlungen), wie sie in der Welt des Denkens der Schulen (im Sinne von Denkrichtungen) reflektiert wird. Quelle: Volker M. Welter, Biopolis Patrick Geddes and the City of Life, S. 35.

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Hier geht es um die Reflexionen der town durch die school, womit die Welt des Han­ delns (town) und die des Denkens (school) gemeint sind. Eine Stadt existiert nie für sich alleine, sondern kann nur durch und mit der korrespondierenden Welt des Denkens zum Sein kommen. Es handelt sich dabei um eine wechselseitige Dialektik, die Ged­ des nicht als rein materialistisch verstanden haben will. Die treibende Kraft liegt im subjektiven Leben, das das objektive Leben beeinflusst und ändert. Die verschiedenen Typen der Population, ihre Art und Weise der Arbeit, die ganze Umwelt wird durch den Geist der Gemeinschaft repräsentiert und dieser reagiert wieder auf die Individu­ en, ihre Aktivitäten und den Ort selbst.7 Town und school, Handeln und Denken, wer­ den durch Spiegelungen zum Sein gebracht. town­city formula

TOWN

CITY FOLK

POLITY

WORK

CULTURE

PLACE

ART

SURVEY

IMAGERY KNOWLEDGE

IDEAS SOCIAL, ECONOMIC MORALS, LAW

IDEALS, ETHICS

SCHOOL

CLOISTER

Eine Stadt (town) oder ein Dorf können sich nicht durch Reflexion allein auf eine höhere evolutionäre Stufe erheben, sondern bedürfen einer neuen Synthesis, die er als cloisters bezeichnet. Diese cloisters sind Orte der Kontemplation, der Meditation und Imagina­ tion, die mehr als eine bloße Spiegelung der Stadt zuwege bringen, indem sie nämlich ideals, ideas, und imagery erzeugen, die nun auf einem höheren Niveau wirksam wer­ den. Die Kategorien der ideals oder ethics beziehen sich auf das Gute, die ideas auf das Wahre und die imagery auf das Schöne. Diese Dimensionen weisen nun auf die city hin, indem die ideals zur polity , die ideas zur culture und die imagery zur art führen, die in der Grafik auf der Seite der city enthalten sind. Zur richtigen Stadt, wie es Geddes durch den Begriff der proper city bezeichnet, wird eine Stadt erst, wenn die Maße und Formen, in denen sie ihre Individualität und ihre Ideale ausdrückt, mit dem sozialen Leben und der Politik harmonisieren, Ideen in Kultur umgesetzt und Schönheit aus den einsamen Kammern in die Welt der Kunst transportiert werden.8 In einer vereinfachten Version der town­city formula dieser Grafik teilte Geddes die vier Felder in die Worte town, school, cloister und city auf. Im Feld links oben steht town oder village, links unten stehen school, nature und experience, die beiden später hin­ zugefügten Begriffe Natur und Erfahrung verweisen auf Geddes’ Meinung, dass alle

Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis

Tabelle 3: Die vierfache Analyse der vollständigen Stadt. Quelle: Volker M. Welter, Biopolis Patrick Geddes and the City of Life, S. 36.

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menschlichen Wesen in ihrer natürlichen Umgebung beobachtet werden sollten.9 Der Quadrant rechts unten beinhaltet die Begriffe cloister, hermitage, university und studio, Möglichkeiten der menschlichen Intervention in der Entwicklung von der town zur city. Im Quadranten rechts oben ist „City in deed“ eingeschrieben, was die Transformation der Ideen und Ideale, die im cloister entwickelt werden, in die Realität betrifft. Ein interessanter Aspekt des urbanen Holismus, der von Geddes gedacht wird, be­ steht nun in der Behauptung, dass eine city verschwindet, wenn das cloister zu existie­ ren aufhört, oder aber durch Verfall, wenn es zwar noch funktioniert, und durch fal­ sche Imagination und Ideale böse werden kann und die Theorie falsch wird.10 In der biologischen Theorie übernimmt die Moral eine wesentliche Funktion der Selbsterhal­ tung und steht damit in Gegensatz zu idealistisch informierten Theorien, deren Moral letztlich auf dem christlichen Ideal der Selbstlosigkeit beruht und im Extremfall sogar Vorrang vor der Selbsterhaltung haben kann, ein Gedanke der der Biologie kraft des Vorrangs des Lebens wesensfremd sein muss. Da Geddes in diesen Fragen vom plato­ nischen Staat wesentlich inspiriert ist, der in seinen Vorstellungen des Agathon eben­ falls gewisse liberale Strömungen, die eine Aufweichung der Moral bewirken können, ablehnt, steht er in deutlichem Gegensatz zum modernen, aktuellen Vorrang der indi­ viduellen Freiheit, wo aber ein partieller Verfall der Stadt quasi einkalkuliert und to­ leriert wird. Geddes spricht auch von der City of Destruction, die er in seinem Quadrantensche­ ma die Stadien von disease, über defect und ineffective, bis vicious und crime durchlaufen lässt und deren Bewohner ignorant, defective, vicious und criminal sind. Kriminalität ist weniger das Ergebnis von entsprechenden sozialen oder ökono­ mischen Verhältnissen, sondern das der gemeinen und bösartigen Gedanken und da­ her auch des individuellen Charakters, wenngleich dieser aufgrund des moralischen Verfalls der Stadt eher gedeiht. Geddes plädiert daher im Sinne einer urbanen Hygiene für die Notwendigkeit einer Implementation der cloister als eines geistigen Zentrums. Das bedeutet noch keine geheime Reinstallation eines absoluten Zentrums, sondern im Sinne der quadrantischen Schemata eher eine vermittelnde Kraft, die von der Be­ völkerung ausgeht, im cloister weiterentwickelt wird und in die Realität der Stadt ein­ geht. Bis zur Renaissance war für ihn die Religion nicht nur im essenziellen Sinn, son­ dern auch in der äußeren Form der Kathedrale das einigende Element der Stadt, das eine Gruppe von Individuen in eine Stadt verwandelte.11 Geddes spricht hier eher als platonisch inspirierter Mensch, denn als ein Biologe, der die Notwendigkeit eines spiri­ tuellen Aspektes in der Stadtplanung einsieht und daher auch die kirchlichen Gebäude als Symbole einer einigenden Realität durch Religion anerkennt. Dieser geistige Aspekt ist eher ein Zeichen von geistiger Gesundheit, einer Art notwendiger Psychohygiene, die zur Aufnahme der Ideen des Guten wie im Staate Platons bereit macht. Geddes denkt freilich evolutionär, im Sinne einer Steigerung und Höherentwick­ lung der Stadt. Dies wird in einer weiteren Grafik ausgedrückt, wo es um die Bestim­ mung der Zukunft der Stadt geht.

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act­deed formula

ACTS

DEEDS

PLACE

ACHIEVEMENT WORK

SYNERGY FOLK

FEELING

ETHNO-POLITY

EMOTION

EXPERIENCE SENSE

FACTS

IDEATION IMAGERY

THOUGHTS (DREAMS)

Hier geht es um die Transformation der Stadt aus Perspektive der mentalen Position, wo durch vier Schritte der acts, facts, dreams und deeds, die aus jeweils drei Kategorien bestehen, das menschliche Verhalten erklärt wird, das eine Entwicklung von den acts über facts, dreams zu den deeds hin vollzieht. Die acts klassifizieren die klassische Triade place­work­folk, die das gewöhnliche Verhalten der Bewohner der Stadt beschreibt. Diese objektive Dimension wird nun durch die subjektive Welt gespiegelt. Die Gefühle ( feelings) kommen vom folk im Sinne einer Vermittlung durch die Sorge und Pflege der Mutter, die Erfahrungen (experience) kommen von der Arbeit (work). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Quelle der Emotionen wie­ derum durch die basale Triade der place­work­folk beschrieben wird. Dabei geht Ged­ des von einem fundamentalen Zusammenhang zwischen dem Ort, der Arbeit und der Bevölkerung als der Basis und Quelle der Emotionen aus. Das bedeutet eine Integration des Ortes in die Persönlichkeits­ und Handlungskomponenten, die von der modernen Soziologie eher abgelehnt werden müsste, weil sie von der Hegemonie der Person oder der Gesellschaft ausgeht, aber die räumliche Dimension erst wieder, wenn überhaupt, in die Stadtsoziologie nachträglich einführt. Man darf nicht vergessen, dass auch die Stadtforschungsprojekte von Robert Park und Louis Wirth ursprünglich einen Zusam­ menhang von bestimmten Vierteln mit dem devianten Verhalten der Bevölkerung her­ stellten, der ebenfalls eine biologische Begründung aufwies, indem der Ort durch die Abwesenheit sozialer Kontrolle überhaupt erst die Möglichkeit zur Ausbildung von de­ viantem Verhalten zulässt. Von den facts zu den thoughts oder dreams: Die primären Gefühle (feelings) werden zu Emotionen, die Erfahrungen zu rationalen Ideen und die Sinneswahrnehmungen werden durch persönliche Bilder neu arrangiert. Auf diesem Level der dreams wird die Zukunft in Plänen und Ideen entwickelt. Diese Ideen sollten Ausdruck in einem neuen Typus von Gemeinde finden, die sich mehr dem Geist als dem Fleisch verpflichtet fühlt. Die neue ethische Bindung nennt er etho­polity.

Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis

Tabelle 4: Geddes’ psychologische Analyse des gesellschaftlichen Lebens. Quelle: Volker M. Welter, Biopolis Patrick Geddes and the City of Life, S. 39.

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Urbanes Gedächtnis durch das kollektive Protoplasma In einer anderen Variante der Act­Deed­Formel ersetzt er die Dimension der thoughts oder dreams durch die des memory, die nun ein Zeichen für die Individualisierung des Gedächtnisses wird. Die Handlungen der anderen (acts) werden als facts (als Spiege­ lung, bzw. auch Repräsentation) in der eigenen Vergangenheit aufbewahrt. Das Leben der Stadt, das durch die school reflektiert wird, wird in der Kultur gespeichert. Im Sinne eines Zellmetabolismus, der zwischen aktiven (metabolistischen) und passiven (anabolistischen) Phasen des Stoffwechsels unterscheidet, sieht er auch einen Zusammenhang mit dem sozialen Leben der Stadt, das vom Stadium des simple prac­ tical life und seiner Spiegelung im simple mental life zum full inner life und seiner Äuße­ rung zum full effective life geht. Damit versucht er die Prinzipien der vita activa und vita contemplativa und ihre Bedeutung für das öffentliche Leben zu umreißen.12 Für Geddes ist die Stadt ein historisches Textbuch aus zweierlei Gründen: Einer­ seits aufgrund des historischen Erbes in materieller und immaterieller Gestalt der Tra­ ditionen und sozialen Konventionen und andrerseits aufgrund einer organischen Ver­ bindung mit den vorhergehenden Familienmitgliedern, gewissermaßen als Träger der überzeitlichen Erbinformation, in heutiger Sprache eines spezifischen Genoms. Man muss sich diese Vorstellung genauer ansehen, denn Geddes versteht darunter anschei­ nend eine moderne Form des Ahnenkults, indem das Bewusstsein dafür geschärft wird Träger einer gemeinsamen Substanz zu sein, die von den Eltern übernommen wurde und an die Kinder weitergegeben wird. Diese protoplasmatische Substanz ver­ körpert etwas Höheres und Allgemeines, das über das Individuum hinausgeht und eine Form ewiger Verbindung mit der Familie und auch dem Volk erzeugt. Dieses bio­ logische Denken galt weit über 100 Jahre als state of the arts in den frühen Sozialwis­ senschaften, birgt in einer gewissen Interpretation jedoch die Gefahr einer extremen Überhöhung der Rasse und Nation, die allerdings erst durch die missbräuchliche und verbrecherische Interpretation durch den Hitler­Faschismus von seiner gefährlichen Seite her erkannt wurde. Dabei war die Vermischung von Nationalismus, Biologie und daraus resultierendem Rassismus ursprünglich auch eine Abwehrhaltung gegen die kapitalistische Ausbeutung um die Schwächung der Lebenskraft des Volkes zu verhin­ dern. Denn Geddes möchte mit der Idee der ewigen Existenz des Protoplasmas 13 auf et­ was anderes hinaus, auf ein Phänomen, das seit dem 18. Jahrhundert mit dem Konzept der Lebenskraft bezeichnet wurde. Das Lebenskraftmodell versuchte die Antwort auf die Frage nach dem Prinzip des Lebens, wenn es mehr als eine funktionierende Kör­ permaschine sein sollte, aber auch die Schöpfungsgeschichte des göttlichen Ursprungs nicht mehr akzeptiert wurde, zu geben. In den Körperkonzepten des 18. Jahrhunderts dachte man an ein Nervenfluidum aus dem Weltall, später wurde die Lebenskraft da­ raus, die einer Art von Seele glich. Daher verkörpert die Stadt das gesamte kulturelle Erbe der Region in Verbindung mit größeren Einheiten in nationaler, religiöser, rassischer und menschlicher Hinsicht nicht als Symbol, wie es heute auch in aller Unverbindlichkeit gesehen wird, sondern als eine echte und substantielle Klammer, die durch ein geheimes Prinzip erhalten wird. Die Konsequenz dieses Denkens in Bezug auf die Stadt schließt eine Verpflich­ tung zur gewissenhaften Erhaltung mit ein, die Neuerungen nicht ausschließt, aber si­ cher keine spätkapitalistische Städteproduktion vorsieht. Dieses biologische Denken wäre heute in den Sozialwissenschaften schwer akzeptabel, weil hier die Dimension 222

der genetischen Vererbung nicht mehr zählt und von einem Individuum ausgegangen wird, das quasi sämtliche Eigenschaften und Informationen erst durch den Eintritt in die Gesellschaft mittels Sozialisation erhält, was auch keine Verpflichtung zur Erhal­ tung der Vergangenheit einschließt. In der biologischen Logik nimmt die Umgebung einen höheren Rang ein, entsprechend wird auch der Wert der Stadt und ihr Erhalt hö­ her eingeschätzt. Wie hoch der Wert der Stadt für Geddes ist, kann man daran ermessen, wenn er ernsthaft die Frage stellt, ob denn nicht die Stadt jenes lang gesuchte fehlende Glied zwischen der tierischen und menschlichen Evolution ist. Der arbor saeculorum. Eine Soziologie der Stadt im Geiste Comtes

PEOPLE

CHIEFS

INTELLECTUALS

EMOTIONALS

burgher

baron

monk

priest

MEDIEVAL CITY TYPE OF INDIVIDUAL TYPE OF INSTITUTION

town hall

castle

abbey

cathedral

PLACE OF ACTIVITY

workshop

strategic point

retirement

city center

TYPE OF INDIVIDUAL

roundhead

cavalier

scholar

Bible reader

TYPE OF INSTITUTION

camp

palace

college

puritan meeting

PLACE OF ACTIVITY

shop

estate

art and song

psalm-singing

TYPE OF INDIVIDUAL

laborer

master

barrister

public speaker

TYPE OF INSTITUTION

labor

capital

parliament

oratory

PLACE OF ACTIVITY

slum

machine

ballot box

pub, including club

TYPE OF INDIVIDUAL

guard

clerk

historian

bard

TYPE OF INSTITUTION

army

bureaucracy

state instruction

nationalism

PLACE OF ACTIVITY

barracks

market

sports and games flag, music

RENAISSANCE CITY

INDUSTRAIL CITY

FINANCIAL CITY TYPE OF INDIVIDUAL

borrower

investor

economist

philanthropist

TYPE OF INSTITUTION

public taxpayers

finance

advertisement

investment

PLACE OF ACTIVITY

doss house

stock exchange, bank

arithmetic

shop window, hoarding

Tabelle 5: Die Entsprechungen der vier sozialen Typen in den unterschiedlichen historischen Städten. Quelle: Volker M . Welter, Biopolis Patrick Geddes and the City of Life, S. 89.

Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis

EXPANSIONIST CITY

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So hat er auch eine soziologische Einteilung der Stadtbevölkerung vorgenommen, die nach modernen Kriterien der demographischen Ausdifferenzierung reichlich sonder­ bar scheint, aber bei näherer Betrachtung an Plausibilität gewinnt. Im Entwurf eines arbor saeculorum, eines Baumes der Jahrhunderte, hat Geddes sein Konzept der Ge­ schichte als kontinuierlichen Wachstumsprozess dargestellt. Eine wesentliche Rolle spielen hier in jeder Kultur und Gesellschaft die spiritual powers und die temporal po­ wers. Diese Unterscheidung kommt vom prominenten französischen Soziologen Au­ gust Comte, der, ebenso geschichtsphilosophisch und biologisch motiviert, die zeit­ lichen Mächte, die für die materielle Ordnung maßgeblich sind in Proletarier (people) und Patrizier (chiefs), und die spirituellen Mächte, die für die immaterielle Ordnung zählen in Intellektuelle eingeteilt hat. Geddes hat diese Gruppe nochmals in Intellek­ tuelle und Emotionale differenziert. Damit versucht er im Sinne Comtes die Darstel­ lung einer Form überzeitlicher Dimension der Bevölkerung, indem er von organischen Grundtypen ausgeht, die bestimmte moralische Rollen spielen, die über die Jahrhun­ derte trotz Änderung der Formen gleich geblieben sind. Die Unterscheidung zwischen people und chiefs wird durch die Rolle der Herrschen­ den und Beherrschten bestimmt, die zwischen intellectuals und emotionals durch die Verpflichtung im intellektuellen Leben bei den ersteren und durch die emotionale Er­ hebung und Erhöhung bei den letzteren. Diese sind für die Entwicklung der Ideen der Stadt verantwortlich, jene für die Umsetzung, damit es überhaupt zur Entwicklung ei­ ner city kommt, die sich bei Geddes eben durch diese geistige Überhöhung im Gegen­ satz zur normalen town auszeichnet. Geddes geht hier von der Goethe’schen Idee der Urpflanze aus, der fundamentalen Idee aller Morphologien, als jene Einheit, die zahllose Varianten der organischen Form hervorgebracht hat. Dieser Einteilung liegt ein biologisches Modell der evolutionären Morphologie und der Unterscheidung von Homologie und Analogie zugrunde, wobei homolog bei Organismen heißt, dass die Organe im Zuge der Entwicklung ähnlich oder gleich geblieben sind, aber die Funktion eine andere ist, während analog bei Le­ bewesen die Beibehaltung der selben Funktion allerdings durch verschiedene Organe meint. Die strukturelle Ähnlichkeit, die er bei den sozialen Typen der people, chiefs, in­ tellectuals und emotionals sieht, ist als Homologie der Organe zu verstehen und meint eine überzeitliche, unveränderbare soziale Rolle der vier sozialen Typen, die sich nur hinsichtlich der Funktionen und Berufe ändert.14 Es handelt sich wie bei Comte um eine moralische Ordnung, die den vier sozialen Typen die ewig gleichen Funktionen zuschreibt, die für den Erfolg in einer Gesellschaft notwendig sind. Diese Typen kons­ tituieren die innere Struktur aller Städte durch verschiedene historische Perioden hin­ weg. Zu jedem individuellen Typus der Epoche kommt ein Typus der Institution, wie eine Burg, Palast, Kapital, Bürokratie und Finanzen, in den Kategorien der Chefs, in der das Individuum repräsentiert wird. Geddes’ Betonung auf der Morphologie beruht auf seiner Suche nach der Ur­City analog zur Urpflanze. Die griechische polis gilt ihm als die erste Manifestation der Idee einer Stadt, die er nun mit den vier verschiedenen Grundtypen verbindet. Sie führt zu zahlreichen Kombinationen, die mit Begriffen wie Mammonopolis, Strategopolis, Biopolis, Geopolis und Regionopolis versehen werden.15 Neben dem Einfluss der Geografie, der Beschäftigung und der ökonomischen Ent­ wicklung und aller historischen Metamorphosen sucht er für die vitalen Beziehungen 224

der Bürger zu ihrer Stadt nach einer evolutionstheoretischen Erklärung und kommt zu folgender Annahme, die er übrigens auch Lewis Mumford in einem Brief mitteilte. Die Interaktion der städtischen Umwelt mit den vier Grundtypen bestimmt das individuelle Leben der Stadt als eines Organismus. Sie durchläuft sechs Phasen: Po­

Der Genius Loci In einem mit Victor Branford verfassten Buch Our Social Inheritance 17 werden eine Rei­ he von Stadtbegehungen unter dem Titel „A City Survey for Disoriented Citizens“ vor­ gestellt, deren markanteste ein Gang durch Westminster ist, dem Zentrum von Lon­ don und des Empires. Das Bemerkenswerte besteht darin, dass die Architektur nicht als das persönliche Werk eines Menschen im Sinne einer persönlichen Interpretation eines Gebäudes, sondern als eine architektonische Repräsentation der sozialen Grund­ typen gesehen wird. Der Architekt ist nur der Vollzieher eines höheren Gesetzes. In der urbanen Textur soll der arbor saeculorum durch alle wesentlichen Perioden sicht­ bar sein. Man kann dann vom genius loci sprechen, wenn die regelmäßige Wiederkehr der vier sozialen Typen, die in den historischen Strukturen verkörpert sind, erkennbar wird, die nur aufgrund historischer Analyse erfasst werden kann. Geddes beginnt den Rundgang mit einem Ausblick vom Uhrturm des House of Commons, dem Big Ben, die ersten Gebäude am Boden sind der National Liberal Club, den er mit den chiefs assoziert, das nächste Gebäude des Westminster Hospitals wird als ein Tempel des Leidens dar­ gestellt, der die Opfer der industriellen Revolution aufnimmt; beide vertreten die zeit­ liche Macht, während das Gebäude gegenüber dem Club, das Church House, die spiri­ tuelle Macht und Reaktion auf die industrielle Revolution darstellt.18 London etwa als die Stadt des Volkes beherbergt innerhalb ihrer Grenzen drei Zent­ ren sozialer Typen. So repräsentiert der Finanzdistrikt Londons die chiefs. Chelsea und Westminster teilen sich die Rolle als Ort für die intellectuals und emotionals. Es sind die geheiligten Traditionen, die durch Kirchen und sakrale Strukturen wie antike Steine ausgedrückt werden. Ein Stadtplaner soll daher weniger seine eigenen Ideen realisieren, als den genius loci zu erfassen suchen. Denn Taten und Ereignisse hängen am Ort und verbleiben als eine unsichtbare Hand, die sein Schicksal ordnet. Die Rolle des Planers ist vor der Ent­ wicklung eines Plans zunächst eher passiv, indem er studiert, analysiert und beobach­ tet und schließlich darauf wartet, dass sich der Genius von selbst enthüllt. Planen ist Enthüllen: Design soll nicht Muster oder Erfindung sein, sondern etwas, das enthüllt wird wie die Lösung eines Schachproblems durch das Studium des Brettes und der Fi­ guren darauf. Der Planer wartet letztlich auf eine Offenbarung eines kosmischen Geis­ tes, der die künftige Stadt im Sinne eines höheren Ganzen ordnet. Daraus ist ein Konzept der vorsichtigen Eingriffe in einem bestehenden urbanen Umraum abzuleiten. Freilich konnte Geddes in der aggressiven Planung der Moderne, die einem völlig anderen Verständnis von Natur und Stadt folgte, mit diesem Konzept keine großen Interessenten finden.

Die Stadt als Lichtung der Natur. Patrick Geddes Biopolis

lis, Metropolis, Megalopolis, Parasitopolis, Pathopolis und abschließend Necropolis.16

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1 Victor Branford, Interpretations and Forecasts. A Stu­ S. 72; zit. nach Welter (wie Anm. 1), S. 35. 8 Ebd., S. 92; dy of Survivals and Tendencies in Contemporary Socie­ zit. nach Welter (wie Anm. 1), S. 37. 9 Welter (wie Anm. 1), ty, Duckworth, London 1914 , S. 385 – 386; zit. nach Volker S. 37. 10 Geddes (wie Anm. 6), S. 85; zit. nach Welter (wie M. Welter, Biopolis Patrick Geddes and the City of Life, Anm. 1), S. 37. 11 Sybella Gurney, „Civic Reconstruction MIT Press, Cambridge/ MA /London 2002, S. 229. 2 Die and the Garden City Movement“, in: Sociological Review, Verwendung des Ausdruckes „Central City Feature“ ist 3 , S. 37; zit. nach Welter (wie Anm. 1), S. 52 . 12 Welter durch die Verwendung des Begriffs City und nicht Town (wie Anm. 1), S. 45. 13 Arthur J. Thomson/Patrick Geddes, ein sicheres Zeichen für den hohen Stellenwert in der „A Biological Approach“, in: James Edward Hand(Hrsg.), Planung, der mehr als materieller Ort sein soll. Welter Ideals of Science and Faith, George Allen, London 1904 , (wie Anm. 1), S. 220. 3 Welter (wie Anm. 1), S. 230. 4 He- S. 55 – 56. 14 Victor Branford/Patrick Geddes, Our Social len Meller, „Patrick Geddes“, in: Gordon Cherry (Hrsg.), Inheritance, William & Norgate, London 1919, S. 36, Fig 1, Pioneers in British Planning, Architectural Press, Lon- S. 38 , Fig. 2; zit. nach Welter (wie Anm. 1), S. 99. 15 Phidon, S. 34 – 37. 5 Patrick Geddes, An Analysis of the lip Boardman, The Worlds of Patrick Geddes. Biologist, Principles of Economics, Williams & Northgate, London Town Planner, Re­educator, Peace­Warrior, Routledge 1885, S. 960; zit. nach Welter (wie Anm. 1), S. 15. 6 Pa- and Kegan Paul, London 1978 , S. 337. 16 Patrick Gedtrick Geddes, „Civics: As Applied Sociology“, Part II , in: des/Victor Branford, „Rural and Urban Thought. A ConSociological Papers, Macmillan, London 1906, S. 72; zit. tribution to the Theory of Progress and Decay“, in: Socio­ nach Welter (wie Anm. 1), S. 34 . 7 Geddes (wie Anm. 1), logical Review, 21, S. 15. 17 Ebd., S. 262 – 293. 18 Ebd., Part I, in: Sociological Papers, Macmillan, London 1905, S. 269.

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Moderne Die Ermächtigung des Künstlers zum Interpreten des urbanen Raumes Modernismus von unten Modernismus und der Kampf um Anerkennung Der neue Eros des öffentlichen Raumes Die Temporalisierung des öffentlichen Raumes Raum-Zeitkontraktionen Fordismus als Paternalismus und Urbanismus Fordismus als ökonomischer Aufstieg und kulturelle Krise

Die Ermächtigung des Künstlers zum Interpreten des urbanen Raumes Baudelaire formuliert kurze Zeit vor seinem Tod in seinem wohl berühmtesten Aufsatz Der Maler des modernen Lebens grundlegende Gedanken zu einer ästhetischen Theorie der Moderne. Ausgangspunkt ist der Versuch zu einer Art geschichtslosen Theorie des Schönen, die im Gegensatz zu den bisherigen Theorien des absoluten Schönen, das als zeitlos gilt und über der Profanität des gewöhnlichen menschlichen Lebens mit seinen zahlreichen dunklen Seiten steht, die Behauptung aufstellt, dass das Schöne trotz sei­ nes einheitlichen Eindrucks aus unterschiedlichen Bestandteilen besteht. „Das Schöne besteht aus einem ewigen, unveränderlichen Element, dessen Anteil äußerst schwierig zu bestimmen ist, und einem relativen, von den Umständen abhängigen Element, das, wenn man so will, eins ums andere oder insgesamt, die Epoche, die Mode, die Moral, die Leidenschaft sein wird.“ 1 Wir sind hier mit Grundgedanken zu einer Bestimmung der Moderne konfrontiert, die von Baudelaire folgendermaßen charakterisiert wird: „Die Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, das Zufällige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das Ewige und Unwandelbare ist.“ 2 Die Grundidee dieses gewissermaßen genial­problematischen Konzepts einer Ästhetik der Moderne besteht in dieser Verbindung des Ephemeren und Fließenden des aktuellen Lebens mit dem Ewigen und Unveränderlichen.3 So wird eine Ästhetik möglich, die von zwei Polen begrenzt wird, innerhalb derer ein Kontinuum entsteht, in dem sich die gesamte Bandbreite der ästhetischen Entwicklung abspielt. Diese verläuft schwankend und die gegensätzliche Kombination von ästhetischen Eigenschaften kann sich einmal dem Pol des Vergänglichen und dann wieder dem oppositionellen Pol des Unvergänglichen und Ewigen annähern. Jedenfalls erkennt schon Baudelaire den Spannungszustand einer zwischen entgegengesetzten zeitlichen Polen eingespann­ ten Ästhetik, ein Zustand, der die künftige Ambivalenz der Moderne bereits vorweg­ nimmt. Bereits Burke hatte mit seiner Entdeckung des Erhabenen als der Kombina­ tion von Schrecken und Kunst, die bis zur Imagination des eigenen Todes einhergeht, ein grundlegendes Element dieser Ambivalenz der Ästhetik beschrieben; bei Baude­ laire handelt es sich aber um einen neuen Gedanken: Er meint, dass nur der Künstler imstande ist, diese grundlegende ästhetische Ambivalenz zu erfassen, indem er seine Vision auf die gewöhnlichen Gegenstände des Stadtlebens richtet, den fließenden Cha­ rakter dieses Vorgangs erfasst, aber dennoch aus diesem vorübergehenden Moment sämtliche Elemente der Ewigkeit extrahieren kann. Dabei kann die alltäglichste Er­ scheinung plötzlich vom Unvergänglichen berührt werden. „Für ihn geht es darum, der Mode das abzugewinnen, was sie im Vorübergehen­ den an Poetischem enthält, aus dem Vergänglichen das Ewige herauszuziehen.“ 4 Der moderne Künstler ist jemand, der den Fluss des Alltagslebens mit dem Allgemeinen und Ewigen in Verbindung bringt und damit entsprechend aufwertet. Mit der Moder­ ne wird erstmals das Alltagsleben künstlerisch veredelt, indem man seine Profani­ tät, seine Ephemerität mit den gegensätzlichen Elementen einer unvergänglichen Zeit, die eigentlich der Sphäre der Metaphysik entstammen, vereinigt. Diese Kombination des Profanen mit dem Unvergänglichen, das bei Baudelaire gelegentlich auch die Züge 231

eines deus absconditus, eines abwesenden Gottes trägt, macht die eigentliche Wirkung der ästhetischen Moderne aus, wobei hier ein gigantisches Potential an Kombina­ tionsmöglichkeiten entsteht, mit dem das Feld der modernen Kunst bis heute bestellt werden kann. „Er bewundert die ewige Schönheit und die erstaunliche Harmonie des Großstadt­ lebens, die, wie von der Vorsehung beschützt, im Tumult der menschlichen Freiheit fortbesteht. Er betrachtet die Landschaften der Großstadt, steinernen Landschaften, die der Nebel liebkost oder die im scharfen Sonnenlicht liegen […].“5 Auch Walter Benjamin unterliegt dem Einfluss dieser Theorie, von der er seine Alle­ gorielehre ableitet, wenngleich er aufgrund seiner marxistischen Tendenz versucht den Bezug der Dinge zur Geschichte herzustellen, indem er in einer komplizierten Philosophie der Geschichte, die mit eschatologischen Elementen der Kabbala angerei­ chert ist, seine Vorstellung von Ewigkeit beschreibt. In gewisser Weise kann man den Umstand, dass die Moderne zur bestimmenden Kunst unserer Kultur wurde, auch damit begründen, dass sie diejenige Kunst ist, die auf das Szenario unseres Chaos reagiert. Aus einer Überfülle von Erscheinungen, die jetzt nicht mehr auf das sinnvolle Wirken eines gütigen Gottes zurückgeführt werden können, sondern vom blinden Zufall aus gelenkt werden, muss eine Auswahl getroffen werden. Wenn das Denken einer sinnvollen und gottgewollten Schöpfung und plan­ mäßigen Entelechie von dem einer Kontingenz der Welt, die vom Zufall aus gelenkt wird, abgelöst wird, also in das Gegenteil umschlägt, so geht eine uralte Ordnung ver­ loren, die durch die Kontingenz niemals adäquat ersetzt werden kann. Nach Baudelai­ re ist es nun der Künstler, der die Erscheinungen durch seine seherische Kompetenz wieder neu ordnet. Er allein ist dazu in der Lage, in der Welt die Gültigkeit der Dinge zu erkennen, indem er die Erscheinungen der Welt mit den Mitteln der Kunst wieder an einen Begriff der Ewigkeit anzukoppeln versucht, um eine höhere Wertigkeit der Aus­ sage zu erreichen, die ansonsten nur den Status leeren Geredes hätte. Nun erhebt sich eine zweite Frage: Wie lässt sich das Ewige und Unveränderliche inmitten des Chaos repräsentieren? Naturalismus und Realismus erwiesen sich als un­ genügend, daher waren die Künstler, Schriftsteller und Architekten gezwungen, neue Methoden zur richtigen Repräsentation zu ermitteln. Aus diesem Grund war die Mo­ derne von Anbeginn sehr stark mit den Versuchen zur Schaffung einer neuen Sprache befasst, da man – Stichwort Lord Chandos/Krise von Hofmannsthal – mit deren Ana­ lyse neue Modi der Repräsentation zu finden hoffte. Dies galt vor allem für Schriftstel­ ler wie Joyce und Proust, Mallarmé und Aragon und für Maler wie Manet oder Pollock, die äußersten Wert auf die Entwicklung neuer Codes, Signifikanten und Metaphern bzw. überhaupt auf die Gestaltung einer neuen Sprache legten. Das Epiphanie­Motiv von Joyce besteht geradezu aus solchen Augenblicken jäher Erleuchtung.6 Weil aber auch Worte, selbst wenn es sich um einen elaborierten Code handelt, flüchtig und ephemer sein können, wählte der Künstler eine effizientere Strategie um das Ewige durch einen unmittelbaren und sofortigen Effekt, durch die Taktik des Schocks und die Verletzung von erwarteten Kontinuitäten und festen Konventionen, nachhaltig in der Wahrnehmung zu verankern. Das avantgardistische Kunstwerk bei Bürger zeichnet sich ganz in diesem Sinn neben dem Allegoriebegriff Benjamins durch die Kategorien des Neuen, des Zufalls und der Montage aus, so entsteht der Schock des Neuen durch die Radikalität des Bruchs mit dem bisher Geltenden.7 Dieser Schock des 232

Von der bürgerlichen zur künstlerischen Repräsentation des öffentlichen Raumes Was bedeutet das für die Stadt? Werfen wir zunächst noch einen Blick auf die Stadt in der Phase des Historismus. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stand die Entwick­ lung der modernen Industriestadt unter dem Paradigma des Bildes, einer Praxis, die den Bilderrahmen in seiner rahmenden Funktion und im Sinne des Emblems einer ge­ schlossenen und vereinigten räumlichen Ordnung sah. Voraussetzung dafür war die Demokratisierung der Perspektive, die das Individuum durch seinen Sichtkegel mit der Welt verband und die als ein Zwischenergebnis der Geschichte der Wahrnehmung, da­ mals vom Symbol bis zur Herausbildung der Perspektive reichend, zu werten ist. Der Blick auf das Gute entsprach einer perspektivischen Sicht, innerhalb der es enthalten sein musste. So konnte durch die Zentrierung des Auges auf das Kunstwerk von den sich außerhalb des Rahmens befindlichen Verzerrungen abgelenkt werden, die Korre­ spondenz zwischen Auge und dem perspektivischen Stadtausschnitt hatte zudem die Erzeugung eines reflexiven Zustandes des Selbst­im­Bild­Enthaltenseins zur Folge, die zur Einheitlichkeit des Bildes noch beitrug (im Gegensatz zu den in der Moderne nach­ folgenden Versuchen der Dezentrierung, die auf eine Entfernung des Ichs bzw. auf eine Auslieferung an andere Kräfte abzielten. Es ging bei diesem Blick auch um „eine Geo­ metrie der Herrschaft über den Wahrnehmungsraum“ 10, die ihren Ausgang im privile­ gierten Blick des barocken Herrschers hatte und sich in der Konstruktion des barocken

Die Ermächtigung des Künstlers zum Interpreten des urbanen Raumes

Plötzlichen sollte in seiner Eindringlichkeit gewissermaßen an ein Moment der Ewig­ keit gemahnen und damit die poetologische Hypostasierung des Augenblicks begrün­ den, wie er etwa auch bei Virginia Woolf vertreten wird.8 Man könnte daher in Abwandlung von Baudelaire die Behauptung aufstellen, dass die Moderne das Ewige gewissermaßen nur durch ein Einfrieren der Zeit und ihrer fließenden Eigenschaften, eben der Fixierung des schnell Vorübergehenden erfassen konnte. Für die Architekten handelte es sich dabei um ein geringeres Problem, da sie ohne­ hin durch ihre Tätigkeit im Design gewohnt waren, in relativ dauerhaften räumlichen Strukturen zu agieren, bzw. Zeit immer schon in Raum zu verwandeln, allerdings be­ traf dies vor dem Anbruch der Moderne eher erhabene historische Zeiten, Erinnerun­ gen an nationale Größe und Ruhm, auf keinen Fall aber eine Verherrlichung des Transi­ torischen. Nach Mies van der Rohe war Baukunst „raumgefaßter Zeitwille“ 9, also der Wille des Zeitalters in räumlichen Begriffen. Insofern ließe sich die Architektur und Stadt­ planung der Moderne aus künstlerischer Sicht als ein Einfrieren ephemerer Elemente bezeichnen, indem man ihnen Orte zur Verfügung stellt, wo die Zeit fixiert wird, das heißt eine Verräumlichung der Zeit erfolgt. Freilich galt diese Verräumlichung der Zeit durch Bilder, durch dramatische Ges­ ten und den plötzlichen Schock vielen auch als Problem. Die Technik der Montage und Collage machte eine Zusammenführung verschiedener Zeiten (Collage von Zeitungen) und verschiedener Räume (durch den Gebrauch von gemeinsamen Objekten) möglich und erzielte damit einen simultanen Effekt. Simultaneität wird überhaupt zu einem zentralen Thema der Moderne, da durch diese Produktion simultaner Elemente das Ephemere und Transitorische einen Ort erhalten, wo sie gewissermaßen gebannt wer­ den, wo die Zeit angehalten wird.

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Theaters ausdrückte. Die Demokratisierung im 19. Jahrhundert ermächtigte nun jeden Bürger zu diesem Blick, der eine kontrollierende Verbindung zwischen dem Selbst und dem Feld der Perzeption herstellte. Zumeist definierte der Bilderrahmen auch den nar­ rativen Rahmen, innerhalb dessen eine urbane Geschichte im Kontext eines nationa­ len Heroismus erzählt wurde, mit dem sich das Bürgertum identifizieren konnte. Die Architektur stand im Dienste der Vermittlung der Botschaft einer Macht, deren Monu­ mente von vorbildlichen Taten, nationaler Einheit und industrieller Glorie handelten. Der öffentliche Raum hatte ein klares Ziel der Repräsentation, die formal durch das klassische Dekorum umgesetzt wurde und mit dem sich das Gros der Bürgerschaft, selbst der Arbeiterschaft auch, identifizieren konnte, selbst wenn man mit den politi­ schen Verhältnissen nicht einverstanden war, da sich unter der gemeinsamen Klam­ mer der nationalen Glorie alle vereinigen konnten. Im 20. Jahrhundert setzte eine Verwandlung der historistischen Stadt zu einer Metropolis ein, die neue unbekannte Züge eines optischen Experiments annehmen sollte. Die visuelle Harmonie des öffentlichen Raumes war durch die Erfahrung der modernen Reise und der damit einhergehenden Transformation von Raum und Zeit in ein, vom simultanen Blick des Künstlers modifiziertes, offenes und expansives Feld verwandelt worden. Durch diese für die Moderne maßgebliche Voraussetzung der neuen Erfahrung der Bewegung in der Stadt entstand eine Tendenz zur Auslö­ schung des traditionellen perspektivischen Sinnes für die bildliche Einrahmung, da die Wahrnehmung der Stadtlandschaft aufgrund der neuen Mobilität in eine Serie von flüssigen Impressionen überging. Die Haftung am Platz oder im Milieu löste sich in kaleidoskopische Arrangements von Bildern und Formen auf, die Beziehung zum anthropologischen Ort wurde geschwächt, da durch die Überfülle der Eindrücke die soziale Organisation des Raumes weniger wahrnehmbar wurde. Diese Auflösung der festen Formen und der monumentalen urbanen Gesten des Historismus entsprach ei­ nem neuen Ausdruck, der die verschiedensten Bereiche der Kunst und Architektur durchzog. Diese Fragmentierung des Blickes bewirkte auch die Auflösung der tradi­ tionellen ästhetischen Werte des Decorums, die Erschütterung der ikonographischen Konnotationen und die generelle Abwertung jeglicher historischer Bedeutung. Eine Strategie der Fragmentierung wurde durch die künstlerischen Elemente der Moderne wie dem Schock, der Montage von unterschiedlichen Elementen, dem Zufall über die Stadt gelegt, die sich später in merkwürdiger Weise mit den Zielen des Funktionalis­ mus verband. Fragmentierung und Repräsentationsprobleme in der Moderne Das 19. Jahrhundert war überwiegend von einem unbeirrbaren Glauben an die Aufklä­ rung und den wissenschaftlichen Fortschritt geprägt. Doch die Folgen der industriellen Revolution auf Umwelt und Gesellschaft insbesondere in Gestalt des Arbeiterproblems hatten sich im Verlauf der Jahrzehnte derart verschärft, dass die alten utilitaristischen Denker der Aufklärung wie Adam Smith oder Saint­Simon, die noch an eine sinnvolle und kapitalistische Modernisierung glaubten, deren Erträge gleichmäßig verteilt wer­ den, von Denkern wie Karl Marx und Friedrich Engels abgelöst wurden, die sich eine Modernisierung ohne Klassenkampf nicht vorstellen konnten. Die sozialistische Be­ wegung bezweifelte die Einheit einer Vernunft der Aufklärung und verlangte die Ein­ führung des Klassenelements in die Moderne. Daraus folgte die Frage, ob es sich bei 234

dieser um eine Bewegung der Bürger oder eine der Arbeiter handelte und auf welcher Seite die Künstler und Kulturschaffenden stehen. Auf der einen Seite ließen sich die Ideale der Avantgarde durchaus mit den Zielen des politischen Fortschritts vereinbaren, andrerseits konnte man eine propagandisti­ sche und politisch gesteuerte Kunst nicht unbedingt mit der Forderung der Moderne nach einer individualistischen und vor allem auratischen Kunst verbinden. Prinzipiell gab es zwar wenig Bedenken wegen einer möglichen Integration der Ideen einer künst­ lerischen Avantgarde in die einer politisch fortschrittlichen Partei. Die kommunisti­

stützt. Freilich hat künstlerische Produktion auch bei Abwesenheit eines politischen Programms politische Auswirkungen: Künstler bewegen sich in der Welt und reagie­ ren auf Ereignisse um diese wiederum in ihrer künstlerischen Sichtweise zu repräsen­ tieren. Die vielfältigen Perspektiven der Kunst der Moderne umfassten den Ausdruck der Entfremdung, den Gegensatz zu jeder Form von Hierarchie, die auch die Preis­ gabe des Subjektes einschließen konnte, wie etwa durch den Kubismus unter Beweis gestellt wurde, ein weiteres Feld der Kritik betraf die bürgerliche Lebensweise und de­ ren Konsum­ und Besitzdenken. Die Moderne war in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg noch eindeutig auf der Seite eines demokratischen Geistes und eines fortschrittlichen Universalismus, selbst in ihren auratischen Versionen, die politische Verengung er­ folgte erst in der Zeit nach dem Weltkrieg, als die Künstler durch die dezisionistischen Verhältnisse immer mehr zur Parteiergreifung und politischen Offenbarung gezwun­ gen wurden und sich im Allgemeinen zu radikalen Richtungen bekannten. Dazu kam eine Reihe von Elementen, die durch Nietzsches Theorie einer Selbststei­ gerung des Menschen freigesetzt worden waren und mit einem Hang zur Anarchie, Un­ ordnung und auch Verzweiflung verbunden sind, die klassischen Anarchiebewegun­ gen können hier als Hinweis gelten. Weiters muss man an das Aufkommen und die Akzeptanz von irrationalen Wünschen wie die Formulierung von erotischen und psy­ chologischen Bedürfnissen in der Nachfolge von Freud denken. In Summe bedeuten die politischen, ideologischen und künstlerischen Gegensätze für die Moderne, dass es keine eindeutige Repräsentation der Welt mehr geben kann und dass eine Erklä­ rung der zugrunde liegenden Natur nur durch die Untersuchung vielfältiger Perspek­ tiven hergestellt werden kann. Diese Aufgabe kommt ganz im Sinne der Kunstreligion der Moderne, wie sie von Baudelaire initiiert wurde, ausschließlich dem Künstler zu. Er ist es, dem nun die Verantwortung für die Repräsentation der Welt, zumindest aber für die Stadt zukommt. Freilich ist hier ein völlig anderes Verständnis von Urbanität vorauszusetzen als jenes, das vom Geist der griechischen Polis getragen wurde. Es ist nun ein neuer Blick des Künstlers auf die Stadt, der nicht mehr auf die Repräsentation der nationalen Glorie durch das kollektive Gedächtnis abzielt, sondern es ist der ex­ trem individualisierte Menschentypus des Künstlers, der im Sinne der Avantgarde die unterschiedlichsten Wahrnehmungen zu einem Bild formt, das seine Sicht der Stadt spiegelt. Dabei nimmt er in gewisser Weise die Rolle eines Flaneurs ein, indem er die unterschiedlichsten epiphanen städtischen Elemente verbindet, um seine Vorstellung der Urbanität zu präsentieren. Dabei ist man längst in ein postperspektivisches Zeit­ alter eingetreten, das die Montage und die simultane Rezeption zu ihren Instrumenten zählt, um die allegorische Wirkung des Kunstwerks zu erzielen.

Die Ermächtigung des Künstlers zum Interpreten des urbanen Raumes

sche Partei bemühte sich zeitweilig die kulturellen Kräfte in ihre Bewegung und in ihr Programm einzubinden und wurde von einer Reihe von modernen Künstlern unter­

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Simultaneität und Montage. Die Erfassung des Transitorischen Dem geht schon eine Dekonstruktion des alten Raum­Zeit­Gefüges, das als Bedin­ gung des perspektivischen Blickes galt, durch die Eisenbahnreise des 19. Jahrhun­ derts voraus, indem die Perzeption des Dazwischen­Seins, mithin des Weges und der Erfahrung des Überganges von Zonen, von der Endosphäre zur Exosphäre nach und nach ausgelöscht wurden. „Indem der Raum zwischen den Zielorten, der tradi­ tionelle Reiseraum vernichtet wird, rücken diese unmittelbar aneinander, sie pral­ len geradezu aneinander.“ 11 Die Eisenbahnreise reduzierte die Zeit, die dem Raum zwischen zwei bekannten Punkten auf dem Plan entsprach, und rückte entfernte Orte der Welt in die Nachbarschaft, um damit das Phänomen einer Panoramisierung der Stadt erlebbar zu machen. Der Dromoskop Virilio schreibt: „In der belle époque mit der Einfahrt des Zuges in den Bahnhof von La Coitat kommt alles ins Rollen, wird lebendig, wird Flugbahn, Projektionsgeschwindigkeit sowohl des Bildes […].“ 12 Die Landschaft, in die der Bahnreisende projiziert wurde, verwandelte sich in einen weiten Bildschirm, der seine fließenden Bilder abspulte. Die Mobilität im Raum ermöglichte eine bis dahin unvorstellbare Position, die in einer Kollision von disparaten, doch sequen­ ziellen Bildern, das heißt nicht zusammenhängenden aber dennoch aufeinanderfol­ genden Bildern gipfelte. So entstand die Möglichkeit, die Stadt nicht mehr aus einer statischen und frontalen Perspektive oder als eine Komposition mit einem bestim­ menden Mittelpunkt zu betrachten, sondern mit einem in der Geschichte der Wahr­ nehmung völlig neuen, multidimensionalen Reise­Blick zu erfassen, der selbst nichts anderes als eine neue Verräumlichung der Zeit durch ihr Einfrieren im Raum dar­ stellte. Ähnliches sahen auch die Futuristen vor, wenn sie zunächst mit der Kamera Be­ wegungsabläufe untersuchten und durch die Chronophotographie auf einer Platte eine Serie von aufeinander folgenden Bildern bekamen, „es geht darum den Begriff des Rau­ mes mit dem der Zeit zu vereinen“. Das Ziel bestand in einer bildnerischen Konstruk­ tion, bei der sich die Begriffe Raum und Zeit gegenseitig das Gleichgewicht halten. Später wollten sie gegen den perspektivischen Blick der „fenestra aperta“, gegen den Blick aus dem offenen Fenster polemisieren, „um eine Vielzahl von Ansichten der Wirk­ lichkeit geben zu können, statt einer einzigen, durch einen festgelegten Blickpunkt eingeschränkten Ansicht“. Die daraus resultierende Arbeitsweise der Simultaneität ermöglichte einen Bildtypus, der den konventionellen Zusammenhang der Gegenstän­ de desintegrierte, nach der traditionellen Sehweise sich gegenseitig verdeckende Ge­ genstände transparent machte und Erinnertes mit dem Sichtbaren verschränkte. Der Futurismus gewann auch Einfluss auf den Roman, wo eine Montagetechnik analog zum Kinostil „einen ständigen Standpunktwechsel des Erzählers, der unvermittelt aus der Perspektive des Protagonisten in die des Beobachters springt und nicht verbunde­ ne Sachverhalte syntaktisch aneinander reiht“, ermöglichte.13 Auch der Kubismus hatte eine Zerstörung der traditionellen Raumvorstellung zum Ziel, er bedeutete eine simultane Sichtweise, wonach man sich zugleich sowohl drau­ ßen als auch drinnen sieht, ein Blick, der ebenfalls das Gefühl des Enthalten­Seins auf­ löst und sozusagen den Ort unter den Füßen wegzieht. Gertrude Stein konnte bei einer Flugreise in Amerika alle kubistischen Abstraktionen antizipieren, die Reduktion der Tiefe, die Eliminierung des Details, die Komposition vereinfachter Formen und deren gleichzeitige (simultane) Vereinigung auf der Oberfläche des Bildes. 236

nehmungen und Imaginationen beruhten und nichts mit der Öffentlichkeit zu tun hat­ ten. Im Gegenteil, künstlerische Produktion ist im Allgemeinen reine Privatsache und wird erst durch die Verwandlung in ein Werk für die Öffentlichkeit zugänglich. Inso­ fern sind an diesem Typus der neuen Stadtbilder die Kriterien einer öffentlichen Archi­ tektur, wie sie seit der Antike bis hin zum Historismus existierten, nicht anwendbar. Die alte Anthropomorphie der Stadt hat in den Entwürfen der Urbanisten der Moderne ausgedient, auch der öffentliche Raum spielt eine untergeordnete Rolle. Die bisherige anthropologische Tradition des Städtebaus ging von einem Zentrum aus, das eine ur­ sprünglich sakrale Fundierung hatte, das später von den Königen übernommen wor­ den war und mit der Anlage von großen Plätzen und Straßenzügen geschmückt wurde, um dem Volk die Erhabenheit des Herrschers spürbar zu machen, das aber auch auf die Steigerung des eigenen, bürgerlichen Bewusstseins wirkte. Und es handelt sich ge­ nau um dieses Moment der Selbststeigerung und Selbstermächtigung, das nun in der Moderne mit völlig neuen Mitteln herzustellen versucht wird. Dennoch wäre es falsch der Moderne jegliche Urbanität abzusprechen, im Gegenteil, es ist genau jenes energe­ tische Moment der Steigerung, das, wie von Nietzsche erkannt, auch für die Motivation der Urbanisten entscheidend wird. Man muss diesen Zustand der apollinischen Er­ leuchtung verstehen, um die Entwürfe Le Corbusiers zu würdigen und auch die maß­ losen Übertreibungen seiner Städtemodelle richtig einzuschätzen, was natürlich Kritik an deren Hybris nicht ausschließt. In jedem Fall wurde damit ein neuer Typus von Ur­ banität geprägt, der aufgrund seiner Wirksamkeit, seiner Dramaturgie der Kräfte, eine überschäumende Form von Architektur geschaffen hat, die über Jahrzehnte als un­ umstrittenes Vorbild galt und mit gewissen Abstrichen auch heute noch ist. Es handelt sich dabei, so die These des Autors, um ein neues Additiv zur Urbanität, die durch die ästhetische Differenz gebildet wird und dem urbanen Raum ein zusätzliches Moment der Intensivierung vermittelt, weil sich darin jenes Moment des Plötzlichen ereignet, wo sich Ephemeres mit Ewigem verbindet und in der Epiphanie erblickt wird. Dies kann sich in einem avantgardistischen Entwurf des Architekten vollziehen, obwohl sich vielleicht später im realisierten Bauwerk oder der Stadt große Mängel in Bezug auf die Möglichkeiten öffentlicher Begegnung herausstellen können. Mythos Maschine Die traumatischen Folgen des Ersten Weltkriegs führten zu neuen Überlegungen, wor­ in die wesentlichen und ewigen Qualitäten der Moderne liegen könnten. Durch den er­ schütterten Glauben an die Sicherheiten der Aufklärung, wie die Perfektionierung des Menschen, begab man sich auf die Suche nach einem Mythos, der der Moderne ange­ messen wäre. Louis Aragon hatte schon im Pariser Bauer sein zentrales Ziel darin er­ klärt, dass er eine Novelle schreiben wollte, die sich selbst als Mythologie präsentiert, das heißt natürlich eine Mythologie der Moderne. So schreibt er in Anspielung auf die Aufklärung und den Wissenschaftsglauben: „Das Licht lässt sich nur durch das Dunkel verstehen, und die Wahrheit setzt den Irrtum voraus […]. Jedem Irrtum der Sinne entsprechen seltsame Blumen der Vernunft.

Die Ermächtigung des Künstlers zum Interpreten des urbanen Raumes

Man könnte die Reihe der Beispiele für die Dezentrierung des Blickes aufgrund der Simultaneität und der Zusammenführung ursprünglich räumlich und zeitlich getrenn­ ter Elemente vermutlich noch lange fortsetzen, fest steht aber in jedem Fall, dass damit große künstlerische Gewinne verbunden waren, die jedoch auf individuellen Wahr­

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Prachtvolle Gärten der absurden Glaubensüberzeugungen, der Vorahnungen, der Zwangsvorstellungen und der Delirien. Dort nehmen unbekannte, sich immer wieder verändernde Götter Gestalt an. Ich werde diese bleiernen Gesichter betrachten, diese Hanfsamen der Phantasie. Wie schön ihr seid, ihr Rauchsäulen, ihr Sandburgen! Neue Mythologien entstehen unter jedem unserer Schritte. Dort wo der Mensch gelebt hat, beginnt die Legende, dort wo er lebt. Ich will mein Denken nur noch mit diesen ver­ achteten Verwandlungen beschäftigen. Täglich verändert sich das moderne Daseins­ gefühl. Eine Mythologie baut sich auf und zerfällt wieder. Es ist eine Wissenschaft vom Leben, die jenen vorbehalten ist, die keine Lebenserfahrung haben. […] Werde ich noch lange das Gefühl für das Wunderbare des Alltäglichen haben?“14 Walter Benjamin hat diesen Versuch dann auf seine Weise fortgesetzt, indem er den Mythos des Paris des 19. Jahrhunderts im Passagen­Werk rekonstruierte. Im Verlauf der Moderne stellte sich allerdings bald heraus, dass der Typus des Aragon´schen Mythos niemals den Mainstream erreichen konnte, weil er aufgrund sei­ ner skeptischen und ironischen Einstellung zu Wissenschaft und Technik den Bedürf­ nissen der Architekten jener Zeit nicht entsprach, die eher auf eine Mythologisierung der Technik aus waren. So zum Beispiel Le Corbusier, der immer schon die Dichotomie zwischen der Ar­ chitektur und der Ingenieursästhetik auflösen wollte, um den Zweck mit dem Mythos zu informieren, den Zweck in die Form des Mythos zu bringen, den Zweck poetisch zu veredeln. Was aber wurde dabei mythologisiert? In der so genannten heroischen Phase der Zwischenkriegsjahre wurde nach Lösun­ gen für den Wiederaufbau der Wirtschaft und die wachsenden sozialen Problemen der Industrialisierung gesucht. Die Moderne spielte nun eine wichtige Rolle in der Vermitt­ lung von sozialem Handeln und ästhetischer Vision, indem sie das Handeln mit den Mitteln des Mythos ästhetisch informierte.15 Der Mythos hatte eine Befreiung vom formlosen Universum der Kontingenz zu er­ reichen, um den Mut und die Kraft für ein neues Projekt der menschlichen Bewusst­ werdung aufzubringen – oder einfacher – neuen Sinn zu finden. Wenn Mies van der Rohe sagte: „Wahrheit ist die Bedeutung der Tatsachen“16, so drückt er auf seine Weise das Credo des Funktionalismus aus. Wenn man den Funktionalismus als Mythologie sehen möchte, liegt es nahe, dass ein Flügel der Moderne auf das durch die Maschine verkörperte Bild der Rationalität verfiel, auf die Fabrik, auf die Macht der zeitgenössi­ schen Technologie und damit auf die Stadt als eine lebende Maschine. Diese Hoffnung auf die Maschine beruhte auf dem Glauben an eine rationale Ordnung, die auf techno­ logischer Effizienz und maschineller Produktion basierte. Der Wiener Kreis spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, denn der logische Positivismus galt vie­ len als eine Philosophie, mit der sich nach strikter Analyse der sozialen Sachverhalte wissenschaftliche und inhaltlich richtige Lösungen finden lassen. Damit ließe sich im Sinne einer perfekten Sozialtechnologie eine vernünftige Ordnung aufgrund wissen­ schaftlicher Kalküle herstellen. Auf einer ähnlichen Ebene agierte das Bauhaus, das ebenfalls eine rationale Ordnung im Zusammenspiel von technischer Effizienz und sozial nützlichen Zielen wie der menschlichen und proletarischen Emanzipation im­ plementieren wollte. Der logische Positivismus ist in seinen Praktiken mit denen der Architektur zu vergleichen, als man Häuser und Städte als Wohnmaschinen bezeich­ nete.17 238

Freilich wäre diese Beschreibung unvollständig, würde man nicht dieses Element der künstlerischen Selbstintensivierung mitdenken, das bei einer formalen Analyse dieses Zusammenhanges von Kunst und Maschine etwa aus kunsthistorischer Sicht nicht hinreichend bedacht wird. Es ist der Subjektwechsel des Künstlers, der diese

1 Charles Baudelaire, „Der Maler des modernen Lebens“, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Hanser, München/Wien 1989, S. 215 . 2 Ebd., S. 226 . 3 Vgl. Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Suhrkamp Frankfurt/Main 1981; auch David Harvey folgt dieser Interpretation Baudelaires in seiner Beschreibung der Moderne; David Harvey, The Condition of Postmoderni­ ty, Part I, Blackwell, Cambridge/ MA /Oxford 1990. 4 Baudelaire (wie Anm. 1), S. 225. 5 Baudelaire (wie Anm. 1), S. 223 . 6 Bohrer (wie Anm. 3), S. 64 . 7 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1974 , S. 82. 8 Bohrer (wie Anm. 3), S. 63. 9 Kenneth Frampton,

Die Architektur der Moderne, Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1987, S. 141. 10 Jean Francois Lyotard mit anderen, Immaterialität und Postmoderne, Merve, Berlin 1985, S. 86. 11 Wolfgang Schivelbusch, Geschichte der Eisen­ bahnreise, Fischer, Frankfurt/Main 1989, S. 39. 12 Paul Virilio, Der negative Horizont, Hanser, München/Wien 1989, S. 111. 13 Manfred Smuda, „Die Wahrnehmung der Großstadt“, in: ders. (Hrsg.), Die Großstadt als Text, Fink, München 1992, S. 167. 14 Louis Aragon, Der Pariser Bau­ er, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1996, S. 12. 15 Harvey (wie Anm. 3), S. 31. 16 Frampton (wie Anm. 9), S. 140. 17 Harvey (wie Anm. 3), S. 33.

Die Ermächtigung des Künstlers zum Interpreten des urbanen Raumes

künstlerische Wende mit der Bejahung der Maschine und der Sakralisierung der Funk­ tion ermöglicht, wie es zunächst die Futuristen vorführten. Aus dieser ekstatischen Haltung heraus sind dann auch die Stadtmodelle Le Corbusiers zu verstehen, in denen sich die Vermählung von Mythos und Maschine vollziehen sollten.

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Abb. 12: Franz Radziwill, Die Einsamkeit /Hochhaus (1959). Radziwills Werk ist von einem apokalyptischen Zug durchdrungen, der die melancholische Kehrseite der Moderne zum Ausdruck bringt.

Modernismus von unten Von Paris nach Petersburg In der letzten Folge war mehrfach die Rede von Baudelaire, der den Schlüsselgedan­ ken der Moderne in der Verbindung des Transitorischen mit dem Ewigen am ehesten erfasst und beschrieben hatte. Damit wurde eine Verbindung zwischen dem Alltag und der Metaphysik ermöglicht, von dem die Moderne bis heute prächtig lebt. Freilich ist dieser Zugang ein primär ästhetischer, der um die politische Dimension erweitert werden müsste. Denn es ist schließlich unbestritten, dass die Phänomene der Moderne möglicherweise zwar nur in der Kunst auf den Punkt gebracht werden können, aber im wesentlichen politischen und gesellschaftlichen Ursprungs sind. Einerseits dringen die seit der Französischen Revolution freigesetzten Kräfte permanent auf eine radi­ kale Veränderung der politischen Verhältnisse, andrerseits führt die kapitalistische Produktion im 19. Jahrhundert zur sozialen Verelendung der Arbeiterschaft, die nun ihrerseits auf eine soziale Revolution aus ist. Das alles ergibt eine explosive Mischung der Umwälzung, die sich auf vielfältigste Weise in der Stadt zeigt. Als richtungweisend für die Interpretation der Moderne gel­ ten natürlich die französischen Autoren, die über den Mythos der Stadt Paris ihr Werk und ihre Identität bilden konnten. Die politische Dimension ist zwar immer enthalten, aber sicher nicht im Sinne einer utopischen Erwartung. Erst im Vergleich mit Schrift­ stellern anderer Nationen und Städte, in diesem Fall mit Petersburg und Russland wird einem die politische Differenz in der Einschätzung der Moderne klar. Die französischen Autoren der gehobenen bürgerlichen Sphäre – Baudelaire ist etwa teilweise aus dem Kleinadel abkünftig, obwohl er zeitweise wie ein Bohemien in Armut lebt – sind sich über die Natur des Menschen hinlänglich klar, sodass sie nicht in die Gefahr einer nai­ ven Hoffnung der politischen Errettung durch obskure Kräfte geraten. Anders hin­ gegen die russischen Autoren. Wenn man den Modernismus Baudelaires mit dem einiger russischer Autoren, vor allem Dostojevskijs vergleicht, kann man bei beiden Autoren zunächst auf eine Rei­ he von Schlüsselszenen der Moderne verweisen.1 Die Begegnungen des Alltags in den Straßen der Stadt werden von höchster Intensität getragen, indem die fundamenta­ len Möglichkeiten und Fallstricke, die Allüren und Sackgassen des modernen Lebens aufgezeigt werden. Für beide wird der Sinn der politischen Notwendigkeit zu einer primären Quelle der Energie und die persönlichen Begegnungen in der Straße werden zu einem politischen Ereignis. Die moderne Stadt fungiert als Medium, in welchem das persönliche und politische Leben zusammenfließt und eins wird. Neben diesen Gemeinsamkeiten gibt es aber auch fundamentale Differenzen in ihren Vorstellungen eines modernen Lebens, insbesondere über dessen Form und Ausmaß. Die Boulevards von Haussmanns Paris waren Instrumente einer dynamischen Bourgeoisie und eines aktiven Staates, die zu einer raschen Modernisierung bestimmt waren, zur Entwicklung von Produktivkräften und Sozialbeziehungen und zur Be­ schleunigung des Stromes der Waren, des Geldes und der Menschen. Neben der öko­ nomischen Modernisierung war Paris natürlich ein Ort der explosivsten politischen Erfindungen und Moden der modernen Politik. Baudelaire ist stolz darauf ein Teil die­ 241

ser urbanen Masse zu sein, die weiß wie sie sich zur Verteidigung ihrer Rechte organi­ sieren und wehren muss. Selbst wenn er anonymer Teil dieser Masse ist wird er von den aktiven Traditionen, die mythisch und real zugleich sind und den Möglichkeiten zur Eruption erfüllt. Diese anonymen Massen können sich jederzeit in Freunde und Feinde aufteilen. Das Potential zur Brüderlichkeit und ebenso zur Feindlichkeit hängt über den Straßen und Boulevards von Paris wie eine Gaswolke in der Luft. Baudelaire bezweifelte in der revolutionärsten Stadt der Welt die Gültigkeit seiner menschlichen Rechte keinen Moment lang. Auch wenn er sich als völlig fremd in der Welt sieht, ist er doch als Mensch und Bürger in Paris zu Hause. Der Petersburger Nevsky Prospekt ähnelt räumlich den Pariser Boulevards, oder ist sogar noch großzügiger, aber politisch und sozial liegen Welten dazwischen. Der Staat ist viel eher ein Aufenthaltsraum des Volkes und keineswegs ein Führer zum Fort­ schritt. Die Gentry ist zwar begierig, sich am Füllhorn der westlichen Konsumgüter zu erfreuen, ohne jedoch in Richtung einer Entwicklung der westlichen Produktivkräf­ te zu arbeiten, die die moderne Konsumgesellschaft erst ermöglicht hatte. Der Adel spielt noch die führende Rolle in der Hauptstadt, wenngleich er nach der Abschaffung der Leibeigenschaft bereits weiß, dass die Leute in den Straßen nicht mehr sein Ei­ gentum sind. So kommt auch in Russland eine kurze Spanne der politischen Entspan­ nung auf und die 1860er Jahre stellten eine bedeutende Epoche dar, weil nach der Be­ freiung der Leibeigenen Bauern durch das Dekret von Alexander II . eine kurze Epoche der Öffnung und der Hoffnung auf weitere Emanzipation und bürgerlichen Freiheiten folgte. So kam auch erstmals eine neue Generation von Intellektuellen auf, die nicht dem Adel oder der Gentry angehörten, sondern als raznochintsky bezeichnet wurden, vergleichbar etwa dem dritten Stand vor der Französischen Revolution und aus dem schmalen Bereich des bürgerlichen Mittelstandes kamen. Allerdings verachteten sie alles was vornehm war und zeichneten sich durch besondere Vulgarität des Ausdrucks und Mangel an sozialen Gefühlen aus. Turgenev schuf mit dem jungen Medizinstuden­ ten in Väter und Söhne ein Porträt dieses „Neuen Menschen“ in der Gestalt des Bazarov, der nicht das geringste Interesse an Poetik, Kunst und Moral und den bestehenden Verhältnissen hatte, sondern sich ausschließlich auf die Mathematik und das Sezieren von Fröschen konzentrierte. Turgenev soll in diesem Zusammenhang den Begriff des Nihilisten erfunden haben. Der „Neue Mensch“ entwickelt jedenfalls eine völlig unkritische Haltung gegen­ über wissenschaftlichen und rationalen Modellen des Lebens und des Denkens. Diese plebejischen Intellektuellen stellten einen dramatischen Bruch mit den kultivierten liberalen Humanisten der 1840 Jahre dar, die sich aus der Gentry rekrutiert hatten, also eine tendenziell aristokratisch verfeinerte Kultur vertraten. Die „Neuen Menschen“ hingegen waren Anhänger der nachdrücklichen Aktion, durch die sie sich selbst, wie auch die Gesellschaft erschüttert und verstört machten. So gab es am 1. September 1861 eine mysteriöse Aktion eines Reiters, der den Ne­ vsky Prospekt hinaufraste und Flugblätter verstreute und dann verschwand. In den Flugblättern war zu lesen, dass man keinen Zar brauche und lieber einen gewählten Mann aus dem Volke zum Führer hätte. Die sich daran anschließenden Demonstra­ tionen einiger hundert Studenten waren die ersten öffentlichen politischen Versamm­ lungen, die am Nevsky Platz stattfanden und hatten Forderungen nach minimalen Rechten und Stipendien zum Inhalt. Durch die übertrieben harten Reaktionen der Re­ 242

Der neue Mensch als Sheriff des öffentlichen Raumes Im Juli 1862 wurde der radikale Kritiker und Herausgeber von Sovremennik (Contem­ porary) Nicolai Tschernyshevskij wegen einer vagen Anklage der Subversion und Kon­ spiration gegen den Staat verhaftet. Faktisch gab es überhaupt keine Evidenz gegen Tschernyshevskij, der seine politischen Aktivitäten vorsichtigerweise immer auf den Bereich der Literatur und der Ideen beschränkt hatte. Man musste also erst die Vor­ würfe konstruieren und während der zwei Jahre, die die Regierung dafür brauchte, verbrachte Tschernyshevskij ohne Anklage in den Kellern der Peter und Paul Festung, einer der ältesten Anlagen von Petersburg. Ein Geheimtribunal verurteilte ihn dann zu 20 Jahren Sibirien, von wo er erst als todkranker und gebrochener Mann zurückkehrte. Noch während seines Petersburger Gefängnisaufenthaltes war sein Buch mit dem Titel Was tun? in fieberhafter Arbeit entstanden, dessen Manuskript viele Irrwege machte, bevor es ab 1863 in einer Serie veröffentlicht wurde. Dieses Werk Was tun? wurde im literarischen Sinn als Novelle als weitgehend misslungen bezeichnet, da es weder eine Handlung, noch substantielle Charaktere, die zudem kaum voneinander unterscheidbar waren, noch eine klare Umgebung oder örtliche Präzisierung hatte. Dennoch wurde dieses unbeholfene Buch durch die Aneig­ nung des Titels durch Tolstoi und Lenin mit einer Art moralischer Aura versehen, vor allem zeigte es, dass der russische Geist sich im Aufbruch befand, wie durch den Unter­ titel Aus Erzählungen vom neuen Menschen enthüllt wurde. Tschernyschevskij war der Meinung, dass erst durch die Initiative einer Klasse des „Neuen Menschen“ Russland in die Zukunft aufbrechen könne. Somit handelte es sich um ein Manifest und ein Hand­ buch für alle die sich für eine derartige Vorhut hielten. Da es aber aufgrund der Zensur vollkommen unmöglich war, dieses neuen Menschen in politischer Aktion zu zeigen, griff er zu einem anderen spannenden Mittel der Darstellung. Er porträtierte eine Rei­ he von vorbildlichen Lebensläufen, deren persönliche Begegnungen und Beziehungen mit Politik erfüllt waren, wie zum Beispiel die folgende Figur: „Was für ein Mensch war Lepuchow? Einmal kehrte er in seiner ziemlich fadenschei­ nigen Uniform von einer Privatstunde zurück, die er für 50 Kopeken die Stunde in einer drei Werst vom Lyzeum entfernt wohnenden Familie gab. Am Komenno­Ostrowski­ Prospekt begegnete ihm ein eleganter Stutzer 2 (Würdenträger in der engl. Überset­ zung), recht übermütig einherstolzierend, ohne jemand auszuweichen. Lepouchovs Grundsatz war damals: niemand, außer weiblichen Personen auszuweichen. Sie stie­ ßen mit den Schultern aneinander. Der Stutzer rief entrüstet: ‚Warum gehst du mir nicht aus dem Weg du Vieh!‘ und machte Miene, die Herausforderung fortzusetzen. Aber Lepouchow fasste ihn mit beiden Händen mitten um den Leib, hob ihn in die Höhe und legte ihn vorsichtig in die Gosse, worauf er ihm den Rat erteilte. ‚Rühre dich nicht, oder ich trage dich an eine Stelle, wo der Schmutz noch tiefer ist.‘ Zwei Bau­

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gierung und massenhaften Verhaftungen kam es zu Studentenstreiks und Polizei­ aktionen und zu einer zweijährigen Sperre der Universität. Die Studenten ließen sich nun nicht mehr in der Öffentlichkeit der Stadt blicken und begannen mit der Bildung eines Untergrundnetzwerkes. Jedenfalls handelte es sich bei diesen Vorfällen um die ersten politischen Demonstrationen in Petersburg der anbrechenden Moderne und die Straßen des neuen Petersburg hatten sich nun erstmals als politischer Raum etabliert und waren nun vom Geist der politischen Konfrontation beseelt.

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ern, die den Vorgang mitangesehen hatten, freuten sich unbändig darüber, und auch ein vorübergehender Herr konnte sich des Lächelns nicht erwehren. Es fuhren auch Equipagen vorbei, die den Vorgang nicht beachteten; von ihnen aus war nicht zu er­ kennen, dass jemand in der Gosse lag. Lepouchow stand eine Weile da, dann fasste er den Stutzer bei der Hand, half ihm wieder auf die Beine, und sagte mit bekümmerter Miene:‚Ach verehrtester Herr, wie bedaure ich, daß sie gestolpert sind! Ich will hoffen, Sie haben sich nicht weh getan. Darf ich ihnen die Kleider ein bisschen vom Schlamm reinigen?‘ Ein Bauer ging vorbei, half ihm sich zu reinigen, zwei Bürger gingen vorbei halfen ihm sich zu reinigen, und dann entfernten sich alle.“ 3 Die Straße als Front Es ist für den Leser nicht ganz einfach hier zu einer schlüssigen Interpretation zu kom­ men. Denn einerseits identifiziert man sich zunächst leicht mit Lepouchow und seiner Kühnheit und mutigen Handlung, den Würdenträger, der als Symbol für die herrschen­ de Gesellschaft der Aristokratie steht, in die Gosse zu werfen, andrerseits müssen Kenner der russischen Literatur in diesem Fall auf die völlige Absenz einer psycholo­ gischen Beschreibung des inneren Lebens oder Selbstbewusstseins hinweisen. Denn eine solche Aktion müsste mit großen Ängsten vor den Konsequenzen dieser Hand­ lung, aber auch Spuren größter Abneigung und Ekels gegen die Oberschicht zum Ver­ ständnis der Motivlage verbunden sein. Es ist daher äußerst unrealistisch, dass eine Episode zwischen einem Mitglied der herrschenden Klasse und einem kleinbürger­ lichen Studenten so verlaufen kann. In Wirklichkeit wäre eine derartige Handlung mit schweren Sanktionen verbunden gewesen, dem Verweis von der Universität, einer Ge­ fängnisstrafe und Ähnlichem. Das aber, so muss man Tschernyshevskij verstehen, macht eben den neuen Men­ schen aus. Dieser ist nicht von den Zweifeln und Ängsten, von denen die russische Seele seit jeher bewohnt wird, befallen. Es gibt keine inneren Konflikte, freilich sind daher seine Siege zu leicht, zu schnell. Die Konfrontation zwischen dem Herrscher und Beherrschten ist schon vorbei, bevor sie überhaupt real wird. Es handelt sich um eine völlig phantastische Geschichte und die literarischen Genres, denen er am meisten ähnelt sind jene der amerikanischen Frontgeschichten, der Western und Pistolenhel­ den, der einsamen wilden Männer der amerikanischen Steppe und Prärie. Alles was sie brauchen ist ein Pferd. Obwohl sich die Bühne im öffentlichen Raum von Petersburg befindet, kommt die Inspiration der Szene viel eher aus dem Wilden Westen als aus russischen Quellen. Allerdings gibt es ein wesentliches Merkmal in dieser mythologischen Welt der Front, die Klassenlosigkeit. Mann gegen Mann in einem leeren Raum. Der Traum der pre­zivilisierten Demokratie des natürlichen Menschen macht die Mythologie der Front mächtig und attraktiv. Wenn allerdings solche Phantasien einer Front in die re­ alen Straßen von St. Petersburg transportiert werden, so ist das Resultat besonders bi­ zarr. Denn in dieser Szene ist die gesamte Welt auf Seiten des Lepouchow, die Bauern und Funktionäre drücken ihre Freude aus, selbst die Leute in der Kutsche kümmern sich nicht um den im Dreck steckenden Würdenträger. Das würde perfekt in die offe­ ne Welt der mythischen amerikanischen Front passen. Um aber in Petersburg glaub­ würdig zu sein, müsste die russische Revolution schon stattgefunden haben, dann aber wäre an der Demütigung eines Mitgliedes der früheren herrschenden Klasse nichts 244

Modernismus der Unterentwicklung Auch wenn diese Beschreibung zur Hervorrufung heroischer Emotionen aufgrund der erzählerischen Inkohärenz eher unplausibel ist, so muss doch betont werden, dass Tschernyschevskij in dieser Szene eine äußerst subversive Schilderung der öffent­ lichen Niederlage eines Würdenträgers in der Stadt gewagt hat, die von großer Vor­ stellungskraft und Mut war. Er zeigte im Gegensatz zur Modernisierung der Stadt Petersburg, die das Ergebnis einer Modernisierung von oben war, den frühen Gegen­ traum einer Modernisierung von unten. Als Mitbegründer des narodism, einer Form des russischen Populismus, der durch­ aus für eine Verschärfung des Klassenkampfes im Sinne der Steigerung revolutionärer Energien plädierte und von einem Sozialismus auf der Basis einer bäuerlichen Gemein­ schaft träumte, repräsentierte er die emotionale Dynamik der Bevölkerung wesent­ lich besser als der nachfolgende Kommunismus. Nach Meinung des amerikanischen Literaturwissenschafters Josef Frank bereitete vor allem das Buch Was tun? die spä­ tere Machtübernahme der Kommunisten erst vor und wäre durch die Kommunisten allein kaum geleistet worden.4 Offensichtlich sind hier zwei wesentliche Elemente der Revolution von unten besonders gut getroffen. Zum einen das Ressentiment der unte­ ren Schichten gegen die herrschende Klasse, das sich in Macht­ und Gewaltphantasien äußert und den öffentlichen Raum eben in der beschriebenen Weise als Kampfzone oder einen Raum aus dem Wilden Westen versteht. Eine Konfrontation zwischen frei­ en Bürgern kann gar nicht diskursiv, sondern nur mit dem Colt ausgetragen werden. Zum anderen aber etwas völlig Konträres: Eine Überbetonung der Phantasien, ein Glaube an Wunder und die Realisierung von Träumen, letztlich an die Ankunft der Utopie. Während das Paris von Baudelaire für den Modernismus einer weit fortge­ schrittenen Nation steht, der seine Visionen direkt vom Material der ökonomischen und politischen Modernisierung und der erkennbaren modernisierten Realität ablei­ tet, steht das Petersburg Tschernychevskijs trotz einiger städtebaulicher Leistungen, für einen Modernismus der Rückständigkeit und der Unterentwicklung. Dieser Typus des verstümmelten und verwickelten Modernismus hat seinen Ursprung in Russland, in Petersburg, wo er aufgekommen war. Dieser Modernismus der Unterentwicklung ist dazu gezwungen auf Träumen und Phantasien aufzubauen, um sich selbst von dieser Intimität und der Auseinanderset­ zung mit Wundern und Geistern zu nähren. Um dem Leben, dem er entspringt zu ent­ sprechen, ist man gezwungen schrill und ungehobelt zu sein. Dieser Modernismus wendet sich nach innen und quält sich selbst, wegen der Unfähigkeit eigenhändig Ge­ schichte zu machen oder er zwingt einen zu extravaganten Experimenten, die Last der Geschichte selbst zu tragen. Er peitscht einen in die Raserei der Abscheu vor sich selbst und kann sich selbst nur durch große Reserven der Selbstironie schützen. Aber die bi­ zarre Realität aus der dieser Modernismus erwächst und der unerträgliche Druck unter dem er sich bewegt und lebt – sowohl soziale und politische, wie auch geistige – erfüllt ihn mit einer verzweifelten Glut, sodass der westliche Modernismus, der in seiner Welt viel besser verankert ist, kaum dagegen ankommen kann.5

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heroisches. Man kann daher sagen, sobald diese Szene möglich gewesen wäre, wäre sie schon völlig unnötig geworden.

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Die Moderne als „Abenteuer oder Routine“ Es ist an dieser Stelle wichtig zu erwähnen, dass es noch eine Reihe weitere Interpre­ tationen von Öffentlichkeit bzw. öffentlichem Raum in Petersburg gibt, die von größ­ ter allgemeiner Bedeutung sind, vor allem die Aufzeichnungen aus dem Untergrund von Dostojevskj, wo der Typus eines Mannes aus dem Untergrund beschrieben wird, der einen ähnlichen Kampf mit einem Offizier um Anerkennung im öffentlichen Raum wie Tschernyschevskij führt. Dieser Text entstand auch als Antwort auf Tschernyschevskij und ist auf einem literarisch und philosophisch wesentlich höherem Niveau angesie­ delt. Hier gibt es nicht die absurde Siegerphantasie eines Wildwesthelden, sondern die Beschreibung des inneren Kampfes um Anerkennung, dessen äußere Manifestation sich eben im öffentlichen Raum vollzieht. Daher führt von den Interpretationen Dosto­ jevskijs auch eine gedankliche Linie zu einem anderen Typus der Modernisierung, in dem der Spannungscharakter des Kampfes um Anerkennung als dem Schlüssel­ moment der Moderne wesentlich besser verstanden und beschrieben wird. Der Mann aus dem Untergrund ist als ehemaliger kleiner Beamter auch ein Abenteurer, weil er sich mit einem standeshöheren Offizier auf ein symbolisches Duell der Anerkennung im öffentlichen Raum einlässt, das ihm jahrelange innere Kämpfe beschert, in denen alle denkbaren psychologischen Variationen und Nuancen durchgespielt werden. Von hier aus kann auch die These einer Modernisierung als Abenteuer aufgestellt werden, die uns in der nächsten Folge beschäftigen wird. In diesem Fall werden alle nietzsche­ anischen Momente der Selbstermächtigung und Selbststeigerung aktiviert und das Potential der Offenheit des Menschen ausgereizt. Soziologisch betrachtet, handelt es sich hierbei aber um die Motivlage des unterdrückten Bürgertums, des Mittelstandes, der die Herrschaft der Aristokratie überwinden will. Tschernyschevskij hingegen ließe sich als ein Autor bezeichnen, der die Moder­ ne als Routine versteht.6 Der Grund dafür besteht in der Herstellung von Verhältnis­ sen, die ein fixe Ordnung des Glücks und der Erfüllung der Wünsche garantieren, in gewisser Weise eine Form der realisierten Utopie bedeuten, nach deren Vollziehung das Glück, zumindest aber absolute Zufriedenheit einziehen müssten, die in der Per­ formanz des Lebens aber nur mehr Routine erfordern würde, weil eben alle Probleme und Spannungen gelöst worden sind. So ist auch die Begegnung des Lepouchow aus Was tun? mit dem Würdenträger zu verstehen, in jener Szene, in der der neue Mensch zeigt, dass er keine Unterdrückung mehr duldet, weil Unterdrücker aus dem öffentlichen Raum entfernt und in die Gos­ se gesetzt werden, was durchaus den Wunschphantasien entspricht. Dass der neue Mensch später die Stelle der Macht einnehmen wird, ist noch nicht erkennbar. Eine weitere Schlüsselszene von Was tun? liegt in der Beschreibung des Kristall­ palastes, der für die russischen Autoren eine enorm wichtige Rolle in der Beurteilung des westlichen Fortschrittes spielte und eine Quelle zahlreicher Phantasien bildete. Auch hier liegt neben der folgenden Beschreibung Tschernyschevskijs eine mehrfache Behandlung des Themas durch Dostojevskij vor, die uns noch beschäftigen wird. Auch der Kristallpalast, die Geschichte seiner Erbauung und die seiner Rezeption ließen sich unter verschiedenen Aspekten der Einschätzung der Modernisierung ein­ ordnen. Für Russland war er einer der eindringlichsten und aufrüttelndsten Träume der Moderne. Die außerordentliche Wirkung auf die Russen, indem er in der russi­ schen Literatur und Denken eine wesentliche größere Rolle als in der englischen spiel­ 246

te, kommt von seiner Rolle als einem Gespenst der Moderne, das eine Nation verfolgte, die aus ihrer Angst vor Rückständigkeit erzitterte. Dostojevskij beschrieb den Kristall­ palast mehrfach und in verschiedener Weise, wobei er weniger am Gebäude selbst als an dem mit ihm verbundenen Symbolismus interessiert war. Dieser Symbolismus war für ihn mit dem westlichen Rationalismus, Materialismus und der mechanischen Welt­ sicht verbunden. In seinen Aufzeichnungen aus dem Untergrund sind die Verachtung und das Misstrauen gegenüber den Tatsachen des modernen Lebens unübersehbar. „Also gut: der Mensch ist ein vornehmlich schöpferisches Tier, das dazu verurteilt ist bewusst zu einem Ziel zu streben, und sich mit der Ingenieurskunst zu befassen, das heißt sich ewig und ununterbrochen einen Weg zu bahnen, wenn auch einerlei wohin.“7 Allerdings war der Kristallpalast für Dostojevskij auch ein Zeichen der menschli­ chen Kreativität, die sich nun weder in Philosophie oder Kunst, sondern in der Inge­ nieurskunst ausdrückt: „Der Mensch liebt es sich als Schöpfer zu erweisen und Wege zu bahnen, das ist unbestreitbar. […] Was können sie wissen, vielleicht liebt er dieses Gebäude nur aus der Entfernung, nicht aber aus der Nähe. Vielleicht liebt er nur, es zu erschaffen, nicht aber in ihm zu leben […].“ 8 Für Marshall Berman liegt zwischen dem Erbauen eines Gebäudes und darin zu wohnen eine fundamentale Unterscheidung.9 Im ersten Fall ist das Gebäude das Me­ dium der Entwicklung des Selbst und ein Zeichen der Bestätigung. So lange die Inge­ nieursarbeit eine Aktivität bleibt, so lange kann die menschliche Kreativität zu höchs­ ten Zielen gelangen. Sobald der Erbauer den Prozess des Bauens stoppt, und sich selbst hinter den Dingen, die er geschaffen hat, verschanzt, werden die kreativen Energien eingefroren und der Palast wird zum Grab. Daraus folgt, dass es unterschiedliche Wei­ sen der Modernisierung und Moderne gibt. Modernisierung als Abenteuer und Moder­ nisierung als Routine.10 Dostojevskij ist ein entschiedener Anhänger einer Moderne als Abenteuer, wie es auch aus seinen Begegnungen mit dem Offizier am Nevsky Prospekt zu ersehen ist. Die Erbauung des Kristallpalastes war durch die Anwendung neuester Verfahren in der Konstruktion und beim Material ein großes technisches Abenteuer. Wenn sich jedoch das Abenteuer in Routine verwandelt, so wird, wie am Beispiel des Kristallpalastes ersichtlich, der Geist getötet.

Auch hier in diesem südlichen Land siehst du zwischen den gründenden und blühen­ den Fluren, etwa drei oder vier Werst voneinander entfernt, gleich den Figuren auf dem Schachbrett, solche umfangreichen Gebäude stehen, wie ich dir eins im Norden gezeigt habe.11 Die Situation des Schachbretts reicht soweit das Auge blicken kann. Mehr erwähnt Tschernyschevskij nicht und man weiß nicht ob es überhaupt noch andere Gebäude oder einen anderen Lebensraum gibt. Spätere Leser werden dieses Modell unschwer als einen Vorläufer der Türme im Park von Le Corbusiers ville radieuse erkennen. Je­

Modernismus von unten

Antiurbanismus. Der Kristallpalast als „Routine“ Das beste Beispiel für eine Verteidigung der Modernisierung als Routine gibt Cherny­ chevsky in Veras Pawlowas vierten Traum: In der Szene in der Tschernyschevskij den Kristallpalast einführt, zeigt er eine Welt, die ausschließlich aus solchen Palästen besteht:

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des Gebäude entspricht in diesem Text aus dem Jahre 1862 bereits dem was wir heute eine Mega­ oder Superstruktur nennen, und enthält Appartments, Werkstätten, Ge­ meinschaftsräume, Speisesäle, ausgestattet mit Aluminiumstühlen und verschieb­ baren Wänden, um Nutzungsänderungen leichter durchführen zu können, wie auch eine frühe Form der Belüftungsanlage. Tschernyschevskij beschreibt die Ballsäle ge­ nau und die dort stattfindenden Veranstaltungen mit großer Detailfreudigkeit.12 Jede dieser Superstrukturen beherbergt eine Gemeinschaft von mehreren 1.000 Leuten, deren materielle Bedürfnisse durch eine kollektivierte, technologisch fortschrittliche Landwirtschaft und Industrie erfüllt werden, während die sexuellen und emotionalen Bedürfnisse durch eine gutwillige, etwas geheimnisvolle und vernünftige Verwaltung befriedigt werden. Dieses „neue Russland“ wie es Tschernyschevskij nennt, wird von allen Spannungen, seien sie politischer oder gesellschaftlicher Natur befreit sein und sogar der Traum von Auseinandersetzungen wird in dieser Welt fehlen. Tschernyschevskij arbeitete hart daran, sämtliche Spuren eines Konfliktes aus sei­ ner Vision zu entfernen und es dauert eine Weile, ehe man versteht wogegen diese Welt der Kristallpaläste gerichtet ist. Erst auf die Frage der Heldin des Buches, dass es doch Städte geben müsse, für die Leute die darin leben möchten, antwortet der Füh­ rer, dass es nur sehr wenige solcher Leute gäbe und es daher viel weniger Städte als in den früheren Zeiten gibt. Städte existieren noch weiter, aber auf einer minimalen Basis als Kommunikationszentren und Ferienorte. „Man besucht sie nur zeitweilig der Ab­ wechslung wegen“13 die wenigen verbleibenden Städte sind voll von Unterhaltungs­ möglichkeiten für Touristen. Auf die Frage „Wer aber beständig in der Stadt leben will?“ antwortet der Führer: „Dem bleibt es unbenommen; er lebt dann wie ihr in eurem Pe­ tersburg oder wie man in Paris und London lebt. Allein bei weitem die Mehrzahl der Menschen findet das Leben, das meine Schwester und ich dir zeigen, behaglicher und angenehmer.“14 Der Kristallpalast ist hier als eine Antithesis zur Stadt konzipiert. Tschernysche­ vskij träumt einen Traum der Modernisierung ohne Urbanität. Die neue Antithesis zur Stadt ist nicht mehr das primitive Land, sondern eine hochentwickelte, supertechni­ sche, selbstgenügsame Stadt, die umfassend organisiert und entwickelt ist, die aus nichts auf dem jungfräulichen Boden geschaffen wurde, durchgehend kontrolliert und administriert ist und daher wesentlich erfreulicher und vorteilhafter ist als es irgend­ eine Stadt je war. Antiurbanismus par excellence.

1 Marshall Berman, All that is solid melts into air. The denträgers durch eine Ersetzung durch den „Stutzer“ abexperience of modernity, London 1988 . 2 In der engli- schwächte, bzw. durch einen unscharfen soziologischen schen Übersetzung ist nicht die Rede von einem Stutzer, Begriff für ein Mitglied der Oberschicht ersetzte, der ähnsondern von einem dignitary, einem Würdenträger. Da liche Ressentiments auslösen kann. Ebd., S. 217. 3 N. G. dem Autor kein russischer Originaltext vorlag, wird der Tschernyschewskij, Was tun? Aus Erzählungen von neu­ Interpretation von Marshall Berman gefolgt, in der vom en Menschen, SWA Verlag, Berlin 1947, S. 252 . 4 MarWürdenträger die Rede ist, einer Übersetzung, die dem tin Amis, Koba the Dread, London 2002. 5 Berman (wie Text auch ein größere politische Bedeutung und höhere Anm. 1), S. 232. 6 Berman (wie Anm. 1), S. 243. 7 Fjodor Plausibilität verleiht. Da die deutsche Übersetzung, bzw. M. Dostojewskij, „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“, Publikation aus dem Jahre 1947 ist, darf man vermuten, in: ders., Der Spieler. Späte Romane und Novellen, Piper, dass sie von einem kommunistischen Autor verfasst wurde, München, Nachdruck 1910 S. 465. 8 Ebd., S. 466. 9 Berder angesichts der realen Situation in der Zeit des Stalinis- man (wie Anm. 1), S. 243. 10 Ebd. 11 Tschernyschewskij mus jegliche Komplikation durch eine mögliche Analogie (wie Anm. 3), S. 464 . 12 Tschernyschewskij (wie Anm. 3), vermeiden wollte und die politische Bedeutung des Wür- S. 466. 13 Ebd. 14 Tschernyschewskij (wie Anm. 3), S. 464 .

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Modernismus und der Kampf um Anerkennung Die Moderne ist aufgrund der sich seit der Industriellen Revolution ständig verändern­ den Verhältnisse der Autoritäten auf das Engste mit der Frage der Anerkennungsver­ hältnisse verbunden. „Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbro­ chene Erschütterung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisie­Epoche vor allen anderen aus. Alle festen einge­ rosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und An­ schauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern kön­ nen. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht […].“ Dieser berühmte Satz aus dem Kommunistischen Manifest von Karl Marx stellt die Rahmen­ bedingungen fest, die die Verhältnisse der Moderne charakterisieren und die seiner Meinung nach nur ein notwendiges Zwischenstadium darstellen, ehe das Proletariat die Macht übernimmt und durch Verstaatlichung der Produktionsverhältnisse die ge­ sellschaftliche Entfremdung der Menschen durch den Kapitalismus aufhebt. Die Fra­ ge der gegenseitigen Anerkennung selbst hatte Marx weniger interessiert, da sie ihm im Zuge des gesamthistorischen Fortschritts im Staat im Sinne Hegels ebenfalls gelöst schien. Hegel hingegen hatte in seiner tiefschürfenden Analyse des Kampfes um die Anerkennung in der Phänomenologie des Geistes ja angenommen, dass der Kampf um Anerkennung in der Geschichte primär durch den Kampf zwischen Herrn und Knecht, der auf Leben oder Tod geht, bestimmt wird; diesen sieht er aber nach Ende der Feudal­ zeit als beendet an. Der Herr riskierte sein Leben für die Herrschaft, weil er die töd­ liche Auseinandersetzung nicht scheute, der Knecht hingegen schonte sein Leben und machte sich nun durch Arbeit dem Herrn unentbehrlich, womit er sich letztlich aus der Herrschaftsbeziehung und der Unterlegenheit herauslöste. Für Hegel spielt die Arbeit eine zentrale Rolle im Kampf des Menschen um Integrität.1 Der Mensch eignet sich die Welt durch Arbeit an und kann sich erst dann darin selbst erkennen. Im Zuge dieser fortschreitenden Integration entwickelt sich auch die gegenseitige Anerkennung. Je weiter die Entwicklung des begrenzten Individuums zum allgemeinen Bewusstsein gelingt, desto größer die gegenseitige Anerkennung. Hegel dachte nicht an eine mög­ liche Beschleunigung dieser Vorgänge durch eine Revolution in dem Sinne wie Marx später glaubte. Hegel war Befürworter des bürgerlichen Staates. Der Bürger tritt nun in eine Entwicklung des Selbstbewusstseins ein, die vom Stoi­ zismus zum Skeptizismus über das unglückliche Bewusstsein hinweg quasi durch die Erkenntnis der Allgemeinheit zum vernünftigen Bewusstsein führen müsse.2 Damit ist auch der Rahmen der Anerkennungsverhältnisse der Moderne gekennzeichnet, der sich zwischen Skeptizismus und unglücklichem Bewusstsein bewegen dürfte. Das be­ deutet, dass man der Autorität, der herrschenden Klasse keine Anerkennung mehr zu­ teil werden lässt, man nicht mehr an sie glaubt, aber dennoch mit ihr auf unterschied­ liche Weise verbunden ist. Man schimpft über die Autorität, aber bleibt dennoch in ihrer Gewalt, darin besteht das Wesen dieser ambivalenten Bewusstseinslage. Man hasst die Autorität, aber man ist auch auf sie angewiesen, auch was die Anerkennung betrifft. 249

Tschernyschewskijs unsichtbarer Paternalismus als das Ende des öffentlichen Raumes In der letzten Folge war die Rede von Tschernyschewskijs Darstellung eines Moder­ nismus von unten, einer Moderne, die durch den neuen Menschen vollzogen wird, wie er ihn in seinem Roman Was Tun? (1947) beschrieben hatte. Auch hier ging es um Anerkennung. Im Falle von Tschernyschewskij könnte man von einem infantilen skep­ tischen Bewusstsein sprechen, indem er das Verschwinden der Autoritätsgestalt phan­ tasiert bzw. seinen Helden Lopouchow entsprechend handeln lässt. Eine Schlüsselszene des Romans besteht in einer Begegnung im öffentlichen Raum zwischen dem Protagonisten Lopouchow und einem öffentlichen Würdenträger, der als ein Repräsentant der herrschenden Klasse am Newskij Prospekt stolz daherschrei­ tet und niemandem ausweicht. Es handelt sich daher bei dieser Begegnung um einen Kampf um die öffentliche Anerkennung. Der Würdenträger sieht als Mitglied der herr­ schenden Klasse seinen Vorrang gegenüber dem gemeinen Volk als selbstverständ­ lich an und denkt nicht im geringsten an ein Ausweichen. Lopouchow, Protagonist des Romans und Vertreter des neuen Menschen, lässt es zu einer Konfrontation kom­ men, weil auch er nicht ausweichen möchte, und schmeißt den Herrn in die Gosse. Die symbolische Bedeutung dieser Szene liegt auf der Hand: Es handelt sich um den Traum der Beherrschten, die Vertreter der herrschenden Klasse in den Staub zu wer­ fen. Abgesehen vom reinen Wunschcharakter und der Irrealität dieses Heroismus, der eher in den Wilden Westen als in die mythische amerikanische Front passen würde, zeigt er die Ressentiments des narodnik, jener Form einer russischen populistischen Bewegung aus dem 19. Jahrhundert und der damit verbundenen Macht­ und Gewalt­ phantasien, die später von den Kommunisten und Faschisten übernommen und auf der Basis eines Skeptizismus realisiert wurde. Die Frage der Anerkennung im öffentli­ chen Raum ist durch die phantasierte Unterwerfung anscheinend schnell geklärt und zugleich ein Merkmal einer von unten kommenden Bewegung, die keine diskursiven Auseinandersetzungen zulassen kann. Tatsächlich aber ist diese Frage völlig unge­ klärt. Nach Hegels Schema könnte man hier am ehesten von einem skeptischen Be­ wusstsein sprechen, das den Herrn längst nicht mehr anerkennt und von einer herr­ schaftsfreien Gesellschaft phantasiert. Die dafür notwendige Ablösung funktioniert leider nur auf dem Papier, weil sich der arme Tschernyschewskij im Gefängnis befand und er nur eine symbolische Reinigung träumen konnte. Denn im Sinne des revolutionären Denkens ist zwar die symbolische Vernichtung des Herren notwendig, weil nur auf diese Weise das knechtische Bewusstsein aufgeho­ ben werden kann, um es aber sofort im neugegründeten demokratischen Staat in fried­ liche Arbeit zu verwandeln. Aber dieser nun durch die Aufhebung der Herrschaft neu­ gegründete Staat bedarf eben einer Öffentlichkeit, in der die Angelegenheiten friedlich verhandelt werden. Tschernyschewskij hatte nicht begriffen, dass diese Form der gewaltsamen, sym­ bolischen Vernichtung des alten Herren, bzw. seines Repräsentanten, im neuen Staat zugleich auch das Ende des öffentlichen Raumes und damit der Sphäre der allgemei­ nen Anerkennung ist. Er beschreibt eine Utopie, in der die Menschen friedlich auf dem Land arbeiten und konfliktfrei in Kristallpalästen gemeinsam wohnen. Das Hauptmo­ tiv der Modernisierung von unten bedeutet die Realisierung einer materiellen Utopie, in der durch die Erfüllung der materiellen Wünsche eine Geborgenheit entsteht, in 250

der die Frage der gegenseitigen Anerkennung nicht mehr gestellt werden muss. Tat­ sächlich handelt es sich dabei aber nur um eine Form des Paternalismus 3, wie er durch die meisten sozialen und utopischen Bewegungen seiner Zeit angestrebt wurde, die auf der Fiktion einer Gemeinschaft beruhen, als ob sie durch Familienbande zusam­

aber die Macht über sie ständig aus. Es gibt zahlreiche erfolgreiche Beispiele solcher pa­ ternalistischer Modelle aus dem 19. Jahrhundert wie das frühe Panopticon nach Bent­ ham, die Spinnerei in New Lannarck, die Pullman Werke mit ihren Wohnstädten und viele andere mehr. Und natürlich hatten auch die großen sozialistischen Bewegungen einen starken paternalistischen Kern, der quasi das Erbe des Saint­Simonismus dar­ stellte und die Erfolge bei den Arbeitern begründete. Wenn diese wechselseitigen Ansprüche der Anerkennung im Paternalismus nicht mehr aufkommen, weil der Vater alle beschützt, erübrigt sich auch eine öffentliche Sphäre, die höchstens zur Quelle störender Auseinandersetzungen werden könnte. Tschernyschewskij sieht folgerichtig auch ein Ende der Städte kommen, und damit auch ein Ende der Urbanität, die er aber wie alle Utopisten nicht bedauert. Schließlich ist für sie ja ein Leben im Kristallpalast vorgesehen, das alle Wünsche und Phantasien befriedigen sollte. Man erkennt an diesem Beispiel wie die Frage der Anerkennung in der Moderne systematisch verdrängt wird, weil man nach der Vernichtung des Herrschers einen vermeintlich funktionierenden utopischen Staat aufbaut, der die Widersprüche der Gesellschaft durch einen offenen oder verborgenen Paternalismus lösen soll. In al­ len radikalen Bewegungen dieser Art ist die Frage der Anerkennung, wie sie Hegel gestellt hatte, anscheinend bedeutungslos geworden, weil sich das Individuum als Teil eines Volkskörpers oder einer klassenlosen Gesellschaft wie in einer Familie auf­ gehoben fühlen sollte und die Unterordnung unter deren Ziele mit den individuel­ len Lebensentwürfen übereinstimmen sollten. Die Gesellschaft wurde als mächtiger Organismus verstanden, deren Individuen quasi der Charakter von Zellen zugestanden wurde, die sich in den Gesamtkörper einzufügen hatten. Damit waren alle Ansprüche der Anerkennung automatisch abgedeckt. Die Frage der gegenseitigen Anerkennung der Individuen ist damit offiziell unbedeutend geworden, weil in einem Organismus jeder Teil seine Funktion hat, die durch familiäre Beziehungen zu den anderen ge­ regelt ist. Dostojewskijs Mann aus dem Untergrund kämpft um Anerkennung Der Text aus Was tun? diente Dostojewskij als Anregung für eine thematisch ähn­ lich verfasste Erzählung, Aufzeichnungen aus dem Untergrund, allerdings auf ungleich höherem Reflexionsniveau. Das Grundthema ist ebenfalls eine Auseinandersetzung im öffentlichen Raum zwischen einem kleinen Beamten, dem „Mann aus dem Unter­ grund“, und einem Offizier als einem Kampf um Anerkennung. Hier wird in psycho­ logisch subtiler Weise die innere Haltung eines Mannes aus dem Untergrund, bei dem

Modernismus und der Kampf um Anerkennung

mengehalten würden. Auch in der späteren kommunistischen Gesellschaft wurde von Genossen und Genossinnen wie von Brüdern und Schwestern gesprochen. Der Unter­ schied zum Patrimonialismus besteht lediglich darin, dass im Gegensatz zum realen leiblichen Vater eine starke Vaterfigur im Sinne der Beschützerfunktion an die Stelle des Herren tritt. Dieser sorgt nun für das leibliche Wohl der Arbeiter durch gute und sichere Arbeitsplätze, entsprechende Bezahlung und gute Wohnverhältnisse, dehnt

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es sich ebenfalls um einen „neuen Menschen“ handelt, dargestellt und seine Mittel­ klassen­ bzw. Kleinbürgerpsyche bei weitem realistischer als eine Maske beschrie­ ben. Dabei sei daran erinnert, dass der Begriff der Person vom lateinischen persona 4, das heißt Maske, kommt und jemanden meint, der nicht Autor seiner Handlungen ist, weil er wie ein Schauspieler einen fremden und nicht den eigenen Text spricht. Nach außen gehorsamer Beamter ist er innerlich aus seiner Untergrundposition her­ aus skeptischer Beobachter der Verhältnisse in gehorsamer Abhängigkeit und von ei­ nem wachsenden sozialen Ehrgeiz nach Emanzipation angespornt. Auch er entspricht dem skeptischen Bewusstsein, das sich in der ersten Phase der Ablösung befindet. Er lehnt die herrschende aristokratische Klasse in der Gestalt des Offiziers als die seines Herrn ab, ist aber zugleich zunächst völlig abhängig von ihr, weil er auf ihre Zustim­ mung angewiesen ist. Daher wird die Frage der Anerkennung hier anders als bei Tschernyschewskij auf­ gefasst und als ein Zu­sich­Kommen des Mannes aus dem Untergrund vermittelt. Der Untergrund ist ja als selbstgewählte Metapher für die völlige Vereinzelung und so­ ziale Bedeutungslosigkeit des Mannes beschrieben, der in das Licht der Allgemein­ heit, des öffentlichen Raumes gelangen möchte. Dazu bedarf es jedoch einer Selbst­ überwindung und Selbstaktivierung, eines Zu­sich­selbst­Findens über das Ziel der Anerkennung durch den Offizier. Wobei Dostojewskij hier offensichtlich eine doppel­ te Anerkennung meint, sowohl die allgemeine, als kleiner Beamter und Mitglied der Mittelschicht, als auch eine besondere, als einen einzelnen Menschen mit besonderen literarischen Fähigkeiten. Diese Anerkennung kann nur in einer öffentlichen Sphäre stattfinden, da sie nur vor dem Publikum, das als Zeugenschaft wirkt, öffentlichen und allgemeinen Charakter und damit auch politische Gültigkeit erwirbt Der öffentli­ che Raum ist hier bei weitem mehr als ein gelungenes literarisches Ambiente, nämlich eine logisch notwendige gesellschaftliche Institution. Der Newskij Prospekt Der Ort des Geschehens ist wiederum der Newskij Prospekt in Petersburg, der im­ mer auch eine der Hauptstraßen der Stadt war; eine der drei großen radialen Straßen, die vom Admiralsplatz ausgehen und der Stadt ihre Form verleihen. Im 19. Jahrhun­ dert wurde er unter Zar Alexanders Regierung völlig neu durch die renommiertesten Architekten der Zeit erbaut und damit als ein für St. Petersburg einzigartiger urbaner Raum konzipiert. Er war die längste, breiteste, am besten beleuchtete und gepflaster­ te Straße der Stadt. Zahlreiche Paläste, öffentliche Gebäude und Plätze säumten den Weg, die, oft nach westlichen Vorbildern gebaut, aber im Maßstab weit größer, dem Prospekt einen einzigartigen Charakter verliehen, der den Betrachter überwältigte. Er war in vielerlei Hinsicht eine völlig moderne Straße. Die gerade Führung, Länge und Breite und die gute Pflasterung machten ihn zum idealen Raum für die Mobilität der Menschen und Dinge, eine perfekte Arterie für den wachsenden Verkehr. Die ab 1830 zahlreichen internationalen Geschäfte mit ausschließlich englischer und franzö­ sischer Ware machten ihn aber auch zu einer kosmopolitischen Zone. Berman 5 weist darauf hin, dass St. Petersburg wesentlich früher als Paris vor Haussmans Eingriffen zu einer funktionierenden modernen Großstadt erblühte. Vor allem aber war er unter der repressiven Regierung von Zar Nikolaus der einzige öffentliche Raum, der nicht vom Staat dominiert wurde. 252

Nikolai Gogol widmete ihm eine ganze Novelle: „Es ist dies der einzige Ort, an dem sich die Menschen nicht aus Not zusammenfin­ den, wohin nicht Zwang und Geschäfte sie treiben, die ganz Petersburg beherrschen. Es scheint, als wäre der Mensch auf dem Newskij Prospekt weniger Egoist als auf der Morskaja, Gorochowaja, Metschtanskaja und anderen Straßen, wo sich auf allen Ge­ sichtern der Fußgänger und der in Equipagen und Droschken Vorüberjagenden Gier, Habsucht und alltägliche Bedürfnisse ausdrücken […] Der Newskij Prospekt ist der all­ gemeine Treffpunkt Petersburgs […] Kein Adressbuch und keine Auskunftsstelle geben so zuverlässige Nachrichten wie der Newskij Prospekt.“ 6 Die Erzählung Dostojewskijs folgt dem klassischen Muster der Petersburger Literatur, der Auseinandersetzung eines

Die Kränkung der Nichtsatisfaktionsfähigkeit Die Erzählung beginnt in der Dunkelheit der Nacht, an einem völlig obskuren Ort, der weit vom Newskij Prospekt entfernt liegt. Der Mann aus dem Untergrund ist auf der Suche nach Zerstreuung und einem „krankhaften Verlangen nach Widersprüchen“ 7 und hat furchtbare Angst gesehen zu werden, „ich trug schon damals den Untergrund in meiner Seele“.8 Plötzlich ereignet sich etwas, das seine Aufmerksamkeit in den Bann zieht. Als er an einer elenden Taverne vorüberkommt, beobachtet er eine Szene im Inneren, wo sich Männer um das Billard herum mit den Queues prügeln und als Höhepunkt einer von ihnen durch das Fenster hinausbefördert wird. Dieses Ereignis ergreift von der Phan­ tasie des Mannes Besitz und er fühlt ein brennendes Bedürfnis der Teilhabe an diesem spannenden Leben, selbst um den Preis einer degradierenden und schmerzlichen Be­ handlung. Er beneidet den Hinausgeworfenen ehrlich und träumt: „Vielleicht wird man auch mich verprügeln und durch das Fenster hinausbefördern.“ 9 Er erkennt zwar die Hysterie dieses Verhaltens, aber es macht ihn lebendiger und er spürt mehr Intensität, als er sich je erinnern kann. Nun hofft er darauf erkannt und damit auch anerkannt zu werden, selbst wenn das zu gebrochenen Knochen führen könnte. So betritt er die Hal­ le, späht nach dem Aggressor und nähert sich dem Mann in der Hoffnung einen Streit provozieren zu können, um ebenfalls hinausgeschmissen zu werden. Doch der Offizier reagiert in einer Weise, die ihn wesentlich tiefer trifft, als es Prügel vermocht hätten:

Modernismus und der Kampf um Anerkennung

aristokratischen Offiziers mit einem kleinen Beamten. Der Unterschied zu Tscherny­ schewskijs Geschichte besteht in der dichten Beschreibung der Ängste und des Man­ gels an Autorität des Menschen aus dem Untergrund, bevor es zur tatsächlichen Aus­ einandersetzung im öffentlichen Raum kommt, die Ähnlichkeit zu Tschernyschewskij in einer radikalen und demokratischen Haltung, die letztlich in einer Konfrontation in der Öffentlichkeit gipfelt. Nach Jahren der Introspektion des Mannes aus dem Unter­ grund, die öfters mit der Haltung des zur Entscheidung unfähigen Hamlet verglichen wurde, kommt es zum Widerstand gegenüber seinem sozial überlegenen Widersacher und zum Kampf um seine Rechte im öffentlichen Raum. Es ist nicht irgendeine Stra­ ße, sondern der Newskij Prospekt, der über eine Generation hinweg dem relevanten öffentlichen und politischen Raum von Petersburg entspricht. Aber hier spielt auch das Beispiel von Tschernyschewskij eine bedeutende Rolle als Inspiration, um diese Kon­ frontation des Mannes aus dem Untergrund möglich zu machen. Man könnte sich die­ se Szene ohne Tschernyschewskijs Schrift kaum vorstellen, wenngleich sie von Dosto­ jewskij wesentlich realistischer beschrieben wird.

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„Ich stand am Billard und versperrte ihm ahnungslos den Weg, er aber musste vor­ übergehen, und so fasste er mich an den Schultern – Ohne vorher etwas zu sagen oder zu erklären – und stellte mich schweigend von dem Platz, wo ich stand, auf einen ande­ ren, und ging selbst an mir vorüber, als ob er mich überhaupt nicht bemerkt hätte. Ich hätte sogar Schläge verziehen, doch nimmermehr konnte ich verzeihen, dass er mich so vollständig übersehen hatte.“10 Aus der Perspektive des Offiziers ist der dürre kleine Beamte nicht einmal da, oder nicht mehr da als ein Tisch oder ein Stuhl. „Es erwies sich, dass ich nicht einmal zum Hinausgeworfen werden begabt war, und ich ging unverprügelt weg.“11 Dieser Untergrundmann hat zunächst nur ein Bedürfnis nach Auseinandersetzung, nach explosiven Begegnungen – selbst um den Preis Opfer einer solchen zu werden. Er versucht aus seiner Einsamkeit herauszugehen und zu handeln, er wird so von der Vorstellung eines Streits erregt. Jetzt aber lernt er seine erste politische Lektion: Es ist für einen kleinen Mann aus der Beamtenschaft unmöglich, einen Herren der Offiziers­ klasse zu einem Streit zu provozieren, denn diese Klasse der Aristokratie und Gentry hat die Existenz seiner eigenen Klasse, nämlich die große Menge der Petersburger ge­ bildeten Proletarier oder Kleinbürger, im heutigen Sinne durchaus Mittelschicht, noch gar nicht zur Kenntnis genommen. Es gibt hier keine Möglichkeit zur Begegnung, wenn man nicht einmal zum Hinausgeworfenwerden, wohl der niedrigsten Stufe der Satis­ faktionsfähigkeit, würdig erachtet wird. Anerkennungsphantasien. Das vergebliche Begehren nach Freundschaft zur Autorität Die kommenden Jahre stehen nun im Zeichen der Versuche diese Anerkennung zu erreichen. Er verfolgt den Offizier, findet seinen Namen, seinen Wohnort, seine Ge­ wohnheiten heraus, indem er den Portier für seine Informationen bezahlt, während er sich selbst jedoch im Hintergrund hält und unsichtbar bleibt. Der Offizier hatte ihn nicht bemerkt, als er vor ihm stand, warum also sollte er ihn zur Kenntnis nehmen. Er entwickelt wilde Phantasien über seinen Widersacher und verwandelt einige davon in Geschichten und sich selbst in einen Autor. Aber wer sollte sich für die Phantasien eines kleinen Beamten über einen Offizier interessieren, daher bleibt er ein Autor, der nicht veröffentlicht. Er beschließt den Offizier zu einem Duell zu fordern und geht so weit, einen provozierenden Brief zu schreiben. Dann erst kommt ihm zu Bewusstsein, dass sich der Offizier niemals mit einem Zivilisten einer unteren Schicht duellieren würde (dafür könnte er aus dem Offizierscorps entlassen werden) und der Brief wird nicht abgeschickt. Dies sollte ihm aber auch recht sein – so schloss er – denn hinter der Botschaft des Zorns hinterließ er einen Subtext, der ein erbärmliches Sehnen nach der Liebe seines Feindes verriet. „Der Brief war derart verfasst, dass der Offizier, wenn er nur ein wenig das ‚Schöne und Erhabene‘ verstand, unbedingt sofort zu mir hätte eilen müssen, um mich zu um­ armen und mir seine Freundschaft anzubieten. Und wie schön wäre es doch gewesen! Wie herrlich hätten wir zusammenleben können! Er würde mich verteidigen und ich würde ihn veredeln, sagen wir durch seine Bildung, und […] durch meine Ideen, nun, und – was könnte nicht noch alles geschehen!“12 Dostojewskij entfaltet hier diese Ambivalenz der Gefühle mit Meisterschaft. Je­ der sozial Exkludierte verspürt einen Schock der Anerkennung und der Scham, wenn 254

er die erbärmliche Liebe und das Bedürfnis erkennt, die eigentlich hinter dem selbst­ gerechten Klassenhass und Stolz stehen.13 Der Mann aus dem Untergrund sucht zu­

Der öffentliche Raum als Bühne des Dramas der Anerkennung Der Newskij Prospekt als der Prototyp des öffentlichen Raumes in St. Petersburg spielt eine wesentliche Rolle im Innenleben des Untergrundmannes, indem er ihn von sei­ ner Isolation und seiner Maske befreit, in das Licht und die Menge hineinzieht. Dosto­ jewskij lässt diesen Kampf um Anerkennung nun auf einer speziellen Bühne des öffentlichen Raumes stattfinden. Allerdings bringt ein Leben, das in das Licht des öf­ fentlichen Raumes gerückt wird, zunächst nur neue Intensitäten des Leidens mit sich. Die innere Abhängigkeit von der Autorität durch das vergebliche Streben um die Auf­ merksamkeit führt zu Schamgefühlen: „[…] ich schlängelte mich dort in der häßlichsten Art wie ein Wurm zwischen den Fußgängern durch, trat bald vor Generälen zur Seite, bald vor Gardekavallerie­ oder Husarenoffizieren, bald vor eleganten Damen; in diesen Minuten fühlte ich konvulsive Schmerzen und Fieberschauer im Rücken bei dem bloßen Gedanken an die Schäbig­ keit meiner Kleider, an die Misere und Gemeinheit meiner ganzen sich herumdrücken­ den, erbärmlichen Gestalt. Das war eine Märtyrerqual, ein ununterbrochenes, uner­ trägliches erniedrigt werden durch den Gedanken, der schließlich zum beständigen, unmittelbaren Gefühl wurde, daß ich vor diesem Menschen nur eine Fliege war, eine ganz gemeine, unnütze Fliege, wenn ich auch klüger war als sie alle, entwickelter, ed­ ler – das versteht sich natürlich von selbst –, so doch eine ihnen ausweichende Fliege, die von allen erniedrigt und von allen beleidigt wurde. Wozu ich mir diese Qual auf­ lud, warum auf den Newskij ging – ich weiß es nicht. Es zog mich einfach bei jeder Ge­ legenheit dorthin.“15 Dort begegnet er dem alten Widersacher, dem sechs Fuß großen Offizier in der Masse wieder und seine soziale und politische Erniedrigung erhält noch mehr Spann­ kraft. „So wurden doch Leute wie ich und sogar solche, die weit besser aussahen wie ich, von ihm einfach zur Seite geschoben: Er ging gerade auf sie zu , als ob vor ihm ein frei­ er Raum gewesen wäre, und dann bog er unter keinen Umständen aus. Ich berausch­ te mich an meinem Haß, wenn ich ihn beobachtete, und […] ingrimmig jedes Mal vor ihm ausbog.“16 Die Sprache der Erniedrigung, die sich durch Metaphern des neuen Menschen wie „der sich schlängelnde Wurm“ oder „die gemeine Fliege“ ausdrückt, entstammt aber keinen Abnormitäten des Innenlebens des Protagonisten, sondern bezieht sich auf die

Modernismus und der Kampf um Anerkennung

nächst die Anerkennung der Autorität, die erst in Ablehnung umschlägt, als sie sich nicht erfüllt. Er ist in gewisser Weise ein Opfer dieser Autorität geworden, weil sein Handeln der letzten Jahre völlig auf die Gewinnung ihrer Aufmerksamkeit ausgerich­ tet war. Diese Autorität der herrschenden Klasse verfügt offenbar über eine Kraft, eine Selbstsicherheit oder ein Geheimnis, „das Subjekt gewinnt den Eindruck, daß die Au­ torität etwas eigentümlich unerreichbares an sich hat“.14 Die wilden Schwankungen zwischen Liebe und Hass zeigen die Heftigkeit und Flüchtigkeit der Gefühle, die sich vor allem durch den irrationalen Wunsch nach einer hochwertigen Form der Anerken­ nung als geistiger Freund ergibt und sich mit dem politischen Anspruch auf Anerken­ nung seiner Allgemeinheit vermischt.

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normale Struktur des Alltagslebens in Petersburg. Der Newskij Prospekt ist als ein moderner öffentlicher Raum errichtet worden, der aufgrund seiner Anlage die ver­ lockende Botschaft der Freiheit aussendet. Gerade deshalb werden die Kastenverhält­ nisse des alten feudalen Russlands rigider und erniedrigender erlebt als anderswo. Es ist dieser Kontrast, zwischen dem was die Straße verspricht, aber nicht hält, der den Mann aus dem Untergrund nicht nur zu fruchtlosen Phantasien, sondern auch zu re­ volutionären Gedanken antreibt. „Es quälte mich, dass ich sogar auf der Straße ihm nicht gleichstehend war. Warum biegst du immer als erster aus? Fragte ich mich in hysterischer Wut, wenn ich zuwei­ len so um drei Uhr nachts erwachte und mir selbst auf den Leib rückte. Warum denn gerade du und, niemals er? Dafür gibt es doch kein Gesetz, das steht doch nirgends ge­ schrieben! Nun, kann es denn nicht genau zur Hälfte geschehen, so wie höfliche Men­ schen ausweichen, wenn sie sich begegnen: er halb und du halb und ihr beide geht dann einfach höflich aneinander vorüber. Das geschah jedoch nie, und nach wie vor bog immer ich aus, er aber bemerkte es nicht einmal.“17 Nun, auch wenn der Untergrundmann die Ideale demokratischen Verhaltens kennt, wie das gegenseitige Ausweichen, so weiß er auch um die Schwierigkeit ihrer Realisierung im alten Russland mit seinem Kastensystem. Er beginnt zu verstehen, was das berühmte Manifest, das durch den mysteriösen Reiter am Newskij Prospekt verteilt worden war, bedeutet: Auch wenn die Leibeigenschaft aufgehoben worden war, so dominierte auf dem Newskij Prospekt noch immer die Realität eines Kasten­ systems.18 Der öffentliche Zusammenstoß. Ablösung von der Autorität als Reinigungsritual Doch wenn der Newskij Prospekt auch der Ort der Verwundungen des armen Beamten ist, so hält er auch das Mittel bereit, das zur Heilung geeignet ist.19 Selbst wenn ihn dieser leere Platz dort entmenschlicht und zur Fliege oder zum Wurm macht, so kann er auch zu einer Quelle der Transformation werden, zu einem Ort, wo ein moderner Mensch mit Sinn für Freiheit, Würde und gleiche Rechte ausgestattet wird. Langsam dämmert dem Mann aus dem Untergrund die Notwendigkeit der Ablösung von der Herrschaft, die in der Form eines Reinigungsrituals ablaufen müsse, indem er nicht ausweichen wird und einen Zusammenstoß riskiert. Er muss um seine Anerkennung kämpfen. Dabei kommt ihm folgende Einsicht zugute: Auch wenn dieser Offizier Personen niederen Rangs einfach zur Seite schob, so konnte er beobachten, dass: „[…] er auch oft vor Generälen und höheren Persönlichkeiten ausbog und sich gleichfalls schlängelte […].“ 20 Dabei handelte es sich um eine bemerkenswerte und revolutionäre Entdeckung: auch er weicht aus. Damit verliert der Offizier nicht nur seinen Status als Dämon und Halbgott der den Beamten in seiner Phantasie verfolgte, sondern wird zu einem eben­ so begrenzten und verletzlichen menschlichen Wesen wie er selbst, nur ein Objekt der Kastenverhältnisse und sozialen Normen. Wenn auch der Offizier zu einem Wurm re­ duziert werden kann, dann ist der Unterschied zwischen ihnen nicht so groß und der Untergrundmann wagt erstmals das Undenkbare zu denken: „Und siehe, da kam mir plötzlich ein wunderbarer Gedanke. ‚Wie aber’ dachte ich, ‚wie wäre es, wenn ich ihm begegne und […] nicht ausbiege! Absichtlich nicht ausbiege, und wenn ich ihn auch stoßen sollte! Wie wäre das?‘ dieser freche Gedanke bemächtig­ 256

Modernismus und der Kampf um Anerkennung

te sich meiner derart, dass ich überhaupt keine Ruhe mehr hatte. Ich dachte ununter­ brochen, wie das wohl wäre, und ging absichtlich noch öfter auf den Newskij, um mir noch deutlicher vorzustellen, wie ich es machen könnte.“21 Damit nimmt der öffentliche Raum eine neue Dimension an. Indem sich der Unter­ grundmann als aktives Subjekt begreift, wird der Newskij Prospekt zum Medium ei­ nes Feldes neuer Bedeutungen, eines Theaters der Selbstermächtigung. Man kann die­ sen Akt der Ablösung von der Autorität als Schritt zur Freiheit sehen. Der Gehorsam und die Passivität, die mit der Maskierung verbunden waren, weichen nun der Dyna­ mik in einem Ritual der Reinigung, das die Ablösung manifest macht.22 Diese Reini­ gung besteht im inszenierten Zusammenstoß mit dem Offizier, womit er erstmals sei­ ne Nichtanerkennung der Autorität der herrschenden Klasse demonstriert. So beginnt der Mann aus dem Untergrund mit seiner Planung des Projektes. „‚Versteht sich nicht stark stoßen‘ dachte ich, schon im voraus durch die Freude gü­ tiger gestimmt, sondern nur so, einfach nicht ausweichen, mit ihm zusammenprallen, natürlich nicht schmerzhaft, aber so Schulter gegen Schulter, genau so viel wie es der Anstand verlangt; so daß ich ihn ebenso stark stoße wie er mich‘.“ 23 Der Mann aus dem Untergrund sorgt sich auch um sein Aussehen und seine Klei­ dung. Neue Handschuhe, ein neuer Hut und ein gutes Hemd werden gekauft. Er borgt sich sogar Geld aus, um seinem Mantel ein respektableres Aussehen durch einen neu­ en Kragen zu verleihen. Die Kleidung soll aber auch nicht zu respektabel wirken, um den Punkt der Konfrontation nicht zu verfehlen. Denn wie will er sich denn zu recht­ fertigen versuchen, körperlich und sprachlich nicht nur gegenüber dem Offizier, son­ dern auch gegenüber der Masse. Seine Behauptung wird nicht nur ein persönlicher An­ spruch gegenüber einem besonderen Offizier, sondern auch ein politisches Statement gegenüber dem gesamten russischen Volk sein. Ein Mikrokosmos dieser Gesellschaft wird den Newskij Prospekt entlangfluten. Er will nicht nur dem Offizier, sondern der Gesellschaft zu einer Denkpause verhelfen, die klar macht, zu welchen Vorstellungen von humaner Würde er gelangt ist.24 Nach zahlreichen Schwierigkeiten kommt nun der große Tag. Alles ist fertig. Der Mann aus dem Untergrund nähert sich dem Newskij Prospekt. Aber irgendwie läuft es anders als geplant. Zuerst findet er den Offizier nicht auf der Straße. Dann erspäht er ihn kurz, aber als er sich nähert, verschwindet dieser plötzlich wie durch ein Wunder. Dann hatte er ihn schon einige Zentimeter vor sich, als ihn plötzlich der Mut verließ und er doch wieder zur Seite abbog. Nach einer durchwachten Nacht fasst er den Ent­ schluss seinen Racheplan aufzugeben und möchte zum Abschluss nur noch einmal ei­ nen Blick auf den Newskij Prospekt werfen. „Plötzlich drei Schritte vor meinem Feinde, fasste ich den Entschluß, schloß krampf­ haft die Augen und – wir stießen uns gehörig Schulter an Schulter! Keinen Zentimeter war ich ausgewichen, und ich ging ihm völlig gleichstehend, an ihm vorüber! Er blickte sich nicht einmal nach mir um und tat, als ob er mich überhaupt nicht bemerkt hätte. Natürlich tat er nur so, davon bin ich überzeugt […] Natürlich bekam ich mehr ab als er; er war ja viel stärker, doch nicht darum handelte es sich. Es handelte sich darum, dass ich mein Ziel erreicht, meine Würde aufrechterhalten hatte, keinen Zollbreit aus­ gewichen war und mich öffentlich mit ihm auf die gleiche soziale Stufe gestellt hatte! Ich hatte mich für alles gerächt! Triumphierend kehrte ich nach Haus zurück. Ich war begeistert und sang italienische Arien […].“25

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Er hatte es also geschafft, unter Einsatz von Leib und Seele die herrschende Klas­ se zu konfrontieren, auf den gleichen Rechten zu bestehen und sich öffentlich auf die gleiche soziale Stufe zu stellen, um es damit vor aller Welt zu beweisen. Auch in den italienischen Opern geht es um das Thema der Selbstbestimmung, daher ist der Tri­ umph ebenso politisch wie persönlich zu verstehen. Der Kampf für Würde und Freiheit im Lichte der Öffentlichkeit, der Kampf, der nicht nur gegen den Offizier, sondern auch gegen die eigenen Selbstzweifel und den Selbsthass gerichtet war.26 Der Kampf um Anerkennung geht weiter Die politische Interpretation des Ereignisses durch den beabsichtigten Zusammenstoß und die öffentliche Rebellion gegen die Autorität hat aber noch keineswegs die völlige Ablösung zur Folge. Der äußere Widerstand ist abgeschlossen, doch ist der Herr jetzt im Sinne Hegels durch seine Negation verinnerlicht, indem das knechtische Bewusstsein in Form des revolutionären Bewusstseins den Kampf weiterführt. Der Mann aus dem Untergrund benötigt zur Motivation den verinnerlichten Herren, um aus dem nunmehr inneren Widerspruch zwischen dem Herren und dem Knecht die Energien für die wei­ tere Auflehnung zu gewinnen. Denn die Zweifel Dostojewskijs enden trotz dieses Erfolges nicht. Vielleicht hat der Offizier gar nicht bemerkt, dass er herausgefordert wurde? Schließlich blickte er sich gar nicht um und tat so, als ob er ihn nicht bemerkt hätte. Die Wiederholung des Textes lässt darauf schließen, dass der Held der Geschichte nicht absolut davon überzeugt ist. Es hätte ja tatsächlich sein können, dass der Offizier ihn nicht bemerkt hatte, oder ihn zu­ mindest äußerlich ignorierte, um seine Niederlage nicht einzugestehen. Ein reales Zei­ chen der Anerkennung wird nicht gegeben, sondern der Mann aus dem Untergrund ist primär über den politischen Charakter seiner Entscheidung stolz, der als Symbol für die künftigen Erfolge seiner Klasse steht. Anstelle der Frage der Anerkennung wird von Ber­ man der Mut zum Handeln ins Zentrum gerückt, indem er bei seiner Interpretation des Textes eher die innere Bewusstseinslage des Untergrundmannes, das dazugewonnene Selbstvertrauen und das damit einhergehende Signal für seine Klasse berücksichtigt. Der entscheidende Punkt besteht nämlich darin, dass die unteren Klassen sich ei­ ner neuen Präsenz und Macht im öffentlichen Raum versichern.27 Selbst wenn es die herrschende Klasse noch nicht bemerkt haben sollte, so wird sie es bald zur Kenntnis nehmen müssen. Die inneren Zweifel, die jahrelangen Schuldgefühle und der Selbst­ hass des Mannes aus dem Untergrund, seine Schamgefühle, die ihm das Gefühl einer Reduktion auf die Größe einer Maus vermitteln, werden in Hinblick auf seine Entschei­ dung zum Handeln und zur Änderung seines Lebens belanglos. Keine Selbstverleug­ nung und kein Misserfolg können dies rückgängig machen. Er wurde zum neuen Men­ schen, ob er das nun möchte oder nicht.28 Der öffentliche Raum, der Newskij Prospekt, wird zur Bühne der Selbstermäch­ tigung des neuen Menschen, weil er zum Zeugen der Nicht­Anerkennung der herr­ schenden Schicht geworden ist. Durch diese Betonung des öffentlichen Raumes und der politischen Aspekte könnte man sagen, dass der Untergrundmann die Anerken­ nung als Allgemeiner, als Staatsbürger erlangt hat, nicht jedoch als Einzelner oder als ein Individuum durch ein anderes. Daher bleiben viele Fragen offen: Der Mann aus dem Untergrund zeigte öffentlich seine Nicht­Anerkennung des Offiziers, daraus ist aber noch nicht auf die Anerken­ 258

1 Charles Taylor, Hegel, Übers. v. Gerhard Fehn, Suhrkamp jewskij, „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“, in: Frankfurt/Main 1997, S. 213. 2 Georg W. F. Hegel, „Phä­ ders., Der Spieler. Späte Romane und Novellen, Übers. nomenologie des Geistes“, in: ders., Werke in 20 Bän- v. Elisabeth K. Rahsin, Piper, München, Nachdruck 1910, den. Auf der Grundlage der Werke von 1832 – 1845 , S. 482 . 8 Ebd., S. 482 . 9 Ebd., S. 483 . 10 Ebd. 11 Ebd. Bd. 3, Kap. IV , „Selbstbewußtsein“, Suhrkamp, Frankfurt/ 12 Ebd., S. 486. 13 Berman (wie Anm. 5), S. 223. 14 Sen­ Main 1980, S. 137. 3 Richard Sennett, Autorität, Kap. 2 , nett (wie Anm. 3), S. 187. 15 Dostojewskij (wie Anm. 7 ), Übers. v. Reinhard Kaiser, Fischer, Frankfurt/Main 1990, S. 486 . 16 Dostojewskij (wie Anm. 7 ), S. 487. 17 Dosto­ S. 63. 4 Dieser Begriff der persona wird auch von Hob­ jewskij (wie Anm. 7 ), S. 488 . 18 Berman (wie Anm. 5), bes verwendet; vgl. Thomas Hobbes, Der Leviathan, S. 225. 19 Berman (wie Anm. 5). 20 Dostojewskij (wie 16 . Abschnitt, neu bearb. v. Kai Kilian, Anaconda, Köln Anm. 7 ), S. 487. 21 Dostojewskij (wie Anm. 7 ). 22 Sen­ 2007, S. 164 . 5 Marshall Berman, All that is solid melts nett (wie Anm. 3), S. 163 . 23 Dostojewskij (wie Anm. 7 ), into air. The experience of modernity, Penguin Books, S. 488 . 24 Berman (wie Anm. 5), S. 226. 25 Dostojew­ New York/London 1988 , S. 196 . 6 Nikolaj Gogol, Der skij (wie Anm. 7 ), S. 491. 26 Berman (wie Anm. 5), S. 227. Njewski Prospekt, Übers. v. Siegfried von Vegesack, Rüt­ 27 Berman (wie Anm. 5), S. 228. 28 Berman (wie Anm. 5). ten & Loening, Potsdam 1950, S. 6 . 7 Fjodor M. Dosto­ 29 Hobbes (wie Anm. 4), 15. Abschnitt, S. 159.

Modernismus und der Kampf um Anerkennung

nung durch den Offizier zu schließen. Das Drama der Anerkennung ist im Grunde keinesfalls abgeschlossen, sondern nur einen Schritt weiter zu einer vermeintlich demokratischen Gesellschaft, die sich sehr viel leichter zur Nicht-Anerkennung der oberen Klassen erziehen lässt als zur gegenseitigen Anerkennung der unteren Klassen durch die oberen, oder auch der Klassenmitglieder untereinander. Wie es um die gegenseitige persönliche Anerkennung steht, ist unklar. Man kann sich nur darauf einigen, dass man anderen nicht seine Missachtung zeigt, das hatte schon Hobbes in seinen Naturgesetzen gefordert.29 Höherwertige Formen der Anerkennung wie Liebe oder Freundschaft sind nicht zu erzwingen oder zu verordnen, sie zu gewähren, unterliegt der Freiheit des Einzelnen. Im Übrigen gilt, und nicht erst seit der Moderne, eine bestimmte Ordnung der Anerkennung, die auf bestimmten Strategien der Akteure beruht ihre eigene Größe hervorzukehren, um ihre Position auf der sozialen Stufenleiter zu befestigen. Diese Subtilität der Hackordnung wurde mittels zahlreicher Sozialtechniken enorm verbessert, um die eigentliche Missachtung der anderen zu verbergen und sie trotzdem über ihre untergeordnete Position nicht im Unklaren zu lassen. Gleichwohl zeigt Dostojewskij die zentrale Rolle des öffentlichen Raumes in einer bestimmten Phase des Kampfes um Anerkennung. Man erkennt die Notwendigkeit einer öffentlichen Sphäre, die jedem Kampf um Anerkennung vorausgesetzt werden muss. Nur in der Öffentlichkeit lässt sich die Zustimmung oder Ablehnung sinnvoll demonstrieren, ohne öffentlichen Raum wären sie rein private Verhältnisse ohne weiteren Belang.

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Abb. 13: Le Corbusier, Une ville contemporaine de 3 millions d’habitants/Eine zeitgemäße Stadt für 3 Millionen Einwohner (1922). Dieses Bild ist bemerkenswert, weil es im Vordergrund die Hauptachse mit einem Triumpfbogen zeigt, die sich im Zentrum mit der zweiten Hauptachse nach dem Muster der römischen Militärstädte wie Cardo und Decumanus kreuzt.

Der neue Eros des öffentlichen Raumes Die programmatische Szene. Baudelaires Die Augen der Armen Im Palais Royal „begann im frühen 19. Jahrhundert ein Experiment, das das Café in eine soziale Institution verwandeln sollte. Es bestand einfach darin, ein Paar Tische außerhalb der hölzernen Galerie aufzustellen, die die Arkaden des Palais Royal vom Park trennte. Diese Tische waren von allen zu sehen, boten aber auch die beste Aus­ sicht auf die Passanten, sie dienten der Schaulust, nicht der Verschwörung. Der Bau der großen Pariser Boulevards durch Baron Haussmann, besonders der Straßen des zweiten Netzes, ermutigten eine solche Nutzung des Raumes vor den Cafés; die brei­ ten Straßen boten dem Café viel mehr Raum, sich auszubreiten.“ 1 Richard Sennett sieht in diesem Zusammenhang den Kaffeehaussessel als den Mittler zur Errichtung eines Raumes, der das Passive mit dem Individuellen verbindet, wir konzentrieren uns heu­ te aber auf eine neue Dimension des modernen öffentlichen Raumes, die von Sennett etwas übersehen wurde, nämlich die des Eros. Dabei handelt es sich um jene Kraft, durch die Menschen voneinander angezogen werden und sich zueinander hingezogen fühlen. Als Schlüsseltext dient einmal mehr ein Gedicht von Baudelaire. Daher spielt die folgende Szene des Gedichtes Die Augen der Armen aus Le Spleen de Paris in einem Café an einem Pariser Boulevard. Baudelaire lässt den Erzähler einleitend in bitterem Ton von seiner Geliebten sprechen und der großen Distanz, die zwischen ihnen heute aufgekommen ist. „Abends wolltest du, ein wenig ermüdet, dich vor einem neuen Café niederlassen, an der Ecke eines neuen Boulevards, auf dem noch der Schutt lag und der schon mit sei­ nen unvollendeten Herrlichkeiten prunkte. Das Café strahlte. Das Gas selbst entfaltete dort allen Glanz eines Debüts, und erhellte mit aller Kraft die blenden weißen Wän­ de, die schimmernden Spiegelflächen, die vergoldeten Leisten und Gesimse, die paus­ bäckigen Pagen, die an straffer Leine der Meute folgten, die Damen, die dem Falken auf ihrer Faust zulächelten, die Nymphen und Göttinnen, die Früchte, Pasteten oder Wild­ bret auf dem Haupt tragen, die Heben und Ganymede, die mit ausgerecktem Arm in kleiner Amphore eine Bavaroise oder den zweifarbigen Obelisk aus panaschiertem Eis reichen; die ganze Historie und die ganze Mythologie im Dienste der Schlemmerei.“ 2 Unter anderen Umständen würde sich der Erzähler von diesem etwas kitschigen Ambiente eines neuen Pariser Cafés abwenden. Weil er aber verliebt ist, lacht er affek­ tiert und erfreut sich am vulgären Appeal dessen, was die Amerikaner zur Zeit der 68er­Bewegung über 100 Jahre später als Camp bezeichnet haben. Dabei handelt es sich um den teils ironischen Stil der damaligen urbanen Avantgarde, um einen Hang zum Dekorativen, wie etwa dem Jugendstil oder überladenen französischen Cafés, und zu leicht übertriebener Theatralik oder anderen Manierismen. Doch plötzlich werden sie mit den Blicken anderer Leute konfrontiert. Eine arme, mit Fetzen umhüllte Familie, ein graubärtiger Vater, mit einem Sohn und einem Klein­ kind im Arm bleiben plötzlich vor ihnen stehen und starren mit aufgerissenen Augen in das Café. „Diese drei Gesichter waren ungewöhnlich ernst, und diese sechs Augen waren starr auf das Café gerichtet, mit der gleichen, nur durch das Alter abgestuften Bewun­ 261

derung. Die Augen des Vaters sagten: ‚Wie schön das ist! wie schön! Als hätte alles Gold der armen Welt sich über diese Wände ergossen.‘ Die Augen des Knaben: ‚Wie schön das ist! Wie schön! Aber in dieses Haus dürfen nur Leute, die nicht wie wir sind.‘ Und die Augen des Kleinsten waren allzu verzaubert, um etwas anderes auszudrücken als eine tiefe freudige Benommenheit.“ 3 Dieser Ausdruck der Bewunderung hat keine feindseligen Untertöne. Ihre Sicht dieser tiefen Kluft zwischen den Welten ist bedauernd, aber nicht Ressentiment­gela­ den. Und dies ist die Ursache warum der Erzähler sich unwohl fühlt: „Nicht nur war ich gerührt durch diese Familie von Augen, ich schämte mich auch ein wenig unserer Gläser und Karaffen, die größer waren als unser Durst.“ Der Erzähler fühlt ein freund­ schaftliches Gefühl und wendet seinen Blick: „Ich wandte meine Augen, liebstes Herz, und blickte in die deinen, um meinen Gedanken in ihnen zu lesen; ich versank in dei­ nen Augen, die so schön, so seltsam süß sind, in deinen grünen Augen, den launischen, vom Mond beseelten.“ Doch sie sagte: „Diese Leute da sind unerträglich mit ihren sper­ rangelweit aufgerissenen Augen! Könntest du den Cafétier nicht bitten, sie von hier zu entfernen.“ Jetzt versteht man auch den Beginn des Gedichts besser, wo er ihr erklärt, dass er sie heute hasst. „So schwer ist es, teurer Engel, sich zu verstehen, und so wenig lassen Gedanken sich mitteilen, selbst unter Menschen, die sich lieben.“ 4 Worin besteht nun die absolute Modernität dieser Begegnung. Was unterschei­ det sie von einer Vielzahl ähnlicher etwas älterer Pariser Szenen zwischen Liebe und Klassenkampf? Es ist der neue Typus urbanen Raumes, wo diese Szene spielt, es ist ein Café auf einem neuen Boulevard. „Abends wolltest du, ein wenig ermüdet, dich vor einem neuen Café niederlassen, an der Ecke eines neuen Boulevards, auf dem noch der Schutt lag und der schon mit sei­ nen unvollendeten Herrlichkeiten prunkte.“ Der Unterschied liegt im Boulevard als der spektakulärsten Pariser Erfindung des 19. Jahrhunderts und dem definitiven Durch­ bruch in der Modernisierung der traditionellen Stadt. Ein neuer Typus öffentlichen Raumes. Der Boulevard Bekanntlich vollzog sich in den Jahren 1850 bis 1860 die radikale Umwandlung von Pa­ ris durch Haussmann, der durch ein imperiales Mandat gestärkt ein neues Netzwerk von Boulevards durch die alte, mittelalterliche Stadt schlug. Er teilte die Stadt in drei Netze.5 Das erste Netz umfasste das Gewirr der Straßen, das einmal die mittelalter­ liche Stadt ausgemacht hatte, hier sollten die Gassen an den Ufern der Seine begra­ digt werden, um die alte Stadt dem Lastenverkehr zugänglicher zu machen. Das zwei­ te Netz verband die Innenstadt mit der Peripherie, über die Stadtmauern hinaus. Das dritte Netz verknüpfte die Straßen des ersten und zweiten Netzes miteinander. Im ersten Netz dienten die Straßen als urbane Arterien, Monumente, Kirchen und andere Gebäude als Orientierungspunkte. Auch im zweiten Netz waren sie Arterien, ihre Be­ wegung führte aus der Stadt hinaus, war auf Handel und leichte Industrie ausgerichtet und maß den Fassaden geringere Bedeutung bei. Der Boulevard de Centre zerschnitt ein dicht besiedeltes, verschachteltes Armengebiet in zwei Teile. Das alte Straßen­ und Gebäudegewirr speiste nichts in den Boulevard ein, noch verband es sich mit ihm, die Straßen schnitten den Boulevard oft in ungünstigen oder unpassierbaren Winkeln ab. Die neuen Boulevards erlaubten den Verkehrsfluss durch das Zentrum der Stadt und die rasche Durchquerung von einem Ende zum anderen, ein bis dahin unbekann­ 262

tes und auch unvorstellbares Unternehmen. Zusätzlich wurden auf diese Art Slums entfernt und ein atmender Raum inmitten von Schichten der Dunkelheit und der Re­ produktion geschaffen. Damit wurde auch eine enorme Stimulation der lokalen Wirt­ schaft bewirkt, wodurch auch die großen Kosten der Demolierung, der Ablösung und der Neuerrichtung finanziert werden konnten. Indem durch die öffentlichen Investi­ tionen für zehntausende Menschen langfristige Arbeitsplätze geschaffen wurden, die

Der Eros des öffentlichen Raumes Wir aber kommen zu einer für die Geschichte der Urbanität wichtigen Frage. Was be­ deuteten nun die Boulevards für die Leute, die sich dort bewegten? Baudelaire gibt in seinem Gedicht eine Antwort. Für Liebende, wie jene in Die Augen der Armen, kreier­ ten die Boulevards eine völlig neue Konstellation. Nämlich einen Raum, wo man privat an der Öffentlichkeit sein konnte, gemeinsam Intimität erleben ohne physisch allein zu sein. Das Sich­Bewegen auf dem Boulevard, das Enthalten­Sein im endlosen Fluss, ließ sie ihre Liebe lebendiger spüren als je zuvor. Sie konnten ihre Liebe vor der Parade zahlloser Fremder ausstellen – Paris wurde innerhalb einer Generation für diese Art der Präsentation der Liebe berühmt – und daraus verschiedenste Formen des Vergnü­

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wiederum im privaten Sektor Jobs generierten, konnten die Massen durch Beschäf­ tigung befriedet werden. Einerseits zerstörte die Umgestaltung hunderte Gebäude, versetzte tausende Men­ schen in einen Prozess der Gentrifizierung und zerstörte auch Nachbarschaften, die über Jahrhunderte existiert hatten, andrerseits wurde die Stadt erstmals in ihrer Ge­ schichte für alle Einwohner völlig geöffnet. Nun konnte man nicht nur innerhalb der Viertel, sondern auch durch die benachbarten gehen, nach einem Jahrhunderte lang bestehendem System isolierter Zellen zeigte sich Paris nun als einheitlicher physischer und menschlicher Raum. Die Haussmann’schen Boulevards brachten eine neue Basis ökonomischer, sozialer, ästhetischer Natur hervor, um große Mengen an Menschen zusammenzubringen. Auf der Straßenebene waren eine große Anzahl kleiner Shops und Geschäfte aller Art auf­ gefädelt, und die Ecken für Restaurants und Cafés mit Tischen auf den Gehsteigen ge­ widmet. Diese Cafés, so wie in Baudelaires Gedicht beschrieben, wurden bald in aller Welt zum Symbol für la vie parisienne. Die Gehsteige waren wie die Boulevards außer­ ordentlich breit, mit Bänken versehen und Bäumen bepflanzt. Fußgängerinseln soll­ ten den Übergang erleichtern, um den lokalen Verkehr vom Durchzugsverkehr zu tren­ nen und neue Wege für die Promenade zu erleichtern. Das Design großer Blickpunkte mit Monumenten am Ende des Blickfeldes, sollte jeden Weg zu einem dramatischen Höhepunkt führen. Im Übrigen waren die Boulevards auch nur ein Teil einer größe­ ren zusammenhängenden Stadtplanung, die eine Reihe weiterer öffentlicher Gebäude wie Brücken, Markthallen, Wasserwerke, die Oper und alle anderen Kulturbauten und ein Netz von Parks beinhaltete. All dies bezweckte, das neue Paris in ein einzigartiges Spektakel mit entsprechenden visuellen und sinnlichen Erlebnissen zu verwandeln. Immerhin lebten etliche Generationen von modernen Malern, Schriftstellern und Foto­ grafen, angefangen von den Impressionisten in den 1860er Jahren, vom Flow, dem Le­ ben und der Energie der Boulevards. Eines stand fest: Haussmann hatte das Modell des modernen Urbanismus geschaffen, das sich auch bald in alle Welt ausbreitete, von Santiago bis Saigon.

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gens ziehen. Sie konnten Schleier der Phantasie über die Menge der Passanten span­ nen: Wer waren diese Leute, woher kamen sie, wohin gingen sie, was wollten sie, wen liebten sie? Je mehr andere sie sahen und sich selbst anderen zeigten, desto reichhal­ tiger wurden ihre Bilder von sich selbst.6 In dieser Umgebung konnten die urbanen Realitäten leicht träumerisch und ma­ gisch werden. Die hellen Lichter der Straße und des Cafés erhöhten die Freude, das Aufkommen der Elektrizität und des Neon verstärkten dies noch viel mehr. Sogar die vulgären Kaffeenymphen mit ihren Früchten und Platten auf dem Kopf, schauten in diesem romantischen Schimmer gut aus. Alle, die in einer großen Stadt verliebt sind, kennen dieses Gefühl, das in Hunderten sentimentalen Songs beschrieben wird. In der Tat entstammt dieses Erlebnis privaten Vergnügens direkt der Modernisierung des öf­ fentlichen und urbanen Raumes. Baudelaire zeigt uns eine neue Welt, die zugleich pri­ vat und öffentlich ist, zum Zeitpunkt ihres Entstehens. Von diesem Moment an wird der Boulevard in der Erzeugung der modernen Liebe genauso wichtig sein wie das Boudoir.7 Ohne Zweifel haben wir es mit einem neuen Typus öffentlichen Raumes zu tun, der mit dem klassischen öffentlichen Raum der polis nicht mehr viel gemeinsam hat, weil er überwiegend privaten Zwecken dient. Die Begegnung dient weder einem urbanen Diskurs, noch der Besprechung öffentlicher Belange oder der Herstellung einer poli­ tischer Einigung, sie dient wesentlich privaten Motiven, die zunächst auf einer Mi­ schung von expressiven Bedürfnissen, also dem Wunsch nach Selbstdarstellung aber auch Wünschen nach Unterhaltung und der Begegnung mit unbekannten Menschen beruhen. Eigentlich ist es merkwürdig, dass ein privates Phänomen wie die Liebe die Öffentlichkeit sucht, ja dass Menschen geradezu ihre höchst private Beziehung – es gibt kein privateres Verhältnis als das einer Liebesbeziehung – in das Licht der Öffent­ lichkeit bringen möchten. Das Bedürfnis liegt hier sicher nicht in irgendeiner Form des kommunikativen Handelns, das auf Verständigung aus ist, sondern in der Expressi­ vität und der Selbstverwirklichung. Daher wird auch die Liebe öffentlich zelebriert. Es gibt aber noch zahlreiche völlig andere Dimensionen des Eros im öffentlichen Raum, zum Beispiel jene Betroffenheit, die den Einsamen wie ein Schock überkommt, „wenn ein Bild in allen Kammern seines Wesens Besitz ergreift“.8 Wie Benjamin das nach­ folgende Gedicht Baudelaires charakterisierte. Eros im Transit: A une passante An eine, die vorüberging Betäubend heulte die Straße um mich. Hochgewachsen schlank, in tiefer Trauer, hoheitsvoller Schmerz, ging eine Frau vorüber; üppig hob und wiegte ihre Hand des Kleides wellenhaften Saum; Leicht und edel setzte sie wie eine Statue das Bein. Ich aber trank, im Krampf wie ein Verzückter, aus ihrem Auge, einem fahlen, unwetterschwangeren Himmel, die Süße, die betört, die Lust, die tötet.

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Ein Blitz […] und dann die Nacht! – Flüchtige Schönheit, von deren Blick ich plötzlich neu geboren war, soll ich dich in der Ewigkeit erst wieder sehen. Anderswo, sehr weit von hier! zu spät! Niemals vielleicht! Denn ich weiß nicht, wohin du enteilst, du kennst den Weg nicht, den ich gehe, o du, die ich geliebt hätte, o du, die es wusste! 9 (O toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!) Die Passantin, das aus der strömenden Masse auftauchende Gesicht, das ganz im Sinne

men und damit ein physiognomisches Geheimnis vorgegeben, das zu lösen ist. Der Passant ist der Fremde, der im öffentlichen Raum erst dann aus seiner Verborgenheit entlassen wird, wenn er ins Blickfeld eines anderen gerät und dessen nach Simmel als blasiert bezeichnete Haltung zu irritieren weiß. In diesem Moment, der sich durch eine blitzartig erotisch aufgeladene Spannung charakterisieren lässt, kann jenes Mo­ tiv aufkommen, das sich beim gedankenlosen, Aneinander­Vorübergehen von Mann und Frau ergibt, die, fänden sie sich, wechselseitig die Erfüllung ihrer tiefen Sehnsucht nach einander wären. Dieses Sujet erfasst einen der großen Mythen des öffentlichen, städtischen Raumes, der von Baudelaire aufgegriffen und zur Meisterschaft entwickelt wurde. Der öffentliche Raum der Stadt wird hier in seiner Dimension eines Möglich­ keitsraumes und als ein Erzeuger eines auf ein unerreichbares Ziel hin gespannten Be­ wusstseins charakterisiert. Die Erwartung geht auf eine absolute Begegnung mit ei­ nem Menschen hinaus, der einem vom Schicksal vorbestimmt ist. Aus der anonymen Menge der gestaltlosen Wesen der Stadt sollte sich plötzlich eine einmalige Erschei­ nung ereignen, die den Schmerz der Aufmerksamkeit und des Begehrens auf sich zieht. Das unerklärliche Wissen, dass es sich um einen schicksalshaft vorbestimmten Men­ schen handelt, kann nur durch einen blitzartigen Moment der Anamnese, der Wieder­ erinnerung hervorgerufen worden sein. Doch Erinnerung woran? In der Tat bezieht sich dieser Mythos auf die Rede des Aristophanes im Symposion, wo er bei der Frage, worum es sich beim Eros handle, den uralten Mythos der Kugel­ menschen erzählt. Deren Gestalt war kugelrund, wobei der Rücken und die Seiten ei­ nen Kreis bildeten und jeder vier Arme und vier Beine hatte. Sie waren von außer­ ordentlicher Stärke und Kraft und von einem gewaltigen Selbstbewusstsein gestärkt. Deshalb legten sie sich auch mit den Göttern an, um sich einen Zugang zum Himmel zu verschaffen. Diese beschlossen aber zur Dämpfung des Übermutes eine Schwächung, indem sie die Kugelmenschen in zwei Teile zerschnitten um ihre Kraft zu mindern. Seitdem gehen die Menschen aufrecht und haben nach einigen nachträglichen kleine­ ren Korrekturen durch Zeus das heutige Aussehen. Das entscheidende Moment aber ist die seitdem bestehende Sehnsucht der Menschen wieder zusammen zu sein. Der Wunsch also ist, „was er längst begehrte, (nämlich) mit dem Geliebten vereinigt und verschmolzen, aus zweien eins zu werden. Der Grund dafür nämlich ist, daß dies un­ sere ursprüngliche Natur war und wir ein Ganzes waren; diesem Verlangen und Trach­ ten nach dem Ganzen eignet der Name Liebe.“10 Der platonische Mythos wird in sei­ ner Wirkmächtigkeit in die Moderne verlagert und findet dort Bedingungen vor, die

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der Theorie der Moderne durch eine plötzliche, geradezu schockhafte Begegnung er­ blickt wird. Aus einer Vielzahl von Menschen wird plötzlich ein Gesicht wahrgenom­

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ihn glaubhaft machen. Die Begegnung mit der Passantin ist nur eine Anamnese, eine Wiedererinnerung an die Zeit vor der Trennung. Die unbekannte Passantin gibt es heute ebenso. Gelegentlich kann man Aufrufe oder Zeitungsinserate bemerken, die sich auf eine derart flüchtige Begegnung bezie­ hen und diese nachträglich suchen oder um einen Hinweis bitten. Die Möglichkeit zur unerwarteten Begegnung, in der sich das Transitorische mit dem Ewigen verbinden könnte, ist stets gegeben. Doch wird es sich bei Baudelaire nie in ein Glück verwan­ deln. Das hat auch mit dem Zeitcharakter der Stadt und des öffentlichen Raumes zu tun, der durch eine völlige Diskontinuität geprägt ist. Jeder Moment ist mangels einer festen zeitlichen Ordnung, die etwa durch Tradition bestimmt wäre, auf seine präsen­ tische und gegebenenfalls zukünftige Zeit hin orientiert. Die Stadt existiert überhaupt nur dafür, dass plötzlich ein höherer Sinn einkehren und die undefinierbare Masse der Straße lesbar machen könnte. Erst in diesem Augenblick kann die permanente Erre­ gung in der Masse, die allenfalls durch Blasiertheit gedämpft wird, durch die plötzliche Heraushebung zweier füreinander bestimmter Wesen zu einer sinnvollen Erfahrung führen. Der Augenblick ist die zentrale Hypostase der Moderne, der Moment wo sich im Transitorischen das Ewige ereignet. In diesem Fall kann das Ewige an den plato­ nischen Mythos anknüpfen, weil es an etwas anschließt, das sich vor undenklichen Zeiten begab und sozusagen in einer zeitlichen Kontinuität steht, die die Unordnung des Diskontinuierlichen beendet. Man könnte auch von einer Erlösungsphantasie spre­ chen, die nicht auf Transzendenz abzielt, sondern sich in der Immanenz des öffent­ lichen Raumes ereignen sollte. Der öffentliche Raum und die fille publique Es gibt eine Reihe paradigmatischer Figuren im urbanen Raum der Moderne, wie den Beobachter, der in Gestalt des Flaneurs, des Detektivs oder Dandys in Erscheinung tritt. Der Flaneur sucht die Menge, wie auch die Hure. Urbane Orte stehen seit jeher in Zusammenhang mit der Prostitution, doch findet das älteste Gewerbe der Welt erst im nachrevolutionären Zeitalter massenhafte Verbreitung im öffentlichen Raum. Baudelaire schreibt über Die Abenddämmerung der Stadt (La crepuscule du soir): „Im Lichtschein, den der Wind unruhig hin und her zerrt, entzündet auf den Straßen sich die Prostitution; wie ein Ameisenhaufen öffnet sie ihre Ausgänge; überall bahnt sie geheim sich einen Pfad, wie ein Feind, der einen Handstreich unternimmt; sie regt im Schoß der Schlamm­Stadt sich wie ein Wurm, der dem Menschen seine Nahrung raubte.“11 In Paris wurde der wichtigste öffentliche Raum der Stadt vor der Revolution, das Palais Royal, auch von Prostituierten bewohnt oder frequentiert. Es gab sogar eine in­ formelle räumliche Ordnung, die der eines Hauses oder auch Palastes glich: „In der zweiten Etage wohnen größtentheils les femmes perdues der vornehmen Classe. In der dritten Etage, und au paradis in den Dachstübchen, wohnen die der geringern Clas­ se; der Erwerb zwingt sie, im Mittelpunkt der Stadt, im Palaisroyal, in der rue traver­ sière, und der umliegenden Gegend zu wohnen […] Im Palaisroyal wohnen vielleicht 6 – 800 aber eine ungleich größere Anzahl geht des Abends in ihm spazieren, weil hier die meisten Müßiggänger zu treffen sind. In der rue St. Honoré und in einigen ansto­ ßenden Straßen stehen sie des Abends eben so reihenweise, als im Palais bei Tage die Miethcabriolets.“12 266

Eros thanatos. Die Hure als Allegorie und öffentliche Skulptur Baudelaire hatte seinem Freund und Bildhauer Ernst Christophe zwei Gedichte gewid­ met, die auf der Besprechung zweier Plastiken in seinem Aufsatz „Der Salon von“ 1858 basieren. Darin hatte er das Wesen der modernen, nachantiken Plastik charakterisiert, welches seiner Ansicht nach auf ihrer allegorischen Rolle beruht. Denn überall in der

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Gleichermaßen fand schon damals, wie auch heute ein Kampf um den öffentlichen Raum zwischen den Prostituierten und der Polizei statt. So schrieb ein Edikt zur Rege­ lung der Prostitution von 1830 genau vor, was den Prostituierten, die sich außerhalb ei­ nes genehmigten Bordells aufhielten, nicht erlaubt war. Sie durften zu keiner Zeit und unter keinem Vorwand in den Passagen, den öffentlichen Gärten oder den Boulevards erscheinen. Natürlich wurde dieses Verbot oft missachtet und durch ein komplizier­ tes System wechselnder Standplätze mit ebenso wechselnder Verkleidung unterlau­ fen. Auch gab es Vorschläge für neue Verordnungen, die den Huren ein Übertreten der Schwelle nach außen verboten, weil sie oft die Freier an der Hand packten und mit sich ins Haus zogen. Ebenso wurde ein Handelsverbot für Prostituierte diskutiert, weil sie sich in Warenhäusern oder Boutiquen als Modistinnen, Wäsche­ oder Parfumverkäu­ ferinnen eingemietet hatten und sich erst nachher herausstellte, welchem Geschäft sie wirklich nachgingen. Wobei sie durch ein System von Zeichen nach außen den jewei­ ligen Stand der Geschäfte kommunizierten.13 Daher schlug Béraud eine große Liberalisierung der Prostitution vor, spricht sich für eine unbegrenzte Anzahl an öffentlichen Häusern und für einen leichteren Zu­ gang zum Gewerbe aus, jedes Mädchen sollte als Prostituierte eingeschrieben werden können und die ärztlichen Kontrollen sollten diskreter und nicht mehr bei der Polizei organisiert werden, um eine Stigmatisierung zu vermeiden.14 Die Franzosen hatten im 19. Jahrhundert auch zahlreiche andere, wesentlich pro­ gressivere Vorschläge, wie man die Liebe besser „veröffentlichen“ und „entprivatisie­ ren“ könnte, die Erleichterung der Prostitution war nur einer davon. Der Begriff der fille publique schließt ja bereits den öffentlichen Charakter ein, sie ist in der Tat ein Zwischenwesen, das wie kein anderes zwischen öffentlich und privat wechselt, was ihr von Benjamin verdientermaßen das Attribut einer Hüterin der Schwelle eingetra­ gen hat. Fourier sah die Liebe als eine Hauptbeschäftigung und die Leidenschaften als den Imperativ jeglichen Handelns in den Phalanstères.15 Jedes Verlangen nach der Liebe sollte sofort durch Vereinigung erfüllt werden. Man möchte keine Konsumgesellschaft, die auf Mangel beruht und in der Prostitution den Tausch von Sex gegen Geld ermög­ licht, sondern das Begehren ständig erfüllen, damit aber auch, wie Barthes bemerkt, nie erfüllen. Deshalb gab es die Institution des Angelikats, ein wunderschönes Paar, das sich mit Recht allen hingab, die es begehrten. Es hatte die Funktion einer Lenkung des Begehrens, weil die Menschen sonst nicht mehr wüssten, was sie begehren soll­ ten. Es übte „heilige Prostitution“ aus. Das Paar des Angelikats war jener Fluchtpunkt, ohne den es keine erotische Perspektive gab. Es existierte daher auch das gemeinsame Ritual der Party und der Orgie, wo Liebe durch eine komplexe Administration und große Festivitäten so organisiert war, dass jeder auf seine Rechnung kam. Die Orgie war für Fourier überhaupt das wesentliche Gesellschaftsband, quasi ein umstandloser Übergang vom Naturzustand in den Gesellschaftsvertrag.

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modernen Stadt wird der Blick des Betrachters von sinnbildlichen Skulpturen in den Bann gezogen und dabei die Flüchtigkeit der Erscheinung ins Zeitlose, in die Gestalt marmorner Allegorien transferiert. Die göttliche Aufgabe der Skulptur liegt für ihn im Andenken der nicht mehr auf dieser Erde weilenden Dinge. Die Skulpturen sind das Medium der Allegorie, der Erinnerung an große Taten und Legenden des Krieges, der Wissenschaft und des Martyriums. Sie bevölkern den öffentlichen Raum der Stadt und sprechen zu jedem: „Das steinerne Gespenst bemächtigt sich ihrer auf einige Minuten und befielt ihnen, im Namen der Vergangenheit, der Dinge zu gedenken, die nicht von dieser Erde sind.“16 Im Totentanz (dance macabre) erfolgt nun eine poetische Übertragung einer allego­ rischen Figur in die Gestalt einer Kokotte. Der Clou der Baudelaire’schen Betrachtung liegt in einer Transposition der allegorischen Skulpturen im öffentlichen Raum zu den realen Wesen, die darin ihrem Geschäft nachgehen. Die Huren bevölkern ihn in gewis­ ser Weise ebenso wie die unzähligen Statuen der Stadt. Sie sind zwar lebende Wesen, dennoch verwandeln sich diese Kokotten für den Betrachter wiederum zu allegori­ schen Erscheinungen, die an das Ewige und den Tod gemahnen. Die Prostituierte nimmt im Werk Baudelaires eine Schlüsselstellung ein und wird wiederholt thematisiert. „Die Prostitution ist die Hefe, die die Massen der großen Städ­ te in seiner Phantasie aufgehen lässt.“ 17 Entsprechend gibt er im Maler des modernen Lebens anhand der Zeichnungen von Constantin Guys eine Beschreibung der Typologie der Kurtisanen, die sich im Raum der öffentlichen Häuser aufhalten: „In dieser ungeheuren Galerie des Londoner und des Pariser Lebens begegnen uns die verschiedenen Typen der unsteten, der aufständischen Frau aus allen Schichten. Das beginnt mit der galanten Frau, in ihrer ersten Blüte, patrizischen Gehabens, stolz zugleich auf ihre Jugend und ihren Luxus, in den sie ihr ganzes Genie und ihre gan­ ze Seele legt […] Die Leiter hinuntersteigend gelangen wir zuletzt zu jenen Sklavin­ nen, die in Spelunken eingesperrt sind, denen man oft den Anschein von Caféhäusern gibt; Unglückliche, die unter der Aufsicht der ärgsten Habgier stehen und die nichts ihr eigen nennen, nicht einmal den ausgefallenen Putz, der ihrer Schönheit als Würze dient. Unter diesen findet man Vertreterinnen eines einfältigen, ungeheuren Dünkels; hocherhobenen Hauptes und verwegenen Blickes tragen sie ihre Lust am Dasein offen zur Schau. (Niemand weiß warum) Manchmal finden sie ungesucht Haltungen von ei­ ner Kühnheit und einem Adel, die den wählerischsten Bildhauer bezaubern würden, wenn die modernen Bildhauer nur Mut und Geist genug hätten, den Adel allerorten zu suchen und aufzulesen, selbst im Schlamm.“18 An einem anderen Ort sieht Baudelaire eine magere Kokotte und er versucht ihre magere Schönheit in der exaltierten Robe in Analogie zur Skulptur von Christophe zu beschreiben, die dem sujet macabre des Todes eine allegorische Gestalt verleiht. Ihre magere Gestalt weist bei näherer Betrachtung immer größere Ähnlichkeit mit einem Skelett auf: Manche werden dich ein Zerrbild heißen, doch diese in das Fleisch vernarrten Buhler begreifen nicht die namenlose Eleganz Des menschlichen Gerüstes. Du bist, großes Gerippe, ganz nach Meinem Geschmack. 268

Einige Verse weiter kommt das Eingeständnis: Und doch: wer hat nicht ein Gerippe an die Brust gedrückt, und Wer hat nicht von Grabesdingen sich ernährt? Was liegt am Wohlgeruch, an Kleid, an Putz? Wer hier den Helden spielt, zeigt, daß er sich selbst für schön hält.19 Und ein Blick auf die Freier zeigt unvermittelt, dass der öffentliche Raum von Gespens­ tern des Todes bevölkert ist. Ihr aufgeblasenen Galane, trotz der Kunst des Puders und des Rouge, riecht ihr alle nach Tod! O moschusduftende Skelette,

Walter Benjamins Hure als Hüterin der Schwelle Bei Walter Benjamin nimmt die Hure einen wichtigen Platz in seiner Theorie ein. In der Berliner Kindheit um Neunzehnhundert schreibt er in „“ über die Phase der Ablösung von seiner Mutter und das erwachende sexuelle Interesse des Halbwüchsigen, das ihn ah­ nungsvoll erfüllt. „Schon damals aber als noch meine Mutter mein Brödeln und verschla­ fenes schlendern schalt, spürte ich dumpf die Möglichkeit, im Bund mit diesen Straßen, in denen ich mich scheinbar nicht zurechtfand, mich später ihrer Herrschaft zu entziehn. Kein Zweifel jedenfalls, daß ein Gefühl – ein trügerisches leider – ihr und ihrer und mei­ ner eignen Klasse abzusagen, Schuld an dem beispiellosen Anreiz trug, auf offener Stra­ ße eine Hure anzusprechen. Stunden konnte es dauern, bis es dahin kam.“21 Benjamin konnte sich also schon früh auf sein zentrales Motiv der Hure als Schwellenhüterin ein­ stellen. Die subjektive Erfahrung ließ ihn diese Urszene denken, die Schwellenszene. „Das Grauen, das ich dabei fühlte […] Dann sauste das Blut in meinen Ohren und ich war nicht fähig, die Worte, die mir da aus dem stark geschminkten Mund fielen, auf­ zulesen. Ich lief davon, um in der gleichen Nacht – wie häufig noch – den tollkühnen Versuch zu wiederholen.“22 So kommt er denn in der Berliner Chronik bereits zur Beschreibung der Hure als einem Schwellenwesen. Es ist für Benjamin auch signifikant, dass er nie über die Pros­ tituierte in ihrer Bordellversion schreibt, er interessiert sich ausschließlich für die Stra­ ßenprostituierte, für die filles publiques, solange sie sich im öffentlichen Raum der Stadt befinden. Das Bordell ist ihm möglicherweise schon zu privat. „Unzählig aber sind in den großen Städten die Stellen, wo man auf der Schwelle ins Nichts steht und die Huren sind gleichsam Laren dieses Kultus des Nichts und ste­ hen in den Haustoren der Mietskasernen und auf dem sanfter schallenden Asphalt der Perrons.“23 Er bezeichnet sie dann als „Hüterinnen des Vergangnen“, sie erinnern an die Hetä­ ren der Vorwelt und eine andere Ordnung der Sexualität, die den Übergang durch Passageriten markierten, wie er im Passagen­Werk bemerkt, wo er einen eigenen Ab­ schnitt O der Prostitution und dem Spiel widmete.

Der neue Eros des öffentlichen Raumes

Welke Zierbengel, Dandies mit glatten Wangen, gefirnisste Kadaver, weißhaarige Gecken, der Reigentanz des Todes reißt euch alle taumelnd hin, an Orte, die keiner kennt! 20

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„Rites de passage – so heißen in der Folklore die Zeremonien, die sich an Tod, Ge­ burt, an Hochzeit, Mannbarwerden etc. anschließen. In dem modernen Leben sind die­ se Übergänge immer unkenntlicher und unerlebter geworden. Wir sind sehr arm an Schwellenerfahrungen geworden. Das Einschlafen ist vielleicht die einzige, die uns ge­ blieben ist. (Aber damit auch das Erwachen) Es sind aber nicht nur die Schwellen die­ ser phantastischen Tore, es sind die Schwellen überhaupt, aus denen Liebende, Freun­ de, sich Kräfte zu saugen lieben. Die Huren aber lieben die Schwellen dieser Traumtore. Die Schwelle ist scharf von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel,

Übergang, Fluten liegen im Wort „schwellen“ und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen. Andrerseits ist notwendig, den unmittelbaren tektonischen und zeremoniellen Zusammenhang festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung ge­ bracht hat. „– Traumhaus –“ 24 Im Passagenprojekt nimmt der Ort der Huren in der Topographie des Erwachens eine wichtige Rolle ein, weil die Erinnerungsbilder der Kindheit nun in eine größere, mythische Struktur eingehen. In der Urgeschichte der Moderne, wie Benjamin sein Projekt versteht, finden alle Phänomene, Vorstellungen und Phantasmagorien Ein­ gang und werden der kulturgeschichtlichen Betrachtung unterzogen. Die Passage ist der Übergangsraum per se, sie ist jener öffentliche Raum, der von privaten Begierden durchzogen ist, sie ist ein liminoider Raum, in dem Elemente der alten Kultur isoliert, zerlegt und neu gruppiert werden. Bei Benjamin wird die Marx’sche Warenanalyse durch die erotischen Phänomene der Moderne neu erklärt, indem durch die psychoanalytische Deutung und die Sexual­ theorie der Fetischwert neu formuliert werden kann. Die Bedeutung der Huren als Verkörperung der Warenform ist einleuchtend, in der Passage überkreuzen sich die Funktionen der Ware und Allegorie, „im entseelten, doch der Lust noch zu Diensten stehenden Leib vermählen sich Allegorie und Ware“.25 Der Eros des öffentlichen Raumes gilt im Kapitalismus der Hure, weil sie zugleich eine Allegorie der Ware ist. Damit ist auch die Entwicklung des Eros im öffentlichen Raum zum Warenfetischismus hin prognostiziert, von dessen Realisierung man sich mühelos überzeugen kann.

1 Richard Sennett, Fleisch und Stein, Berlin Verlag, Berlin 1995, S. 424 . 2 Charles Baudelaire, „Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa “ in: ders., Sämtliche Werke, Brie­ fe, Bd. 8 , Hanser, München/Wien 1985, S. 209. 3 Ebd., S. 209. 4 Ebd. 5 Sennett (wie Anm. 1), S. 408. 6 Marshall Berman, All that is solid melts into air. The experience of modernity, Penguin Books, New York, London 1988 , S. 152 . 7 Ebd. 8 Walter Benjamin, „Abhandlungen“, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. I/ 2 , Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 548 . 9 Charles Baudelaire, „Les Fleurs du Mal“, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Bd. 3 , Hanser, München/Wien 1989, S. 245. 10 Plato, Sympo­ sion, Reclam, Stuttgart 2006, S. 67, 192 a. 11 Baudelaire (wie Anm. 9), S. 249. 12 J. F. Benzenberg, Briefe ge­ schrieben auf einer Reise nach Paris, Dortmund 1805, S. 261, 263. 13 Walter Benjamin, „Das Passagen-Werk“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. V/ 1, Suhrkamp, Frank-

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furt/Main 1991, S. 622 – 625 . 14 Ebd., S. 624 , O 5 a 2 , a 3. 15 Roland Barthes, Sade. Fourier. Loyola. Kap. Fourier, Suhrkamp, Frankfurt/Main, S. 89–138 . 16 Charles Baudelaire, „Aufsätze zur Literatur und Kunst.“,in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Bd. 5, Hanser, München/Wien: Hanser, S. 198 . 17 Benjamin (wie Anm. 12), Bd. I/ 2, S. 669. 18 Baudelaire (wie Anm. 9), Bd. 5, S. 254 . 19 Baudelaire (wie Anm. 9), Bd. 3, S. 255. 20 Baudelaire (wie Anm. 9), Bd. 3 , S. 257. 21 Walter Benjamin, „Kleine Prosa. Baudelaire-Übertragungen“, in: ders., Gesammelte Schrif­ ten, Bd. IV / 1, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 288 . 22 Ebd. 23 Walter Benjamin, „Fragmente, autobiographische Schriften“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. VI , Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 472. 24 Ebd., Bd. V / 1, S. 617. 25 Walter Benjamin, „Abhandlungen“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I / 3, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1991, S. 1151.

Die Temporalisierung des öffentlichen Raumes Der Boulevard als Paradigma der kinetischen Utopie der Moderne Der Boulevard als der Prototyp des öffentlichen Raumes im 19. Jahrhundert umfasst unterschiedlichste Eigenschaften und Funktionen. Aus rein funktionaler Sicht kann er als der erste große Beleg für moderne Stadtplanung gelten, die eine Stadterweiterung und einen Stadtumbau im großen Stil realisierte. Das Wachstum der europäischen Städte durch die wirtschaftliche Dynamik machte eine Restruktruierung der Stadt durch neue Verkehrswege und neue Wohnhäuser notwendig. Die im postrevolutionä­ ren Prozess entstandene egalitäre bürgerliche Gesellschaft beruht auf einer kapitalis­ tischen Wirtschaft und einer umfassenden Kommodifizierung der Welt, die sich auch auf die Raumproduktion auswirken muss. Der Stadtumbau ist daher eine konsequente Maßnahme, die zu einer enormen Aufwertung des städtischen Raumes führt. Den ersten Anstoß dürfte aber die völlige Misere des Verkehrs gegeben haben, die Haussmann eben zur Einführung jenes städtischen Systems der Venen und Arterien in den urbanen Organismus veranlasste. Es zählt zu den ökonomischen Binsenweis­ heiten, dass Wirtschaftswachstum immer mit Verkehrswachstum korreliert aufgrund der stärkeren Warenumsätze und der Notwendigkeit ihres Transports. Denn gleich­ zeitig entstand im 19. Jahrhundert auch eine Freizeitindustrie, die ebenfalls äußerst verkehrsintensiv war. So übernimmt der Boulevard nun zwei zentrale Aufgaben: Die Lösung der Verkehrsfrage und die Erstellung eines neuen öffentlichen Raumes. Damit geht auch eine Umwandlung des Boulevards in eine riesige Bühne mit einer egalitä­ ren städtischen Szene einher, die das alte theatrum mundi ablöst. Gleichzeitig ist die­ se Konstellation von einer großen dialektischen Spannung gekennzeichnet, indem die Erfordernisse des Transports mit jenen der öffentlichen Bühne in Widerspruch stehen. Einerseits eine große Masse an Fuhrwerken, die in hohem Tempo den Boulevard her­ unterrasen, und gleichzeitig die Masse der elegant gekleideten Menschen, die flanie­ rend oder im Café sitzend den Boulevard bevölkern. Dieser stellt eine Bühne dar, der vom Verkehr umtost wird und hat nur mehr wenig mit der agora der griechischen po­ lis gemein, weil er von der Dynamik der Kommodifizierung umspült und durchdrun­ gen wird. Politik wird dort aber keine mehr betrieben – es sei denn bei öffentlichen Demonstrationen oder Aufmärschen – ebenso wurde der öffentliche Diskurs schon längst von den Massenmedien übernommen. Dennoch behält der Boulevard zentrale Funktionen der klassischen agora bei, er ist der Ort, wo urbane Realitäten zur Erschei­ nung gebracht werden, wo expressive Bedürfnisse zum Ausdruck kommen, wo sozia­ le Rangordnungen gefestigt, aber auch gestört werden können. Damit steht er auch als ein Zeichen für die gesamte kulturelle und gesellschaftliche Konstellation, die von ei­ ner permanenten Beschleunigung gekennzeichnet ist und in der, wie bereits von Marx mit den berühmten Worten aus dem Kommunistischen Manifest beschrieben, „alles Ste­ hende und Ständische verdampft“. Der Prozess der Beschleunigung, der von der Ökonomie ausgeht, erstreckt sich auf alle Lebensbereiche und ist in seiner Totalität daher am ehesten aus kultureller 271

Sicht und den Auswirkungen auf die Mentalität zu beschreiben. Daher erlangt nun die Kunst neue Bedeutung, indem ihr die Aufgabe eine Repräsentation dieser Verhältnis­ se aufgetragen wird. Wie wirken sich die Kräfte der Beschleunigung auf das Bewus­ stsein Einzelner aus? Wehrt man sich dagegen oder unterwirft man sich, wie verläuft diese Mimesis und das Sich­Preisgeben an die frühkapitalistischen Kräfte der Mobil­ machung? Die Stadtbewegung wird zur Lebensbewegung. Das sich konstituierende, autonome Ich der Moderne nimmt eine Haltung ein, die an die Kräfte der Kinetik an­ gepasst, die sehr häufig von Heroik gekennzeichnet ist, die oft einer Selbstgeburt im Sinne Nietzsche gleichkommt. Charles Baudelaire hat nicht zufällig vom Heroismus des modernen Lebens gesprochen und damit bereits vor Nietzsche die wesentlichen Bedingungen des modernen Subjekts skizziert. „Das Schauspiel des eleganten Lebens und der unzähligen schwer bestimmbaren Existenzen, die die unterirdischen Bezirke einer großen Stadt bevölkern, – Die Gazette des Tribuneaux und der Moniteur bewei­ sen uns, daß wir nur unsere Augen aufzutun brauchen, um unseren Heroismus zu er­ kennen.“ 1 Er spürte aber auch den Übergang von der Klassik zur Moderne noch deut­ licher und kann den Schmerz über den Verlust der alten kosmologischen Einheit nicht völlig verbergen, denn dieser spiegelt sich mit einer Mischung aus Bitterkeit und Ironie in seinem Werk wider. Baudelaires Ideal war der Aristokrat, dessen Kontinuität er in der Figur des Dandys bewahrte. Er hat keine Angst um sein Leben, darin entspricht er noch der alten Kriegerethik, sondern nur um seine Ehre, die er durch seinen Stil ver­ körpert. Daher ist er ein Gegner der Kommerzialisierung der modernen Zivilisation, die er für dekadent hält.2 „Aber hinter der gefallenen Welt der Natur steht eine spiri­ tuelle Welt, die durch Kunst zur Epiphanie gebracht werden kann.“ Baudelaire lehnt die Verehrung der Natur aufs Heftigste ab, er ist Antiromantiker. Dafür kann er dem Anorganischen mehr abgewinnen, weil es höher als das Organische steht, das einem Chaos gleicht.3 Daher ist er der Poet der Stadt, dem vom Menschen gemachten Gebilde, und erkennt die Erhabenheit des modernen Verkehrs und dessen Auswirkungen auf die Subjektivität der Menschen an. Nicht die Mimesis der Natur, für die die Roman­ tiker seit Rousseau schwärmten, sondern die Mimesis der Technik, wie jene des mo­ dernen Großstadtverkehrs, ist Thema für ihn. Dass dieser gesamte Prozess Werk einer gnostischen Schöpfung, eines deus absconditus ist, kommt in bestimmten Momenten der Epiphanie zum Ausdruck. Baudelaire bejaht die Moderne, nicht weil er von ihren materialistischen Segnungen überzeugt wäre, sondern weil ihn die Heroik des Pro­ zesses und seiner Protagonisten fasziniert, weil hier Kräfte am Werk sind, deren Ur­ sprung im Dunkel liegt. Die Bejahung der Moderne erfolgt aus der Bewunderung für die Transfiguration des Alltäglichen, die in glücklichen Momenten einen Durchblick auf die dahinter liegende, dunkle Wahrheit ermöglicht. Damit ist Baudelaire einer der ersten Poeten der Moderne, der zugleich auch stets auf die Negativität dieses Prozes­ ses hinweist. Der Sprung in die Hässlichkeit, in den Verfall, ins Böse lösen eine Berau­ schung, ein galvanisches Erschauern aus, die Betrachtung der Fragmente weist auf ein manichäistisches Universum hin, das zugleich auch Bilder übernatürlicher Schönheit liefert. Baudelaire ist somit als ein Begründer der modernen Literatur auch jemand, der die Phänomene des modernen öffentlichen Raumes wie keiner vor ihm erfasst, weil dieser der Schauplatz des urbanen Geschehens ist.

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„Der Verlust der Aureole“ Charles Baudelaire hat ein weiteres Gedicht im Spleen von Paris verfasst, das ebenfalls auf einem Boulevard stattfindet, dessen Titel lautet: „Der Verlust der Aureole“. Es be­ richtet von einer Konfrontation zwischen einem Subjekt und den auf es einwirkenden Kräften der urbanen Kinetik des Verkehrs und endet im Verlust der Unschuld. Dabei handelt es sich vordergründig um eine Begegnung zweier Personen, Leuten aus ver­ schiedenen Klassen, tatsächlich aber zwischen einem isolierten Individuum und den abstrakten sozialen Kräften der modernen Gesellschaft, die aber dennoch eine konkre­ te Gefährlichkeit entwickeln. Das Gedicht spielt in einem Ambiente, dessen Bilderwelt und emotionaler Ton schwer fassbar und verwirrend sind. Der Autor versucht den Le­ ser aus der Balance zu bringen, weil er es selbst ist. Der Dialog läuft zwischen dem Po­ eten und einem einfachen Mann ab, die sich einander zur gegenseitigen Überraschung an einem anrüchigen Ort wie einem Bordell über den Weg laufen. Der einfache Mann, der immer eine hohe Meinung von dem Künstler hatte, zeigt sich völlig entgeistert: „Was sehe ich hier, mein Lieber! Sie hier! In einem schlecht beleumundeten Lokal finde ich Sie – den Mann, der Essenzen schlürft, den Mann, der Ambrosia zu sich nimmt! Wirklich! Für mich zum Verwundern!“ „Sie wissen mein Lieber, von der Angst, die mir Pferde und Wagen machen. Eben überquerte ich eilig den Boulevard, und wie ich in diesem bewegten Chaos, wo der Tod von allen Seiten auf einmal im Galopp auf uns zustürmt, eine verkehrte Bewegung mache, löst sich die Aureole von meinem Haupt und fällt in den Schlamm des Asphalts. Ich hatte den Mut nicht sie aufzuheben. Ich habe mir gesagt, daß es minder empfindlich ist, seine Insignien zu verlieren, als sich die Knochen brechen zu lassen. Und schließlich, habe ich mir gesagt, zu irgend etwas ist Unglück immer gut: Ich kann mich jetzt inkognito bewegen, schlechte Handlungen begehen und mich gemein machen wie ein gewöhnlicher Sterblicher. So bin ich, wie sie sehen, hier, ganz wie Sie!“ Der einfache Mann geht auf dieses verbale Spiel mit einem absurden Ratschlag ein.

Der Poet denkt aber nicht daran, denn er freut sich über seine neue Selbsterkenntnis: „Ich denke nicht daran! Mir ist wohl hier! Nur Sie haben mich erkannt. Außerdem ist Würde mir langweilig. Und dann habe ich Freude an dem Gedanken, daß irgendein schlechter Dichter sie aufheben und keinen Anstand nehmen wird, sich mit ihr herauszuputzen. Einen Glücklichen machen! Darüber geht mir nichts! Und vor allem einen Glücklichen, über den ich lache! Stellen Sie sich X vor oder auch Z. Nein, wird das komisch sein.“ 4 Das Gedicht bleibt rätselhaft. Mit der Aureole dürfte Baudelaire auch eine Anspielung auf den poeta laureatus im Sinn gehabt haben, dem Sieger im Wettbewerb der Dichter, der in der Antike und spä­

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„Sie sollten doch den Verlust der Aureole bekannt geben oder auf dem Fundbüro danach fragen zu lassen.“

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ter in der Renaissance mit einem Lorbeerkranz, einer Gloriole ausgezeichnet und dem somit ewiger Ruhm verliehen wurde. Der poeta steht noch in der großen rhetorischen Tradition des öffentlichen Raumes der Antike. Unter den Bedingungen des modernen Lebens und des differenzierten öffentlichen Raumes scheint eine derartige Anerken­ nung und Überhöhung des Dichters überflüssig zu sein, weil auch er durch das Primat der Technik und Kinetik von der allgemeinen Beschleunigung betroffen ist. Der mo­ derne Dichter muss andere Strategien verfolgen. Baudelaire wendet sich gegen die Kunstreligion, gegen die Anschauung einer Heiligkeit der Kunst und ironisiert damit auch seine eigene Haltung, die er in man­ chen Passagen geäußert hatte.5 Damit bekräftigt er den Abschied von einer Position der Immobilität, von einer Kunst, die trotz einer Abwendung von Gott noch an den Prinzipien der alten Metaphysik festgehalten hatte, und die das Genie als Instrument zur Erklärung der Weltveränderungen ansah. Dieses Gedicht atmet bereits einen Geist der Ironie, die Art des Ausdrucks ist zutiefst komisch und damit auch modern. Die Iro­ nie ist so erfolgreich, weil sie den Ernst der Begebenheit, die hier abläuft, verfremdet. Das Geständnis, demzufolge der Glorienschein des Helden vom Kopf rutscht und in den Dreck fällt, also keineswegs durch eine brutale, große Geste entrissen wird, lässt Assoziationen zum Vaudeville­Theater und den späteren Slapstickhelden wie Charles Chaplin zu. Es leistet einen Vorgriff auf das künftige Zeitalter des 20. Jahrhunderts, in dem die Helden wie Antihelden gekleidet sind. Man muss in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass sich Baudelaire dessen sehr bewusst war, dass die Erfah­ rung des Komischen einer Erfahrung des choc’s entspricht, weil die Auflösung der kos­ mischen Ordnung zur Dekonstruktion des mythischen Grundes und damit zum Erken­ nen des Abgrundes der menschlichen Verfasstheit führt. „Das Lachen ist satanisch, es ist also zutiefst menschlich. Es ist im Menschen die Konsequenz der Vorstellung seiner eigenen Überlegenheit; und wirklich, wie das Lachen wesentlich menschlich ist, ist es wesentlich widersprüchlich.“ 6 Diese ironische Beschreibung erstreckt sich aber auch auf den Boulevard, als den modernen Typus des öffentlichen Raumes. Der Boulevard lässt die klassische Sphäre des öffentlichen Raumes der agora völlig verblassen, in der nach dem Prinzip der klas­ sischen Tugenden agiert wurde, und wo die Menschen miteinander im Dienste der po­ lis um ihren Ruhm in der Nachwelt wetteiferten, wo politisches und expressives Han­ deln im Rahmen bestimmter ethischer und ästhetischer Prämissen ablief. In der agora wurden Dinge zur Erscheinung gebracht, wurden öffentlich wahrgenommen, beurteilt und besprochen. Nur an diesem Ort konnten – wie Hannah Arendt nicht müde wird zu betonen – die Bürger als Menschen agieren, weil sie sich nur dort, in der Öffentlich­ keit, vor den Augen aller, enthüllen und darstellen konnten, und weil nur auf diese Weise die am höchsten entwickelte Form der Gemeinschaft, die demos zum Ausdruck gebracht werden konnte. Natürlich beinhaltete die agora auch Elemente eines Markt­ platzes, wenngleich die athenische agora nach Pausanias vom Kerameikos, dem Han­ delsbezirk, getrennt war. Auch gab es auf der agora Theatervorführungen und sie galt auch als ein Umschlagplatz des Klatsches bei den Barbieren. Ebenso galt das Politisie­ ren und Philosophieren als normaler Zeitvertreib an diesem Ort. Insofern barg auch die alte griechische agora schon den Keim einer Beschleunigung durch ihre potenzielle Ka­ talysatorenwirkung. Dennoch war die griechische Vorstellung einer kosmologischen Ordnung zu stark, der Pantheismus zu mächtig und die technische Entwicklung zu 274

gesäubert. Das römische Forum, jener Ort, der die Funktion der agora übernahm, hat­ te noch die griechischen Strukturprinzipien der Kolonnaden übernommen und durch die Versammlungshalle, die Basilika erweitert, doch war auch dieser öffentliche Raum des Marktplatzes – wie der des Amphitheaters, des Bades und des Rennplatzes – eine Massenform. Der öffentliche Raum war mit der Form des großen Versammlungsplat­ zes verbunden. Der eigentliche kinetische Faktor der Römer bestand jedoch im Stra­ ßenbau, der die Verbindungen innerhalb des Territoriums schuf und eine unerlässliche Technik zur Erhaltung des Imperiums darstellte. In der Stadt selbst galt im Straßen­ bau noch das alte Prinzip von Cardo und Decumanus, die den Verkehr in die Mitte der Stadt führten, ein Umstand, der bei der Größe Roms zu einem permanenten Verkehrs­ chaos führen musste. Es scheint aber in der Spätantike bereits Anzeichen für Straßen mit Boulevardcharakter gegeben zu haben. Libanius berichtet über Antiochien in sei­ ner Rede über die Stadt, diese habe bereits 25 Kilometer Kolonnadenstraßen besessen, wo sich öffentliche und private Bauten vermischten.7 Der neue, moderne Typus des öffentlichen Raumes der Stadt, wie der eines Boule­ vards und mancher der dort ansässigen Lokale, entspricht nicht mehr den gräcophi­ len Vorstellungen einer klassischen polis.8 Dort denkt niemand mehr an ein politisches Handeln klassischen Zuschnitts, an öffentliche Rede, sondern man flaniert oder sitzt als ein Beobachter in den Cafés am Boulevard. (Speaker’s Corner im Hyde­Park in London ist ein absurdes Relikt aus der alten polis und der Versuch, den modernen öffentlichen urbanen Raum mit einer rhetorischen Dimension der Politik zu verbinden.) Nur wer den Boulevard etwas unvorsichtig überquert, bekommt es mit der Kraft und Energie des neuen zentralen Phänomens der Stadt, des Verkehrs zu tun. Diese neue Kraft kann ei­ nem Dichter den Glorienschein vom Kopf fegen und in den Kanalausguss befördern. Er wird damit in einen neuen Bewusstseinszustand versetzt, der ihn durch den Verlust sei­ ner Gloriole seines ruhmreichen Status’ in der polis entledigt, seiner Heldenhaftigkeit beraubt und ihn auf die gleiche Stufe mit dem einfachen Bürger stellt, der sich gewohn­ heitsmäßig in gewissen Lokalen aufhält, die am untersten Ende einer Skala des öffent­ lichen Raumes angesiedelt sind. Aber der Dichter bedauert dies nicht, sondern klärt den Mann über die Illusion des Glorienscheines auf, der zum Symbol reinen Scheins wird. Asphalt. Der kinetische Teppich Als Haussmann mit der Arbeit an den Pariser Boulevards begann, konnte niemand begreifen, warum er diese so breit machen wollte, weil damit der Übergang von einer normalen Straßenbreite von etwa 100 Fuß zu einer von 100 yards ein sprunghafter war. Erst nach der Fertigstellung konnten die Leute erkennen, dass diese Straßen, die von immenser Weite und pfeilgerade waren, die idealen Rennbahnen für den Schwerver­ kehr darstellten. Der Asphalt, mit dem die Oberfläche der Boulevards gepflastert wur­ de, war erstaunlich glatt und sorgte für die ideale Traktion der Pferdehufe. Erstmals konnten Reiter und Fahrer im Herzen der Stadt die Pferde auf ihre volle Geschwindig­

Die Temporalisierung des öffentlichen Raumes

gering, um sich einseitig den kinetischen Kräften zu verschreiben. Vor allem aber war der Privatbereich bei den Griechen quasi nur die notwendige Basis für das öffentliche Leben, das entschieden den Vorrang innehatte. Erst in größeren Staatsgebilden, wie in Rom, wurde das öffentliche Leben und die Demokratie zunehmend durch die Macht­ ansprüche einzelner Politiker untergraben und durch die Umwandlung in ein Kaiser­ tum endgültig aufgegeben bzw. von den Elementen demokratischer Willensbildung

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keit beschleunigen. Im Zeitraum zwischen 1850 und 1870, als die Bevölkerung um 25 Prozent wuchs, von 1,3 auf 1,65 Millionen Einwohner, verdrei­ oder vervierfachte sich der innerstädtische Verkehr. Die arteriellen Boulevards waren von Anfang an mit einer doppelten Funktion belastet: Den Hauptstrom des Verkehrs durch die Stadt zu führen und als größte Einkaufs­ und Geschäftsstraße zu dienen. Als das Verkehrsvolu­ men anschwoll, stellten sich die beiden Funktionen als schwer kompatibel heraus. Die Situation war für den Großteil der Pariser, die zu Fuß gingen, herausfordernd und er­ schreckend. Die Asphaltpflasterung der Gehsteige galt als der Stolz von Napoleon III ., der nie zu Fuß ging, sie war in den heißen Sommermonaten trocken und matschig im Regen und Schnee. Haussmann war ein Gegner der Asphaltierung von Paris und sabo­ tierte die Pläne des Kaisers, die ganze Stadt damit zu bedecken, weil man dazu ent­ weder einen Wagen haben oder auf Stelzen gehen müsse.9 Das Leben auf den Boulevards, das aufregender als jedes urbane Leben bisher ge­ wesen war, war auch einschüchternd und riskant für Menschen, die zu Fuß unter­ wegs waren. Es fällt heute im Zeitalter der Massenmotorisierung aufgrund der Selbstverständ­ lichkeit des hohen Adaptionsgrades schwer, eine Abstraktion des Stadtverkehrs zu denken. Anhand amerikanischer Großstädte, vor allem am Beispiel New York, lassen sich heute am ehesten die Verhältnisse des Paris von Haussmann beobachten. Für Baudelaire ist der Archetypus des modernen Menschen ein Fußgänger, ein Mensch, der in den Strom des modernen Verkehrs geworfen wird, der sich allein ge­ gen eine Ansammlung von Masse und Energie behaupten muss, die ihn an Gewicht und Schnelligkeit weit übertrifft und daher stets das Moment des Todes mit sich führt. Der Straßenverkehr kennt keine räumlichen und zeitlichen Grenzen, er speit in jeden urbanen Raum, zwingt allen sein Tempo auf und verwandelt die gesamte moderne Umwelt in ein bewegtes Chaos. Dieses besteht aber nicht in den individuellen Fuß­ gängern oder Fahrern, von denen alle ihren effizienten individuellen Weg suchen, son­ dern in deren Interaktion, in der Gesamtheit der Bewegungen in einem gemeinsamen öffentlichen Raum. Dies macht den Boulevard zum perfekten Symbol der inneren Wi­ dersprüche des Kapitalismus. Ein rationales Verhalten in jeder kapitalistischen Einheit führt zu einer anarchistischen Irrationalität im sozialen System, das diese Einheiten zusammenfasst.10 Die Mimesis des kinetischen Impulses als Generator des neuen Stadtbewusstseins Ein Mensch des 19. Jahrhunderts, der sich auf der modernen Straße bewegte, glaubte in den Maelstrom geworfen worden zu sein, er wurde auf sich selbst und seine eigenen oft ungeahnten Ressourcen zurückgeworfen und war gezwungen sie so zu strecken, dass ein Überleben gelang. Jemand, der das bewegte Chaos eines Boulevards durchqueren möchte, muss zunächst durch Abstimmung und Gewöhnung seine eigene Bewegung anpassen, zugleich aber immer einen Moment im Voraus sein, um die Bewegungen der anderen zu antizipieren und rechtzeitig zu korrigieren. Diese Koordinations­ und Ausweichbewegungen, die plötzlichen Seitensprünge, die abrupten Wendungen, Dre­ hungen und die brüsken Bewegungen, werden zwar vom Körper und den Beinen aus­ geführt, aber auch vom Bewusstsein und durch Gefühle erfasst. In gewisser Hinsicht kann man diese mimetische Beschreibung auch als gefähr­ liches Spiel verstehen, in der ein Bezug zur städtischen Umwelt hergestellt wird. Der 276

Körpergebrauch gegenüber der Umwelt erlaubt eine Einverleibung der Stadt. Damit kann man eine regelhafte Beziehung zu ihr herstellen, indem eine Konfiguration zwi­

interpretiert. Der Verkehr bietet die Basis für ein urbanes Spiel, dessen Spielregeln ge­ glaubt werden müssen und in dem der Spieler immer mit oder gegen die Stadt spielt. Es gibt wenig bessere Beispiele für die Erprobung von Gewissheiten als die Überque­ rung einer stark befahrenen Straße. Die Immanenz der Welt wird selten so deutlich. Besonders wichtig ist, wie Baudelaire zeigt, dass im neuen Stadtleben diese Kräfte auf alle einwirken, aber auch zu neuen Möglichkeiten der Freiheit führen. Der Verkehr ist auch eine Metapher für Freiheit: Jemand der sich durch den Verkehr hindurch zu bewegen weiß, kann überall hingehen, die endlosen Korridore entlang, wo der Verkehr selbst die Freiheit der Bewegung schafft. Der Massenverkehr ist nichts anderes als das Ergebnis der Freiheit individualisierter Bewegung in der Stadt. Baudelaire versucht mit dem Gedicht „Der Verlust der Aureole“ zu sagen, dass die Aura artistischer Reinheit und Heiligkeit der Kunst nur zufällig und nicht substantiell zufällt – was einer radikalen Absage an den Geniekult gleichkommt, in dem ja eine göttliche Kraft durch das Genie hindurchgeht und spricht – und dass die Poesie auch an jenen geringeren Orten gedeihen kann, wo der Poet selbst geboren wurde. Nun zählen auch in der Kunst die Kräfte der Immanenz aus Naturwissenschaft und Öko­ nomie, die durch Forschung und Wissenschaft in der Gesellschaft freigesetzt wurden, und deren Gesetze in der urbanen Praxis zu beobachten sind. Es zählt seither zu den Grundprinzipien der Moderne, dass Dichter eine tiefere und authentischere Poesie ent­ wickeln, wenn sie selbst wie einfache Menschen leben, wenn sie sich der Mimesis des Alltagslebens hingeben. Nur wer sich selbst in das Chaos des Alltagslebens der modernen Welt stürzt, des­ sen zentrales Symbol der Straßenverkehr ist, kann sich dieses Leben für die Kunst richtig aneignen. Ein schlechter Poet ist derjenige, der seine Reinheit durch ein sich Fernhalten von der Straße zu wahren versucht, um nicht den Risiken des Verkehrs zu erliegen. Kunstwerke werden inmitten des Verkehrs geboren, aus dessen anarchischer Energie, der drängenden Gefahr und der Angst dort zu sein, hervorgebracht und vom prekären Stolz und der Aufregung des Menschen, der nur überleben möchte, erfüllt. Daher kann „Der Verlust der Aureole“ auch als ein Manifest eines Gewinns gelesen werden, in dem dem Dichter neue Kräfte verliehen werden. Die abrupten Bewegungen und plötzlichen Schwenks, die das alltägliche Überleben in den Straßen der Stadt er­ möglichen, stellen sich als neue kreative Kräfte heraus. Die Mimesis des Verkehrs, die körperliche Adaption der eigenen Bewegungen trainieren den modernen Menschen ein Bewusstsein von Reiz und Reaktion an, das ihn von der Stadt als permanenten Reizspender geradezu abhängig macht. Die Reiztheorie selbst kommt aus der Medizin des 18. Jahrhunderts, die auf die Fra­ ge nach der Bewegung von Körpern, „warum sich Körper überhaupt bewegen“, sich nicht mehr mit der Instanz der Seele oder eines feinstofflichen Körpers, bzw. der force vital, der Lebenskraft, als Movens zufrieden gab, sondern die Reaktion der Nerven und des Gewebes auf Reize für die Bewegung verantwortlich machte. Damit wurden

Die Temporalisierung des öffentlichen Raumes

schen dem Ich, den anderen und der Stadt erzeugt wird. Das Ziel des Spiels ist die Schaffung eines Bewegungsrhythmus, der mit dem Widerstand, der Beschleunigung, aber auch Verlangsamung des städtischen Verkehrs zurechtkommt. Dadurch werden jedes Mal die vorhandenen Elemente auf andere Art kombiniert und die Stadt neu

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alle holistischen Körpertheorien, die seit der Antike gültig waren und auf der Tem­ peramentenlehre beruhten, abgelöst und durch ein Reiz­Reaktions­Schema ersetzt.11 Die Reichweite dieser wissenschaftlichen Revolution ist bis heute nicht ausreichend erfasst worden, sie fand allerdings deutlichen Niederschlag in den großen Philoso­ phien der Moderne. Leben heißt reagieren und im Zuge dieser Einsicht gewinnt die Bewegung an sich (zum Beispiel des Muskels, der Nerven) als eine durch Reiz indu­ zierte Handlung des Körpers höchsten Stellenwert. Bewegung heißt nun Leben und die Handlung gewinnt etwa bei Nietzsche als Aktion das Primat, weil der Wille als der ultimative Reiz die Aktion hervorruft. Nun wird auch den die Aktion und die Bewe­ gung hemmenden Kräften der Begriff der Reaktion zugeteilt und erhält eine negative Konnotation. Das Primat der Bewegungskräfte ist in der Politik am stärksten wirksam und wird zum zentralen Merkmal der Moderne, weil es die vermeintlich schnelle Be­ wegung zur Utopie hin ermöglicht. Baudelaire antizipiert diese Entwicklung, die für das kommende Jahrhundert der Moderne gelten wird, als einer der ersten Dichter. Freilich ist es noch ein Stück des Weges bis Nietzsche das Primat der Aktion verkündet, denn Baudelaire selbst ist noch Anhänger der Mimesis, der körperlichen Nachbildung der Verkehrsreize im Inneren und der poetischen Umformung in Verse. Während Baudelaire für Anpassung an die kinetischen Kräfte plädiert, um im Wechselspiel mit ihnen das neue heroische Selbst zu entwickeln, wird er von Nietzsche noch darin übertroffen, der die Kraft selbst sein möchte. „Nietzsche bemüht sich die zeitgenössische Physiologie der Anpassung zu korrigieren, um sie in eine Physiologie des herrschenden Willens zu verwandeln.“ 12 Le Corbusier wird diese Position Nietzsches übernehmen und den Willen zur Macht in seinen Willen zur Architektur umwandeln. Wenn die Generierung des Willens bei Nietzsche einen Überwältigungsprozess des Individuums bis zum möglichen Tod hin voraussetzt, um aus der nachfolgenden Reaktion die unerhörte Kraft und Dynamik zu erlangen, so scheint sich bei Le Corbusier diese Haltung aus einer Zerstörung der alten Stadt und der gewaltigen daraus hervorgehenden explosiven Energie zu ergeben, die ihm eine Neuschöpfung ermöglicht. Mit „la fange“ im Satz „la fange du macadam“, der in der vorliegenden deutschen Übersetzung von Baudelaires Gedicht „Der Verlust der Aureole“ mit der „Schlamm des Asphalts“ übersetzt wird, liegt ein Wort vor, das in der rhetorischen Tradition auch für Bedeutungen wie Schmutz, Bösartigkeit, Korruption, Abfall, Niedergang, Verfau­ len etc. steht. La fange ist damit der Tiefpunkt eines moralischen Universums, dessen Höhe­ und Scheitelpunkt die Aureole ist. Die Ironie an der Sache ist, solange die Au­ reole in den Schlamm fällt, kann sie nie gänzlich verloren gehen, denn auch für Baude­ laire hat das Bild des Kosmos als eines weltumspannenden Plans selbst für die Mo­ derne noch eine gewisse Geltung. Daraus lässt sich nach Berman der Schluss ziehen, dass die durch die Aureole symbolisierte Dichtkunst zwar bedroht, aber nicht zerstört wird, wenn sie in den endlosen Fluss des Verkehrs gerät.13 Denn eine zentrale Eigen­ schaft der Warenwirtschaft liegt in der endlosen Verwandlung der Marktwerte. In der kapitalistischen Wirtschaft wird keine einzige menschliche Möglichkeit völlig vom Tausch ausgeschlossen. Die Kultur selbst gleicht einem gigantischen Warenhaus, in dem alles, in der Hoffnung es eines Tages verkaufen zu können, gelagert wird. Daher wird die Gloriole, die der moderne Dichter verloren hat, kraft ihres obsoleten Charak­ ters für jene Dichter, die der Moderne entfliehen wollen, eine Ikone, ein nostalgisches 278

Objekt der Verehrung. Aber auch die antimodernen Dichter, Denker und Politiker fin­ den sich auf denselben Straßen wieder, auf demselben Asphalt wie die modernen. Die moderne Umgebung dient beiden als physischer und spiritueller Lebensfaden und als Quelle ihres Materials und der Energie. Der Unterschied zwischen Modernisten und Antimodernisten besteht nur darin, dass sich die einen darin ein Zuhause einrichten möchten, während die anderen die Flucht daraus suchen.14 Es handelt sich um einen Konflikt zwischen dem immobilistischen und mobilistischen Affekt. Doch selbst wer die falsche Bewegung durchschaut, in der Hoffnung in die wahre Mobilität einzugehen,

Das Primat der Aktion bei Le Corbusier. Subjektwechsel des Künstlers durch Ekstase Wer die großen und neuen räumlichen Komplexe des modernen Urbanismus seit 1945 bis vor wenigen Jahren betrachtet, kann sich schwerlich eine Begegnung im Sinne Baudelaires zwischen dem einfachen Mann und einem Dichter vorstellen. Urbane Räu­ me wurden auf systematische Art derart gestaltet, dass sie eine Verhinderung von Kollisionen und Konfrontationen leisten können. Wenn für das 19. Jahrhundert der Boulevard das kinetische Symbol für das Aufeinandertreffen von explosivem, energe­ tischen Material mit menschlichen Kräften war, so gilt dies für das 20. Jahrhundert für die Autobahn oder den Highway, wo diese Elemente jedoch auseinander gehalten wer­ den sollen. Es handelt sich dabei um eine erhöhte Stufe der Mobilisierung, weil nun die Straße im urbanen Raum völlig isoliert ist und praktisch alle Eigenschaften des öffent­ lichen Raumes außer die des Verkehrs verliert. Es liegt in der Eigenart der Dialektik der Moderne, dass sich zunächst eine völlige Energetisierung bis zur Selbstverausgabung vollzieht, die in der nachfolgenden Phase der Erschöpfung wiederum annulliert wer­ den soll. Das heißt, dass der Verkehr und die daraus folgende Mobilität die Großstadt Paris dermaßen aufgeladen und energetisiert hat, dass ein Schritt zur urbanistischen Abkühlung nötig wurde. Le Corbusier bietet ein gutes Beispiel dieser Haltung. In seinem Vorwort von L’Ur­ banisme gibt er das Beispiel einer modernen Parabel.15 An einem herrlichen Spätsom­ merabend spazierte er auf einem Boulevard in Paris, den Champs Elysées, wo er in der

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wer von Bewegungsphobie geleitet wird, kann auf Dauer der gewaltigen Dynamik der Bewegung nicht entgehen. Und nun wird auch der Antimodernist, so sehr er sich auch an die Aureole klam­ mern mag, diese früher oder später aus denselben Gründen wie der Modernist verlie­ ren. Auch er wird gezwungen sein, Balance, Maß und Dekorum seiner Texte aufzugeben und zu lernen, den jähen Bewegungen des modernen Alltags Grazie abzugewinnen. Und so sehr sich Modernisten und Antimodernisten auch oppositionell gegenüberste­ hen, vor dem Hintergrund eines endlos fließenden Verkehrs, auf dem Asphalt, werden alle gleich. Daraus leitet Berman auch eine ähnlich destruktive Bedeutung des As­ phalts ab, wie die in diesem Zusammenhang verwendeten Worte des Schlammes und der Aureole, denn er pflastert Hohes und Niedriges in gleicher Weise zu. Baudelaire, der sonst ausschließlich die elegante Sprache der Tradition verwendet, benützt diesen Anglizismus macadam bewusst, um dessen Modernität zu kennzeich­ nen; er wird von John McAdam abgeleitet, der ihn als erster im 18. Jahrhundert zur Pflasterung der Oberflächen verwendete, ein ins Französische übertragener Ausdruck, ein Franglais, wie die Franzosen diese Anglizismen nennen.

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Abenddämmerung plötzlich eine Baudelaires gleichende Erfahrung machte. Dort fühl­ te er wie nie zuvor für einen Moment die Furie des Verkehrs und spürte auch regelrecht, dass sie sich täglich steigerte. Es war, als ob die Welt verrückt würde. Corbusier drückt seine Bedrohung und Verletzung durch eine drastische Beschreibung, auch Übertrei­ bung des Verkehrs seiner Wohnumgebung aus, indem er meinte: Das Verlassen des Hauses mit dem Überschreiten der Schwelle bedeutete die unmittelbare Gefahr sofort von Autos erfasst und getötet zu werden. In einem nostalgischen Vergleich kontras­ tiert er diese Straße mit jener seiner Kindheit vor dem Ersten Weltkrieg, „als die Stra­ ße noch uns gehörte, wir auf ihr sangen, auf ihr diskutierten“16 und nur gelegentlich der Pferdebus sanft vorüberglitt. Die Nostalgie erweckt die Erinnerung an eine Straße, die für alle offen war, an einen Spielraum, der sich auf die Bedürfnisse der anderen anpassen konnte, wo Ko­ existenz möglich war, wo man gemeinsam spazieren konnte, wo Menschen Tiere und Fahrzeuge friedlich nebeneinander existierten. Im Gegensatz dazu die von Haussmann inszenierte Achse, die auf den Arc de Triomphe zusteuert und eine grandiose Sicht bie­ tet, die den Betrachter allerdings in Lebensgefahr bringen kann. Corbusier wählt einen Lösungsversuch, mit der er eine unerhört wirkungsmäch­ tige Strategie der Moderne einführt. Denn nachdem er sich in einem regelrechten Über­ lebenskampf durch den Verkehr gearbeitet hat, vollzieht er einen innerlichen Schwenk und identifiziert sich plötzlich völlig mit den Kräften, die ihn eben noch niedergehal­ ten hatten. „An diesem 1. Oktober 1924, da assistierte ich als Helfer bei der titanischen Renais­ sance eines neuen Phänomens […] Verkehr. Autos, Autos, schnell, schnell. Man wird ergriffen, von Enthusiasmus erfüllt, von Freude, die Freude an der Macht. Das ein­ fache und naive Vergnügen inmitten der Macht zu sein, der Kraft. Man partizipiert davon. Man wird Teil dieser Gesellschaft, die heraufdämmert. Man hat Vertrauen in diese neue Gesellschaft: Sie wird einen großartigen Ausdruck ihrer Macht finden. Man glaubt an sie.“17 Dieser innere Schwenk ist so schnell und faszinierend, dass er Corbusier selbst gar nicht richtig auffällt. Eben war er noch der Typus des Baudelaire’schen Menschen, der sich durch den Verkehr kämpft. Einen Moment später hat sich seine Sichtweise radi­ kal verändert, sodass er nun aus dem Verkehr heraus spricht. Einen Moment spricht er noch über sich selbst, sein Leben und seine Erfahrungen „Ich denke zwanzig Jahre zurück, da gehörte die Straße noch uns“18, im nächsten Moment verschwindet die per­ sönliche Stimme plötzlich, löst sich in einer Flut des weltgeschichtlichen Prozesses auf. Jetzt vollzieht sich der Subjektwechsel. Das neue Subjekt ist das abstrakte und unper­ sönliche „man“, das mit der Energie der neuen Weltmacht Verkehr erfüllt wird. Nun, anstelle einer Bedrohung durch diesen, befindet er sich plötzlich in dessen Zentrum, ein neuer Gläubiger, ein Teil davon. Wenn Baudelaire die mouvements brusques et sou­ bresants als die Essenz des modernen Lebens ansah, so begnügt sich Corbusier mit ei­ ner einzigen totalen Bewegung, die jede weitere überflüssig macht, ein großer, letzter Schwenk. Corbusier will nicht mehr in das Spiel der kreativen Anpassung einsteigen, sondern höher hinaus, er will selbst ein Teil der bewegenden Macht werden und die Stadt durch Neuschaffung ordnen. Le Corbusier unterwirft sich den Kräften der Kine­ tik und gewinnt selbst an machtvoller Einsicht. Der Mensch auf der Straße verkörpert sich selbst in der neuen Macht, indem er der Mensch im Auto wird. 280

Diese Perspektive des neuen Menschen im Auto wird die Paradigmen der moder­ nen Stadtplanung bestimmen. Der neue Mensch braucht einen neuen Typus von Stra­ ße, eine Maschine für den Verkehr, oder eine Fabrik zur Produktion von Verkehr. Eine moderne Straße muss so gut wie eine Fabrik ausgerüstet sein. Das bedeutet, dass das bestausgestattete, funktionale Modell völlig automatisiert ist. Keine Leute, außer zur Bedienung von Maschinen, keine ungerüsteten und nicht­mechanisierten Fußgänger,

sion einer neuen Welt der perfekten urbanen Maschine geboren. Eine voll integrierte Welt von hochragenden Türmen, von großen Grasflächen und offenen Räumen um­ geben – der Turm im Park – durch Superhighways verbunden und von unterirdischen Garagen und Shoppingcentern bedient. Der politische Standpunkt ist im letzten Satz von Ausblick auf eine Architektur zu lesen: „Baukunst oder Revolution. Die Revolution lässt sich vermeiden.“19 Die biopolitischen Implikationen wurden zu jener Zeit nicht richtig begriffen, auch nicht von Le Corbusier selbst. Man kann, wie der Stadtforscher Marshall Berman, zu diesem Sachverhalt zwei Meinungen haben: die erste These, die 1789 von urbanen Men­ schen aufgestellt wurde und die durch das 19. Jahrhundert hindurch bis zu den großen revolutionären Ereignissen am Ende des Ersten Weltkrieges gültig war, besagt, dass die Straßen den Menschen gehören. Die Gegenthese von Le Corbusier lautet: Keine Stra­ ßen, keine Menschen. In der Straße der Ära nach Haussmann konvergierten die funda­ mentalen sozialen und psychischen Widersprüche des modernen Lebens und drohten mit Ausbruch. Wenn Le Corbusier 1929 ganz deutlich sagte „man muß die Straße töten“, dann vielleicht auch deshalb, weil durch die Verunmöglichung einer Versammlung der Massen diese Widersprüche nicht manifest werden können.20 Wenn diese Vermutung Bermans stimmt, so kann man von der Biopolitik der Moderne sprechen. Die moderne Architektur plante eine modernisierte Version des Pastoralen. Eine räumlich und sozial klar abgetrennte Welt – Trennung zwischen Menschen und Verkehr, Arbeit und Woh­ nen, Reichen und Armen. Dazwischen liegen Barrieren aus Gras und Beton. Zweifellos hat diese Form des Urbanismus tiefe Spuren in den meisten Städten hinterlassen. Damit sind nicht nur die fordistischen Stadtplanungen der vergangenen Jahrzehnte gemeint, sondern auch die jüngeren Stadterneuerungsprojekte, wo alte Stadtteile modernisiert wurden. Dort versucht man scheinbar erfolgreich, den Ver­ kehr völlig aus bestimmten Teilen der Stadt zu verdrängen.21 Alte Straßen werden modernisiert, zu Fußgängerzonen und Shoppingstreets um­ funktioniert und die alte flüchtige Mischung aus Menschen und Verkehr, Geschäften und Wohnungen, Reichen und Armen wird durch Aussortierung beendet, in getrenn­ te Straßenbereiche aufgeteilt, die mit durch Videoüberwachung streng kontrollierten Ein­ und Ausgängen versehen sind und wo Zufahrt und Ladetätigkeit streng geregelt über Tiefgaragen und Parkplätze erfolgt. All diese Stadträume und die sich darin aufhaltenden Menschen sind wesentlich ordentlicher als es irgendein Platz in Baudelaires Stadt je war. Aber die Räume sind

Die Temporalisierung des öffentlichen Raumes

die den Fluss verlangsamen. Die Funktion der Maschine wird durch das irrationale Handeln des Menschen nur gestört, öffentliche Räume sind daher völlig unfunktional, weil sie nur irrationale Bedürfnisse zum Ausdruck bringen. „Cafés und Orte der Zer­ streuung werden nicht länger die Gehsteige von Paris verschlingen. In der Stadt der Zukunft gehört der Asphalt allein dem Verkehr.“ Seit dem magischen Moment Le Corbusiers auf den Champs Elysées wird die Vi­

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steriler und der Verkehr wird nur in schlechtere Gegenden verdrängt, weil er nicht völlig abzuschaffen und für die moderne Großstadt unerlässlich ist. Berman verweist auf New York, auf eine der vielleicht wenigen amerikanischen Städte, wo sich diese Szenen noch wiederholen könnten. Er bezieht sich auf Jane Jacobs Buch The Death and Life of Great American Cities, in dem die Räume der Moderne als sauber und ordentlich, aber sozial und geistig tot beschrieben werden. Nur gewisse Spuren des Gedränges aus dem 19. Jahrhunderts, der Lärm und die allgemeine Dissonanz hielten das urbane Alltagsleben aufrecht. Das alte städtische, bewegte Chaos war in der Tat eine wunderbar reichhaltige und komplexe menschliche Ordnung, die von der Moderne aufgrund ihrer mechanischen, oberflächlichen und reduzierten Paradigmen nicht erkannt wurde. Berman plädiert in diesem Sinne für Unordnung, für eine offene Stadt, die auch den Verkehr nicht völlig verdrängt, weil auf diese Weise der gespaltene, gebrochene und auch unversöhnte Charakter unserer Leben widergespiegelt wird. Aus diesen inneren Konflikten, wohin sie auch führen mögen, beziehen wir wie Baudelaire die Energie zum Leben.

1 Charles Baudelaire, „Vom Heroismus des modernen häusern stammend – ihre Armut öffentlich kundtun und Lebens“, in: ders., Sämtliche Werke, Briefe, Bd. 1, Juve- durch ihre reine Anwesenheit unbeabsichtigt die Stimnilia – Kunstkritik, Hanser, München/Wien 1977, S. 282 . mung des Liebespaares stören. Die Armen wissen, dass Ihr 2 Charles Taylor, Quellen des Selbst, Suhrkamp, Frank- Schicksal niemanden interessiert, erfreuen sich aber denfurt/Main 1996, S. 757. 3 Ebd., S. 761. 4 Charles Baude- noch am Glanz der modernen Cafés. Vgl. Serie: Geschichte laire, „Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa“, in: ders., der Urbanität, dérive. 9 Vgl. David Pinkney, Napoleon III Sämtliche Werke, Briefe, Bd. 8 , Hanser, München/Wien and the Rebuilding of Paris, University Press, Princeton 1985, S. 285. 5 Marshall Berman, All that is solid melts 1972 . 10 Berman (wie Anm. 5), S. 159. 11 Philipp Sarainto air. The experience of modernity, Penguin Books, sin, Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers New York/London 1988 , S. 156. 6 Taylor (wie Anm. 2), 1765 – 1914 , Suhrkamp, Frankfurt/Main 2001. 12 Jean S. 797. 7 Lewis Mumford, Die Stadt. Geschichte und Aus- Starobinski, Aktion und Reaktion. Leben und Abenteublick, dtv, München 1979, S. 249. 8 Das Gedicht spielt übri- er eines Begriffspaars, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2002, gens auf demselben Boulevard wie „Die Augen der Armen“, S. 345. 13 Berman (wie Anm. 5), S. 161. 14 Berman (wie ist aber trotz der räumlichen Nähe der beiden Gedichte in Anm. 5). 15 Berman (wie Anm. 5), S. 166. 16 Le Corbusier, einem völlig anderen Geist verfasst. Aber auch in den „Au- The City of Tomorrow and its Planning, MIT Press, Camgen der Armen“, ebenfalls aus dem „Le Spleen de Paris“, bridge/ MA 1971, S. 3 – 4; zit. nach Berman (wie Anm. 5), wurde der Einbruch eines choc-haften sozialen Elends in S. 165 . 17 Ebd. 18 Ebd. 19 Le Corbusier, Ausblick auf den öffentlichen Raum beschrieben. Die völlig selbstver- eine Architektur, Vieweg, Braunschweig/Wiesbaden ständliche Wahrnehmung von verelendeten Stadtbewoh- 1982 , S. 215. 20 Berman (wie Anm. 5), S. 168 . 21 Bernern, die – vermutlich aus den alten abgerissenen Wohn- man (wie Anm. 5).

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Raum­Zeitkontraktionen Für den Geografen David Harvey, der sich eingehend mit dieser Frage der Kontraktion des Raums durch die Zeit in der Moderne befasst hat 1, verläuft die kritische Grenze der Entwicklung der Zeit bereits um 1848, weil seither eine Krise der Repräsentation zu be­ obachten ist, die von einer Neuformatierung des Sinnes für Zeit und Raum im ökono­ mischen, politischen und kulturellen Feld verursacht wird. Während fortschrittliche Kräfte der Bourgeoisie bis zu diesem Zeitpunkt 1848 im Geiste der Aufklärung gegen die Dauer der ökologischen Zeit der traditionellen Gesellschaften und der Verspätung widerspenstiger Formen sozialer Organisationen auftraten, wurden nach den Ereig­ nissen von 1848 soziale Spannungen Teil des allgemeinen Bewusstseins, und die Fra­ ge „In welcher Zeit leben wir?“ wurde immer öfter gestellt. Der Glaube an den von der Aufklärung versprochenen Fortschritt geriet ins Wanken, die Beschleunigung der Zeit stand nicht mehr im Dienste des sozialen Fortkommens, sondern zunehmend im Sold des Kapitals. Die Errichtung eines Finanzsystems mit Kapitalmärkten und Börsen veränderte das Kreditsystem nachhaltig und regte die Spekulation enorm an, die Folgen ließen nicht auf sich warten. Die Zeit spielt im Finanzwesen eine wichtige Rolle, Rentabili­ tät wird nach dem return of investment gerechnet. Der Zusammenhang zwischen der schnelleren Zirkulation des Kapitals in den Märkten mit der zunehmenden Rationa­ lisierung und Spezialisierung der Industrie mitsamt ihren sozialen Folgen konnte be­ reits im 19. Jahrhundert überzeugend nachgewiesen werden. Die Schriften von Karl Marx geben ein klares Zeugnis dafür ab. Auch die kulturelle Produktion spiegelte diese zunehmende Unsicherheit wider, indem etwa in der Literatur die narrativen Struktu­ ren durch simultane Darstellungen ersetzt wurden. Jameson stellte als grundlegende Erfahrung vieler Menschen jener Zeit dar, dass die Wahrheit der Erfahrung nicht mehr länger mit dem Ort zusammenfiel, wo sie gemacht wurde, dass die räumliche Einheit der Erfahrung zerbrochen war. Raumkontraktion und Fragmentierung Die rasche Ausdehnung westlicher Staaten durch Außenhandel und Investment er­ zeugte eine wachsende Rivalität und führte nicht nur zum Ausbruch des Ersten Welt­ krieges, sondern auch zu einer neuen Territorialisierung im Sinne einer imperialis­ tischen Politik. Die Globalisierung brachte eine zunehmende Kontrolle des Raumes durch die westlichen Staaten mit sich, sodass man aufgrund dieses gigantischen Pro­ jektes der Raumaneignung zur Meinung gelangen konnte, dass in der Wirtschaft nun­ mehr der Einfluss der Zeit zunehmen würde (weil der Raum durch seine Kompres­ sion aufgrund der neuen Transport­ und Kommunikationsmedien quasi neutralisiert schien, bzw. nicht mehr existierte). So beruhte etwa der Niedergang der Selbständig­ keit der französischen Bauern auf dem Import billigeren Getreides aus Amerika, das ihre eigene Ernte unverkäuflich machte. Émile Zola hat von diesem Sachverhalt in La Terre nachhaltig Zeugnis gegeben. Es war daher die komplementäre Erfahrung zahlreicher Literaten diesen wachsenden Einfluss der Zeit gegenüber dem Raum auf der Bewusstseinsebene zu artikulieren. Wenn etwa – wie im Falle der französischen Bauern – das Leben von Ereignissen bestimmt wird, die völlig außerhalb der eigenen 283

Realität ablaufen, dann verlieren auch die alten Erzählstrukturen des Romans an Bedeutung, die davon ausgehen, dass sich eine Geschichte Ereignis um Ereignis, also in der Zeit entfaltet. Wenn nun aber in der Realität zwei Ereignisse in zwei völlig unter­ schiedlichen Räumen gleichzeitig ablaufen, so erkennt man die neuen Möglichkeiten simultaner Ereignisse. Diese Zusammenziehung des Raumes, die durch Telefon, Tele­ graf, Auto und Flugzeug erfolgte, begründete die materielle Voraussetzung für neue Denkmodelle über die Erfahrung mit Zeit und Raum. Man könnte mit Henri Lefebvre resümieren, dass um 1910 ein bestimmter Typus von Raum zerschlagen war. „Es war der Raum der gemeinsamen Anschauungen und Überzeugungen, der so­ zialen Praktiken und der politischen Macht, ein Raum der bisher sowohl im Alltags­ diskurs, wie auch im abstrakten Denken als der Rahmen wie auch der Kanal der Kom­ munikation gegolten hatte. Der Raum, der auch der der klassischen Perspektive und der Geometrie war, wurde seit der Renaissance auf der Basis der griechischen Tradi­ tion (Euklid, Logik) entwickelt und in der westlichen Kunst und Philosophie, wie auch in der Form der Stadt verkörpert […] Der euklidische und perspektivische Raum hatte als Referenzsystem ausgedient, gemeinsam mit anderen Positionen des common sen­ se, wie die Stadt, die Geschichte, Paternalismus, das tonale System in der Musik, die traditionelle Moral u. s.w.“ 2 Harvey zieht sogar einen Vergleich zwischen dem Zeitpunkt der Veröffentlichung der Relativitätstheorie von Einstein 1905 und der Errichtung der Produktionsanlagen von Henry Ford 1913. Ford zerteilte die Aufgaben des Arbeiters und verteilte sie im Raum, um die Effizienz zu maximieren und die Widerstände im Produktionsfluss zu minimieren. Tatsächlich nutzte er eine bestimmte Form der räumlichen Organisation, um die Durchlaufzeit des Kapitals in der Produktion zu beschleunigen. Zeit konnte so durch die Fähigkeit zur Kontrolle, die durch Organisation und Zerschlagung der räum­ lichen Ordnung der Produktion erfolgte, enorm beschleunigt werden. Kern gibt mit den nachfolgenden Beispielen ein beeindruckendes Zeugnis über den Stand der Fragmentierung des Raumes in der Kunst und zugleich über deren Aus­ wirkungen, die als systematische Anschläge auf das rationale Bild eines anscheinend homogenen und absoluten Raumes gelten können 3; bzw.: Damit entsteht ein Bild der Bewusstseinslage der Avantgarde, das am empfindlichsten auf die neuen Zeitumstän­ de reagierte. Im gleichen Jahr 1913 wurde das erste Radiosignal vom Eiffelturm aus um die Welt herum ausgestrahlt, um die neue Kompetenz zu betonen, dass man den Raum in der Simultaneität eines Augenblickes universeller, öffentlicher Zeit kollabieren lassen kann. Die Macht der drahtlosen Übermittlung durch Funk war schon ein Jahr zuvor anlässlich des Sinkens der Titanic demonstriert worden, als die Nachricht vom Unter­ gang äußerst schnell in aller Welt verbreitet wurde. Die öffentliche Zeit wurde immer gleichförmiger und universeller gegenüber dem Raum. Aber es waren nun nicht nur Handel und Eisenbahn, oder alle für die Organisation von Pendlern im großen Maßstab nötigen Techniken zur Zeitkoordination, die ein großstädtisches Leben begünstigten, sondern auch Fakten wie die 38 Milliarden Telefongespräche in den USA , die schon im Jahr 1914 die Macht des Einflusses der öffentlichen Zeit und des Raumes in das private und alltägliche Leben betonten. Dies war auch in der Kunst zu beobachten. De Chirico zelebrierte diese Qualitäten durch das auffällige Platzieren von Uhren in seinen Gemälden. James Joyce begann 284

Strategie. I. Räumlicher Universalismus Durch diese Kontraktion des Raumes stellt sich eine merkwürdige soziale Entwicklung ein. Viele Menschen, die vorher isoliert und an einem Mangel an Kommunikation litten, entwickelten einen wachsenden Wunsch nach Einheit bzw. nach Vereinigung. Diese Tendenz war aber ambivalent, denn Nähe kann auch Angst erzeugen, die Nachbarn können einem zu nahe auf den Leib rücken, woran Schopenhauers Gleichnis der bür­ gerlichen Gesellschaft als frierende Igel erinnert: diese wünschen sich ebenfalls ein­ ander nahe zu kommen, ehe sie die Stacheln der anderen spüren und zurückschrecken. Aus diesem ambivalenten Motiv entwickelten sich in Hinblick auf den Raum zwei sehr unterschiedliche Denkrichtungen, die sich entweder auf die Differenzierung oder auf die Einheit beriefen. Im Grunde erinnert diese Beobachtung an Georg Simmels Diktum „daß die Gesellschaften Gebilde aus Wesen sind, die zugleich innerhalb und außerhalb ihrer stehen“. Oder über das Individuum bzw. die individuelle Seele: „daß sie in kei­ ne Ordnung eingestellt ist, ohne sich zugleich ihr gegenüber zu finden.“ 4 Der Einzelne lässt sich nicht vollständig in einem Behälterraum erfassen, weil er nicht nur Teil die­ ses sozialen Systems ist, sondern – wie die Systemtheorie Luhmanns herausgefunden hat – auch immer Teil dessen Umwelt ist. An der Unkenntnis dieses Sachverhalts schei­ terte letztlich auch dieses universalistische Projekt der Moderne, zugleich wurden die

Raum-Zeitkontraktionen

seine Suche zur Erfassung dieses Sinnes für Simultaneität in Raum und Zeit in dieser Periode durch sein Insistieren auf die Gegenwart als den einzigen realen Ort der Erfah­ rung. Er ließ seine Aktionen an vielen Plätzen stattfinden – in einem Bewusstsein, das über das Universum hinausspringt und da und dort vermischte, was zu Lasten der ge­ ordneten Diagramme der Kartografen ging. Marcel Proust versuchte über die vergan­ gene Zeit zu berichten und einen Sinn für die Individualität und den Ort zu schaffen, der auf einem Konzept beruht, das über die Ordnung von Raum und Zeit hinausgeht. Diese beiden innovativsten Autoren verlagerten die Bühne der modernen Literatur von festen Schauplätzen im homogenen Raum in eine Vielzahl von qualitativ verschiede­ nen Räumen, die mit den schwankenden Stimmungen und Perspektiven des mensch­ lichen Bewusstseins variierten. Braque und Picasso nahmen den Weg Cézannes auf, indem sie den Raum der Ma­ lerei mit ihrem Kubismus aufbrachen, ein Experiment, das zur Aufgabe des gleich­ förmigen Raums der linearen Perspektive führte, die seit dem 15. Jahrhundert die Ma­ lerei dominiert hatte. Delaunays berühmtes Bild vom Eiffelturm war vielleicht das erste öffentliche Symbol einer Bewegung, das die Zeit durch die Fragmentierung des Raumes zu repräsentieren versuchte. Vermutlich waren sich die Protagonisten nicht darüber im Klaren, dass sie dasselbe machten wie es Ford zur gleichen Zeit mit seinem Fließband intendierte, obwohl die symbolische Wahl des Eiffelturmes schon darauf hinwies, dass diese Bewegung auch mit der Industrialisierung zu tun hatte. Durkheim publizierte 1912 die Elementaren Formen des religiösen Lebens mit der ausdrücklichen Er­ kenntnis, dass die Kategorie der Zeit den Rhythmus des sozialen Lebens bestimmt und dass der soziale Ursprung des Raumes ebenfalls notwendigerweise zur Existenz viel­ fältiger räumlicher Bilder führt. Ortega y Gasset formulierte im Anschluss an Nietzsche eine neue Theorie der Perspektive, indem er die Existenz ebenso vieler Räume in der Realität, als es Perspektiven auf ihn gibt, annahm und ebenso vieler Realitäten, als es Gesichtspunkte gibt, vermutete.

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Bedingungen für Urbanität sehr erschwert. Der rationalistisch durchgeplante Raum bedarf außerhalb der vorgesehenen Funktionen keinerlei Eigenschaften. Urbanität ist nicht ein deutlich zu definierendes Überschussphänomen des weltoffenen Menschen, der durch Differenz gekennzeichnet ist. „Diejenigen, die die Einheit zwischen den Menschen betonten, akzeptierten die Nichtrealität des Ortes innerhalb eines fragmentierten Raumes. Das Zelebrieren einer Vernichtung des Raumes durch die Zeit führte zur Aufgabe einer Wiederaufnahme des Projektes der Aufklärung einer universellen humanen Emanzipation im globalen Raum, der durch die Mechanismen der Kommunikation und der sozialen Intervention verbunden ist. Ein Projekt dieser Art impliziert räumliche Fragmentierung durch ent­ sprechende planerische Koordination.“ 5 Mit anderen Worten: der Universalismus, der die Einheit der Menschen anstrebt, ihre Verschmelzung sogar, vernichtet den Ort mitsamt seinen räumlichen Qualitäten, wie etwa der Erinnerung, der Atmosphäre, der sozialen Verankerung, der anthropolo­ gischen Dimensionen etc., weil man möglicherweise in der Bindung an den Ort eine schädliche, konservative territoriale, vielleicht auch egoistische Tendenz befürchtet. Im Typus des neuen homogenen Raumes scheint keine Notwendigkeit mehr zu ört­ licher Bindung zu bestehen. Dieser neutrale Raum ohne Vergangenheit scheint eine Chance zur Neuformatierung und bei entsprechender rationaler Gestaltung eine bes­ sere Zukunft zu bieten. Hatte nicht Henry Ford gezeigt, wie soziale Prozesse beschleu­ nigt und produktive Kräfte durch die Verräumlichung der Zeit vermehrt werden kön­ nen? Freilich lag aber die Schwierigkeit darin, wie diese Kapazitäten einer humanen Befreiung und nicht den nahe liegenden Interessen des Kapitals dienstbar waren. Unter Bezugnahme auf die deutsche Erfindung eines Weltbüros, das alle humani­ tären Tendenzen, die in die unterschiedlichsten Richtungen verliefen, zusammenfasst und zu einer Konzentration und kreativen Promotion verhelfen wollte, schreibt Harvey über dieses Paradigma der Moderne: „Nur in einem solchen Kontext eines rationalisier­ ten und total organisierten externen und öffentlichen Raums können das Innen und die privaten Gefühle für Zeit und Raum wirklich aufblühen. Der Raum des Körpers, des Bewusstseins, der Psyche, alles Räume, die lange unterdrückt waren, können nur durch die rationale Organisation des äußeren Raumes und der Zeit befreit werden. Allerdings meinte Rationalität mehr als eine Planung mit dem Plan und der Uhr in der Hand, oder eine Unterordnung alles sozialen Lebens unter die Zeit oder etwa die Durchführung von Bewegungsstudien. Neue Ansichten über Relativismen und Perspektiven könn­ ten gefunden und auf die Produktion des Raumes und die Ordnung der Zeit angewandt werden.“ Dieser Sachverhalt einer Rationalisierung des äußeren Raumes in Zusammen­ hang mit der Suche nach Einheit wurde von Richard Sennett, allerdings ohne Zusam­ menhang mit der Arbeit Harveys, sehr zutreffend mit dem protestantischen Bewus­ stsein und dessen Konsequenzen für den Raum beschrieben.6 Das universalistische Streben nach Einheit und der Rückzug ins Innen verhindert eine Haltung der Urbanität. Diese Art der Reaktion, die man später als exemplarisch modern bezeichnet hat, hatte eine Reihe von Entwicklungen zur Folge. „Durch die Verachtung der Tradition strebte man ganz neue kulturelle Formen an, die mit der Vergangenheit brachen und sich ausschließlich in der Sprache des Neuen äußerten. Die Annahme, daß die Form der Funktion folge und daß die räumliche Rationalität der äußeren Welt eingepflanzt werden müsse, um die individuelle Freiheit und den Wohlstand zu maximieren, be­ 286

Strategie. II . Lokalismus. Neuer Sinn für den Ort Die zweite Art von Reaktion, von der Harvey spricht und die auf Differenzierung ab­ zielt, ist folgende: „Je mehr der Raum vereinigt ist, desto mehr werden die Qualitäten der Fragmentierung für die soziale Identität und das Handeln wichtig. Der freie Fluß des Kapitals über die Oberfläche des Globus zum Beispiel legt eine strenge Betonung auf die Qualitäten des Raums, von denen das Kapital angezogen wird. Das Schrump­ fen des Raumes bringt unterschiedliche Gemeinschaften quer über den Globus in Kon­ kurrenz zueinander, was lokale Strategien des Wettbewerbs mit sich bringt und ein erhöhtes Bewusstsein dafür, was einen Platz auszeichnet und ihm einen Wettbewerbs­ vorteil verschafft. Diese Art der Reaktion achtet viel stärker auf die Identifikation mit dem Ort, auf das Errichten und Signalisieren seiner einzigartigen Qualitäten in einer zunehmend gleichförmigen, aber brüchigen Welt.“ 8 Diese andere Seite der Moderne ist durch den Einsatz des Museums und der Biblio­ thek gekennzeichnet. Die ideologische Arbeit an der Erfindung der Tradition war im 19. Jahrhundert bereits von großer Bedeutung, weil auch damals eine Ära mit großen raumzeitlichen Transformationen bestand, die einen Verlust der Identität mit den Or­ ten und Brüchen beim Gefühl für historische Kontinuität hervorrief. Bereits Simmel kommentierte diese Bedeutung der Ruinen in ihrer Eigenschaft als Orte, wo die Ver­ gangenheit mit ihren Schicksalen und Verwandlungen in einem Moment einer ästhe­ tisch wahrnehmbaren Gegenwart versammelt wurde. Ruinen können unsere zerrüt­ tete Identität in einer sich schnell verändernden Welt begründen. Das war auch jene Zeit, als Kunstwerke der Vergangenheit zu geschätzten Waren wurden. Das Entstehen eines Marktes für antike und ausländische Kunstgegenstände war das beste Indiz da­ für: William Morris in England, die Wiener Werkstätte, der Jugendstil in Paris, Sulli­ van in Chicago, etc. Die Identität des Ortes wurde inmitten einer wachsenden Abstrak­ tion des Raumes befestigt. Im übrigen weist Harvey richtigerweise darauf hin, dass dieser Trend zur Bevorzugung der Verräumlichung der Zeit (Sein) gegenüber der Ver­ nichtung des Raumes durch die Zeit (Werden) im Wesentlichen die Entwicklung der Postmoderne bestimmt.9

Raum-Zeitkontraktionen

durfte der Effizienz und der Funktion als zentrale Metaphern, nicht umsonst erfreute sich das Bild der gut geschmierten Maschine großer Beliebtheit. Daraus erwuchs auch ein tiefes Interesse für die Reinheit und Sprache in allen Bereichen der Kunst (Archi­ tektur, Musik, Literatur, auch Philosophie).“ 7 Inwiefern die künstlerischen Antworten auf die Verhältnisse der Zeit eine Folge des Zwanges der raum­zeitlichen Restrukturierung waren oder auch Beiträge zur weiteren Konfusion bedeuteten, sei dahingestellt. Der Kubismus etwa wurde als die prominen­ teste Form der malerischen Repräsentation der Komprimierung des Raumes bezeich­ net, weil eben das Leben wesentlich fragmentierter als in den früheren Epochen war. Andrerseits gab es auch Versuche in diesem Prozess, der der kollektiven Kontrolle völ­ lig entglitten war, das Kommando wieder zu erlangen. Le Corbusier etwa folgte im Grunde nur den Prinzipien der Jefferson’schen Landaufteilung, wenn er argumentier­ te, dass der Weg zu individueller Freiheit in der Konstruktion eines extrem geordne­ ten und rationalisierten Raumes bestehe. Dieses internationalistische Projekt betonte genau jene Art von Einheit, innerhalb derer sich eine sozial bewusste Wahrnehmung der individuellen Differenz vollziehen könne.

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Die Moderne untersuchte die Dialektik zwischen Ort und Raum, Vergangenheit und Gegenwart auf vielfache Weise. Durch das Zelebrieren des Universalismus und des Zusammenbruches der räumlichen Barrieren wurden auch neue Bedeutungen des Or­ tes und der Räume herausgefunden, die stillschweigend die lokale Identität verstärk­ ten. Die Verstärkung der Zusammenhänge zwischen dem Ort und dem sozialen Sinn für persönliche und gemeinsame Identität hatte die Ästhetisierung des Lokalen, Re­ gionalen und Nationalen zur Folge. Die Loyalität zum Ort konnte die Dominanz über die Loyalitäten zur Klasse erlangen, indem sie das politische Handeln verräumlichte. Das Ende dieses Prozesses bedeutete die Restauration der Hegel’schen Bestimmung des Staates und die Auferstehung der Geopolitik. Die Vernichtung des Raumes durch die Zeit hatte also eine Gegenbewegung zur Folge, nämlich den starken Nationalstaat, der sich als stabiles Zentrum der nationalen Gesellschaften und Räume darstellt und dieses Ziel durch eine entsprechende Geopolitik verfolgt. Dies betraf alle Großmäch­ te der Zeit. Das Motto des „Lebensraumes“, der Grundlage der nationalsozialistischen Kriegspolitik, war auch in analogen Programmen in England, den USA , Frankreich und Russland enthalten.10 Der „heroische Modernismus“ ließe sich in der Diktion Harveys als ein Kampf zwi­ schen dem Universalismus und der Sensibilität des Lokalismus im Bereich der kultu­ rellen Produktion bezeichnen. Der Heroismus leitet sich von den außerordentlichen intellektuellen und künstlerischen Versuchen zu einer Begriffsbildung und Überwin­ dung der Krise der Erfahrung von Zeit und Raum ab und wurde vor dem Ersten Welt­ krieg entwickelt, um die nationalistischen und geopolitischen Ansichten, die damals zirkulierten, zu bekämpfen. Dieser Modernismus strebte eine Repräsentation und Bild­ gebung der Beschleunigung, Fragmentierung und implodierenden Zentralisierung des urbanen Lebens an. Das Ziel bestand in einer Überwindung des Lokalismus und Nationalismus und der Bildung eines Sinnes für ein globales Projekt einer fortschritt­ lichen, humanen Wohlfahrt. Damit einher ging ein Wechsel der Haltung mit einem neuen Respekt vor Raum und Zeit.11 Wenn der Modernismus die Unterordnung des Raumes unter menschliche Zwecke bedeutete, dann musste die rationale Ordnung und Kontrolle als Teil der modernen Kultur, die auf Technik gegründet ist und die auch das Beseitigen von räumlichen Bar­ rieren einschließt, mit einer Art von historischem Projekt verknüpft werden. Da die Denker der Aufklärung Wohlfahrt als ein zentrales Ziel ansahen, wurde dieser Gegen­ stand sehr bald in die Rhetorik sozialistischer Bewegungen integriert. Diese Verbin­ dung zwischen Sozialismus und Moderne schadete zunächst dem Ruf der Moderne in der westlichen Welt, in der nun eine Wende zum Surrealismus vollzogen und allenfalls der gestylte Modernismus des Bauhaus akzeptiert wurde. Mythos Maschine Louis Aragon hatte schon im Pariser Bauer erklärt, dass er eine Novelle schreiben woll­ te, die sich selbst als Mythologie präsentiert, mithin eine Mythologie der Moderne darstellt. Durch die Erschütterung des Glaubens an die Aufklärung und der Perfek­ tionierung des Menschen, machte er sich auf die Suche nach einem Mythos, der der Moderne angemessen war. Walter Benjamin übernahm diese Idee bekanntlich und machte sie zur Grundlage seines Passagen­Werkes, indem er das versponnene Traum­ reich der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts mit ihren historistischen Wohnungskokons 288

und den Bezügen zur Mythologie der Antike im Licht der Moderne zum jähen Erwa­ chen brachte.

chitektur und der Ingenieursästhetik auflösen wollte, um den Zweck mit dem Mythos zu informieren, den Zweck in die Form des Mythos zu bringen, den Zweck poetisch zu veredeln. Was aber wurde dabei mythologisiert? In der heroischen Phase der Zwischenkriegsjahre (siehe oben) entstand dringender Handlungsbedarf, um den Wiederaufbau der Wirtschaft und die Lösung der politi­ schen Unzufriedenheit, die mit den Formen des kapitalistischen städtisch­industri­ ellen Wachstums einher gingen, voranzubringen. Das Verblassen des gemeinsamen Glaubens an die Aufklärung und das Aufkommen verschiedenster Perspektiven er­ öffnete die Möglichkeit, soziales Handeln nun mit ästhetischen Visionen aufzuladen, womit die Konflikte zwischen den konkurrierenden Formen der Moderne nun großes Interesse weckten, denn der Einsatz im Kampf um die Bürger war hoch.12 Der Mythos hatte eine Befreiung vom formlosen Universum der Kontingenz zu er­ reichen, um den Mut und die Kraft für ein neues Projekt der menschlichen Bewus­ stwerdung aufzubringen – oder einfacher – neuen Sinn zu finden. Eine Richtung der Moderne verfiel auf das Bild der Rationalität, das von der Maschine verkörpert wur­ de, auf die Fabrik, auf die Macht der zeitgenössischen Technologie und damit auf die Stadt als einer lebenden Maschine. Diese Hoffnung auf die Maschine beruhte auf dem Glauben an eine rationale Ordnung, die auf technologischer Effizienz und maschinel­ ler Produktion basierte. Der Wiener Kreis spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle, denn der lo­ gische Positivismus galt vielen als eine Philosophie, mit der sich nach strikter Analyse der sozialen Sachverhalte wissenschaftliche und inhaltlich richtige Lösungen finden lassen. Damit ließe sich im Sinne einer perfekten Sozialtechnologie eine vernünftige Ordnung aufgrund wissenschaftlicher Kalküle herstellen. Auf einer ähnlichen Ebene agierte das Bauhaus, das ebenfalls eine rationale Ordnung im Zusammenspiel von tech­ nischer Effizienz und sozial nützlichen Zielen wie der menschlichen und proletarischen Emanzipation implementieren wollte. Der logische Positivismus ist in seinen Praktiken mit denen der Architektur zu vergleichen, wo man bekanntlich Häuser und Städte als Wohnmaschinen bezeichnete.13 Bei Corbusier ist die Stadt selbst eine Maschine, indem sie durch vier Funktionen bestimmt wird, Wohnen, Arbeit, Erholung (Freizeit) und Ver­ kehr. Und es war der mächtige Congress of International Modern Architects, der CIAM , der sich in jenen Jahren konstituierte und 1933 die berühmte Charta von Athen verfas­ ste, die für die nächsten 30 Jahre die architektonische Praxis der Moderne bestimmte. Die italienischen Futuristen waren wahrscheinlich in der Verehrung der Tech­ nik führend, sie waren derart von der Geschwindigkeit und der Kraft der Maschinen fasziniert, dass sie die kreative Zerstörung und den brutalen Militarismus verherrlich­ ten und Mussolini zu ihrem Held erkoren. Das Automobil ist schöner als die Nike von Samothrake lautete ein Kernsatz des italienischen Futurismus.

Raum-Zeitkontraktionen

Freilich stellte sich allerdings bald heraus, dass der Typus des Aragon’schen My­ thos niemals den Mainstream erreichen konnte, weil er aufgrund seiner skeptischen und ironischen Einstellung zu Wissenschaft und Technik den Bedürfnissen der Archi­ tekten jener Zeit nicht entsprach, die eher auf eine Mythologisierung der Technik aus waren. So zum Beispiel Le Corbusier, der immer schon die Dichotomie zwischen der Ar­

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Selbst Oswald Spengler sieht im „faustischen Symbol der Maschine“ 14 den Willen zur Macht vor dem Durchbruch und tut es den Futuristen gleich: „Ich liebe die Tiefe und Feinheit mathematischer und physikalischer Theorien, de­ nen gegenüber der Ästhetiker und Physiolog ein Stümper ist. Für die prachtvoll klaren, hochintellektuellen Formen eines Schnelldampfers, eines Stahlwerkes, einer Präzi­ sionsmaschine, die Subtilität und Eleganz gewisser chemischer und optischer Verfah­ ren gebe ich den ganzen Stilplunder des heutigen Kunstgewerbes samt Malerei und Architektur hin.“15 Der Glaube an linearen Fortschritt, an absolute wissenschaftliche Wahrheit, ratio­ nale Planung und eine ideale soziale Ordnung – eine Utopie – bei standardisierten Bedingungen des Wissens und der Produktion war sehr stark. Die daraus resultieren­ de Moderne war positivistisch, technokratisch und rationalistisch, zugleich nahm sie ihren Platz im Werk der Avantgarde der Planer, Künstler, Architekten, Kritiker und an­ derer Hüter des guten Geschmacks ein. Den großen Aufschwung konnte sie aber erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs nehmen, als die westlichen Industrienationen den Fordismus perfektionierten.

1 David Harvey, The Condition of Postmodernity, Blackwell, Oxford 1990, S. 260. 2 Henri Lefebvre, The Produc­ tion of Space, Blackwell, Oxford 1991, S. 25. 3 Stephen Kern, The Culture of Space and Time, Weidenfeld & Nicolson, London 1983, S. 150 – 151. 4 Georg Simmel, Gesam­ tausgabe. Untersuchungen über die Formen der Ver­ gesellschaftung, hrsg. von Otthein Rammstedt, Bd. 11, Soziologie, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1992, S. 53. 5 Harvey (wie Anm. 1), S. 270. 6 Vgl. Richard Sennett, Civitas.

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Die Großstadt und die Kultur des Unterschieds, Fischer, Frankfurt/Main 1991; und siehe Kap.: Protestantischer Raum, S. 61. 7 Harvey (wie Anm. 1), S. 271. 8 Ebd. 9 Harvey (wie Anm. 1), S. 273. 10 Harvey (wie Anm. 1), S. 275. 11 Harvey (wie Anm. 1), S. 280. 12 Harvey (wie Anm. 1), S. 31. 13 Harvey (wie Anm. 1), S. 33. 14 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes, dtv, München 1980, S. 929. 15 Ebd., S. 61.

Fordismus als Paternalismus und Urbanismus Eine Darstellung des Fordismus ergibt sich nicht ohne Schwierigkeiten, denn die Ein­ führung dieses Systems selbst war mit einer langfristigen komplizierten Geschichte verbunden, die über ein halbes Jahrhundert währte. Es bedurfte einer Vielzahl von individuellen, institutionellen und staatlichen Entscheidungen, die teilweise auch als Abwehrmaßnahmen gegen die Krisentendenzen des Kapitalismus gefällt wurden, vor allem in der amerikanischen Depression der 1930er Jahre. Weniger bekannt ist die fordistische Organisation der Aufrüstung im Zweiten Weltkrieg, die nur durch extre­ me Rationalisierung und Fließbandarbeit möglich wurde. Da es sich dabei um einen Zeitpunkt der nationalen Kräftekonzentration handelte, konnten die Gewerkschaften wenig Widerstand gegen das Fließband entwickeln und ermöglichten damit die brei­ te Einführung in den westlichen Staaten, die auch nach dem Krieg beibehalten wurde. Eine besondere Bedeutung des Fordismus bestand auch darin, dass er im Grund sowohl von fortschrittlichen als auch konservativen politischen Kräften und Parteien angewandt und akzeptiert wurde. Es gab zahlreiche Konfusionen ideologischer und intellektueller Natur, etwa jener, als der Fordismus und der Taylorismus von Lenin gelobt wurden, während er gleichzeitig von den europäischen Gewerkschaften abge­ lehnt wurde.1 Zahlreiche Architekten der Moderne kooperierten mit syndikalistischen Kräften und autoritären Regimes, weil sie sich von diesen eine größere Durchsetzungs­ kraft für ihre Pläne erwarteten, die eine fordistische Organisation voraussetzten. Eine wesentliche Facette bestand auch darin, dass der Fordismus den Kapitalismus stabili­ sierte, weil damit bestimmte nationale repressive sozialistische Maßnahmen vermie­ den werden konnten. Insofern waren auch die unterschiedlichen nationalen Anstrengungen zu einer Einführung auf unterschiedlichste politische und institutionelle Arrangements inner­ halb des Landes verbunden. Man könnte auch zwei Phasen des Fordismus unterschei­ den. Die erste Phase verläuft von der Erfindung durch Ford bis zum Zweiten Weltkrieg und ist durch eine starke autoritäre Dimension geprägt, die zu seiner Einführung not­ wendig war. Die zweite Phase nach dem Zweiten Weltkrieg kann als eine Erfolgsge­ schichte der Ökonomie betrachtet werden, weil sie den Boom und das Wirtschafts­ wachstum der Nachkriegszeit bis Mitte der 1970er Jahre stützte. Der Fordismus leitet seinen Namen von Henry Fords Industriepolitik ab, die auf der Einführung einer neuen Fließbandtechnik und dem berühmten Achtstundentag mit einem Lohn von fünf Dollar täglich beruhte 2. Diese Kombination von Rationalisierung und extrem hoher Bezahlung sollte die Produktivität steigern und die Arbeiter zugleich mit einem Einkommen ausstatten, das ihnen den Erwerb teurer Konsumgüter wie den eines Auto ermöglichen sollte. Die langfristige Stabilisierung der Produktion durch die Zufriedenstellung der Arbeiter und die Vermeidung von Streiks sollte durch eine ebensolche Festigung des Konsums durch hohe Löhne garantiert werden. Der Begriff des Fordismus soll von Antonio Gramsci 3 stammen, weil Ford erstmals erfolgreich demonstrierte, dass Massenproduktion und Massenkonsum ökonomisch realisierbar sind. Damit waren die Voraussetzungen zur Hervorbringung des neuen Menschen­ 291

typus der Moderne geschaffen, der nicht nur intensiv produziert, sondern ebenso kon­ sumiert und völlig neue Verhaltensmuster und Wertsysteme entwickeln sollte. Das Beispiel Ford zeigte aber auch, dass es eines Einzelunternehmers bedurfte um derart neue Wege zu gehen, während die Staaten selbst noch Jahrzehnte benötigten, um eine ähnliche Politik der Intervention zu entwickeln. In den USA wurde mit dem New Deal dieser Weg des Fordismus erst nach der großen Depression in den 1930er Jahren beschritten, während die europäischen Staaten noch später nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Realisierung in der Lage waren. Das Grundproblem bestand immer noch in der mangelnden Nachfrage nach Produkten aufgrund zu geringer Massen­ einkommen. Weltweit umgesetzt wurde der Fordismus daher erst nach dem Zweiten Weltkrieg in den westlichen Industrieländern. In den kommunistischen Ländern war der Wunsch nach der Einführung eines ähnlich erfolgreichen Systems zwar groß, aber erfolglos. Technokratie und Autorität Mit Henry Ford wurde auch ein wesentlicher Aspekt der Lehre Saint Simons wirksam, derzufolge nur bei den großen Industriellen, wie es auch im Falle des Fordismus zu be­ legen wäre, die nötige Autorität zu einer nachhaltigen Veränderung der Verhältnisse feststellbar ist. Ford machte auch keinen Hehl aus seiner autoritären Haltung, wenn er Gewerkschaften in seinen Fabriken verbot, weil er aus den Erfahrungen der Krise der 1890er Jahre dadurch eine Destabilisierung der Verhältnisse befürchtete. Die Ge­ werkschaften waren erbitterte Gegner der Fließbandproduktion, weil sie damit eine höhere Ausbeutung, den Verlust der Arbeitsplätze, eine Bevorzugung unqualifizierter Arbeitskräfte und andere Repressalien befürchteten. Erst Ford konnte den Gegenbe­ weis antreten, indem er die höhere Produktivität mit einer Weitergabe der Produk­ tivitätsgewinne an die Arbeiter verband. Freilich kam diese Entwicklung nicht im demokratischen Sinne zustande. Der Paternalist agiert wie ein Vater, indem er für sei­ ne Arbeiter sorgt, aber auch streng kontrolliert, weil er annimmt besser zu wissen, was gut für sie ist. Aus der Sicht des Urbanisten ist der Fordismus von allergrößter Bedeutung, weil hier erstmals ein funktionierendes Instrumentarium entwickelt wurde, das einen sozial verträglichen Kapitalismus schuf, der einen sinnvollen Gesamtzusammen­ hang zwischen Einkommen und Konsum, zwischen Arbeiten und Wohnen stiftete. Das hohe Rationalisierungsniveau ermöglichte erstmals industrielles Bauen und die prominentesten Architekten wandten sich der Entwicklung von Typen zu, um eine völlig neue Technologie des Bauens zu entwickeln. Damit ging eine Umwälzung der Architektur vor sich, die bis heute anhält. Die auf Expansion angelegte Wirtschaft wur­ de auch auf die Stadt übertragen, die alten utopischen Ideen der Stadt – wie zum Bei­ spiel die der Gartenstadt – sollten in absehbarer Zeit realisierbar werden. Die lange Zeit brennende Frage des Wohnens sollte bald gelöst werden: Billige Grundstücke vor der Stadt sollten mit Hilfe der neuen Technologien schnell bebaut werden, neue Städte aus dem Boden wachsen, die wie Trabanten die alten Stadtkerne umkreisten. Der For­ dismus war das erste technisch­ökonomische Programm, das eine Planung im großen Stil zu ermöglichen versprach. Es war wohl auch die zeitgleiche Übernahme der Macht durch die Technik, der Technokratie, die vom Prinzip her keineswegs auf Demokratie angewiesen ist. Im Gegenteil: Großprojekte konnten durch langwierige, widersprüch­ 292

Zwischenbetrachtung: Der platonische Ursprung der paternalistischen Stadt Der platonische Staat ist naturgemäß durch eine deutliche paternalistische Tendenz gekennzeichnet, indem die Führung in der Hand der Philosophenkönige liegt, die ih­ nen zusteht, weil sie am ehesten wissen, wie man das Gute, das agathon, erreicht. Sie haben bereits eine tiefe Einsicht in das Gute erlebt, dürfen damit aber nicht selbstzu­ frieden weiterleben. Platon sagt deutlich, dass sogar die Philosophen, sobald sie das Gute für sich erreicht haben, wieder in die Stadt zurückgehen müssen, um die ande­ ren darin zu unterweisen. Es gibt die pädagogische Pflicht die anderen in der Suche des Guten zu unterrichten, daher sind die Philosophenkönige zur Führung der Stadt verpflichtet.

Fordismus als Paternalismus und Urbanismus

liche demokratische Prozesse eher verzögert und kompliziert werden. Daher war der Fordismus von der Tendenz her viel eher autoritär, weil er im Namen einer höheren technischen Vernunft agierte, deren demokratische Billigung eher indirekt und im Nachhinein durch Einkommens­ und Konsumgewinne erfolgt. Der Schlüsselbegriff des Fordismus ist die Planung. Der Planer ist der Mann mit Einbildungskraft, Verstand und Gerechtigkeitssinn, weil er die sozialen Probleme durch die Schaffung von Woh­ nungen und Städten beseitigt und den Austausch zwischen Mensch und Natur regelt. Der Planer ist der Gründer der neuen Gesellschaft, der Techniker, der Garant für den Wohlfahrtsstaat. Durch diese grundlegenden Sozialfiguren, deren Genese auf die ers­ te Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgeht, wird die Technokratie des 20. Jahrhunderts bestimmt. Der Fordismus entstand im Kapitalismus der USA , aber auch die sozialisti­ schen Lehren kann man unter Abzug der ideologischen Programme als Technokratien bezeichnen, Versuche mit Hilfe der Wissenschaft eine ideale Gesellschaft zu erzeugen. Große Architekten, allen voran Le Corbusier, waren Anhänger Saint Simons oder zumindest von dessen Lehren, weil sie darin die ideale programmatische Vorausset­ zung für ihre stadtplanerische Tätigkeit sahen. Sie alle dachten und träumten von der Umsetzung der Utopie einer letztlich auf dem platonischen Stadtstaat beruhenden Idee. Vor allem die Kongresse der CIAM von 1929 bis 1933 kreisten um das Problem der Stadtplanung. Schon beim dritten Kongress 1930 wurde aber bei der Behandlung der Frage nach dem adäquaten Haustyp der notwendige Zusammenhang mit dem Stadt­ viertel manifest und hatte die Frage nach Verfügbarkeit von Grund und Boden zur Fol­ ge, die nur durch politische Autorität durchzusetzen war. Weil die politischen Fragen aber nicht zu klären waren, beschränkten sich die Antworten der Architekten auf das Ergebnis der Charta von Athen, die beim vierten Kongress auf der Schiffsreise von Mar­ seille nach Athen 1933 entstanden ist, kaum auf konkreten Planungsergebnissen be­ ruhte und eine reine Theorie und ein System abstrakter Regeln hervorbrachte.4 Aber zu diesem Zeitpunkt war der Städtebau in Europa bereits von der Krise erschüttert wor­ den und wurde bis nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges ausgesetzt. Amerikanische und europäische Industrielle hatten aber auch schon vor dem Ers­ ten Weltkrieg durch eine Reihe von Gründungen von Arbeiterstädten und Werksied­ lungen auf sich aufmerksam gemacht, die nach dem Krieg weiter ausgebaut wurden, ansonsten wurde in Europa diese Rolle eher durch die sozialistischen Parteien und das kommunistische Russland übernommen. Es gibt aber auch prominente Beispiele für neue Werksiedlungen in Europa aus jener Zeit, wie etwa die Stadt Zlín der Firma Bata in Tschechien.

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„[…] nämlich das Gute zu sehen und die Reise aufwärts dahin anzutreten; aber wenn sie dort oben zur Genüge geschaut haben, darf man ihnen nicht erlauben, was ihnen jetzt erlaubt wird. – welches meinst du? – dort zu bleiben sprach ich, und nicht wieder zurückkehren zu wollen zu jenen Gefangenen, noch Anteil zu nehmen an ihren Mühseligkeiten […].“ 5 Sie müssen im Sinne des Höhlengleichnisses wieder zurück in die Höhle, obwohl sie auf ihrem Aufstieg bereits die Sonne und das Gute gesehen haben, um die anderen zu unterweisen. An anderer Stelle spricht Platon auch über die Wissenschaften, die den Weg zum Guten weisen können 6. Und dabei geht es um jene wissenschaftlichen Bemühungen und Methoden, die zu einer Umkehrung der Seele, einer metanoia vom Werdenden zum Seienden hinführen können, bzw. vom Seienden zum Guten hin. Aufgrund der Eignung der Arithmetik, den Blick von den zählbaren Gegenständen auf die Zahlen selbst lenken zu können, nimmt sie die erste Stellung in der Reihe ein. Die Geometrie als die Lehre von der Fläche weist die selbe Doppelqualifikation auf, beim Werdenden nützlich und auch am Seienden selbst interessiert zu sein. Die dritte Disziplin ist die Stereometrie, als die Lehre vom dreidimensionalen Körper, es folgen die Astronomie und die Harmonielehre. Die moderne Stadtplanung und Architektur, allen voran das Bauhaus rekurriert naturgemäß auf den platonischen Mythos der Zahlen und der geometrischen Körper, weil hier der Zusammenhang zwischen Werdendem und Seiendem deutlich einsichtig gemacht wird. Hier ist man aufgrund der Einfachheit der Zahlen und geometrischen Körper der Idee der Sache schon so nahe, dass man das Seiende schon erahnen kann. Es ist gewissermaßen die Faszination der Zahlen und der Geometrie, dass das agathon so einfach sichtbar wird, dass die Idee vor den Augen erscheint. (Das ist die Leitmaxi­ me von Le Corbusier und den Architekten des Bauhauses.) Platon geht davon aus, dass die vernünftige Lebensgestaltung auf Wahrheiten be­ ruht und daher darüber Einigkeit erzielbar ist, weil die Wahrheitsfähigkeit überprüf­ bar ist. Daher kann es gegen die Wahrheit wenig Kompromisse geben. Das gute Leben ist die Wahrheit, die auf Erkenntnis beruht, Praxis folgt der Theorie. Wenn man das Christentum als platonische Lehre ansieht, so ist hier ebenfalls eine Wahrheit gege­ ben, die in Gott besteht und um die man sich ebenso bemühen muss, wie um das pla­ tonische agathon, so auch die Lehre des Augustinus und seiner Civitas Dei. In diesen Fällen wirkt Philosophie immer als verwandelnde Übung, als askesis, als Erziehung. Die platonische Philosophie ist immer auch ein Programm zur Selbsterziehung, weil sie an die Idee des höchsten Guten glaubt, die eine Umerziehung der Seele notwendig macht, der aber nachzuhelfen ist. Die alternative Haltung beruht auf Dezisionismus, der zufolge politische Haltungen und die Vorbilder des guten Lebens nicht auf Er­ kenntnis, sondern auf Entscheidungen beruhen, die entweder von einzelnen oder von Gemeinschaften getroffen werden. Hier gilt nicht mehr die Wahrheitsfrage, sondern die kollektive Akzeptanz der Entscheidung. Eine mittlere Haltung rechnet sowohl mit Erkenntnissen, relativiert dies aber insofern, als das vergleichbare Gute oder Bessere ins Kalkül gezogen wird. Man geht von Erkenntnissen aus, entscheidet aber über das Gute indem man es mit anderem Guten vergleicht. Allerdings ist hier das Gute bereits 294

Pullman City. Ein präfordistischer Versuch der Stadtgründung Der Kapitalismus des späten 19. Jahrhunderts brachte eine neue Sozialfigur der Auto­ rität hervor, die ihren Ursprung im Patriarchalismus hatte und in einer neuen abge­ wandelten Form als Paternalismus auftrat.7 Dabei handelte es sich um die Figur des Firmenchefs, der als freundlicher Vater in Erscheinung tritt, der für die Arbeiter seines Betriebes wie ein Vater sorgt, zugleich aber auch zahlreiche Maßnahmen, die dem Zu­ sammenhalt und der Disziplin dienen, verantwortet und notfalls auch mit mehr oder weniger sanftem Druck durchsetzt. Im Gegensatz zum Vorläufer des Patrimonialismus wurden zwar die Ämter nicht mehr vererbt, sondern mussten durch eigenen Verdienst, meritokratisch, erworben werden. Dennoch schloss der Paternalismus beim Patrimo­ nialismus insofern an, als er die Macht im außerfamiliären Bereich durch den Appell an innerfamiliäre Rollen zu erreichen suchte. In gewisser Weise wurde hier ein Prinzip aus der französischen Erziehung, „in loco parentis“, eingeführt, das den Heimleitern und

Fordismus als Paternalismus und Urbanismus

in den Prozess der Rationalisierung eingespannt und ist gleichwohl Ausgangspunkt tiefer Ambivalenzen. Aus der Sicht einer Geschichte der Urbanität ist die Phase des Fordismus und des damit einhergehenden Paternalismus problematisch, weil hier autoritär im Namen ei­ ner höheren Wahrheit entschieden wurde. Man muss dieser politisch­ökonomischen Geisteshaltung zumindest zugute halten, dass man sich gewissermaßen im Vergleich möglicher Varianten und relativer Formen des Guten immerhin gegen den ausbeute­ rischen Manchesterkapitalismus entschieden hatte, und damit schon eine Form des „besseren“ Guten beanspruchen durfte. Naturgemäß wurde der Öffentlichkeit keine große Rolle zugeeignet, weil die Logik eines allgemeinen Dezisionismus nicht in die­ ses Bild der richtigen Ordnung des Fordismus passte. Im Gegenteil, der Fordismus setz­ te in seiner frühen Phase primär auf Autorität, auf Planung und Stabilität, wohl auch deshalb, weil in diesen unruhigen Zeiten die Öffentlichkeiten wenig funktionierten. Andrerseits steckt in Le Corbusiers Entwürfen der Cité Contemporaine bereits die Idee des Austausches von Informationen und Kommunikation durch urbanistische Ver­ dichtung. Diese neue Stufe technisch induzierter Urbanität wird noch ein wichtiges Thema des Urbanismus werden. Wenn heute in manchen Arbeiten zum Thema des Fordismus und dessen Architek­ tur der Moderne unter Bezug auf Michel Foucault von einer Politik der Beherrschung des Körpers gesprochen wird – Henri Lefebvre hat dieses Thema noch früher angespro­ chen – so hat man in gewisser Hinsicht recht. andrerseits, abgesehen von der grund­ sätzlichen Problematik, den Körper als Ausgangspunkt der Emanzipation zu sehen, ist es gleichermaßen sinnlos, diese Entwicklungsphase des Fordismus zu den Bedingun­ gen einer Bewusstseinslage der postmodernen Demokratie zu analysieren. Sie wurde mehrheitlich vom Großteil der Bevölkerung, vor allem von den Arbeitern begrüßt. Erst im Verlauf der späteren Entwicklung des Fordismus geht mit dem wachsenden Kon­ sumismus auch eine liberalere Politik einher, die 68er­Bewegung könnte man als die kulturelle Ablöse der fordistischen Strukturen bezeichnen, weil damit nun zahlreiche Strömungen der Moderne, wie etwa die radikalen Forderungen nach Autonomie, die im Ansatz schon länger vorhanden waren, nun massenwirksam wurden und das Kli­ ma der Postmoderne vorbereiteten. Man darf im Sinne Platons aber auch fragen, wo die Idee des Guten in der Postmoderne geblieben ist.

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Erziehern die Vollmacht über ihre anbefohlenen jungen Arbeiter an Stelle der Eltern sicherte. Saint Simon hatte als erster dieses Prinzip auf das industrielle Leben über­ tragen, wo der père du travail zum Ratgeber der Familie werden sollte. Die Werkstät­ ten sollten ein Foyer, ein häuslicher Herd sein, der als Zentrum des Familienlebens den eigentlichen Lebensmittelpunkt der Arbeiter darstellen sollte. Einerseits ging es hier um eine Maßnahme gegen das individualistische Wirtschaftsethos der Zeit und übte einen Ausgleich gegen die Lohnschwankungen aus, andrerseits stellte sie sich auch langsam als nutzbringend heraus, indem die Errichtung großer Arbeiterstädte in der Nähe der Fabriken in Amerika, England und Frankreich eine neue Rentabilität ent­ wickelte, als nun der Wohnungsbau und Einzelhandel durch die zuziehenden Arbeiter­ familien große Umsätze erzielten. Auch gelang durch die Versorgung mit kommunalen Dienstleistungen ein Sinken der Streikanfälligkeit und ein Ansteigen der Produktivität. Man konnte von einem beidseitigen ökonomischen Nutzen sprechen, der die Auswüch­ se des Marktes kompensierte und das Arbeitspotential stabilisierte. George Pullmans Firma, die Pullman Palace Car Company, die bei den großen Eisenbahngeschäften eine starke Rolle einnahm und 14.000 Arbeiter beschäftige, hat­ te Wohnungen für 12.600 Beschäftige gebaut. Die Gebäude waren in den historisti­ schen Stilen ihrer Zeit errichtet, die Kirche ein weißer Holzbau im Neu­Englandstil, ein gotisches Rathaus, die Fabrikanlagen romanisch, die Arbeiterhäuser spätgeorgia­ nisch. Es gab in der Stadt eine Schule, eine Bibliothek, Markthallen und ein Hotel. Aller­ dings herrschte absolutes Alkoholverbot, was zu dieser Zeit aufgrund des verbreiteten Alkoholismus unter Arbeitern eine verständliche Einschränkung bedeutete, wenn­ gleich es auch den Ruf der absoluten Kontrolle bestärkte. Alles war im Besitz von Pull­ man und kein Arbeiter konnte Eigentum an seinem Wohnhaus erwerben 8. Für die Arbeiter mit zumeist migrantischem Hintergrund stellten diese Verhält­ nisse zunächst einen großen Fortschritt gegenüber den sonstigen Angeboten dar. Im Lauf der Jahre wanderten jedoch die tüchtigsten von ihnen, sobald sie sich ein eige­ nes Haus leisten konnten, ab. Das eigene Haus war mehr als ein Faktum materieller Sicherheit, es war offenbar auch ein Symbol für das „Ankommen“ in der neuen Heimat. Pullman hatte aus seiner paternalistischen Position heraus die symbolische Dimen­ sion des Eigentums als Zeichen der Emanzipation aus Vormundschaftsverhältnissen völlig unterschätzt. Ein zweites Problem als Folge des Paternalismus bestand in der daraus erwachsen­ den Verantwortung für die Sicherheit der Arbeitsplätze, die er in einer ökonomischen Krisenzeit aufgrund zwangsläufiger Kündigungen nicht mehr wahrnehmen konnte. Die Personalisierung hatte zur Folge, dass man ihn dafür verantwortlich machte und an der Konstruktion eines Feindbildes arbeitete, was auch von den Gewerkschaften unterstützt wurde. Der Konjunktureinbruch in den frühen 1890er Jahren hatte Lohn­ kürzungen von bis zu 25 Prozent zur Folge, ohne eine Senkung der Mieten in der Pull­ man­Stadt. Ein Umstand, der wohl auch in einem anderen Mietverhältnis so gewesen wäre, aber aufgrund des Anspruches auf väterliche Behandlung führte er 1894 zu ei­ nem großen Streik, in dem der führende Sozialist der USA , Eugene Debs, eine Haupt­ rolle spielte. Der Streik wurde mit der Entlassung einiger Mitglieder des Verhand­ lungskomitees begründet, aber nicht von den Gewerkschaften bewilligt, und brach als wilder Streik los. Er führte zu einer richtigen Revolte, in der 6.000 Personen aufbegehr­ ten, eskalierte mit dem Anzünden hunderter Eisenbahnwaggons und legte mit Unter­ 296

stützung der Eisenbahngewerkschaften durch das Abkoppeln von Pullman­Wagen auch einen Teil des Zugverkehrs völlig lahm. Zahlreiche Gebäude der Weltausstellung

Saint-Simon Im Hintergrund steht bei Persönlichkeiten wie Pullman oder Ford, aber auch Le Cor­ busier, – wenn man vom platonischen Ursprung all dieser Theorien absieht – die Leh­ re Saint­Simons, eines Grafen, der sich unter zwei Titeln vorstellt: als ein Nachfahre Karl des Großen und auch als Soldat unter Washington10. Sein Sekretär und Nachfolger war Auguste Comte. Beide gehen von einem Fortschritt der Wissenschaften und des menschlichen Geistes aus, der sich auch auf die Industrie und die gesellschaftliche Or­ ganisation auswirkt. „Denn drei Stadien durchläuft hier die Geschichte: ein theologi­ sches, das die Welt von Göttern geschaffen sein lässt, ein metaphysisches, das sie aus abstrakten Naturkräften oder Ideen deduziert, ein positives, das sie durch Zergliede­ rung der Tatsachen und aus immanenten Ursachen begreift.“11 Die moderne Industrie­ gesellschaft ist im Stadium der Positivität.

Fordismus als Paternalismus und Urbanismus

wurden niedergebrannt, bis schließlich der Streik durch den Einsatz der Nationalgarde niedergeschlagen werden konnte, was dreizehn Tote und 57 Verletzte forderte. Nach Beendigung des Streiks wurde die Produktion wieder fortgesetzt, hatte aber bei Pull­ man ein Verbot der Mitgliedschaft bei Gewerkschaften zur Folge. Es ist gut vorstellbar, dass die Erfahrungen aus diesem Streik auch einen Einfluss auf die Unternehmens­ und Sozialpolitik der USA ausübten, man könnte den bald darauf einsetzenden Fordismus als eine Weiterentwicklung des Paternalismus an­ sehen, der die väterliche Kontrolle zurücknimmt, den Markt als Autorität einsetzt und den Arbeitern, zumindest vorübergehend, ein höheres Ausmaß an Wohlstand brach­ te. Entscheidend ist aber die Kombination von extremer Rationalisierung durch das neue Fließband und ein damit verbundenes – für Arbeiter – enorm hohes Einkommen. Der Umstand, dass diese Maßnahmen der Lohnerhöhung weder von der Regierung noch von den Gewerkschaften eingeführt wurden, bei der Regierung aus mangeln­ dem Interesse, bei den Gewerkschaften aus mangelnden Machtkapazitäten, sondern von einem der führenden Industriellen der Zeit, ist ein weiterer klarer Beleg für die paternalistische Struktur des Fordismus. Immer noch steht eine große beherrschen­ de Vaterfigur im Hintergrund, die allerdings im Falle von Ford auf die Errichtung von Arbeiterstädten nach dem Muster Pullmans verzichtete, wenn man von der brasilia­ nischen Ausnahme Fordlandia absieht. Das Zeitalter des frühen Fordismus bleibt von großen paternalistischen Figuren be­ herrscht, sei es von großen Industriellen, aber auch großen Stadtplanern, Architekten und Politikern. Die autoritäre Tendenz setzt sich auch später fort, wenngleich in ab­ gemilderter Form. Auch sozialistische Parteien der Zeit lehnten den Individualismus ab, erst die liberalen Strömungen der 1960er Jahre, die vermutlich auch nur vor dem Hintergrund des ungebrochenen, noch nie da gewesenen Wirtschaftswachstums in­ folge des Fordismus möglich waren, bereiteten eine Aufweichung der Autorität vor. Die kommunistischen Systeme des Ostblocks und Chinas betrieben ebenso vielfach einen Kult des Paternalismus. Lenin und Stalin wurden immer wieder symbolisch nach dem magischen Königstum dargestellt, „Der Staat ist eine Familie, und ich bin euer Vater“ lautete eine Erklärung von Väterchen Stalin. In China übertraf der Kult rund um Mao dies noch bei weitem.9

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Gleichermaßen sind sie auch davon überzeugt, dass die Organisation der Gesell­ schaft immer durch die Reichen, Starken und Mächtigen bestimmt sein wird, gleich welcher Entwicklungsstand der Industrie besteht.12 Anstelle der Anarchie der Frei­ heit plädiert Saint­Simon für ein Système industriel, das von Forschern und Gelehrten geleitet wird, eine Art „Industriepapst“ (Bloch) soll an der Spitze stehen. Daher kon­ zentrieren sich die Entscheidungsbefugnisse und das Kapital bei den Bankiers und In­ dustriellen. Der Proletarier hingegen hat aufgrund unterschiedlicher Fähigkeiten und im Sinne der industriellen Organisation die Rolle des Gehorchenden. Auch sind sie primär an Arbeit und Wohlstand orientiert. Parasitäre Klassen wie der Adel oder wie Rentiers sollten keinen Anteil an den Erträgen haben. Entscheidend ist jedoch, dass das Privateigentum seinen willkürlichen privaten Charakter verliert und in den Dienst der sozialen Funktion gestellt wird. Der Industrielle hat durch seine Verfügung über die Produktionsstätten eine elitäre soziale Position, die ihn aber auch zu einer tie­ fen sozialen Haltung verpflichtet. Daher wird diese Lehre auch durch eine metaphysi­ sche Dimension ergänzt, die bei Saint­Simon ein neues Christentum ist und bei Comte bereits in Humanismus und in eine Religion der Menschheit verwandelt wird. Diese Ideen „scharf gemachter christlicher Humanität“13 fanden große Verbreitung bei den positivistischen Kirchen, Einzelpersonen und politischen Vereinigungen, Verbänden und Parteien. Natürlich gab es auch zahllose Häresien, Apologien und Spaltungen, Ver­ bindungen mit religiösen Strömungen und nationalen Einfärbungen. In Summe fügen sich diese Lehren in den großen Strom sozialer Theorien des 19. Jahrhunderts ein und fanden im Marxismus ihren größten Widerpart, dem sie aber oft als alternative Mo­ dernisierungsideologie den Rang abliefen. Der Saint­Simonismus zeigt auch die schlei­ chende Verwandlung der platonischen Idee vom Staat in eine Technokratie. Anstelle der Philosophen sind nun die Industriellen die Könige. Der platonische Weg der Er­ kenntnis, der mit dem Aufstieg zur Sonne und in das Reich der Ideen verbunden ist, hat sich bei den Industriellen in Naturwissenschaft und angewandte Ökonomie ver­ wandelt. Immerhin denken sie noch an ein Gutes im Sinne einer aristokratischen Ver­ pflichtung und Verantwortung gegenüber der gesamten Gesellschaft, wenngleich die Methode – ohne von ihnen erkannt zu werden – den kapitalistischen Weg vorzeichnet. Saint­Simon und der nach dem Ersten Weltkrieg kursierende Neo­Saint­Simonismus haben großen Einfluss auf den Fordismus. Henry Ford war sicherlich zumindest indi­ rekt davon inspiriert, auch Le Corbusiers Werk ist voller Anklänge.14 Henry Ford Der symbolische Eintritt des Fordismus ins Weltgeschehen erfolgte 1914, als Henry Ford seinen Achtstundentag für einen Lohn von fünf Dollar täglich für die Arbeiter seiner Fabrik, die ein Montagesystem mit Fließband aufwies, in Dearborn, Michigan, einführ­ te.15 Grundsätzlich waren die Innovationen von Ford nur eine Erweiterung bereits gut eingeführter Trends. Die Organisationsform der großen Unternehmen war bereits von den Eisenbahnen im 19. Jahrhundert eingeführt worden und hatte sich nach den zahl­ reichen Fusionen, Kartellen und Zusammenschlüssen gegen Ende des Jahrhunderts ausgebreitet. Ford selbst unternahm nicht viel mehr, als dass er alte Techniken und ein bereits existierendes Detail der Arbeitsteilung rationalisierte, dennoch erzielte er durch den Fluss der Arbeit zu den Arbeitsstationen dramatische Produktionsgewinne. F. W. Taylors The principles of scientific management war ein sehr einflussreiches Werk, 298

das genau beschrieb, wie die Arbeitsproduktivität durch die Zerlegung des Arbeitspro­ zesses in einzelne Bewegungskomponenten und ihrer Zusammenfügung in Arbeits­ schritte, die auf strengen Zeit­ und Bewegungsstudien beruhen, gesteigert werden konnte.16 Die Gedanken Taylors waren ebenfalls schon lange von Vorgängern formu­ liert worden. Die Trennung von Management, Leitung, Kontrolle und Ausführung in hierarchische Beziehungen und eine Verminderung der handwerklichen Fähigkeiten

Es darf nicht überraschen, dass diese Bemühungen auch bei kommunistischen Politikern und Denkern Beachtung fanden. Antonio Gramcsi konstatierte etwa, dass es sich dabei um die größte kollektive Anstrengung handelte, um in größter Geschwin­ digkeit und entsprechendem Bewusstsein des Zieles einen neuen Typus von Arbeiter und Mensch überhaupt hervorzubringen. Daraus entwickelte sich ein spezifischer Le­ bensstil, der mit einer bestimmten Art des Denkens und Fühlens in Zusammenhang steht. Verschiedenste Fragen der Sexualität, der Familie, der Formen der moralischen Haltung, des Konsums und des staatlichen Handelns sind mit der Suche nach der For­ mung einer spezifischen Art von Arbeitern befasst, die zum neuen Modus der Arbeit und des Arbeitsprozesses passt. Ford selbst glaubte, dass die neue Art der Gesellschaft einfach durch die saube­ re und sachgemäße Anwendung der Unternehmensmacht entstehen müsse. Das Ziel des Achtstundentages mit dem Tagesverdienst von fünf Dollar täglich bestand nicht nur in der Herstellung von Zufriedenheit der Arbeiter aufgrund der erforderlichen Dis­ ziplin am Fließband, sondern vor allem in der Ausstattung mit ausreichendem Ein­ kommen und Freizeit zum Konsum der Massenprodukte. Dies setzte allerdings voraus, dass die Arbeiter wussten, wie man das Geld richtig ausgibt. Hier schlüpfte Ford wie­ der in die Rolle des alten paternalistischen Führers und schickte 1916 eine Armee von Sozialarbeitern in die Wohnungen der privilegierten Arbeiter, die zumeist Migranten waren, um sicherzustellen, dass der neue Mensch des Massenkonsums die richtige Art der moralischen Einstellung, des Familienlebens und die Fähigkeit zu klugem, vor allem antialkoholischem und vernünftigem Konsum aufweise, um die Bedürfnisse und Erwartungen der Firma zu erfüllen. Dieses Experiment hielt sich nicht lange, war aber ein deutliches Signal für die tiefen sozialen, psychologischen und politischen Pro­ bleme, die Ford aufwarf. Fords Glaube an die korporative Macht war so groß, dass er selbst während der großen Depression die Löhne erhöhte, um eine erhöhte Nachfrage und Vertrauen in die Geschäfte zu erzeugen, musste aber die Grenzen seiner Macht einsehen und schließlich doch Arbeiter entlassen. Fordlandia Ford selbst hatte in den USA keine großen Ambitionen als Städtegründer. Wahrschein­ lich waren ihm die Erfahrungen eines Pullman Warnung genug. Dennoch kam es zu einer Stadtgründung: In den 1920er Jahren erwarb die Ford Motor Company ein 10.000 Quadratkilometer großes Stück Urwald am Rio Tapajós in Amazonien, um eine

Fordismus als Paternalismus und Urbanismus

im Arbeitsprozess erfolgte schon früher und in anderen Industrien. Die eigentliche Neuheit Fords bestand im Gegensatz zu Taylor darin, dass für ihn Massenproduktion auch die Notwendigkeit der Massenkonsumation bedeutete, ein neues System der Re­ produktion der Arbeitskraft, eine neue Politik der Arbeitskontrolle und des Manage­ ments, eine neue Ästhetik und Psychologie, kurzum eine neue Art moderner, rationa­ lisierter und populistischer demokratischer Gesellschaft.17

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Kautschukplantage für die Herstellung der Reifen zu errichten18. Zugleich wurde eine amerikanische Kleinstadt für 8.000 einheimische Arbeiter mit Kraftwerk, Schwimm­ bad, Kino, Feuerwehr und einem Krankenhaus errichtet. Die Produkte sollten nach São Paulo, wo sich eine Ford­Fabrik befand, und weiter in die Welt verschifft werden. Die Gummiplantage wurde aufgrund falscher Bepflanzung nie ein Erfolg. Auch konnten sich die einheimischen Arbeiter nicht an die Arbeitsbedingungen gewöhnen. Sie sollten wie in einer amerikanischen Kleinstadt leben, zum Beispiel Ausweiskarten tragen, Arbeitszeiten wie in Nordamerika (von 6 bis 15 Uhr) einhalten und sich an die amerikanische Lebensweise gewöhnen, inklusive amerikanischem Essen, wie Ham­ burger, und einem Rauch­ und Alkoholverbot. 1930 gab es einen Aufstand, der sich ge­ gen die vorgeschriebenen Lebens­ und Ernährungsregeln wandte. Dieser wurde von brasilianischem Militär niedergeschlagen, die amerikanischen Manager hatten sich vorübergehend in den Dschungel geflüchtet. Als Anfang der 1940er Jahre Gummi durch ein neues Verfahren synthetisch hergestellt werden konnte, wurde die Plantage sofort geschlossen, die Stadt für wenig Geld an den Staat verkauft. Le Corbusier. La Cité Contemporaine Der erste Plan von Le Corbusiers La Cité Contemporaine war ganz im Geiste Saint­ Simons verfasst, indem damit auf einen Schlag alle von ihm aufgeworfenen sozia­ len Probleme der Gegenwart und der Industriegesellschaft gelöst werden sollten. Le Corbusier wollte ein totales environment schaffen, das den Menschen, die Maschine und die Natur umfassen würde, und er wollte zugleich die Grundprinzipien des da­ für nötigen Designs entwickeln.19 Sein Plan war nicht durch den Pragmatismus vieler Bauhaus­Architekten, die für die sozialistische Partei arbeiteten und keine Idealstadt planten, eingeschränkt, sondern er dachte an eine völlig alternative Gesellschaft, die zunächst in seiner Imagination Form annehmen sollte, ehe sie in die Realität treten würde. Die zeitgenössische Stadt für drei Millionen Einwohner sollte die Hinterlassen­ schaft einer toten Ära hinwegfegen und den kollektiven Geist und bürgerlichen Stolz ausdrücken, die strahlende Stunde der Harmonie, Konstruktion und Enthusiasmus war gekommen. Sein Ziel bestand in der Formulierung der fundamentalen Prinzipien des Urbanismus, die Generierung einer Regel nach der dieses Spiel gespielt werden kann.20 Ordnung wird durch reine Formen ausgedrückt. Die Cité contemporaine ist ein per­ fektes, symmetrisches Gitter von Straßen, wo der rechte Winkel regiert. Zwei große Autobahnen bilden die großen Achsen, sie schneiden einander exakt im Zentrum der Stadt. Alles ist nach seiner Funktion klassifiziert. Industrie, Wohnen und Büros be­ setzen jeweils einen anderen Sektor. Die verschiedenen Funktionen werden zunächst analytisch getrennt, dann zu verschiedenen Zonen zugeordnet, um abschließend wie­ der miteinander verbunden zu werden. Das Transportsystem sorgt für das Leben der Stadt, die Gesundheit der Stadt besteht in ihrer Kapazität für Geschwindigkeit.21 Dafür wurde ein komplexes Transportsystem geschaffen. Autobahnen, Schnell­ straßen, Zubringerstraßen, Fahrrad­ und Fußgängerwege. In der Mitte ist die Kreu­ zung der Autobahnen und darüber steht der Hauptbahnhof auf riesigen Stützen. Im Zentrum befindet sich also weder eine Kathedrale noch ein ziviles Monument, es dient lediglich den Menschen von dort woanders hin zu gehen, es ist ein reines Symbol des Austausches, des Austausches von Informationen, Talenten, Freuden. Nur die Kon­ 300

Dieser zentrale Terminal wird von 24 Wolkenkratzern, Stahl­Glaskonstruktio­ nen umgeben, jeweils 60 Stock hoch. Sie beherbergen das Geschäftszentrum der Cité Contemporaine, dem Gehirn der Region. Die symmetrisch geordneten Wolkenkratzer repräsentieren Le Corbusiers mutigsten und originellsten Beitrag zum Urbanismus.22 Jeder steht frei in einem großen Park. Damit ist das Problem der Korridorstraßen ge­ löst, weil es keine verstopften Anrainerstraßen mehr gibt. Die Straßen sind nun durch die Aufzüge ersetzt worden, indem sie vertikal hinaufführen, anstatt sich horizontal nach allen Seiten hin auszubreiten. Der Wolkenkratzer mag sogar mehr nutzbare Flä­ che als ein ganzes Viertel haben, er benötigt dafür nur etwas mehr als die Grundfläche eines alten Gebäudes. Das Geschäftszentrum ist wesentlich konzentrierter als in den überbevölkerten Bezirken von Paris, aber ungleich weniger überfüllt. Jeder Arbeits­ platz ist von Licht und Luft durchflutet. Obwohl 5 –8.000 Menschen in den 24 Hoch­ häusern arbeiten, bedecken diese doch weniger als 15 Prozent des Grundes. Der Rest ist Parks und Gärten gewidmet. Daher gilt: „In Zukunft wird der Park nicht in der Stadt, sondern die Stadt im Park sein.“ 23 Mit dem Hochhaus können die Gegensätze des städ­ tischen Designs umfasst werden. Dichte und offener Raum zugleich, aber nicht als Kompromiss, sondern als triumphierende Bestätigung beider. Zugleich wird der Triumph der Rationalität eines neuen Zeitalters angekündigt. Die Hochhäuser dienen als Hauptquartiere der Bürokratie, die Stadt ist primär eine Stadt der Verwaltung. In diesen Büros befindet sich das Gehirn der Stadt, hier wird die Leitung und Planung vollzogen, von der alle Aktivitäten abhängen. Alles ist kon­ zentriert. Die Werkzeuge mit denen Raum und Zeit erobert werden, wie Telefon, Tele­ graph, Radio, Banken, Handelshäuser, die Entscheidungsorgane der Fabriken, Finan­ zen, Technologien, Handel. Hier befindet sich das Zentrum der Macht, hier sind die Hauptquartiere der In­ dustrie und des Intellekts.24 Politiker werden nur am Rande erwähnt. Gleich ob Kapitalismus oder Kommunismus, die Elite des Landes soll die verant­ wortlichen Positionen übernehmen. Die Ähnlichkeit mit Saint­Simons Système Indus­ triel ist evident, die Neuordnung der Gesellschaft verläuft über eine durch die Industrie geprägte soziale Ordnung, die von einer verantwortungsbewussten Elite gesteuert wird, die Verwaltung der Güter ersetzt die Regierung der Menschen. Auch in der Wohnfrage steht Le Corbusier in der Tradition Saint­Simons, indem er die Notwendigkeit ordentlicher Wohnungen betont. Die Hauptfrage ist für ihn daher die Massenproduktion des Hauses. In der Cité Contemporaine sind alle Häuser mas­ senproduziert, aber dennoch nicht alle gleich. Während die Elite die luxuriösen hoch­ gelegenen Apartments in der Stadt bewohnt, besetzen die Untergeordneten bescheide­ nere Gartenapartments in den Satellitenstädten der Außenbezirke, eine Entsprechung der sozialen Funktion. Die Wohnungen der Elite sind Apartements, die einem Haus mit zwei Ebenen entsprechen, das als Ganzes in den Rahmen des Apartmentblocks hineingeschoben wird. Jedes Apartment verfügt über eine Terrasse, auf dem Dach je­ des Blocks befindet sich ein „Gymnasium“ für Sportaktivitäten. Ein komplexes Ange­ bot an Dienstleistungen vervollständigt diesen Service. Ein 24­Stunden­Bedienungs­

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zentration einer Metropolis kann eine derartige Menge an kreativen Gegenpositionen vereinigen, die die wahre Erhellung durch die Stadt bewirkt. Daher steht der Bahnhof in der Mitte, denn wo alles in Bewegung ist, ist die Geschwindigkeit die einzige Kon­ stante.

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service, eine private Reinigung, eine Gourmet­Küche mit Zimmerservice oder Dinner im Speisesaal. Das Vorbild ist wiederum der Ozeandampfer mit all seinen Leistungen und jedem erdenklichen Luxus, über den ein Individuum nur verfügen kann. Le Corbusier hielt diese Wohnhäuser auch für das Zentrum eines nachbarschaft­ lichen Lebens. Er glaubte nicht, dass jemand aus der „Unpersönlichkeit“ der Stadt flüchten würde. Diese Elite bestünde aus den geborenen Stadtbewohnern, die über diese riesige Zahl an Begegnungsmöglichkeiten der zeitgenössischen Stadt froh seien. Geschäfts­ und Privatleben würden zugleich durch Austausch und Kommunikation bereichert werden. Daher platzierte er auch das Kultur­ und Unterhaltungszentrum in den Bereich der Verwaltung. Le Corbusier ging von der nicht unrealistischen Annahme aus, dass eine Hierarchie der Funktionen auch eine Hierarchie der Privilegien bedeutet. Interessant ist jedoch der Umstand, dass es kein persönliches Eigentum an diesen Wohnungen gibt, weil sie sich alle im Besitz der Gesellschaften und Organisationen befinden. Niemand in der Stadt kann sich ein eigenes Haus bauen, oder das Land, das er besetzt, kaufen. Aus heutiger Sicht muten diese kollektivistischen Bedingungen eines Neo­Saint­Simonis­ mus merkwürdig an, waren jedoch zu ihrer Zeit weit verbreitet. Gesellschaftliche Ord­ nung wurde kaum aus der Sicht von Individualisten gedacht und persönliche Freihei­ ten als nachrangig erachtet, allerdings immer mit Bezug auf eine höhere Ordnung, die bei Saint­Simon immer noch durch ein neues Christentum repräsentiert wurde. Bei Le Corbusier gibt es zwar einen starken innerlichen Bezug zum Mönchswesen und seiner Asketik, allerdings wurde dieser eher ästhetisch als religiös aufgefasst. Die politische Bedenklichkeit und gefährliche Nähe all dieser Bewegungen zum Totalitarismus wur­ de erst im Nachhinein erkannt. Die individuellen Privilegien existieren für Le Corbusier nur als Teil einer kollek­ tiven Ordnung. Daher sind auch die Proletarier Teil dieser Ordnung. Immer wieder ver­ weist er voller Stolz auf die Kabine des Luxusdampfers, die zwar kleiner als das WC eines reichen Mannes ist, aber den Bedürfnissen aufgrund der perfekten Organisation und des Designs viel besser entspricht. Anstelle isolierter Cottages, die von Gärten um­ geben sind, gruppiert er die einzelnen Wohnungen zu größeren Einheiten. Dort erwar­ tete die Bewohner ein Leben im vollen Sonnenschein, der durch die offenen Fenster­ bänder einstrahlte. Das Design der Satellitenstädte kündigte die kollektive Ordnung eines neuen Zeit­ alters an. Die alte Cottage­Philosophie der Arbeitersiedlungen, wo Häuser auch in Eigentum überführt werden konnten, damit die Arbeiterschaft selbst Teilhaber der bürgerlichen Gesellschaft werden konnte, sollte durch modernere Methoden zur Siche­ rung gesellschaftlicher Stabilität abgelöst werden. Le Corbusier verachtete die Wieder­ gewöhnung des Proletariertums an die Scholle, weil damit deren rebellische Qualitä­ ten verloren gingen. Er wollte aus Arbeitern weder Freizeitbauer noch Künstler machen. Er stellte dem anstrengenden Arbeitstag einfach einen ebensolchen produktiven Achtstundentag der Freizeit entgegen. Die Satellitenstädte waren daher auch Städte der Freizeit, um die Arbeit durch Komfort und Fülle zu kompensieren. Ein reizvolles Angebot für das Fami­ lienleben der Arbeiter wurde gemacht: Eine Fülle an Gelegenheiten zum Sporttreiben und zu anderen physischen Aktivitäten, ebenso für Handwerk und andere Hobbys, so­ wie Klubhäuser, Tanzhallen und Cafés. 302

Eine Gegenwelt zur Arbeit sollte durch eine Welt des Spiels entstehen, um die Kreativität der Arbeiter zu restaurieren und sie damit unabhängig zu machen. Le Corbusier glaubte tatsächlich an soziale Synthesis durch Architektur und erteilte damit dem Urbanismus eine Ermächtigung zur Reparatur der Gesellschaft durch Architektur. Die Cité Contemporaine ist eine Stadt, in der kollektive Ordnung und individuelle Freizeit trotz ihrer Gegensätzlichkeit vereinigt werden können. Zum Ver-

1 David Harvey, Postmodernism, Blackwell, Malden/ MIT Press, Cambridge/ MA 1982 , S. 195. 15 Steven Watts, USA /Oxford/ UK 1990, S. 127. 2 Harvey (wie Anm. 1), The People’s Tycoon: Henry Ford and the American CenS. 125. 3 Ebd. 4 Leonardo Benevolo, Geschichte der Ar- tury, Vintage Books, New York 2006 . 16 Harvey (wie chitektur des 19. und 20. Jahrhunderts, Bd. 2, dtv, Mün- Anm. 1) 17 Ebd. 18 Watts (wie Anm. 15) 19 Fishman chen 1988 , S. 167 – 172 . 5 Platon, Politeia. Sämtliche (wie Anm. 14), S. 189. 20 Le Corbusier, Urbanisme, Crès, Werke, Bd. 5., Insel, Frankfurt/Main 1991, 519 d. 6 Ebd., Paris 1925 , S. 158 . 21 Ebd., S. 169. 22 Fishman (wie 522 c – 530 e. 7 Richard Sennett, Autorität, Kap. 2, Fischer, Anm. 14), S. 191. 23 Summerson 1963, Heavenly Mansions, Frankfurt/Main 1985 . 8 Ebd. 9 Ebd., S. 90. 10 Ernst W. W. Norton & Company, New York, London,(first publisBloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 2 , Suhrkamp, Frank- hed in the Norton Library 1963) S. 191. 24 Le Corbusier furt/Main 1976 , S. 658 . 11 Ebd., S. 661. 12 Dirk Kaes- (wie Anm. 20), S. 177. 25 Le Corbusier, Précisions sur un ler, Klassiker der Soziologie, Bd. 1, C. H. Beck, München état présent de l’architecture et de l’urbanisme, Crès, Pa2002 , S. 47. 13 Bloch (wie Anm. 10), S. 662 . 14 Ro- ris 1930; zit. nach Fishman, 1982, S. 202. 26 Ebd. bert Fishman, Urban Utopias in the Twentieth Century,

Fordismus als Paternalismus und Urbanismus

ständnis dieser Logik ist auf einen Text zu verweisen, in dem Le Corbusier beschreibt, dass das Leben zwischen den zwei Polen des Sublimen fließt.25 Der eine Pol repräsentiert individuelle Größe, also das, was der Mensch allein macht, und bedeutet für ihn das Außergewöhnliche, das Bewegende, der heilige Akt der individuellen Rekreation, der andere Pol repräsentiert Ordnung, Führerschaft, zivile Aktion, also das, was der Mensch, der in Städten oder Nationen tätig ist, mit der großen Kraft der Kollektivität bewältigt. Dieses merkwürdige, aber nicht völlig unplausible Konzept einer Vereinigung zwischen dem individuellen und dem kollektiven Leben beruht auf seiner Begeisterung für mönchische Ideale, die auf die beiden Pfade des Sublimen verweisen. Diese beiden Pfade treffen sich für ihn in der zeitgenössischen Stadt.26

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Abb. 14: Robert Delaunay, Der Eiffelturm/La Tour rouge (1911). Das Bild entsteht zu Beginn von Delaunays kubistischer Phase und zeigt den Versuch einer Darstellung der Zeit durch die Fragmentierung des Raumes.

Fordismus als ökonomischer Aufstieg und kulturelle Krise Die erfolglose Eingangsphase in der Zwischenkriegszeit Die erfolgreiche Einrichtung und Entfaltung des fordistischen Systems dauerte Jahr­ zehnte und beinhaltet eine langwierige und komplizierte Geschichte. Anfängliche Ver­ suche fielen in die Ära der Depression der Zwischenkriegszeit und hatten eher den Cha­ rakter politischer Rettungsversuche ohne substantielle Fundierung. Der eigentliche Durchbruch gelang erst in der Nachkriegszeit, die vorbereitende Einstimmung – so un­ erfreulich es klingen mag – durch die Rüstungsindustrie des Zweiten Weltkriegs, die sämtliche Widerstände gegen das Fließband aufgrund der allgemeinen Mobilisierung zu brechen vermochte, weil die üblichen Einwände nicht mehr geltend gemacht wer­ den konnten. Warum aber konnte sich der Fordismus, trotz des erfolgreichen amerikanischen Modells in den Zwischenkriegsjahren nicht durchsetzen? Zwei zentrale Hindernisse standen der erfolgreichen Verbreitung des Fordismus in Europa im Wege.1 Einerseits war die Lage der Klassenverhältnisse im Kapitalismus nicht unbedingt einer leichten Akzeptanz eines Produktionssystems förderlich, das auf einer strengen Sozialisation – manche sprechen auch von einer Disziplinierung – der Arbeitskraft be­ ruhte, die diese zu einem langen Arbeitstag und einer völlig routinisierten Arbeit zwang. Traditionelle Handwerkskenntnisse waren unnötig, Einflussnahme auf das Arbeitspro­ dukt oder den Arbeitsprozess durch den Arbeiter und die Arbeiterin kamen kaum in Frage. Ford hatte sich bei der Einrichtung des Fließbandes immer schon auf die Arbeits­ kraft der Immigranten verlassen, deren Motivation nun nachließ, während die heimi­ schen Arbeiter diesem System ohnehin feindlich gegenüberstanden. Der Taylorismus wurde trotz der imponierenden Umsatzziffern Fords in Amerika weitgehend abgelehnt und die Opposition der Arbeiter verhinderte die Implantierung derartiger Techniken in den meisten Industrien trotz des kontinuierlichen Migrantenstromes und strengen Arbeitsmarktes und der Rekrutierung neuer Arbeiterschichten aus den ländlichen Ge­ genden Amerikas. In Europa waren die Gewerkschaften zu stark und die Immigration zu schwach, um dessen Einführung trotz einer prinzipiellen Akzeptanz zu ermöglichen. In dieser Hinsicht bedeutete das Buch von Henri Fayol Administration industrielle et gé­ nerale für Europa wesentlich mehr als Taylors Schriften, die wiederum in der Sowjet­ union großen Anklang fanden. Fayol legte wesentlich mehr Wert auf die Strukturen der Organisation und die hierarchische Ordnung der Autorität und des Informationsstroms als Taylors horizontaler Fluß des Produktionsprozesses. In Europa gab es in der Autoin­ dustrie kaum Massenfertigung auf der Basis von Fließbandarbeit, mit Ausnahme von Fiat, weil man nicht für den Massenkonsum, sondern Luxusautos für eine Oberschicht produzierte, was entsprechend ausgebildete und qualifizierte Arbeiter verlangte. Erst durch die Veränderung der Klassenverhältnisse konnte nach Beginn des Zweiten Welt­ krieges der Fordismus Einzug halten. Die zweite Barriere, die überwunden werden musste, bestand in den hergebrachten Weisen der staatlichen Intervention. Erst der Schock der Depression der 30er Jahre und 305

der beinahe erfolgte Zusammenbruch des Kapitalismus führten zu einem Umdenken der Regierungen und zu neuen Überlegungen staatlicher Regulierung, die den Anfor­ derungen des Fordismus besser entsprach. Der Grund der Krise schien eher in einem tiefen Mangel an Nachfrage für Produkte zu bestehen, als in der Notwendigkeit der Ein­ führung neuer Produktionstechniken. Harvey weist darauf hin, dass man im Rückblick die Gefahren der nationalsozialistischen Regimes anders einschätzt, aber angesichts der damals allgegenwärtigen Drohung eines Wirtschaftskollapses, die durch das Ver­ sagen der demokratischen Staaten manifest wurde, kann man sich die Attraktivität ei­ ner politischen Lösung besser vorstellen, die die Arbeiter an ein neues und effizientes Produktionssystem anpasste und Überschusskapazitäten in produktive Ausweitungen der Infrastruktur investierte.2 Zahlreiche Intellektuelle3 befürworteten diese neuen Lö­ sungen, die in Japan, Italien und Deutschland angewandt wurden (abgesehen von den mythologischen, militärischen und rassistischen Untertönen) und in der gleichen Wei­ se auch den New Deal von Roosevelt, der, als der gleichen Kategorie angehörig, eben­ so positiv beurteilt wurde. Der demokratische Stillstand der 20er Jahre musste durch eine Mischung aus staatlichem Autoritarismus und Interventionalismus überwunden werden, obwohl es dafür kaum Modelle gab (vielleicht die Bonapartistischen Interven­ tionen im Seconde Empire in Frankreich oder die japanische Industrialisierung). Die Enttäuschung über die Unfähigkeit der demokratischen Regierungen zu einer umfas­ senden Modernisierung ließ auch Le Corbusier zum Syndikalismus und später zu auto­ ritären Systemen einschwenken, als den einzigen Kräften, die der Krise das Gesicht boten. Das zu jener Zeit schwer zu lösende Problem bestand darin, eine Reihe von wis­ senschaftlich gesicherten Maßnahmen zu Strategien zu entwickeln, die durch staat­ liche Unterstützung den Kapitalismus sicherten, und gleichzeitig die Repressionen und Irrationalitäten der nationalen und sozialistischen Bewegungen zu vermeiden. Der ökonomische Aufstieg nach 1945 Erst nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges konnte man ein sauberes Zusam­ menspiel der Kräfte und den Einsatz der staatlichen Macht gewährleisten. Der Fordis­ mus gelangte in dieser Phase nun zu seiner Reife und zu einem distinguierten Regime der Akkumulation, indem er für den Boom der Nachkriegszeit sorgte, der bis 1973 an­ hielt. In dieser Periode erzielte der Kapitalismus in den entwickelten Ländern starke und relativ stabile ökonomische Wachstumsraten. Der Lebensstandard stieg, Krisen konnten aufgefangen werden und die demokratische Entwicklung konnte weiterge­ hen, die Bedrohung eines Krieges zwischen kapitalistischen Ländern, wie sie noch in den Zwischenkriegszeiten bestand, wurde zunehmend unrealistisch. Fordismus wurde nun als eng mit Keynesianismus verbunden betrachtet. Der Auf­ stieg einer ganzen Reihe von Industrien mit hohem technologischen Niveau wie Auto, Schiffsbau, Transportausrüster, Stahl, Petrochemie, Elektrowaren und der Bau wurden zu den pulsierenden Motoren des Wachstums, die sich auf einige große Regionen der Weltwirtschaft, wie der Midwest der USA , Ruhr­ und Rheinland, die West Midlands von England und die Produktionsstandorte Tokio­Yokohama konzentrierten. Die privi­ legierten Arbeitskräfte dieser Regionen bildeten schnell eine ökonomische Säule mit wachsender und wirksamer Nachfrage. Eine zweite Säule kam durch den staatlich un­ terstützten Wiederaufbau der vom Krieg betroffenen Ökonomien, der Suburbanisierung vor allem in den USA , der Stadterneuerung, der Ausweitung der Transport­ und Kom­ 306

Arbeiterschichten zum Fließbandsystem, die großen Konzerne garantierten ein kon­ stantes Maß an Investitionen um die Produktivität zu erhöhen und der Staat erfüllte seine Verpflichtungen, indem er eine angemessene Steuer­ und Geldpolitik verfolgte. Der Fordismus der Nachkriegsjahre war mehr als ein System der Massenproduktion und auch mehr als ein way of life. Massenproduktion bedeutete auch Massenkonsum und daraus resultierte eine völlig neue Ästhetik und eine Kommodifizierung der Kul­ tur, die von manchen Kritikern wie Daniel Bell als schädlich für die Erhaltung der Arbeitsethik und für andere Tugenden der kapitalistischen Ethik bezeichnet wurden.4 Der Fordismus stützte sich aber auf die Ästhetik der Moderne, insbesondere auf de­ ren Neigung zu Funktionalismus und Effizienz, während die Formen des staatlichen Interventionalismus, die sich ebenso an den Prinzipien der Bürokratie und der techni­ schen Rationalität orientierten, auf einer komplizierten Balance zwischen Interessen­ gruppen unterschiedlicher Ausrichtung beruhten. Der Nachkriegsfordismus war auch eine internationale Angelegenheit, der lange Boom hing von einer massiven Expansion des Welthandels und des internationalen Investments ab. Der Marshall­Plan stellte in einigen Ländern wichtige Finanzen zur Verfügung und ermöglichte den USA auch eine Verlagerung der Überschusskapazitäten nach Europa, die Entstehung von Massenmärkten stabilisierte regionale Entwicklungsschwankun­ gen durch gleichmäßige Zyklen ebenso wurde der Rohstoff­ und Energiebedarf auf den neu entstehenden Weltmärkten gedeckt. Der Internationalismus brachte auch eine Reihe von weiteren Aktivitäten zur Blüte: Bankwesen, Versicherungen, Dienstleistun­ gen, Hotels, Flughäfen und Tourismus. Diese internationale Kultur ihrerseits konnte wiederum nur auf den neuen Kapazitäten der Informationssammlung und Verteilung aufbauen. All dies konnte sich nur unter dem Schutzschirm der finanziellen und wirtschaft­ lichen Hegemonie der Vereinigten Staaten vollziehen. Der Dollar war seit dem Bret­ ton­Woods­Abkommen die Leitwährung der Weltwirtschaft und eng mit der Geld­ und Fiskalpolitik der USA verbunden. Die einzelnen Staaten waren nun genötigt, eine ei­ gene komplementäre Politik unter Berücksichtigung eines Managements der Arbeits­ beziehungen, des Sozialstaates und der Investitionen zu vollziehen, während die USA quasi als Banker der Welt fungierten, um diese im Gegenzug für die Waren­ und Kapi­ talmärkte zu öffnen. Der Fordismus konnte sich nur im Rahmen einer internationalen Politik, einer wirtschaftlichen Regulierung und einer geopolitischen Konstellation un­

Fordismus als ökonomischer Aufstieg und kulturelle Krise

munikationssysteme und der Entwicklung der Infrastruktur innerhalb und außerhalb der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt zustande. Diese Kernregionen der Weltwirt­ schaft bezogen die Rohstoffe aus dem Rest der nichtkommunistischen Welt und konn­ ten damit den wachsenden homogenen Weltmarkt mit ihren Produkten beherrschen. Dieses phänomenale Wachstum hing aber auch von einer Reihe von Kompromis­ sen der wesentlichen Akteure des kapitalistischen Prozesses ab. Der Staat übernahm den Keynesianismus und baute neue Institutionen auf, die für eine ausgewogene Kräfteverteilung sorgten. Profit sollte ein gewisses Maß an sozialer Verträglichkeit aufweisen. Diese Balance der Macht zwischen den wesentlichen Kräften der Gewerk­ schaften, des Kapitals der großen Korporationen und des nationalen Staates war kein selbstverständliches Ergebnis, sondern hatte sich erst nach vielen Jahren des Konflikts ergeben. Die Gewerkschaften garantierten nun für die einwandfreie Einstellung der

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ter der Dominanz der Vereinigten Staaten und entsprechender Militärbündnisse und Allianzen entfalten und zu diesem lang anhaltenden Erfolg bringen. Kritische Anzeichen sozialer Verwerfung Freilich konnten nicht alle von den Vorteilen des Fordismus profitieren. Das hohe Lohnniveau konnte nur dort gehalten werden, wo eine hohe Nachfrage mit einer brei­ ten Investitionstätigkeit in die Technologie der Massenproduktion korrelierte. Andere Sektoren konnten nicht mithalten, und es erfolgte die Einteilung des Arbeitsmarktes in monopolitische und konkurrierende Strukturen, wobei letztere deutlich weniger gut gestellt waren. Diese Ungleichheiten erzeugten ernsthafte Spannungen, die Exkludier­ ten hatten oft genug den Nachteil einer bestimmten Ethnizität oder des Geschlechts. Privilegierte Arbeit war in den USA mit dem Status eines männlichen weißen Mannes, der Gewerkschaftsmitglied war, verbunden. andrerseits erzeugt die Entstehung der Konsumgesellschaft große Erwartungen und wer nicht gut in den Arbeitsmarkt in­ tegriert war, konnte auch wenig von den Segnungen der Konsumgesellschaft profitie­ ren. So ging die Bürgerrechtsbewegung in den USA als Ausdruck dieser Verhältnisse in einen zornigen Aufstand über, der die Innenstädte erschütterte. Da die Staaten nicht in die Verteilungspolitik eingriffen, musste über den Sozialstaat ein gewisser Ausgleich gefunden werden, der die Benachteiligten beschwichtigte und die Minderheiten beru­ higte. Wohnen, Schule und Gesundheitswesen mussten für alle zugänglich sein. Frei­ lich waren all diese Leistungen eines Keynesianismus nur durch ständige Verbesse­ rung in der Produktivität zu erzielen. Die kulturelle Krise des Urbanismus: Rationalismus versus Surrealismus Aber auch auf der Konsumentenseite kam Kritik an einer Form von Lebensqualität auf, die unter dem Regime einer standardisierten Massenproduktion stand. Ebenso gerie­ ten die Leistungen einer keinerlei Unterschiede machenden staatlichen Administra­ tion, die nur auf wissenschaftlich technischer Rationalität beruhte, unter schwere Kritik. Fordismus und Keynesianismus wurden mit einer sparsamen funktionalisti­ schen Ästhetik und rationalisiertem Design verbunden. Die Kritik an der Eintönigkeit der suburbanen Siedlungen und der Monumentalität der riesigen Blöcke und Hoch­ häuser in den Downtowns kam von einer sprachgewaltigen Minderheit, die ein großes Maß an kultureller Unzufriedenheit artikulierte. Jane Jacobs verfasste mit The Death and Life of Great American Cities das erste Buch, das mit der Kritik an den modernen Siedlungen ein großes Echo hervorrief. Das Paradigma des Neuen Bauens war für den Fordismus die kongeniale Unter­ stützung, weil damit die moderne Zweckrationalität perfekt unterstützt und bestätigt wurde.5 Wieder einmal der in diesem Zusammenhang unverzichtbare, weil als ein Pa­ radigma seiner selbst firmierende Le Corbusier: „Ein neuer Geist ist in der Welt 6, der Geist der Berechnung, des klaren Geschmacks, der ökonomischen Effizienz, der Ratio­ nalisierung. […] Sobald man jedoch von der Leidenschaft der Berechnung erfasst wird, befindet man sich in einem Zustand reiner Geistigkeit, und in diesem Zustand schlägt der Geschmack sichere Bahnen ein.“ 7 Der Platonismus der ideale Körper ist unüberseh­ bar: „Die Ingenieure verwenden, da sie auf dem Weg der Berechnung vorgehen, geo­ metrische Formen und befriedigen unsere Augen durch die Geometrie und unseren Geist durch die Mathematik. Ihre Werke sind auf dem Weg zur großen Kunst.“ 8 Über­ 308

tät, weil ihre Effizienz vollkommen ist. So würde sich bei einem Flugzeug jeder Fehler sofort rächen, es zählt daher zu jenen Ausleseprodukten, die der Weltkrieg hervorge­ bracht hat. Irrtum bedeutet hier Tod, das Flugzeug wurde durch Erfindungskraft, In­ telligenz und Kühnheit hervorgebracht, „Phantasie und Vernunft“10. Neues Bauen ist Zweckrationalität – auf höchstem ästhetischen Niveau, das sämt­ liche sozialen und politischen Probleme auf einen Schlag lösen könne. Man muss in diesem Zusammenhang nun aber auf den Surrealismus hinweisen, der in der Kunst das logische Gegenstück zu Le Corbusiers Haltung entwickelte. Die für die Stadt in die­ sem Zusammenhang relevante Bewegung in der Tradition des Surrealismus ist ohne Zweifel der Situationismus, wenngleich die relevanten Grundimpulse von den um eine Generation älteren Surrealisten ausgingen. Breton beklagt im surrealistischen Mani­ fest, dass alles der praktischen Notwendigkeit unterworfen werde, die Phantasie sich nur mehr nach den Gesetzen der Nützlichkeit betätigen könne, was als ein lichtloses Schicksal zu bewerten sei. Der Surrealismus möchte als Gegenbewegung der fragwür­ digen Zivilisierung die Kräfte der Phantasie, der Imagination und der Abweichung be­ freien und zur Geltung bringen. „Die Imagination ist vielleicht im Begriff, wieder in ihre alten Rechte einzutreten.“11 Freilich hatte er schon vor Jahren mit seinem Freund Louis Aragon, durch dessen Text über eine Pariser Passage Walter Benjamin nachhal­ tig verzaubert wurde, einen legendären Nachtspaziergang durch den Vorstadtpark der Buttes Chaumont unternommen, der im Paysan de Paris verewigt ist und als Vorläufer des dérive zu betrachten ist. Walter Benjamin war übrigens ein früher Kommentator, der die große Spannweite zwischen Neuem Bauen und dem Surrealismus erkannte und auch zu vermitteln suchte. „Breton und Le Corbusier umfassen – das hieße den Geist des gegenwärtigen Frankreich wie einen Bogen spannen, aus dem die Erkenntnis den Augenblick mitten ins Herz trifft.“12 Benjamin selbst steht zwar dem Surrealismus näher, als Anhänger chochafter Erkenntnis, aber kann auch der Transparenz des Neuen Bauens im Sinne seiner Theorie des Erwachens einiges abgewinnen. Der Surrealismus ist ein Gegenprogramm zum Neuen Bauen, gegen den fordisti­ schen Rationalismus, weil er den Verdacht einer Unterdrückung der wahren inneren Impulse des Lebens hegt und eine Verkümmerung befürchtet: Bei Guy Debord, dem theoretischen Kopf der Situationisten, die, wie gesagt, völlig in der Tradition des Sur­ realismus stehen, heißt das: „Das allgemeine Ziel muß die Erweiterung des nicht mittelmäßigen Teils des Le­ bens einerseits und die möglichst weitgehende Verringerung der leeren Augenblicke andrerseits sein. Man kann unser Einwirken auf das Verhalten als das Unternehmen einer quantitativen Steigerung des menschlichen Lebens ansehen, das ernstzuneh­ mender ist als die zur Zeit erforschten biologischen Verfahren.“13 Hier kommt noch das Motiv Nietzsches von der Steigerung des Lebens zum Ausdruck, das im Biologi­ schen wurzelt. Die von den Situationisten aufgebrachte Psychogeographie wiederum beruht auf dem Konnex der Surrealisten zur Psychoanalyse, weil man davon ausgeht dass bei stärkerer Betonung des Psychischen, auch des Automatismus und der Auf­

Fordismus als ökonomischer Aufstieg und kulturelle Krise

raschend ist jedoch die Lösung Le Corbusiers, denn er findet die Vorbilder nicht im Ideenhimmel, sondern in der Maschine: „Wir haben im Namen des Dampfschiffes, des Flugzeugs und des Autos unsere Stimmen erhoben für Gesundheit, Logik, Kühnheit, Harmonie und Vollkommenheit.“ 9 Die Maschine ist das Nonplusultra der Rationali­

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gabe der Kontrolle die eigentlichen menschlichen Kräfte, wie etwa die des Traumes, auf den Menschen einwirken können und ihn quasi als deren Medium in Anspruch nehmen.14 Darin steckt natürlich noch die alte romantische Denkfigur des Künstlers als Medium, die aber merkwürdigerweise auch bei Le Corbusier, wenngleich als eine der kosmischen Kräfte, anzutreffen ist. Insofern liegen die Wurzeln beider konträrer Bewegungen in der Kunstreligion der Romantik. Henri Lefebvres Kritik der Nouveaux Ensembles Urbains in Mourenx Guy Debords Einfluss auf Lefebvre ist bekannt und der damit angestoßene Urbanis­ musdiskurs manifestiert sich bekanntlich im Spätwerk Henri Lefebvres, das genau in dieser Phase des Fordismus einsetzt und zu seiner Zeit noch weniger bekannt, aber doch nachhaltiger wirksam wurde. Im siebten Präludium seiner „Notizen zur neuen Stadt“, verfasst im April 1960, zieht er einen Vergleich zwischen seinem alten Heimat­ städtchen Navarrenx und der nahe gelegenen neuen Stadt. Zunächst heißt es über Navarrenx, einen Marktflecken, der aus dem 14. Jahrhundert stammt und zwei Jahr­ hunderte später neu aufgebaut und von italienischen Wällen umgeben wurde: „Von Navarrenx kenne ich jeden Stein, von diesen Steinen lese ich die Jahrhunderte ab […].“15 So wie der Förster von den Baumringen das Alter abliest, ist die Geschichte von Jahr­ hunderten hier abgelagert, im Raum versammelt. Doch sprechen diese vergangenen Stimmen auch zu den Lebenden. Lefebvre vergleicht die Stadt mit einer Muschel, deren subtile und lesbare Entwick­ lung eine Symbiose zwischen ihrem physischen und sozialen Wachstum darstellt. Das Geheimnis der Stadt ist ihre organische Einheit, ihre Intimität, durch Stil und Funkti­ on. „Jedes Dorf und jedes Haus ist ein Werk für sich, in dem sich alles vermischt und vereinigt: Ziele, Funktionen, Formen Vergnügungen, Tätigkeiten.“ 16 Obwohl es Ansät­ ze zu verschiedenen Vierteln gibt, ist keines von den anderen abgetrennt. In Kontrast dazu das nur zehn Kilometer entfernte Mourenx, eine moderne Sied­ lung und Stadtgründung. „Ich komme an – und erschrecke.“17 Dabei wirkt die Stadt zu­ nächst nicht so übel: „Der Gesamtanlage fehlt es nicht an Schwung: die horizontalen und vertikalen Linien sind abwechslungsreich von Blocks und Türmen durchbrochen […] Die Wohnhäuser scheinen gut geplant und solide gebaut zu sein; man weiß daß sie den Bewohnern (dem Anschein nach zu geringsten Kosten) Bade­ und Waschräume, Trockenböden und helle Zimmer bieten, in denen die Mieter ihr Radio und ihren Fern­ seher aufstellen und nun in ihren eigenen vier Wänden die Welt draußen betrachten […] Der Staatskapitalismus macht bei uns seine Sache nicht schlecht. Den Technikern und Technokraten mangelt es nicht an gutem Willen, obschon dieser Wille überaus ge­ bieterisch ist. So recht ist nicht auszumachen, worin und wie der Staatssozialismus es anders und besser sollte machen könnte.“18 „Und dennoch packt mich jedes Mal aufs neue Entsetzen angesichts dieser Wohnmaschinen.“19 Es ist der Schrecken vor dieser Art eines neuen funktionalen Lebens, das cartesianisch geprägt, menschliche Tätig­ keiten in verschiedenste Abteilungen trennt, Zonen für alles einrichtet, funktionale Räume und atomisierte Individuen hervorbringt, die sich nach innen hin, von den an­ deren weg gewendet haben. Die Wohnhäuser sind technische Objekte und Maschinen. Als Marxist verdammt Lefebvre die Moderne nicht a priori, doch er stellt viele Fragen: Werden sie die Indi­ viduen einander näher bringen oder sie mehr trennen? Werden die Leute folgsam im 310

Einkaufszentrum einkaufen und im Sozialzentrum um Rat ansuchen, im Vergnügung­ szentrum spielen und im Verwaltungszentrum ihre Rechte als Bürger in Anspruch nehmen oder erfüllen? Kann sich das Funktionale einer organischen Realität einfü­ gen und entsprechend modifizieren? Alles steht im Zeichen der Funktion: Jedes Ob­ jekt ist durch seine Funktion definiert, dient ihr und teilt sie mit „bezeichnet sie und schreit sie hinaus. Endlos wiederholt es sich“.20 Davon wird die Gesellschaft als Ganze ergriffen, nur über die Funktion lässt sich soziale Existenz rechtfertigen. „Das nieder­ drückende, auf seine banalen Funktionen zurückgeschraubte und zugleich in der Zer­ stückelung der Gesten und der Wiederholung der Akte beinahe gänzlich aufgelöste Alltagsleben.“21 Die Gesellschaft hat ihren Fluss verloren, sie ist aus der Zeit herausge­ treten, sie lässt sich nur mehr durch systemische Algorithmen steuern. In Mourenx, diesem Prototypus der Moderne, dienen rationales Wissen und techno­

Robert Smithsons Besuch bei den Monumenten von Passaic, New Jersey Eine Besichtigung anderer Art, einige Jahre später, wurde vom Earth Art Künstler Pe­ ter Smithson gemacht. Ganz im Stil der Surrealisten beginnt er die Beschreibung sei­ nes Ausfluges zu den Monumenten von Passaic, New Jersey einer riesigen Baustelle zur Errichtung einer Vorstadt, die sich im Frühstadium der Erdarbeiten befand: „Am Sams­ tag, dem 30. September 1967 ging ich zum Port Authority Busbahnhof Ecke 41st Street und 8th Avenue. Ich kaufte die New York Times und ein Signet Taschenbuch mit dem Titel Earthworks von Brian W. Aldiss. Dann ging ich zum Fahrkartenschalter 21 und lös­ te eine einfache Fahrkarte nach Passaic. Danach stieg ich zur oberen Plattform, Bus­ steig 173 und in die Nummer 30 der Inter City Transportation […].“22 Nach der Lektüre der Kunstseiten der Times im Bus ist er gewissermaßen im Phantasieland zwischen englischen Möbeln des 18. Jahrhunderts, Allegorical Landscapes und Wachsskulptu­ ren, eingetaucht und Earthworks, offensichtlich ein Krimi, sorgt für eine weitere Ent­ fernung der Realität. So gelangt er zur Baustelle: „Am Ufer des Passaic standen viele kleine Monumen­ te, zum Beispiel Betonpfeiler, die den Seitenstreifen eines in Bau befindlichen neuen Highways abstützten. Der River Drive war teilweise wegplaniert, teilweise intakt. Man konnte den neuen Highway schwer von der alten Straße unterscheiden, beide waren zu einem einheitlichen Chaos geworden. Weil es Samstag war, waren viele Maschi­ nen nicht in Betrieb, und das ließ sie wie in Schlamm steckengebliebene, prähistori­ sche Kreaturen aussehen oder mehr noch wie ausgestorbene Maschinen – abgehäutete mechanische Dinosaurier. Am Rande dieses prähistorischen Maschinenzeitalters stan­ den Vorstadthäuser aus den Vor­ oder Nachkriegsjahren […].“ 23 Die archaisch wirkende

Fordismus als ökonomischer Aufstieg und kulturelle Krise

logische Begabung dazu, menschliche Bedürfnisse zu vereinheitlichen und – sowohl die Leute, als auch die Aktivitäten – im Namen der Effizienz und Profitabilität zur funk­ tionalen Teilung zu bringen. Aufteilung meint eine Teilung des Selbst, eine Spaltung des Bewusstseins, eine Unfähigkeit zur Verbindung mit dem Organischen und der Umwelt, ebenso wie eine Unfähigkeit zur holistischen Denkweise der Moments, jener Begriffkonstruktion Lefebvres, die es erlaubt, die Totalität des Lebens zu erfassen. Für Lefebvre sind Planer und Technokraten, ebenso wie Banker und Investoren die neu­ en Großinquisitoren, die finanziell und politisch von der Modernisierung profitieren, den Menschen Brot und Sicherheit versprechen und dabei klammheimlich ihrer Frei­ heit berauben.

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Landschaft wird von einer Rohrleitung durchzogen, die in einem rätselhaften Zusam­ menhang mit einem infernalischen aussehenden Brunnen steht, künstliche Krater bil­ den Teiche, aus denen sechs riesige Rohre ragen. Smithson beschreibt die riesige Bau­ stelle wie eine Landschaft voller Rätsel, die sich nicht verstehen lässt. „Ich war durch einen Film gelaufen, den ich nicht verstand, doch gerade als er mich völlig verwirrte, sah ich ein grünes Schild, das alles erklärte: YOUR HIGHWAY TAXES 21 AT WORK

Federal Highway Trust Funds 2,867,000

US Dept. of Commerce Bureau of Public Roads State Highway Funds 2,867,000

New Jersey State Highway Dept. Dieses Zero­Panorama war offenbar voller umgekehrter Ruinen – voller neuer Bau­ ten, die hier hingesetzt werden würden. Umgekehrte Ruinen sind das Gegenteil der ,romantischen Ruine‘ denn diese Bauten zerfallen nicht in Trümmer, nachdem sie ge­ baut wurden, sondern erheben sich zu Trümmern, bevor sie gebaut werden […] eine bo­ denlose Utopie, ein Ort, wo die Maschinen ruhen und die Sonne zu Glas geworden ist, und an dem Passaic Concrete Plant (253 River Drive) gute Geschäfte macht mit STEIN , BITUMIT, SAND und ZEMENT : Passaic scheint voller ,Löcher‘ zu sein, verglichen mit New York, das so dichtgedrängt und massiv wirkt, und diese Löcher sind gewisser­ maßen die Lehrstellen, die unbeabsichtigt die Erinnerungsspuren einer herrenlosen Zukunft nachzeichnen. Einer Zukunft, wie man sie in zweitklassigen Science Fiction Filmen findet, und wie sie dann in den Vorstädten imitiert wird. Die Schaufenster des Autohauses City Motors verkündeten, daß es die Zukunft wirklich gibt, mit 1968er BREITSPUR PONTIACS – Executive, Bonneville, Tempest, Grand Prix, GTO , Catalina und Le Mans […].“ 24 Anschließend gelangt er zu einem riesigen Parkplatz auf zugepflasterten Eisen­ bahngeleisen. „Nichts an diesem flachen Monument war interessant oder merkwür­ dig, und doch erinnerte es mich an die klischeeartige Vorstellung von der Unendlich­ keit. Vielleicht sind die ,Geheimnisse des Universums‘ genauso banal – um nicht zu sagen öde.“ 25 Die Unwirklichkeit der modernen Räume der urbanistischen Umgestal­ tung endet in philosophisch artistischen Spekulationen: „Die Zeit macht Metaphern zu Dingen und stapelt sie dann in den kühlen Räumen oder versetzt sie in die himm­ lischen Spielplätze der Vorstädte.“ 26 Unter Bezug auf die wenigen Lebenszeichen, die von den im verwüsteten Gelände spielenden, einander mit Steinen bewerfenden Kin­ dern ausgingen.

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Fordismus als ökonomischer Aufstieg und kulturelle Krise

1 Vgl. David Harvey, The Condition of Postmodernity, Kap. 8 , tion von Situationen“, in: Situationistische InternationaBlackwell, Cambridge/ MA /Oxford/ UK 1990. 2 Ebd., S. 129. le 1957 – 1972, hrsg. v. Museum moderner Kunst, Stiftung 3 Ebd., zitiert Schumpeter. 4 Ebd., S. 136 . 5 Vgl. déri- Ludwig Wien, Triton, Wien 1998 , S. 75. 14 Breton (wie ve 39, Serie Geschichte der Urbanität. 6 Le Corbusier, Anm. 11), S. 34 . 15 Henri Lefebvre, Einführung in die Mo1922 , Ausblick auf eine Architektur, Vieweg, Braun- dernität, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1978 , S. 140. 16 Ebd., schweig/Wiesbaden 1982 , S. 24 . 7 Ebd., S. 31. 8 Ebd., S. 141. 17 Ebd., S. 142 . 18 Ebd., S. 143 . 19 Ebd., S. 143 . S. 21. 9 Ebd., S. 33 . 10 Ebd., S. 89. 11 André Breton, 20 Ebd., S. 143 . 21 Ebd., S. 149. 22 Robert Smithson, „Zweites Manifest des Surrealismus“, in: ders., Die Mani- „Fahrt zu den Monumenten von Passaic“, New Jersey feste des Surrealismus, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1967, in: Walter Prigge (Hrsg.), Peripherie ist überall, 1968 , S. 15. 12 Walter Benjamin, „Das Passagen-Werk“, in: Campus, Frankfurt/Main/New York 1998 , S. 247. 23 Ebd., ders.,Gesammelte Schriften, Bd. V / 1, Suhrkamp, Frankfurt/ S. 249. 24 Ebd., S. 252 . 25 Ebd., S. 253 . 26 Smithson, Main 1991, S. 573. 13 Guy Debord, „Rapport zur Konstruk- a. a. O., S. 254 .

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New York Die urbane Mobilmachung 1920–1960. Selbststeigerung. Horizontale und vertikale Kinetik Robert Moses und die fordistische Intervention Jane Jacobs. Die Urbanistin mit dem ungebührlichen Verhalten

Abb. 15: Bildausschnitt aus: Joseph Stella, The Voice of the City of New York Interpreted: The Skyscrapers/Die Stimme der Stadt New York: Die Wolkenkratzer (1920/21). Im Zentrum des Bildes steht das berühmte, von Robert Burnham erbaute Flatiron-Building in New York, das einem das Wasser teilenden Schiffsrumpf gleicht, während im Hintergrund die Vibrationen der Wolkenkratzer eine elektrische Stimmung erzeugen.

Die urbane Mobilmachung 1920–1960. Selbststeigerung. Horizontale und vertikale Kinetik Eine Geschichte der Urbanität New Yorks im 20. Jahrhundert, die wohl auch paradig­ matisch für die moderne Metropolis in der westlichen Hemisphäre des Kapitalismus überhaupt ist, müsste sich an drei Abschnitten orientieren, die einerseits eng mitein­ ander verflochten, andrerseits aber durch strikte Gegensätze gekennzeichnet sind. In diesen drei Phasen vollzog sich die dialektische Entwicklung einer Stadt, die zunächst von der Erfahrung raschen Wachstums, extremer Überfüllung, Stockungen des Ver­ kehrs, überbordendem Luxus, wie auch partieller Verslumung ausging, aber mit un­ terschiedlichen Strategien dagegen ankämpfte, indem sie sich durch fordistische An­ leitung vom Status extremer Verdichtung und Geschlossenheit hin zu einer Öffnung durch Stadtautobahnen bewegte, um durch mehr Zirkulationsmöglichkeiten und Sied­ lungsbau ein Ausweichen in die Suburbs zu erlauben. Damit wurde nur ein Paradigma der Funktionstrennung der Moderne systematisch durchgezogen bis sich in den 1950er Jahren in der dritten Phase erstmals Widerstand der Bevölkerung regte, die gegen die extreme Beschleunigung und Modernisierung rebellierte und im Land des ungebro­ chenen Fortschrittsglaubens erstmals eine angewandte Kritik der Moderne formulier­ te und damit frühe Zeichen der kommenden Postmoderne setzte. Die Geschichte der Architektur und Stadtplanung der Moderne bezieht sich zu­ meist auf die Idee der Utopie und der Idealstadt, das Beispiel New York nimmt darin zumeist nur wenige Seiten ein. Man kann über die Gründe nur Vermutungen anstel­ len: Weil die dort formulierte Utopie für europäische Verhältnisse schwer übertragbar war, weil andere Elemente schon direkt oder indirekt in europäischen bzw. internatio­ nalen Konzepten enthalten waren. Oder weil das Konzept weniger in Begriffen des So­ zialen formuliert bzw. durch eine visuelle Rhetorik des Erhabenen ersetzt wurde, die eher auf Selbststeigerung und Selbstintensivierung ausgerichtet war. Dieser Schluss ergibt sich zumindest nach der Lektüre von Rem Koolhaas’ Delirious New York, der am ehesten die spezifische Form der Utopie New Yorks begriffen haben dürfte, indem er sie aus der Perspektive eines Deliriums, eines Bewusstseins der Verwirrung (de­lira­ re meint wörtlich aus der Furche geraten) heraus analysierte. Manhattism beruht auf ecstasy about architecture. Basis dafür ist eine urbanistische Ideologie der Hyper­Dich­ te, die aber nicht mehr den Glauben an deren Basis für eine wünschenswerte moderne Kultur aufrecht erhalten kann.1 Vielmehr wird dadurch eine Kultur der Dichte erzeugt, die die Voraussetzungen des Urbanismus und der Architektur Manhattans bilden. De­ ren Grundlagen sind eine Ideologie des Blocks als dem Element des Gitters und des Hochhauses als ein Instrument des Eskapismus vom Stau. Der unerhörte Druck der Menge erzeugt eine diffuse Sphäre der Angst, die auf unterschiedliche Weise bewäl­ tigt wird. Durch Mimesis einer Panikkultur, die einerseits auf eine ständige Steigerung der Angstlust und entsprechender Reize ausgerichtet ist, wie die sich permanent stei­ gernden Sensationen des Katastrophentheaters von Coney Island zeigen, und andrer­ seits die Notwendigkeit einer individuellen Entlastung im Apartment und idealerwei­ 317

se im Luxushotel mit sich bringen. Diese Erkenntnisse eines retroaktiven Manifests wird aus der Analyse der Vergangenheit New Yorks bezogen und soll auch Schlüsse zur Situation der Gegenwart liefern. Koolhaas bezeichnet die Methode der damaligen Architekten als metaphoric planing, die sich vor allem auf das Werk des „Delineators“ Hugh Ferriss mit seinen düster­erhabenen Kohlezeichnungen als Renderings stützt, aber auch von Harvey Wiley Corbett angewandt wurde, der mit dem Motto eines very modernized venice ebenfalls eine gewagte Metapher für New York entwickelte, näm­ lich als die eines modernen Venedig, das anstelle von Wasser durch das Fließen des Verkehrs eine ähnlich romantische Wirkung hervorrufen sollte. Dass man damals die­ se Flussmetapher des Verkehrs dermaßen ästhetisch wahrnehmen konnte, zeigt noch den Einfluss der modernen Kunst des Kinetismus auf die Alltagskultur. Der fundamen­ tale Wandel in der Anschauung zu diesen Fragen, der sich zwischen den 1920er Jahren und den 1960er Jahren in New York vollzogen hatte, wo sich zumindest eine Minder­ heit gegen die völlige Fragmentierung der Stadt in Greenwich Village wehrte, zeigt die kulturelle Entwicklung und wachsende Sensibilität gebildeter Bevölkerungsschich­ ten, die sich aber den Luxus eines Duplex­Apartments im Wolkenkratzer nicht leisten konnten und den eines Vorstadthauses nicht leisten wollten. In den beiden anschließenden Phasen wird die urbanistische Auseinandersetzung in der fordistischen Nachkriegsära von New York durch zwei konträre Persönlichkei­ ten symbolisiert, ein Konflikt gewissermaßen zwischen der größten Stadt der Welt auf der einen und dem größten Dorf der Welt (Greenwich Village) auf der anderen Sei­ te, zwischen der Macht des Geldes, sei es als privates oder öffentliches Kapital, und der Macht des öffentlichen Willens. Robert Moses als der große Baumeister und Stadtge­ stalter auf der einen und Jane Jacobs als die Theoretikerin und Aktivistin des Urbanis­ mus auf der anderen Seite.2 Für Moses war das Stadtleben ein unabänderliches Fak­ tum des modernen Lebens, das keineswegs dem guten Leben verpflichtet zu sein hatte. Denn es bedeutete für ihn die Unterwerfung des Individuums unter den kollektiven Willen, das mit Opfern verbunden sein konnte. Für Jane Jacobs bedeutete Stadtleben hingegen eine große Befreiung, eine kunstvolles Netz aus Individuen, Gebäuden und Straßen, ein Mosaik oder ein kunstvolles Geflecht, das sicher nicht der Vision einer ein­ zelnen Person zuzuordnen war und keinesfalls das Thema eines grand plans sein konn­ te. Aus ihrer Sicht wies New York, bzw. einige Teile davon Elemente einer postindustri­ ellen Utopie auf, die durch Rousseau’sche Gedanken inspiriert waren. Daher kommt es in der Phase zwei durch die Einsicht der Notwendigkeit einer Auf­ lösung des Staus zu den gigantischen Verkehrsplanungen des berühmten Stadtpla­ ners Robert Moses mit der Errichtung von zahlreichen großen Stadtautobahnen, die die unterschiedlichen Stadtteile New Yorks miteinander verbanden und die Gründung zahlreicher Vorstädte ermöglichten.3 Moses plante ganz im Geist der klassischen Mo­ derne, setzte auf eine Funktionstrennung der Stadt im Sinne Le Corbusiers, wo Arbeit, Wohnen und Freizeit an unterschiedlichen Orten stattfinden, die auch die entsprechen­ den Verkehrsverbindungen erforderlich machten. Daher führte er gelegentlich Auto­ bahnen durch die dicht besiedelte Stadt, was im Fall der Bronx den völligen Niedergang einleitete, weil die radikale Senkung der Wohnqualität eine Flucht der Mittelklasse zur Folge hatte, die nur durch den geförderten Zuzug von migrantischen Unterschichten und anderen unterprivilegierten Gruppen kompensiert werden konnte und aufgrund der hohen Arbeitslosenraten eine Kriminalisierung der Gegend begünstigte. 318

Die Aktivitäten Moses sind nur im Kontext des Fordismus zu verstehen, denn we­ der vorher noch nachher konnte eine einzelne Person über ein derartiges Pouvoir zur Errichtung von Straßen, Parkanlagen und Siedlungen verfügen. Der Staat verfügte durch die Initiative des New Deals, der durch die Anwendung der Keynesianischen

Wolkenkratzer. Vertikale Kinetik In den 1920er und 1930er Jahren glaubte man an die alleinige urbanistische Bewälti­ gung des Wachstums in Manhattan durch enorme Verdichtung mit Wolkenkratzern. Im Schwange des religiös fundierten Fortschrittsglauben dachte man an die Verwirk­ lichung der Utopie einer neuen Welt und wenn William Le Baron Jenney beim Entwurf des Home Insurance Buildings, das heute nur als mittelgroß eingestuft werden würde, verkündete, „dass wir in die Höhe bauen, um mit dem Turm von Babel zu wetteifern“ 5, so drückte er damit durchaus die gängige Meinung aus. Der Architekt sprach hier et­ was aus, das wohl im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung enthalten war. Denn man war sich einig, dass in New York ein neues Babylon entstehen sollte, dessen Er­ richtung aus ähnlichen Motiven der Flucht vor Chaos, Sünde und der Sprachverwir­ rung gespeist würde. Aus sozialer Perspektive bedeutete dies eine Manifestation des amerikanischen Mythos des individuellen Erfolges. Denn wie ließen sich Materialis­ mus und Metaphysik besser vereinigen als im Symbol des Wolkenkratzers, der die ein­ deutige Führung eines Nachweises ermöglichte, dass dem Tüchtigen die Welt und der Weg nach oben nun buchstäblich offen stehe. Dieser vertikale Archetypus der Welt­ kultur eignete sich nicht nur vorzüglich für die weltliche Bestätigung des protestan­ tischen Bewusstseins einer Auserwähltheit durch Werktreue, sondern gleichermaßen für die Realisierung technischer Phantasien, in der sich Kapitalinteressen und Poesie trafen und die nicht zuletzt als ein Ausdruck des nationalen Bewusstseins gefeiert wurde, in dem sich beides vereinte. Ebenso vollzog sich in New York aufgrund der Progressivität der Lebensformen eine soziale Neuformatierung des Individuums durch das Apartment, das auf diese Weise seine Ablösung von der Masse und den Gemeinschaftsbindungen nachdrück­ lich unter Beweis stellt. Der flexible Mensch der Moderne demonstrierte im Hochhaus die Selbständigkeit im Habitat. Das Apartmenthaus funktionierte auf der Basis der Stapelung von Wohneinheiten, übereinander und nebeneinander, die aber im Wesent­ lichen auf reiner Selbstversorgung und weitgehender Autarkie beruhen, bei Bedarf aber auch eine Lockerung der Isolierung zuließ. Im Wolkenkratzer wird dieses System noch ins Unerhörte gesteigert, mit zunehmender Wohnhöhe stieg auch die Autonomie und das Prestige, weil man auf diese Weise nachdrücklich dem Kollektiv entkommen war. Für den Wunsch nach Kontakten mit Menschen in ähnlicher oder höherer sozia­ ler Lage war in den meisten Wolkenkratzern durch Clubs, Restaurants oder Bars vor­ gesorgt, wobei man sich an den berühmten Hotels der Stadt orientierte.

Die urbane Mobilmachung 1920 – 1960. Selbststeigerung

Geldpolitik inspiriert war, über viel Geld, das er auch ausgab. Die dritte Phase setzt bereits in den späten 1950er Jahren ein, doch als Jane Jacobs mit The Death and Life of Great American Cities 4 das erste Buch verfasste, das eine fun­ damentale Kritik am Urbanismus der Moderne und der Stadtplanung formulierte, war auch ein entsprechender Text mit dem Charakter eines Manifests vorhanden. Darü­ ber hinaus verbreitete Jacobs eine Botschaft, die neben der Kritik an der Moderne vor allem durch kommunitaristische Züge charakterisiert war.

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Diese Situation Manhattans war aber gleichzeitig durch ein spezielles Phänomen charakterisiert, das von Koolhaas als eine Kultur der Stauung bezeichnet wird, weil diese Verdichtung New Yorks auch eine enorme Urbanisierung bewirkte. Gleichzeitig kann man annehmen, dass diese Kultur der Stauung auch Elemente einer Panikkultur barg, weil die Zusammenballung größerer Massen ohne libidinös fundierte Gemein­ samkeiten schnell zu Panikreaktionen führen konnte. Man vermag dies an verschiede­ nen Zeichen erkennen: Zum Beispiel die mimetische Lust der Bevölkerung New Yorks an den Attraktionen der zahlreichen Katastrophentheater in Coney Island und anderen ähnlich gelagerten Phänomenen lässt sich als Abwehrreaktion durch die Einnahme homöopathischer Dosen des Unglücks interpretieren. Die Antizipation der Katastro­ phe ist auch eine Voraussetzung der Selbstintensivierung in der panischen Kultur, weil man glaubt nur mehr durch extremen Dynamismus den Fortschritt aufrecht erhalten zu können, im Bewusstsein, dass dieser jederzeit von katastrophischen Einbrüchen bedroht sei. Im amerikanischen Modell New Yorks wird ein urbanistischer Initialstoß ausgeführt, der die Welt nachhaltig durchzitterte. Die kapitalistische Utopie wird nir­ gendwo drastischer vorgeführt. Ein sensibler Beobachter der Panikkultur war auch Salvadore Dali, der mit der PCM Methode (Paranoid Critical Methode) „die Eroberung des Irrationalen“ versuchte. An­ stelle von konventionellen Heilungsritualen zur Herstellung der Gesundheit versuch­ te er eine Art von künstlerischer Schocktherapie durch die Versetzung in paranoide Situationen. Das Ergebnis nach durchstandener Therapie sollte eine völlig neue Welt­ sicht und die Erkenntnis bisher unerkannter Probleme sein. Durch die synthetische Re­ produktion sollten die realen Dinge der Welt in ein Magnetfeld der Fakten eingetaucht werden, die analog zu Metallmolekülen ein Kollektiv durch einen kumulativen Zug bilden, der in eine Richtung weist.6 Wahrscheinlich beruht diese Methode auf einer authentischen Erfahrung, als er 1929 in London einen Vortrag im Taucheranzug hal­ ten wollte, um das Unbewusste zu symbolisieren, aber durch einen technischen Feh­ ler von der Luftzufuhr abgeschnitten wurde, was ihn beinahe das Leben kostete. Das Publikum konnte die manischen Rettungsversuche der Begleiter, denen die Öffnung des Helms nicht gelang, zwar beobachten, hielt die grotesken Bewegungen Dalis und der anderen für den Teil einer Inszenierung und klatschte frenetischen Beifall. So war Dali selbst zu einem Zeugen eines inneren Deliriums geworden, das er später künstle­ risch weiter ausschlachtete und zur Methode erhob.7 Die Moderne bricht in Gotham ein So waren in den späten 1920er Jahren die besten Architekturtheoretiker in Manhat­ tan versammelt, um für die Regional Plan Assoziation of New York die Richtlinien für die weitere Entwicklung zu bestimmen. Hier kam nun nach Kohlhaas ein interessan­ tes Phänomen zum Ausdruck. Obwohl derartige Aktivitäten wie die Erstellung eines Masterplanes im grellen Licht der Objektivität erscheinen, machte es den Eindruck, als ob die Bemühungen der Planer eher jenes Klima des Obskuren begünstigten, in dem sich der Wolkenkratzer erst richtig entfalten konnte. Diese komplexe Absicht ei­ ner Stimulation der allgemeinen urbanen Konfusion bei einem gleichzeitigen Lippen­ bekenntnis zur Klärung belegt nach Koolhaas, wohl in Anlehnung an Benjamins Theorie des Erwachens, den Übergang zwischen der ersten unbewussten Phase des Manhattism und der zweiten Phase der langsamen Bewusstwerdung. Man war sich 320

Überlegung, dass die künftige Schönheit und Romantik New Yorks durch eine poeti­ sche Vision ausgedrückt werden müsse. So bezeichnete Monroe J. Hewlett die Stadt als „ein Venedig, das in Arbeit ist“ 8 also eine Vision der Errichtung Venedigs in seiner Blütezeit und gab damit nicht nur den programmatischen Rahmen für die Planungen, sondern auch einen Hinweis auf die Notwendigkeit poetischer Qualitäten des Urba­ nismus vor. Das Bemerkenswerte daran ist die Abkehr von den üblichen Modellen, die an demokratischen Bürgertugenden, dem öffentlichen Raum, an Monumenten zur Er­ innerung orientiert sind, oder auch vom üblichen Optimismus der Moderne und sei­ nen Gartenstadt­ und Siedlungsmodellen, mitsamt deren Bezug zu den Heilungskräf­ ten der Natur und der vermeintlichen besonderen sozialen Qualitäten abweichen und die Wendung zu einem romantischen plan noir, dessen Wurzeln in den Architektur­ phantasien der Romantik zu suchen sind.9 Es liegt auf der Hand, dass diese unkonventionelle Herangehensweise zur Planung auch entsprechende Methoden der Darstellung benötigte, denn die klassischen Blue­ prints hätten wohl nicht den poetischen Ausdruck überzeugend vermittelt. Es lag an den Kohlezeichnungen und der Wirkung des Chiaroscuro von Hugh Ferriss, dass die Intentionen der Planer künstlerisch adäquat umgesetzt wurden. Ferriss’ Werke waren vorrangig für ein breites Publikum oder Investoren gedacht. Er galt als so genannter Delineator, der technische Zeichnungen in bildliche Repräsentationen umwandelte, was in mancher Hinsicht den modernen renderings entspricht. Er arbeitete zunächst für Cass Gilbert, der das berühmte Woolworth Building entwarf, machte sich dann selbständig und wurde in den 1920er Jahren sehr bekannt, seine Zeichnungen erschie­ nen in den großen Zeitschriften wie Harpers Magazine und Vanity Fair. Seine Illustra­ tionen zu der Abtreppungsvorschrift von 1916 machten die komplizierte rechnerische Formel anschaulich und populär, sein bekanntestes Buch The Metropolis of Tomorrow10 erschien kurz vor der Wirtschaftskrise und dem Einsetzen der Depression. In seinen expressiven Bildern, in denen er die Beaux Arts Tradition mit futuris­ tischen Elementen und Art Deco vermischte, entwickelte Feriss entsprechend dem Rücksprunggesetz von 1916 (Zone Law) Studien von Wolkenkratzern, die trotz oder ge­ rade wegen ihrer Schemenhaftigkeit dem abstrakten Volumen Gestalt gaben und allge­ meine Anerkennung fanden. Die visionären Bildskulpturen erhielten durch die Technik des Kohlestifts ein hohes Maß an Expressivität und die Absenz von konkreten Details verstärkte den suggestiven Eindruck einer titanischen Raumbewältigung. Die Bauten wirkten wie gigantische Plastiken, die durch übermenschliche Kräfte emporgeschichtet worden sind. Der Lichteinfall aus unidentifizierbaren Quellen verstärkt diesen Eindruck einer Vision einer übermenschlichen Steinlandschaft, die an Radierungen von Piranesi erinnert. Diese Architekturphantasien sind von den Schatten eines Traumes erfüllt, in dem sämtliche Spuren einer Natur entfernt sind und dessen Gebäude in regloser Star­ re verharren. Der „Zikkurratstil“ mancher Gebäude und die Assoziationen der Ewigkeit durch Petrifizierung erinnern zweifellos an die antiken Vorbilder der Pyramide.

Die urbane Mobilmachung 1920 – 1960. Selbststeigerung

im Klaren darüber, dass der Wolkenkratzer das dominante Element der Stadtplanung der amerikanischen Großstädte darstellte und auch irgendwie menschlichen Bedürf­ nissen diente, aber es bestand Unklarheit darüber, ob er auch das zentrale Element des sozialen Lebens darstellte. Weil man wusste, dass der aktuelle Prozess der Stadt­ gestaltung mit dem fundamentalen Wandel durch den Abriss der niedrigen Gebäude und der zahlreichen anderen Behinderungen viel Unbill verursachte, kam man zur

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Dieses Licht aus nicht erkennbaren Lichtquellen, das die Düsternis des bewölkten Himmels hell perforiert, verheißt die Richtung der Erlösung. Die Bezeichnung eines Architekten von Gotham passte vorzüglich zu Ferriss, denn seine Zeichnungen konn­ ten eine bestimmte atmosphärische Verfasstheit Gothams perfekt erfassen. Die Erha­ benheit seiner Gebäude und die gigantischen Größenverhältnisse werden durch die Absenz von menschlichen Figuren unterstützt, niemand vermag zu erkennen, wer die­ se Monumente einer ungeheuren Macht errichtet hat, die übermenschlich erscheint und deren Ursprünge nicht zu bestimmen sind. Daher drängen sich Vergleiche wie der des Turmbaus von Babel auf, oder die Er­ innerung an die griechische Mythologie, als die Giganten Berge aufeinander türm­ ten, um den Olymp der Götter zu erstürmen. Man könnte noch weiter gehen und an jene Gebäude denken, die der Sage nach durch schwarze Magie und mit Hilfe des Teufels errichtet wurden, wie der Tempel und der Palast des Königs Salomon in Istachar­Persepolis. Auch die Freimaurer spielen in der Tradition eine Rolle durch die Gründungslegende des Baumeisters Adonhiram und seiner genealogischen Abstam­ mung von den Söhnen Kains, die als sehr kunstverständig und als von Satan beschützt galten. Der Konnex zu Piranesi ergibt sich jedenfalls durch eine hybride Baukunst, die die göttlich geordnete Welt durch eine luziferisch inspirierte ersetzen möchte, wozu sie seiner Hilfe bedarf. Die Unendlichkeit des Raumes, in dem sich diese Gebäude be­ finden, weist auch auf die Verkehrung des Paradieses hin, die einer verfehlten Macht­ vollkommenheit entstammt. Alles ist superbia, jene Ursünde, so sein zu wollen wie Gott, und spiegelt den Abfall Satans von Gott wieder, die aussichtslose Rivalität und die Weigerung, selbst im Moment der Niederwerfung keine Einsicht in sein Verbre­ chen zu zeigen.11 Horizontale Kinetik. „A very modernized Venice“ Die phantasierte Unendlichkeit des Raumes, die nur ein zentrales Element des ame­ rikanischen Gründungsmythos überhöht, kann nur durch eine entsprechende Zirku­ lation bewältigt werden, zu deren Motivation eine kinetische Wende erfolgen müsste. Die besondere Thematisierung im Kubismus, Futurismus und Kinetismus ist durch die Stromlinienform im Design zu ergänzen und wurde nicht nur an Fahrzeugen, sondern auch an Alltagsgegenständen und sogar Gebäuden erprobt. Als eines der Elemente des Art Decos galt das Streamlining eher als eine Form der Populärkultur.12 Der Designer Alexis de Sakhnoffsky, ein emigrierter russischer Fürst, schlug vor, den menschlichen Körper neu zu modellieren um ihn für die Gegenwart und Zukunft besser zu adap­ tieren. Zunächst seien die Zehen zu entfernen, weil wir diese nur für das Klettern auf Bäume brauchten, was heute überflüssig ist, und wunderschöne austauschbare stromlinienförmige Schuhe ermöglichen würde. Die Ohren wären quer zu drehen, stromlinienförmig in den Kopf zu stecken, sodass sie wie Hörschlitze aussähen. Auch die Nase wäre in Stromlinienform zu bringen. Haare wären nur noch zum Zweck der Akzentuierung und des Dekors da.13 Harvey Wiley Corbett entwickelte für Fußgänger ein kinetisches Schema für hoch­ liegende Wege mit Arkaden, während zugleich die gesamte Grundfläche der Stadt, die ein Chaos aller Arten von Transportmitteln enthielt, stufenweise auf einen Autover­ kehr umgestellt werden sollte. Bestimmte Abschnitte sollten dem Schnellverkehr ge­ widmet sein, um noch schneller durch die Stadt rasen zu können. Bei Bedarf an neuen 322

den benutzen, die aus den Gebäuden herausgeschnitzt worden waren und ein riesiges Netzwerk auf beiden Seiten der Straßen und Avenues bildeten, das durch Brücken un­ tereinander verknüpft wurde. Diese Arkaden wurden von Geschäften und anderen öf­ fentlichen Servicestellen gesäumt. Durch die Verdoppelung der Verkehrsflächen rech­ nete Corbett mit einer Ausweitung der Verkehrskapazität um 700 Prozent. Der Anblick dieser Stadt mit ihren Arkaden, Plazas und Brücken, mit ihren Kanälen für die Straße, die aber nicht mit richtigem Wasser, sondern mit frei fließendem Verkehr angefüllt waren, sollte den Eindruck eines very modernized Venice erzeugen, während die Sonne auf die schwarzen Dächer der Wägen schien und die Gebäude diese wogende Flut der rollenden Fahrzeuge widerspiegelten. Das aus heutiger Sicht Frappante an diesem Vorschlag: Die Lösung der Verkehrs­ probleme wurde hier in keiner Weise durch Eindämmung versucht, sondern im Gegen­ teil: Pragmatismus wurde durch eine Operation reiner Poesie ersetzt. Corbetts wah­ re Absicht ist eine Eskalation des Verkehrs zu einer derartigen Intensität, dass – wie bei einem Quantensprung – völlig neue Bedingungen hergestellt werden, die nun den Stau auf eine mysteriöse Weise ins Positive wenden. Weit von jeglicher Lösung des Problems entfernt, soll auf diese Weise die unverständliche Metropolis geordnet und interpretiert werden. Mit diesem Vorschlag und der Metapher eines very modernized Venice wird jeder Block zu einer Insel mit ihrem eigenen Leuchtturm, wie das Phantom­Haus von Ferriss. Manhattan würde auf diese Weise einen Archipel von 2.028 Inseln darstellen, den so genannten houses, die eine Art von mega village ergeben.14 Was Koolhaas ausdrücken möchte, ist, dass Ferriss, Corbett und die anderen Auto­ ren auf diese Weise eine besondere Methode des metaphoric planning entwickelten um auf „rationale Weise mit dem Irrationalen umzugehen“. „Sie wussten instinktiv, dass die Lösung der Probleme Manhattans den Selbstmord bedeuten würde, weil es eben gerade dank dieser Probleme existierte, es geradezu deren Aufgabe ist Probleme zu ver­ ursachen […] die einzige Lösung für Manhattan ist eine Fortsetzung seiner verrückten Geschichte, seines unaufhörlichen Vorwärtsfluges.“15 Die Planung musste demnach das Gegenteil des Objektiven darstellen, weil die explosive Substanz Manhattans nur durch eine Serie von metaphorischen Modellen dargestellt werden konnte, deren Ef­ fizienz gerade in ihrer Primitivität lag, weil sie als Ersatz für eine buchstäbliche Orga­ nisation in der Form „poetischer Kontrolle“ dienten. Corbetts very modernized Venice formulierte mittels metaphoric planning eine „todernste Matrix der Frivolität.“16 Eine Kultur der Dichte. Urbanität nach Koolhaas Essentielle Voraussetzung für die Realisierung dieser Metaphern im Gitterplan ist das Phänomen der Dichte (congestion), nur diese kann das super­house, das mega­village, the mountain und the very modernized automotive Venice hervorbringen. Zugleich werden all diese Metaphern von einer Kultur der Dichte (culture of congestion) begründet, die als das wahre Unternehmen der Architekten von Manhattan gelten kann. Daraus fol­ gert Koolhaas:17

Die urbane Mobilmachung 1920 – 1960. Selbststeigerung

Verkehrsflächen für Autos konnte man die Kanten der Gebäude auf der Grundfläche zurücksetzen. Auf einer höheren Ebene konnte man die Fußgängerwege mit Arka­

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1. Diese Struktur schlägt die Erschließung jedes Blocks durch eine einzelne Struk­ tur vor. Jedes Gebäude wird zu einem house, einem privaten Bereich, das wohl die Erweiterung von Hausgästen zulässt, aber keine Universalität in seinem An­ gebotsspektrum vorsieht. Jedes house repräsentiert einen eigenen Lebensstil und eine unterschiedliche Ideologie. 2. Auf jeder Etage wird die Kultur der Dichte neue und aufregende menschliche Aktivitäten in nicht vorwegnehmbaren Kombinationen herstellen. Phantasti­ sche Technologien machen je nach Bedürfnis die Reproduktion aller Situationen möglich, sowohl die der natürlichsten, als auch die der künstlichsten. 3. Jede Stadt in der Stadt wird so ihre eigenen Einwohner anziehen. 4. Jeder Wolkenkratzer stellt eine Insel des very modernized Venice dar. Koolhaas ergänzt diese Theorie des Blocks durch Überlegungen, die man als eine so­ ziale Theorie des Urbanismus bezeichnen könnte und die er exemplarisch belegt. So werden in den Wolkenkratzern der jeweiligen Blocks bestimmte urbanistische Funk­ tionen des öffentlichen Raumes erfüllt. Ein Paradebeispiel liefert das: Waldorf Astoria Hotel Es ist kein Zufall, dass als Folge der Auflösung der traditionellen Gesellschaft und So­ zialordnung gerade dem Hotel eine neue Rolle zukommt. Das moderne Schicksal, das zwischen Nomadentum und Schein, zufälligen Begegnungen und existenziellen Er­ fahrungen pendelt, verdichtet sich im Hotel dramatisch. Vor dem Hintergrund mo­ dernster Technologien des Services kreuzen sich die individuellen Schicksale auf ihren Karrierewegen. So kann das Hotel durch die Zusammenführung unterschiedlichster Personen eine exklusive Form des öffentlichen Raumes bereitstellen. William Waldorf Astor beabsichtigte mit seinem Hotel explizit einen Wandel in der urbanen Zivilisa­ tion Amerikas herbeizuführen, indem er aus einer Durchgangs­ und Übergangssta­ tion ein Zentrum des sozialen Lebens der Metropolis zu machen verstand. Dieser Effekt gelang ihm, indem er Services anbot, mit denen selbst reiche, individuelle Haushal­ te nicht mithalten konnten. Für die normalen Apartmentbesitzer gab es das Angebot von modernsten Räumen für Unterhaltung und sozialen Funktionen, und selbst für die Besitzer von Herrenhäusern bedeuteten die sophistischen Serviceleistungen eine Entlastung von der Logistik, die die Führung eines kleinen Palastes mit sich brachte. Täglich trafen sich zahlreiche Mitglieder der Gesellschaft und bildeten einen Salon der Exhibition und Einführung neuer Manieren. Beispielsweise konnten Frauen hier ohne Begleitung erscheinen und in der Öffentlichkeit rauchen. Das Hotel stellt das Phantasma einer Traumlandschaft dar, die eine überbordende Fülle für die Wahrnehmung bietet. Die drei untersten Stockwerke des Waldorf Astoria Hotels liefern einen wesentlichen Beitrag zur Unterhaltungskultur und eine Manife­ station des Konzepts eines very modernized Venice. Obwohl alle Räume leicht zugäng­ lich sind, sind sie nicht richtig öffentlich. Sie formen eher eine Abfolge von theatrali­ schen Wohnräumen, ein Interieur für die Hausgäste und Dauermieter Waldorfs, das Besucher erlaubt, aber das allgemeine Publikum ausschließt. Diese Wohnräume bil­ den einen der aufgeblasenen privaten Bereiche, die gemeinsam Manhattans venezia­ nisches System der Abgeschiedenheiten herstellen. Der erste Stock auf dem Level des Piano Nobile ist ein Labyrinth der Zirkulation, (die unaufhörlich währen sollte) die in 324

den Sert Room führt, der Lieblingsraum der interessantesten New Yorker […] dekoriert mit Wandbildern, die Episoden aus dem Leben des Don Quichotte zeigen – der Norse Grill – ein rustikaler skandinavischer Raum, an dessen Wänden die Orte sämtlicher Sportaktivitäten im Raum New York angezeigt werden – der Empire Room, der Jade

Downtown Athletic Club. A Machine for Metropolitan Bachelors Ein anderes Beispiel der Beschleunigungskultur bietet der 1931 errichtete Downtown Athletic Club, der als Zeichen für die Energetisierung des Körpers stand und in sei­ nem Angebot auch noch heute jeden Fitnessclub um Längen übertreffen würde. Selbst­ intensivierung zur Steigerung der Beweglichkeit bis zur Selbsterotisierung. Hier wur­ de der moderne Lebensstil und die Körperkultur als ein Ausdruck des amerikanischen Way of Life in faszinierender Weise demonstriert. Die allgemeine Kinetik musste auch den Körper entsprechend umformen, die Idee der Fitness wurde schließlich in Ame­ rika geboren. Auch hier spielte die soziale Aktivität, vor allem für die Angestellten der Wallstreet Finanzindustrie, eine wichtige Rolle. Auf 31 Stockwerken wurde ein Lebensstil vorgeführt, der als Gegenprogramm zur überverfeinerten Zivilisation dienen und gleichermaßen den Körper von den Schäden dieser Zivilisation restaurieren sollte. Die unteren Stockwerke waren den konventio­ nellen Sportarten gewidmet. Squash, Ballsport­ und Tennisplätze, Poolrooms und Um­ kleideräume. Aber beim Aufstieg in die oberen Zonen des Gebäudes konnte man Terri­ torien erkunden, die bisher dem Mann nicht offen gestanden waren. Man zog sich um,

Die urbane Mobilmachung 1920 – 1960. Selbststeigerung

Room und der Rose Room. Der dritte Stock ist ein System von miteinander verbun­ denen großen Räumen die in einen kolossalen Ballsaal münden, der auch als Theater dient. Für den Transport stehen 16 Personen­ und 15 Lastenaufzüge zur Verfügung.18 Der Bühnencharakter der großen Hotels führt zwangsläufig zum Aufkommen der Celebrity Kultur und ist ebenfalls eng mit dem Waldorf Astoria verbunden. Das Medi­ um des Balls ermöglicht Inszenierung, Tanzveranstaltungen zählen zu den großen ge­ selligen Vergnügungen, hier mit einem besonderen Sinn für Distinktion ausgestattet. Die über mehrere Jahrzehnte berühmte Klatschkolumnistin Elsa Maxwell, die schon damals über ein eigenes Gossip Magazin verfügte, wohnte seit der Wiedereröffnung im Hotel, wo sie auch ihre berühmten Parties und Kostümbälle veranstaltete. Ihre Herausforderung an das Hotel bestand im Verlangen nach außerordentlichen, prak­ tisch unerfüllbaren Leistungen. Der Ehrgeiz der Hotelleitung, verkörpert durch Capt­ ain Willy bestand darin, diese trotz ihrer Unmöglichkeit zu erfüllen. Als sie 1935 für ein Fest nur den Jade Room, mit seinem düsteren modernen Interieur, der an den Tempel von Karnak bei Luxor erinnert, buchen konnte, erklärte sie, dass sie eine Bauernhof­ party veranstalten möchte und verlangte das Unmögliche. Das Dekor sollte aus echten Apfelbäumen bestehen, mit Äpfeln daran, auch wenn man sie mit Nadeln befestigen müsse. Die riesigen Luster sollten mit Heu verdeckt werden. Wäscheleinen mit frischer Wäsche sollten gespannt werden, ein Bierbottich, und einen Stall mit echten Schafen, Kühen, Eseln, Hühnern, Schweinen, mitsamt einer Hilly Billy Band sollten aufgestellt werden. Die Erwiderung Captain Willys war nur ein: „Yes, Miss Maxwell, Certainly“. „Unmöglich“ so Maxwell „wie wolle er denn die Tiere in den dritten Stock des Waldorfs bringen?“ „Wir können für die Tiere Filzschuhe verwenden“ lautete die lakonische Ant­ wort Captain Willys. Im Mittelpunkt von Maxwells Party steht Molly, the Moët Cow. Eine Kuh, die auf der einen Seite Champagner und der anderen Seite Soda gibt.19

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legte Boxhandschuhe an und begab sich in einen Raum, der mit einer riesigen Anzahl an Punching Bags ausgerüstet war. Einige Schritte weiter stieß man wieder auf einen Umkleideraum, der mit einer Austernbar ausgestattet war. Der Metropolitan Bachelor konnte also nackt, nur mit Boxhandschuhen angetan, Austern schlürfen.20 Im 10. Stock gab es eine komplexe medizinische Station – alle Arten von Massage,

Abreibungen und Sonnenstudios. In einem anderen Raum sorgte ein ständig anwesender Arzt mit medizinischen Einläufen für eine Darmreinigung oder andere Behandlungen. Das 12. Stockwerk wurde von einem großen Bassin eingenommen, das in der Nacht von Unterwasserstrahlern ausgeleuchtet war. „Die Schwimmer schienen im Raum zu schweben, aufgehängt zwischen dem elektrischen Flackern der Wallstreet Türme und der Sterne, die sich im Hudson spiegelten.“21 Im 7. Stock war eine kompletter Golfplatz eingerichtet, mit einer englischen Golflandschaft mit Hügeln und Tälern, ein Fluss schlängelte sich durch das Gelände, echtes Gras, Bäume, alles wie aus wie auf einem echten Golfplatz. Die Etagen 12 –17 waren dem Essen, der Erholung und dem Socializing gewidmet, erst im 16. Stock durften die asketischen Hedonisten dem anderen Geschlecht begegnen, auf der Tanzfläche. Oberhalb, zwischen dem 20. und 35. Stock, gibt es nur mehr Schlafzimmer, wo der Bachelor während der Woche übernachten kann. Dieser Club ist mehr als ein Fitnesscenter, er ist ein Brutkasten der Moderne, wo sich Männer zu neuen Wesen selbst designen können, weil die Natur mit den Anforderungen der Realität hoffnungslos ins Hintertreffen geraten ist.22

1 Rem Koolhaas, Delirious New York, nai010 Publishers, (wie Anm. 1), S. 120. 9 Johann N. Schmid, Wolken-KratRotterdam 1994 , S. 10. 2 Robert A. M. Stern/Thomas Mel- zer. Ästhetik und Konstruktion, Dumont, Köln 1991, S. 178 . lins/David Fishman, New York 1960, Monicelli Press, New 10 Hugh Ferriss, The Metropolis of Tomorrow, WashYork 1995, Taschen, Köln 1997, Nachdruck, S. 37. 3 Vgl. burn, New York 1929 11 Nobert Miller, Archäologie des dérive 27, S. 42 – 44 . 4 Jane Jacobs, The Death and Life Traums, Kap. „Die Phantasie der Kerker“, dtv, München of Great American Cities, Penguin, London 1964 . 5 Tho- 1994 , S. 193 – 221. 12 Eva Weber, Art Deco in North Amemas A. P. van Leeuwen, The Skyward Trend of Thought: rica, Bison Books, London 1085 13 Koolhaas (wie Anm. 1), The Metaphysics of the American Skyscraper, MIT Press, S. 230. 14 Koolhaas (wie Anm. 1), S. 107. 15 Koolhaas Cambridge/ MA 1988 , S. 52 . 6 Koolhaas (wie Anm. 1), (wie Anm. 1), S. 122 . 16 Ebd. 17 Koolhaas (wie Anm. 1), S. 238 . 7 Salvador Dalí, Unabhängigkeitserklärung der S. 125 . 18 Koolhaas (wie Anm. 1), S. 146 . 19 Koolhaas Phantasie und der Rechte des Menschen auf seine Ver- (wie Anm. 1), S. 230. 20 Koolhaas (wie Anm. 1), S. 155 . rücktheit. Gesammelte Schriften, Rogner & Bernhard bei 21 Ebd. 22 Koolhaas (wie Anm. 1), S. 158 . Zweitausendeins, München 1974, S. 268 – 279. 8 Koolhaas

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Robert Moses und die fordistische Intervention Die urbane Mobilmachung New Yorks vollzog sich in drei Phasen und war in ihrer ers­ ten Phase in den 1920er Jahren mit der Erfahrung raschen Wachstums und Zuwande­ rung, extremer Überfüllung, totaler Verkehrsstaus, wie auch partieller Verslumung verbunden. Durch die Wirtschaftskrise in den 30er Jahren und dem darauf reagie­ renden New Deal, vor allem aber den Sieg im Zweiten Weltkrieg und den Aufstieg zur Supermacht wurde nun in der zweiten Phase ein System des Fordismus implantiert, das in nie zuvor dagewesener Weise funktionierte und durch die Person des Stadt­ planers Robert Moses symbolisiert wurde. Planungstechnisch könnte man das neue Paradigma in wenigen Worten beschreiben: Die extreme Verdichtung und Geschlos­ senheit der einzelnen Stadtteile wurde durch Stadtautobahnen geöffnet, um durch mehr Zirkulationsmöglichkeiten und den Siedlungsbau ein Ausweichen in die Suburbs zu erlauben. Damit wurde die Funktionstrennung der Moderne und sämtlicher Gar­ tenstadttheoretiker systematisch eingeführt, ehe sich in den späten 1950er Jahren in der dritten Phase erstmals Widerstand der Bevölkerung in Manhattan regte, die gegen die extremen Folgen eines geplanten Expressways durch Greenwich Village rebellierte. Über Jahrzehnte hinweg jedoch ist der Name Robert Moses mit einer Erfolgsgeschichte amerikanischen Zuschnitts verbunden gewesen und nach einer Phase berechtigter Kritik, vor allem durch die erfolgreiche Biografie von Robert Caro, The Power Broker aus 1974, wird in den letzten Jahren wieder mehr an die unglaubliche Leistung dieses Mannes erinnert. Die Größenordnung der fordistischen Intervention in New York war in jeder Hin­ sicht frappant und schlug alle anderen amerikanischen Städte um Längen. 1957 etwa betrug das Investitionsvolumen für öffentliche Bauten aller amerikanischen Städte zusammen 133 Millionen Dollar, während New York allein 267 Millionen Dollar inves­ tierte.1 Dabei waren es nicht die Bürgermeister (nicht einmal der berühmte Fiorello La­ Guardia), die der Stadt ihr Gesicht gaben, weil sie diese unregierbare Stadt kaum in den Griff bekommen konnten, ehe sie von einem Nachfolger schon wieder aus dem Rathaus hinausgedrängt worden waren, wie Caro betont als er schreibt: „Robert Mo­ ses shaped New York.“ Jeder Stadtplan von New York beweist dies. Sämtliche Stad­ tautobahnen, sieben gigantische Brücken über den East River oder den Hudson River. Der südöstliche Teil von Manhattan wurde zwischen 1945 und 1958 völlig durch Public Housing­Projekte erneuert. 148.000 Wohnungen für 555.000 Mieter wurden dort von der Housing Authority durch den Bau von über 1.000 achtstöckigen Hochhäusern aus Backstein errichtet, eine Stadt größer als Minneapolis.2 Zahlreiche andere Siedlungen liegen über die ganz Stadt verstreut. Moses war in jeder Hinsicht ein perfekter Techno­ krat im Sinne des Fordismus. Denn mit der Erschließung der Peripherie durch Express­ ways verfolgte er auch die Ziele der Schaffung von Wohnraum für Familien durch die Errichtung von Vorstädten auf Kartoffeläckern. Aufgrund einer frühen Studie der Ein­ wohner von Levittown, die damals Pioniercharakter hatte, kam der Soziologe Herbert Gans seinerzeit zum Schluss, dass dieses neue Heim vom Gros der Einwohner sehr 327

geschätzt wurde und den Familienzusammenhalt ausdrücklich begünstigte. Insofern konnte er auch die Annahmen der Gartenstadtbewegung, deren Grundimpuls auf der Flucht aus der überfüllten Stadt beruht, bestätigen. Man darf nicht vergessen, dass in den 1920er und 1930er Jahren die Bewegung im Auto als eine neue ästhetische Erfahrung gefeiert wurde, die Theorien des Futurismus und Kinetismus waren die Anschauungsbeispiele für diese fortschrittliche Form der Wahrnehmung und körperlichen Sensation. Es mutet heute etwas paradox an, dass Moses (er selbst verfügte nie über einen Führerschein, posierte für Fotos aber oft als Autofahrer) 3 zunächst eine Notwendigkeit darin sah, den Menschen von New York die Erfahrung des Fahrens als selbstgenügsames Vergnügen im Sinne einer ästhe­ tischen Pädagogik beizubringen. Dazu bedurfte es der Errichtung von eigenen Park­ ways, vierspurigen Autobahnen, die für den Lastwagenverkehr gesperrt waren und als geschwungene Betonbänder durch die Landschaft führten. Jones Beach State Park 1930. Eine frühe Techno-Pastorale New Yorks Moses erstaunliche Leistung zu Ende der 1920er Jahre bestand daher zunächst in der Schaffung eines völlig neuen Typus von öffentlichem Raum, wie es ihn zuvor noch nicht gegeben hatte. Der Jones Beach State Park in Long Island verläuft gleich jenseits der Stadtgrenze von New York entlang des Atlantiks und ist groß genug, um an einem heißen Sommertag eine halbe Million Menschen aufzunehmen, ohne überfüllt zu wir­ ken. Noch heute nötigen diese Parks Bewunderung ab, wie aus der Beschreibung von Marshall Berman zu ersehen ist: „Das faszinierendste Charakteristikum dieser Land­ schaft liegt in ihrer verblüffenden Transparenz von Raum und Form. Sie ist völlig eben und wird nur von blendend weißen Sandflächen, die sich gegen den Horizont wie ein schnurgerades weißes Band erstrecken, auf der einen Seite nur von der strahlend blau­ en See, auf der anderen vom Braun der scharfen ungebrochen Linie des Holzsteges ab­ geschnitten. Der große horizontale Bogen des Ganzen wird durch elegante Art Deco Badehäuser aus Holz, Ziegeln und Stein wie mit Punkten versehen, während sich auf dem halben Weg zwischen diesen und dem toten Zentrum des Parks ein monumenta­ ler säulenförmiger Wasserturm erhebt, der von überall her sichtbar ist und sich wie ein Wolkenkratzer erhebt, als möchte er die Größe der urbanen Formen des 20. Jahrhun­ derts beschwören, die diesen Park in gleicher Weise erfüllt wie auch bestreitet. Denn der Jones Beach bietet ein spektakuläres Spiel der primären Formen der Natur – Erde, Sonne, Wasser, Himmel – doch die Natur erscheint hier in einer abstrakten, horizon­ talen Reinheit und leuchtenden Klarheit, wie sie nur durch Kultur hervorgebracht wer­ den kann.“4 Natur erscheint hier wie die abstrakte Malerei, die sich in New York bald etablieren sollte, die Natur ist hier völlig urbanisiert, indem sie zu einer Abstraktion ihrer selbst wird und die Elemente in ihren primären Formen erscheinen lässt, ein Pla­ tonismus quasi. Man muss die Leistung von Moses umso mehr bewundern, wenn man sich vor­ stellt, wie dieser Raum vor seinem Eingriff nur aus unzugänglichem und nicht kartier­ tem Sumpf­ und Ödland bestanden und welche wunderbare Metamorphose er inner­ halb von zwei Jahren durchgemacht hatte.5 „Eine weitere Qualität des Purismus von Jones Beach liegt darin, dass hier kein Kommerz eindringen konnte, weder Hotels und Casinos, noch Riesenräder, Autodroms, Lautsprecher, Hot Dog­Stände und Neonlichter, keinerlei Schmutz, Lärm oder sonstige Störungen.“ 6 328

fien überliefert sind, sind von der Karte der visionären Landschaft von Jones Beach gelöscht. Jones Beach bietet andere Qualitäten für die Einbildungskraft, die sich in der sym­ bolischen Sprache der Poesie schwer erfassen lassen, „aber man kann dessen For­ men in der diagrammatischen Malerei Mondrians oder im Minimalismus von 1960 wiedererkennen, während die Farbtöne zur großen Tradition der neoklassischen Land­ schaftsmalerei von Poussin über den jungen Matisse bis zu Milton Avery gehören. An einem sonnigen Tag bringt uns Jones Beach in die große Romantik eines mediterranen Raumes von apollinischer Klarheit mit einem perfekten Licht ohne Schatten, dessen ungebrochene Perspektive sich gegen einen unendlichen Horizont erstreckt.“ 7 Nach Berman ergibt sich hier eine deutliche Übereinstimmung mit Le Corbusier, wenn er einen Vergleich zwischen den verheerenden Umwälzungen New Yorks und der erdhaften Schönheit von Istanbul zieht. Le Corbusier wünschte Strukturen, die die Phantastik eines heiteren horizontalen Südens in die verschattete und turbulente Rea­ lität des Nordens bringen: Jones Beach, der gleich hinter dem Horizont der New Yorker Wolkenkratzer liegt, entspricht der idealen Vorstellung dieser Romantik. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich Moses, der stets auf Konflikt und Konfrontation aus war, in seiner ersten Arbeit, auf die er noch 50 Jahre später stolz war, sich diesen Triumph wegen des Ausdruckes der Ruhe, Heiterkeit und Gelassenheit erlaubte. Noch eine Dimension des modernen Pastoralen ist bemerkenswert. Diese sanft dahin fließenden, artifiziellen Autobahnen zählen, obwohl nach einem halben Jahr­ hundert schon leicht zerschlissen, zu den schönsten der Welt. Allerdings rührt ihre Schönheit nicht von der natürlichen Umgebung, wie etwa beim Highway an der kali­ fornischen Küste, sondern entspringt der künstlich hergestellten Umgebung der Stra­ ßen selbst. Obwohl diese Straßen nichts verbinden und nirgendwo hinführen, schaf­ fen sie immer noch ein Erlebnis um ihrer selbst, insbesondere im Falle des Northern State Highways in Long Island, dort repräsentieren sie in den Worten von Scott Fitz­ gerald einen modernen Versuch der Herstellung jener alten Insel, die einst vor den Au­ gen der holländischen Seeleute erblühte, als jenes „frischen grünen Busens der neuen Welt“.8 Allerdings konnten diese Parks nur im Auto erschlossen werden, die Zufahrten waren so nieder gebaut, dass sie für Busse zu klein waren und die öffentlichen Ver­ kehrsmittel nicht die Massen an den Strand karren konnten. Es handelte sich also um einen techno­pastoralen Garten, der nur für jene, die sich damals im Besitz jener neu­ en modernen Maschinen, wie etwa eines Ford T befanden, zugänglich war und damit um eine privatisierte Form des öffentlichen Raumes. Design war hier mit sozialem Screening verbunden, das alle nichtmotorisierten New Yorker und New Yorkerinnen und damit einen Großteil der Bevölkerung ausschloss. Diese frühen Arbeiten von Moses nehmen im Kontext des Fordismus eine spe­ zifische Rolle ein. Man muss sie im Rahmen der Auferstehung einer gigantischen Freizeitindustrie sehen, auch einer exklusiven Entdeckung der pastoralen Umgebung der Stadt zuordnen, einer Erkundung und Erschließung im Modus der Autofahrt, ei­

Robert Moses und die fordistische Intervention

Trotz der enormen Aufnahmefähigkeit von Menschenmassen steht Jones Beach in radikalem Gegensatz zu Coney Island, das nur wenige Meilen weiter westlich liegt. Sämtliche Eigenschaften Coney Islands, die Dichte und Intensität, die Anarchie von Lärm und Bewegung, die Vitalität der Menschen, wie sie etwa in Weegees Fotogra­

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nes damals noch exklusiven ästhetischen Erlebnisses, das nur einer Minderheit zu­ gänglich war. Obwohl die Anzahl der Autos schon damals imposant war: 1914 gab es 125.101 Autos in New York City, 1934 waren es schon 804.620, und weitere hunderttau­ sende in den Vororten von Westchester und New Jersey.9 Bauen als fordistisches Symbol des Fortschritts Die Bedeutung des Bauens selbst erfuhr einen großen Wandel, indem nach der großen Depression mit Massenarbeitslosigkeit das Bauen von privaten den öffentlichen Unter­ nehmen übertragen wurde und insgesamt einem prioritären öffentlichen Imperativ unterstellt wurde. Praktisch alles, was in den 1930er Jahren erbaut wurde – Brücken, Parks, Tunnels, Straßen und Dämme –, wurde mit öffentlichen Geldern finanziert und unter den Auspizien der großen, öffentlichen Agenturen des New Deals, wie die CWA , PWA , CCC , FSA und TVA , errichtet. Neben den damit verbundenen Incentives für die Wirtschaft und die Schaffung von Arbeitsplätzen kam es auch zu einer Aufwertung des Begriffes des Öffentlichen und der entsprechenden Symbolik einer Bereicherung des Landes durch öffentliche Arbeiten, der Verwendung der neuesten Technologien und der Beschwörung einer glorreichen Zukunft. Damit wurde Moses zum vermut­ lich mächtigsten Mann von New York, dessen Einfluss von den 1920er bis in die 1960er Jahre währte. Von 1919 bis 1935 war er zunächst im Bereich des Staates New York in der Park Commission tätig, wo er sich seine ersten Sporen verdiente, ehe er 1934 auch in der Stadt selbst zur Macht kam und Schlüsselpositionen in zentralen Institutionen wie den öffentlichen Agenturen und Baufonds einnahm und zugleich Mitglied der Pla­ nungskommission wurde. Moses erfüllte den Job eines City and Park Commissioners als jemand, der in be­ sonderer Weise die Möglichkeiten, die ihm die Roosevelt Administration für öffent­ liche Arbeiten bot, ergriff. Er mobilisierte eine Armee von 84.000 Mann und startete ein großes Crash Programm zur Erneuerung der damaligen rund 1.700 Parks der Stadt und der Errichtung einiger hundert neuer mit Spielplätzen (von 119 auf 777) und meh­ reren Zoos.10 1934 hatte er die Aufgabe schon wieder bewältigt. Moses galt nicht nur als hervorragender Organisator und Planer, sondern verstand auch die Inszenierung der öffentlichen Arbeiten als öffentliches Spektakel. Trotz eines der kältesten Winter in New York führte er die Renovierung des Central Parks mit der Errichtung des Reservoirs und des Zoos durch, indem er selbst bei eisigen Tempera­ turen eine 24 Stunden Nonstoparbeit über alle sieben Tage der Woche veranlasste. Flutlicht strahlte die ganze Nacht, ebenso dröhnten die Presslufthämmer die gesamte Nacht hindurch, nicht nur zur Beschleunigung der Arbeit, sondern zur Bespielung ei­ ner gigantischen Bühne der Arbeit. Selbst die Arbeiter schienen von diesem Enthusiasmus ergriffen worden zu sein, sie erfüllten nicht nur die vorgegeben Ziele, sondern waren oft sogar den Planern vor­ aus und zwangen dadurch die Ingenieure ihre Pläne über Nacht zu ändern, um sie der weiter fortgeschrittenen Arbeit anzupassen.11 Hier erfüllte sich der Romantizismus des Bauens, wie er schon von Goethe bis zu Marx, von den Konstruktivisten der 1920er Jah­ re, den zeitgleichen Propagandafilmen der Sowjets mit den Fünfahresplänen und den Dokumentationen der New Deal­Agenturen TVA (Tennessee Valley Authority) and FSA (Farm Security Administration) so schön demonstriert wurde. Das Erstaunliche bestand darin – glaubt man den Ausführungen Robert Caros –, dass Arbeiter Sinn und Bedeu­ 330

tung in einer schlecht bezahlten und unter schwerer körperlicher Belastung stehen­ den Tätigkeit finden konnten, weil sie sich als Teil eines großen Gesamtwerkes fühlen konnten und die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft empfanden. Durch diesen großen Erfolg als Park Commissioner fühlte er sich zu größeren Auf­ gaben ermächtigt, nämlich der Errichtung eines riesigen Systems von Stadtautobah­ nen, Alleen und Brücken, die das gesamte metropolitane Gebiet zusammenhalten und verbinden sollten. Dies bedeutete die Errichtung zahlreicher großer Expressways, die durch Manhattan und die Bronx führten, ein riesiger Parkway, der den East River mit dem Atlantik zusammenführte, den Brooklyn Battery Tunnel und das Herz dieses Systems, das Triborough Project, das als ein komplexes Netzwerk von Brücken, Zu­ bringern und Parkways, Manhattan, die Bronx und Westchester mit Queens und Long Island verbindet. Die Uptown Hudson Riverfront zählt ebenfalls zu einer völlig neu

Moses Aufnahme in Giedions Kanon der Moderne Ende der 1930er Jahre erfolgte die endgültige Aufnahme Moses in den Kanon der Mo­ derne, indem sein Werk in Sigfried Giedions Raum, Zeit und Architektur 12 als der Höhe­ punkt einer 300 Jahre währenden Geschichte des Designs beschrieben wurde. Giedi­ on präsentierte Bilder des West Side Highway, von Randall’s Island mit dem Kleeblatt und The Pretzel, dem Schnittpunkt des Grand Central Parkway, um die unterschiedli­ chen Maßstäbe zu zeigen und er verglich die Parkways mit kubistischen Gemälden, ab­ strakten Skulpturen und Mobiles. Bei der Beschreibung des Parkways wies er darauf hin, dass man dessen Sinn und Schönheit nicht von einem Punkt aus erfassen könne, sondern diese „enthüllen sich hier nur in der Bewegung, während man mit steter Ge­ schwindigkeit dahinfährt, wie die Verkehrsgesetze es wollen. Das Raum­Zeitgefühl unseres Zeitalters kann selten so stark erfahren werden, wie am Steuerrad, wenn man hügelauf und hügelab, durch Unterführungen, über Rampen oder über riesige Brücken dahinrollt.“13 Der Parkway galt nicht nur als eine Phase der Modernisierung der Stadt, sondern geradezu als ein Durchbruch im Denken der Moderne. Denn er eröffnete ei­ nen magischen Bereich, eine Art romantischer Laube, in der sich der Modernismus und die Pastorale vereinigen konnten. Damit war das Raum­Zeit­Konzept dieser Periode gekennzeichnet und der Erfüllung der Bedürfnisse sollte nichts mehr im Weg stehen. Moses galt als neuer Haussmann und Erbauer der Stadt der Zukunft und verwirklich­ te in diesem Zusammenhang auch die Weltausstellung 1939 –40 in New York mit dem Titel Building The World of Tomorrow. Moses konnte zwar erkennen, dass er damit, wie Giedion enthusiasmiert bemerk­ te, der Stadt eine neue Form verliehen hatte, es wurde ihm aber nicht bewusst, dass er zugleich das Ende der City Street und der traditionellen Stadt eingeleitet hatte. Denn die Projekte der 1950er und 1960er Jahre hatten bei weitem nicht mehr die Qualität und Sensibilität für das Humane, wie die frühen Projekte, es ging primär um Quanti­ tät, Mobilität für die Autos und um eine riesige Menge an verbauten Tonnen von Stein und Zement, die durch die ungebrochene Investitionsfreudigkeit der öffentlichen In­ stitutionen zustande kam.14

Robert Moses und die fordistische Intervention

gestalteten urbanen Landschaft, die vorher ein Ödland war und wovon Teile in den Riverside Park umgestaltet worden waren.

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Die Wende. Der Cross Bronx Expressway und die Zerstörung der Bronx Der eigentliche Sündenfall von Moses ereignete sich 1953 in der Anlage des Cross Bronx Expressway, als einen Teil der heutigen Interstate 95, der wichtigsten Nord­Süd Ver­ bindung der Ostküste mitten durch die Bronx, mitten durch gewachsene Stadtviertel und auf der Strecke des Grand Concourses, einer breiten Avenue, die den Charakter ei­ nes Boulevards hatte und zur elegantesten Wohngegend der Bronx zählte. Charakte­ ristisch dafür waren die Art­Deco­Apartmenthäuser, die in den 1930er Jahren errichtet worden waren, in klaren, einfachen architektonischen Formen, weder in puristischer geometrischer Schärfe, noch in besonderen biomorphologischen Formen, in heller Far­ be mit kontrastierenden Backsteinen, aufgesetzten Chromelementen, die von großen Glasflächen unterbrochen wurden, kurzum Art Deco auf hohem Niveau. Sie stellten damals eine besondere Ikone der Moderne dar, hatten etwas von einem glamourösen Ozeanliner an sich, der in Downtown vor Land gegangen war.15 Die Bewohner der Bronx, damals eine Mischung aus jüdischer, italienischer, iri­ scher und schwarzer Bevölkerung, konnten zunächst gar nicht fassen, was vor sich ging, waren auch vielfach noch gar nicht im Besitz eines Autos, ehe sie eine Armada von Baumaschinen und schweren Trucks auffahren sahen. 60.000 Personen mussten ihre Häuser verlassen und insbesondere die jüdische Bevölkerung war darüber erbost, was ihnen da von einem Glaubensgenossen angetan wurde. Diese Autobahn, die in mehreren Abschnitten bis 1963 erbaut wurde, leitete den Zerfall der Bronx ein. Völlig intakte, freundliche Stadtviertel wurden in der Mitte zer­ schnitten und das Straßennetz der Bronx brach zusammen, weil die Verbindungen durch den quer verlaufenden Expressway abgerissen waren und nicht wiederher­ gestellt wurden. Viele Straßen waren über Kilometer durch Schmutz und Lärm der Schwertransporter und Baumaschinen, die Tag und Nacht andauerten, unbewohnbar geworden. Schöne Apartmenthäuser leerten sich über Nacht und wurden durch die Ansiedlung verarmter schwarzer und hispanischer Familien aus noch ärgeren Slums durch die Sozialbehörden wieder gefüllt, was zur Flucht der letzten Mieter der Mittel­ schichten führte. Das lokale Gewerbe wurde von seinen Kunden brutal abgeschnitten, geriet bald in die Gefahr des Bankrotts und wurde anfällig für Kriminalität. Moses Antworten auf diese Situation erlangten eine gewisse Berühmtheit. Seiner Meinung nach lag darin kaum Härte, vielleicht ein wenig Unbequemlichkeit, die Kritik daran fand er aber als übertrieben. Der Unterschied zwischen der Errichtung der Parkways vor dem Krieg und des Expressways bestand für ihn nur darin, dass „mehr Häuser im Weg sind, das ist alles […] Wenn man in einer zu dicht gebauten Stadt operiert, dann muss man seinen Weg mit der Fleischaxt bahnen.16 Moses mit seiner obsessiven Ener­ gie, visionären Brillanz und megalomanischen Ambition liebte Metaphern solch extra­ vaganter Grausamkeit, die ihn in eine Reihe mit den ganz großen Erbauern wie Ludwig XIV., Peter dem Großen und Baron Haussmann oder Josef Stalin stellte. Obwohl fana­ tischer Antikommunist war er auch Anhänger des stalinistischen Ausspruches: „Du kannst kein Omelette machen, ohne Eier zu zerschlagen.“17 Aufgrund seiner enormen Macht und der Rechtskonstruktion der Authority mit der geringen Pflicht zur öffent­ lichen Rechenschaft verfügte er über enorme Geldmittel aus den Fonds und konnte riesige Aufträge beinahe freihändig vergeben und unbegrenzt mit den Bonds, einer Art von Anteilscheinen, handeln, was zuletzt zwar nicht ihn selbst, aber einige enge 332

Mitarbeiter in Korruptionsaffären verwickelte. Man kann verstehen, dass sich Moses tausende Feinde machte, die ihn zur Strecke bringen wollten, was in den späten 1960er Jahren auch geschah, indem ihm seine Vollmacht zum Bauen entzogen wurde und er erst damit gestoppt werden konnte. Freilich, seine Bauwerke hingegen sind nach wie vor ebenso elementarer Bestandteil von New York wie es die Verkehrsplanung Hauss­ manns in Paris ist. Heute betrachtet man sein Werk mit der Ambivalenz der Post­

Die Ermächtigung durch den Geist der Moderne Abgesehen von der imposanten Persönlichkeit Moses muss man bei der Beurteilung seiner lang währenden Überzeugungskraft eines Massenpublikums ins Kalkül ziehen, dass er sich als das Werkzeug einer welthistorischen Kraft sah, nämlich des Geistes der Moderne. Ein Widerstand gegen die Errichtung von Brücken, Tunnels, Expressways und Wohnanlagen wäre gegen die Geschichte, den Fortschritt und die Moderne selbst gewesen.18 Ein Lieblingsprojekt Moses war die Einrichtung der World Fair von 1939, zu deren Gestaltung es ihm gelang, ein riesiges Stück Land von hunderten Eigentümern zusam­ menzukaufen, worunter sich auch Schutt­ und Mülldeponien befanden, die den Namen Flushing ash heaps trugen und als Aschedeponien fungierten. Deren Umwandlung in einen Park animierte Moses selbst in seinen letzten Interviews immer noch zu einem Zitat aus einer Stelle aus Jesaiah 61 : 1 –4. „Der Herr hat mich zum König gesalbt um den Bedrängten gute Kunde zu bringen […] um die Untröstlichen aufzurichten, um den Ge­ fangenen die Freiheit zu verkünden und das Gefängnis zu öffnen, in dem sie gefangen sind […] um ihnen Schönheit für Asche zu geben, sodaß sie ihre zerstörten Städte wie­ der aufrichten können.“19 Man vermag aus derartigen Äußerungen ein Psychogramm von Moses erstellen, das aus einer Mischung aus Sendungsbewusstsein und hybridem Selbstbewusstsein gespeist wurde, und das ihn befähigte, daraus eine ungeheure Er­ mächtigung zur völligen Umkrempelung der Stadt abzuleiten. Er sah sich als ein Werk­ zeug des Geistes der Moderne, dessen Vollzug er zu bewerkstelligen hatte. Man kann am Beispiel Moses, der als Yale Student noch Gedichte im Stile Byrons verfasst hatte, gut erkennen, dass eine romantische Grundhaltung sich ausgezeichnet mit der Tech­ nik vereinigen kann und in dieser Kombination umso radikaler wirkt, weil sie sich im Auftrag einer höheren Macht wähnt. Über Jahrzehnte hinweg war Moses der Liebling der Politiker und der New Yorker, wenn man von den direkt Betroffenen eines radika­ len Umbaus absieht, doch der Zeitgeist wandelte sich und richtete sich gegen die Mo­ derne. Am deutlichsten hat dies vielleicht Allen Ginsberg in seinem Gedicht Howl ge­ sehen: 20 What Sphinx of cement and aluminium bashed open their skulls and ate up their brains and imagination? Moloch, who entered my soul early

Robert Moses und die fordistische Intervention

moderne. Ein großer Respekt gilt dieser titanischen Modernisierungsleistung, ohne die das moderne New York gar nicht denkbar wäre, während einen gleichzeitig der Schrecken des Erhabenen erfassen kann.

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1 Robert Caro, The Power Broker. Robert Moses and the Fall of New York, Vintage Books Edition, New York 1975, S. 12 . 2 Ebd., S. 7. 3 Ebd., Photos Section II . 4 Übers. v. Autor, Marshall Berman, All that is solid melts into air, Penguin Press, London 1988 , S. 296 . 5 Caro (wie Anm. 1). 6 Übers. v. Autor, Marshall (wie Anm. 4), S. 297. 7 Ebd. 8 Caro (wie Anm. 1), S. 146. 9 Caro (wie Anm. 1), S. 545. 10 Caro (wie Anm. 1), S. 7. 11 Caro (wie Anm. 1), S. 371. 12 Sigfried Giedion, Raum, Zeit, Architektur, Arte-

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mis, Zürich 1984, S. 489. 13 Ebd., S. 491. 14 Berman (wie Anm. 4), S. 308 . 15 Berman (wie Anm. 4), S. 295. 16 Caro (wie Anm. 1), Kap. 36; Robert Moses, Public Works. A Dangerous Trade, McGraw-Hill, New York 1970; zit. nach Berman (wie Anm. 4), S. 294 . 17 Caro (wie Anm. 1), S. 218 . 18 Berman (wie Anm. 1), S. 294 . 19 Übers. v. Autor, Berman (wie Anm. 1), S. 304 . 20 llan Ginsberg, Das Geheul und andere Gedichte, Limes Verlag, Wiesbaden 1959.

Jane Jacobs. Die Urbanistin mit dem ungebührlichen Verhalten Wie bereits in der letzten Folge erwähnt, lässt sich die urbanistische Auseinanderset­ zung in der fordistischen Ära New Yorks durch zwei Personen symbolisieren: Robert Moses als den furchtlosen, unermüdlichen Vollzieher des Fordismus auf der einen und Jane Jacobs, der Architekturjournalistin als der Kämpferin gegen den Urbanismus des Neuen Bauens und der Vernachlässigung der alten Stadt auf der anderen Seite. Sie re­ präsentieren den Konflikt zwischen der Idee der Metropolis und der der Nachbarschaft, bzw. des urbanen Dorfes, zwischen dem fordistischen Kapital und dem öffentlichen Willen. Robert Moses als der große Baumeister auf der einen und Jane Jacobs als die Theoretikerin und Aktivistin des Urbanismus auf der anderen Seite. Für Moses war das Stadtleben die Unterwerfung des Individuums unter den kollektiven Willen, für Jane Jacobs bedeutete Stadtleben hingegen dessen Befreiung, indem durch ein wunder­ volles Konstrukt aus Individuen, Gebäuden und Straßen ein Lebensraum entsteht, der Urbanität im besten Sinne erzeugt. Jane Jacobs verfasste mit The Death and Life of Great American Cities das erste Buch, das mit ihrer Kritik an den modernen Siedlungen ein enormes Echo hervorrief.1 Damit gerieten die Leistungen einer keinerlei Unterschiede machenden fordisti­ schen Administration, die nur auf wissenschaftlich technischer Rationalität beruhte, erstmals unter Druck. Die kulturelle Unzufriedenheit äußerte sich durch Kritik an der funktionalistischen Ästhetik und dem rationalisierten Design, das zugleich für die Ein­ tönigkeit der suburbanen Siedlungen und der Monumentalität der riesigen Blöcke und Hochhäuser in den downtowns verantwortlich gemacht wurde. Damit wurde erstmals das Paradigma des Neuen Bauens nachhaltig beschädigt. Vor allem wurde von Jacobs energisch bestritten, dass der Platonismus der idealen Körper in der Lage wäre, die sozialen und politischen Probleme mit einen Schlag lösen zu können, im Gegenteil, sie verdächtigte ihn der Verursachung neuer sozialer Proble­ me. Die apollinische Klarheit Le Corbusiers kann nicht den Ungeist des Slums über­ strahlen, der Funktionalismus führt zur Desintegration der Stadt. Die Rehabilitation der Straße Jacobs ahnte offenbar, dass sie gegen die ästhetische Botschaft der klassischen Mo­ derne mit ihrer metaphysischen Verdichtung von Raum mit Luft, Licht und Erde und der dieserart phantasierten Verbindung mit dem Kosmos nur dann ankämpfen kön­ ne, wenn sie auf ein Gegenkonzept von ähnlicher Überzeugungskraft verweisen kann. Entscheidend ist dafür die Neuinterpretation der Straße im Sinne ihrer alten urbanen Rolle als eines Raumes, der wesentlich mehr als die Funktion des Verkehrs erfüllt. War bei Le Corbusier die Straße aufgrund ihrer unsauberen Vermischung verschiedener Tätigkeiten und Handlungsfelder, etwas das man abschaffen müsse, wurde sie von Jacobs in ihrer Eigenschaft eines absolut notwendigen öffentlichem Raumes wieder in ihre alten Rechte eingesetzt. Damit erkannte sie auch früh das neue expressive Be­ dürfnis der Menschen, das sich zu einem Grundmotiv der heutigen Nutzung des öffent­ lichen Raumes entwickelte. 335

Jacobs dürfte sich wahrscheinlich nicht bewusst gewesen sein, dass sie sich mit ih­ rer Haltung durchaus in der Nachfolge des Surrealismus bewegte, da sie von der Art der Argumentation her eher pragmatisch agierte und handfeste Belege, bzw. auch gewisse populistische Vorurteile, wie Mumford bemerkte, ins Treffen führte. Dennoch war sie in der Lage, die praktische Notwendigkeit des Alltagslebens mit der Phantasie und die Gesetze der Nützlichkeit mit der Idee eines universellen urbanen Tanzes zu verbinden. Insofern gelang ihr mittels surrealistischer Motive die problematische Zivilisierung der Phantasie durch die Rationalität des Neuen Bauens zu korrigieren, indem sie eine neue städtische Utopie entwarf und neue Formen der Imagination entwickelte. Ihre Strategie ist aber nicht das dérive der Situationisten, von dem sie vermutlich auch gar nicht gehört hatte, sondern die Anwendung der Idee des Tanzes auf die Stadt. Sie plä­ diert damit nicht für eine Bewegung des Abdriftens, wie es im Wesen des dérive liegt, sondern für eine Bewegung, die eine allgemeine organische Figur ausdrückt. Sie meint daher nicht die Fortsetzung der Fragmentierung und der daraus keimenden Hoffnung durch ein Freisetzen des psychischen Automatismus, einem Orakel gleich, zu den ei­ gentlichen Quellen des Innen zu stoßen, sondern erkennt den alten Organismus der Stadt aufs neue als eine richtige Schöpfung, die nur ihren Ausdruck verloren hat. Sie verwirft damit die „zweite Schöpfung“ des Demiurgen Le Corbusier ebenso wie die Motive der Fragmentierung des Surrealismus, sie bezieht sich eher auf dessen synthe­ tische Fähigkeit einer Festigung der Dinge durch ihre neu gezeigte Beziehung zu den Menschen im Tanz. Das Ballett des Alltags zeigt die Richtigkeit der alten Stadt als eines Lebensraumes, der einem Organismus gleich, eine natürliche Ordnung hervorbringt. Sie steht aber dennoch den Motiven Nietzsches einer Steigerung des Lebens eher fern und bedarf keiner Psychogeographie, weil die Dinge nicht verborgen sind, sondern im Tanz sichtbar gemacht werden können. Damit erteilt sie aber auch der politischen Symbolik der Straße im Sinne eines Ver­ sammlungsortes revolutionärer Massen eine Abfuhr und plädiert eher für eine politi­ sche Pragmatik des Citizen im Gegensatz zur paternalistischen Position des Fordismus. Letztlich verbindet sie Stadt und Alltag in einer ebenfalls kosmologisch anmutenden Weise als die Vollziehung einer uralten Bewegung des Lebens, die sich täglich wieder­ holt, ein Zyklus, der unendlich währt. Bei Jacobs ist auch ein starker Bezug zur Fa­ milie vorhanden, was in Verbindung mit der Leidenschaft für das Lokale bei einigen Modernen den Verdacht eines Konservativismus erweckte. Andrerseits spricht sie die selbstbewusste Sprache der berufstätigen, emanzipierten Frau der 1960er Jahre, als dies offensichtlich noch mit einer romantischen Haltung für die Familie vereinbar war. Aus heutiger Perspektive könnte man auch eine Portion Kommunitarismus entdecken, vermischt mit Zügen einer Schwärmerei für eine Gemeinschaft, wie sie etwa Rousseau in seiner Beschreibung des Festes in der Stadt evoziert. Greenwich Village. Das Ballett des Alltags Ihr Konzept ist von einer genialen Einfachheit. Sie spricht hauptsächlich über ihr All­ tagsleben, ein Sujet, das zu jener Zeit noch weitgehend neu war.2 Es geht dabei um eine Mythologisierung des Alltagslebens und des Trivialen und ähnelt in mancher Hin­ sicht den surrealistischen Texten der Erfinder dieses Genres, wenngleich ihre Form der Heroisierung der Darsteller etwas weniger ironisch, aber umso mehr im Sinne einer Er­ munterung zur Selbstermächtigung ausgefallen ist. Ihre Leistung besteht im Erkennen 336

dern durch die Grazilität und Dynamik eines Balletts. Der Abschnitt der Hudsonstreet, wo sie wohnt, ist jeden Tag die Bühne eines Bal­ letts, das am Gehsteig stattfindet. Sie beschreibt nun einen Tag, 24 Stunden dieses Lebens auf ihrer Straße, das zugleich mit ihrem eigenen Leben verfließt, in einer ein­ fachen ungekünstelten Prosa. Damit steht sie durchaus in einer großen literarischen Tradition, wie etwa der des Ulysses von James Joyce, wenngleich sie formal wenig mit dessen fragmentierter Sprache verbindet. Sie beginnt ihre Beschreibung mit dem frü­ hen Morgen: Ihr erster Gang führt sie mit Besen und Schaufel auf die Straße, um das Pa­ pier der Schokoriegel, das von Schulkindern weggeworfen wurde, zusammenzukehren und um währenddessen die Morgenrituale der anderen zu beobachten. „Mr. Halpert löst den Handwagen seiner Wäscherei aus seiner Verankerung an der Kellertür, Joe Connarchias Schwiegersohn stapelt die leeren Kisten des Delikatessen­ ladens, der Barbier stellt den Klappstuhl auf den Gehsteig, Mr. Goldstein richtet die Drahtrollen, um zu zeigen dass die Eisenhandlung geöffnet ist, und die Frau des Haus­ verwalters setzt ihren dreijährigen Sprößling mit einer Kindermandoline auf die Trep­ pe, einen Aussichtspunkt, von dem er das Englisch lernen wird, das sein Mutter nicht kann. Die Volksschulkinder auf dem Weg nach St. Luke trippeln einzeln in die südliche Richtung, Die Schulkinder für St. Veronika laufen in westliche Richtung, die für die Prepschool 41 in östliche Richtung […].“ 3 Das Straßenballett geht weiter: Elegante und gut gekleidete Menschen kommen aus den Torhäusern und Eingängen hervor. Die meisten warten auf den Bus oder die Subway, viele winken nach einem Taxi, das in wunderbarer Weise, wie von einer un­ sichtbaren Hand gesteuert, im richtigen Moment erscheint. Die Taxis spielen im mor­ gendlichen Ritual der Stadt eine wichtige Rolle, zunächst brachten sie midtowners in den Finanzdistrikt, nun bringen sie downtowners hinauf in die Midtown. Jetzt kom­ men hunderte Fremde an den Häusern vorbei. Hausfrauen mit Kinderwagen, Teenager, die sich ihr Haar richten, junge Sekretärinnen und elegante mittelalterliche Paare auf ihrem Weg zur Arbeit, Arbeiter nach ihrer Nachtschicht, um an der Bar an der Ecke zu stoppen. „Wenn ich nach der Arbeit nach Hause komme, erreicht das Ballett sein Crescendo. Es ist die Zeit der Rollschuhe, des Stelzenlaufs und der Dreiräder […] Es ist die Zeit des Einkaufens, des Zickzacklaufens vom Drugstore zum Früchtestand und wieder hin­ über zum Fleischhauer. Es ist die Zeit, wenn alle Teenager sich in bester Aufmachung präsentieren und sich um den Sitz ihrer Unterröcke und Hemdkrägen besorgt zeigen. Es ist die Stunde, wenn die hübschen Mädchen aus den MG s steigen, in der die Feuer­ wehr durch die Nacht rast, die Stunde, wenn jeder, den man in der Hudsonstreet kennt, vorbeikommt.“ 4 Jacobs betrachtet dies alles und beschwört ein Bild herauf, das bei Baudelaire uni­ verselle Kommunikation heißt, wozu jedermann befähigt ist und er als das „Bad in der Menge“ bezeichnet. Auf diese Weise nimmt uns Jacobs durch ihren Alltag und später

Jane Jacobs. Die Urbanistin mit dem ungebührlichen Verhalten

eines Zusammenhanges in einer fragmentierten Stadt, der nicht mehr in romantischen Stadtbildern sichtbar ist. Sie kann Ordnung dort sehen, wo sie andere nicht mehr se­ hen können. Dazu bedient sie sich eines genialen Kunstgriffes: Sie erklärt die Stadt zur Bühne, allerdings nicht im Sinne eines Welttheaters oder einer Bühne der Eitelkeiten, sondern einer kommunitaristischen Einrichtung, die sich aber nicht durch die Ernst­ haftigkeit und Banalität eines Gemeindeleben mit Sonntagsschule auszeichnet, son­

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die Nacht mit, holt die Kinder von der Schule und die Erwachsenen von der Arbeit ab, stellt eine Fülle von neuen Persönlichkeiten vor, Geschäftsleute, Seeleute, Bohemians, Singles, die einfach daherkommen und die Straße auf der Suche nach einem Drink, einen Imbiss oder auch Liebe und Sex abklappern. Wenn die Dunkelheit dichter wird und Mr. Halpert wieder seinen Wäschereiwagen an der Kellertür verankert, geht das Ballett unter Lichtern, nach vor und rückwärts wogend, weiter, aber intensiviert sich unter den Spotlights von Joes Pizzeria, den Bars, den Delis, dem Restaurant und dem Drugstore. Die Nachtarbeiter gehen ins Deli, um Salami und Milch zu holen. Alles bereitet sich für die Nacht vor, aber die Straße und ihr Ballett haben noch nicht angehalten. „Ich kenne das Ballett der tiefen Nacht und der Jahreszeiten, wenn ich lang nach Mitternacht noch wach bin, um ein Kind zu hü­ ten, wenn ich im Dunklen sitze, die Schatten sehe und die Geräusche höre, die vom Gehsteig kommen.“ 5 Jacobs kann die Geräusche genau unterscheiden: „manchmal ist da Heftigkeit und Zorn, oder auch Trauer […] dann drei Uhr morgens singt jemand, ein sehr schöner Gesang.“ Spielt da irgendwo jemand einen Dudelsack? Wo kommt der Spieler her, wo geht er hin? Sie wird es nie ergründen, denn das Leben der Straße ist unermesslich reich. Diese Feier der urbanen Vitalität, Unterschiedlichkeit und Fülle ist ein uraltes The­ ma der modernen Kultur. Dennoch gab es in der modernen Architektur den Aufruf „wir müssen die Straße töten“ mit erheblicher Auswirkung auf die Planung der Städte nach dem Weltkrieg.6 Jacobs ist die erste unüberhörbar laute Stimme, die widerspricht. „Unter der scheinbaren Unordnung der alten Stadt besteht eine wunderbare Ord­ nung, die die Sicherheit auf den Straßen und die Freiheit in der Stadt aufrecht erhält. Es ist eine komplexe Ordnung. Ihr Wesen ist die Feinheit in der Nutzung der Gehsteige, die eine konstante Reihe von Blicken mit sich bringt. Diese Ordnung ist aus Wechsel und Bewegung zusammengesetzt und obwohl es sich dabei um Leben und nicht um Kunst handelt, können wir es die Kunstform der Stadt nennen und mit einem Tanz vergleichen.“ 7 Jacobs radikale Kritik am modernen Urbanismus bedeutet im Grund ja nichts an­ deres als eine Betonung des Umstandes, dass gerade diese Form der Stadterneuerung, in die Milliarden von Dollars öffentlicher Gelder investiert wurde, genau jene Stadt zer­ stört, die eine ideale Umgebung für die Menschen und für die Kommunikation unter­ einander geboten hatte. Noch schärfer formuliert: Wenn wir modern sein wollen, müs­ sen wir die Stadt der Moderne ablehnen. Mit dieser komplexen dialektischen Figur entspricht sie etwa dem Denken in Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung. Jacobs wählte für die Darstellung des fließenden und vibrierenden Stadtlebens das Symbol des Tanzes: „Ein kompliziertes Ballett, in welchem die individuellen Tänzer als auch das Ensemble alle unterschiedliche Partien haben, die sich gegenseitig verstär­ ken und sich zu einem geordneten Ganzen zusammenfügen.“ 8 Die Metapher des Tan­ zes, bzw. des Tanzes und der Stadt war damals in der Kunst sehr aktuell, und die Stra­ ße der Ort zahlreicher Tanzszenen. Die Choreographen jener Zeit bauten Muster und Strukturen ein, die nicht aus dem Tanz kamen, auch Elemente wie Zufall, Willkür und aufs Geratewohl ausgeführte Figuren oder gingen in die Stadt und tanzten auf Brücken oder Dächern. Die Beschäftigung mit den Objekten und Räumen des Alltagslebens, von Körpern, Kleidern, Räumen fand nun ihren Ausdruck und löste sich wie die darstellen­ 338

de Kunst von den Vorgängern des abstrakten Expressionismus ab, um die Grenzen zu erweitern. Zu jener Zeit fanden zahllose Experimente statt, die im Wesentlichen von den Ideen des Surrealismus inspiriert waren, auch wenn kein direkter Bezug darauf genommen wurde. So wurden Formen kreiert, die Nicht­Kunst­Materialien wie Junk, Trümmer und auf der Straße aufgelesene Materialien verwendeten. Dreidimensionale Environments, die Malerei, Architektur und Skulptur kombinierten, ebenso wie Thea­ ter und Tanz, stellten Szenen des realen Lebens dar. Happenings erstreckten sich von den Studios und Galerien direkt auf die Straßen hinaus, um ihre Präsenz zu unterstrei­ chen, sich die Straße einzuverleiben und zugleich zu einer Bereicherung des öffent­ lichen Lebens beizutragen.9

Jane Jacobs war Journalistin, die erst durch ihre Heirat mit einem Architekten und die Tätigkeit als Herausgeberin des Architectural Forum ab 1952 mit der Thematik des Städtebaus konfrontiert wurde. Neben moderater Kritik an der Unverhältnismäßig­ keit mancher Großprojekte in New York und des Verzichts auf jeden Maßstab und des urbanen Kontextes konzentrierte sie sich in zunehmender Weise auf die Stadtentwick­ lung und ihre politischen Zusammenhänge, eine Tätigkeit, die im Verfassen ihres be­ rühmten Buches gipfelte. Sie machte von der ersten Zeile an klar, worin ihre Ziele bestanden. „Dieses Buch ist ein Angriff auf die geläufige Stadtplanung und den Umbau der Städ­ te, es ist auch und hauptsächlich ein Versuch der Einführung neuer Prinzipien der Stadtplanung und Entwicklung, die sich von denen, die heute überall, auf Architek­ tur­ und Planungsschulen bis in Sonntagsbeilagen und Frauenmagazinen gelehrt wer­ den, unterscheiden und in Gegensatz dazu stehen. Mein Angriff gründet sich nicht auf Wiederaufbaumethoden oder Haarspaltereien über Designmoden. Es ist eher ein An­ griff auf die Prinzipien und Ziele, die die moderne, orthodoxe Stadtplanung und Ent­ wicklung gestaltete.“10 In einigen wenigen Seiten greift sie jenen Urbanismus an, der seit Le Corbusiers Publikation L’Urbanisme und der Idee der Radiant City und der Gartenstadt mit Hoch­ häusern den Stadtplanern und Architekten als leitendes Modell galt. „Die Annäherung an eine Stadt oder auch nur eine Nachbarschaft, mit der Vorstel­ lung sie könnte wie ein reines Architekturproblem durch ein Werk einer diszipliniertes Kunst eine Ordnung erhalten, bedeutet den Fehler zu machen, Kunst an die Stelle von Leben zu setzen. Die Ergebnisse einer derartigen tiefgehenden Vermischung zwischen Leben und Kunst sind weder Leben, noch Kunst.“11 In Hinblick auf Le Corbusier konzediert sie, dass die Idee der Radiant City den Män­ nern, die um 1920 herum jung waren, als eine attraktive Idee erscheinen konnte, dass es sich nun aber um alles andere als etwas Modernes handle, wenn man Konzepte, die mehrere Jahrzehnte alt seien, auf die völlig veränderte Stadt der Gegenwart anwende, die völlig andere Verkehrs­ und Lebensbedingungen aufweise. Sie kritisierte die Segregation: Sämtliche Formen der Stadtentwicklung, von der Radiant City, der Radiant Garden City oder der Radiant Garden City Beautiful – sie ver­ wendet diese Begriffe – bzw. sämtliche Planungen im großen Maßstab haben das Kon­ zept des Turfs zur Folge, was eine Aneignung des Terrains, der Straßen und Parks nach dem Muster der Jugendbanden als Hoheitsgebiet bedeutet, die sich nun aber auch

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Thanatologie des Urbanen

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durch eine Differenzierung nach sozialen Schichten vollzieht, die gewisse Bereiche als Hoheitsgebiet beanspruchen und das Konzept der durchmischten Ansiedlung der alten Stadt ablösen.12 Sie stellt auch fest, dass die Mittelklasse sich in besonderer Weise vor Kontakten mit anderen Menschen abschirmt. Dies hat einerseits mit den gelegentlich auftretenden Problemen und Zwischenfällen in den Siedlungen zu tun, für die man immer Außenseiter verantwortlich macht, aber auch mit der sich verhärtenden Turf­ psychologie, die zu einer Art von Verfolgungswahn bei den Bewohnern führt und sehr oft mit Xenophobie verbunden ist.13 Sie plädierte für eine Verdichtung der Stadt, was damals völlig ungewohnt war – so geriet sie damit auch in Gegensatz zum Gartenstadtanhänger Mumford – und wies am Beispiel der in der unmittelbaren Nachkriegszeit auf dem Terrain des Gaswerkes er­ richteten Stuyvesant Town Siedlung in Manhattan die Unsinnigkeit der dort prakti­ zierten Entdichtung nach. Greenwich Village ist ein Stadtviertel mit hoher Verdichtung und großer Abwechslung unter den Gebäuden. Die Dichte beträgt zwischen 310 und 500 Wohnungen per Hektar, ohne dass eine Standardisierung eingetreten wäre, es gibt Einfamilienhäuser, Miethäuser, Apartmenthäuser und Hochhäuser. Ein gro­ ßer Prozentsatz der Fläche ist überbaut, um diese Dichte herstellen zu können (etwa 60–80 Prozent verbaut, 20–40 Prozent unverbaut und Höfe). Die neue Flächenwid­ mung verlangt Freiflächen von 75–85 Prozent und eine Verbauung von 20–25 Prozent. Gleichzeitig muss aber in Greenwich eine unterste Grenze von 310 Wohnungen per Hektar eingehalten werden. Die Folge war, dass zur Einhaltung der untersten Gren­ ze der Dichte mit 310 Wohnungen pro Netto Hektar und um diese Dichte bei einer überbauten Fläche von nur 25 Prozent überhaupt erzielen zu können, alle Wohnungen streng typisiert und alle gleich gehalten wurden, was jegliche Vielfalt im Keim erstick­ te.14 „Die rein mathematische Unmöglichkeit wird selbst ein Genie daran hindern, eine echte und wirkliche Vielfalt bei einer so niedrigen Überbauungszahl und einer derart hohen Wohnungsdichte zu erzielen.“15 Auch bezog sie Stellung gegen die gängige Strategie der Slumsanierung, die durch den Abriss und Neubesiedlung erfolgte. „Unsere gegenwärtigen Stadterneuerungsgesetze sind ein Versuch, dieser Verket­ tung in einem circulus viciousus durch ein drastisches Ausradieren der Slums und ih­ rer Einwohner zu begegnen, um sie durch Siedlungsprojekte zu ersetzen, die höhere Steuern einbringen und Bewohner anlocken sollen, die weniger teure öffentliche An­ strengungen erfordern. Im besten Fall werden die Einwohner von einem Slum zum nächsten verlagert (mit der Zugabe einer Extrahärte und Störung). Im schlimmsten Fall zerstört sie Nachbarschaften, deren Communities sich bereits konstruktiv um Ver­ besserungen bemühen und wo die Situation eher nach einer Ermutigung als nach Zer­ störung verlangt. Ähnlich wie die Kampagnen zur Konservierung in Nachbarschaften, die Tendenzen zur Verslumung aufweisen, versagt die Methode der einfachen Verlage­ rung von Slums deshalb, weil sie die Ursachen der Schwierigkeiten durch die Bekämp­ fung der Symptome überwinden möchte. Manchmal sind diese Symptome, gegen die sich die Slumshifter richten, Relikte von früheren Schwierigkeiten, als Anzeichen für gegenwärtige oder künftige Krankheiten.“16 Eine zentrale Strategie zur Vermeidung eines Abrutschens der Nachbarschaften in die Verslumung müsste darin bestehen, die Abwanderung der Bevölkerung zu verhin­ dern. „Das Dilemma chronischer Slums ist auch darauf zurückzuführen, dass zu vie­ 340

Großsiedlungen kritisierte. Ihre Hauptkritik galt der Gartenstadtplanung, die nur nach zwei funktionalen Va­ riablen funktionierte, die Anzahl der Wohnungen (der Bevölkerung) und der Arbeits­ plätze und der primitiven Anwendung statistischer Daten. „Dieses Verständnis der Stadt als eine Ansammlung verschiedener Schubladen passt auch sehr gut zu Le Cor­ busiers Vision der Cité Radieuse und der vertikalen und mehr zentralisierten Version von Howards Garden City mit ihrem Zwei­Variablen­System. Obwohl Le Corbusier selbst nicht mehr als eine Geste in Richtung statistischer Methoden machte, suggerier­ te sein Schema die statistische Neuordnung einer fehlorganisierten Komplexität, die mathematisch lösbar ist. Seine Türme in den Parks feierten eine Kunst der Allmacht der Statistik und waren ein Triumph des mathematischen Durchschnittswertes.“18 So kommt sie zu einem vernichtenden Urteil der Stadtplanung: „Als Wissensfeld stagniert die Stadtplanung. Sie ist geschäftig, aber kommt nicht voran. Die heutige Stadtplanung zeigt, wenn überhaupt erkennbar nur wenig, wenig Fortschritt im Ver­ gleich zur Planung einer Generation zuvor. Was den Verkehr betrifft, sowohl regional als auch international, wurde nichts angeboten, was nicht schon 1938 vom General Motors Diorama bei der Weltausstellung in New York gezeigt wurde, und zuvor von Le Corbusier. In mancher Hinsicht besteht sogar ein Rückschritt. Keine der heutigen schwachen Imitationen des Rockefeller Centers sind so gut wie das Original, das vor einem Vierteljahrhundert erbaut wurde. Sogar bei den eigenen Kriterien der konven­ tionellen Planung sind die Siedlungsprojekte keine Verbesserung und üblicherweise ein Rückschritt im Vergleich zu denen der 1930 Jahre.“19 Resonanzen Die Resonanz auf ihr Buch war vielfältig, aber bei den Intellektuellen überwiegend positiv, bei den Stadtplanern tendenziell positiv, mit gewissen Einschränkungen. Her­ bert Gans, einer der bekanntesten Soziologen der Stadtforschung, auf den sie sich in vielen Fällen bezogen hatte, lobte die Frische ihrer Herangehensweise enthusiastisch, meinte nur korrigierend, dass Jacobs die Möglichkeiten der Stadtplanung zur Formung eines Verhaltens überschätze, wenn sie verlange, dass Mittelschichtangehörige den Stil eines Familienlebens der Arbeiterklasse annehmen müssten, der durch das Groß­ ziehen mehrerer Kinder und der entsprechenden Soziabilität gekennzeichnet ist. „Alle neuen Formen des Siedlungsbaues, in den Vororten und in der Stadt sind nicht die Pro­ dukte einer orthodoxen Planungstheorie, sondern Ausdruck einer Mittelschichtkultur,

Jane Jacobs. Die Urbanistin mit dem ungebührlichen Verhalten

le Leute zu schnell ausziehen, und in der Zeit dazwischen an nichts anderes als ihren Auszug denken. Das ist jenes Glied der Kette, das unterbrochen werden muss, wenn sonstige Anstrengungen zur Abschaffung der Slums oder des Lebens in den Slums den geringsten Erfolg haben sollten.“17 Ihr prinzipieller Widerstand gegen Großprojekte, die nicht in den Maßstab der Stadt passen und einfach übergestülpt werden, weil sie nicht in das Gewebe der Stadt einge­ fügt werden und damit auch die Umgebung gefährden, führte zu einer Reihe weiterer Ratschläge. Zunächst sollte man in diesen Siedlungen richtige Straßen errichten, um neue Möglichkeiten der Nutzung zu schaffen, damit würden auch die Sockelzonen wie­ der mehr belebt und die Vitalisierung dieser Bereiche würde die drohende Verslumung verhindern. Sie hatte auch einen Blick für die Abläufe im Inneren des Hauses, indem sie die Korridore mit Fallen verglich oder die schlecht funktionierenden Aufzüge in den

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die den Wohnungsmarkt lenkt und auch den Planern dient. Oft dienen ihr die Planer gar zu loyal und ignorieren damit die Bedürfnisse der Arbeiterklasse.“20 Die Analyse von Jacobs, der zufolge die Leute die Nachbarschaft verlassen, wenn sie nicht mehr abwechslungsreich genug ist, hält Gans für zu simpel. Die Menschen verlassen die Areale, um neue Lebensstile auszuprobieren und eine hinzugefügte Di­ versität würde sie nicht zum Bleiben überzeugen. Dennoch bleibt für ihn folgendes Re­ sümee: „Ihr Buch ist ein bahnbrechender Erfolg, und weil sie so oft recht hat, bin ich am meisten durch den Umstand enttäuscht, dass sie auch genau so oft falsch liegt.“21 Signifikanter war die Reaktion von Lewis Mumford, des großen Historikers und Stadttheoretikers. Er konzedierte zunächst, dass die Nutznießer des National Urban Renewal Act 1948 in erster Linie die neuen Investoren und Bewohner, nicht aber die Slumbevölkerung seien. Auch lobte er die frische Brise, die Jacobs in die Stadtfor­ schung gebracht habe, wenngleich er ihr auch Vorurteile vorhielt. So hielt er ihre star­ ke Befassung mit der Kriminalitätsverhütung für übertrieben und konstatierte das „Fehlen einer Gesamtsicht einer großen Metropolis.“ 22 Gegen den Vorwurf von Jacobs, dass das Bild der Planer der Perspektive einer Generation auf den Höhen des Olymps entstamme, argumentierte Mumford, dass er selbst schon in jeder Art von städtischer Nachbarschaft gelebt habe, er aber dennoch wie die meisten seiner Zeitgenossen, eine Wohnung mit einem kleinen Garten vorziehe, etwas, das Jacobs verachte.23 Er argu­ mentiert primär ästhetisch und nicht planerisch, indem er Jacobs eine philisterhafte Haltung in Fragen des Designs und der baulichen Strukturen vorwirft, weil sie dies in der Stadtplanung für weitgehend überflüssig hält. „Dass Schönheit, Ordnung, Räum­ lichkeit und Transparenz der Ziele einen eigenen Wert wegen ihrer Wirkung auf den menschlichen Geist haben, auch wenn sie nicht Dynamik, Umsatzerhöhungen bei Wa­ ren oder Verminderung von Kriminalität fördern, scheint bei Mrs. Jacobs nicht vorzu­ kommen. Das ist ästhetisches Philistertum und Rachsucht.“24 Der größte Widerstand seitens Mumford betraf die Frage der Verdichtung. Er, der zeitlebens ein Anhänger der Gartenstadt war und 25 Jahre zuvor aus New York in eine Farm umgezogen war, konnte sich mit ihrer Sicht der Urbanität nicht anfreunden. „Man kann destruktive Automatismen nicht von oben aus kontrollieren, wenn man nicht mit den kleinsten Einheiten beginnt und das Leben erneuert und einen Anfang für die einzelne Person als verantwortliches menschliches Wesen, die Nachbarschaft als das primäre Organ, nicht nur des sozialen Lebens sondern auch des moralischen Verhaltens setzt. Und schließlich auch für die Stadt als die organische Verkörperung des gemeinsamen Lebens, in einer ökologischen Bilanz mit den anderen Städten der Region in der sie sich befinden, ob groß oder klein. Eine schnelle, rein lokale Antwort für diese Probleme ist nicht besser als das Anlegen eines hausgemachten Wickels zur Heilung eines Krebses. Und ich fürchte, dass es das ist, was die ziemlich ,originellen‘ Vorschläge Jacobs in ,The Death and Life of Great American Cities‘ bedeuten.“25 LOMEX. „The Expressway will Los Angelize New York“ 26

Die Phantasien der vertikalen Kinetik, wie sie in den 1920er Jahren von Planern wie Har­ vey Corbett und Hugh Ferriss propagiert wurden, führten zur Planung eines futuristi­ schen Projektes im Auftrag von Robert Moses, das dieser zu seinen Lieblingsprojekten zählte, LOMEX , die Abkürzung für Lower Manhattan Expressway. In der Tat mutet das Projekt auch heute noch in seiner Megalomanie unerhört an und lässt den wilden Geist 342

der fordistischen Planung New Yorks aufleuchten. Im Zuge einer gigantischen Quer­ verbindung der Stadtteile Manhattan, New Jersey und Long Island mit einer Stadt­

beruht auf dem Reiz der Gegensätze der Gebäude und Straßen aus der Moderne des 19. Jahrhunderts und der Kunstproduktion des späten 20. Jahrhunderts. LOMEX wur­ de von Anbeginn durch Bürgergruppen bekämpft, doch war die Chance eines Erfolges keineswegs sicher. Erst die Publizität der Künstler und der Einsatz prominenter Gegner wie Jacobs verhalfen zur Verhinderung dieses Projekts. Jacobs nahm im April 1968 an einem öffentlichen Hearing zu LOMEX teil und stürmte mit einem Dutzend anderer Kombattanten die Bühne und zertrümmerte die Stenotypiermaschine, worauf Jacobs verlautbarte, wenn es nun keine Aufzeichnungsmöglichkeit der Anhörung gäbe, dann könne es auch kein Hearing geben. Sie wurde daraufhin festgenommen, wegen aufrüh­ rerischen Verhaltens, Anstiftung zum Aufruhr und Widerstand gegen die Staatsgewalt angeklagt, später wurde die Anklage auf ungebührliches Verhalten reduziert. Der Ar­ chitekturkritiker Peter Blake fand die Anklage in seinem mit stenocide betitelten Arti­ kel lächerlich. „Eine Anklage wegen ungebührlichen Verhaltens ist ziemlich lächerlich. Natürlich ist Mrs. Jacobs ungebührlich – das ist ihr Job!“27 Eine weitere Studie wurde von Paul Rudolph erstellt, um das LOMEX­Projekt mit der Stadtentwicklung zu verbinden, indem die Autobahn durch Überbauung als Rück­ grat einer Megastruktur dienen sollte. Der fließende und ruhende Verkehr, inklusive der der Fußgänger sollte auf mehreren Ebenen geführt werden. Paul Rudolph verfas­ ste mehrere Varianten. Eine Überbauung sah riesige abgestufte, aneinandergereihte trapezartige Scheiben vor, die durch ein Netzwerk von horizontalen und vertikalen Strukturen verbunden werden sollten. Die Begründung für diese Megastrukur kam etwas überraschend mit Bezug auf die Ponte Vecchio in Florenz. „Läden entlang des Fahrwegs und darüber wunderbare Wohnstätten. Der Maßstab der Stützen richtet sich nach dem Fahrweg und für alles übrige wird der Maßstab entsprechend verkleinert. Nichts ist neu. Das ist auch eine Art von Megastruktur und wahrscheinlich das reinste Beispiel in der traditionellen Architektur.“28 Von der Wirkung her wäre es ein riesiges bewohntes Viadukt geworden, das aber wie eine riesige Mauer die Nachbarschaften getrennt hätte. An einem anderem Modell wurden auf gigantischen Stützen auf seitlichen Trägern traubenförmige Wohneinhei­ ten angeordnet. Auch wenn die Modelle noch heute eine gewisse Faszination des Er­ habenen aufkommen lassen und an eine Zeit der unbekümmerten Architektur­Utopie erinnert, war der Maßstab gewissermaßen „unmenschlich“ und hätte eine Zerstörung von Greenwich Village bedeutet.

Jane Jacobs. Die Urbanistin mit dem ungebührlichen Verhalten

autobahn sollte auch in Manhattan ein Expressway quer durch Manhattan geschlagen werden, vom East River zum Hudson, wobei große Teile von South und West Village, Little Italy, Chinatown und der Lower Eastside entweder abgerissen oder völlig isoliert werden sollten. Als diese Pläne publik wurden, zogen gleich einmal zahlreiche Mieter aus Gewerbe und Industrie in Antizipation der Folgen aus und hinterließen zahlreiche leere Gebäude, in die nun die Künstler einströmten und die Geburt des Lofts verkün­ deten. Seit Mitte der 1960er Jahre bis in die frühen 1970er Jahre verwandelten diese Tausenden von Künstlern einen anonymen gewerblichen Raum in das weltweit füh­ rende Zentrum für die Kunstproduktion. Damit wurden aus SoHos herabgekommenen Straßen plötzlich Quellen der Vitalität und Intensität. Vieles an der Aura dieses Raumes

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1 Jane Jacobs, The Death and Life of Great American tary 33, Feb. 1962; zit. nach Robert A. M. Stern/Thomas Cities, Penguin Press, London 1964 . 2 Marshall Ber- Mellins/David Fishman, New York 1960, Taschen Verlag, man, All that is solid melts into air, Penguin Press, Lon- Köln 1997, S. 45. 21 Gans (wie Anm. 20), S. 45. 22 Lewis don, S. 315. 3 Jacobs (wie Anm. 1), S. 61. 4 Jacobs (wie Mumford, The Lewis Mumford Reader, Donald L. Miller Anm. 1), S. 63 . 5 Ebd. 6 Berman (wie Anm. 2), S. 317. (Ed.), Pantheon Books, New York 1986, S. 189. 23 Ebd., 7 Jacobs (wie Anm. 1), S. 60. 8 Ebd. 9 Berman (wie S. 191 . 24 Ebd., S. 194 . 25 Ebd., S. 200. 26 Jacobs; Anm. 2), S. 318 . 10 Jacobs (wie Anm. 1), S. 13 . 11 Ja- zit. nach Stern/Mellins/Fishman (wie Anm. 20), S. 259. cobs (wie Anm. 1), S. 386. 12 Jacobs (wie Anm. 1), S. 58 . 27 Stern/ Mellins/Fishman (wie Anm. 20), S. 261. 28 Hein13 Jacobs (wie Anm. 1), S. 415. 14 Jacobs (wie Anm. 1), rich Klotz/John W. Cook, Architektur im Widerspruch, ArS. 228 . 15 Ebd. 16 Jacobs (wie Anm. 1), S. 284 . 17 Ja- temis, Zürich 1973, S. 129. cobs (wie Anm. 1), S. 285. 18 Jacobs (wie Anm. 1), S. 450. 19 Jacobs (wie Anm. 1), S. 453 . 20 Herbert Gans, „City Sämtliche Zitate vom Autor übersetzt. Planning and Urban Realities, book review“, in: Commen-

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Postmoderne Stadt und Angst. Urbane Form und „Maximal-Stress-Cooperation“ Stadt und Angst. Die Geburt der Edge City. Pioniere aus dem Post-Riot-Stress Stadt und Angst. Californian Urban Dreams and Nightmares. Simulacra, Schizophrenie, Psychasthenie Die Generic City. Okzidentale Identifikationsprobleme oder Taoistischer Vitalismus Vorboten der Postmoderne Vorboten der Postmoderne. Michel Foucaults „Andere Räume“ Die Stadt als Archipel der Kapseln Die Stadt als Archipel der Kapseln. Kapsel und heterotopischer Urbanismus Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung?

Stadt und Angst. Urbane Form und „Maximal­Stress­Cooperation“ Städte sind von ihrer Idee und Anlage her immer schon zunächst Einrandungen durch Mauerbauten, Abgrenzungen gegen außen gewesen, die für die Inklusion der Men­ schen gegen eine feindliche Welt sorgten, der Abwehr von Rivalen und Schaffung einer Substanz des Eigenraumes dienten, um eine weniger gefährdete Existenz führen zu können. Die Form der Stadt bis ins 20. Jahrhundert kann als Beweis dafür gelten, dass Städte immer Selbstbehälter waren, wo Menschen auf gemeinsamen Territorium eine Sinnsphäre mit gemeinsamen Motiven entwickelten, die sich in einer solidarischen Raumform durch Schutz vor dem feindlichen Außen äußerte. Daran hatte auch der Abbau der alten Fortifikationssysteme aufgrund militärischer Überholtheit nichts ge­ ändert, die Stadt blieb trotz aller inneren Widersprüche ihrem Wesen nach eine Form des Immunschutzes. Erst seit sich der Territorialstaat, der ja auf der Idee der Stadt beruht, im 20. Jahrhundert durch die Globalisierung und das weltgeschichtliche No­ vum einer „Gesellschaft der dünnen Wände“ 1 aufzuweichen beginnt, gerät auch das Immunkonzept der Stadt durch wachsenden Stress in Bedrängnis. Man muss in die­ sem Zusammenhang erwähnen, dass die Ausbildung sämtlicher Formen der Urbanität eben auf der Voraussetzung einer gewissen Selbstsicherheit beruhte, weil man unter den Bedingungen der psychologischen Immunität problemlos mit Fremden umgehen konnte. Mit der zunehmenden Auflösung der gemeinsamen Sinnsphären kommt eine neue Form der Angst und des Stresses auf, die für die Entwicklung der gegenwärtigen Stadt außerordentlich bedeutsam ist. War die Stadt der Ausdruck eines sensus commu­ nis gegenüber dem äußeren Feind, ist nunmehr die Bedrohung nicht mehr klar aus­ zumachen, sondern wird durch diffuse Ängste ersetzt, die Gefahrenquellen nun auch im Innen vermutet. Simmel hatte bereits vor über 100 Jahren die neue Eigenschaft der Blasiertheit als Vorbedingung der Urbanität beschrieben, die es den Einzelnen er­ möglicht mit vielen den gleichen Raum zu teilen, ohne Anteil zu nehmen. Diese Dis­ tanzierungstechnik des nicht mehr auf Solidarität angewiesenen Individuums ermög­ licht ein Zusammenleben ohne persönliche Involvierung, wie sie im Dorf üblich und notwendig war, in der Stadt aber unmöglich und sinnlos wäre. Man ist damit auch nicht mehr an die örtliche Gemeinschaft gebunden, sondern in der Auswahl der Kon­ takte freier und damit auch im Umgang mit dem Fremden gelöster. Freilich birgt diese Distanzierung und freie Kontaktwahl auch die Risiken einer Latenzphase, denn die auf diese Weise aufgehobene Freund­Feind­Diskriminierung ist damit nicht aufgegeben und einzelne Stadtbewohner können unter bestimmten Bedingungen wieder auf den Status dieser biologischen Notwendigkeit zurückgeworfen werden. Der Zusammenhang der wirtschaftlichen und sozialen Mobilisierung mit Angst ist nicht neu, insbesondere aber unter den Bedingungen der modernen Medien ist die Herausbildung einer Panikkultur evident.2 Jede Nachrichtensendung, jede Zeitung ist ein Update der jeweiligen Krisen und Katastrophen. Jede politische Formation hat ihre spezifische Katastrophentheorie, den Angsthintergrund, vor dem sie ihre politi­ sche Tätigkeit entfaltet. Die Abnahme der religiös Praktizierenden hat in der westli­ chen Kultur keineswegs zu einer Abnahme der apokalyptischen Botschaften geführt, 349

eher im Gegenteil, die uralten verbindlichen Glaubenssysteme hatten immer noch die Kraft einer Sammlung sinnspendender und verbindlicher Welterklärung, die eher der Beruhigung dienten. Die Aufklärung hat bewirkt, dass wir die Horizonte unserer Lebenswelt von der Metaphysik und damit auch der Frage nach dem Tod wegrücken konnten, aber der Einbruch der Angst vollzieht sich dennoch sehr schnell, wenn der technische Schutzwall löchrig wird, wie etwa im Falle der japanischen Atomkatas­ trophe. Zahlreiche Ängste werden zu Stressoren ausgebildet und damit handlungswirk­ sam, vor allem die Xenophobie, die Angst vor Terrorismus, die Angst vor der demo­ graphischen Entwicklung, vor dem Wachstum der Menschheit als Ganzem, vor der Überalterung der westlichen Gesellschaften, der geringen Kinderanzahl, der Umwelt und neuerdings der Angst vor den Schulden, mithin des drohenden wirtschaftlichen Zusammenbruchs einhergehend mit dem Verlust der sozialen Sicherheit. Kollektive Angst ist nichts Neues, oft wird das Bewusstsein von Gruppen oder gesamten Gesell­ schaften dadurch geprägt. Der Ausdruck der Angst kann sehr verschieden sein und sich durch Stimmungen, Gerüchte, religiöses und kulturelles Verhalten, Bräuche, so­ ziale Rituale, aber auch politische Einstellungen manifestieren. Stress ist eher ein bio­ logisches als psychologisches Phänomen, er beruht auf einem Impuls der Selbsterhal­ tung, der aber auch außerordentliche soziale Konsequenzen nach sich zieht. Denn es handelt sich nicht nur um ein inneres Gefühl, sondern vor allem um ein energetisch wirksames Element, das Verhalten steuert und soziale Kohäsion fördert. Soziale Synthesis durch Stress Die Kulturtheorie hat durch Anleihen bei der Naturwissenschaft außerordentlich in­ teressante Erkenntnisse in der Frage der sozialen Synthesis erzielt. Heiner Mühlmanns Buch Natur der Kulturen, das von Peter Sloterdijk in seinen „Sphären“ immer wieder erwähnt wird, erklärt unter Bezug auf Bazon Brock den fundamentalen Zusammen­ hang zwischen Krieg und Kultur durch seine Theorie der „Maximal­Stress­Cooperation“ (MSC), indem er den Nachweis führt, dass die soziale Kohäsion unter Stress besonders gut funktioniert. Damit ist nur das Faktum der Kooperation gemeint, nicht das Ergeb­ nis dieses Prozesses, der zum Konflikt führen muss. Er beschreibt dabei die Gesetze eines kollektiven Stressereignisses, das in einem mehrphasigen Prozess abläuft. Die­ ses Ereignis folgt der Logik des Ernstfalles, analog dem von Bazon Brock behaupteten Zusammenhang von Kunst und Krieg, Kunst und Ernstfall. Damit wird der von Carl Schmitt kreierte Begriff des politischen Ernstfalles, jenes Ereignisses, das in jedem Fall zur Entscheidung und zu einer klaren Freund­Feind­Unterscheidung führen muss, in die Sprache der Biologie übertragen. Aus dieser biologischen Sicht handelt es sich aber nicht um jenes zentrale Stück der theologischen Begriffe von Schmitt, sondern eher um eine Standardsituation, die von den Menschen und anderen Säugetieren durch ein angeborenes Programm zu einer automatischen Steuerung in Stresssituationen führt, die durch die Freisetzung bestimmter endokrinologischer Hormone ein Höchstmaß an Energie erzeugt und zugleich zu einer solidarischen Aktion mit den Gruppenmitglie­ dern zwingt. Diese Reaktion läuft nicht über den Verstand ab, sondern in Form einer körperlichen Antwort auf einen bestimmten Auslöser, der sich durch die evolutionäre Vergangenheit des Menschen als Reaktion auf die zahlreichen Grenzsituationen bis in die Gegenwart erhalten hat. Das Zentrum der Entscheidung kann sich hier nicht auf 350

den Verstand verlassen, sondern es ist zu einer sofortigen Einschätzung des Ernstfalles vorbereitet, zugleich auch zur Bereitstellung der nötigen Energie. Feindbild und Territorialität Mühlmann hat ein fünfteiliges Schema der MSC entwickelt – Lokale Regeln, Stress, Relaxation, Iteration und Degeneration – wobei vor allem die ersten drei Phasen von Bedeutung sind.3 Zunächst besteht eine Form normaler Kooperation innerhalb einer bestimmten Population, die aber für die nachfolgende Stressphase insofern wichtig ist,

innerhalb der Gruppen abläuft. In der zweiten Phase zeichnet sich Folgendes ab: Alle Kommunikationen, die Mühl­ mann als Insider­Konjunktionen bezeichnet, also alles was den Unterschied zwischen Insidern und Outsidern durch diskriminierendes Potential betont, wird verstärkt. Der Raum der Insider, der Wir­Gruppe, wird durch Selbstbestätigung und Ausgrenzung aufgewertet, was die Neigung zur Kooperation in der Gruppe verstärkt. Alles was von außen kommt, wird abgewertet und als feindlich betrachtet. Der Übergang von der positiven zur negativen Diskriminierung ist vollzogen und führt zur Abwertung der Außengruppen durch ausgrenzende und verletzende Aktivitäten. Wie gesagt, Stress ist zunächst nur ein individuelles Ereignis, wird aber auf das Kollektiv übertragen und erzeugt einen Populationsstress. Voraussetzung für die Ein­ wirkung eines Stressors auf die gesamte Population ist eine Ausgrenzungsarbeit durch diskriminierendes Potential. „Das diskriminierende Potential kann man sich dabei wie einen Druckunterschied vorstellen, der zwischen den beiden Seiten einer Mem­ bran entsteht. Dem Druckunterschied an der Innen­ und Außenseite einer Membran entspricht die Richtung des Neids beim Diskriminierungspotential: eine Population kann beneidet werden. Daraus kann ein realer Stressor entstehen, der der die Popula­ tion aus dem Außenraum angreift. Eine Population kann den Außenraum beneiden. Dann entsteht ein virtueller Stressor im Außenraum, ein paranoides Feindbild, und daraus entsteht Stresskritizität im Inneren der Population.“ 4 Das eigentlich bedrohliche Ereignis entsteht nun durch die Formung eines gemein­ samen Gruppenkörpers durch Maximal Stress Cooperation (MSC). Energieauslösung und Kognition bilden nun eine funktionelle Einheit, zudem kann der Stress nahezu ins Unendliche gesteigert werden, wenn neue Stressfaktoren hinzukommen. Dies ist das genetische Erbe, das aus der Kriegsführung entstanden ist und sich durch die extre­ me motorische Koordination der Truppen bewährte; es schaltete die Möglichkeit zur Flucht aus durch eine ausschließliche Programmierung auf Angriff. Die griechische Phalanx ist hier ein klassisches historisches Beispiel, weil sie eine Formation darstell­ te, in der sich der einzelne Hoplit nicht zurückziehen konnte. Wenn ein Glied ausfiel, musste der nachfolgende Krieger an die leere Stelle rücken. Dies erzeugte eine äußerst machtvolle und effektive Kampf­ und Kriegsmaschine, die den Sieg der Griechen über die Perser sicherte, weil sie eine Programmierung auf absoluten Angriff, Sieg oder Tod erfahren hatte, während sich die Perser, die Möglichkeit des Rückzugs offen gehalten hatten.5

Stadt und Angst. Urbane Form und „Maximal-Stress-Cooperation“

weil bereits hier Gefälle zwischen der Gruppe bzw. Population und den außerhalb Ste­ henden vorbereitet wird, das sich zunächst einfach in einer größeren Sympathie zwi­ schen den Gruppenmitgliedern im Vergleich zu den Außenseitern äußert. Diese posi­ tive Diskriminierung beruht auf der Bindung durch Kooperation, wie sie üblicherweise

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Mühlmann erwähnt aber auch das aktuelle Beispiel der Hooligans 6, die nach dem­ selben Muster der MSC­Aktion handeln. Sie bilden sich Stressoren ein, und zwar die Anhänger der gegnerischen Mannschaft, und halten sie für reale Aggressoren. Für den Ablauf dieses Prozesses ist es gleichgültig, ob die Stressoren real oder eingebildet sind, die reine Imagination genügt, um sie real werden zu lassen. Es gilt daher zu verhin­ dern, „daß Kulturpopulationen innere Bilder von äußeren Stressoren erzeugen“.7 Krie­ ge sind daher immer auch Einbildungen des Ernstfalles, das anthropologische Erbe stellt einen Stressauslöser zur MSC dar, der durch die innere Projektion des Feindes die äußere Realität herstellt. Die Genese der urbanen Form aus der post-stressalen Relaxationsphase In der dritten Phase, die nun als die post­stressale Relaxationsphase 8 zu bezeichnen wäre, erfolgt eine Neubewertung aller bisherigen Regeln aus der Erfahrung ihrer Rol­ le im Kriegserfolg. Das klassische Beispiel ist die Herausbildung des römischen Deco­ rums. In der Architektur der römischen Antike, die bis zum Barock hin Gültigkeit bean­ spruchte, wurde die Position eines Gebäudetyps durch seine Beziehung oder jeweilige Nähe zum Krieg, die auf einer Skala zwischen den Polen erhaben und niedrig gebildet wurde, bestimmt 9. Je näher das Gebäude einem Krieg ist, bzw. eine Rolle in Zusam­ menhang mit dem Krieg spielt, desto höher seine Bedeutung im Decorum. Nach Alber­ ti wird der höchste Rang von den Stadtmauern eingenommen, die höchste Kraft geht also von der Fortifikationsanlage aus. Den zweiten Rang nehmen die Tempel ein, weil sie das Organisationszentrum der Globalstruktur darstellen und die beherbergten Göt­ ter den Menschen das Charisma zum Sieg verleihen. Den niedrigsten Rang nehmen die Wohngebäude und dort wieder die Wohnräume ein, weil sie als rein private Räume den geringsten Bezug zum Krieg haben. Die Stadtmauer ist die letzte Verteidigungslinie, die topologische Grenze zwischen Angriff und Flucht, die architektonische Form, die sich unmittelbar aus der MSC­Aktion ergibt. Wenn die Stadtmauer als die wichtigste Architektur für den Stress in der Antike betrachtet werden kann, so steht der Triumphbogen für die Relaxation, für die Pha­ se nach der MSC­Aktion. Er ist die architektonische Ausformung für den Tag nach der siegreichen Schlacht, wenn in den römischen Triumphritualen das Heer, angeführt vom Feldherrn, durch den Bogen marschierte und ihm vom Volk ein begeistertes Ent­ ree bereitet wurde. Zuvor hatte das Heer die Waffen abgelegt, wichtigstes Zeichen der Relaxation und zugleich eine Sicherheitsmaßnahme für die Stadt, die keine bewaffne­ ten Soldaten innerhalb der Stadtmauern duldete. „Der Triumphbogen ist ein Bild des Stadttors.“10 Er führt in keinen realen Innenraum, sondern bildet eine Schnittstelle „zwischen Realraum und virtueller Realität“11 und die Rahmenform für Altarbilder und Theaterbühnen. Nach Mühlmann bildet die Basis der Kulturen eine spezifische Form des Herois­ mus, der durch die Maximal Stress Cooperation durch Stress erzeugt worden war, weil durch kollektive paranoide Vorstellungen ein Feindbild im Inneren entstanden ist, das so übermächtig wurde, dass es durch Kampf in die Realität übergehen musste. In der Nachkriegssituation bilden die Sieger ein Decorum aus, das durch die Entspannungs­ phase möglich wird, zugleich aber auch einen Kult des Heroischen entwickelt, indem es die zum Erfolg führenden Merkmale der Gruppe stilisiert, was nun synchron zur Verstärkung dieser Eigenschaften führt. Das ist der Grund, warum der Triumphbogen 352

in der Architektur der Renaissance und des Barock bis hin ins 19. Jahrhundert elemen­ tarer Bestandteil des Ornamentums der öffentlichen Gebäude war, selbst in der Form der Ädikula auch die Fenster von Wohngebäuden schmückte, weil sie als Fassadenteile der öffentlichen Sphäre zugehörig waren. Er hatte nicht bloß symbolischen Charakter, sondern war nach Mühlmann potentieller Auslöser für die künftigen Maximal Stress Cooperations, ein Signal, das nach richtiger Aktivierung keine Alternativen zum Rück­ zug offenhielt, sondern auf Kampf ausgerichtet war. Die heroische Extremsituation, die aus dem alten Decorum stammt, war zur Erzeu­ gung der Kriegsbereitschaft lebensnotwendig und galt daher als das Eichungsprinzip jeder medialen Darstellung. Sie hatte eine wichtige kulturgenetische Funktion.

kose Voyeurismus“ immer noch existiert. Spannung durch Todesangst ist zur wich­ tigsten dramaturgischen Regel in der Unterhaltung von Film, TV und Romanen gewor­ den.12 Er empfiehlt all jene Elemente, die aus der Kultur des Kriegs stammen, durch zivilisierenden Einfluss einzudämmen. Denn die endogene Stresserzeugung kann ver­ stärkt werden, wenn sie von anderen diskriminierenden Aktivitäten flankiert wird. Auch Mühlmann bestätigt, dass ein Decorum des heroischen Siegers heute keinen bio­ logischen Sinn mehr hat, weil die Notwendigkeit zur Bildung eines Hyperkörpers aus strategischen Gründen sinnlos ist, schränkt allerdings ein, dass dies zumindest für den Großteil der westlichen Bevölkerung in der Position einer weltweit überlegenen Kultur und Rüstungsüberlegenheit gilt. Mühlmann räumt jedoch auch ein, dass es sich bei der verarmten Bevölkerung im Inneren der westlichen Kultur ganz anders verhält, wo schon seit langem MSC­Effekte auftreten, wie die aggressiven Ghetto­Kulturen und Bandenkriege der „inner cities“ zeigen.13 Seit dem Zeitpunkt des Verfassens dieses Textes hat sich die Lage deutlich ver­ schlechtert, die Zunahme verarmender Schichten, die auch den Mittelstand betrifft, erhöht das Potential der „Kriegsbereitschaft“, was die wachsende Aktualität der Theo­ rie unter Beweis stellt. Neuere Beispiele wären: die Riots in England und Frankreich, die deutsche Neo­Naziszene. Die Ausdifferenzierung der Städte nach sozialem Status schreitet flott voran. Die Vierteilung der amerikanischen Stadt Wir versuchen nun unter Anwendung der Thesen Mühlmanns eines Zusammenhanges von Stress und städtischer Form eine Erklärung für die modernen urbanen Struktu­ ren zu finden, die ebenfalls in einem engen Zusammenhang mit den Phänomenen des Stresses und den dadurch ausgelösten urbanen Bewegungen stehen. Die augenblicklich wahrgenommenen Entwicklungen, wie die zunehmend paranoide Sicherheitspolitik, der wachsende Überwachungswahn, die übertriebenen Abschirmungsmaßnahmen und allgemeine Kontrollsucht sind Folgen dieses Prozesses, der seinen modellhaften Ausgang in den USA genommen hat und auch sehr widersprüchlich wahrgenommen wird, da er einerseits als notwendiger Schutz vor Verbrechen und andrerseits als Be­ drohung der Liberalität gilt. Amerikanische Großstädte können hier als negatives Vor­ bild dienen, weil in ihnen der Gesamtzirkel aus Rassismus, Ausgrenzung und reak­ tiver Maximal Stress Cooperation bestimmter Unterschichten zu einer Gesamtdynamik führt, die alle Bevölkerungsgruppen direkt oder indirekt erfasst und entsprechende

Stadt und Angst. Urbane Form und „Maximal-Stress-Cooperation“

Natürlich ist dieses klassische Decorum heute überholt, aber Bazon Brock weist darauf hin, dass dieser bereits seit langem in der westlichen Kultur vorhandene „belli­

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urbane Auswirkungen zeitigt. Gleichermaßen ist auch in den europäischen Städten, wenngleich unter etwas anderen Bedingungen, eine Zunahme ähnlicher Phänomene zu beobachten. Peter Marcuse spricht von der Vierteilung der Stadt und bezeichnet als jene Kräfte, die für die Hervorbringung dieses Musters relevant sind, die Globalisierung, die abneh­ mende wohlfahrtsstaatliche Versorgung durch den Nationalstaat, die Verschiebung innerhalb der Klassen und den wachsenden Rassismus.14 Auf diese Weise – muss man im Sinne der referierten Stresstheorie ergänzen – bilden sich Muster aus, die zu einer permanenten Stressierung der Stadtbevölkerung führen. Die Unterschichten, die bei ethnischer Diversität zumeist in der Minderzahl sind, stellen die Population der Ver­ lierer dar. Der Neoliberalismus der vergangenen Jahrzehnte hatte einschneidende Ver­ änderungen für die sozial benachteiligten unteren Schichten. Der Staat war nicht mehr an Umverteilung interessiert, sondern an der Förderung der Ökonomie durch Auswei­ tung und Globalisierung, die durch die neue Kapitalmobilität und Kommunikations­ medien ermöglicht wurden. Die Arbeiterparteien und Gewerkschaften konnten keine wohlfahrtsstaatlichen Kompensationen für die Verlierer des Globalisierungsprozesses mehr gewähren. Dazu kommt der in den USA besonders stark ausgeprägte Rassismus, der in Europa den fremdenfeindlichen Haltungen entspricht, ebenso wie rassische und ethnische Spannungen in Asien, religiöse und ethnische Konflikte im Nahen Osten, Stammesrivalitäten in Afrika, die alle den urbanen Stress verstärken. Infolge dieser Kräfteeinwirkung sieht Peter Marcuse die Ingangsetzung dreier ur­ baner Prozesse: eine Ghettoisierung am unteren Ende, eine Homogenisierung in der Mitte und eine Privatisierung an der Spitze.15 Daraus leitet er wiederum sechs räumliche Charakteristika ab: (1) Gentrifizierte Gebiete, die Fachkräfte, Techniker und das gehobenen Management bewohnen, be­ finden sich üblicherweise in der Nähe des Stadtzentrums. (2) Suburbanisierte Gebiete zeichnen sich als Wohngebiete der Mittelklasse durch eine für Vorstädte typische Ein­ familienhausumgebung aus, in der Familien mit Kindern leben. (3) Das Quartier der städtischen Mietshauskasernen beherbergt die alte Arbeiterklasse, niedrig entlohnte Beschäftige im öffentlichen Dienst und viele, die in der informellen Ökonomie tätig sind. (4) Die verlassenen Gebiete der Stadt (Ghetto), wie ehemalige Mietskasernen sind die Unterkunft für jene Personen, denen eine Teilhabe am neuen Dienstleistungssektor und am alten Sektor des verarbeitenden Gewerbes verwehrt ist. (5) Jene Personen, die sich an der Spitze der Hierarchie befinden, sind räumlich auf kein städtisches Quartier begrenzt. Sie formieren eine Zitadelle, die sich sowohl in oder außerhalb des Zentrums befinden kann. Der Trend, der für den zunehmenden Stress verantwortlich ist, besteht nun darin, dass ein Niedergang der Arbeiterwohngebiete, eine Zunahme der verlas­ senen und gentrifizierten Zonen und ein Wachstum der Edge Cities an der Peripherie und den Zitadellen in der Innenstadt zu beobachten ist. (6) Dazu kommt in den USA eine weitere Charakteristik, dass die Viertel zumeist durch eine Trennlinie abgeson­ dert sind. Autobahnen, Mauern, Flüsse, Hügel oder Parks sind scharfe räumliche Gren­ zen, die eine topographische Abtrennung herstellen und die durchaus kriegsähnlichen Strategien der Verteidigung oder der Abgrenzung eines Territoriums entsprechen. Die­ se scharfen Grenzen entsprechen den sozialen Barrieren und verstärken diese durch die räumliche wie auch symbolische Undurchdringlichkeit. Gleichermaßen kommt ein extremer Territorialismus auf, der zur Verteidigung des eigenen Gebietes auffordert 354

und zwingt. Dies gilt nicht nur für die Zitadelle im Zentrum, sondern auch für die Ga­ ted Communities, ja insbesondere auch für die Ghettos, wo vor allem Jugendbanden ihre Terrains exakt abstecken und Verletzungen dieser Grenzen sofort mit Kampfhand­ lungen beantworten. Der Unterschied zur antiken oder historischen Stadt besteht in den USA zunächst darin, dass der fiktive Feind nicht von außen kommt, sondern sich im Inneren der Stadt befindet, zumeist in Gestalt bestimmter ethnischer Gruppen, oft auch mit Mi­ grationshintergrund. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass die Maximal Stress

1. Das Ghetto Das Ghetto der Ausgeschlossenen. In amerikanischen Städten ist die Aufgabe substan­ tieller Teile der Stadt ein verbreiteter Missstand, wie etwa das berühmt berüchtigte Beispiel der Bronx in New York zeigt. Wenn profitable Nutzungszyklen ablaufen und die Grundsteuern ausbleiben, fallen räumliche Strukturen häufig der Zerstörung an­ heim. Die Folge ist eine Verelendung des Stadtteils, die nun auf den Straßen, in Heimen, Notunterkünften, und Übergangsquartieren Obdachlose anzieht. Ebenso versammeln sich dort die vom Staat aufgegebenen Familien und Kinder, die oft aus den gentrifi­ zierten und suburbanisierten Gebieten der Stadt vertrieben wurden und sich natürlich nicht in den Zitadellen aufhalten dürfen. Eine der sichtbaren Folgen dieser Entwick­ lung ist Bettelei in den Einkaufstraßen und U­Bahnstationen. Das traditionelle Ghetto unterscheidet sich qualitativ vom Ghetto der Ausgeschlos­ senen, bei dem es sich um eine Konzentration von Menschen bestimmter rassischer, ethnischer und religiöser Zugehörigkeit handelt, ein Raum der für die Immigranten zu­ nächst nur für den Übergang gedacht war, sich später aber häufig zu einer kulturellen Enklave verwandelte, wo die Aufrechterhaltung wertvoller Traditionen gepflegt wur­ de. Wenn sich nun das ethnische Element mit der „Rasse“ verbindet und Armut da­ zukommt, spricht man von einem Ghetto, einer Isolation von Menschen an einem Ort durch Ausschluss von der vorherrschenden Ökonomie, sowohl der formellen, als auch der informellen. Man kann das Ghetto nun als eines der Ausgeschlossenen bezeichnen. Damit hat das Ghetto den Übergangscharakter verloren, gilt nicht als ein Raum der Be­ nachteiligten, sondern als fixer Bestandteil der Landschaft. Es ist daher nicht verwun­ derlich, wenn das Ghetto immer wieder zum Ausgangspunkt von großen Riots wird.

Stadt und Angst. Urbane Form und „Maximal-Stress-Cooperation“

Cooperation nur temporär in den Ghettos zu beobachten ist, vor allem bei den sponta­ nen Ausschreitungen der gelegentlichen Riots. Dabei kann ein geringer Anlass wie ein Polizeiübergriff Anlass für die Explosion des Viertels sein, und als Paradebeispiel einer stressbedingten Kooperation gelten. Wenn man einen Blick auf die Liste der Riots in den USA der 1960er Jahre wirft, die fast immer durch Rassenstreit verursacht wurden, so wird einem das Ausmaß der Fluchtbewegung bewusst, die dadurch mittelfristig in Gang gesetzt wurde.16 Diese Bewegung verlief einerseits als Flucht in die Edge Cities, teilweise auch in der Form der Gated Communities oder zurück in die Stadt in gentrifi­ zierte Gebiete, wo Anlagen mit Fortifikationscharakter errichtet wurden. Disneyfizie­ rung ist ein Phänomen, das in Folge dieser Entwicklung eine räumliche Kompensation des Stresses darstellt, als besonderer Ort der Entlastung gilt, wo bekannte, vertrau­ enserweckende, familienfreundliche und sichere Dienstleistungen und Produkte zur Entspannung angeboten werden. Das Ziel der Disneyfizierung ist die Herstellung ei­ nes stressfreien Raumes.

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2. Die Zitadelle

Die Zitadelle bildet den Kontrapunkt des Ghettos in der amerikanischen Stadtland­ schaft. Sie ist ebenfalls eine Enklave in der Nähe der alten Innenstadt und umfasst geschlossene, befestigte Räume für Einwohner mit gehobenem Einkommen, in denen das Wohnen oft mit einer Geschäfts­ und Bürofunktion verbunden ist, insbesondere in Downtown. Battery Park City in New York oder Renaissance Center in Detroit sind klassische Beispiele. Letzteres Areal ist tatsächlich von einem Wassergraben umgeben, mit einer hohen Mauer auf der einen und einem Fluss auf der anderen Seite. Es hat kon­ trollierbare Zugänge und wirkt im Verhältnis zur umgebenden, verlassenen und ver­ wunschenen Innenstadt wie eine Burg auf dem Hügel. Battery Park grenzt nur an der West Street unmittelbar an Land und liegt sonst mit seinen Grenzen am Wasser. Re­ staurants und Bars sind am obersten Ende der Luxusskala angesiedelt, die Wohnun­ gen und Nobeldomizile sind für vermögende Banker aus Downtown und Wall­Street vorgesehen. Die Formierung der Zitadellen stellt gewissermaßen den Höhepunkt des Gentri­ fizierungsprozesses dar und erfolgt im Allgemeinen an den Grenzen der ehemaligen Innenstädte. Die meisten der Bewohner kommen aus den Suburbs und haben zumeist auch ihren Arbeitsplatz in der Nähe. Neben gut verdienenden Managern und Tech­ nikern aus den neuen Dienstleistungsbereichen bieten sie aber vor allem Spitzen­ managern wie Vorstandsmitgliedern der Großkonzerne, reichen Erben und Erbinnen und anderen Vermögenden ein adäquates Domizil an. Diese sind zumeist im Besitz mehrerer Wohnsitze und erwarten eine exklusive, isolierte und geschützte Wohn­ umgebung. Die Zitadelle unterscheidet sich von der allgemeinen Gentrifizierung auch dadurch, dass hier Büroräume in Wohnraum umgewandelt werden und macht aus der Wall­ Street „eine 24 Stunden Community“. 3. Die Edge City

Die Edge City ist eine Bezeichnung für eine neue Form eines suburbanen Clusters von Mittelschichtwohngebieten mit gering verdichteten Ansammlungen von Einfamilien­ häusern, die auch die Möglichkeiten zu Arbeit, Einkaufen und Erholung bieten. Man kann dort tatsächlich den Großteil seines Alltagslebens verbringen. Sie betrifft das Gros der aus den Innenstädten abgewanderten Bewohner. Dabei sind unterschied­ liche Motive für die Stadtflucht wirksam, neben dem Wunsch nach Naturnähe, sozia­ ler Nähe und einer Einbettung in ein adäquates soziales Milieu werden auch Motive der Angst und des Stresses wirksam. Es liegt in der Logik des urbanen Stresses, dass diese Vororte von den Unterschich­ ten der amerikanischen Stadtzentren separiert sind, sozial und ökonomisch getrennt und manchmal auch im buchstäblichen Sinn befestigt – Gated Communities. Bei der Edge City handelt es sich nicht direkt um eine Vorstadt im traditionellen Sinn, wo die Menschen nur wohnen, aber durch ihren Arbeitsplatz von der Innenstadt abhän­ gig sind, sondern eher im Sinne einer Positionierung in der sozialen Hierarchie. Nach der Push Hypothese über die Entstehung der Vororte in den USA nach dem Krieg „hat die wachsende Konzentration von Schwarzen in den Innenstädten und die damit ver­ bundene Angst vor Kriminalität und ansteigender Armut vielfach eine Bewegung in die Vororte beschleunigt.“ Oder in weiterer Folge „Suburbanisierung muß angesichts 356

einer umfangreichen Welle afroamerikanischer Migration vom Süden in den Norden während der fünfziger Jahre als eine neue Form der Rassensegregation betrachtet wer­ den.“17 Weniger beachtet wird der Zusammenhang zwischen Stress, Diskriminierung und Segregation. Aber die Diskriminierung steht im Zeichen des Stresses, der sich zu einem regelrechten Alarmismus ausgewachsen hat und bereits jedes Zeichen von Stö­ rung als beginnenden Verfall aus der Lebenswelt zu verbannen sucht. Schon zu Beginn der Planung von Malls und Einkaufszentren und ihrer Gestaltung zu perfekten Innenstädten versuchte man, unerwünschte soziale Gruppen wie Ob­ dachlose, Prostituierte, ethnische Minderheiten und Arme aus dem öffentlichen Raum auszuschließen. Aus diesem Grund erfolgte auch sofort eine Verbindung zu den Ursa­ chen der Entstehung der Edge Cities, die ihrerseits den Anspruch erheben mussten, alle Qualitäten der Innenstadt wie Beschäftigung, Kultur und Erholung, neben der

4 . Die Disneyfizierung Die Disneyfizierung der Innenstädte beruht auf dem analogen Bemühen aus der Innen­ stadt eine riesige Mall zu machen, um mit den in der Zwischenzeit in den Vororten ent­ standenen Malls und den Erwartungshaltungen der Mittelschicht mithalten zu kön­ nen. Nun soll in Downtown ein eingeschlossenes soziales Ambiente entstehen, das merkwürdigerweise dem suburbanen Lebensgefühl entspricht und das nun auch die Grundlage einer ästhetischen Umformung der Innenstadt bildet. Wenn nach Garreau die Vorstädte wie einfache Dorfplätze funktionieren sollen, so wird dieser Prozess nun in das Zentrum verlagert, um dieses in eine Mall zu verwandeln. Daher kann man mit Recht die merkwürdige Beobachtung anstellen, dass zunächst die Fabriken und Bü­ ros aus dem Zentrum heraus in die Vororte verlagert wurden und die dort errichtete Welt der Vororte nun mit ihren ästhetischen Mustern wieder in das Zentrum reimpor­ tiert wird. Am Beispiel des Times Square Business Improvement District lassen sich die Verän­ derungen gut beobachten. 5.000 Geschäfte und 30 Millionen Quadratmeter Büroraum beinhaltet der berühmteste Unterhaltungsdistrikt Amerikas, dessen Unterhaltungs­ begriff von Kino und Theater bis Pornographie und Prostitution reichte. Zur Säuberung des Times Square und seiner Verwandlung in eine Shoppingzone für die Mittelklasse bot sich der Disney­Konzern mit der Ansiedlung von Kinos und Shops an und sorgte weiters für die Errichtung eines Hotels mit zahlreichen Entertainmentmöglichkeiten der Disneyworld. Andere ähnlich gelagerte Angebote folgten bald und das für ameri­ kanische Konsumenten vertraute Mallgefühl stellte sich bald ein, indem vertraute Ge­ schäfte, vertraute Produkte, vertraute Unterhaltung in einer sauberen, sicheren und geschützten Umgebung stattfinden. Alles Maßnahmen zur Stressreduzierung, die auf die Gewohnheiten der Konsumenten Rücksicht nehmen, diese vom urbanen Stress entlasten, der seinen Ausgang in der sozialen Segregation und der daraus folgenden Fluchtbewegung genommen hat.

Stadt und Angst. Urbane Form und „Maximal-Stress-Cooperation“

Reproduktion bereit zu stellen. Dadurch wird eine totale Umgebung hergestellt, die Cohen zum Begriff der totalisierenden Vorstädte inspirierte, weil sämtliche Aktivitäten des Alltagslebens dort stattfinden.18 Letztlich wirkt diese spezifische Urbanisierung der Vorstadt wiederum auf die Innenstadt ein und erzeugt eine Form steriler Urbani­ tät mit abgeschotteten, disneyfizierten Räumen.

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1 Peter Sloterdijk, Eurotaoismus, Suhrkamp, Frankfurt/ Main 1989. 2 Ebd. 3 Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen, Springer, Wien/New York 1996. 4 Ebd., S. 38 . 5 Ebd., S. 43 . 6 Ebd., S. 45. 7 Ebd., S. 48 . 8 Ebd., S. 51. 9 Ebd., S. 59. 10 Ebd., S. 59. 11 Ebd., S. 59. 12 Ebd., S. 97. 13 Ebd., S. 148 . 14 Peter Marcuse, „Muster und gestaltende Kräfte amerikanischer Städte“, in: Walter Prig-

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ge, Peripherie ist überall, Campus, Frankfurt/Main/New York 1998 , S. 43. 15 Ebd., S. 44 . 16 Mike Davis, The City of Quartz, Verso, London/New York 1990. 17 Lizabeth Cohen, „From Town Center to Shopping Center; The Reconfiguration of Community Marketplaces in Postwar America“, in The Historical Review, 4 / 1996; zit. nach Marcuse (wie Anm. 14), S. 48 . 18 Ebd.

Stadt und Angst. Die Geburt der Edge City. Pioniere aus dem Post­Riot­Stress Riot-Stress in den USA Wie bereits in der letzten Folge erwähnt, besteht der Unterschied zwischen der antiken oder historischen Stadt und jener in den USA zunächst darin, dass der fiktive Feind nicht von außen kommt, sondern sich im Inneren der Stadt befindet, zumeist in Gestalt bestimmter ethnischer Gruppen, oft auch mit Migrationshintergrund. Marcuses These von der Vierteilung der amerikanischen Stadt soll in diesem Zusammenhang weiter­ verfolgt werden, dabei insbesondere die Auswirkungen der Angst­ und Stressdynamik auf die Gründung der Edge Cities, dieser neuen Form des amerikanischen Urbanismus, die aus dem Zentrum an den Rand der Stadt geht, um dort, unbelastet von den histo­ rischen Problemen der Innenstadt einen zweiten Versuch zu starten. Damit versuchen wir unter Anwendung der Thesen Mühlmanns, dem Zusammenhang von Stress und städtischer Form, eine Erklärung für die modernen urbanen Strukturen zu finden, die durch Stress ausgelöst wurden und neue urbane Entwicklungen einleiteten. Wenn man einen Blick auf die Liste der Ausschreitungen in den USA der 1960er Jahre wirft,1 die fast immer durch Rassenkonflikte verursacht wurden, so wird einem das Ausmaß der Fluchtbewegung bewusst, die dadurch mittelfristig in Gang kam. Im Jahr 1964 ereigneten sich sechs große Riots, überwiegend im Osten der USA , mehrfach im Raum New York, New Jersey, Chicago und Philadelphia. 1965 erfolgte der große Auf­ stand in Watts in Los Angeles und forderte 34 Tote, 1.000 Verletzte und 4.000 Verhaf­ tungen bei einem enormen Sachschaden. 50.000 erwachsene Arbeiter und Jugendliche, zu 99 Prozent Schwarze, sollen daran beteiligt gewesen sein. 977 Gebäude wurden zer­ stört, ausgeraubt und angezündet. Obwohl eine Kommission die sozialen Gründe für die Ausschreitungen in der hohen Arbeitslosigkeit erkannte, wurden nur halbherzige Maßnahmen unternommen um Abhilfe zu schaffen. Die darauffolgenden Jahre waren durch zahlreiche Unruhen charakterisiert, in den hot summers von 1966 und 1967 er­ eigneten sich in den gesamten USA an die 20 Aufstände, in einigen Fällen waren auch Teilnahmen von radikalen Studenten und Studentinnen zu verzeichnen, die manch­ mal in Beziehung zur Anti­Vietnamkriegs­Bewegung standen. 1969 gab es eine weitere Steigerung: Eine der Hauptursachen war die wachsende Arbeitslosigkeit der Schwar­ zen mitten in einem Wirtschaftsboom. Die Gegenmaßnahmen des Staates bestanden jedoch weniger in sozial beruhigenden Aktionen, sondern in der Aufstellung spezieller Polizeitruppen und dem Einsatz der Nationalgarde, in der öffentlichen Meinung wurde kommunistischen Führern die Verantwortung für die Unruhen zugeschoben. Nach einer ruhigeren Phase in den 1970er und 80er Jahren, in denen insgesamt weniger als ein Dutzend Aufstände zu verzeichnen waren, kam es 1992 dann zum größ­ ten und blutigsten Aufruhr des Landes, wiederum in Los Angeles, diesmal in South Central. Die so genannten Rodney King Riots wiesen in ihrer Bilanz 53 Tote, 7.000 Ver­ haftungen und 900 niedergebrannte Gebäude auf.2 Der Sachschaden betrug eine Milli­ arde Dollar, 20.000 Sicherheitskräfte wurden aufgeboten, um den Aufstand nach einer Woche zu beenden. 359

Man versteht angesichts dieser Daten und der mit den Ereignissen verbundenen Medienhysterie, dass hier eine ungeheure Welle der Stadtflucht ausgelöst worden sein muss. Am Beginn der Unruhen stand die Ausstrahlung eines Amateurvideos durch einen lokalen Fernsehsender, das die brutale Misshandlung des Afroamerikaners Rod­ ney King durch vier Polizisten, drei Weiße und einen Latino, am 3. März 1991 zeigte. Die vorangegangenen Szenen der Flucht, die Trunkenheit von King, die Verfolgungs­ jagd und sein Widerstand gegen die Polizisten sowie sein sich der Verhaftung Wider­ setzen, blieben im Bericht unerwähnt. Das Verfahren gegen die Polizisten im Jahr 1992 endete in erster Instanz mit einem Freispruch der beschuldigten Polizisten und bilde­ te den Auftakt der Krawalle. (Zwei der Polizisten wurden in zweiter Instanz schuldig gesprochen.) Schon kurz nach Bekanntwerden des live im Fernsehen übertragenen Freispruchs kam es zu den ersten Ausschreitungen. Im Zuge dieser Unruhen tauch­ te noch ein weiteres Video eines Ereignisses vom Jahr davor auf, in dem eine korea­ nische Ladeninhaberin der 15­jährigen Schwarzen Latasha Harlins, die sie für eine Ladendiebin hielt, von hinten in den Kopf schoss, was einen gewalttätigen Konflikt zwischen Schwarzen und der koreanischen Community auslöste und mit der Verwüs­ tung und Zerstörung von 2.000 koreanischen Läden endete: Weil die schuldige Korea­ nerin nur eine fünfährige bedingte Haftstrafe erhalten hatte, begannen Banden mit der systematischen Vernichtung der Geschäfte durch Brandstiftung und einer Ver­ treibung der Koreaner. Diese wiederum fühlten sich von der weißen Polizei nicht aus­ reichend geschützt, was zu einer weiteren multikulturellen Verbitterung führte.3 „Tra­ gischerweise wurde in Los Angeles der koreanische Alkoholladen nebenan und nicht die Wolkenkratzerfestung des Konzerns in Downtown zum Symbol einer neuen ver­ hassten Weltordnung.“ An den anschließenden Plünderungen nahmen auch zahlrei­ che lateinamerikanische Einwanderer teil, die ebenfalls in die schwarzen Wohnsied­ lungen nachgerückt waren und ähnliche Bedingungen wie die Schwarzen vorfanden. Auch unter ihnen waren zahlreiche Tote zu beklagen. Eine neue Erkenntnis dieser Riots bestand darin, dass sich die Unruhen nicht nur auf die schwarzen Wohngebiete konzentrierten, sondern sich über ganz Los Angeles ausbreiteten. „Da die reichen Angelenos das instinktiv spürten, bewachten sie ihre Villen in Han­ cock Park mit dem Gewehr oder flohen mit ihren BMW ’s in weiße Refugien in Orange und Ventura County. Am Swimming Pool in Palm Springs warteten sie nervös auf die Nachricht, daß die Crips und Bloods Beverly Hill in Brand steckten, und rauften sich die Haare, weil sie so blöd gewesen waren, dem Latina Hausmädchen einen Satz Nach­ schlüssel anzuvertrauen. Gehörte sie jetzt zu den Brandstiftern? Die Ängste der Weißen nahmen zwar hysterische Ausmaße an, aber immerhin erfassten Ausläufer der Un­ ruhen auch solche Heiligtümer weißer Kultur wie das Beverly Center und Westwood Village sowie die Stadtteile Melrose und Fairfax. Die alte dünne, blaue Schutzlinie der LAPD , die sie seit 1965 geschützt hatte, bestand nicht mehr.“ 4 Am 29. April 1992, dem Tag des Freispruchs, wurde der weiße LKW ­Fahrer Regi­ nald Denny zusammengeschlagen. „Die schrecklichen Aufnahmen aus dem Nachrich­ tenhubschrauber von KCOP Kanal 13, die zeigen, wie Denny aus seinem Führerhaus gezerrt und bewußtlos geprügelt wurde, sind zum Bild des Aufstands in Los Ange­ les schlechthin avanciert. Wie pochende Zahnschmerzen im elektronischen Vakuum wurden sie im Lokalfernsehen wieder und wieder gezeigt.“ 5 360

Ein Bild dieses Videos, das in den Medien ständig wiederholt wurde, ist besonders einprägsam: Es zeigt wie ein mächtiger Schwarzer dem weißen LKW­Fahrer Reginald Denny einen Stein auf den Kopf schlägt. Die Rolle, die Rodney King für die schwarze Bevölkerung einnahm, nahm für die weiße Reginald Denny ein. Der Täter mit dem Stein hingegen, Damian „Football“ Williams, wurde das „Allzweckmonster“ des wei­ ßen Los Angeles. In der „Katastrophenkiste“, wie das Fernsehen bezeichnet wird, überbieten sich die Sender nach Mike Davis in Panikmache und der endlosen Wiederholung von Halb­ wahrheiten. Diese „sind zu einer Riot­Mythologie von Los Angeles geworden, die die laufenden Vorbereitungen für einen militärischen Angriff auf die afroamerikanische Jugend rechtfertigen. Ihr ideologischer Kern besteht darin, die schwarze Gang­Jugend zu einer Bedrohung für den Staat zu erklären und gleichzeitig den Skandal der wach­

Der Ursprung der Edge City aus der Riot-Mythologie Die Paranoia, die nach den Unruhen in einem Frühstückslokal herrscht, thematisiert Davis an anderer Stelle: „Seit ein Fotogeschäft in der Nähe geplündert wurde, leidet das ganze Viertel an immer bizarreren Halluzinationen. Obwohl wir uns hier am Rand von Beverly Hills befinden und nicht in Sarajewo, klagen die Einwohner über ,Post­ Riot­Stress’ und begrüßen sich als ,Überlebende‘.“ 8 Davis argumentiert hier, als hätte er Mühlmann gelesen, was unmöglich ist, denn dieses Buch war zu diesem Zeitpunkt weder erschienen, noch hatte es jemand in Amerika gelesen. Aber er erfasst hier sehr eindeutig die Stimmung einer solchen Situation nach den Unruhen, in der das Deco­ rum für die Zeit danach entwickelt wird und in der Heroisierung einer Pionierhaltung der Antiurbanität liegt. Dazu ist die ständige Konfrontation mit dem Feindbild nötig. Die Konsequenzen der Sieger in der Relaxationsphase, wobei es sich kraft durch­ gesetzter Polizeigewalt um die Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft handelt, könnte man tatsächlich analog zu Mühlmann mit der Herausbildung eines spezifi­ schen Decorums vergleichen. Denn der Druck, der im Bereich der Ghettos entsteht, sei es durch die MSC­Aktionen (Maximal­Stress­Cooperation) der dortigen Banden und Jugendgruppen bzw. das kriminelle Milieu, erzeugt eine permanente Spannung, die nach außen abstrahlt und die übrigen Stadtbewohner dazu zwingt, ihren Wohnort möglichst weit davon entfernt zu suchen. Dieser Vorgang aber wird nicht als billige Flucht gesehen, sondern zeichnet sich immer durch einen spezifischen Kult des Hero­ ischen und durch die Renaissance der historischen Figur des Pioniers und Städtegrün­ ders aus. Dies führt in der amerikanischen Urbanistik zur Errichtung der so genannten Edge Cities, die zum Teil auch als Gated Communities gestaltet werden.

Stadt und Angst. Die Geburt der Edge City

senden Armut der Latinos zu verschweigen. Die bunte Komplexität des ethnischen und Klassenkonflikts in Los Angeles wird täuschend einfach und dämonisch schwarz­ weiß gemalt.“ 6 Im Kapitel „die Hassfabrik“ resümiert Davis die Situation in einem Gefängnis von Los Angeles County, wo sich die Ereignisse von Los Angeles wiederholen: „Letztes Jahr wurden in einem fast pausenlosen Rassenkrieg Hunderte von Insassen verletzt. Die meisten der 25 größeren Auseinandersetzungen sind zwar wegen eines eigensinnigen Machtkampfes zwischen Schwarzen und Latinos (die seit 1989 in Wayside die Mehr­ heit stellen) ausgebrochen, aber es gibt auch brutale Zusammenstöße zwischen Wei­ ßen und Schwarzen.“ 7

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Der durch den sozialen Stress ausgelöste kulturelle Lernprozess, der allerdings quer zur Gesellschaft verläuft, führt bei der weißen Bevölkerung zu einer Vermeidung von weiteren MSC­Aktionen, indem sie sich von den gefährlichen Territorien der Stadt ab­ setzt und in einen neuen Raum flüchtet bzw. neue Städte gründet. Diese sollen die zerfallenden Innenstädte ersetzen und die sozialen Missstände bzw. ethischen Konflikte vergessen machen, indem man sich einfach von der städ­ tischen Unterschicht befreit. Damit wird die Edge City zu einer neuen Figur der Kon­ zentration, weil sie die alte Stadt als Zentrum des Reichtums und der Kultur substitu­ ieren möchte. Wenn Garreau vom Schmelztiegel der urbanen Zukunft spricht, dann konzentrieren sich die utopischen Hoffnungen auf diese neue Stadt. Der Begriff „edge“ meint Rand, Grenze. Dies impliziert die Absetzung vom Zentrum, aber nicht im Sinne der europäischen Peripherie, sondern im Gegenteil im Sinne von „am weitesten fortge­ schritten“. „Dieser Rand wird selbst bald das Zentrum bilden. Mehr noch Randgebiete sind Städte. Ihre gegenwärtige Bedeutung als Orte, in die man Kapital investiert und und an denen sich Arbeitsplätze konzentrieren, wird weiter zunehmen. Betrachtet man sie als eine Geisteshaltung, so verkörpert die Edge City den Eroberungsgeist, das dynamische Unternehmertum, die eine der reichsten und mächtigsten Nationen der Welt hervorgebracht haben. Das Zentrum wird an die Peripherie gedrängt und an einem anderen Ort in der Form von Städten wieder errichtet, die unseren Wünschen entsprechen und nicht unseren Ängsten.“ 9 Die Edge City möchte die alten Unternehmerqualitäten Amerikas erneut unter Beweis stellen. Wachstum und Mobilität ziehen Investment und Kapital an, schaffen Arbeitsplätze und erzeugen Attraktivität und Urbanität, um sozial aufsteigende Bevöl­ kerungsschichten aus den Innenstädten zuwandern zu lassen. Die boomende Wirt­ schaft beseitigt die durch Arbeitslosigkeit und Armut hervorgerufenen sozialen Pro­ bleme. Die Kernstädte können ihre Probleme durch Verringerung ihrer Bevölkerung leichter lösen. Edge Cities sind fruchtbare Knoten des Wachstums, wo die Kräfte eines liberalen Kapitalismus den Städtebau bestimmen, indem Investoren direkt die Nach­ frage der Konsumenten befriedigen. Der staatliche Einfluss ist minimal und überwie­ gend deregulierend, um nicht den Aufschwung abzuwürgen. In den Edge Cities existiert nach Garreau zwar eine unglaubliche Klassenprägung, aber diese ist nicht mit ethnischer Zugehörigkeit verbunden. Denn sie wird insofern bedeutungslos, als Hochschulabsolventen jeder ethnischen Herkunft gehobene Posi­ tionen im Management erlangen können. Durch das starke Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahrzehnte und die fehlende Diskriminierung wurde eine Absetz­ bewegung von den Innenstädten initiiert, die eine Entfernung von der Unterschicht und den ethnischen Gruppen ermöglichte. Damit entstand eine Reinigung von den Stigmatas der Kernstädte, die die Illusion von deren Beseitigung ermöglichte. Auch wenn man mittlerweile zur Einsicht gelangt ist, dass die sozialen und ökono­ mischen Probleme der alten Innenstädte auch in der Edge City Einzug halten können, dass Armut, Drogen, Verbrechen, ethnische Konflikte und sogar Obdachlosigkeit sich auch in der amerikanischen Vorstadt ansiedeln können, 10 geht das Wachstum unge­ brochen weiter. Genau das aber hat zur Folge, dass manche Edge Cities Zeichen ihres Verfalls bereits in sich tragen. Verkehrsüberlastung, ein Überangebot an Gebäuden, Umweltprobleme wie Lärm und schlechte Luft, Unterversorgung an leistungsfähiger Verwaltung und Mangel an billigen Arbeitskräften sind zu beobachten. 362

Die durch die Immobilienblase verursachte Krise steht auch eng mit dem Wachs­ tum der Edge Cities in Verbindung. Die permanente Ausdehnung und Suche nach neu­ em bebaubaren Land hat einen Boom erzeugt, der sich schließlich in einer bösartigen Blase entleerte und in die Subprime Mortgage Crisis mündete, die auch fest von den Europäern mitfinanziert wurde.11 Die Verteilung von billigen Krediten auch an jene, die es sich nicht leisten konnten, wurde oft mit sozialer Argumentation gerechtfertigt,

Die amerikanische Antwort: Das Umschlagen von Stress in Triumph Die Edge City ist durch eine merkwürdige Dialektik mit der alten Innenstadt verbun­ den, weil sie durch die Negation bestimmter Elemente der sozialen Problematik der Kernstadt in eine stressbedingte Fluchtbewegung verfallen ist, die sie aber durch eine spezifische Form der Stadtgründungsromantik zu verbergen sucht. Wenn der Rand (edge) entgegen den Gesetzen der Geometrie plötzlich zur Spitze wird, wenn die Peri­ pherie zum Zentrum wird, wie von Garreau behauptet, so spricht dies die alte amerika­ nische Mythologie des Westens an. Es ist die bemerkenswerte Eigenschaft der Ameri­ kaner aus der Stressbewegung heraus durch die Überwindung ihrer Ursachen in eine Phase des Triumphes zu verfallen. Wenn andere Nationen den Rückzug aus der tradi­ tionellen Kernstadt an die Peripherie durch die Unsicherheitslage aufgrund von Kri­ minalität und sozialer Segregation mit Depressionen begleiten würden, so kann man von den Amerikanern ein Lehrstück an Verdrängung und Selbstmotivierung erkennen, das weltweit führend ist. Es herrscht hier noch der Geist der Pilgrim Fathers, die den Auszug Israels aus Ägypten noch einmal durchzuführen glaubten, weil sie ein neues Land der Verhei­ ßung entdeckt hatten. „Daher sind die neuzeitlichen Weltweitegefühle mitbedingt durch die amerikani­ sche Grunderfahrung – die Leichtigkeit, mit der Land und Ressourcen in Besitz genom­ men werden können.“12 Die daraus resultierende Entstehung eines neuartigen Bauern­ typus, der nicht mehr vom Grundherrn abhängt, sondern als bewaffneter Landnehmer eigenen Rechts und Farmer unter Gott auf einem neuen, eigenen Boden wirtschaftet. Dieses Nehmer­ bzw. Neounternehmertum, das seine Wurzel im amerikanischen Kolo­ nialismus hat, denkt nicht in Kategorien einer gegenseitigen Anerkennung oder eines fairen Geschäfts, sondern eher in denen des ausgezeichneten Augenblicks, des kairos, jenes Moments, wo man seine Chance ergreift. Dieses Denken in Chancen wurde durch die leichte Bodennahme unendlich befördert und wird es auch heute noch. Der ame­ rican dream, der sich mit einer Haltung der Auserwähltheit verbunden hat, führt zu nichts anderem als dem amerikanischen Begriff, der zu einer Enthemmung des Han­ delns legitimiert, etwas was man positiv als das mission statement, das Bekenntnis zum Projektglauben bezeichnen könnte. Ein zentrales Merkmal dieser Haltung ist „der immerwährende Vorrang der Manien vor den Depressionen“ und damit zugleich das politische Programm, das die Verdrängung der sozialen Probleme bewirkt, weil diese nur depressiv machen. Der daraus entspringende Geist wird immer an den Vorrang der Initiative vor der Hemmung glauben und zuerst an die Gründung einer neuen Stadt als an die Reparatur einer verbrauchten und verkommenen Stadt.

Stadt und Angst. Die Geburt der Edge City

weil man Bürgern nicht das Leben in dieser amerikanischsten Form alles Alltagsle­ bens vorenthalten wollte. Weil nur dort jene Bedingungen erfüllt sind, die den ameri­ kanischen Traum ausmachen.

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Die Edge Cities sind nur aus diesem Gesichtspunkt psychopolitischen Designs und realem Eskapismus zu verstehen. Es ist die Kraft eines Optimismus, der aus linker Denkweise völlig unverständlich bleibt, weil er nicht an Klassenkampf, sondern an die permanente Chance zur Neuformulierung des Glücks glaubt und alles Gegenteilige verdrängt. Es hilft kein Blick auf die Statistik der Kriminalität, der weltweit höchsten Zahl an Gefängnisinsassen, der enormen Armut mancher sozialer Gruppen im Land, weil all diese Sichtweisen nur eine Selbsthemmung erzeugen würden, die den Glau­ ben an das Primat der Kraft verlieren könnte. Der Wille zum pursuit of happiness lässt sich in den USA nicht durch seine Armen irritieren, nicht durch seinen Weltrekord an Drogenabhängigen. Wenn man für etwas kein Verständnis aufbringen kann, so gilt dies den larmoyanten Klagen von Verlierern, die nur eine Gefahr für den Verlust der Antriebsstärke darstellen. Die Edge City. Die Aufgabe der Innenstadt und die Entwicklung der Stadtlarve Die großen amerikanischen Städte stellen zumeist relativ junge Gründungen mit einer Grid­Struktur dar, ein Gitter das nur in Ausnahmefällen noch einen Mittel­ punkt aufweist. Philadelphia mag als schönes Beispiel dafür gelten, nach dem Mus­ ter der römischen Militär­Stadt noch eine zentrale Achse mit Cardo und Decumanus aufzuweisen, deren Kreuzung bei den Römern als Mittelpunkt der Stadt auch in Ver­ bindung mit dem Kosmos stand. Aber diese bemerkenswerte Konzeption von Wil­ liam Penn aus dem 17. Jahrhundert ist heute nicht mehr erkennbar, und so ist auch in Philadelphia wie in den meisten amerikanischen Städten das Fehlen eines konkre­ ten Mittelpunktes zu beobachten, wenngleich es natürlich eine Zone gibt, die sich als Innenstadt bezeichnen lässt. Durch die Suburbanisierung und den Verfall bestimm­ ter Stadtgebiete aufgrund des Ablaufes der Lebenszyklen von Häusern und fehlen­ den Investitionen mangels politischen Willens sammelten sich in den Innenstäd­ ten soziale Unterschichten an, vielfach benachteiligte Schwarze und Migranten, die nun dem Zentrum eine neue Bedeutung verliehen. Die Mischung aus Arbeitslosigkeit, Kriminalität und Drogensucht führte nun zu einer Umformatierung des Zentrums zu einer Antisphäre, gewissermaßen einer urbanen Hölle oder Unterwelt, die den städ­ tischen Prototyp des depressiven Raumes verkörpert. Diese soziale Selbstschließung des Raumes durch Aussichtslosigkeit wurde völlig unzulänglich politisch bestätigt, indem eine Aufbrechung allenfalls durch punktuelle Sanierung und anschließen­ de Gentrifizierung erfolgte, die allenfalls zu den Vorläufern der späteren Zitadellen­ bildung führte. Das im Gegensatz zu den europäischen Städten ohnehin niemals in vergleichbaren Ausmaß mit Strahlungsenergie ausgestattete Zentrum der US ­Stadt, weil es keine his­ torische Verkörperung durch sakrale Zentren oder den Körper des Königs gab, weil sich einzelne Bürger oder die kommunitaristische Gruppe selbst Mittelpunkt genug war, ehe die Stadt mehr und mehr in die Hände der Plutokraten geriet, konnte also nie­ mals die gleiche Aufmerksamkeit als Mittelpunkt positiver emanativer Kräfte buchen, die zur Peripherie ausstrahlten. Merkwürdigerweise wurde seine Wirkung im Zuge der sozialen Destruktion des Zentrums bzw. seiner Negativierung prägnanter als sie vorher war. Denn der implodierte Raum der US ­Kernstadt hatte zumindest noch aus­ reichend Energie, um ein Zentrum der Paranoia zu werden, das die Umwelt mit aus­ reichender zentrifugaler Brennkraft versorgte. Die Amerikaner, die alles was den Keim 364

stadt zu beurteilen ist. Wenn die amerikanischen Ober­ und Mittelschichten keine Probleme damit haben ihr Zentrum zu räumen, weil hier keine alten substantiellen Verbindungen metaphy­ sischer Natur bestehen, dann deshalb, weil sie die Wertesubstanz dieser Innenstadt in die Edge City mitzunehmen glauben. Als ein zentraler Wert der Edge City gilt daher auch ein Gefühl allgemeiner Sicher­ heit, das bekanntlich ein prägendes Motiv jeder Stadtgründung ist, das zwar auch nicht überall in gleichem Maße gilt, aber auf jeden Fall in jenen Bereichen, wo sich größe­ re Menschenmengen und Fremde aufhalten.13 All diese Bereiche, die den Charakter des öffentlichen Raumes aufweisen, sind privatisiert, was als reiner Vorteil bezeichnet wird. Gegenüber den Klagen der Soziologen wird an die alten Werte der Siedler und Siedlerinnnen erinnert, die hier eine Stadt errichtet haben, die im Spanish Style funk­ tioniert. „Die quasi öffentlichen Räume wurden hinter Mauern, in Atrien verbracht, und durch die Glasdächer der Plätze für das Einströmen der Sonne geöffnet. Daher kön­ nen Patrouille und Kontrolle auf einem hohen Level operieren.“ 14 Obdachlose, Arme, Arbeitslose und ethnische Minderheiten sind nur in geringem Ausmaß vorhanden. Im Gegensatz zu den drogenverseuchten Vierteln der Innenstadt passieren hier kaum brutale Verbrechen, allenfalls Kleinkriminalität wie Ladendiebstahl in den Malls. Andere europäische Werte der Innenstadt, wie der der historischen Substanz wer­ den durch zukunftsgerichteten Optimismus ersetzt. Die Frage nach der Abwesenheit der Geschichte in den Edge Cities beantwortet der Urbanist Robert Fishman: „Alle neuen Städte erscheinen in ihren frühen Stadien chaotisch.“ Und zitiert dabei Charles Dickens’ Kommentar zu London im Jahr 1848: „Es gab da hunderttausende Formen und Wesen der Unvollständigkeit, wild auf ihren Plätzen verstreut, hinauf und hinunter, in die Erde hineinwühlend, aus der Erde aufstrebend, im Wasser zerfallend, und unver­ ständlich wie in einem Traum.“15 Die Edge City hat keine Geschichte. Garreau kommentiert die Frage eines franzö­ sischen Akademikers nach dem Ideal der Edge City ironisch mit: „What a wonderfully french question.“ „Denn wer weiß denn schon, wie diese Dinger aussehen werden, wenn sie erwachsen sind. Diese Critters gibt es wahrscheinlich nur in ihrer nymphen­ haften, wenn nicht Larvenform. Wir haben noch keine erwachsenen gesehen.“ 16 Es handelt sich quasi um Vorboten eines künftigen städtischen Lebensstils, der mit den Problemen der Innenstadt aufgeräumt hat und als Modell gelten kann. Man kann also aus europäischer Sicht die morphologische Struktur der Städte nicht verstehen, ob­ wohl auch uns das Zwischenstadtmodell (Thomas Sieverts hat hier einfach das ameri­ kanische Modell auf europäische Verhältnisse übertragen) bekannt ist. Die Bezeichnungen für diese Form der Stadt lauten: urban villages, technoburbs, suburban downtowns, suburban activity centers, major diversified centers, urban

Stadt und Angst. Die Geburt der Edge City

des Todes birgt, alles was depressiv macht, um jeden Preis vermeiden möchten, ent­ schieden sich umstandslos für die Flucht vor dem Übel und den Umzug ins Offene. Ihr Talent zur rhetorischen Verbrämung kam ihnen insofern zur Hilfe, als sie diese Flucht sehr schnell mit der Ideologie der Landnahme, der Siedler und der Pioniere verbanden und ihr Selbstbewusstsein keinen Schaden nahm. Die Edge City ist nicht das Resultat der an den Rand verdrängten Stadtflüchtigen, die nun dort in Melancholie ausharren, sondern die stolze Gründung einer neuen, besseren und schöneren Stadt, die nicht mehr nach den alten Vorurteilen oder überholten Kriterien der Urbanität der Innen­

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cores, galactic city, pepperoni­pizza cities, a city of realms, superburbia, disurb, servi­ ce city, perimeter city, peripheral centers.17 Letzten Endes aber hat Joel Garreau, ein Journalist der Washington Post, mit sei­ nem Buch den Begriff der „Edge City“ geprägt und mit dem Untertitel Life on the New frontier auch gleich die programmatische Einstellung mitgeliefert. Es handelt sich um Pioniere des Alltagslebens, die wiederum an die Front gerufen werden, um den ameri­ can way of life erneut zu befestigen und zu verteidigen. Diese Edge Cities unterscheiden sich deutlich von herkömmlichen Innenstädten, wie auch von den bestehenden, älte­ ren Suburbs. Die Gebäude liegen mitten im Grünen, es gibt zahlreiche Einfamilienhäu­ ser, aber auch höhere Gebäude einer verdichteten Bauweise, ein Zeichen zum Einhalt der Zersiedelung. Der zentrale Unterschied zur traditionellen Vorstadt besteht aber da­ rin, dass dort auch zahlreiche Arbeitsplätze existieren, oftmals mehr Arbeitsplätze als Einwohner. Manche Edge Cities verfügen bereits über mehr Büroraum und Einwohner als die Geschäftsbezirke der Innenstadt. Garreau bezeichnet mit Edge City ein Gebiet, das über 45 Hektar Bürofläche (1) und weitere 5,5 Hektar Verkaufsfläche für den Han­ del, etwa die Größe einer Einkaufsmall umfasst (2), mehr Arbeitsplätze als Betten hat (3) und von den Einwohnern als ein zusammenhängender Ort wahrgenommen wird (4), bzw. ein Areal, das vor 30 Jahren noch keinerlei Ähnlichkeit mit einer Stadt hatte (5).18 Garreau wendet diese Kriterien auf 123 existente und weitere 78 in Bau befindliche Edge Cities an, die an 45 alte Innenstädte anschließen, und führt zahlreiche neuere Bei­ spiele an, wie die Route 128 im Raum Boston, das Schaumburg Area bei Chicago, das Perimeter Area bei Atlanta, Irvine im Raum Los Angeles usw. Allein im Raum Phoenix entstehen fünf Edge Cities. All diese Städte sind aus dem Bedürfnis nach einer Raum­ erweiterung entstanden, mit der die Probleme der Innenstadt, die großen Stress verur­ sachten, gelöst werden sollen: Parkplatznot, Kriminalität, hohe Mietpreise, städtische Unterschichten, die hohe Sozialkosten verursachen. Die Edge City ist daher weitaus mehr als eine Stadtform, weil sie ein Sozialmodell der Mittelklasse geworden ist, die die Mehrheit der Gesellschaft stellt. Die Formen herkömmlicher Urbanität haben hier keine Geltung mehr, sondern werden durch neue Formen der Exopolis ersetzt.

1 Wikipedia, List of Riots, http://en.wikipedia.org/wiki/ List_of_riots (Stand 201202-20). 2 Wikipedia, Rodney King Riots, http://en.wikipedia.org/wiki/Rodney_King_ riots (Stand 2012-02-20). 3 Mike Davis, City of Quartz, Kap. „La grande peur“, Verlag der Buchläden Schwarze Risse/Rote Straße, Berlin/Göttingen 1994 , S. 449. 4 Ebd., S. 450. 5 Ebd., S. 451. 6 Ebd., S. 466 . 7 Ebd., S. 457. 8 Ebd., S. 451. 9 A. Robert Beauregard, „Die Peripherie des Zentrums“, in: Walter Prigge, Walter, Periphe­

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rie ist überall, Campus, Frankfurt/Main/New York 1998 , S. 57. 10 Ebd., S. 58 . 11 Wikipedia, Subprime Mortgage Crisis, http://en.wikipedia.org/wiki/Subprime_mortgage_ crisis (Stand 2012-02-20). 12 Peter Sloterdijk, Im Innen­ raum des Kapitals, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2005 , S. 188 . 13 Joel Garreau, Edge City. Life on the New Fron­ tier, Anchor, New York 1992, S. 48. 14 Ebd., S. 49. 15 Ebd., S. 9. 16 Ebd., S. 9. 17 Ebd., S. 6. 18 Ebd.., S. 7.

Stadt und Angst. Californian Urban Dreams and Nightmares. Simulacra, Schizophrenie, Psychasthenie Hyperspace und Simulation Rem Koolhaas und Bruce Mau bezeichnen die Stadt der Postmoderne als „Generic City“. Ihre Merkmale bestehen darin, dass sie eben über keine Charakteristika verfügt, dass sie ein reines Produkt darstellt, Ergebnis einer technischen Herstellung wie ein Flug­ hafen ist, über keinerlei Zentrum und Geschichte verfügt und es ihr auch an jeglicher Identität mangelt. Marc Augé hatte seinerzeit den Begriff des Nicht­Ortes als eines Or­ tes ohne Identität geprägt, als Gegenbegriff zum ethnologisch hoch besetzten Ort, der in ebendieser Praxis eine strukturelle Schlüsselstellung einnimmt, wo jede Handlung mit bestimmten Orten verbunden ist und damit ein festes räumliches Handlungsnetz prägt, das eine Kodierung des Zusammenhangs von Ort und Handlung vorsieht, die für die Identität prägend ist. Nicht­Orte, wie am Beispiel des Flughafens exemplifiziert, können diese ordnende Leistung einer Vereinigung zwischen Raum und Bewusstsein nicht mehr vollziehen, da ihnen die erinnerungsprägenden Eigenschaften abhanden gekommen sind und sie als serielle Produkte überall gleich aussehen. Michael Sorkin hatte den Begriff des ageographischen Raumes eines generischen Urbanismus später als Grundidee seiner Variations of a Theme Park angewandt,1 um bestimmte Raum­ typen von McDonald’s bis zum ATRIUM Hotel zu beschreiben, die als Insert in jeder Stadt und an jedem Ort der Welt eingesetzt werden können. Endergebnis dieser Ent­ wicklung ist eine Zersplitterung aller festen Beziehungen zu Ort und Raum, als Konse­ quenz dessen kommt es zu einer engen Verbindung des Simulationsprinzips mit dem Sicherheitsprinzip, einer Kombination, die an Aktualität noch gewonnen hat. Die Ob­ session für Sicherheit ist ein logisches Komplement zur Stadt als Themenpark, die sich nur in Form der Simulation, aufbereitet durch den jahrelangen, intensiven T V ­Kon­ sum darstellt. Vor dem Hintergrund dieser bestimmenden Faktoren der Stadt der Postmoderne soll ein kurzer Rückblick auf die Genese dieses Bildes vom urbanen Raum geworfen werden, dessen Ursprung zu diesem Zeitpunkt noch in den USA zu suchen ist. Als zen­ trale Hypothese wird weiter der komplexe Zusammenhang von Angst und urbanem Raum gehalten, insbesondere die daraus resultierenden psychischen Auswirkungen eines urbanen Hyperraums. Im Gegensatz zu den in den letzten Folgen beschriebenen stressbedingten Faktoren, die eine Flucht aus den amerikanischen Innenstädten zur Folge hatten und in der Gründung der zahlreichen riesigen suburbanen Agglomera­ tionsgebieten der Edge Cities mündeten, wird diesmal eine andere Form von Angst beschrieben. Es handelt sich dabei eben um keine Angst vor Bedrohung der körper­ lichen Integrität oder des Eigentums, wie durch die Rassenunruhen und die hohe Ver­ brechensrate verursacht, sondern um einen gegenteiligen, weit schwerer zu fassenden Typus von Angst, der aber aufgrund seiner schwereren Bestimmbarkeit und auch kul­ turellen Fundierung wirksamer ist. Es handelt sich hier um psychische Phänomene, 367

die nicht durch Mangel an äußerer Sicherheit, sondern durch den Verlust der Raum­ beziehung auf vielfältige Weise gegeben sind. Es ist eher die Überfülle an Dingen, die sensorische Überforderung, der Verlust des Selbst aufgrund der Immersion in uner­ gründliche Räume. Die Auflösung der Differenz zwischen Wirklichkeits­ und Möglich­ keitsraum, die keine zeitliche Differenzierung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mehr möglich macht, hat ernsthafte psychische Komplikationen zur Fol­ ge. Wenn alles möglich scheint, geht der Abstand zwischen Realität und Fiktion ver­ loren und die Dinge vermischen sich derart, dass der Sinn für das Reale abhanden kommt. Hier nun ein Fallbeispiel für diese Aufhebung der Grenzen aus einem Werbetext des California Office of Tourism zu Orange County: „Es ist ein theme­park – siebenhundertsechsundachtzig Meilen theme­park und sein Thema lautet: ‚Du kannst alles haben, was du willst!‘ Es ist das Kalifornien, das am meisten nach Kalifornien aussieht. Das meiste wie die Filme, das meiste wie die Stories, das meiste wie ein Traum. Orange County ist Tomorrowland und Frontierland, vermischt und untrennbar. 18. Jahrhundert Mission. 1930 Künstlerkolonie. 1980 Konzernzentralen. Alles ist hier voller Geschichte: Seeleute, Eroberer, Padres, Rancher, Schürfer, Ölsucher. Aber es gibt soviel jetzt, dass das damals schwer zu finden ist. Die Häuser sind neu. Die Autos sind neu. Die Geschäfte, die Strassen, die Schulen, die Rathäuser, sogar das Land und der Ozean schauen neu aus. Die heutige Temperatur wird in den unteren 80er liegen. Eine leichte Brise kommt vom Meer. Ein neuer Tag im Paradies, so wie der gestrige Tag.“ (From an advertisement for the Californias, California Office of Tourism) 2

Orange County präsentiert sich hier selbst als ein Vorgeschmack der Zukunft, als eine phänomenologische Erfindung des Alltagslebens in einer glänzenden postmodernen Welt, jenseits der Welt eines Hexers von Oz und der Utopien von Walt Disney. Oran­ ge County zeigt den Weg im gegenwärtigen Wettbewerb zur Feststellung des glück­ lichsten Ortes der Erde. Wenn noch andere Orte im Rennen sind, so kann es sich nur um naturgetreue Simulationen des Originals handeln. Und täglich sprießen neue Simulationen hervor, in Boston, New York, San Francisco, Chicago, Washington, Dal­ las, Miami und Atlanta um die spektakulärste Transformation urbaner Landschaften und der sie beschreibenden Sprache seit dem 19. Jahrhundert anzutreiben.3 Jean Baudrillard ist einer jener Autoren, der sich der Frage des „Verschwindens der Realität“ in besonderer Weise angenommen hat, indem er den Begriff des Simu­ lacrums, bzw. der Simulation einführte. Zeichenwelten treten an die Stelle der Reali­ tät. Die Besonderheit dieser Zeichenwelten besteht im Verlust des Referenten, sie be­ zeichnen nichts mehr, sondern stehen in Interaktion mit anderen Simulationen. Der Zugang zur direkten Welt durch die sinnliche Wahrnehmung scheint verlegt. Die Welt wird semiokratisch verwaltet, die Macht der Zeichen beruht auf der Einführung der neuen Kommunikationstechnologien und Medien. Bereits Paul Cézanne hatte betont, dass man sich beeilen müsse, um noch etwas zu sehen und damit das Stichwort zur Agonie des Realen geliefert. Nun muss auch erwähnt werden, dass die Bestreitung ei­ ner Existenz der Wirklichkeit schon bei Platon diskutiert wurde. Baudrillard geht es 368

Der Riss der Signifikantenkette. Schizophrenie Frederic Jameson publizierte 1984 in der New Left Review 146 den berühmten Aufsatz „Postmodernism, Or, The Cultural Logic of Late Capitalism“,5 in dem er wesentliche Merkmale der Postmoderne auf eine Weise beschrieb, die noch heute gültig sind. Er wirft dort in Zusammenhang mit der Krise der Historizität die Frage nach einem zeit­ lichen Ordnungsfeld in der Postmoderne auf, und danach, welche Formen von Zeit­ lichkeit noch in einer Kultur bestehen können, die zunehmend vom Raum und dessen Logik beherrscht wird. Wenn das Subjekt sein Zeitgefüge verliert und nicht mehr in der Lage ist, seine Vergangenheit und Zukunft in einer kohärenten Erfahrung zu or­ ganisieren, so handelt es sich bei der Kulturproduktion dieses Subjekts eher um an­ gehäufte Fragmente, Fragmentarisches und Zufälliges. In der Literatur ist in diesem Zusammenhang von Textualität, écriture und schizophrenem Schreiben die Rede. Auf Letzteres bezieht sich auch Jameson, indem er den Begriff der Schizophrenie, weni­ ger als Diagnose, denn als Beschreibung, nach Lacans Erklärungsmodell auf die post­

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aber offensichtlich gar nicht um die Leugnung der Wirklichkeit im streng idealisti­ schen Sinne, vielmehr dürfte es sich um eine radikale, auch ironische Kritik an der Kultur des Spätkapitalismus handeln, die aufgrund der Unmöglichkeit der marxisti­ schen Perspektive, wie sie bei seinem Lehrer Lefebvre noch partiell bestanden hatte, eben zu dieser Position gelangt ist. Eine besonders radikale Äußerung lautet, dass es nicht das Simulacrum ist, das die Wahrheit versteckt, sondern die Wahrheit verbirgt, dass es sie gar nicht gibt, dass das Simulacrum das einzig Wahre wäre. Zugleich ist er aber auch ein Anhänger des magischen Realismus eines Luis Borges, wie der folgende Abschnitt aus dem Eröffnungskapitel der Agonie des Realen, „Die Präzession der Simu­ lacra“ beweist. „Früher war die schönste Allegorie der Simulation für uns jene Fabel von Borges, in der die Kartographen des REICHES eine so detaillierte Karte anfertigten, dass Kar­ te und Territorium schließlich exakt zur Deckung kommen. (Der Verfall des REICHES bringt es jedoch mit sich, dass die Karte nach und nach ausfranst und verfällt, bis schließlich nur mehr Fetzen in den Wüsten erkennbar sind. Die metaphysische Schön­ heit dieser verfallenen Abstraktion ist wie das Reich Zeuge eines Übermutes, der sich auflöst, wie ein Kadaver verfault und schließlich wieder in die Substanz der Erde ein­ geht – ein bisschen wie sich das Duplikat in zunehmendem Alter schließlich mit dem Realen vermischt.) Für uns ist diese Fabel überholt. Sie besitzt nur noch den Charme von Simulacra zweiter Ordnung. Heutzutage funktioniert die Abstraktion nicht mehr nach dem Muster der Karte, des Duplikats und des Begriffs. Auch bezieht sich die Simulation nicht mehr auf ein Territorium, ein referentielles Wesen oder auf eine Substanz. Vielmehr bedient sie sich verschiedener Modelle zur Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität, d. h. eines Hyperrealen. Das Territorium ist der Karte nicht mehr vorgelagert, auch über­ lebt sie es nicht mehr. Von nun ist es umgekehrt: (PR ÄZESSION DER SIMULACR A ) Die Karte ist dem Territorium vorgelagert, ja sie bringt es hervor. Um auf die Fabel zu­ rückzukommen, müsste man sagen, dass die Überreste des Territoriums allmählich Ausdehnung und Umfang der Karte annehmen. Nicht die Karte, sondern Spuren des Realen leben hier und da in den Wüsten weiter, nicht in den Wüsten des REICHES , sondern in unserer Wüste des Realen selbst.“ 4

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moderne Kultur anwendet. Für Lacan bedeutet die Schizophrenie ein Zerreißen der Signifikantenkette als der geschlossenen, syntagmatischen Signifikantenfolge, die eine Aussage oder einen Sinn aufbaut. Lacan verfolgt keine ödipale Analyse wie Freud, sondern er geht vom Namen des Vaters aus, der als väterliche Autorität eine linguis­ tische Funktion innehält. Dieses Konzept beruht auf dem Strukturalismus von Fer­ dinand de Saussure, dessen große Entdeckung darin bestand, den Sinn nicht mehr aufgrund der direkten Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, zwischen Be­ zeichnendem und Bezeichnetem, zwischen einem Wort und einem Begriff zu eruieren. Das Signifikat, der Sinn oder die Bedeutung wird als ein Sinn­Effekt begriffen, als die objektive Vortäuschung von Bedeutung, die aber – so das zentrale Theorem – durch die Verbindung der Signifikanten zueinander hergestellt wird. Sinn wird allein durch die Bewegung von Signifikant zu Signifikant erzeugt.6 Zeichen haben per se keinen posi­ tiven Charakter und bilden auch keine Ideen oder Vorstellungen a priori ab, sondern die von ihnen referierten Werte erlangen ihren Sinn erst im Gesamtsystem. Man den­ ke an das Schachspiel, wo der König per se nichts wert ist, sondern seine Stellung nur innerhalb des Gesamtsystems des Spiels erhält, das heißt, in der Differenzierung zu den anderen Figuren. Die Eigenschaft des Zeichens liegt darin, etwas zu sein, das die anderen nicht sind, daher gibt es in der Sprache auch keine frühere oder tiefere Wirk­ lichkeit, sondern sie kommt durch die jeweilige Differenz der Objekte oder des Subjekts erst nachträglich auf.7 Um nun auf den zitierten Fall der Schizophrenie zurückzukommen: sie entsteht dann, wenn die Glieder der Signifikantenkette reißen und nur mehr einen Haufen selb­ ständiger Signifikanten übrig lassen, die aber in keiner Verbindung zueinander stehen. Der Schluss aus diesem Umstand mündet in zwei Argumenten: „Erstens, persönliche Identität ist selbst ein Effekt einer gewissen zeitlichen Vereinigung von Vergangenheit und Zukunft innerhalb einer bestimmten Gegenwart. Zweitens, diese aktive sprach­ liche Vereinigung ist selbst eine Funktion der Sprache, oder besser des Satzes, solange er sich entlang des hermeneutischen Zirkels durch die Zeit bewegt. Wenn wir dazu un­ fähig werden, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eines Satzes in eine Einheit zu bringen, dann sind wir in gleicher Weise unfähig, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unserer persönlichen Lebenserfahrung und unserer Psyche als Einheit zu erfassen. Mit dem Zusammenbruch der Signifikantenkette also wird der Schizophrene auf die Erfahrung reiner Materialität der Signifikanten, oder in anderen Worten, auf eine Serie reiner und unzusammenhängender Repräsentationen in der Zeit reduziert.“ 8 Und er liefert auch ein eindrückliches literarisches Beispiel, das diesen Fall der Sinn­ entleerung schildert: „Ich erinnere mich sehr gut an den Tag, als es passierte. Wir waren auf dem Land und ich war allein auf einem Spaziergang, so wie ich es hin und wieder machte. Plötz­ lich, ich kam gerade an einer Schule vorbei, hörte ich ein deutsches Lied; die Kinder hatten Gesangsstunde. Ich blieb stehen, um zu hören und in diesem Augenblick über­ kam mich ein merkwürdiges Gefühl, das schwer zu analysieren ist, aber dem ähnlich, das ich später sehr genau kennen lernen musste, ein verstörenden Sinn der Irrealität. Es schien mir, als ob ich die Schule nicht mehr wieder erkennen würde, sie wurde so groß wie eine Kaserne. Die singenden Kinder wurden zu Gefangenen, die zum Singen gezwungen wurden. Es war, als ob die Schule und die singenden Kinder sich vom Rest der Welt völlig entfernt hätten. Im gleichen Augenblick begegnete mein Blick einem 370

Getreidefeld, dessen Grenzen nicht zu erkennen waren. Diese gelbe Unendlichkeit, die in der Sonne leuchtete, verbunden mit dem Lied der in die Schulkaserne eingesperr­ ten Kinder, erfüllte mich mit einer derartigen Angst, dass ich in tiefes Schluchzen aus­ brach. Ich lief heim zu unserem Garten und begann ein Spiel,‚dass alles wieder wie ge­ wöhnlich wird‘ um zur Realität zurückzukehren. Es war die erste Erscheinung dieser Elemente, welche in den späteren Wahrnehmungen der Irrealität immer gegenwärtig waren: unendliche Weite, glänzendes Licht und die Glätte der materiellen Dinge.“ 9 Für Jameson bedeutet die schizophrene Erfahrung „dass der Zusammenbruch der Zeitlichkeit die Gegenwart von allen Aktivitäten und Intentionen freisetzt, auf die sie fokussiert ist und zu einem Raum der Praxis machen würden. Derart isoliert, über­

John Portmans Bonaventura Hotel in Los Angeles. Das Atrium als Prototyp des postmodernen Raumes Im gleichen Aufsatz beschreibt Jameson einige Seiten weiter anhand des Bonaven­ tura Hotel paradigmatisch das Verhältnis der Postmoderne zur Stadt, das im neuen Stadtkern von Los Angeles von John Portmann, einem Architekten, Städteplaner spä­ ter auch Investor errichtet worden war und prototypisch für die Postmoderne steht. Einerseits zeichnet es sich dadurch aus, dass es einer populistischen Argumentation zufolge eine Verteidigung der Postmoderne gegenüber der elitären und utopischen Ar­ chitektur der Moderne anstrebt, weil gewisse Eigenheiten der lokalen Kultur durch die Übernahme der populären Architektursprache und Enblematik von Los Angeles akzeptiert werden. Die Strenge der klassischen Moderne in der Ablehnung der ge­ schmacklosen und kommerziellen Zeichensysteme hat sich im Bonaventura überlebt und die Annahme des Gebäudes durch die Einheimischen und Touristen verlief auf­ grund der populistischen Strategie ausgezeichnet. Die weitere Analyse des Hotels beginnt mit der Beobachtung einer populistischen Einfügung in die Stadtstruktur, weil hier anstelle der alten Porte­Cochère­Eingänge, der überdachten monumentalen Vorbauten der alten Hotels, nur drei kleine versteck­ te, sich nebensächlich gebende Zugänge existieren. Diese beabsichtigte Abgeschlos­ senheit des Innenraums des Hotels weist auf eine Vorstellung eines totalen Raumes einer in sich vollständigen Welt hin. Daraus resultiert aber eine neue Stellung dieses Raumes zur Stadt: „Das Bonaventura will nicht Bestandteil der Stadt sein, sondern ihr Äquivalent, ihr Ersatz, ihr Substitut.“11 Bei den großen Monumenten der Moderne und des international style vollzog sich diese Abtrennung noch spektakulär, Le Corbusiers Pilotis meinten eindeutig die Absetzung von der verkommenen alten Stadt. Während man jedoch in der Moderne noch an eine künftige Überlagerung der alten Stadt durch die neue überlegene Raumsprache dachte, vollzieht sich die Abtrennung durch die Postmoderne unscheinbar, ohne große Geste.

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wältigt die Gegenwart das Subjekt mit unbeschreiblicher Lebendigkeit, eine überwäl­ tigende Materialität der Wahrnehmung kommt auf, welche die Macht des Materials, oder besser noch, die Isolation des Signifikanten wirksam dramatisiert.“10 Die Welt, die nun nicht mehr quasi in die Räume der Vergangenheit oder Zukunft eingeräumt werden kann, stürzt auf das Subjekt mit aller Macht des Signifikanten ein, erzeugt im negativen Falle Angst und Realitätsverlust, kann aber – wie Jameson sagt – im positi­ ven Falle auch als Euphorie, als eine hochfliegende, berauschende oder halluzinogene Intensität vorgestellt werden.

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Auch die spiegelnde Glashaut gleicht Sonnenbrillen, die es dem Gesprächspartner unmöglich machen, dem Träger dieser in die Augen zu sehen der daraus eine gewis­ se Überlegenheit bezieht. Man weiß nicht, was sich im Innen abspielt. Besondere Auf­ merksamkeit widmet Portmann den Rolltreppen und Fahrstühlen, die er „gigantische kinetische Skulpturen“ nennt. Sie sind wesentlicher Bestandteil des Spektakels des Innenraums. Fahrstühle sind damit mehr als rein funktionale Einrichtungen. Jameson weist auf die Anleihen der Architekturtheorie bei den Theorien der Narration hin. Der körperlich erfahrbare Transit durch ein derartiges Gebäude wird wie eine Erzählung, eine Fiktion behandelt. Die Architektur der dynamischen Wege macht unsere Bewe­ gungen zu Teilen eines narrativen Prozesses. Der bewegte Körper wird Thema der Ar­ chitektur, der Aufzug „zum allegorischen Signifikaten der guten alten Promenade, die wir selbst nicht mehr durchführen dürfen“.12 Dieser Raum allegorischer Künstlichkeit ist wegen seiner autoreferenziellen Fähig­ keit, die eigene Produktion als Inhalt zu bezeichnen, auch als Ort didaktischer Intensi­ vierung zu sehen. Auch ist er schwer in den Vorstellungen eines Raumvolumens zu er­ fassen, weil er zwischen fünf Wohntürmen angelegt ist, von einer Mittelsäule zentriert wird und von Fahrstühlen, die zu rotierenden Cocktail­Bars führen, und von Gallerien durchzogen ist. „[D]ie ständige Geschäftigkeit gibt einem das Gefühl, dass die Leere völlig ausgefüllt wird, dass sie etwas ist, worin man selbst völlig eingetaucht ist, ohne jegliche Distanz, die vorher die Wahrnehmung oder Perspektive des Volumens ermög­ lichte.“13 Der Verlust der Tiefe in der postmodernen Malerei und Literatur wird nun für Jameson in der Architektur durch das Äquivalent der Immersion, des Eingetauchtseins ausgedrückt (weil Tiefe an sich in der Architektur nicht unterdrückt werden kann). Als Resümee meint Jameson, dass es dem modernen Hyperraum, hier durch das Atrium des Bonaventura exemplifiziert, gelungen ist, die Fähigkeit des menschlichen Körpers zur Selbstlokalisierung zu überschreiten und damit auch die Fähigkeit zur Strukturierung der Umgebung und die kognitive Beziehung zwischen Körper und Um­ welt zu vermindern. An anderer Stelle zieht Jameson einen Vergleich mit dem Raum der postmodernen Kriegsführung, der sich auf das Buch Dispatch von Michael Herr beruft, in dem dieser seine Vietnam­Kriegserfahrung in postmoderner Sprache geschildert hat, weil her­ kömmliche Erzählformen nicht mehr dazu geeignet waren, diese neuen Erfahrungen der Kriegstechnologie, vor allem des Hubschrauberkrieges darzustellen. „Er war ein ‚Als bewegliche Zielscheibe­Überleben­Teilnehmer‘, ein echtes Kind des Krieges, ausgenommen die seltenen Zeiten, wenn du festgesetzt oder gestrandet warst, das System war darauf ausgerichtet, dich in Bewegung zu halten, wenn es das war, was du glaubtest zu wollen. Als eine Technik um am Leben zu bleiben schien sie Sinn zu machen, vorausgesetzt natürlich du warst dort um anzufangen und wolltest die Sa­ che näher sehen. […] solange wir Helikopter wie Taxis haben konnten, brauchten wir eine totale Erschöpfung oder eine Depression dem Zusammenbruch nahe, oder ein Dutzend Opiumpfeifen um uns zumindest nach außen ruhig zu halten, wir rannten im­ mer weiter in unserer Häuten herum, wie wenn etwas hinter uns wäre, ha ha, La Vida Loca. In den Monaten nach meiner Rückkehr begannen sich die hunderte von Heli­ koptern, in denen ich geflogen war, zusammenzuziehen bis sie einen kollektiven Meta­ Chopper bildeten, und in meiner Vorstellung war das äußerst sexy: Beschützer­Zerstö­ rer, Versorgungs­Verschwender, rechte Hand, linke Hand, flink, fließend, gerissen und 372

menschlich; heisser Stahl, Schmiere, dschungelimprägnierter Leinengurt, kühler und wieder warmer Schweiss, Kassetten Rock’n’Roll auf einem Ohr und Luken­Geschütz­ feuer auf dem anderen. Benzin, Hitze, Vitalität und Tod, der Tod selbst, kaum ein un­ gebetener Eindringling.“14 Diese neue Maschine repräsentiert für Jameson nun nicht mehr Bewegung, wie früher Lokomotiven oder Flugzeuge, sondern kann nur in der Bewegung selbst dar­ gestellt werden.15 Aus heutiger Perspektive muss man bemerken, dass zum damali­ gen Zeitpunkt um 1984 die Entwicklung des Internets und der Kleincomputer noch in keiner Weise absehbar war, aber die Idee einer unerhört gesteigerten Beweglichkeit natürlich existierte, wie etwa in Virilios Studien. Für Jameson ist dieses populistische Insert in das urbane Gewebe ein Hyperspace, der sowohl Illusion als auch Kompensation bedeutet, Verlust der Tiefe, Fragmentie­

Urban Psychasthenia Dieser Sachverhalt wird jedoch von einer anderen Autorin, Celeste Olalquiaga nicht als Schizophrenie, sondern als urban psychasthenia dargestellt:„Psychasthenia ist eine Störung in der Beziehung zwischen dem Selbst und dem umgebenden Territorium, in welchem der Raum, der durch die Koordinaten des eigenen Körpers bestimmt wird, mit dem des repräsentierten Raum vermischt wird. Der psychasthenische Organis­ mus, der zur Markierung der Grenzen des eigenen Körpers unfähig ist, im ungeheu­ ren Areal, das ihn umgibt, verloren ist, setzt die Aufgabe der eigenen Identität fort, um den Raum hinter ihm zu umschlingen. Er macht dies, indem er sich durch Tarnung in das Milieu begibt. Diese Simulation bewirkt eine doppelte Vereinnahmung: Während der Körper erfolgreich diese Elemente reproduziert, kann er sie andrerseits nicht be­ greifen, er wird in diesem Prozess von ihnen verschluckt und verschwindet als davon unterschiedene Einheit.“18 Der Begriff der Psychasthenie, auf den sich Olalquiaga bezieht, wurde von Roger Caillois unter dem Titel legendary psychasthenia begründet, der diese Phänomene des Selbstverlustes im Raum anhand seiner Arbeit über die Fähigkeit zur Mimikry, der vollständigen Anpassung bestimmter Organismen an die Umwelt durch Annahme ih­ rer Gestalt erkannt hat. Dieses Tarnungsverhalten, das insbesondere in der Welt der

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rung, die Reduktion von Geschichte auf Nostalgie und eine diesem zugrunde liegende Dezentrierung des untergeordneten Subjekts und die wachsende Gewissheit, dass der individuelle menschliche Körper die Fähigkeit sich selbst zu lokalisieren, seine unmit­ telbare Wahrnehmung zu strukturieren und seine Position auf der Karte einer äußeren vermessbaren Welt durch Erkenntnis zu bestimmen, verliert.16 Das Portman Hotel Bonaventura wird zum Symbol der postmodernen Stadt: „Frag­ mentiert und fragmentierend, homogen und homogenisierend, in amüsanter Weise vollgestopft, merkwürdig unverständlich, scheinbar offen um sich selbst zu zeigen, aber ständig auf Abschliessung, Abteilung, Einsperrung drängend. Alles Vorstellbare scheint in der Mikro­urb erhältlich, aber wirkliche Plätze sind schwer zu finden, ihre Räume verwirren eine wirksame kognitive Orientierung, ihr Mischwerk aus oberfläch­ lichen Spiegelungen verwirrt die Koordination und ermutigt stattdessen zur Unter­ werfung. Einmal drinnen, wird es beängstigend wieder hinaus ohne Hilfe eines An­ gestellten zu kommen. Seine Architektur wiederholt und spiegelt die wuchernden, industriell hergestellten Räume.“17

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Insekten zu beobachten ist, ist eine Fähigkeit, mit der die Ursache der Psychasthenie zusammenhängt. „Ich weiss, wo ich bin, aber ich habe nicht das Gefühl, als ob ich auf dem Fleck stünde, wo ich mich befinde.“19 schreibt Callois zur Unfähigkeit sich von der Umgebung zu unterscheiden, dieses Fehlen der Grenzen führt zur Krise: „Für die­ se verlassenen Seelen scheint der Raum eine verschlingende Macht zu haben. Raum verfolgt sie, umstellt sie, verdaut sie in einer gigantischen Phagozytose. Es endet durch deren Ersetzung. Dann separiert sich der Körper selbst vom Denken, das Individuum durchbricht die Grenzen der Haut und besetzt die andere Seite durch ihre Sinne. Es ver­ sucht auf sich selbst von irgendeinem Punkt im Raum aus zu schauen. Es fühlt selbst, dass es Raum wird, ein dunkler Raum aber, wo man keine Dinge hinstellen kann. Es ist ähnlich, nicht ähnlich zu etwas, sondern nur ähnlich.“20 Soja stellt fest, dass der Begriff der Psychasthenie eine bessere Eignung für die Be­ schreibung des postmodernen Raumes aufweise, weil er die Trialektik des Raumes und das Verhältnis von Secondspace und Thirdspace besser versteht. Als Secondspace bezeichnet Soja die Summe dessen, was bei Lefebvre als die Repräsentationen des Rau­ mes und die Räume der Repräsentation mit zwei verschiedenen Raumtypen beschrie­ ben wurde (conceived und perceived Space). Zur Ergänzung: Firstspace ist bei Soja die konkrete materielle Form des Raumes, die in Plänen darstellbar ist. Thirdspace ist ein Raumbegriff von Soja, der sich auf die Wortschöpfung thirding bezieht, die in diesem Zusammenhang soviel wie Othering bedeutet und auf eine Trialektik des Raumes ver­ weist. Der Sinn dürfte darin bestehen, dass es nie so etwas wie eine Identität zwischen dem Individuum und den Räumen gibt, sondern der Prozess des thirding immer auf ein Anderes verweist. Soja bezieht sich auch in diesem Zusammenhang konkret auf Fou­ caults Aufsatz „Andere Räume“. Diese Nichtidentität ist notwendig, weil sie den élan vital, den Motor des menschlichen Lebens darstellt, die Gefahr des postmodernen Rau­ mes besteht darin, dass der Secondspace seine Dominanz erweitert, nicht nur über den wahrgenommenen Raum der täglichen Praktiken, sondern auch über das Ganze des gelebten Raumes und seine primären Orte, vor allem durch die wachsende Camouflage des Körpers, die Verschlingung des Körpers durch den ihn umgebenden Raum. Die un­ kontrollierte Immersion erzeugt den Verlust des Selbst aufgrund einer vollständigen Identität mit dem ihn umgebenden Raum, weil keine Unterscheidung der Körpergren­ zen mehr möglich ist. An anderer Stelle weist Soja im Sinne von Caillois aber darauf hin, dass dieser Verlust des Selbst unter bestimmten Umständen auch große Lust be­ reiten kann, wie etwa die Aufgabe des eigenen Kostüms, um uns an ein neues, verfüh­ rerisches Szenario anzuhängen.21 Olalquiaga spricht von der Latinisierung der USA und führt postkoloniale kulturelle Bewegungen an, wie die Tupinicopolis, die nach ei­ ner retrofuturistischen Sambatruppe benannt wurde, die chilenische Punkbewegung und Superbarrio, eine Kultfigur, die in den mexikanischen Slums entstand, um gegen die polizeiliche Korruption, Umweltverschmutzung und Armut zu kämpfen.22

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1 Michael Sorkin, Variations of a Theme Park, Hill and ches, New York 1978; zit. nach Jameson (wie Anm. 5), Wang, Noonday Press, New York 1992. 2 Zit. nach Edward S. 45. 15 Jameson (wie Anm. 5), S. 45. 16 Jameson, (wie W. Soja, Thirdspace. Journeys to LA and other real­and­ Anm. 5), S. 44 . 17 Edward W. Soja, Postmodern Geogra­ imagined Places, Blackwell Publishers, Malden/ MA /Ox- phies. The Reassertion of Space in the Critical Social ford 1996, S. 237. 3 Ebd. 4 Jean Baudrillard, Agonie des Theory, Verso, London/New York 1989, S. 244 . 18 CeRealen, Merve, Berlin 1978 , S. 89. 5 Frederic Jameson, leste Olalquiaga, Megalopolis. Contemporary Cultural Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capita­ Sensibilities, University of Minnesota Press, Minneapolis lism, Duke University Press, Durham 1991. 6 Ebd. 7 Ger- 1992 , S. 1 – 2; zit. nach Soja (wie Anm. 2), S. 198 . 19 Roda Pagel, Lacan zur Einführung, Junius, Hamburg 1989. ger Callois, „Mimicry and Legendary Psychasthenia“, in: 8 Jameson (wie Anm. 5), S. 27. 9 Marguerite Séchehaye, October 31 (1984); hier: Repr. in: Annette Michelson e. a., Autobiography of a Schizophrenic Girl, Übers. v. Grace Ru- October: The First Decade, MIT Press, Cambridge/ MA bin-Rabson, New York 1968 , S. 19; zit. nach Jameson (wie 1987, S. 72. 20 Ebd., S. 72. 21 Edward W. Soja, Postme­ Anm. 5), S. 27. 10 Jameson (wie Anm. 5), S. 28 . 11 Jame- tropolis. Critical Studies of Cities and Regions, University son (wie Anm. 5), S. 40. 12 Jameson (wie Anm. 5), S. 42. of Minnesota Press, Malden/ MA /Oxford 2000 Blackwell 13 Jameson (wie Anm. 5), S. 43. 14 Michael Herr, Dispat­ Publishers, S. 331. 22 Olalquiaga (wie Anm. 18).

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Abb. 16: Constant Anton Nieuwenhuys, New Babylon, Spiegelsaal (1968/1972). Constant spielt hier wohl auf den Narzissmus an und die Suche nach dem Anderen durch den Blick in den Spiegel, vielleicht auch auf Lacans Spiegeltheorie.

Die Generic City. Okzidentale Identifikationsprobleme oder Taoistischer Vitalismus Simulation als Ausgangspunkt westlicher Identifikationsstörungen Als Prototyp des postmodernen Raumes gilt der kalifornische, der auch als erste Quelle der relevanten Literatur in Erscheinung tritt und in einigen Fällen auch auf eine tiefe Störung des Verhältnisses zwischen Mensch und Stadtraum hinweist. Der Grund dafür liegt im Phänomen der Simulation, wenn wir diesen von Jean Baudrillard ins Spiel ge­ brachten Begriff verwenden wollen, der zur Beschreibung dieses Sachverhalts der De­ realisierung häufig verwendet wurde, weil hier Zeichenwelten an die Stelle konkreter Realität treten. „Die Stadt ist nicht mehr das politisch­industrielle Polygon, das sie im 19. Jahrhundert gewesen ist, sie ist das Polygon der Zeichen, der Medien, der Codes.“1 Diese Zeichenwelten oder Simulationen verfügen über keinen Referenten mehr, kön­ nen daher nichts mehr bezeichnen, sondern nur mehr mit anderen Simulationen inter­ agieren.2 Diese Dominanz der Zeichen, auch als Semiokratie bezeichnet, beruhte auf den neuen Technologien und Medien, insbesondere dem damals noch relativ neuen Fernsehen. Dieser Diskurs stammt aus den 1970er Jahren und stand unter dem Ein­ fluss der völlig neuen Medientheorien, vor allem Marshall McLuhans mit seinem Satz „The medium ist the message“. Zudem ergab sich noch eine zweite bedeutsame Beob­ achtung, weil die Massen, denen man zuvor eine revolutionäre Substanz zugeschrie­ ben hatte, sich nunmehr völlig dem Einfluss der Medien aussetzten und zu apathi­ schen Konsumenten wurden, die sich dem Spektakel nicht entziehen konnten und wollten. „Die Einschließung in das Ghetto des Fernsehens, der Werbung, in das Ghetto der Konsumenten/Konsumierten […].“ 3 Als einziges Zeichen des Widerstandes inter­ pretierte Baudrillard daher das massenhafte Auftreten von Graffitis „SUPERBEE SPIX COLA 139 KOOL GUY CR AZY CROSS 136“.4 in den amerikanischen Städten, die als Ausdrucksformen eines Anti­Diskurses und als entleerte und bedeutungslose Zeichen die sinnbeladenen Zeichen der Stadt attackieren und – so glaubte Baudrillard damals noch – jene durch ihre Anwesenheit auflösen. Später gab Baudrillard auch den Glauben an die Subversionskapazität derselben auf. Seine Theorie der Simulakren führt zur Behauptung eines Endes der Realität auf­ grund der Beseitigung des Wahrheitsprinzips, wobei er sich in dieser Diagnose eher auf die Formen gewohnter und vertrauter Realität bezieht als auf jene der Lebenswelt, die nur mehr als „ästhetisches Phänomen“ aufgefasst wird. Dazu zählen die Mode, die Architektur, die Medien, Wohnungseinrichtungen, Shopping Malls und das gesam­ te System der politischen Ökonomie. Eine Folge dieser Entwicklung ist die Implosion des Sozialen, die den Verlust des Charakters der Massen konstatiert und damit ihre gesellschaftliche Irrelevanz begründet. Man muss Baudrillards Theorie auch als eine Kritik an den damaligen marxistischen Theorien sehen, die damals noch an das Prin­ zip Geschichte, die politische Wirksamkeit der Massen, die simple Dialektik zwischen Herrschern und Beherrschten und die Überwindung des Kapitalismus glaubten und 377

die die damals aktuellen kulturellen Entwicklungen entweder völlig ignorierten oder missinterpretierten. Insofern war Baudrillard auch einer der ersten bekannten post­ modernen Denker, der die Alltagskultur reflektierte und daraus relevante Schlüsse zog. Der Begriff der Simulation erfreute sich in der Szene der Stadtforschung und Ar­ chitektur großer Beliebtheit und diffundierte auch in zahlreichen Texten. Insbeson­ dere Michael Sorkins einflussreicher Text Variations on a Theme Park bezog sich auf die Simulationsthese als dem neuen Grundprinzip der amerikanischen Stadt und dem Ende des öffentlichen Raumes. Sorkin verbindet auch die beiden Begriffe der Simula­ tion und des Generischen. „Die Architektur dieser Stadt ist beinahe rein semiotisch und spielt das Spiel eines okulierten (veredelten) Signifikanten, das Errichten von Theme­Parks. Unabhängig davon, ob es generische Historizität oder generische Mo­ dernität repräsentiert, beruht das Design auf dem selben Kalkül der Werbung, deren Idee im Vergessen der wahren Bedürfnisse und Traditionen derer liegt, die darin woh­ nen. Willkommen in Cyburbia.“ 5 Die Simulation ist die Ursache der Irrealität und das Generische offensichtlich die Quelle des Unechten. Somit wird den Theme Parks jener Bedeutungskomplex verliehen, der „die Ageographie, die Überwachung und Kontrolle und die endlosen Simulationen“ beinhaltet.6 Dieser repräsentiert die glücksgetrimm­ ten Visionen des Vergnügens als Ersatz für den demokratischen öffentlichen Bereich, und macht dies erfolgreich, indem der verstörenden Urbanität der Stachel gezogen wird, indem die Anwesenheit der Armen, der Kriminalität, des Schmutzes und der Ar­ beit verhindert wird. In den Räumen des Theme Parks und der Shopping Mall gibt es nur eine eingeschränkte Rede. In Disneyland gibt es keine Demonstrationen. Daher endet Sorkin: „Die Anstrengung die Stadt wiederzuerlangen ist der Kampf der Demo­ kratie selbst.“ 7 Während Sorkin noch an „wahre“ Bedürfnisse“ und die Möglichkeit des „reclaim the City“ glaubt, ist bei einem weiteren prominenten Vertreter einer Spielart des mo­ dernen Urbanismus, Rem Koolhaas, diese Möglichkeit eher ausgeschlossen. Vom Idealismus befreit. Koolhaas’ Generic City als Anti-Utopie asiatischer Prägung Eine zentrale Diskurslinie über die Stadt ist seit Platon utopisch, im Sinne eines Ortes, der noch nicht existiert, den man aber errichten wird. Die Stadt ist neben ihrer realen Morphologie immer ein Möglichkeitsraum und jede Bewertung unterliegt dem pro­ leptischen Moment der echten Vorfreude über etwas, das erst kommen wird, als ob es schon da wäre. Das diskursive Material entstammt zumeist dem Fundus des Humanis­ mus und ist aufgrund der engen Verbindung zur Rhetorik jeder politischen Richtung in gleicher Weise zugänglich, und natürlich ermöglicht dies auch eine völlige Engfüh­ rung mit den Zielen des Kapitalismus. Wie auch immer, im Denken des Okzidents über die Stadt zählt diese Verknüpfung von Urbanismus, Humanismus und Prolepsis zum Grundbestand des sozialen, politischen und ökonomischen Diskurses und bestimmt dessen Dynamik. Und es ist diese Dynamik auf die sich politische Bewegungen bezie­ hen, wenn sie aufklärerisch emanzipatorisch argumentieren. Angesichts der Realität der asiatischen Megacities erhebt sich die Frage, ob die­ ses okzidentale Denken, das auch den Moment emanzipativer Bewegung einschließt, überhaupt noch von Bedeutung ist. Die von Koolhaas beschriebene Realität der Mega­ cities, die er mit dem Begriff der Generic City bezeichnet, beruht vielmehr auf dem Geiste orientalischen Denkens. Koolhaas begnügt sich zwar mit dem Hinweis auf die 378

asiatische Herkunft, indem er sie als ein asiatisches Ereignis bezeichnet, dessen Ideal­ typus 15 Millionen Einwohner hat und in Asien oder am Äquator liegt, und er erahnt auch den asiatisch philosophisch­religiösen Hintergrund, wie man aufgrund einiger Bemerkungen vermuten kann (im Text „Singapore Songlines“ spricht er von einem

der Macht des Taos als eines Prinzips der alles durchdringenden Lebenskraft sehr viel mehr geprägt, als er sich selbst bewusst ist. Das Tao bedeutet hier eine diffuse, aber fundamentale Energie, die die Dinge bewegt und der sich zu widersetzen sinnlos und schädlich wäre. Koolhaas nimmt hier eine merkwürdige Rolle ein, die stimmungs­ mäßig von einer taoistischen Perspektive ausgeht, um eine Praxis zu entwickeln, durch die man von einer inneren Kraft zu einer Macht über die Welt kommt. Dazu muss man sich im Zentrum (in diesem Falle der Architektur) aufhalten, um die Welt zu verstehen und sie in sich zu tragen. In ihrer schriftlichen Ausführung ist sie durch ex­ tremen Lakonismus gekennzeichnet, der öfters als Zynismus bezeichnet wird, tatsäch­ lich aber dürfte er sich in einem mimetischen Prozess zahlreiche Prinzipien des mo­ dernen Taos, der eine Verbindung mit dem Kapitalismus eingegangen ist, angeeignet haben, die er weniger durch seine Schriften als durch sein Werk zum Ausdruck bringt. Der Diskurs verläuft daher kompliziert. Wer den modernen Taoismus verinnerlicht hat, muss den westlichen auf Aufklärung und Humanismus beruhenden Theorien zum Ur­ banismus, bzw. deren rhetorischer Vermittlung, mit Skepsis oder auch Gleichmut be­ gegnen, was wiederum zumeist als Zynismus interpretiert wird. Koolhaas geht in sei­ ner Argumentation natürlich vom westlichen Architekturdiskurs aus, es lässt sich aber eine Art unterirdischer taoistischer Strömung erkennen, die in den Texten wenig zum Ausdruck kommt. Er bezieht sich aber sehr deutlich auf die Identifikationsprobleme der Simulation und des Generischen aus westlicher Sicht, die ein grobes kulturelles Unbehagen und entsprechende Verunsicherung hervorrufen. Während die Antwort bei uns auf Forderungen nach notwendigerweise antikapitalistischen, emanzipativen Handlungen und Theorien gerichtet ist, die eine Identität echter Gemeinschaftlichkeit mit ökologischen Zügen hervorbringen, ohne dass jemand wüsste, wie dies zu bewerk­ stelligen sei, denkt Koolhaas gar nicht mehr im Sinne identitätsstiftender Lösungen, sondern asiatisch energetisch. Der deutsche Sinologe Otto Franke schreibt zur Grundlage dieser energetischen Vorstellungen in einem Vortrag der Warburg Bibliothek: „Bei keinem anderen Volk der Welt lässt sich ein so starkes Verbundensein mit der Natur, und zwar mit der irdischen sowohl wie mit dem gesamten Kosmos beobachten, wie bei den Chinesen […] die Ord­ nung aber, in der sich das All und jeder Teil darin bewegt, ist das Tao (Dao), ‚der Weg‘ […] das Weltgesetz; ihm ist alles unterworfen, das Größte wie das Kleinste, das yin und das yan, Sonne, Mond und Gestirne, die Menschheit und ihre Organisation, der Ein­ zelne und sein Lebenslauf. Seine Auswirkung, seine Formwerdung ist das te (de), d. h. ‚Kraft‘ oder auch ‚Tugend‘. Diese kosmische Ordnung, außerhalb derer nichts verbleibt, durchdringt das gesamte Empfinden der Chinesen, bestimmt ihr philosophisches Den­

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Amalgam von konfuzianischem Ethos, UN ­Unterstützung, ökonomischen und demo­ graphischen Notwendigkeiten) 8. An anderer Stelle bezeichnet er Singapur als den viel­ leicht ersten semiotischen Staat, mit Bezug auf Roland Barthes Reich der Zeichen, das die Semiotik der japanischen Kultur beschreibt,9 hält sich aber nicht mit tiefergehen­ den Überlegungen auf. Allerdings, so die Behauptung des Autors, ist die Grundstim­ mung der Texte über die Generic City von Koolhaas eben von diesen Vorstellungen

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ken zu allen Zeiten.“10 Zum weiteren Verständnis dieser kosmologisch­energetischen Lage muss darauf verwiesen werden, dass sich der Mensch in der kosmologischen Ein­ heit Himmel­Erde­Mensch immer als ein Teil der Natur fühlt und er alles Soziale und Politische als Natur erlebt, dem man sich nicht widersetzen sollte. Natürlich beruht diese Haltung zugleich auf einer geringer entwickelten Subjektivität im Vergleich zum Westen, die aber zugleich in der Lage ist, schwierige soziale Entwicklungen gleich­ mütig zu ertragen. Sozial relevant ist die Familie, eben weil sie naturwüchsig ist und auch im Zentrum der konfuzianischen ethischen Lehre stand. Insofern werden auch der Kapitalismus und die urbanistischen Entwicklungen entsprechend naturwüchsig aufgefasst, vor allem kann sich das Nebeneinander von Kommunismus und Kapitalis­ mus in China in einer Weise entwickeln, die in westlichen Gesellschaften schwer vor­ stellbar scheint. Koolhaas spricht von der neuen Stadt als der Generic City und meint damit jene Stadt, die keine natürlichen Charakteristika aufweist und ein reines, künstliches Pro­ dukt wie etwa ein Flughafen ist, weder Zentrum, noch Identität und Geschichte auf­ weist und damit auch von Sorkin als eine ageographische, ortlose Stadt bezeichnet wird. Die Orientierung verläuft dort nach dem Prinzip der Simulation, wie sie von Baudrillard geprägt wurde und die auf einen Repräsentanten ohne echtes Repräsen­ tierendes verweist. So beginnt er seinen Aufsatz mit der Frage, was passiert, wenn eine Stadt einem Flughafen immer ähnlicher wird. Flughäfen gelten sicherlich nicht als Orte der Iden­ tität, sondern sind nach Marc Augé Beispiele eines klassischen Nicht­Ortes. Wenn die Flughäfen einst Manifestationen eines völlig neutralen Raums waren, so sind sie heu­ te die besonders charakteristischen Elemente der Generic City. „Der Flughafen gibt eine erste konzentrierte Welle der lokalen Identität durch Gerüche, Wandmalereien, Vegetation und lokale Kleidung. Flughäfen werden emblematische Zeichen, die in das kollektive globale Unbewußte durch wilde Manipulationen ihrer nicht mit dem Flie­ gen zusammenhängenden Attraktionen wie Duty Free Shops, spektakuläre räumliche Qualitäten, die Frequenz und Zuverlässigkeit ihrer Verbindungen zu anderen Flug­ häfen eingehen“,11 er ist eine Konzentration eines einerseits hyperlokalen, aber auch hyperglobalen Raumes. „Durch ständiges Wachstum und eine immer bessere Ausstat­ tung ist der Flughafen im Begriff die Stadt zu ersetzen.“12 Der Flughafen ist das Modell der Stadt, weil er Lokales und Globales verbindet und damit auch der angemessene Ausdruck ist. Charakteristisch für die Generic City – im Gegensatz zum Charakter einer alten Stadt – ist das Fehlen von Vergangenheit und Individualität oder jeglicher sonstiger Besonderheit. Einerseits sieht Koolhaas Identität immer mit einem Zentrum verbun­ den, andrerseits bezeichnet er auch das Zentrum als destruktiv, weil es immer eine Peripherie hervorbringt, die von Benachteiligung betroffen ist. In diesem Sinne erweist sich das Zentrum als ein double bind, denn es muss sowohl erhalten als auch erneuert werden. „Die Generische Stadt ist die Stadt, die von der Gefangenschaft des Zentrums befreit ist, von der Zwangsjacke der Identität. Die Generic City bricht mit diesem dest­ ruktiven Zirkel der Abhängigkeit; es ist nichts als eine Widerspiegelung der gegenwär­ tigen Bedürfnisse und Fähigkeiten. Es ist die Stadt ohne Geschichte. Sie ist groß genug für jeden. Sie ist einfach. Sie braucht keine Wartung. Wenn sie zu klein wird, expan­ diert sie. Wenn sie alt wird, destruiert sie sich selbst und erneuert sich.“13 380

Die Abwesenheit des Zentrums ist für die taoistische Lehre charakteristisch. Das Reich der Mitte verleiht seinem Zentrum keine Substanz. Ich erinnere an Roland Bart­ hes großes Buch Das Reich der Zeichen wo er die westliche Stadttopographie mit der östlichen vergleicht:„In Übereinstimmung mit der Grundströmung westlicher Meta­

Generisch Der Schlüssel zum Verständnis der postmodernen Stadt liegt nach Koolhaas im Aspekt des Generischen. Dieser Begriff wurde ursprünglich für Produkte ohne Marke verwen­ det, etwa für Medikamente, die nach einer gewissen Schutzfrist frei von jedem er­ zeugbar waren. Allerdings genossen auch diese Medikamente einen schlechteren Ruf, denn sie wurden ebenfalls als minderwertige Kopie eines besseren Originals angese­ hen, weil sie nicht mehr vom teuren Originalhersteller kamen. In einer allgemeine­ ren Hinsicht bedeutet es aber, dass jedes Produkt (vom Cola bis zum Restaurant und Gebäude) kein Individuum für sich selbst ist, sondern ein Exemplar einer corporate identity, einer Marke, einer Art. Es ist daher nichts partikulares, sondern etwas generi­ sches, wörtlich im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Art (Genus). Man sollte in diesem Zusammenhang auch daran erinnern, dass das Generische natürlich auch längst in der Pop Art von der Kunst entdeckt und insbesondere durch Andy Warhols berühmte Brillo Box auch verewigt wurde. Arthur C. Danto erklärte den Erfolg damals mit dem Begriff einer Verklärung des Gewöhnlichen. Die Bedeutung der Werke entstammte der Alltagskultur und schöpfte daraus ihre Popularität. Kraft dieser Eigenschaft des fehlenden Originals, bzw. der Ununterscheidbarkeit von Original und Kopie, ist die Generic City in der Lage, die Differenz zwischen Zen­ trum und Peripherie aufzulösen (Koolhaas spricht hier von einem Durchbruch eines circulus vitiosus, angeblich im Namen der Demokratie), ebenso bricht sie mit der Ver­ gangenheit, weil diese ihre Bedeutung verliert. Die Homogenisierung des Raumes, die schon von Lefebvre beschrieben wurde, führt zur Gleichartigkeit aller Bezirke, die nur mehr Ensembles von Straßen, Plätzen, Blocks und Grünflächen sind. Insofern wird das Paradigma des Flughafens gut verständlich, indem wir uns quasi alle im Transit befin­ den und alles als Durchgangsstadium betrachten. Die Generic City ist auch eine Stadt des Durchgangs und Übergangs, alles befindet sich im Status der Migration, des Tran­ sits und der Instabilität. Selbst Städte wie Paris und London, die ihre Identität erhalten können, tendieren zum Generischen.15 Das Generische ist keineswegs neu, sondern wird durch das Wachstum der Ho­ tel­ und Fastfoodketten seit Jahrzehnten registriert und dient als Paradigma. Von der seriellen Ästhetik bis hin zur Organisation der Struktur wird der unwiderstehliche

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physik, für die das Zentrum der Ort der Wahrheit ist, sind darüber hinaus jedoch die Zentren unserer Städte durch Fülle gekennzeichnet: An diesem ausgezeichneten Ort sammeln und verdichten sich sämtliche Werte der Zivilisation: Die Spiritualität (mit den Kirchen), die Macht (mit den Büros), das Geld (mit den Banken), die Ware (mit den Kaufhäusern), die Sprache mit den Agoren: den Cafés und Promenaden: Ins Zentrum gehen heißt die soziale Wahrheit treffen, heißt an der großartigen Fülle der ‚Realität‘ teilhaben.“ Nun aber die Differenz der östlichen Stadt:„Die Stadt von der ich spreche (Tokyo), offenbart ein kostbares Paradox: sie besitzt durchaus ein Zentrum, aber die­ ses Zentrum ist leer. Die ganze Stadt kreist um einen verbotenen und zugleich indiffe­ renten Ort […].“14

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Siegeszug des Generischen bezeugt. Die Stadt wird gewissermaßen verallgemeinert, generalisiert wie das Beispiel der Flughäfen beweist, die überall völlig gleich, ohne Zentrum, Identität und Geschichte sind. Koolhaas sucht aber in seiner zynischen und gleichermaßen hellsichtigen Art, nach dem zu befreienden Potential dieser Stadt. Denn sie ist ja auch eine Stadt der Netzwer­ ke, der Technologien und wird vom Geist des Kapitalismus inspiriert. Oder etwas ge­ nauer gesagt, das Generische wird von der Logik und Ästhetik der internationalen Konzerne geprägt und ist ohne Kapitalismus unvorstellbar, wie der nicht zu stoppende Boom der Ketten beweist. Die Kette selbst, wie Einkaufsketten, Hotelketten, Fastfood Ketten, Restaurantketten usw., ist ein Phänomen des Generischen und ist bekanntlich für die Begriffswahl der McDonaldisierung oder Hilton Kultur verantwortlich. Die­ ser Umstand erzeugt aber auch Probleme, weil durch den Übergang von der industri­ ellen zu postindustriellen Phase die Stadt gezwungen wird, ein neues Image zu er­ finden, und dies erfolgt durch eine Instrumentalisierung der Geschichte, der Kultur und des lokalen Kolorits. Die vielen Projekte, in denen die „Waterfront“ der Stadt ent­ wickelt wird, sind dafür symptomatisch, denn jede Stadt möchte fortan mediterran sein. Freilich erinnert Koolhaas stets daran, dass in der generischen Stadt das Prinzip der Simulation gilt. Denn Geschichte wird in den wiederentdeckten historischen Quar­ tieren wie auf einer Bühne präsentiert und zieht bestimmte Orte anderen vor. Dies ver­ weist nebenbei auf die merkwürdige Dialektik zwischen Inszenierung und Vernach­ lässigung des urbanen Raumes. Die Vernachlässigung des Raumes in der posturbanen Zone mit seinem zufälligen, indifferenten Gewirr der Autobahnen, Wohnbauten und der kommerziellen Architektur, das auf den Auswirkungen des urban sprawl beruht, ist das logische Komplement zur Inszenierung der städtischen Lokalitäten in den his­ torischen Stadtzentren, weil diese einander bedingen. Die Geschichte wird trotz ihrer Absenz zur größten Industrie der Generic City und das Wachstum des Tourismus verläuft proportional zur Zerstörung der historischen Substanz, allerdings stößt sich Koolhaas nicht an der Zerstörung, sondern der falschen Nostalgie. In einer Stadt ohne Geschichte scheinen die Leute dazu verurteilt, zu Dis­ neyland zurückzufallen, das die simulierte Version eines kollektiven Gedächtnisses anbietet. In Wirklichkeit gibt es in der Generic City kein reales kollektives Gedächtnis, sondern nur das Gedächtnis eines Gedächtnisses. Geschichte ereignet sich hier kein zweites Mal als Farce, sondern nur als Dienstleistung.16 Es gibt aber keinerlei Bedau­ ern über dieses Verschwinden der Geschichte, noch wird an die Notwendigkeit ihrer Existenz geglaubt, sondern sie wird eher als ein hemmender Faktor der Kreativität und Performanz gesehen. In der Generic City ist man entweder ein Tourist oder ein Käufer. „Shopping ist die einzige Aktivität.“17 Die Anzahl der Bürogebäude nimmt ab, weil die Arbeit daheim verrichtet wird, die Infrastruktur der Hotels ist derart umfassend, dass sie bald alle anderen Gebäude erübrigt. Das Hotel ist die generische Wohnung der Generic City.18 Es ist mit allem Luxus ausgestattet, sodass seine Bewohner nirgendwo mehr hingehen müssen. Die eigentliche Stärke der Generic City liegt aber in ihrer heroischen Attitude, alles aufzugeben, was nicht funktioniert, denn „sie ist das was davon überbleibt, was ein­ mal die Stadt war, sie ist die post­city, die auf dem Platz der ex­city errichtet wird“.19 Es wird die „Asphaltdecke des Idealismus mit dem Dampfhammer des Realismus zer­ 382

trümmert und alles akzeptiert was statt dessen wächst“.20 Dieser Abgesang an den Ide­ alismus erfolgt ohne jedes Bedauern wie bei einem wertlosen Erbe. Zugleich herrscht in der Generic City der Zustand der Sedierung, einer „unheimlichen Ruhe“,21 als wäre man in einer Form von Trance, einer tiefen Gelassenheit, die durch die Evakuierung des öffentlichen Raumes zustande kommt, wie bei einem Feueralarm.22 Die Generic City wird nicht durch den öffentlichen Raum zusammengehalten, nicht durch die Agora, sondern ausschließlich durch das, was übrig bleibt. Die Straße ist tot. Hochhäuser und Wolkenkratzer konstituieren die bestimmende Typologie, indem der gesamte Restbestand der urbanen Elemente geschluckt wird, zudem können sie über­ all stehen, denn sie sind selbstgenügsam und isoliert. Die Stadt wird auf einer tabu­

Taoistischer Vitalismus und Urbanismus „Wohnen ist kein Problem“, heißt es lakonisch einige Passagen später, denn die Leute wohnen entweder legal in einem Haus oder einer Wohnung, oder aber illegal in einer improvisierten Hütte. Koolhaas neigt auch zu trockenen Scherzen: „Es ist merkwürdig, dass diejenigen mit dem geringsten Geld, die teuerste Ware, nämlich den Boden be­ wohnen, während die, die zahlen das bewohnen, was gratis ist, die Luft.“24 Eine poli­ tische Haltung ist bei Koolhaas nicht zu beobachten, die Regierungen der Generic City tendieren zum Autoritarismus, aber es sind die Freunde der jeweils Herrschenden, die die entscheidende Rolle für die Errichtung der Generic City spielen. Ferner konstatiert er eine gewisse Permissivität, die das Diktatorische verbirgt.25 Auch wird bei Koolhaas das Wort Kapitalismus nur selten erwähnt. Er hält die Generic City obendrein für eine Petri­Schale, also für ein Gefäß, in dem sämtliche soziologische Hypothesen bewie­ sen und zugleich widerlegt werden können, denn es sind gerade diese permanenten Widersprüche der Hypothesen, die den Reichtum der Generic City ausmachen. Bei Koolhaas gibt es keinen Glauben an bestimmte politische oder soziale Theorien, noch kann er sich für eine Form emanzipativen Denkens europäischer Provenienz erwär­ men. Für ihn ist die alte Architektenformel, die eine Verbindung zwischen dem Urba­ nismus und linken, fortschrittlichen Bewegungen sieht, eher dem rhetorischen Reper­ toire der Vergangenheit entnommen. Er glaubt dafür umso mehr an einen unendlichen Prozess der Stadtwerdung durch die unbestimmbare, auch nahezu dämonische Kraft des Generischen, die nicht mehr als ein untergeordnetes Genus gedacht wird, sondern in einem nahezu kosmologischen Sinne als ein Prinzip der Schöpfung. Im alten China wurde Macht nicht politisch, sondern strategisch gedacht. Es gibt in dieser Denkweise auch kein Wesen des Politischen, da politische Macht nicht als Einzelnes an sich existiert, sondern immer mit einer diffusen energetischen Form ver­ bunden ist, die alles umfasst, Qui, der Atem.26 Politische Macht ist der Ausdruck einer globalen, die Welt animierenden Kraft, mit der man sich sozusagen bereits im Ansatz der Realitätsbildung verbinden muss, um den Prozess der Genese mitzusteuern. So

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la rasa geschaffen, entweder dort, wo nichts war oder wo einmal etwas anderes war. Stadt ist nicht mehr planbar oder machbar. Die Satellitenstädte schießen in den Him­ mel und verfallen wieder, die Bevölkerung explodiert, um dann wieder zu verschwin­ den, ebenso boomt die Ökonomie und kollabiert wieder. Ursache und Wirkung sind nicht mehr eruierbar. Im Übrigen ist die Stadt multirassisch und multikulturell (wobei Koolhaas folgende Aufteilung angibt: 8 Prozent Schwarze, 12 Prozent Weiße, 27 Prozent Hispanier, 37 Prozent Chinesen/Asiaten, 6 Prozent unbestimmbar, 10 Prozent andere).23

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kommt man zur Macht über die Welt. Die Kraft, Te in taoistischer Sicht, De in chine­ sischer Sicht, ist der Konvergenzpunkt, in dem sich spirituelle Übung mit politischer Praxis trifft, und sie ist eine Kraft des Zentrums. Man muss sich daher im Zentrum aufhalten, um die Welt zu verstehen. Weil aber das Reich der Mitte dem Zentrum kei­ ne Substanz verleiht, sondern Macht als leere und unpersönliche Souveränität begreift, gibt es kein morphologisches Zentrum der Stadt bzw. nur eines der Leere. Daraus kann man eine Mystik der Leere, wie auch einen vitalistischen Zentralismus ableiten, der das Werden der Stadt als Ganzes steuert. Es handelt sich dabei um die Lebenskraft, die mit dem Atem verbunden ist und das Wachstum der Stadt ermöglicht. Weil die alten Chinesen in ihrer schamanistischen Tradition beim Atmen aber auch das Ersticken stets mitdachten, dem man sich aber nicht entziehen könne, weil man dabei dem Sta­ dium des embryonalen Atmens nahekommt, was die Hoffnung auf eine reinere Exis­ tenz ankündigt, ist ein Widerstand schädlich, da er nur die Chance auf Unsterblich­ keit vermindert und das Karma verschlechtert.27 Diese Lehren von der Lebenskraft wurden zwar durch andere Religionen wie den Konfuzianismus überlagert, oder gin­ gen synkretistische Verbindungen mit anderen Religionen ein, aber sind auch noch heute vielfach im kollektiven Bewusstsein präsent. Diese Verbindung eines taoisti­ schen Vitalismus mit dem Urbanismus hat auch den Charakter einer Therapie wegen der Nähe zur Lebenskraft, von der man sich nur um den Preis eines enormen Risikos ablösen könnte, weil sie den gesamten Weltprozess steuert. „Ein Chinese, der jene Le­ benskraft ablehnt, die von diesem Zentrum her ausstrahlt, verurteilt sich selbst zum Tode.“28 Aus dieser Sicht sind politisch emanzipatorische Handlungen des Widerstan­ des im westlichen Sinne wert­ und sinnlos, was naturgemäß der Praxis des Kapitalis­ mus sehr entgegenkommt. Daher stellt sich das Generische für Koolhaas nicht, wie anzunehmen wäre, als eine Folge der Simulation dar, als eine Unbestimmbarkeit des Verhältnisses zwischen Allgemeinem und Besonderem oder zwischen Idee und Realität, sondern ist in Wirk­ lichkeit viel eher von einem unbestimmbaren Vitalismus orientalischer Provenienz getragen, der in manchen Zügen durchaus schopenhauerische Züge des Willens auf­ weist, dem man nicht entrinnen kann oder soll. Die Frage nach dem Ursprung oder nach Original und Kopie stellt sich nicht mehr, das Generische spiegelt vielmehr die unendliche Fruchtbarkeit einer Schöpferkraft wider, die Kritik westlicher Philosophie geht hier fehl. Architektur und Panik. Das Erhabene oder alchemistische Architektur „Die Architektur der Generic City ist per Definition schön.“ 29 Der Maßstab ist Kurt Schwitters’ Merzbau, „die Generic City ist eine Merzcity. Der Winkel ist der einzige Maßstab des architektonischen Genius: 3 Punkte für eine Schräge nach rückwärts, 12 Punkte für eine Schräge nach vorne, 2 Punkte für Rücksprünge (zu nostalgisch)“.30 Auch die Architektur beruht auf keiner schöpferischen Individualität, wie dies dem illusionären westlichen Denken entspricht, sondern gleicht einer konzentrierten Energiewelle. „Die Architektur wird von 100.000 Architekturbüros, von denen noch keiner gehört hat, die alle vor Inspiration vibrieren, vorbereitet. […] Sie alle sind vom Gedanken erfüllt, dass etwas mit der Architektur falsch läuft und das nur durch ihre Anstrengungen wieder gerichtet werden kann. Die pure Macht ihrer Zahl verleiht ih­ nen eine großartige, leuchtende Arroganz. Sie sind diejenigen, die ohne jedes Zögern 384

an, wonach durch ein Investment von 300 Milliarden US ­Dollar für Architeken, die sich aus der Anzahl der Architekten (100) pro Büro × 30.000 US ­Dollar Kosten für Stu­ dium × 100.000 Büros weltweit ergibt, die Generic City erbaut wird. 51 Prozent der Ge­ neric City besteht übrigens aus Atrien.32 In diesem Zusammenhang ist auf den weni­ ger bekannten Umstand zu verweisen, dass die Ursprünge des Atriums nicht nur im römischen Haus liegen, sondern auch in der Tradition des chinesischen Hauses, das um einen Innenhof herum erbaut ist und auch als Gerät eines Tiegels verstanden wur­ de, das den Segen des Himmels empfängt, ein Himmelsbrunnen.33 „Die Postmoderne ist die einzige Bewegung, die die Praktik der Architektur erfolg­ reich mit der der Panik verbunden hat“34, meint Koolhaas und spricht die berühmte Theorie des Erhabenen von Edmund Burke an, wonach deren ästhetische Perzeption auf der damit verbundenen Angst basiert. Das Kunsterlebnis des Erhabenen kann nicht ohne diesen Affekt des Schreckens gedacht werden, es ist gewissermaßen immer die Phantasie des eigenen Untergangs mit im Spiel. Diese Doktrin basiert nicht mehr auf der Lektüre von Burkes Schriften, sondern auf der Beobachtung der augenblicklichen Entwicklung der Bigness, jenes zentralen Merkmals des Erhabenen, der Größe, die alles überwältigt. Wir haben es nicht mehr mit einer Architektur des Rationalismus zu tun. Anstelle von Bewusstsein wird Unterbewusstsein produziert. Ein Wolkenkratzer ba­ siert auf einer Pagode oder einer toskanischen Säule oder umgekehrt. Das kann jeder machen. Daher gilt jede Form des Widerstandes gegen die Postmoderne als undemo­ kratisch. „Es ist das Einpacken mittels Architektur, das die Postmoderne so unwider­ stehlich macht wie das Weihnachtsgeschenk einer Charity­Veranstaltung.“35 Ab einem gewissen Ausmaß nimmt die Architektur die Eigenschaften der Bigness an.36 Bigness ist ein ideologisches Programm aus eigener Kraft, das völlig unabhängig von den Intentionen der Architekten ist. Eigenschaften sind: große Gebäude sind durch eine Autonomie ihrer Teile, ohne aber fragmentiert zu sein, charakterisiert. Erfindun­ gen wie der Lift ordnen die architektonische Komposition den mechanischen Möglich­ keiten unter, durch den Bruch von Form und Funktion, Programm und Manifestation, Herz und Hülle, verlieren die Gebäude ihre Logik und ihr modernistisches Ethos. Die Vergrößerung des Maßstabes durchdringt sie mit einer unmoralischen Qualität, mit Impact. Die Konsequenz daraus lautet, dass große Gebäude vom Maßstab, von der ar­ chitektonischen Komposition, von der Tradition und von der Transparenz und von der Ethik überhaupt befreit sind. Das Endergebnis ist der denkbar radikalste Bruch: Bigness ist nicht länger Teil des urbanen Gewebes. Darin sieht Koolhaas aber eher eine Chance:„Denn trotz des dumpfen Namens ist Bigness eine Domäne dieses fin de siècle. In einer Landschaft von Verwirrung, Ver­ störung, Entfremdung liegt die Attraktiviät der Bigness darin, das Ganze wieder zu­ sammenzusetzen, die Wirklichkeit wieder einzusetzen, die Gemeinschaft wieder zu erfinden und die maximalen Möglichkeiten zu fordern.“ 37 Dahinter steht eine diffuse Vorstellung von Urbanität: Koolhaas sieht Bigness als „ein Modell einer programmatischen Alchemie“.38 Bigness garantiert permanente Intensitä­ ten, aber auch Ernsthaftigkeit und Fadesse. Durch die promiskuitive Vermehrung von Ereignissen in einem einzelnen Behälter können völlig neue Strategien entwickelt wer­ den. Durch Kontaminierung und Quantitäten, keinesfalls aber durch Qualitäten kann

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designen. Sie setzen mit einer wilden Präzision aus 1001 Quellen mehr Reichtümer zu­ sammen, als irgendein Genius es je gekonnt hätte.“ 31 Koolhaas stellt eine Rechnung

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Bigness neue Verbindungen zwischen funktionalen Einheiten unterstützen, die eher auf Expansion als auf Schutz ihrer Identität ausgerichtet sind. Koolhaas rückt die Ar­ chitekten hier in die Position der Alchemisten, die als Nachfolger des Schmiedeberufes die Metallurgie beherrschen und durch magische Praktiken eine enorme Beschleuni­ gung des Wachstums der Architektur bewirken sollen. Nur durch die Intensivierung von Naturkräften, die durch Zusammenstoß frei werden, kann die Architektur der Stadt auf ein höheres, evolutionäres Niveau gehoben werden, weil nur auf diese Weise eine höhere Form der Organisation geschaffen werden kann.

1 Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, misch-Imperiale Therapie“, in: Marc Jongen, Marc/Sjoerd Mathes und Seitz, München 1991, S. 122 . 2 Falko Blask, van Tuinen/Koenraad Hemelsoet (Hgg.), Die Vermessung Baudrillard zur Einführung, Kap. 3, Junius, Hamburg 1995. des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, Fink, 3 Baudrillard (wie Anm. 1), S. 122 . 4 Baudrillard (wie München 2009, S. 180. 27 Mircea Eliade, Geschichte der Anm. 1). 5 Michael Sorkin (Hrsg.), Variations on a Theme religiösen Ideen, Bd. 3 /2 , Kap. 41, Herder, Freiburg/BaPark. The New American City and the End of Public Space, sel/Wien 1991. 28 Marie-José Mondzain, Transparen­ Noonday-Hill and Wang, New York 1992, S. XIV . 6 Ebd., ce, opacité? 14 artistes contemporains chinois, EdiS. XV . 7 Ebd., S. XV . 8 Rem Koolhaas/Bruce Mau, S, tions Cercle d’Art, Paris 1999; zit. nach Bordeleau, 2009, M, L, XL , Taschen Verlag, Berlin 1995 , S. 1035 . 9 Ebd., S. 21. 29 Koolhaas (wie Anm. 8), S. 1260. 30 Koolhaas S. 1039. 10 Otto Franke, Aus Kultur und Geschich­ (wie Anm. 8), S. 1262. 31 Koolhaas (wie Anm. 8), S. 1261. te Chinas, Peking 1945; zit. nach Roman Malek, 2003 , 32 Koolhaas (wie Anm. 8), S. 1262. 33 Roman Malek, Das S. 47. 11 Koolhaas (wie Anm. 8), S. 1251. 12 Koolhaas Tao des Himmels. Die religiöse Tradition Chinas, Herder, (wie Anm. 8), S. 1252. 13 Koolhaas (wie Anm. 8), S. 1250. Freiburg/Basel/Wien 2003 , S. 44 . 34 Koolhaas (wie 14 Roland Barthes, Das Reich der Zeichen, Suhr- Anm. 8), S. 1262. 35 Vgl. Arthur C. Danto, Die Verklärung kamp, Frankfurt/Main 1981, S. 47. 15 Koolhaas (wie des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Suhrkamp, Anm. 8), S. 1248 . 16 Koolhaas (wie Anm. 8), S. 1257. Frankfurt/Main 1991; Lieven De Cauter, „The Rise of the 17 Koolhaas (wie Anm. 8) S. 1260. 18 Koolhaas (wie Generic City or Rem Koolhaas’s Flight Forward“, in: GUST Anm. 8). 19 Koolhaas (wie Anm. 8) S. 1252. 20 Koolhaas (Ghent Urban Studies Team) (Hrsg.), The Urban Condition: (wie Anm. 8). 21 Koolhaas (wie Anm. 8), S. 1251. 22 Kool- Space, Community, and the Self in the Contemporary Me­ haas (wie Anm. 8). 23 Koolhaas (wie Anm. 8), S. 1252 . tropolis, nai010 Publishers, Rotterdam 1999 36 Koolhaas 24 Koolhaas (wie Anm. 8), S. 1253 . 25 Koolhaas (wie (wie Anm. 8), S. 495 – 516 . 37 Koolhaas (wie Anm. 8), Anm. 8) S. 1255. 26 Erik Bordeleau, „Peter Sloterdijks Kos- S. 510. 38 Koolhaas (wie Anm. 8), S. 512.

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Vorboten der Postmoderne Die Efferveszenz des öffentlichen Raumes durch Surrealisten und Situationisten Der Urbanismusdiskurs der vergangenen Jahre, dessen Ursprung in den USA liegt, setzt sich mit der zunehmenden Unplanbarkeit der Stadt auseinander. In abgeschwächter Form wird er auch in Europa aufgegriffen und umgesetzt; aus diesem Kontext her­ aus wird auch dauernd vor der Privatisierung des öffentlichen Raumes gewarnt. Diese vollzieht sich einerseits durch die postmoderne Architektur, die nach Frederic Jame­ son den Raum zu privaten Zwecken einwickelt und verpackt, und andrerseits durch eine Form von Militarisierung, die mit ständiger Kontrolle und damit verbundener Beobachtung einhergeht und die in Mike Davis ihren bekanntesten Kritiker findet. Die Shopping Mall steht für die Kommodifizierung des öffentlichen Raumes, sie gilt als eine Fortentwicklung des Atriums als dem Paradigma des postmodernen Raumes schlechthin und sie steht für die kontinuierliche Abschottung von der Außenwelt: da­ mit die Erlebnisgesellschaft ungestört den Konsum als Medium ihres Lebensstils prak­ tizieren kann. Diese Entwicklung hat in ökonomischer und raumpolitischer Hinsicht nach Ansicht vieler Kritiker die Gentrifizierung und in kulturpraktischer Hinsicht die Disneyfizierung der Stadt zur Folge. Ergänzt wird sie durch eine Diskussion über Ga­ ted Communities oder die Verwandlung ganzer Stadtteile zu militärischen Komplexen. Die Tendenz dieser Entwicklung läuft auf eine völlige Vereinnahmung des öffentlichen Raumes für private Zwecke hinaus, verbunden mit schwerwiegenden Konsequenzen für den öffentlichen Raum und die architektonische und urbanistische Morphologie insgesamt. Ihr Ergebnis ist der Zerfall in zahlreiche Raumvielheiten, deren Gestalt durch Verinselung und Verkapselung geprägt ist. Eigentlich müsste man fragen, ob der politische Stellenwert des öffentlichen urbanen Raumes abseits bestimmter ur­ banistischer und architektonischer Diskurse überhaupt noch existiert und noch eine Motivation bei der Masse der Bevölkerung besteht, diesen über das oben beschriebene Ausmaß hinaus zu privaten Vergnügungen zu nutzen. Wie konnte es zu dieser Kommo­ difizierung und Disneyfizierung des öffentlichen Raumes kommen? Jürgen Habermas’ einleuchtenden Thesen folgend können wir davon ausgehen, dass in Massengesellschaften politisches Handeln nur noch in seltenen Fällen im Kon­ text des öffentlichen urbanen Raumes zu beobachten ist, weil es sich in den öffent­ lichen Raum der Medien verlagert hat. Auch wenn politische Ereignisse der jüngeren Zeit (arabischer Raum, Occupy, Finanzkrise) eine kleine Renaissance des öffentlichen urbanen Raumes erkennen lassen. (Man kann in diesen Fällen zumindest von ei­ nem politischen Input sprechen, der weitere Verlauf der politischen Entscheidungs­ findung ist eher diffus.) Generell ist festzuhalten, dass die Prozesse der politischen Entscheidungsfindung eher in geheimen Räumen verlaufen und höchstens medial im Sinne politischer Propaganda verbreitet werden, daran können auch die gelegent­ lichen Anläufe einer Zivilgesellschaft nichts ändern. Ist das Interesse am öffentlichen politischen Handeln im urbanen Raum erloschen, so bleibt allenfalls ein Interesse am Erlebnischarakter der Stadt, am Flanieren, am Konsumieren. Gleichermaßen ist jedoch zu beobachten, dass, vor allem im Urbanismusdiskurs, der öffentliche Raum mit Erwartungen überfrachtet wird, die selbst jene an die grie­ 387

chische Polis übertreffen, wo der Mensch erst durch seine Sichtbarkeit und sein ex­ pressives Handeln für die anderen wahrnehmbar wurde und Öffentlichkeit erstmals hergestellt wurde. So ist eine doppelte Frage zu stellen: Wie kommt es zu diesen Erwar­ tungen? Und auf welchen Diskurslinien, Interpretationen und entsprechenden Miss­ verständnissen beruhen sie? Dem vorangestellt sei, dass sich erst in der Postmoderne jene urbane Entwicklung in ihrer gesamten Gestalt enthüllte, die motivational in zahlreichen Konzepten und Utopien im Verlauf des letzten Jahrhunderts vorgedacht und vorgeträumt wurde. Da erst zeigte sich das Bild einer modernen Gesellschaft, wie sie sich in den vergangenen Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg durch eine Abnahme der Arbeitszeit, entspre­ chender Zunahme der Freizeit, des Konsums und einer enormen Steigerung der alle Bereiche betreffenden Mobilität herausgebildet hatte. Ging es in der Phase des Fordismus zunächst um die Abschaffung einer Mangel­ gesellschaft, deren Mitglieder sich nun erstmals massenhaft Vergnügungen und dem Konsum hingeben konnten, so lautete die weitere Empfehlung der linken Emanzipa­ tion, dass man sich von den geordneten, aber einschränkenden Verhältnissen der al­ ten bürgerlichen Gesellschaft ablösen müsste, um sich von der vermeintlichen Unter­ drückung sämtlicher erotischer Impulse zu befreien. Durch eine solcherart gewonnene Emanzipation müsste man die Fülle des Lebens genießen können, um damit das Telos des modernen Menschen zu vollziehen. Ein geeigneter Ort für den Vollzug jener neu­ en Form des erfüllenden Alltagslebens (Lefebvre) schien die Stadt und der öffentliche urbane Raum zu sein. Aufgrund der durch den Surrealismus inspirierten Theorie einer Fülle, die sich ins Alltagsleben ergießen sollte, suchte man nach Bildern und Meta­ phern, die diese Vorstellung verständlich machen könnten. Eine zentrale Metapher dabei war das öffentliche Fest, ein alter französischer Topos, der seit Rousseau einen festen Platz in der politischen Geschichte eingenommen hatte. Das Leben sollte den Charakter eines öffentlichen Festes annehmen, weil hier privates Vergnügen und all­ gemeine Verbundenheit in der Form des Öffentlichen eine Verbindung eingehen kön­ nen, die im Endeffekt den neuen Menschen hervorbringen sollte. In der Praxis jedoch setzte die alte Linke auf die Rationalität des Neuen Bauens, die für den öffentlichen Raum nur geringes Verständnis aufwies; Le Corbusiers Statement „Il faut tuer la ,rue­corridor“ („Wir müssen die Straße töten“) 1 steht hier paradigmatisch für den Funktionalismus und die Zonierung der Stadt. Damit wurde aber der Anspruch der sich neu entwickelnden Theorien des Alltagslebens auf einen besonderen Erleb­ nisreichtum der Stadt konterkariert. Denn gerade von der Stadt versprach man sich in dieser Hinsicht sehr viel, in der Annahme, dass sie ein besonderes Medium darstellte, um den Menschen der Zukunft jenen Erlebnisreichtum zu bescheren, der ihnen in Hin­ blick auf Glücksmöglichkeiten eine Fortentwicklung gewährleistet. Daraus entspann sich ein Konflikt zwischen den Surrealisten und den Rationalisten des Neuen Bauens, wobei der Surrealismus in Gestalt der situationistischen Internationalen eine funda­ mentale Urbanismuskritik betrieb und den modernen Urbanismus als Ganzes in Frage stellte. Freilich war auch deren Konzept primär künstlerisch inspiriert trotz Verwen­ dung zahlreicher abgewandelter Versatzstücke des damaligen Marxismusdiskurses. Das allgemeine Ziel bestand darin – soweit man überhaupt ein klares Ziel ausmachen konnte – den Reichtum des menschlichen Erlebens zu fördern, was indirekt auch eine Intensivierung des öffentlichen Raumes in Hinblick auf Wahrnehmung und Gestal­ 388

tung betraf. Die Architektur sollte zu einem Medium der Intensivierung und Modifi­ zierung des Lebens werden. Dazu bedurfte es jedoch einer Befreiung der Architektur. Im Elementarprogramm des Büros für einen Unitären Urbanismus von Attila Kotanyi und Raoul Vaneigem heißt es

Surrealismus versus Neues Bauen Der Bezug der Situationisten zum Surrealismus ist evident und wird auch vielfach be­ tont, wenngleich er auch gerne heruntergespielt wurde, um die eigene Originalität her­ vorzuheben. Die künstlerische Intention überwog auch immer die politische, obwohl der politische Zusammenhang zwischen Surrealismus und Kommunismus seit den 1920er Jahren offenkundig ist und aus der Sicht der kritischen Linken die surrealisti­ sche Position als Kampf gegen den Stalinismus aufgefasst wurde.4 Mit dieser surrea­ listischen Positionierung, als deren Hauptquelle zunächst das surrealistische Mani­ fest von André Breton gilt, ergab sich auch sofort eine Gegnerschaft, die sich gegen die Zweckmäßigkeit, gegen die Unterwerfung unter die Notwendigkeit des modernen, sozialistisch inspirierten Urbanismus richtete, weil auf diese Weise die Phantasie als eine zentralen Produktivkraft vernachlässigt würde. Im Neuen Bauen wurde der Geist der Moderne durch die klare Geometrie und die Orientierung am platonischen Körper, der noch eine kosmologische Verankerung andeutet, die zum Schönen hinweist, zum Ausdruck gebracht. Gleichermaßen bedeutet dies für den Einzelnen in der Moderne auch eine Unterordnung in eine gigantische Maschine der Produktion, in der er nur ein winziges Teilchen eines Räderwerks ist; der platonische Mythos der kosmologischen Einbettung vermag im Zeitalter der Industrialisierung nicht mehr viele zu überzeugen. Ivan Chtcheglov setzte unter dem Pseudonym Gilles Ivain zunächst mit einer Kri­ tik am modernen Urbanismus an. „Das rein Plastische, ohne Anekdote, aber auch ohne Leben, beruhigt das Auge und kühlt es ab […] Wir werden die mechanischen Zivilisa­ tionen und die kalte Architektur, die am Ende ihres Wettrennens zur gelangweilten Freizeit führen, nicht verlängern. Wir haben vor, neue bewegliche Ausstattungen zu erfinden.“5 Hier gibt er bereits einen Ausblick auf das, was 50 Jahre später den post­ modernen Raum ausmachen wird. Weil die Dunkelheit der Stadt durch die elektrische Beleuchtung, die Jahreszeiten durch die Klimaanlagen neutralisiert werden, büßen Nacht und Sommer ihre Reize ein, das Morgengrauen verschwindet. Nun gibt es aber Hoffnung: „Der letzte Stand der Technik ermöglicht einen ständigen Kontakt zwischen dem Individuum und der kosmischen Wirklichkeit […] durch Glaswände kann man die Sterne und den Regen sehen. Das bewegliche Wohnhaus dreht sich zusammen mit der Sonne. Seine Schiebewände machen es möglich, dass die Pflanzenwelt in das Leben eindringt. Auf Schienen gestellt kann das Haus morgens der See näher kommen und am Abend in den Wald zurückgleiten […] Die Architektur ist das einfachste Mittel um Zeit und Raum ineinanderzufügen […] Der architektonische Komplex wird veränderbar sein. Es wird sich je nach dem Willen seiner Bewohner teilweise oder ganz wandeln.“ 6 Das ästhetische Programm des Surrealismus setzte auf Werke, die auf Unerwar­ tetes und Unableitbares hinweisen und das Regelwerk des modernen Rationalismus

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dazu: „Der Urbanismus existiert nicht. Er ist nur eine ,Ideologie‘ im Sinne von Marx.“ 2 „Die gegenwärtige Stadtplanung, die als eine Geologie der Lüge auftritt, wird dem uni­ tären Urbanismus, einer Verteidigungstechnik für die ständig bedrohten Bedingungen der Freiheit, den Platz überlassen […].“ 3

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durchschlagen und überschreiten. Grundprinzip ist die zufällige Begegnung völlig heterogener Elemente, deren Zusammenstoß zu einer Zündung führt. Der Konstruk­ tivismus des Neuen Bauens wurde mit einer Strategie der Efferveszenz kontrastiert. Der Surrealismus bezog sich auf Prozesse jenseits bewusster Kontrolle, die sich der Vernunft entziehen, weil man glaubte, die entscheidenden Ziele auf einem anderen Weg als dem der Vernunft erreichen zu können. „Die Haltung des Surrealismus wird vor allem durch die Ausgangskonzeption bestimmt, die er sich vom poetischen ‚Bild‘ gemacht hat. Es ist bekannt, dass er darin das Mittel sah, unter Bedingungen äußers­ ter Entspannung weit eher als äußerster Konzentration des Geistes gewissermaßen Lichtbogen herzustellen, erhellende Verbindungen, welche fähig sind, zwei Elemente zu vereinigen, die so verschiedener Kategorien der Wirklichkeit entstammten, dass die Vernunft sich weigern würde, sie zueinander in Beziehung zu setzen, und dass man für einen Augenblick das kritische Denken ausschalten muss, um eine solche Gegenüber­ stellung anzunehmen. Dieses außergewöhnliche, ständige Überspringen von Funken […] befähigt den Geist, sich von der Welt und von sich selbst eine weniger undurchsich­ tige Vorstellung zu machen.“ 7 Der Surrealismus war sehr stark energetisch ausgerich­ tet, man erwartete eine leitende Kraft, die aus der zündenden Begegnung von Hetero­ genem wie bei einem Kurzschluss in der Physik dann entsteht, wenn die beiden Pole der Maschine durch einen Leiter mit zu schwachem Widerstand vereinigt werden.8 Der Surrealismus plädierte nicht für Verbesserung, sondern für Revolution, für Sprengung und Dreinschlag, es ist zu begreifen, dass „der Surrealismus vor einem Dogma der absoluten Revolte, der totalen Unbotmäßigkeit, der obligatorischen Sabo­ tage nicht zurückgeschreckt ist und dass er sich einzig von der Gewalt etwas“ 9 ver­ sprach und auch Vernichtung ins Kalkülzog.10 Klassisch geworden ist das Zitat Bre­ tons: „Die einfachste surrealistische Handlung besteht darin, mit Revolvern in den Fäusten auf die Straße zu gehen und blindlings so viel wie möglich in die Menge zu schießen.“11 Efferveszenz durch Opfer und Selbstverausgabung Diese Passage weist auf eine weitere, weniger bekannte, eher diffuse Quelle des Surre­ alismus hin, nämlich die Schlüsselstellung des Opfers in seiner gesamten Absurdität, die sich innerhalb der Bandbreite der Gabe vom Potlatch bis hin zur Opfergewalt und der exzessiven Verausgabung bewegt. Es waren die Mitglieder des Collège de Sociologie, allen voran Georges Bataille und Roger Caillois, die sich dieses Themas annahmen und aktuelle soziologische Bedeutung des Opfers in besonderer Interpretation der Durk­ heim’schen Soziologie herauszuarbeiten suchten.12 In der brutalen Form des blutigen Opfers wurde es historisch als die Quelle des Sakralen angesehen und zugleich auch als die Ursituation einer besonderen Gefühlslage, die Individuum und Kollektiv ver­ bindet. Die Opferung erzeugt jene Situation, die extrem ambivalente Gefühle hervor­ ruft und aufgrund dieser Spannung die berühmte Efferveszenz auslöst, die Durkheim beschrieben hat.13 Das Ritual des Opfers ist in zahllosen ethnologischen und religiö­ sen Befunden belegt und zeigt immer, dass es den Zusammenhalt einer Gesellschaft begründet und erneuert, weil offensichtlich die Demonstration eigener Kraft letztlich nur durch eine Verfügungsgewalt über fremdes Leben gelingen kann. Zugleich bün­ deln sich die destruktiven Kräfte und richten sich auf das Opfer, was eine kathartische Wirkung und daher Vermeidung von internen Gewaltkonflikten ermöglicht. 390

Dieses Thema des Sakralen beruht im Sinne der Durkheim­Schule als eine „vom Profanen abgegrenzte, sowohl anziehende, als auch abstoßende Sphäre von Gegen­

tuieren“.14 Dabei handelt es sich um Erfahrungen und Emotionsdynamiken, „die not­ wendig für den Zusammenhalt von Gesellschaften sind, aber in der Soziologie meist als irrational marginalisiert oder nichtwestlichen Kulturen zugeschrieben werden. Das Opfern ist eine zentrale Handlung, die sich gegen jegliche Instrumentalität und jeglichen Utilitarismus richtet. Das interesselose Selbstopfer und die Vernichtung der Objekte zeugen ebenso davon wie die mimetische Darstellung der Opfergewalt. Batail­ le geht es um die Kontinuität zwischen den alten, gewalttätigen Opfern und den unpro­ duktiven Verausgabungen der Gegenwart – Potlatch, Luxus, Erotik, Künste, Rausch“,15 um die verblichenen, verwüsteten Zeichen einer religiösen Erfahrung ohne Religion erneut zum Strahlen zu bringen. „Das Opfer ist die religiöse Erfahrung par excel­ lence.“16 Das Opfer ist aber nicht nur das Medium für den tiefen sozialen Zusammen­ halt der Gesellschaft in der Religion, sondern hat auch eine räumliche Dimension. Die topographische Auswirkung des Urbanen ist folgende: Der Ort des Opfers bzw. der Opferung ist sakral und hat damit eine doppelte Be­ deutung, denn einerseits ist er privat im Sinne des Geheimnisses und der limitierten Anzahl der Eingeweihten und Priester, andrerseits ist er öffentlich, weil er eine media­ le Ausstrahlung ermöglicht, die eine energetische Wirkung auf den öffentlichen Raum ausübt. Denn die historische Macht des Königs ist durch das Recht auf Opferung und die daraus abgeleitete Rechtsprechung, die grundsätzlich auch Todesurteile einschlie­ ßen kann, bestimmt. Dieses energetische Zentrum der Efferveszenz emaniert in den öffentlichen Raum und stellt die Beziehung zwischen König und Volk und den Mit­ gliedern untereinander her. In anderen Worten, das Charisma des Königs beruht auf seiner Macht über Tod oder Leben zu entscheiden, die ihn Kraft der Magie des Opfers durchströmt. Der öffentliche Raum wird von diesem Charisma durchflutet und wirkt auf die Bürger ein, die ihren König als Führer lieben und verehren.17 Diese Ausstrah­ lung kann aber auch gefährlich und missbraucht werden, wie der Aufstieg des Dritten Reiches zeigte, der aber in den Vorkriegsjahren von Frankreich aus, in Unkenntnis der folgenden Ereignisse noch tendenziell positiv betrachtet wurde, weil hier eine große Kraft des Volkes zur Erscheinung kam. Es gab auch Gegenwarnungen, etwa von Wal­ ter Benjamin,18 der häufig bei den Sitzungen des Collège zu Gast war. Daher pendelten die Mitglieder des Collège de Sociologie in Einschätzung der richtigen politischen Stra­ tegie in ihrer Wahl auch zwischen dem Modell der Geheimgesellschaft und dem eines von Efferveszenz durchfluteten öffentlichen urbanen Raumes hin und her, also einem eher privaten Raum, der nur den Eingeweihten zugänglich ist und einem öffentlichen Raum, dessen sakrale Strahlung alle erfasst. Auch die Strategie der Surrealisten beruht auf dem Phänomen der Efferveszenz, weil sie die „Teilnehmenden dazu bewegt, zwischen den alltäglichen, profanen Le­ bensweisen und diesen außeralltäglichen, spezifisch sakralen Situationen zu diffe­ renzieren, und die es vermögen, neue Deutungsmuster, Ideale und Kategorien zu ge­ winnen“.19 Gleichermaßen wird die energetische Quelle der Hervorbringung dieses zündenden Funkens nicht mehr thematisiert, nicht einmal bei Breton, obwohl sich seine Manifeste darauf beziehen. Es mag sein, dass man den dunklen Ursprung dieser

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ständen, Orten und sozialen Praktiken, über die sich auch unabhängig von religiösen Institutionen Gemeinschaften in kollektiven Erfahrungen von ‚Efferveszenz‘ konsti­

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Efferveszenz verdrängen wollte, dass man ihn nicht genau kannte, oder das Phänomen durch Verschweigen einfach verharmlosen wollte und daraus eine spielerische Form machte, die beim Studium elektrischer Phänomene beobachtbar ist. Die Situationisten und auch Surrealisten stellen lieber einen Bezug zur spieleri­ schen Variante, einer Form der Efferveszenz Light über das klassische Werk von Johan Huizinga Homo Ludens (1956) her. Huizinga hatte in deskriptiver Form den Ursprung der Kultur im Spiel beschrieben, wo er alle spielerischen Elemente und Phänomene sammelte, ohne eine Wertung in Hinblick auf Ursprung oder Herkunft und daraus folgende Ableitungen auf die Wirkung vorzunehmen. Für Huizinga weist das Spiel folgende Merkmale auf: „Der Form nach betrachtet, kann man das Spiel also zusam­ menfassend eine freie Handlung nennen, die als ‚nicht so gemeint‘ und außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird und trotzdem den Spieler völlig in Be­ schlag nehmen kann, an die kein materielles Interesse geknüpft ist und mit der kein Nutzen erworben wird, die sich innerhalb einer eigens bestimmten Zeit und eines ei­ gens bestimmten Raums vollzieht, die nach bestimmten Regeln ordnungsgemäß ver­ läuft und Gemeinschaftsverbände ins Leben ruft, die ihrerseits sich gern mit einem Geheimnis umgeben oder durch Verkleidung als anders von der gewöhnlichen Welt abheben.“20 Allerdings kommt Huizinga bei genauerer Analyse ebenfalls zum Schluss, dass das Wesen des öffentlichen Festes durch Opferhandlungen begründet wird.21 Denn der enge Zusammenhang zwischen Spiel und Fest ermöglicht die Ausschaltung des gewöhnlichen Lebens. Es besteht aber ein Unterschied zwischen dem echten Fest mit Opferhandlung und dem reinen Spiel, wenngleich er sehr in den Hintergrund ge­ drängt wird, indem man nämlich, „bloß so tut“.22 Das Spiel ist also ein als ob und Hui­ zinga stellt die naheliegende Frage: „Inwieweit ein derartiges Bewusstsein auch mit der mit Hingabe verrichteten heiligen Handlung verbunden sein kann.“ Kann das Spiel denselben Ernst erzeugen wie das wirkliche Opferfest? Der Mangel an Efferveszenz im öffentlichen Raum Diese Frage hat die Situationisten nicht unmittelbar beschäftigt, wenngleich der Aus­ gangspunkt ebenfalls die Frage des öffentlichen Raumes in der Demokratie und dessen Mangel an Efferveszenz, an energetischer Ladung gewesen ist. Sie sahen die Ursache dafür nicht in einer „entsakralisierten, administrativen Verwaltung des öffentlichen Raumes“ wie Caillois oder Bataille.23 Dennoch glich die Einschätzung der Situatio­ nisten der des Collège de Sociologie, die ebenfalls Kritik am öffentlichen Raum üb­ ten: Dieser öffentliche Raum kann keine Motivation außer einer formalen mehr her­ stellen, die Beziehungen zwischen der Macht und der Bevölkerung sind ausgekühlt und man kann sich mit der politischen Repräsentation nicht mehr identifizieren. Nur die Gründe waren unterschiedlich. Einige Sakralsoziologen misstrauten dem öffent­ lichen Raum wegen seiner entropischen Entwicklung und der Ermöglichung des Fa­ schismus, die Situationisten hingegen wegen der Instrumentalität des modernen Ur­ banismus und des Neuen Bauens. Die Situationisten vermeiden zwar Begriffe wie den der Entsakralisierung der öffentlichen Sphäre und sie sprechen lieber von Banalisie­ rung, vom Absterben der Phantasie und der Begierden, weil sie ein Kunstkonzept ver­ treten, das die eigenen surrealistischen Quellen im Sinne einer Selbstverausgabung durch Kunst und Rausch wieder aufsuchen möchte. Der hohe Anspruch, den sie an den öffentlichen Raum stellen, beruht zwar auf einem psychodynamischen Konzept 392

der Selbstverschenkung, das von Bataille und Caillois in der Tradition Nietzsches be­ schrieben wurde und worin die stärksten dionysischen Quellen des Surrealismus trotz ihrer Dunkelheit Aufnahme fanden, es wurde aber zugleich durch die spielerische Pra­ xis der Situationisten in ihrer Radikalität abgeschwächt. „In der Stadt langweilen wir uns, einen Sonnentempel gibt es nicht mehr. Zwi­ schen den Beinen der Passantinnen hätten die Dadaisten gerne einen Schrauben­ schlüssel gefunden und die Surrealisten einen Kristallpokal – eine verlorene Wette.“24 Ivain bezieht sich hier explizit auf die Vorgänger des Situationismus, den Surrealis­ mus und den Dadaismus, und unterstreicht mit diesem Zitat die Erotik dieser Bewe­ gungen, die mit einer deutlichen Polemik an der Moderne einhergeht. Der Letzteren spricht er diese Qualität ab, weil sie dem modernen Rationalismus unterliegt, in­ dem „die Abstraktion in alle Künste und insbesondere in die Architektur eingedrun­

Unproduktive Verausgabung. Potlatch Eine weitere zentrale Rolle in der künstlerischen Strategie der Situationisten spielte das Prinzip der Bekämpfung jeglicher utilitaristischer und instrumenteller Elemen­ te. Nachdem man eingesehen hatte, dass der Kommunismus nur eine andere Spielart des Utilitarismus war und damit dem Kapitalismus ziemlich nahe verwandt, musste man sich auf die Suche nach weitreichenderen Mitteln und Vorgangsweisen, die eine überdeutliche Absichtslosigkeit demonstrieren, begeben und erfand auf diese Weise den dérive. Diese Technik des Umherschweifens, des unsystematischen Durchstrei­ fens urbaner Räume nach völlig unproduktiven Kriterien ist durch reine Nicht­Inten­ tion charakterisiert, wenn man von den erwarteten Momenten der höheren Einsicht durch Efferveszenz absieht. Anthropologisch und historisch ist dieses Prinzip der un­ produktiven Verausgabung im Potlatch verankert. Auch bei Huizinga spielt der Pot­ latch eine wichtige Rolle, wobei er die Betonung eher auf den Prestigegewinn legt, weil dieser das zentrale Prinzip der Übertrumpfung der anderen spielerisch einführt. Aber auch das agonale (kämpferische) Prinzip genießt höchste Bedeutung und steht in en­ gem Zusammenhang mit dem Potlatch. Der Agon (sportliche Wettkampf) wird von ihm als zentraler Kulturfaktor betrachtet,27 weil er ihm als wesentlicher Motivator des Spieles gilt. Er stellt den Übergang vom Kampf zum Spiel dar und damit den Zustand postheroischer Phasen. Als empirischen Beleg für die Existenz des Agons gilt Huizinga die griechische antike Praxis des Spiels, die es in anderen Kulturen nicht gegeben hat, etwa in den arabischen Ländern. Für Bataille ist Ökonomie nicht durch rationale Prinzipien der Nützlichkeit begrün­ det, sondern durch „unproduktive Verausgabung“.28 Bataille hält sich aufgrund des Studiums der politischen Anthropologie Georges Dumezils an die Interpretation Caillois’, an die frühere und düstere Bedeutung der Funktion eines souveränen Herrschers „als das düstere und gewaltsame Charisma des Herrn der Welt“.29 Aber auch, dass der öffentliche Raum gewissermaßen wieder in das

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gen“ist.25 Weiters schreibt er: „Eine Geisteskrankheit hat unsere Welt befallen: die Banalisierung. Jeder ist durch Produktion und den Komfort hypnotisiert – Kanalisa­ tion, Fahrstuhl, Badezimmer, Waschmaschine. Dieser aus einem Protest gegen die Ar­ mut entstandene Sachverhalt geht über sein fernes Ziel – die Befreiung des Menschen von seinen materiellen Sorgen – weit hinaus, um zu einem unmittelbar quälenden Bild zu werden.“26

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Charisma des Herrschers getaucht wird und von sakraler Energie erfüllt wird. Dieser Herrscher wird durch die Weihe, die mit einem Opfer verbunden ist, zur Macht ge­ bracht, deren Letztbestimmung darin liegt, dass sie auch töten kann.30 Zugleich ist die Souveränität des Herrschers jedoch als ein Sein­zum­Tode zu verstehen, weil sich erst im eigenen Tod „die Funktion der souveränen Herrschaft im Opfer“ vollendet. Da­ her folgert Bataille: „Souveränität existiert nur in der Verausgabung“, und daher rührt die exemplarische Bedeutung des Potlatch: „Das einzige, was eine Macht tun kann, ist, sich zu verlieren.“31 Caillois teilt diese Meinung ebenfalls, wie etwa in einer sei­ ner Rezensionen über James George Frazers Buch über den Sündenbock zu erkennen ist: „Für Jesus war das Kreuz der Preis seiner Göttlichkeit“.32 Von hier führt das Werk René Girards weiter. Bataille interessiert sich weniger für die exzessiven Gabe­Rituale, die mit Prestige­ gewinnen verbunden sind, sondern vor allem für die Rituale, in denen die dargebrach­ ten Güter zerstört oder weggeworfen werden. Ihn interessiert der Potlatch als ein Op­ fer. Für ihn zählen Kunst und Literatur zu den Phänomenen, die auch in der Moderne noch existieren, indem Gegenstände ihrem Gebrauch entzogen werden und der Welt der Arbeit und der Logik der Nützlichkeit entzogen sind. Das Opfer ist ein negativer Ritus, der elementare Verbote überschreitet. Durch die Konfrontation der Beteiligten mit der Möglichkeit des Todes werden emotionale Kräfte freigesetzt. In der Kunst geht es nicht um den realen Tod, sondern um symbolische Praxis. Vor allem die Tragödie, die durch Verletzung von Tabus bestimmt ist, kann eine „Transmutation von Depri­ mierendem in Erregendes“ 33 bewirken. Die deprimierenden Bilder von Grauen, Tod und Vernichtung in den Massenmedien ziehen die Leute an, weil sie eine erregende Wirkung erzeugen, die Repulsionsschranke zum Schutze des Tabus wurde verletzt. Die Ambivalenz der tragischen Erfahrung erregt und verwirrt. Aber auch in der Stadt zieht der Tod Schaulustige an, die Faszination des Opfers ist enorm. So führt auch Ivan Chtcheglov im Formular für einen neuen Urbanismus Beispiele einer erregenden Stadt an, wobei er in seiner Einschätzung zwischen Huizinga und Bataille liegt. Denn einerseits fasziniert ihn die Grausamkeit, andrerseits bleibt er Beobachter und sieht diese als künstlerische Inszenierung:„Vielleicht auch ein Todes­ viertel, nicht um dort zu sterben, sondern um in Frieden zu leben – hierbei denke ich an Mexico und an ein Prinzip der unschuldigen Grausamkeit, das mir jeden Tag teurer wird.“34 Wenn der Autor hier von „unschuldiger Grausamkeit“ spricht, so scheint es, dass auch er tiefere Einblicke in das Wesen des Potlatch und dessen Ursprung in der Opferhandlung gewonnen hat. „Das finstere Viertel würde z. B. vorteilhaft jene Löcher oder Mündungen zur Hölle ersetzen, die früher oder später in den Hauptstädten man­ cher Völker zu finden waren und die unheilbringenden Lebensmächte versinnbildlich­ ten. Dieses Viertel hätte es gar nicht nötig, wirkliche Gefahren – wie z. B. Fallen, Ver­ liese oder Minen – zu verbergen. Nur schwer zugänglich und häßlich dekoriert – mit schrillen Pfeifen, Alarmglocken, periodischem Sirenengeheul in unregelmäßigen Tempi, monströsen Skulpturen, mechanischen Mobiles mit Motoren (Auto­Mobile ge­ nannt) […].35 Die Hauszeitschrift der Lettristischen Internationale trug übrigens den Na­ men Potlatch und damit bereits die programmatische Linie in ihrem Titel. Die unproduktive Verausgabung ist auch das Prinzip der Situationisten, vor al­ lem bei ihrem Kernritual, dem dérive, der zur Erschließung der psychogeographi­ schen Eigenheiten der Stadt führen soll. Diese Tätigkeit soll aber nicht der Tätigkeit 394

eines Planers ähnlich sein, der systematisch die Stadt analysiert, denn sie darf nicht instrumentell sein. So beschreibt Guy Debord die vorausgesetzte nicht­instrumentel­ le Einstellung: „Eine oder mehrere Personen, die sich dem Umherschweifen widmen, verzichten für eine mehr oder weniger lange Zeit auf die ihnen im allgemeinen bekann­ ten Bewegungs­ bzw. Handlungsmotive, auf ihre Beziehungen, Arbeits­ und Freizeit­ beschäftigungen, um sich den Anregungen des Geländes und den ihm entsprechenden Begegnungen zu überlassen.“36 „Die etwas zusammenhanglose Lebensweise und sogar für fragwürdig gehaltene Scherze, die in unseren Kreisen immer sehr geschätzt wurden (wie z. B. sich nachts in die Stockwerke von Abbruchhäusern stehlen; während eines Verkehrsmittelstreiks ununterbrochen per Anhalter durch Paris fahren, unter dem Vorwand das Chaos noch schlimmer zu machen, indem man sich irgendwohin bringen lässt; in den für Be­

Vom Surrealismus als einer Strategie des Alltagslebens zur Selbstverausgabung in Las Vegas Die Situationisten glaubten, dem Menschen zur Befreiung aus der Arbeitsgesellschaft zu verhelfen, wenn sie ihn in der Freizeit mittels surrealistischer Methoden zu seiner eigentlichen Bestimmung bringen. Sie dachten an eine Befreiung vom Konsum durch eine Form der Selbstverschenkung im dérive, die zur Emanzipation führen sollte. Die­ se neue Verbringung der Freizeit sollte eine Form von Erlösung aus der bescheidenen Existenz bieten, insbesondere sollte die Passivität durch den unitären Urbanismus in eine kreative und revolutionäre Spontaneität verwandelt werden. Durch die Konstruk­ tion von Situationen und die Praxis des dérive sollte eine alternative Form der Utopie geschaffen werden. Der größte Entwerfer der Situationisten war Constant (Anton Niewenhuys), der in zahlreichen Planzeichnungen und Modellen die radikale Vision eines fiktiven New Babylons vorstellte, die durch absolute Mobilität der Räume, Atmosphären und Um­ welten geprägt war. Constant steigert die Intensität der Stadtbetrachtung nochmals, indem er die psychogeographischen Strategien seiner situationistischen Kollegen ver­ wirft und sie durch eine völlig irreale Gestaltung zu übertreffen sucht. Es gibt keine reale Stadt mehr, sondern ausschließlich phantastische Räume, die sich völlig von den existenten urbanen Oberflächen entfernt haben und mittels expressiver, durch agoni­ sche Spiele erzeugte Handlungen der Einwohner hervorgebracht werden. Constant ist Schöpfer der polyatmosphärischen Gesellschaft, die eine Stadt schafft, deren Einwoh­ ner durch eine „explizite aphropolitische Struktur“ 38 bestimmt sind, also durch eine Politik der Verschäumung zusammen gekommen sind. Diese Stadt breitet sich als wu­ chernde nomadische Künstlerkolonie auf Stelzen über die Erde aus und besteht aus Behältern aus Atmosphären und reversiblen, individuierten Environments. Im Grunde handelt es sich um den Traum einer Neuschaffung der Welt durch spontane Emanation von Ambiente unter völliger Negierung jeglichen Realitätsprinzips. Dieser radikalste Entwurf eines totalen Interieurs bedarf auch keiner Urbanität mehr, da durch die stän­ dige ungeplante und spontane Bewegung eine revolutionäre und dauerliquide Hyper­ stadt entsteht, die über keine Vorstellung einer Öffentlichkeit mehr verfügt, weil die

Vorboten der Postmoderne

sucher verbotenen Gängen der Pariser Katakomben umherirren), wären also einem allgemeineren Gefühl zuzuschreiben, das kein anderes als das Gefühl des Umher­ schweifens wäre.“ 37

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Räume auf jegliche herkömmliche Strukturen aus Gründen der Vermeidung von Hem­ mungen verzichten. Auch Chtcheglov konnte nicht ahnen, dass er mit den surrealistischen Vorschlä­ gen einer Belebung der Stadt spätere kommerzielle Strategien vorweggenommen hatte, zum Beispiel das Themenwohnen: „Die Viertel dieser Stadt könnten den verschiedens­ ten katalogisierten Gefühlen entsprechen, die man im gewöhnlichen Leben zufällig antrifft. Ein seltsames, ein glückliches – ganz besonders dem Wohnen zugedachtes –, ein edles und ein tragisches (für die braven Kinder), ein historisches (Museum, Schu­ len), ein nützliches (Krankenhaus, Lagerräume für Werkzeuge), ein finsteres Viertel usw. Dann ein Sternengarten, indem man die Gattungen der Pflanzenwelt nach den Beziehungen gruppieren könnte, die sie mit dem Rhythmus der Sterne eingehen, eine Art Planetengarten, dem vergleichbar, den der Astronom Thomas auf dem Laaer Berg in Wien errichten will. Unbedingt notwendig, damit sich die Bewohner des Kosmischen bewußt werden. Vielleicht auch ein Todesviertel […].39 Es mutet heute merkwürdig an, wenn Chtcheglov in unbewusster Antizipation an anderer Stelle schreibt, dass ein Ort „je mehr er für die Freiheit des Spiels reserviert ist, desto mehr das Verhalten beeinflusst und Anziehungskraft hat. Ein Beweis dafür ist der ungeheure Reiz von Monaco oder Las Vegas – sowie von Reno, dieser Karikatur der freien Liebe.“40 Die Rolle des Spiels als einer jener Bereiche, wo sich die Kreativität entfalten kann, weil es dort vermeintlich keine instrumentelle Ausrichtung gibt und daher eine Selbst­ verausgabung möglich wird, die vom Utilitarismus befreit ist, wird in gewisser Weise in Spielerstädten wie Las Vegas oder Monaco verwirklicht. In der Tat kann man eine totale Selbstverschenkung erleben, wenn man sein Vermögen verspielt und dabei auch die nötige Efferveszenz erlebt. Man könnte daher Orte wie Las Vegas als verwirklichte Utopie bezeichnen. Be­ reits 1963 haben Robert Venturi, Denise Scott Brown und Steven Izenour mit Learning from Las Vegas eine Hommage an die kommerzielle Architektur dieser Stadt unter­ nommen und hatten dabei wahrlich keine emanzipativen, sondern allenfalls ironi­ sche Absichten, wenn man die Künstlichkeit und urbanistische Problematik dieser amerikanischen Stadt ins Kalkül zieht. Chtcheglov träumt aber noch von einer ur­ banistischen Leistung und Vorbildwirkung in spielerischer und kultureller Hinsicht. Auch damit hat er Recht behalten, wenn man etwa 50 Jahre später die europäischen Kulturhauptstädte beobachtet und deren Beförderung des Kulturtourismus, der die Verwandlung der Stadt in einen historischen Themenpark zur Folge hat. „Diese erste Experimentalstadt würde problemlos von einem geduldeten und kon­ trollierten Tourismus leben können. Die nächsten Aktivitäten und Produktionen der Avantgarde würden sich spontan dort konzentrieren. Nach einigen Jahren wäre sie zur intellektuellen Hauptstadt der Welt geworden und überall als solche anerkannt.“ 41 Diese Passage über die Experimentalstadt als Utopie gewinnt in Venturis Äuße­ rung, dass Las Vegas vielleicht „nur eine Travestie von Broadacre City“ sei 42 und da­ mit eine Erfüllung der Voraussagen von Frank Lloyd Wright über die Entwicklung amerikanischer Stadtlandschaften, eine umgekehrte Bedeutung. Der Geschäftsstrip inmitten des städtischen Konglomerats ist nur eine modifizierte Form von Broadacre City, die utopische Form Wrights von Usonia 43 wird im kommerziellen Las Vegas um­ gesetzt. 396

Die eigentliche Botschaft ist aber der surrealistische Charakter der Stadt: Tom Wolfe schildert die Reaktionen eines Besuchers in Las Vegas, die durch die extreme Überreizung entstehen. „Raymond, ein 45jähriger Ingenieur, der die linke Tasche voll mit Aufputschmittel und die rechte voll mit Beruhigungstabletten hat, fragt am Sonntag um 3.45 nach Mitternacht nach der Bedeutung des Wortes HERNIA , das im stundenlangen Singsong des Croupiers am Würfeltisch endlos wiederholt wird. Die Bedeutung dieses unverständlichen Wortes kommt aus einer phonetischen Verball­ hornung eines Satzes, der etwa so viel bedeutet: „Wir sind die Ersten und wir reiten die Welle des Glücks.“ 44 Wolfe (1963) ist auch einer der frühen Beobachter des Zeichencharakters der Stadt: „Ach diese Zeichen […] sie schwelgen in Gestaltungen, für die die Kunstgeschichte kei­ ne Worte mehr findet. Boomerang Modern, Palette Curvlinear, Flash Gordon Ming­

Vorboten der Postmoderne

Alert Spiral, Mc Donalds Parabola, Mint Casino Elliptical, Miami Beach Kidney.“45 Und lassen wir noch Jean Baudrillard (1987) 20 Jahre später zu Wort kommen, wenn er in Amerika über den surrealen Zusammenhang zwischen Las Vegas und der die Stadt umgebenden Wüste schreibt. Interessanterweise assoziiert auch er die Wüs­ te Death Valley mit dem Opfer:„Es trägt alle Elemente des Opfers an sich: Feuer, Licht und Hitze. Man muss in die Wüste eine Opfergabe mitbringen, etwa eine Frau, und sie ihr weihen […] Furnace Greek ist eine Oase klimatisierter Synthesen. Aber nichts ist schöner als künstliche Frische im Herzen der Hitze, als künstliche Geschwindigkeit im Herzen der natürlichen Räume, als elektrisches Licht bei vollem Sonnenschein und künstlichen Spielgewohnheiten in den verstreuten Casinos. Reyner Banham hat recht: Death Valley und Las Vegas sind voneinander untrennbar, man muss ihre unverän­ derliche Dauer und ihre verrückte Augenblickshaftigkeit gemeinsam akzeptieren. Es herrscht eine eigenartige Affinität zwischen der Sterilität der Räume und des Spiels, zwischen der Sterilität der Geschwindigkeit und der der Verausgabung.“ 46 Baudrillard nimmt das surrealistische Lieblingsmotiv der spielerischen Verausgabung wieder auf und subsumiert das Glücksspiel ebenso wie den hohen energetischen Aufwand einer künstlichen Zivilisation in der Wüste dem Prinzip eines Potlatch, der unproduktiven Verausgabung, des Agon und des Spiels. Die ursprünglichen Motive der Befreiung von der Unterdrückung der Lebensfreude und von erotischen Impulsen sind hier im Spiel scheinbar aufgehoben, wenngleich die merkwürdige Sterilität darauf hinweist, dass der Druck kapitalistischer Verhältnisse anhält. Unproduktive Verausgabung ist auch durch Konsum gut gewährleistet, man muss nicht mehr Situationist sein.

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1 Le Corbusier, Précisions sur un état présent de l’ar- S. 774 . 20 Johan Huizinga, Homo Ludens, Rowohlt, Ham­ chitecture et de l’urbanisme, Crès, Paris 1930, S. 167. burg 1956, S. 22. 21 Huizinga 1956, S. 30. 22 Huizinga 2 Attila Kotanyi/Raoul Vaneigem, „Elementarprogramm 1956, S. 31. 23 Caillois 2012. 24 Ivain 1995 (Pseudonym des Büros für einen unitären Urbanismus“, in: Rober­ für Ivan Chtechglov) in: Der Beginn einer Epoche, Texto Ohrt (Hrsg.), Der Beginn einer Epoche. Texte der Si- te der Situationisten, Nautilus. Hamburg S. 52. 25 Ivain tuationisten, Nautilus, Hamburg 1995 , S. 95 . 3 Ebd., 1995, S. 52. 26 Ivain 1995, S. 54 . 27 Huizinga 1956, S. 84 . S. 97. 4 Roberto Ohrt, Das große Spiel. Die Situationis- 28 Albers, Moebius 2012, S. 807. 29 Caillois 2012, S. 153. ten zwischen Politik und Kunst, Nautilus, Hamburg 1999, 30 Ebd, S. 155. 31 Ebd., S. 156. 32 Ebd., S. 156. 33 Al­ S. 97. 5 Gilles Ivain, „Formular für einen neuen Urbanis­ bers, Moebius 2012, S. 809. 34 Ivain (wie Anm. 5), S. 55. mus“, in: Roberto Orth (Hrsg.), Der Beginn einer Epo- 35 Ivain (wie Anm. 5), S. 56. 36 Guy Debord 1995, in: che. Texte der Situationisten, Nautilus, Hamburg 1995, Ohrt (Hg) Der Beginn einer Epoche, Texte der SituatioS. 54 . 6 Ebd., S. 54 . 7 Andre Breton, Die Manifeste des nisten, S. 64 . 37 Debord 1995 , S. 66 . 38 Peter Sloter­ Surrealismus, Rowohlt, Hamburg 1977, S. 130. 8 Breton dijk, Sphären III , Schäume, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1977 [1924], S. 28 . 9 Breton 1977 [1930], S. 56. 10 Wolf­ 2004 , S. 660 39 Ivain (wie Anm. 5), S. 55. 40 Ivain (wie gang Welsch, Vernunft, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1996, Anm. 5), S. 56. 41 Ebd. 42 Scott Venturi, Denise Brown, S. 580. 11 Breton 1977 [1930], S. 56. 12 Georges Batail­ Lernen von Las Vegas, Viehweg, Braunschweig, Wiesba­ le, Roger Caillois, „Die Sakralsoziologie der gegenwär­ den 1969, S. 67. 43 Frank Lloyd Wright bezeichnete in tigen Welt“, in: Hollier Denis, Das Collège de Sociologie seiner Autobiographie die Broadacre City als „Usonian 1937 – 1939, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2012. 13 Emile City“ nach „Usonia“, Samuel Butlers Begriff für AmeriDurkheim, Die elementaren Formen des religiösen Le- ka. Die Broadacre City ist eine utopische Stadt, die sich bens, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1981, S. 301. 14 Irene über das ganze Land erstreckt und völlig dezentralisiert Albers, Stephan Moebius 2012 , Nachwort, in: Hollier ist, weil sich nur auf diese Weise, ohne die räumlichen 2012 S. 757. 15 Iris Därmann, Theorien der Gabe, Junius, Einschränkungen der herkömmlichen Stadt, die IndiviHamburg 2010, S. 37. 16 Georges Bataille, Die Tränen dualität des freien Bürgers verwirklichen ließe. 44 Wol­ des Eros, Matthes & Seitz, München S. 80. 17 Caillois, Die fe, The Candy-Colored Tangerine-Flake Streamline- Baby, Macht, 2012, in: Hollier Denis, Das Collège de Sociologie Vintage, London, 1963, S. 4 . 45 Ebd., S. 7. 46 Baudrillard, 1937–1939, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2012, S. 167. 18 Al­ Amerika, Matthes & Seitz, München 1987, S. 96. bers, Moebius 2012 , S.762 . 19 Albers, Moebius 2012 ,

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Vorboten der Postmoderne. Michel Foucaults „Andere Räume“ Die Geschichte dieses berühmten Textes „Andere Räume“ beginnt mit einem Manu­ skript für einen Radiovortrag am 7. Dezember 1966 auf France­Culture, das sofort das Interesse der Architekturschaffenden weckte, aber nur in einer französischen Archi­ tekturzeitschrift 1984, 20 Jahre später, publiziert wurde, ehe es in einer gesetzteren Fassung, die er 1967 erstellte, in seinem Gesamtwerk 1994 knapp vor seinem Tode Auf­ nahme fand.1 Mittlerweile ist diese Variante des Textes weit verbreitet und vielfach abgedruckt worden. Erst durch die Herausgabe des ersten Vortrages konnte man große Unterschiede zwischen den Varianten entdecken. Insbesondere die theoretische Ein­ leitung mit der Einführung der Spiegelmetapher gibt es im Radiovortrag noch nicht, wenngleich Foucault lebhaft sein Interesse an einer Wissenschaft, die sich mit den „mythischen oder realen Negationen des Raumes, in dem wir leben“ auseinandersetzt, ausdrückt.2 Der Einfluss des Begriffes der Heterotopologie auf das Denken der Post­ moderne wird evident, wenn man daran denkt, dass an der University of California ein Lehrstuhl für Heterotopologie vom amerikanischen Geografen Edward Soja ein­ gerichtet wurde. Soja sieht Foucaults Heterotopien als wunderbare Inkunabel eines Aufenthaltes im „Thirdspace“, wenngleich er mit Berechtigung einräumt, dass sie zu­ gleich „frustrierend unvollständig, inkonsistent und inkohärent“ seien 3. Er betont vor allem, wie sehr die alternative Vergegenwärtigung des Raumes durch die Konzepte Foucaults und Lefebvres alle konventionellen Arten des räumlichen Denkens heraus­ forderte 4 und die Basis für eine neue kritische Sicht räumlicher Sachverhalte bildete. Vom kosmologischen Ort zur Heterotopie Foucault eröffnet seinen Aufsatz mit einer Skizze einer kurzen Geschichte des Raumes vom Mittelalter bis in die Gegenwart, ganz im Sinne seines zur gleichen Zeit fertigge­ stellten Opus Magnum der Ordnung der Dinge (1971).5 Im Mittelalter hatte man es mit einem hierarchisierten Ensemble von Orten, von heiligen und profanen Orten, städti­ schen und ländlichen, geschützten und ungeschützten Orten zu tun. Diese Hierarchie bedeutete, dass es in der Kosmologie überhimmlische Orte gab, die den himmlischen entgegengesetzt waren, und die ihrerseits wiederum dem irdischen Ort entgegenstan­ den. Komplementär dazu waren die Dinge strikt lokalisiert. An bestimmten Orten be­ fanden sich die Dinge, die anderswo gewaltsam entfernt worden waren, und es gab auch Orte, wo die Dinge ihre natürliche Lagerung und Ruhe fanden. Aufgrund dieser Hierarchie, die die Orte gegeneinander setzte und ihnen damit eine logische Ordnung verlieh, bestand ein Ortungsraum, der auch eine Zuweisung der Dinge ermöglichte. Diese Verortbarkeit der Dinge löste sich mit der Entdeckung Galileis und der Kon­ stituierung eines unendlichen und unendlich offenen Raumes auf und es setzte sich „die Ausdehnung an die Stelle der Ortung“.6 Der Ort einer Sache war nur mehr ein flüchtiger Punkt in ihrer Bewegung. „Heutzutage setzt sich die Lagerung an die Stel­ le der Ausdehnung“ 7 und das bedeutet, dass „die Lagerung oder Plazierung durch die Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten und Elementen definiert“ wird 8 und durch Reihen, Bäume oder Gitter formalisiert werden kann. Die Platzierung oder 399

Lagerung des Menschen beruht zum Beispiel auf Merkmalen der Technik, indem man in gewissen Speichermedien als codiertes Element einer Menge enthalten ist oder der Demographie und der damit verbundenen Nachbarschaftsbeziehungen. Man ist Ele­ ment einer Menge, die entweder zufällig verteilt ist oder nach bestimmten Kriterien ausgewählt ist. „Zirkulation diskreter Elemente mit zufälligem Ausgang“ 9 bedeutet einer Unterordnung unter den Zufall und die Regeln der Wahrscheinlichkeitstheorie. „Wir leben innerhalb einer Gemengelage von Beziehungen, die Plazierungen defi­ nieren, die nicht aufeinander zurückzuführen und nicht miteinander zu vereinen sind. Gewiß könnte man die Beschreibungen dieser verschiedenen Plazierungen versuchen, indem man das sie definierende Relationenensemble aufsucht.“ 10 Aber genau diese Frage, der die konventionelle Stadtforschung nachgeht, indem sie diese Ensembles von Beziehungen, wie sie etwa zwischen den Menschen und den Orten bestehen, un­ tersucht, interessiert Foucault nicht. Er möchte nicht diese provisorischen Halteplät­ ze, wie etwa die Cafes, die Kinos oder die Strände aufgrund der sie definierenden Rela­ tionen“ beschreiben, oder bestimmte Punkte des Beziehungsnetzes aufsuchen. Was ihn interessiert, „das sind unter all diesen Platzierungen diejenigen, die die sonderbare Eigenschaft haben, sich auf alle anderen Platzierungen zu beziehen, aber so, dass sie die von diesen bezeichneten oder reflektierten Verhältnissen suspendieren, neutra­ lisieren oder umkehren.“11 Foucault spricht also zunächst von den Gemengelagen und Platzierungen, die nicht miteinander zu vereinen sind, um dann sein Interesse an je­ nen Platzierungen zu unterstreichen, die sich auf alle anderen Platzierungen bezie­ hen und damit jene abstrakten Beziehungen des Relationenensembles transzendieren. Foucault meint damit zum einen die Utopien, die aber unwirkliche Räume sind und auf die er nicht weiter eingeht. Er spricht von Orten, die es tatsächlich in jeder Gesellschaft gibt, die in ihre Einrichtungen hineingezeichnet sind „sozusagen Gegen­ plazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermassen Orte außerhalb aller Orte […] Weil diese Orte ganz andere Orte sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegen­ satz zu den Utopien Heterotopien.“12 Die Spiegelung. Das Geheimnis der Alterität Die Vermittlung zwischen der Utopie und diesen Plätzen erfolgt durch den Spiegel. Die­ ser ist ein „Ort ohne Ort. Im Spiegel sehe ich mich da, wo ich nicht bin: in einem un­ wirklichen Raum, der sich virtuell hinter der Oberfläche auftut; ich bin dort, wo ich nicht bin, eine Art Schatten, der mir meine eigene Sichtbarkeit gibt, der mich erblicken lässt, wo ich abwesend bin“.13 Dies ist die utopische Seite des Spiegels. Man sieht sich in der Spiegelung, an einem Ort, den es nicht gibt. Er gibt aber ebenso die heterotopi­ sche Seite des Spiegels: „insofern er wirklich existiert, und mich auf den Platz zurück­ schickt, den ich wirklich einnehme. Vom Spiegel aus entdecke ich mich als abwesend auf dem Platz, wo ich bin, da ich mich dort sehe; von diesem Blick aus, der sich auf mich richtet, und aus der Tiefe dieses virtuellen Raumes hinter dem Glas kehre ich zu mir zurück und beginne meine Augen wieder auf mich zu richten und mich da einzu­ finden, wo ich bin.“14 Der Spiegel funktioniert deshalb als Heterotopie so gut, weil er den Platz, den ich einnehme, während ich in den Spiegel blicke, „ganz wirklich macht und mit dem ganzen Umraum verbindet“.15 400

Man sieht sich an einem Ort, den es nicht gibt, der aber dennoch als wirklich erlebt wird. Von diesem real unwirklichen, aber in der Einbildung wirklichen Ort blicke ich

und die nach Foucault nur aus der Position der Heterotopie gelingen können. Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese Position dem „je“ bei Lacan ent­ spricht, wenn es sich in der Spiegelung betrachtet (Ich ist ein Anderer), und ähnelt auch dem Begriff der sozialen Rolle, wie sie bei den Pragmatisten (Mead) gesehen wird. Im Sinne einer Anwendung der Begriffe Lacans hätte Foucault allerdings auch den Begriff des „moi“ einsetzen müssen, was aber unterblieb. So führte er zwar das „Imaginäre“ des Anderen ein, aber eben unvollständig, wenn man sich an Lacan orientiert. Wahr­ scheinlich war Foucault aber nicht an dieser (meta)psychoanalytischen Perspektive interessiert, sondern versuchte eher seine philosophische Sicht aus der „Ordnung der Dinge“ umzusetzen und in der Dialektik der Repräsentation darzustellen, die auch sei­ ner Diskurstheorie besser entspricht. Denn der Blick zurück aus dem virtuellen Raum des Spiegels auf mich selbst er­ möglicht einen Moment eine Repräsentation meiner selbst, die mich erst wirklich macht, weil sie die Welt zeigt, in der ich stehe. Ich sehe mich so, wie mich jemand an­ derer sieht, bzw. aus dem Blick des anderen. Durch diesen Blick der Rückkehr aus dem virtuellen Raum kann ich mich selbst als ein Objekt sehen und mir damit eine Wirk­ lichkeit verleihen, zu der ich sonst nicht imstande wäre. Da sich der moderne Mensch nach Kant als ein repräsentierendes Subjekt selbst als ein Grund der Repräsentation repräsentieren muss, kommt das Problem der Selbstidentität auf, das heißt es können sich nicht mit sich selbst identische Subjekte repräsentieren, sondern es muss eine äußere Trennung sein, damit man das „Andere“ erkennt. Es muss einen Unterschied zwischen dem Repräsentanten und dem Repräsentierten geben. Der moderne Mensch kann alles repräsentieren, nur nicht das repräsentierende Selbst oder Subjekt. Foucault stellt diese Problematik der selbstbezüglichen Subjektivität in seiner berühmten Inter­ pretation des Bildes Las Meninas, die Hoffräulein, von Diego de Velasquez dar, wo er den Akt der Repräsentation als solchen zeigt, „weil er deren Subjekt nicht darstellt“.16 In der Renaissance gab es nach Foucault noch die Möglichkeit einer Erkennbarkeit der Welt durch die Ähnlichkeit, Zeichen und Bezeichnetes ähnelten einander. „Zeichen und Bezeichnetes werden durch ein Zwischenglied, ein vermittelndes Drittes mitein­ ander verbunden: durch Ähnlichkeit oder natürliche Nachbarschaft.“ 17 Hier war in der Repräsentation noch eine direkte Verbindung zur Natur gegeben. Das Denken re­ präsentierte noch eine vorgegebene, natürliche Ordnung der Dinge, in die auch der Mensch eingeschlossen war und sich als Teil des Ganzen verstehen konnte. Durch die Auflösung der Beziehung zwischen Zeichen und Bezeichnetem entsteht ein selbstgere­ geltes Zeichensystem, das sich trotz seiner Künstlichkeit als Spiegel der Natur versteht und nun den Diskursen folgt, die nach klassifizierenden Identitäten und Differenzen verlaufen. Der moderne Mensch kann sich daher nicht mehr selbst repräsentieren, weil die Ordnung der Dinge nicht mehr existiert, weil der Hintergrund seiner Verankerung fehlt. Er muss sich auf sich selbst und seine eigenen Künstlichkeit beziehen, ohne sich selbst wirklich vorstellen zu können, weil das – wenn man Foucault folgt – nur aus

Vorboten der Postmoderne. Michel Foucaults „Andere Räume“

auf mich selbst, der vor dem Spiegel steht, zurück und sehe mich selbst, als wäre ich ein anderer. Nur aus dieser Position heraus kann ich mich für einen Moment objektivieren, weil ich mich als das „Andere“ sehe. Es geht also um jene Momente, die mir einen Blick auf mich aus der Position des „Anderen“ ermöglichen, ich damit mein „Anderes“ sehe,

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der Position des „Anderen“ möglich wäre, die man aber nur für einen Moment in der Selbstspiegelung erfahren kann. Es ist diese Position des Anderen, die den Ausgangs­ punkt weiterer Überlegungen zum Raum bildet. Nur aus dieser Position heraus kann ich mich als wirklich erleben, weil dies nur aus der Heterotopie, einem anderen Ort, wie es am Beispiel des Spiegels gezeigt wurde, möglich wird. Daher vereinen diese Orte Wirkliches und Unwirkliches, und sind jene Räume, von wo aus ich einen Blick auf mich erlangen kann. Für Foucault ist der Bruch der Identität wichtig, weil die Dia­ lektik der Selbsterkenntnis nur über das „Andere“ verläuft. Dieser Umstand wird in der Theorie des Raumes selten gesehen, weil die übliche Verbindung mit dem Raum eher über Identität verläuft, weil an diesen Orten bestimmte Aspekte des Lebens gelagert werden, Wohnen, Erinnerungen, um die Identität zu aktualisieren. Diese Textstelle der Spiegelung hat Foucault in seinem Radiovortrag noch nicht besprochen und erst nachträglich eingefügt. Daher fehlt ein klarer Übergang zu der nachfolgenden Beschreibung der Heterotopien. Klar ist nur, dass es sich beim „Ande­ ren“ um das Ausgeschlossene, nicht in den gegenwärtigen Räumen Enthaltene handelt. Erst durch den Kontakt zum „Anderen“ und der Nichtidentität erlange ich eine Position, die der Selbstreflexion dient, vielleicht auch dem Begehren, jenem zweiten Element ne­ ben der Macht, das das Handeln konstituiert. Erst durch diesen Blick aus der Außen­ perspektive des anderen Raumes kann ich mich existenziell sehen. Die fünf Grundsätze der Heterotopien In weitere Folge beschreibt Foucault die fünf Grundsätze der Heterotopien, die in je­ der Kultur etabliert sind, und unterscheidet (erster Grundsatz) zwei Typen, die Krisen­ heterotopien, privilegierte, geheiligte oder verbotene Orte für jene Individuen, die sich in der Gesellschaft in einer Krise befinden. Die Adoleszenten ebenso wie die mens­ truierenden Frauen, die Frauen im Wochenbett und die Alten. Auch musste früher die Defloration des Mädchens „nirgendwo“ stattfinden, im Hotel, auf der Hochzeits­ reise, im Zug. Heute werden die Krisenheterotopien durch Abweichungsheterotopien für deviante Erwachsene ersetzt, Erholungsheime, psychiatrische Kliniken, Gefäng­ nisse, auch Altersheime. Der zweite Grundsatz lautet, dass eine Gesellschaft „eine immer noch existieren­ de Heterotopie anders funktionieren lassen kann“.18 Der Friedhof ist ein solcher Raum, der mit der Gesamtheit der Stätten der Stadt oder der Gesellschaft des Dorfes verbun­ den ist, da jedes Individuum dort Verwandte ruhen hat. Allerdings hat sich die Lage des Friedhofs gravierend verändert, indem sie vom Zentrum der Stadt neben der Kir­ che hinaus an die Peripherie rückte. Die Individualisierung machte aus dem Tod eine Krankheit und man musste ihn daher an den Rand der Stadt verbannen. „Jedermann hat ein Recht auf seinen kleinen Kasten für seine kleine persönliche Verwesung“ stellt Foucault ironisch fest.19 War früher die Anwesenheit und Nähe der Vorfahren wichtig, so rückte später die Angst vor einer Erkrankung in den Fokus. Der dritte Grundsatz lautet, dass eine Heterotopie an einem Ort mehrere an sich unvereinbare Räume zusammenlegen kann. Das Theater lässt auf der Bühne eine Reihe von einander fremden Orten folgen, ebenso das Kino. Die älteste dieser Platzierungen betrifft jedoch den Garten als Mikrokosmos, der bei den Persern etwa in seinem Recht­ eck vier Teile enthalten musste, die die vier Teil der Welt repräsentierten, und einen heiligen Raum in der Mitte als dem Nabel der Welt. Der Teppich ist eine Reproduktion 402

Wille zur Organisation eines Ortes, der für alle Zeiten gelten soll, manifest, der seit dem 19. Jahrhundert die europäische Kultur beflügelt. Neben der Speicherung der Zeit durch die Heterotopie, gibt es auch eine Verknüp­ fung der Heterotopie an das Flüchtige und Transitorische, wie sie in der Weise des Festes gegeben ist. Die Festwiesen und die chronische Heterotopie der Feriendörfer werden durch eine weitere Variante der polynesischen Dörfer ergänzt, die den Urlau­ bern „drei Wochen einer ursprünglichen und ewigen Nacktheit bieten“.23 Hier kündi­ gen sich erneut die Elemente der Disneyfizierung und die Nudistencamps an. Dem fünften Grundsatz gemäß setzen die Heterotopien immer ein System von Öffnungen und Schließungen voraus, das sie gleichzeitig isoliert und durchdringlich macht. Entweder man wird zum Eintritt in die Heterotopie gezwungen, wie beim Mili­ tär und Gefängnis, oder man muss sich Riten oder Reinigungen unterwerfen, um Ein­ tritt zu erlangen. Der Reinigung sind auch eigene Orte wie das islamische Hamam oder die skandinavische Sauna gewidmet. Ein besonderer Fall liegt mit den Kammern in den großen Pachthöfen Südamerikas vor. Dort führt die Eingangstür gerade nicht in die Wohnung der Familie, jeder Passant darf in diese Kammer eintreten und eine Nacht verbringen, ohne aber mit der Familie des Hauses Kontakt zu haben. Hier wird Öffnung für einen Eingeladenen suggeriert, die sich aber nur auf einen Vorbeigänger bezieht. Foucault sieht im amerikanischen Motel ein vergleichbares Phänomen, weil man dort mit dem Auto einfährt, die illegale Sexualität, dorthin ausgelagert, zugleich geschützt und versteckt ist, ohne ins Freie gesetzt zu sein. Ein letzter Zug der Heterotopien besteht in der Funktion gegenüber dem verblei­ benden Raum. Foucault spricht von der Schaffung eines Illusionsraums, der den Real­ raum, mit allen Platzierungen, in die das menschliche Leben eingesperrt ist, als noch illusorischer denunziert. Als Beispiel nennt er die berühmten Bordelle. Oder die Schaf­ fung eines Raumes, der so vollkommen und sorgfältig, wie der jetzige ungeordnet und missraten ist. Das wäre die Kompensationsheterotopie und könnte durch die Jesuiten­ kolonien im Südamerika des 17. Jahrhunderts exemplifiziert werden, „wo die mensch­ liche Vollkommenheit tatsächlich erreicht war“,24 indem die Existenz durch eine per­ fekte Raum­Zeitordnung in jedem Punkt geregelt war. Zuletzt erwähnt er das Schiff als einen Extremtypus der Heterotopologie, weil es selbst „ein Ort ohne Ort“ ist,25 einerseits autark lebt und andrerseits der Unendlichkeit des Meeres ausgesetzt ist und nicht nur das größte Instrument für die Wirtschaft, sondern auch unser größtes Imagi­ nationspotential darstellt. Postmoderne Heterotopien als Illusionsräume Foucaults Konzept der Heterotopie eröffnet den Blick auf ein neues Feld, wo sich ar­ chaische und moderne Organisation des Raumes überlagern. Sicherlich kommt einem

Vorboten der Postmoderne. Michel Foucaults „Andere Räume“

von Gärten und so etwas wie ein im Raum mobiler Garten.20 Er ist seit dem Altertum eine selige und universalisierende Heterotopie, daher stammen unsere zoologischen Gärten. Weltausstellungen und Disneyworld werden hier antizipiert.21 Der vierte Grundsatz bezieht sich auf die Verbindung der Heterotopie mit der He­ terochronie, weil die anderen Orte ihr volles Funktionieren erst erreichen, wenn die Menschen mit der herkömmlichen Zeit brechen. Es gibt die Heterotopien der endlos akkumulierenden Zeit, die nicht aufhört, sich in den Museen und Bibliotheken, in Form einer gigantischen Anhäufung „auf dem Gipfel ihrer selbst zu stapeln“.22 Hier wird der

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in vielen Fällen die Nähe des Begriffes der Heterotopie zum Passagenraum und den Rites de Passage zu Bewusstsein. Obwohl er sehr unterschiedliche und teilweise wi­ dersprüchliche Beispiele anführt und keine Geschlossenheit behauptet, liegt der Vor­ teil dieses Begriffs der Heterotopie in seinen Anwendungsmöglichkeiten auf moderne Institutionen und Orte. Der Text ist von der Anlage her deskriptiv und enthält keiner­ lei tiefer gehende Hypothesen außer der Darstellung historischer Beispiele von Hetero­ topien. In seinen späteren Texten zum Panopticon in Überwachen und Strafen nimmt er eine andere und bei weitem weniger romantische Haltung gegenüber diesem Raum­ typus ein. Die poetische Beschreibung der „anderen Räume“ wird durch die illusions­ lose Darstellung eines Raumtypus ergänzt, der für einen totalitären, disziplinierenden Habitus des Raumes steht, und sich als Modell einer gesellschaftlichen Kontrollinstanz herausbildet. Der Übergang vom Panopticon zur konkreten Organisation des Raumes, eines sehenden Kontrollapparates, der als Panoptismus bezeichnet werden kann, zeigt die Ausbreitung der Abweichungsheterotopien und ihre Fähigkeit zur Normenbildung in der modernen Welt des Alltags. Denn wie die Beispiele zeigen, kann sich auch ihre ursprüngliche Andersheit in eine Norm verwandeln. Im zeitgenössischen Kontext lässt sich der Begriff der Heterotopie auch auf viele Fälle anwenden. Wir können von den Heterotopien der Illusion, den Shopping Malls, Theme Parks und Spielhallen ebenso sprechen wie von den Heterotopien der Abweichung, den Gefängnissen und Lagern für Asylanten. Die erste ist vom expressiven Bedürfnis nach Inszenierung geprägt, wäh­ rend die zweite durch das Motiv der Angst bestimmt wird. Beide Typen von Raum sind für die gegenwärtige Stadt von großer Bedeutung. Man könnte von einer Heterotopologie der zeitgenössischen Räume sprechen, des Flughafens, der Shopping Mall, des Theme Parks. Letzterer ist ein besonders typisches Beispiel gegenwärtiger Heterotopien, weil er eine Verräumlichung der Heterochronie des Karnevals darstellt und damit eine Synthese der Heterotopie der Illusion und jener der Kompensation bildet. Ähnliches kann man auch über das Museum sagen, das eine Verräumlichung zahlreicher Heterochronien von Orten und Zeiten darstellt und gegen das Vergessen ankämpft. Aus einer bestimmten Perspektive lassen sich auch die He­ terotopien der Freizeit, die Theme Parks, als Disziplinierungs­ und Kontrollapparate in­ terpretieren, wenn man die Habitualisierung einer bestimmten körperlichen Disposi­ tion des Konsums an diesen Orten ins Kalkül zieht, die allerdings von den Teilnehmern bestritten würde, weil sie diese Erfahrung als Vergnügen bezeichnen. Heterotopie als Entropie Wenn man die Einleitung des Textes mit seiner Schlussfolgerung vergleicht, so erhebt sich die Frage nach dem Status der Heterotopie in einer Gesellschaft, die auf Räum­ lichkeit basiert, allerdings einer Räumlichkeit, die auf der Positionierung innerhalb von Beziehungen der Nähe, des Gitters und des Netzwerks beruht. Foucault stellt die­ se Frage nicht, sondern sieht die Heterotopie rein als ein die Geschichte übergreifen­ des Phänomen (nach seinem ersten Prinzip der Heterotopologie) und stellt sie nicht in Beziehung zu dem, was er im ersten Abschnitt als eine Geschichte des Raumes nennt. Dort versucht er die neue Räumlichkeit zu beschreiben, und indem er Telefonnetze und Informationstechnologie als Beispiele anführt, macht er deutlich, dass er etwas um­ schreibt, was wir heute mit dem Begriff der Netzwerke bezeichnen. Er spricht von der Lagerung in der zeitgenössischen Technik: „Zirkulation diskreter Elemente mit zufälli­ 404

1 Michel Foucault, Die Heterotopien. Die utopischen Körper, Suhrkamp, Frankfurt/Main 2005, S. 70. 2 Ebd., S. 11. 3 W. Edward Soja, Thirdspace, Blackwell Publishing, MA /USA /Oxford/ UK /Victoria/Australia 2009, S. 162 . 4 Ebd., S. 163. 5 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1971. 6 Michel Foucault, Ande­ re Räume, in: Botschaften der Macht, DVA , Stuttgart 1999, S. 146 . 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 148 . 11 Ebd.,

S. 149. 12 Ebd. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 150. 15 Ebd. 16 Hinrich Fink-Eitel, Foucault Michel zur Einführung, Junius, Hamburg 1990, S. 42 . 17 Ebd., S. 39. 18 Foucault (wie Anm. 6), S. 151. 19 Ebd., S. 152 . 20 Ebd., S. 151. 21 Soja (wie Anm. 3), S. 160. 22 Foucault (wie Anm. 6), S. 153 . 23 Foucault (wie Anm. 6), S. 154 . 24 Foucault (wie Anm. 6), S. 156. 25 Ebd. 26 Foucault (wie Anm. 6), S. 147.

Vorboten der Postmoderne. Michel Foucaults „Andere Räume“

gem Ausgang (wie etwa die Autos auf einer Straße oder auch die Töne auf einer Telefon­ leitung). Zuordnung von markierten oder codierten Elementen innerhalb einer Men­ ge, die entweder zufällig verteilt oder univok oder plurivok klassiert ist, usw.“26 Wenn Foucault zum Abschluss vom Schiff als der „Heterotopie schlechthin spricht, die sich zwischen den zwei extremen Typen der Kolonie und des Bordells bewegt, so nimmt er die Idee des Steuermannes, des Kybernetes vorweg, dessen Name den Begriff und die Bedeutung des Netzwerks der Kybernetik prägt. Die Ozeane entsprechen dem kyber­ netischen Raum, in dem jeder Punkt von einem anderen Punkt aus erreichbar ist. Im Netzwerk, dem Typus des kybernetischen Raumes, ist die Heterotopie nicht mehr der „Andere Raum“, sondern wird zur Norm und führt zugleich zu einer Aufhebung der Dif­ ferenz, weil es keine Entgegensetzung zwischen der Norm und dem Anderen mehr gibt. Das Netzwerk entspricht dem homogenen Raum, wo alle Orte grundsätzlich gleicher Validität sind. Es ist weiters ein Raum, der ortlos ist, bzw. dessen Orte allenfalls von Koordinaten eines abstrakten Kategoriensystems definiert werden und wo der Aufent­ halt nach Foucault nur aufgrund einer Platzierung durch die Macht erfolgt. Es gibt allerdings noch eine letzte Alterität: die entropische Differenz der Orte bzw. Punkte, und in diesem Zusammenhang wäre die Heterotopie der Ort geringerer Tem­ peratur oder geringerer Information, der auf ein künftiges Gleichgewicht mit den an­ deren Orten angelegt ist. Im Netzwerk oder kybernetischen Raum gelten die Regeln der Thermodynamik und der Entropie, die Anziehungskraft eines Ortes niederer Tem­ peratur, dem die in Wärme verwandelte Energie, die durch Arbeit entstanden ist, zu­ strömt und letzten Endes zu einer Gleichwahrscheinlichkeit und einem Gleichgewicht aller Zustände führt. Man könnte auch von einer Umwandlung von Orten mit gerin­ ger Information in solche mit höherer Information sprechen und auch diese führt zum Gleichgewicht. Dann wäre der Urbanismus langfristig gesehen, ein Prozess der Ent­ ropie, der Alterität ausschaltet und grundsätzlich in ein Gleichgewicht aller Zustände bringt. Diese völlige Gleichwahrscheinlichkeit der Zustände ist allerdings nur ein an­ derer Begriff für den Tod, weil Leben auf der Möglichkeit der Entropie und der Span­ nung des Organismus im Verhältnis zu seiner Umwelt besteht.

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Abb. 17: Constant Anton Nieuwenhuys, Le bouc émissaire/Der Sündenbock (1949). Die Opfertheorie spielt bei manchen Surrealisten und Situationisten eine wichtige Rolle: ihnen erschien das Selbstopfer im Sinne totaler Verausgabung als die einzig mögliche nicht-utilitaristische Haltung.

Die Stadt als Archipel der Kapseln Die Mitte der Stadt oder das Zentrum existiert in der Postmoderne allenfalls im geo­ graphischen Sinne, denn die Ganzheits­ und Mittelpunktsillusion, die auf einen Kö­ nig gerichtet war und dessen phantasmatischer Ort das Zentrum gebildet hatte, ist heute vielleicht für den Städtetourismus von Bedeutung, nicht aber für die Synthese von Stadt und Gesellschaft. Allerdings gilt auch: „Die Königsstelle als der phantasma­ tische Ort, an dem das Ganze selbstdurchsichtig wüßte, was es ist und was es will, wird nicht kampflos geräumt.“ 1 Der Widerstand gegen diese Mitte, die Herrschaft des Königs hatte zur Ausbildung neuer Zentren für die Massen geführt, wie es durch die Ereignisse der Französischen Revolution initiiert und durch zahllose Nachfolgebauten und Attraktoren imitiert wurde, um wiederum „Zentralität zu simulieren“.2 Sloterdijk meint mit den Pseudozentren Orte mit synodalen Tendenzen, die große Motivations­ ströme anziehen, wie der Rote Platz in Moskau oder das Reichsparteigelände in Ber­ lin, aber auch das Olympiastadion von Athen, das Festspielhaus in Bayreuth und ähn­ liche mehr. In weiterer Folge prägt er den Begriff der Kollektoren für Orte, die keine Mitte mehr simulieren, aber von ebensolcher Anziehungskraft für die Massen charakterisiert sind, wie die Arena und das Stadion, aber auch die Tagungsstätten der sozialen Verbände und die Kongressgebäude. Insgesamt bezeichnet er die moderne Stadt als eine Foam City, eine Stadt des Schaums, ein poetischer Begriff für die Raumvielheiten, die sich aus Kollektoren und Apartmentkomplexen zusammensetzen. Wenn man den komplexen Sachverhalt soziologisch ausdrücken möchte, wäre zu sagen: Der reale Prozess der Mo­ dernisierung steht daher unter der Einwirkung zweier wesentlicher gegenläufiger Im­ perative, einerseits die ständige Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Subsysteme und andrerseits der ständige Versuch einer Rettung und Restauration der Zentrumsbil­ dung. Diese Ausdifferenzierung der Gesellschaft geht mit der Individualisierung und Personalisierung eng einher, weil aber dieser Prozess keine authentische Symbolik des Ganzen mehr herzustellen vermag, ist man auf eine Simulation des Zentrums an­ gewiesen. Da es aber kein wirkliches Zentrum mehr gibt, muss man die Frage stellen, welche anderen wesentlichen raumbildenden Faktoren die Stadtgestalt prägen. Daher kann man mit Peter Sloterdijk von einer urbanen raumschaffenden Potenz des 20. Jahr­ hunderts als einer dualen und abstrakten Konstellation von Stadien und Apartments sprechen, wobei die erste eine „dichte isopathische, individualraumvernichtende Ver­ schäumung in Großcontainern ermöglicht […]“, während die Gesellschaft in der zwei­ ten in „[…] egosphärischen Zellenkonglomeraten“diskret verschäumt wird.3 Wir sind also mit einer räumlichen Entwicklung konfrontiert, die eine völlig indi­ viduelle Raumsituation im sozial isolierten Apartment zur Pflege des Egos schafft, die nur durch Versammlungen in Kollektoren oder Großcontainern wie Stadien, Theatern, Versammlungsplätzen oder ähnlichen massenveranstaltungstauglichen Environ­ ments durchbrochen und temporär abgelöst wird. Ergänzt wird diese Situation durch Erlebnis­Environments, von der Shopping Mall bis hin zu riesigen Architekturbiotopen, wie der New Yorker begrünten High Line, einer vormaligen Hochbahntrasse. Denn mittlerweile sucht die Architektur auch die Synthese mit der Natur und entwickelt zahlreiche Hybridformen, wie eben diese einer Hochbahn mit einem botanischen Gar­ 407

ten, die allerdings nicht überdacht ist, ebenso wie andere Biotope nach dem Muster des Treibhauses. Hybridlandschaften in der Halle wie Indoor­Skipisten oder Hallen­ golfplätze haben die alte Passage im Sinne Walter Benjamins längst gesprengt und ihr den Rang abgelaufen. Insgesamt gewinnt „das Einkapselungsmotiv in solchem Maß an Umfang […], dass sich die moderne Stadt und Stadtlandschaft […] mehr und mehr zu einer operativen Einheit […] von Raumstation, Gewächshaus und Menscheninsel ent­ wickelt.“ 4 Gehen wir daher dieser Entwicklung nach, indem wir die Ursprünge dieser Tendenz zur Verkapselung im 20. Jahrhunderts untersuchen. Ausdifferenzierung und Individualisierung. Kurokawas Capsule Declaration Kapsel kommt vom lateinischen capsa, Schachtel oder Behälter, und ist vom Wort capere abgeleitet, etwas ergreifen, fangen, halten, kurz „in Gefangenschaft halten“. All­ gemein ist die Kapsel ein Behälter, die als Werkzeug oder auch als Körpererweiterung dient und damit auch den Charakter einer künstlichen Umgebung annehmen kann, um sich von der äußeren, feindlichen Umgebung abzuschließen. Wenn man in der Sprache der Medientheorie argumentiert, und sich McLuhan anschließt, könnte man auch von einem Medium sprechen, das zu einer Hülle geworden ist, das heißt, man könnte die Kapsel auch als Medium bezeichnen, das buchstäblich zu einem Milieu, zu einem Environment, einer künstlichen Umgebung geworden ist.5 Es ist daher folge­ richtig, dass sich Kurokawa 1969 in seinem Essay der „Capsule Declaration“ zunächst an jenen Werkzeugen orientierte, die zu einer Erweiterung des Heimes führen und die er damals am besten durch das Beispiel des Autos darstellen konnte. Zugleich verweist die Kapsel auch auf ein altes anthropologisches Erbe, indem menschliche Wesen im­ mer schon auf künstliche Umgebungen angewiesen waren, um in ihren Erweiterun­ gen, zunächst die Kleidung und später den Gebäuden, und in Heideggers Worten sogar in der Sprache zu wohnen. Die Theorie der Kapsel verdankt auch McLuhans Medientheorie wesentliche Impul­ se. McLuhan bezeichnete diese Erweiterungen des Menschen bzw. des menschlichen Körpers als Medien und meinte damit etwas Zweifaches. Nämlich ein Mittel oder auch in der Mitte von etwas, was soviel wie ein Milieu oder eine Umwelt bedeutet. Wenn man die Kleidung als die zweite Haut des Menschen bezeichnet, so könnte man die Architektur als eine dritte anführen und damit den Umstand beschreiben, dass Men­ schen immer schon von Siedlungen, Festungen und Städten abhängig waren und somit die Begründung der Zivilisation eine kapsuläre Basis aufweist. Medien sind ihrem Wesen nach Beschleuniger und sind die Voraussetzung für Phä­ nomene wie Reisen, Handel, Kommunikation und Information. Der dem wachsenden Informationsfluss und der Beschleunigung der Transportgeschwindigkeit geschul­ dete technologische Fortschritt erfordert allerdings einen Schutz des empfindlichen Zentralnervensystems und des fragilen menschlichen Körpers. Wachsende Transport­ geschwindigkeit macht ab einem gewissen Tempo die Ergänzung durch eine Kapsel­ form notwendig, sei es in Form einer Karre, eines Wagens, einer Kutsche. Man könnte in diesem Zusammenhang auch von der Notwendigkeit eines exoskeletären Gerüstes sprechen, einer äußeren Hülle, wie sie bei Käfern zu finden ist und auch für das Über­ leben des Menschen unumgänglich wird. Nach McLuhan ist jede Erweiterung eines Organs mit einer Amputation des erweiterten Organs verbunden und wird von ihm als die Narkose des Narziss bezeichnet. Das Bild des Narziss ist eine durch Reizdruck 408

hervorgerufene Ausweitung oder auch Selbstamputation, das Abbild im spiegelnden Wasser ist ein Gegenmittel und verursacht eine Betäubung, die Erkenntnis und eine quasi rationale Reaktion unmöglich machen.6 Nach McLuhan stellen alle Ausweitun­ gen unseres Selbst Versuche dar, das innere Gleichgewicht zu erhalten und unter Bezug auf Hans Selye schreibt er: „Jede Ausweitung unserer eigenen Person betrachten sie als Selbstamputation und glauben, dass der Körper zu diesem Mittel der Selbstamputation greift, wenn das Wahrnehmungsvermögen den Grund der Reizung nicht genau fest­ stellen oder sie umgehen kann.“ 7 Daraus folgt, dass unter körperlichem Stress, Über­ reizung oder auch im Falle von Krankheit es zu einer Situation kommen kann, die zu neuen Erfindungen und Erweiterungen führt. Dies ist eine Voraussetzung für die

Kurokawa bezeichnet die Kapsel als das Modell der zukünftigen Architektur. Sicherlich hat ihn das Jahr 1969 als der Zeitpunkt der ersten Mondlandung inspiriert, ein Ereignis, das aus heutiger Sicht als ein Zeichen eines Übergangs zur postindus­ triellen Ära zu deuten ist. „Die Kapsel ist Cyborg­Architektur. Mensch, Maschine und Raum bilden einen neu­ en organischen Körper, der die Konfrontation transzendiert […] Dieser neue elaborierte Apparat ist nicht ein Hilfsmittel, wie ein Werkzeug […] die Kapsel, die die Astronauten vor dem Weltraum schützt, unterscheidet sich essentiell von Gefäßen wie Kaffeetas­ sen, weil sie eine eigene Umgebung schafft. Ein Gerät, das zu einem eigenen Lebens­ raum wird, in dem Sinne dass man sich nicht mehr erhoffen kann, anderswo zu leben, ist eine Kapsel. Und die Zeichen dieser Entwicklung beginnen um uns herum zu er­ scheinen.“ 8 Entscheidend ist der Kategorienwechsel und die medientheoretische Neuforma­ tierung. Die Kapsel ist nicht länger ein Werkzeug, sondern ein Medium in dem Sinne, dass es in der Lage ist, eine künstliche Umgebung zu schaffen. Kurokawa träumt in sei­ nem Essay von einer Synthese des Organons als dem Apparat und dem menschlichen Organismus. Die Kapsel ist eine Synergie von Mensch und Maschine, von Kybernetik und Organismus. Menschliche Wesen müssen im Sinne McLuhans nicht zu Roboter­ menschen umgewandelt werden, sondern sie werden sich selbst mit Hilfsmitteln aus­ rüsten, die es ihnen ermöglichen, jene Rollen auszuüben, die ihnen von ihrer natür­ lichen Ausstattung her verwehrt wären. Die Kapsel ist eine natürliche Ausweitung des Körpers und erlaubt daher den Begriff der Cyborg­Architektur. Wenn das erste Auto einfach ein Ersatz für das Pferd war, so verbringen die Menschen heute mehr Zeit in ih­ ren Autos, und dieses Auto wird zu einem Raum mit verstellbaren Sitzen, Klimaanlage und Stereoanlage. Damit ist das Auto nicht länger ein Transportmittel, sondern ist auf­ grund der Raumbildung bereits zu einem Stück Architektur geworden. Die Räder sind nicht wichtig, vielmehr zählt der Übergang vom Werkzeug zur Architektur. Kurokawa erwähnt zwei Formen der Einkapselung, den Übergang vom Heim, das zu einem Gerät wird (Wohnwagen), und von einem Gerät, das zu einem Heim wird (Auto). Der Übergang vom Gerät zur Einbettung entspricht dem Übergang von der alten sesshaften Gesellschaft zur mobilen Gesellschaft. „Eine Kapsel ist die Behausung des homo movens.“ 9 In der Sprache der technischen Utopie und der damaligen Liebe zu Science Fiction spricht er von Befreiung, weil die Kapsel die Menschen von ihren Bin­ dungen zum Boden befreit und damit der Übergang zur beweglichen Architektur an­

Die Stadt als Archipel der Kapseln

anscheinend kulturell zwingende Notwendigkeit der ständigen Entwicklung neuer Kapseln, welcher Form auch immer.

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gekündigt wird. Derartige Überlegungen kündigen sich freilich schon seit dem russi­ schen Konstruktivismus, durch die Architektur der Situationisten wie Chteglov, durch Yona Friedmans „Architecture mobile“ und Archigrams „Plug­In­city“ an.10 Für den Diskurs der Postmoderne sind hingegen zwei Aspekte wichtig: Die Archi­ tektur der Kapsel ist ortlos und damit ein Element jenes Diskurses der Postmoderne, der von Marc Augés Nicht­Orten über Michael Sorkins Geographical City zu Manuel Ca­ stells Strömen des Raumes reicht.11 Und zweitens führt Cyborg­Architektur aus Kuro­ kawas Sicht zu einer zweifachen, nahezu paradoxen Situation. Einerseits bedeutet sie Mobilität, Kommunikation und Bewegung, die Möglichkeit und die Mittel sich frei zu bewegen, die aber andrerseits mit Abtrennung, Einschließung und Bestrafung verbun­ den sind, wenn man an den ominösen Satz Kurokawas erinnert, dass die Kapsel ein Le­ bensraum wird, und zwar in dem Sinne, dass der Mensch keine Hoffnung mehr haben kann, anderswo zu leben. Insofern kündigt die Kapsel auch das Ende des öffentlichen Raumes oder dessen völlige Absorbierung an. Die Geburt der Kapsel aus dem Geist des Atmoterrorismus Freilich liegt diesem Motiv der Einkapselung auch die traumatische Erfahrung einer völligen Zerstörung der Atmosphäre durch den Abwurf zweier amerikanischer Atom­ bomben in Hiroshima und Nagasaki zugrunde, wo ein radikaler Entzug von Luft und Klima stattfand, der durch die anschließende Druckwelle und den Feuersturm zu töd­ lichen Dehydrierungen und spontanen Mumifizierungen führte. Die Lebenswelt der Stadt hatte sich in eine Feuerkammer und nukleare Schreckenswelt verwandelt, an deren Folgen die Strahlenopfer auch noch über eine Verzögerung von Jahrzehnten hi­ naus litten. Man muss daher an dieser Stelle darauf hinweisen, dass diese Generation der japanischen Architekten von der katastrophalen Niederlage im Zweiten Weltkrieg und insbesondere vom ersten Abwurf einer Atombombe mehr geprägt waren, als sie sich bewusst waren, oder auch zugeben konnten, weil das Thema in Japan über viele Jahre hinweg tabuisiert wurde. Sloterdijk spricht von einer Eskalation, indem der nukleare Angriff auf Japan die thermoterroristische Dimension zu einem Übergang in eine strahlenterroristische Di­ mension eröffnete, die eine völlige Vernichtung der Lebenswelt zum Ziel hatte.12 Zu­ gleich führte dies auch zu einer Art von Erweckungserlebnissen und Visionen, wie ein Augenzeuge, der Designer Kenji Ekuan berichtet:„Als ich kurz nach der Bombardierung Hiroshima vor deren Ruinen stand, überkam mich plötzlich dieses Gefühl einer per­ sönlichen Mission […] Als ich vor den Ruinen nach dem Verlust meines Vaters und mei­ ner Schwester durch die Bombe stand, in einer Welt, in der nichts mehr übrig geblieben war, hörte ich den Ruf aller vom Menschen gemachten Dinge. Das ausgebrannte Wrack einer Straßenbahn, ein umgekippter Lastwagen, ein halb zerschmolzenes Fahrrad. Ich fühlte, als ob sie mich anrufen würden: Höre auf uns, O Reisender“.13 Für Kenji Ekuan ist es eine Geste der Versöhnung mit den Dingen, um ihnen wieder neues Leben zu geben und für die japanische Nachkriegsindustrie war es ein gewaltiger Ansporn, die internationalen Märkte zu erobern. Auch für Kurokawa bestand eine Grunderfahrung der Bombe in der Vergänglich­ keit der Architektur und einer metabolistischen Interpretation der Architektur. Tie­ fere Wurzeln dieser Idee sind durch den Buddhismus und die Shinto­Tradition gege­ ben, die sich durch eine regelmäßige Erneuerung des Schreins auszeichnet.14 Diese 410

Verwandlung gut umgehen und ist damit auch mit den urbanen Konsequenzen des radikalen Stadtumbaus leichter zu versöhnen. Vor allem fehlt hier eine vergleichbare Tradition des öffentlichen Raumes der Agora, die im westlichen Bereich der Welt als Erbe der griechischen Antike das Fundament der Urbanität bildet und die aufgeladene Mitte der okzidentalen Stadt bedeutet in japanischen Städten das Gegenteil, nämlich die Leere, ein Zentrum des Sinnes im Buddhismus. Vor diesem kulturellen Hintergrund wird der Modernismus Kurakawas verständ­ licher und er sollte weniger im Sinne einer westlichen idealistisch gesinnten Moderne, die den geschichtsphilosophischen Fortschritt propagierte, gesehen werden, sondern eher als eine neue asiatisch­vitalistische Bewegung, die aber auch aus unterirdischen fatalistischen Quellen gespeist wird, verstanden werden, die den Stoffwechsel zwi­ schen dem Menschen und der Natur leidenschaftslos als eine bestimmte Form des Karmas ansieht. Andrerseits gibt es auch zahlreiche gemeinsame Schnittstellen mit der europäischen Moderne, insbesondere der Glaube an die emanzipative Macht der Maschine und eine merkwürdige Form der Technoutopie, die das Gedeihen der Gesell­ schaft eher durch eine Isolierung der Individuen und deren temporäres Zusammen­ kommen gesichert sieht. Anders sind seine Vorstellungen nicht zu verstehen, wenn er davon ausgeht, dass die Architektur der Kapsel eine moderne, freie Gesellschaft her­ vorbringen wird, die auf Individualität, Freiheit und Mobilität begründet ist. „Die zu­ künftige Gesellschaft wird durch voneinander unabhängige, individuelle Räume be­ gründet, die durch den freien Willen der Individuen bestimmt werden. Jeder Raum sollte ein völlig unabhängiges Obdach haben, worin der Bewohner seine Individuali­ tät frei entwickeln kann. Ein solcher Raum ist eine Kapsel […] die Kapsel zielt auf die diversifizierte Gesellschaft ab.“15 In mancher Hinsicht gleichen diese Sätze einer Abrechnung mit der japanischen traditionellen Gesellschaft, die nach dem Krieg für die schwere Niederlage verantwort­ lich gemacht wurde. Ein Teil davon bestand auch in der Kritik am unbedingten Gehor­ sam, der keine kritische Individualität zuließ und die imperialistische Ausrichtung und Militarisierung Japans ermöglichte. Es war daher damals attraktiv an den Auf­ stieg einer völlig neuen Gesellschaft zu glauben, die durch die Auflösung der alten Ge­ meinschaften, den Zerfall der Familie und durch Migration entstehen sollte. „Gerade die Desintegration der alten Gemeinschaften und der in diesem Ausmaß neue Umfang der Migration kündigt die Ankunft des Kapselraumes als einer neuen Form des Wohnens an, wie etwa in der Weise eines Wohnwagens.“ 16 Kurokawa geht in seiner Analyse von der zukünftigen Raumorganisation aus, weil er als Architekt die Kapselform für unausweichlich hält. Dass er dabei auch eine äußerst zutreffende Pro­ gnose der künftigen Gesellschaft stellte, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht verifizieren. Denn zunächst schien es sich um eine äußerst reduzierte Diagnose der Mo­ derne und um die große Geste eines Architekten zu handeln, der mit seinen utopischen Konzepten auch gleich die Bereiche der Politik und Soziologie voraussieht. Denn er ver­ schmolz die verschiedensten Phänomene wie die Ausdifferenzierung der Gesellschaft, die explodierende Migration zur Utopie einer neuen Lebensform, die den Aufstieg des

Die Stadt als Archipel der Kapseln

Schreine gelten als von Göttern bewohnt und werden im Allgemeinen nach zwanzig Jahren abgerissen und an gleicher Stelle völlig neu errichtet, in der Annahme dass nur durch stetige Erneuerung und Verwandlung der Geist des Gottes erhalten bleibt. Diese shintoistisch, buddhistisch geprägte Sichtweise kann mit dem Prinzip der ständigen

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Kapselraumes befördert und durch die banale Realität des amerikanischen Lebens­ stiles, den Wohnwagen, das Mobilhome gekennzeichnet ist. Ein weiteres Merkmal der Utopie besteht auch darin, dass er wie bei Platon und Thomas Morus den Zerfall der traditionellen Familienstruktur voraussah. Kapsel und Hyperindividualismus Tatsächlich aber hatte er mit der radikalen Prognose einer durch Hyperindividualismus gekennzeichneten mobilen Gesellschaft eine Hypothese entwickelt, die nicht nur von manchen Soziologen des 19. Jahrhunderts wie Georg Simmel bereits geteilt worden wäre, sondern mittlerweile auch von aktuellen Philosophen wie Peter Sloterdijk sei­ nem räumlichen Konzept in den Sphären III , dem Text über die Schäume zugrunde ge­ legt wird. Kurokawa behauptet, dass es nur mehr temporäre Formen der Gesellschaft gibt, in welchen die Kapseln provisorische, ständig wechselnde Zusammenballungen erzeugen. „Die Kapsel beabsichtigt ein völlig neues Familiensystem, das auf Individuen basiert, zu institutionalisieren. Das Wohnsystem, das auf dem verheirateten Paar auf­ baut, wird sich auflösen und die Familienbeziehungen zwischen einem Paar, den Eltern und Kindern werden in Begriffen eines Zustandes des Andockens verschiedener Kap­ sel ausgedrückt […] Wenn der Haushalt ein Aggregat von Individuen formt, so wird die Landschaft der künftigen Stadt nicht durch Schnellstraßen oder Wolkenkratzer, son­ dern durch kolossale Aggregate von individuellen Raumeinheiten bestimmt werden.“17 Die Stadt ist nicht länger ein Wohnsitz (für die Kurokawa den Begriff der Nachtzeit­ bevölkerung verwendet), sondern in zunehmender Weise eine Schnittstelle von Pend­ lern (die er die Tageszeitbevölkerung nennt). Jedenfalls wird sich die Stadt radikal än­ dern, Kurokawa nennt sie die Metapolis,18 die Stadt hinter der Stadt. Ein für westliche Begriffe radikaler Aspekt in Kurokawas Plänen ist das Verschwinden des öffentlichen Raumes, den wir schon aus anderen Konzepten, wie bei Le Corbusier kennen. „Das wahre Heim der Kapselbewohner, wo sie sich zugehörig fühlen und wo sie ihre inneren spirituellen Anforderungen befriedigen können, wird die Metapolis sein. Wenn das Ergebnis des Andockens der Kapseln als Haushalt bezeichnet wird, so for­ men die angedockten Kapseln und der kommunale Raum den sozialen Raum. Die Pla­ za als ein religiöser Raum, als ein Symbol der Autorität oder ein Setting für kommer­ zielle Transaktionen wird sich auflösen und der öffentliche Raum, mit dem sich die Individuen identifizieren, wird aus der Metapolis den heimischen Hafen machen. Die­ ser Zufluchtsort wird das spirituelle Heim sein, das den konkreten Alltagsraum tran­ szendiert.“19 Der Hafen wird zur Heterotopie. Je mobiler die Leute werden, desto mehr werden sie nach einem derartigen Hafen verlangen, und Kurokawa bezweifelt, dass die Stadt solche Häfen bieten kann. Demnach kann der Hafen ein Terminal sein, ein Kaufhaus, ein Hotel oder ein University Campus. Ebenso stellt sich Kurokawa den Auf­ stieg multifunktionaler Hotels vor und nennt sie das Zentrum des Kapselraumes. Ein anderes Modell, das er sich überlegt, ist das Kaufhaus, das als eine Schnittstelle aller kommerziellen und kulturellen Funktionen dient. Diese Oasen sind keine Areale des öffentlichen Raumes, sondern heterotopische Enklaven. Er sieht das Verschwinden der traditionellen Gemeindezentren und öffentlichen Einrichtungen voraus, der Stadthalle, des Parks und des Marktplatzes. Von der Straße spricht er gar nicht mehr. Was er als die temporäre Gemeinschaft bezeichnet, zusammengesetzt aus Individuen, die sich um ein Informationszentrum versammelt haben, wird die konventionelle, stabile Ge­ 412

Kapsel und heterotopischer Urbanismus Der Urbanist Lieven de Cauter folgert daraus, dass in der Zwischenzeit die Kapsel als das architektonische Modell Teil unseres Lebens, nicht nur in Transportsystemen, son­ dern auch in gated communities, Einkaufsmalls, anderen Enklaven und Ghettos wur­ de, und begründet dies mit der Verwandlung des öffentlichen Raumes in einen hetero­ topischen Raum, der durch eine Verkapselung größten Maßstabes erfolgt. Vermutlich orientiert er sich mit dieser These an der grundlegenden Feststellung von Jameson in dessen Theorie der Postmoderne über den urbanen Raum, der in zunehmendem Aus­ maß eingepackt und verhüllt wird. Am Beispiel des aufgrund seiner postmodernen Signifikanz berühmten Bonaventura Hotels in Los Angeles hatte Jameson infolge der beabsichtigten Abgeschlossenheit des Innenraums des Hotels auf die Vorstellung ei­ nes totalen Raumes einer in sich vollständigen Welt hingewiesen. Denn daraus resul­ tiert eine völlig neue Stellung dieses Raumes zur Stadt, indem das Bonaventura nicht Bestandteil der Stadt, sondern ihr Äquivalent, ihr Ersatz, ihr Substitut sein will.20 Aus dieser Perspektive wird der Begriff der Kapsel in seiner Anwendung für den urbanen Raum verständlich. Bei Jameson zeichnet sich auch schon der heterotopische Charak­ ter dieses Raumtyps ab, im Sinne einer Implementierung eines Hyperspace in das ur­ bane Gewebe, der sowohl Illusion als auch Kompensation bedeutet. Lieven de Cauter stellt die Frage: Wie ist das Verhältnis zwischen der Kapsel und der Heterotopie? Zwar seien nicht alle Heterotopien eine Kapsel, aber die meisten Kap­ seln sind Heterotopien. Er schlägt daher vor, die Heterotopie als ein Modell des urba­ nen Designs und die Kapsel als ein Modell der Architektur zu gebrauchen. Die Kon­ zepte sind komplementär. Das eine ist technologisch, das andere ist soziologisch und anthropologisch. Wenn wir eine Hypothese, die auf den beiden beruht, zu formulieren hätten, so würde sie lauten: Die Heterotopie wurde zur Norm der kapsulären Gesell­ schaft.“21 Die Heterotopie galt von ihrer Logik und Tradition her immer als ein Raum der Ausnahme, als ein verbliebener Raum, der der Kontinuität des normalen Alltags­ raumes gegenübersteht, nun aber wird sie zum Regelfall. Der öffentliche Raum wird hingegen zum Restraum, zu einem Zwischenraum, der im Netzwerk der heterotopi­ schen und kapsulären Knoten (von Kurokawa als Informationszentren bezeichnet) üb­ rig bleibt. De Cauter kontrastiert den öffentlichen Raum mit dem Illusionsraum der Heterotopie, der auf das „andere“ abzielt, die beiden schließen einander aus. De Cauter rekurriert mit der Heterotopie auf den berühmten Text Foucaults, der zwar eine Reihe von Heterotopien, allerdings keine tiefere Darstellung des Anderen angibt. Es sei da­ her hier nur kurz angedeutet: Diese Illusion beruht auf der Übernahme eines imagi­ nären Anderen, das zu einer ständigen Herausforderung und Vergleichung durch das narzisstische Ich erfolgt und in der Geschichte der Ich­Entwicklung dem derzeitigen Stand der Dinge entspricht. Die medien­anthropologische Fundierung ist wiederum ein Effekt der Verkapselung des Einzelnen und die mediale Durchströmung in der Kap­ sel, wie etwa im Apartment. Die Gründe liegen für de Cauter in einem Freiheitsstreben, das nach reiner Entlas­ tung und Verwöhnung strebt und völlig entpolitisiert ist. Freizeit galt als Utopie, als

Die Stadt als Archipel der Kapseln

meinschaft ersetzen. Architektur wird eine Konglomeration von Kapseln sein. Dieser Essay antizipiert weitgehend unbeabsichtigt die Entwicklung der post­zivilen Gesell­ schaft und den Umstand einer Akzeptanz der totalen Mobilität.

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„negative Freiheit“ im Sinn einer Befreiung von allen Behinderungen, die den Übergang vom Reich der Notwendigkeit in das der Freiheit markiert, das durch vollkommene Mobilität gekennzeichnet ist. Um dem Bereich des Notwendigen und dessen Grenzen zu entkommen, wurde die Idee der Mobilität sowohl technisch als auch ideologisch zu einem Vehikel in der Gesellschaft, das dieses Freiheitsversprechen barg. Der dérive ist der Vorläufer der Kapsel­Architektur.22 So wie der dérive ein Versprechen nach der He­ terotopie ist, die man in diesem Falle durch Techniken des Surrealismus zu erreichen glaubt, indem man durch die Bewegung des Abdriftens zu jenen anderen Räumen zu gelangen hofft, „Der Raum für Freizeit und Konsum wurde zu einer Heterotopie.“23 Die durch die Mobilität hervorgerufene Ortlosigkeit, die Suburbanisierung und der Netz­ werkraum stellen die Bedingungen dar, die den heterotopischen Urbanismus und die kapsuläre Architektur hervorbringen müssen. Die Smithsons sind frühe Boten des heterotopischen Urbanismus. „Wo sollen wir in unseren neuen leuchtenden Kleidern gehen und wo unseren hüpfenden neuen Wa­ gen die Sporen geben.“ Fragen sie unschuldig und geben damit die Stimmung der spä­ ten 60er Jahre in London wieder, als die Popkultur erstmals umstandslos in eine Ver­ schmelzung der Konsumkultur mündete. Diese Veränderungen der Konsumwelt nach dem Zweiten Weltkrieg, die auch das Ausklingen des Fordismus sanft andeuteten, und die durch Autos, Sportkleidung, farbige Konsumartikel symbolisiert und durch das Fernsehen orchestriert und stimuliert wurden, waren auch Anzeichen für eine Hinterfragung des Raumes in einer Stadt des Konsums. Die Smithsons meinten, dass es noch keinen zum neuen Lebensstil passenden Baustil gäbe und dass die Massen­ produktion hier auf einen eigenen Stil verzichte, im Gegensatz zu den Produzenten von Autos und Kleidung. „Die Bauindustrie ist wie eine Textilindustrie ohne Mode­ häuser.“24 Ferner meinten sie auch, dass sich die Architektur an den Zeitgeist anpas­ sen solle und eine Reihe von Dingen akzeptieren müsse, wie eben die Designer in der Modebranche. Architekten hätten Schwierigkeiten, sich an den neuen Lebensstil und die Räume des Konsums anzupassen. Wie leben im Übergang von der Wohnung zum Shop. „Wir erfahren die Stadt nicht mehr als eine kontinuierliche Sache, sondern als ein Reihe von Ereignissen.“25 Daher sollen erlebbare Komplexe errichtet werden: „Eine Stadtstruktur mit großflächigen, lesbaren und lebenswerten Häusergruppen, mit un­ antastbaren ruhigen Räumen, mit lesbaren, lebenswerten nahegelegenen Gruppen von Arbeitsbereichen, mit zum Flanieren geeigneten Disney­ähnlichen Shoppingflächen mit leichten anonymen Übergangsbereichen dazwischen, würde ein Organisations­ modell anbieten, das mit unserer Alltagserfahrung korreliert und uns das Bild des ge­ wöhnlichen Stadtlebens zurückgewinnen lässt.“26 In der Verknüpfung von Urbanismus und Konsumarchitektur ging Archizoom 1971 noch einen Schritt weiter und behauptete das Ende der Metropolis als eines Zentrums und seine Ersetzung durch einen gleichförmigen, isotropen und undifferenzierten Raum, der nach dem Modell der Fabrik oder des Supermarkts geformt ist. „Die Stadt ist nicht länger ein Ort, sondern eine Bedingung“,27 die Stadt ist überall und nirgends. Die Option der Smithsons auf Enklaven mit heterotopischen Nuancen, auch unter Be­ zug auf Disney, ist der erste Versuch einer Antwort auf den Fortschritt der Suburbani­ sierung und das Aufkommen der Netzwerk­Stadt. Und es geht eine gewisse Faszination von der Idee aus, dass dieses unabhängige Ensemble, diese Enklave ein selbstver­ ständliches Resultat der Stadt des Konsums und der Mobilität ist. 414

Man muss in diesem Kontext natürlich auch in Betracht ziehen, dass der Konsum als eine große Errungenschaft für die proletarischen Massen im Fordismus galt und insbesondere durch die aus dem englischen Sprachraum kommenden Cultural Stu­ dies, die mit ihrem ethnologischen Ansatz immer eine positive Lesart des Populären verfolgten, nobilitiert wurde. Für sie war der Konsum keine „schmutzige“ Angelegen­ heit, sondern bot eine Vielfalt von kulturellen Bedeutungen, die den Schluss naheleg­ ten, die Komplexität und Subtilität der Rollen, die die Waren spielen, nicht zu unter­ schätzen, um damit deren Nutzer als primitiven Konsumenten zu dequalifizieren. Sie hatten längst den fragwürdigen Unterschied zwischen Tausch­ und Gebrauchswert aus der Marx’schen Terminologie erkannt, der den Gebrauchswert als richtig und den Tauschwert als falsch bewertet, und die kulturelle Bedeutung, den der Tauschwert für die Menschen spielt, in den Vordergrund gerückt. Der tendenziell emanzipative Aspekt

1 Peter Sloterdijk, Sphären III , Suhrkamp, Frankfurt/Main, ter (wie Anm. 5), S. 67. 18 De Cauter (wie Anm. 5) 19 Ku2004 , S. 630. 2 Ebd. 3 Ebd., S. 629. 4 Ebd., S. 667. 5 Lie- rokawa (wie Anm. 9), S. 80; zit. nach de Cauter (wie ven de Cauter, The Capsular Civilization, nai010 Pub- Anm. 5), S. 67. 20 Frederic Jameson, Postmodernism, lishers, Rotterdam 2004 , S. 77. 6 Marshall McLuhan, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Duke UniversiDie magischen Kanäle, Fischer, Frankfurt/Main 1970, ty Press, Durham 1991, S. 44 . 21 De Cauter (wie Anm. 5), S. 51. 7 Ebd., S. 50. 8 Kisho Kurokawa, „Capsule Declara- S. 67. 22 De Cauter (wie Anm. 5), S. 68. 23 De Cauter (wie tion“, 1969, in: Metabolism in Architecture, Studio Vista, Anm. 5) 24 Alison and Peter Smithson, „Where to walk London 1977, S. 75; zit. nach de Cauter, a. a. O., S. 65. 9 Ku- and Where to ride in Our Bouncy New Cars and Our Shiny rokawa, S. 76, zit. nach: de Cauter, a. a. O. 10 De Cauter New Clothes“, in: The Emergence of Team 10 out of CIAM , (wie Anm. 5), S. 66. 11 Ebd. 12 Sloterdijk (wie Anm. 1), Architectural Association, London, S. 8; zit. nach de CauS. 139. 13 Rem Koolhaas/Hans Ulrich Obrist, Project Ja­ ter, (wie Anm. 5), S. 63. 25 Smithson (wie Anm. 24), S. 90; pan, Metabolism Talk, Taschen, Köln 2011, S. 481. 14 Ebd., zit. nach de Cauter (wie Anm. 5), S. 64 . 26 Ebd. 27 De S. 373. 15 Kurokawa (wie Anm. 9), S. 79; zit. nach de Cau- Cauter (wie Anm. 5), S. 64 . 28 John Fiske, Lesarten des ter (wie Anm. 5), S. 66. 16 Ebd., S. 76; zit. nach de Cauter Populären, Löcker, Wien 2003. (wie Anm. 5), S. 66. 17 Ebd., S. 79 – 80; zit. nach de Cau-

Die Stadt als Archipel der Kapseln

im Sinne der Cultural Studies ist dabei der, dass es Praktiken der Nutzer gibt, die die Werte der Waren verändern, um damit auch die Macht von unten zu beweisen, in­ dem es Möglichkeiten zur Überlistung des Systems aufzeigt. Auch vermeintlich totale Strukturen erlauben Praktiken, die eine Schwäche des Systems ausnutzen, ihrer Kon­ trolle entweichen und damit eine Form des Empowerments ermöglichen. Damit wird eine Gegenerzählung zum pessimistischen Elitarismus, der mit mangelndem Respekt für die Schwachen verbunden ist, geschaffen, die politisch nicht durch Herablassung gekennzeichnet ist.28

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Abb. 18: Constant Anton Nieuwenhuys, New Babylon, Homo Ludens (1965 –66). Der Homo Ludens ist in New Babylon der ewig spielende Mensch, der den urbanen Raum in alle Richtungen durchdringt.

Die Stadt als Archipel der Kapseln. Kapsel und heterotopischer Urbanismus Wir erinnern an die Ausgangslage des heterotopischen Urbanismus, der uns mit einer räumlichen Situation konfrontiert, die einerseits eine individuelle Rauminsel im sozial isolierten Apartment herstellt, das nur medial an die Außenwelt angeschlossen ist. Auf der anderen Seite wird es nur verlassen, um sich in Kollektoren oder Großcontainern wie Stadien, Theatern oder ähnlichen massenveranstaltungstauglichen Environments zu versammeln, weil man hier durch das zu erwartende Erlebnis dem Anderen zu be­ gegnen glaubt. (Die Arbeitswelt bzw. der Weg vom Apartment zur Arbeitsstätte wird hier ausgeklammert, weil sie außerhalb der heterotopischen Organisation der Stadt liegt.) Die kapsuläre Gesellschaft beruht auf der Herausbildung eines radikalen Indivi­ dualismus und ist somit eine Konsequenz der liberalen Ausrichtung der westlichen Ge­ sellschaft. Die Pole dieser Gesellschaft werden auf der einen Seite von den Apartments gebildet, die als individuelle Kapseln des Rückzugs und der Reproduktion dienen, und auf der anderen Seite von den Kollektoren, die soziale Synthesis durch Kopräsenz her­ stellen, wie den Stadien, den Theatern und Museen, den Transitkollektoren wie Bahn­ höfen und Flugplätzen, den Versammlungsräumen der Kongresse oder ähnlichen massenveranstaltungstauglichen Environments. Für beide Raumtypen, insbesondere den der Kollektoren, gilt nach dem belgischen Philosophen Lieven de Cauter jedoch: „Die Heterotopie wurde zur Norm der kapsulären Gesellschaft.“ 1 Die Heterotopie galt von ihrer Logik und Tradition her immer als ein Raum der Ausnahme, als ein verbliebe­ ner Raum, der der Kontinuität des normalen Alltagsraumes gegenübersteht. Nun aber wird sie zum Regelfall des städtischen räumlichen Typus. Der öffentliche Raum hin­ gegen wird zum Restraum, zu einem Zwischenraum, der im Netzwerk der heterotopi­ schen und kapsulären Knoten (von Kurokawa als Informationszentren bezeichnet) üb­ rig bleibt. Die zentrale Operation Lieven De Cauters besteht in der Kontrastierung des öffentlichen Raumes mit dem Illusionsraum der Heterotopie, der von seiner Anlage her auf das Andere abzielt. Diese beiden schließen einander aus, das ist jedenfalls aus die­ ser radikalen Opposition abzuleiten. De Cauter rekurriert mit dem Begriff der Hetero­ topie auf den berühmten Text Foucaults, der eine Reihe von Beispielen von Heterotopien gibt, allerdings eine unscharfe Darstellung dessen angibt, was darunter zu verstehen sei. Der Blick in den Spiegel dient als Modell, denn man sieht sich darin an einem Ort, den es nicht gibt, der aber dennoch als wirklich erlebt wird. Von diesem real unwirklichen, aber in der Einbildung wirklichen Ort blicke ich auf mich selbst, der vor dem Spiegel steht, zurück und sehe mich selbst, als wäre ich ein anderer. Nur aus dieser Position he­ raus kann ich mich für einen Moment objektivieren, weil ich mich als das Andere sehe. Es geht also um jene Momente, die mir einen Blick auf mich aus der Position des Anderen ermöglichen und ich damit mein Anderes sehe. Nach Foucault können diese Momente nur aus der Position der Heterotopie gelingen.2 Diese Illusion beruht auf der Übernahme eines imaginären Anderen, das zu einer ständigen Herausforderung und Vergleichung durch das narzisstische Ich erfolgt. Dieses allgemein wachsende Bedürfnis nach der He­ terotopie prägt die Gestaltung der Stadt und verringert das Interesse am öffentlichen Raum, der – zumindest im Sinne de Cauters – keine heterotopischen Elemente enthält. 417

Es ist sozusagen das Nichtidentische, die Differenz, die das Andere ausmacht; und auf der Suche nach dem Identischen ist man zugleich auf der Suche nach der Hetero­ topie. Sloterdijks dichotomische Aufteilung der Stadt in Apartments und Kollektoren kommt diesem Schema ziemlich nahe (Sloterdijk 2004), wenngleich er den öffentlichen Restraum gar nicht mehr in Betracht zieht; vermutlich aufgrund der alten Skepsis Pla­ tons, der seine Utopie der Politeia ja verfasst hatte, um dem unkontrollierten, wilden Begehren der Öffentlichkeit ein Gegenmodell entgegenzusetzen. Wenn bei De Cauter dennoch ein deutliches Plädoyer für den öffentlichen Raum zu konstatieren ist, so beruht dies noch auf der jüngeren Tradition eines „Rechts auf Stadt“ im Sinne Lefe­ bvres, das im Jahre 1968 durch die Demonstrationen der Pariser Studenten und den wochenlangen Generalstreik der so genannten Mai­Revolution praktiziert und als ver­ meintlich taugliches Modell der gesellschaftlichen Emanzipation betrachtet wurde. Dahinter steckte die Hoffnung, dass der Fortschritt der Gesellschaft seinen Ausgang im Selbstausdruck eines kollektiven Willens im öffentlichen Raum nimmt. Durch die Umbildung der Stadt zur Heterotopie wäre damit auch diese Form des Selbstausdrucks gescheitert. In weiterer Folge beschreibt De Cauter eine Reihe von Gesetzmäßigkeiten, die sich aus der Kapsularisierung der Stadt ergeben und die quasi als Diskussions­ entwurf einer möglichen Theorie der Kapsularisierung dienen sollten. Diese Beobach­ tungen umfassen die zentralen Themen des Stadtdiskurses vor etwa zehn Jahren und sind streckenweise durch originelle Synthesen charakterisiert, allerdings auch durch einen etwas übertriebenen Gestus des Universellen geprägt. De Cauter spricht von mindestens drei Typen der Logik, die uns die kapsuläre Ge­ sellschaft bringt und die sich gegenseitig verstärken. „Auf der Ebene der technischen Systemlogik des Netzwerks sind es die Mobilität und Suburbanisierung, auf der Ebe­ ne der phantasmagorischen Logik sind es der Konsum und die visuelle Kultur, auf der Ebene der sozioökonomischen Logik vollzieht sich eine fatale Entwicklung, der Übergang vom Traum des Wohlfahrtsstaates zur Realität der gespaltenen Gesellschaft hin. Diese schließt die Abwehr der Migrationswellen aus der Zweiten und Dritten Welt ein, erzeugt Inseln mit Festungen, Kapseln und Heterotopien innerhalb eines sich aus­ dehnenden Territoriums, das durch Chaos, Ausschließung und Armut geprägt ist. Die kapsuläre Gesellschaft ergibt sich aus der Summe des Netzwerkraumes, des phantasti­ schen Raumes des Konsums und der Festung und stellt eine bewaffnete Enklave inmit­ ten der feindlichen Außenwelt dar, die durch den Gegensatz von Arm und Reich gespal­ ten ist. Es ist der Apparat der Kapsel, der diese scharfe Unterscheidung zwischen innen und außen möglich macht und vielleicht auch den Übergang von der disziplinären zur Kontrollgesellschaft durch die Verlagerung von der Internalisierung nach außen in oft­ mals unsichtbare Technologien markiert.“ 3 De Cauter malt hier ein apokalyptisches Szenario aus und spricht in diesem Zusammenhang auch vom drohenden Weltunter­ gang, der sich durch die Prophezeiung der kapsulären Gesellschaft ergeben könnte. Die Gesetze der Kapsularisierung (nach De Cauter) 1. Dominanz des Verhältnisses von Zentrum zur Peripherie Die Grundlinien der kapsulären Gesellschaft im Kapitalismus sind neben dem unend­ lichen Akkumulationsmotiv durch eine Dominanz des Verhältnisses von Zentrum zur Peripherie gekennzeichnet, diese Dominanz beruht auf den ungleichen Austausch­

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beziehungen zwischen Zentrum und Peripherie und kann Ursache aber auch Wirkung sein.4 Diese binäre Struktur wird für immer die Existenz eines Global Village verhin­ dern und ist die Voraussetzung des transzendentalen Kapitalismus, der aufgrund die­ ser Ungleichheit den Aufstieg jener Strukturen befördert, die das Zentrum gegen die Peripherie, das Innen gegen das Außen verteidigen. 2. Suburbanisierung In Amerika vollzieht sich seit 1930 ein Wandel durch die ständige Zunahme der Bevöl­ kerung in den suburbanen Zonen (bis 1930 hatte die Mehrheit der Bevölkerung in der Stadt gelebt); die Konsumgesellschaft wäre ohne diese Suburbanisierung nicht mög­ lich gewesen wäre. In Europa erfolgt eine etwas schwächere Suburbanisierung: die historischen Stadtzentren wurden entweder aufgegeben und zur Zone für Migranten und Mitglieder der Bohème oder sie wurden neu erfunden für Touristen und eigene Bewohner, die sich wie Touristen in der eigenen Stadt fühlen. So entstehen zwei Mo­ delle: eine Disneyfizierung des Zentrums, die mit einer Bronxifizierung der Peripherie einhergeht, und eine Implosion des Zentrums, die von einer Zersiedlung endloser Vor­ städte begleitet wird. Beides ist jeweils mit Einschließung verbunden. So kann eine Touristen­Zone, ähnlich wie ein Ghetto, zum No­Go­Areal für Stadtbewohner werden. Ergänzt wird diese Situation der historischen Stadtzentren durch deren Einbettung in das Netzwerk der Autobahnen und der Glasfiberkabel.5

Die Charakteristik des transzendentalen Kapitalismus liegt in seinem generischen Aspekt.6 Dieser Begriff wurde ursprünglich für Produkte ohne Marke verwendet, etwa für Medikamente, die nach einer gewissen Schutzfrist frei von jedem erzeugbar wa­ ren. In einer allgemeineren Hinsicht bedeutet es aber, dass jedes Produkt (vom Cola bis zum Restaurant und Gebäude) nicht individuell für sich selbst ist, sondern ein Exemplar einer corporate identity, einer Marke, einer Art. Es ist daher nichts Partiku­ lares, sondern etwas Generisches, wörtlich im Sinne der Zugehörigkeit zu einer Art (Genus). Kraft dieser Eigenschaft des fehlenden Originals, bzw. der Ununterscheid­ barkeit von Original und Kopie, ist die Generic City in der Lage, die Differenz zwi­ schen Zentrum und Peripherie aufzulösen. Michael Sorkin spricht vom „generischen Urbanismus“ und Rem Koolhaas erfindet den Begriff der generischen Stadt. Flughä­ fen sind ein gutes Beispiel dafür, ohne Identität, ohne Zentrum, ohne Geschichte, ein Umstand, den Koolhaas aber als ein die Stadt befreiendes Potential ansieht. Die zahl­ reichen Shopping­Malls mit ihren Handelsketten, die McDonaldisierung und die Hil­ ton­Kultur sind nur aktuelle Beispiele für den unaufhörlichen Aufstieg von Ketten. Die generische Stadt wird zur Stadt der Simulation, so wie etwa jede Stadt mediterran sein möchte und dies durch Projekte am Wasser realisiert. Unter Bezug auf Koolhaas behauptet De Cauter, dass in der Generic City die Menschen die Bühne des öffent­ lichen Raumes verlassen und vergleicht die Stimmung mit einer Evakuierung bei ei­ nem Feueralarm, die durch eine merkwürdig unwirkliche Ruhe gekennzeichnet ist. Dieses Verlassen der Bühne bedeutet ein Verschwinden der Stadt als Theater in der Netzwerk­Stadt mit dem damit einhergehenden Verlust an Urbanität. Theater kommt von theatron und meint, wo es etwas zu sehen gibt. Indem die Stadt ein Ort ist, wo so­ ziale und kollektive Rituale ablaufen, ist die Urbanität das Ergebnis dieses sozialen

Die Stadt als Archipel der Kapseln. Kapsel und heterotopischer Urbanismus

3. und 4. Die generische Stadt

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Dramas, das sich durch Rollenspiel und Rollenübernahme konstituiert und ein Sehen und Gesehen­Werden impliziert. Im 19. Jahrhundert wurde es durch die damals auf­ kommenden Typologien und Charaktere geprägt: der Flaneur, der Dandy, der Lum­ pensammler, die Verkäuferin, der Banker, der Offizier, die Hure usw. In der Gegen­ wart gibt es neue Typen, wie den Zeitungsverkäufer, den Punk, den Straßenmusiker, den Obdachlosen, die herumhängenden Immigrantenkinder, die Bandenmitglieder. Stadtbewohner sind immer Schauspieler und Betrachter zugleich. Nunmehr ist die­ se Theatralität der Stadt durch die zunehmende Eindimensionalität und Neotheatra­ lität des Generischen bedroht. Die Mediterranisierung der Stadt mit den zahlreichen Straßencafés ist ein Beispiel dafür, wie der ursprüngliche Export der Urbanität an die Hafenstädte mit der Einrichtung der alten Badeorte nun in die Stadt zurückkehrt und damit eine universelle Beach­Party aus der Traumwelt der Werbung einführt.7 Ähn­ liches gilt für den Städtetourismus, der die historischen Zentren in eine Art Disney­ land verwandelt. Das Generische suggeriert ein Phantasma der Gewichtslosigkeit und der Mobilität in den künstlichen Paradiesen des Konsums, wo sich die Leute eine persönliche Iden­ tität auf der Basis der Marken zusammenstellen.8 Die Fata Morgana eines universellen Tourismus, eines Warenfetischismus, der durch Lifestyle­Magazine geschult mit der ideologischen Glätte der Entlastung einhergeht und zur Spektakelgesellschaft führt, kann unmöglich die Dritte Welt einschließen. Dennoch scheint diese aufgrund der ungezügelten demographischen Entwicklung und Migration als eine Bedrohung für die westliche Welt. Die mobile Gesellschaft ist ohne allumfassende Kontrolle nicht vorstellbar. Infolge dieser Entwicklung kommt es zu einer Militarisierung des urbanen Raums. Die west­ liche Gesellschaft verliert die Homogenität ihres Territoriums aufgrund der Einwande­ rung aus der Dritten Welt und verwandelt sich auf diese Weise in einen Archipel von Befestigungen und Bollwerken. Der Verkehr verläuft als ein Übergang von kontrollier­ ten und eingeschlossenen Zonen. Die generische Stadt ist von Kontrolle, Sicherheit und Einschließung besessen, daher wird sie durch die archetypischen Elemente der Archi­ tektur wie die Mauer, die Barriere, das Tor, der Zaun und das Forts bestimmt. 5. Die Architektur der generischen Stadt ist die Kapselarchitektur

Sie kreiert ein künstliches Ambiente, das die Kommunikation mit dem Außen auf das Minimum reduziert und ihr eigenes Raum­Zeit­Milieu erzeugt, eine völlig künstliche Umgebung. Alle Verkehrsmittel werden zu realen Kapseln, darin liegt auch der Ur­ sprung der Metapher, der Zug, das Auto, das Flugzeug und die Raumkapsel. Daneben gibt es noch die virtuellen Kapseln, den Bildschirm, den Walkman, bzw. heute den MP3 ­Player, das Mobiltelefon und das Tablet. Jeder Bildschirm, erzeugt sein eigenes virtuelles oder auch nichtvirtuelles Raum­Zeit­Milieu. Mikrokapseln wie das Mobil­ telefon werden durch Makrokapseln wie eingezäunte und umschlossene Gebäude kon­ trastiert. Der Flughafen, die Shopping­Mall, der Themenpark, die Gated Community. Kapseln sind auch Simulationsmaschinen eines öffentlichen Raumes, neben dem TV könnte man das postmoderne Atrium anführen (vgl. Jameson) Die Kapsel schafft den öffentlichen Raum ab, die Kapselarchitektur ist generisch und erzeugt eine gewisse allgemeine Betäubung und Dumpfheit.9

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6. Absorption des Lebens

Nach dem Modell des Staubsaugers saugt die Kapsel jedes Leben auf.10 Wie in den Hollywood­Studios kann man alle Simulationen sehen – mit Ausnahme von wirk­ licher Armut, von Verbrechen und ungeplanter Spontaneität. Wenn Angst und Phan­ tasie künstliche Biosphären erzeugen, wird der Alltag abgeschafft. De Cauter dürf­ te sich hier an den Vorstellungen eines Alltagslebens im Sinne Lefebvres orientieren. Demzufolge liegt dann Entfremdung vor, wenn keine ausgewogene Beziehung, keine gesunde Dialektik zwischen dem Nächsten und dem Anderen hergestellt werden kann, was sich in einer übermäßigen Hinwendung zum Anderen, zur Heterotopie ausdrückt. Die Ökologie der Angst (Militarisierung) und Gewalt (Bronxifizierung) und auf der an­ deren Seite die Ökologie der Phantasie (Disneyfizierung) unterdrücken beide das All­ tagsleben, das unbewusst ist. Sobald eine gewisse „emphatische Präsenz“ aufkommt (durch Kontrolle oder Simulation) – damit dürfte ein übermäßiger emotionaler Impuls gemeint sein – verschwindet das Alltagsleben. Das erklärt die unwirkliche Atmosphä­ re der Shopping­Malls, Themenparks und Flughäfen. Disneyland bietet keine unge­ plante Spontaneität an, sondern ist auch eine Maschine der Disziplinierung wie jene des Amüsements. Die Gesten von Disney sind eine Zurschaustellung, doch jede Para­ de hat ein militärisches Paradies als Modell, der Vergnügungspark ist kontrolliert, ver­ schlossen, eine generische Zone. Militarisierung und Disneyfizierung liegen hier eng beisammen.

Die Geschichte der Stadt ist eng mit ihrer Befestigung verbunden. Erst mit der Moder­ nisierung im 19. Jahrhundert und der Stadterweiterung fielen die Stadtmauern. Die Bollwerke wurden zu Boulevards umgestaltet. Auch wenn in den letzten Jahrzehn­ ten viele Grenzen gefallen sind, insbesondere der eiserne Vorhang, kommt es nun zu einer Entwicklung neuer unsichtbarer Grenzen, die den Norden vom Süden abgren­ zen, und zur Errichtung neuer Zäune wie in Nordafrika, um die Festung Europa zu si­ chern. Eine andere Form des Zaunes verläuft in den Aufnahmelagern für illegalisierte Migranten und Asylwerber, die diese von der Außenwelt abschirmen. Das Gegenstück zur Befestigung ist das Lager, das erste als eine Maschine zur Ausschließung, das zwei­ te als eine Maschine der Abschließung. Insofern gibt es auch Ähnlichkeiten zwischen der Touristenzone und dem Ghetto, da auch die Touristenzone durch Abschließung geprägt ist.11 Die Kapsel und das Netzwerk Die Theorie der Kapsel bedarf der Ergänzung bzw. eines Komplements des Netzwerks. Diese hat Manuel Castells, nach Meinung von De Cauter, mit seiner Theorie eines Rau­ mes der Ströme geschaffen, als Voraussetzung für die Beschreibung einer Gesellschaft des Netzwerks. Dieser Raum der Ströme gilt Castells nun als die neue, dominante räumliche Struktur, wird aber in zunehmender Weise von der Logik eines Raumes der Orte abgekoppelt. Für De Cauter ist die Kapsel genau das fehlende Stück zwischen den beiden Raumstrukturen „Der Hype, der den Aufstieg der Netzwerkgesellschaft umgibt, tendiert zu einer Überbetonung des Flows, der Unschärfe, des Samplings, des Cross­ over, der Integration, der Glätte der Schwellen. Diese Faktoren sind nur ein Teil des Bil­ des, aber das Netzwerk macht die Kapsel undurchsichtig, um es so zu sagen; wir leben

Die Stadt als Archipel der Kapseln. Kapsel und heterotopischer Urbanismus

7. und 8. Befestigung

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nicht in Netzwerken, sondern in Kapseln. Sämtliche Netzwerke, das Eisenbahnnetz, das Verkehrsnetz, das Netz des Flugtransports, Telefonnetz, World Wide Web funktio­ nieren nur mit Kapseln.“12 Aus der Sicht des Netzwerks lässt sich das Konzept der Kap­ sel verfeinern oder neu definieren als Bezeichnung für alle abgesperrten und ans Netz angeschlossenen Einheiten, die in Summe das Netzwerk ausmachen. „Kein Netzwerk ohne Kapseln, je mehr Netzwerk, desto mehr Kapseln, Ergo. Der Grad der Verkapselung ist direkt proportional zum Wachstum der Netzwerke (7. Gesetz der Kapsularisierung). Alle Netzwerke brauchen Kapseln, Enklaven, Umschläge: als Knoten, als Naben, als Terminals. Der Computer ist die Kapsel für die Reise in den Cyberspace. Das Haus als eine Wohnmaschine ist eine Kapsel und funktioniert heute nur, wenn es an die ver­ schiedenen Netze angeschlossen wird. Gas, Wasser, Strom, Telefon, Kabel TV, Internet und das Straßennetz. Diese Netze bestimmen das zeitgenössische Heim, ohne dieses ist man wie ein verlorener Satellit im All. Wohnen ist nur mit diesen Netzen möglich. Aus der Perspektive des Netzwerks ist das Haus ein angeschlossener Terminal, eine Kapsel.“13 „Was ist nun eine Kapsel wirklich?“14 fragt de Cauter und wartet mit einer ganzen Reihe von neuen Räumen, die kapsulär sind, auf. Das kapsuläre Haus wird als ein Ko­ kon gesehen, die sich selbstenthaltenden Komplexe (Flughäfen, Einkaufs­Malls, All­ in­Hotels) können als Hülle bezeichnet werden, während der Begriff der Enklave für Themenparks, Einkaufsstraßen und Ghettos vorbehalten bleibt. Als Ergebnisse einer kapsulären Technik und einer dualen Gesellschaft verlangen diese Räume nach kapsu­ lärer Architektur und heterotopischem Urbanismus und erzeugen das, was Jameson als den Raum der postzivilen Gesellschaft definierte.15 Um diesen Raum völlig zu verstehen, müssen die Kontrollsysteme, die mit der Netz­ werkgesellschaft einhergehen, in das Konzept integriert werden. Es gibt kein Netz­ werk ohne Kontrolle, indem der Zugang durch Einloggen, Passwörter, Karten, Kameras, Stimmerkennungssysteme usw. gesteuert wird. Nach Deleuze könnte man von einem Übergang der Disziplinargesellschaft zu einer Kontrollgesellschaft sprechen. Diszi­ plin beruht auf Internalisierung der Kontrolle, ist also Selbstkontrolle. In der Kontroll­ gesellschaft wird die Kontrolle externalisiert, an ausgeklügelte Maschinen, wie Ver­ schlüsselungsmaschinen übergeben, an Geräte, die Passwörter erfordern, an Kameras, Banksysteme, urbane und architektonische Technologien, Sicherheitssysteme usw. delegiert. Die Kapsel hat demnach auch die Eigenschaft eines idealen Kontrollinstru­ ments, sie entspricht einer kontrollierten Umwelt und bereitet die ideale räumliche Konfiguration der Kontrollgesellschaft vor. Je mehr Kontrolle externalisiert wird, des­ to größer wird die Verkapselung unserer Umgebung (8. Gesetz der Kapsularisierung).

1 Lieven de Cauter, The Capsular Civilization, nai010 Publishers, Rotterdam 2004 , S. 77. 2 Vgl. Manfred Russo, „Geschichte der Urbanität. Postmoderne 6“, in: déri­ ve, Heft 52 (2013). 3 De Cauter (wie Anm. 1), S. 87. 4 De Cauter (wie Anm. 1), S. 42. 5 De Cauter (wie Anm. 1), S. 43.

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6 Ebd. 7 De Cauter (wie Anm. 1), S. 31. 8 De Cauter (wie Anm. 1), S. 44 . 9 De Cauter (wie Anm. 1), S. 45. 10 De Cauter (wie Anm. 1), S. 46 . 11 De Cauter (wie Anm. 1), S. 47. 12 De Cauter (wie Anm. 1), S. 85. 13 De Cauter (wie Anm. 1), S. 86. 14 Ebd. 15 Ebd.

Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung? Kapsel, Heterotopie und Privatisierung des öffentlichen Raumes Für den Urbanisten Lieven de Cauter 1 gilt die Kapsel als das architektonische Mo­ dell unseres Lebens, ursprünglich als Vehikel für Transportsysteme entwickelt sowie in weiterer Folge auch in gated communities, Einkaufsmalls und anderen Enklaven und Ghettos als Grundmodell angewandt. Die beunruhigende Konsequenz sieht er in der Verwandlung des öffentlichen Raumes in einen heterotopischen Raum, weil hier eine Verkapselung größeren Maßstabes erfolgt. Zweifellos ist diese These durch Fre­ deric Jamesons Rede vom urbanen Raum, der in zunehmendem Ausmaß eingepackt und verhüllt wird, inspiriert und beruht auf dessen Behauptung, die er anhand seiner Analyse des postmodernen Raumes im berühmten Bonaventura Hotel in Los Angeles exemplifiziert hatte. Demzufolge wurde der Innenraum des Hotels durch Abschlie­ ßung in den totalen Raum einer autonomen Welt verwandelt, was als ein Vorgang von größter urbanistischer Bedeutung einzuschätzen war, weil dieses Hotel nun nicht mehr als Teil der Stadt, sondern als ihr Ersatz aufgefasst werden wollte.2 Hier verbin­ det sich das Prinzip der Privatisierung durch Abschließung vom umgebenden Raum mit dem der Kapsel, deren zentrale Eigenschaft in ihrer Disposition zur Heterotopie besteht, die aufgrund ihres Doppelcharakters – einer Neigung zur Illusion als auch zur Kompensation – kritisch zu betrachten ist. Die Heterotopie galt von ihrer Logik und Tradition immer als ein Raum der Ausnahme (auch bei Foucault), als ein verblie­ bener Raum, der der Kontinuität des normalen Alltagsraumes gegenübersteht. De Cau­ ter behauptet, dass sie durch die zunehmende Privatisierung des urbanen Raumes im Zuge der Stadtproduktion aber zum Regelfall wird und den öffentlichen Raum zum Restraum macht, zu einem Zwischenraum, der im Netzwerk der heterotopischen und kapsulären Knoten übrig bleibt.3 Daraus lässt sich seiner Meinung nach im urbanisti­ schen Diskurs aufgrund des wachsenden Übergewichtes der Heterotopie ein Verlust der Öffentlichkeit aufgrund der gegenseitigen Ausschließung des öffentlichen Raumes und der Heterotopie ableiten. De Cauter führt zahlreiche Phänomene an: 4 Die Disneyfizierung des Zentrums und die Bronxifizierung der Peripherie sowie eine Implosion des Zentrums, die von einer Zersiedlung durch endlose Vorstädte begleitet wird. Als Schlüssel dieser Hypothesen dient der Begriff der generischen Stadt, der von Michael Sorkin und Rem Koolhaas geprägt wurde. Die zahlreichen Shopping­Malls mit ihren Handelsketten, die McDonal­ disierung und die Hilton­Kultur sind hiefür Beleg. Flughäfen dienen als Beispiel für Bauten ohne Identität, ohne Zentrum, ohne Geschichte. Die generische Stadt wird zur Stadt der Simulation, im Sinne der Marke, in der der Unterschied zwischen Original und Kopie aufgehoben ist. Mit Bezug auf Koolhaas wird die Behauptung aufgestellt, dass in der Generic City die Menschen die Bühne des öffentlichen Raumes verlassen und in der Netzwerk­Stadt verschwinden. Damit geht ein Verlust an Urbanität ein­ her. Durch den Niedergang des öffentlichen Raumes weicht die Stadt als Ort der so­ zialen und kollektiven Rituale was zur Preisgabe der Theatralität zugunsten einer zu­ 423

nehmenden Eindimensionalität und Neotheatralität des Generischen im Rahmen der Spektakelgesellschaft, praktiziert durch Warenfetischismus und Massentourismus, führt. De Cauters Kritik an der urbanistischen Heterotopie der kapsulären Gesellschaft bleibt allerdings ohne weitere Begründung eines tieferen Zusammenhanges der He­ terotopie und der Anziehungskraft des Anderen. Hingegen scheint das empirische Fak­ tum einer Zunahme des kapsulären Raumes unbestritten, auch deren gezielt heteroto­ pische Intention und Gestaltung. So könnte man die Kritik dahingehend formulieren, dass die Heterotopie einen urbanen Illusionsraum schafft, der den öffentlichen Raum mittels Kapsel in einen privaten Raum verwandelt, der die Behandlung öffentlicher Be­ lange ausschließt. Weniger klar ist die Frage, ob die Heterotopie zwangsläufig zu Las­ ten des öffentlichen Raumes und der Urbanität gehen muss. Wir fragen uns: Warum aber ist sie derart anziehend, dass sie zum Grundmuster der postmodernen urbanen Gestaltung wird? Attraktion und Repulsion durch die heterotopische Stadt Bei genauerer Betrachtung müsste man die von Foucault beschriebenen Heterotopien 5 in Hinblick auf die unterschiedliche Position des Anderen und die evozierte Reaktion zunächst in zwei Gruppen trennen. Dieses Andere der Heterotopie ist in seiner Wir­ kungsweise grundsätzlich nicht vorhersehbar, ebensowenig ist es die der entsprechen­ den Räume. Es lässt sich aber eine psychologische und soziologische Grunddifferenz zwischen Anziehung und Abstoßung in den ausgelösten Handlungen und Präferenzen feststellen. Zum einen ist jener Typus von Narzissten feststellbar, dessen grenzenloses Ich sich durch die Attraktion von Objekten – also Dingen im Draußen – tendenziell ins Unendliche ausdehnen möchte, weil er sich von diesem Anderen angezogen fühlt. Zum anderen jener Typus, der durch die Angst vor dem Anderen, das er nicht sein möchte, mit Repulsion, also Abstoßung des Objekts, reagiert.6 Diese primäre Distinktion des narzisstischen Individuums in der Beziehung zur Heterotopie liegt also in ihrer Ten­ denz zur Anziehung oder Abstoßung, die nicht generalisierbar ist. Soziologisch könnte man natürlich feststellen, dass etwa die Krisenheterotopien (erster Grundsatz bei Fou­ cault), jene privilegierten, geheiligten oder verbotenen Orte für Individuen, die sich in der Gesellschaft in einer Krise befinden und die heute durch die Abweichungshetero­ topien für deviante Erwachsene, Erholungsheime, psychiatrische Kliniken, Gefängnis­ se, auch Altersheime ersetzt wurden, eher einen Repulsionseffekt zeitigen. Aber es gibt natürlich auch Individuen, die sich davon angezogen fühlen. Auf der Seite der Anziehung müsste man in erster Linie den dritten Grundsatz Fou­ caults ins Treffen führen, der besagt, dass eine Heterotopie an einem Ort mehrere an sich unvereinbare Räume zusammenlegen kann. Als Beispiele werden das Theater oder das Kino erwähnt, die auf der Bühne bzw. Leinwand eine Reihe von einander fremden Orten zeigen können. Auch der Garten war ein echter Mikrokosmos, der Teppich mit seinen Ornamenten eine Art mobiler Garten im Raum. Heute ist diese Versammlung von an sich unvereinbaren Räumen (wie Foucault sagt), also Räumen, die real nicht zusammen existieren können, ein heterotopischer Grundtypus der modernen Stadt­ architektur. Der narzisstische und auch grenzenlose Bedarf am Anderen in der Form einer Kombination ursprünglich real so nicht zusammen existierender Räume, die­ ser zeigt sich insbesondere in der stetig steigenden Menge an Shopping­Malls, Enter­ 424

tainment­Centern, Erlebniswelten oder Wellnesszentren. In diesem Zusammenhang ließe sich auch die Genese der Treibhäuser im 19. Jahrhundert – aufgrund des bota­ nischen Interesses ihrer Erbauer für exotische Pflanzen – bis hin zu den atmosphä­ rischen Inseln der Biosphären­Projekte als Herstellung einer Heterotopie interpretie­ ren, wo fremde Landschaften und Pflanzenwelten unter künstlichen Bedingungen als „Kapsel Delirium“ angelegt werden.7 Der architektonische Typus der Shopping Mall

in Glashäusern war die botanische Heterotopie des vermögenden Adels auf den Spu­ ren des Orientalismus. In der Kunstgeschichte gilt der Kristallpalast Joseph Paxtons als Ikone und Gründungsbauwerk der Moderne, der zwar nur aufgrund der Technolo­ gie der Pflanzen­Glashäuser entwickelt werden konnte, nun aber der Ausstellung der Waren der Weltausstellung dienen sollte. Paxton hatte auch den nicht verwirklichten Entwurf eines Great Victorian Way vorgelegt, der eine 16 Kilometer lange Glasgalerie durch London vorsah.8 Anhand des Glashauses lässt sich in der Architekturgeschichte die überragende Bedeutung des Neuen Bauens aufgrund der industriellen Fertigungs­ weise, der Konstruktion und der Transparenz ablesen, die die Voraussetzung für den späteren Kult des Funktionalismus schufen. Dass nun diesem Bautyp, dessen Genese der Heterotopie auf der Suche nach der Exotik ferner Länder in Pflanzengestalt beruhte, eine Schlüsselrolle in der Geschichte der modernen Architektur zukommt, zeigt des­ sen heterotopische Wurzeln, die durch radikale Umdeutung in einen übersteigerten Rationalismus integriert wurden. Auch das Neue Bauen ist immer ein Bauen, das in der Natur, oder zumindest mit grünem Hintergrund, geplant wird und offensichtlich das Andere in Gestalt der Natur sucht. Natürlich ist auch das Passagen­Werk von Walter Benjamin eine verschleierte und fragmentierte Theorie der Heterotopie, auch wenn er diesen Begriff nicht verwendet. Ein Schlüsselbegriff hingegen ist ihm die Allegorie, die in ihrem Namen das Andere ebenso führt (allos und agoreuo, anderes öffentlich aussprechen) und die er in Position gegen die Dominanz der Geschichtsphilosophie bringen wollte, weil deren Klassifika­ tion von Bedeutung zu sehr einer vermeintlichen Fortschrittsidee folgte. Das surrea­ listisch inspirierte Passagen­Werk ist eine Suche nach dem Anderen der Vernunft in Paris, folgt seinen Spuren, Zeichen und deren Verwandlung in der Zeit. Die Passage ist eine rite de passage, ein Chronotopos, eine Schwelle zum Anderen der Stadt hin, mit der Benjamin eine damals avantgardistische Sichtweise urbaner Phänomene eröffnete, die heute zum Standard der Kunst­ und Architekturpraxis zählt. Auch der vierte Grundsatz Foucaults, der auf die Verbindung der Heterotopie mit der Heterochronie hinweist, und besagt, dass die anderen Orte ihr volles Funktionie­ ren erst erreichen, wenn die Menschen mit der herkömmlichen Zeit brechen, hat volle Gültigkeit im Sinne der Attraktion. Sie wird insbesondere durch die Verknüpfung der Heterotopie mit dem Flüchtigen und Transitorischen, wie sie in der Weise des Festes gegeben ist, ergänzt und bei Foucault durch die Festwiesen und die Feriendörfer ver­ körpert. Die Unterhaltungsmöglichkeiten dieser Spezies der Heterotopie sind heute im Massentourismus und der Disneyfizierung verwirklicht. Allerdings gibt es auch He­ terochronien, die zwar mit der herkömmlichen Zeit brechen, sich aber nicht im Fest

Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung?

geht bekanntlich über Joseph Paxtons Kristallpalast auf das Treibhaus mit dem hetero­ topischen Interesse der englischen Aristokratie zurück, die in ihren Treibhäusern exo­ tische Pflanzen zogen und sich dabei in der Tradition der europäischen Orangerien des 17. und 18. Jahrhunderts bewegten. Diese Versammlung von Palmen und Orchideen

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äußern, sondern die Zeit in Museen und Bibliotheken akkumulieren, die wohl nur ei­ nem geringeren Publikum als das passende Andere erscheint. Heterotopie. Das Andere aus dem Ursprung des Narzissmus Grundsätzlich ist die Heterotopie am ehesten durch ihre Wirkung auf den narziss­ tischen Charakter zu beurteilen, der nach Meinung vieler Denker, wenngleich mit unterschiedlichen Argumenten, überhaupt dem Charakter des modernen westlichen Menschen entspricht. Die uns interessierende Grundfrage richtet sich hier auf die Attraktivität des Anderen: Wieso spüren in der aktuellen westlichen kapitalistischen Kultur so viele Menschen eine derart große innere Polarität, die sie auf die Suche nach dem Anderen treibt, also genau dem, was sie selbst nicht sind? Die Freud’sche Theorie des Narzissmus geht von einer in der Kindheit omnipoten­ ten Selbstliebe aus, die man immer wieder aufs Neue in Form von Ich­Idealisierungen gewinnen möchte. Es ist eine Form der libidinösen Besetzung, die das Ich sich selbst entgegenbringt. Lacan folgt dieser Theorie und der dem Ich verhafteten Libido und ihren Problemen. Entscheidend ist hier seine Metapher des Spiegelstadiums, in dem bereits das kleine Kind ein imaginäres Bild von seinem Körper erhält, obwohl seine eigene körperliche Existenz noch sehr mangelhaft und auf die Hilfe von außen angewiesen ist. Dieses imaginäre Bild des Körpers bildet nun ein frühes Ich­Ideal, weil es nämlich dem realen Körper, der noch fragmentiert ist, weit voraus ist. In diesem Ich­Ideal setzt das Kind durch das Spiegel­Imago ein Bild das Dauerhaftigkeit, Präsenz und Omnipotenz, das in der körperlichen Realität noch gar nicht existiert, es imaginiert Stärken und Beweg­ lichkeit, die dem Körper fehlen. „Diese Form könnte man als Ich­Ideal bezeichnen und sie so in ein bereits bekann­ tes Begriffsregister zurückholen; […] Aber von besonderer Wichtigkeit ist gerade, dass diese Form vor jeder gesellschaftlichen Determinierung die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert, die das Individuum allein nie mehr auslöschen kann, oder vielmehr: die nur asymptotisch das Werden des Subjektes erreichen wird, wie erfolg­ reich immer die dialektischen Synthesen verlaufen mögen, durch die es, als Ich (je) sei­ ne Nichtübereinstimmung mit der eigenen Realität überwinden muss.“ 9 Die ursprüngliche Situation wird bei Freud als autoerotisch beschrieben, wo die Partialtriebe unabhängig voneinander nach Befriedigung streben, im Stadium des Narzissmus fließt jedoch dem eigenen Ich als Prinzip der Einheit die Libido zu und ge­ staltet es als Objekt der Liebe. Lacan setzt hier ein und differenziert den Begriff des Ich, indem er „die Instanz des Ich (moi) auf einer fiktiven Linie situiert“.10 „Als solches aber ist das Ich weniger der Funktion des Sich­Erkennens als der eines fundamentalen Ver­ kennens verhaftet. Denn das Ich der Spiegelerfahrung generiert sich auf imaginärer Basis, wie sie jeder Selbstreflexion eignet. Die triumphale Setzung des Ideal­Ich erweist sich als das Gegenteil der zu diesem Zeitpunkt noch völlig mangelhaften körperlichen Befindlichkeit.“ Diese antizipierte Einheit zwischen dem realen und imaginierten Kör­ per ruft ein spannungsgeladenes Drama hervor, das ein unbefriedigtes Begehren er­ zeugt, weil es auf ein Ideal­Ich bezogen ist, das es so nicht gibt. Nun kommt es zur Ambivalenz des Verkennens (méconnaître) und Sich­Kennens (me connaître), denn das Subjekt kann in der Rückschau nur jenes Bild vergewissern, das es im Moment des Gegenüberstehens hat: das es sich von sich selber macht in seinem Spiegel. 426

Im Mythos des Narziss, wie von Ovid beschrieben, ist diese Problematik vorge­ zeichnet. Beim Trinken aus einer noch unentdeckten Quelle sieht Narziss im Wasser sein Spiegelbild eines schönen Jünglings und verfällt in Liebe. Er möchte mit dem Bild eins sein als „Liebender und Geliebter“ und kommt schließlich darauf, dass die Lie­ be zu dieser Spiegelung ihm selbst gilt. In dieser Faszination verliert er sich aufs neue, denn er sieht sich da, wo er nicht ist. „Was ich begehre ist mein.“

Doch was mein ist, zeigt sich als das Andere und das Andere als Alter Ego. Das was Identität bringen soll, zeigt sich als unerreichbar. Diese instabile Beziehung ruft Fas­ zination und Aggression hervor. Die Imagination des anderen führt zur Rivalität mit sich, weil man nicht der Andere sein kann. Eine Erlösung erscheint nur durch die Ver­ nichtung des Einen, nämlich sich selbst möglich, auch wenn man weiß, dass dies den Tod auch des Anderen bedeutet. Hegel greift dieses Thema des Anderen in seiner Phänomenologie des Geistes auf. Das menschliche Selbstbewusstsein hat „gedoppelte Bedeutung“. Die Dialektik be­ steht darin, dass es sich zunächst verliert, sich dann als anderes Wesen findet, dann aber damit das Andere aufgehoben hat, da es das Andere nicht als Wesen sieht „son­ dern sich selbst im Anderen“. Die Beziehung des Selbstbewusstseins zu einem ande­ ren Selbstbewusstsein wird durch die Begierde nach Anerkennung, die aber nicht be­ friedigt wird, charakterisiert. Die Begierde des Einen richtet sich auf die Begierde des Anderen in dem Sinne, dass man das Begehren des Anderen auf sich gerichtet haben möchte. Es ist sozusagen das Begehren des Begehrens. Die Dialektik der Herr­Knecht Beziehung spielt hier eine wesentliche Rolle. Lacan war eifriger Hörer des berühmten französischen Hegel­Interpreten Alexandre Kojève und arbeitete diese Elemente in sei­ ne Theorie ein. Das Ich­Ideal übernimmt in der Spiegeltheorie die Rolle des Herrschers, obwohl es nur im Spiegel erscheint und Ergebnis einer Repräsentation ist. Das Subjekt wähnt sich als Knecht, weil es im Ideal­Ich seine Einheit zu finden glaubt, auch wenn es vom ihm beherrscht wird. „Das Sich­selbst­Hervorbringen des Ich trägt den Charakter des Imaginären und ist insofern narzisstischer Art, als es der Illusion des Eins­sein­Wollens mit sich selbst als einem anderen unterliegt. Das ,moi‘ ist der Ort imaginären Erkennens, das zugleich Verkennen ist, Bewegung eines Erschließens, das in spiegelbildlicher Geschlossenheit bleibt, Verbürgung und Täuschung. Es antizipiert das Bild seiner Autonomie, um gleich­

Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung?

Ich bin, merk’ ich, es selbst. Nicht täuscht mich länger mein Abbild. Liebe verzehrt mich zu mir; ich errege und leide die Flamme. Was tun? Soll ich flehn? Mich anflehen lassen? Um was dann? Was ich begehre, ist mein. Zum Darbenden macht mich der Reichtum. Dass ich vom eigenen Leib mich doch zu trennen vermöchte! Was kein Liebender wünscht, ich wünsche mir fern, was ich liebe.11

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zeitig an der Differenz von fiktiv­imaginärer Einheit und faktischer Abhängigkeit eine Entfremdung zu erfahren. Ovids ,Narziss‘ und Hegels ,Dialektik des Selbstbewusst­ seins‘ zeigen die prinzipielle Unmöglichkeit der Spiegelung des Ich im anderen.“12 Der Spiegel ist mehr als ein Instrument, er steht „als Modell für die Deskription einer imaginären Intersubjektivität. Er verdeutlicht den narzisstischen Charakter menschlicher Selbstfindung, insofern diese der Illusion des Eins­sein­Wollens mit sich selbst als einem anderen unterliegt.“13 Foucaults Aufsatz über die Heterotopien mit seinem nachträglich eingefügten Spie­ gelbeispiel bezieht sich nicht ausdrücklich auf den Narzissmus, wenngleich sein Den­ ken einer „Archäologie neuzeitlicher Vernunft aus der Perspektive ihres Anderen“, bei dem von der Vernunft zum Schweigen verurteilten Wahnsinns ansetzt.14 Das Grund­ motiv liegt für ihn in der Tradition Nietzsches, der die Tragödie der abendländischen Kultur in der Trennung des Dionysischen vom Apollinischen und der Umwandlung zu einem lebensfeindlichen Sokratismus oder Intellektualismus begründet sah.15 Fou­ cault geht es um das Andere der Vernunft. Er schreibt immer aus der Position des An­ deren, wie in Wahnsinn und Gesellschaft aus der Perspektive der Ausgeschlossenen, der Anderen. Seine Homosexualität machte ihn für diese Andersheit sensibel und stellte für ihn das Andere in den Vordergrund im Gegensatz zur Normalität. Foucault war nicht mehr auf der Suche nach dem Anderen, sondern befand sich bereits in der Hete­ rotopie. Wir erinnern an sein Gleichnis des Spiegels: Von diesem real unwirklichen, aber in der Einbildung wirklichen Ort blicke ich auf mich selbst, der vor dem Spiegel steht, zurück und sehe mich selbst, als wäre ich ein anderer. Nur aus dieser Position heraus kann ich mich für einen Moment objektivieren, weil ich mich als das Andere sehe. Es geht also um jene Momente, die mir einen Blick auf mich aus der Position des Anderen ermöglichen, ich damit mein Anderes sehe und die nach Foucault nur aus der Position der Heterotopie gelingen können. Daher vereinen diese Orte Wirkliches und Unwirk­ liches, denn es handelt sich um jene Räume, von wo aus ich einen Blick auf mich er­ langen kann. Der Narzissmus macht es dann möglich, dass ich glaube, ich kann mich mit dem Anderen, dem idealisierten Bild meiner selbst vereinigen. Auch wenn dies un­ möglich ist, so suche ich ständig diese Räume auf, in der Hoffnung mein Ideal­Ich zu treffen, mein armseliges Ich aufzugeben und mich vom Ideal übernehmen zu lassen. Die Anerkennung, die ich im richtigen Leben nicht erhalte, wird mir in dieser imaginä­ ren Welt zuteil. Der harte Kampf um Anerkennung, wie er von Hegel im Herr­Knecht­ Konflikt beschrieben wurde und der den meisten nur ein unglückliches Bewusstsein beschert, wird hier vergessen. Auf diesem Erfolgsrezept basiert das Prinzip der kapita­ listischen Heterotopie der Waren­ und Erlebniswelt. Wir kommen nun zur Kritik De Cauters zurück, der zufolge die Heterotopie einen Illusionsraum bildet, der den öffentlichen Raum mittels Kapsel in einen privaten Raum verwandelt, was die Behandlung öffentlicher Belange ausschließt. Diese von der He­ terotopie geleistete Illusion beruht auf der Übernahme eines imaginären Anderen, das zu einer ständigen Herausforderung und Vergleichung durch das narzisstische Ich er­ folgt. Es ist keine gute Voraussetzung für die Herausbildung einer Zivilgesellschaft, wenn sich deren Individuen das Andere in der Warenwelt durch Dinge und Erlebnisse suchen, um ihre Persönlichkeit darin spiegeln. Aber vielleicht wird durch den Dualis­ mus von öffentlichem und privatem Raum eine Einschränkung auferlegt, weil sie zwei 428

Tertium non datur: Hannah Arendts Dualismus von öffentlichem und privatem Raum Arendt ist die große Verfechterin des Öffentlichen und damit auch Kritikerin des Priva­ ten.16 Als Grundidee gilt ihr, dass die Welt im griechischen Sinne der Antike und Hei­ deggers Lehre nach der Möglichkeit der Erscheinung konstituiert wird. Während der Haushalt als die Sphäre des Verborgenen und des Privaten gilt, ist die Agora der Raum der Erscheinung und der Öffentlichkeit, mithin des Unverborgenen, des vor aller Au­ gen Sichtbaren. Innerhalb dieses Gesamtraumes zwischen den beiden Polen des Offe­ nen und des Verborgenen entwickelt sie die drei Formen der Vita activa, nämlich Ar­ beit, Herstellen und Handeln. Arbeit und Herstellen laufen in der Privatsphäre ab, weil sie in Isolation von den anderen durchgeführt werden können, während nur das Han­ deln, das auf die Gegenwart der anderen angewiesen ist, der Öffentlichkeit vorbehal­ ten ist. Die griechische Trennung zwischen oikos und polis, die jener zwischen Privat­ sphäre und Öffentlichkeit entspricht, wird von Arendt übernommen. Der Haushalt gilt als Sphäre der Notwendigkeit, weil materielle Bedürfnisse durch Arbeit und Herstellen befriedigt werden müssen, während die Polis als der Raum der Freiheit besteht, weil darin Gleichheit herrscht und die Bürger mit dem Blick auf das Hervorragende, Über­ durchschnittliche und die Überbietung der anderen handeln, mit dem Ziel durch glor­ reiche Taten und erinnerungswürdige Worte die Unsterblichkeit zu erlangen. Arbeit rangiert unten, weil sie den Notwendigkeiten des Lebens geschuldet ist, der reinen Reproduktion des Lebens dient, ein Bereich, der bei den Griechen zu den rein privaten Angelegenheiten wie Geburt und Tod zählt, um ungesehen und geschützt zu sein. Han­ deln hingegen zählt zum anderen Pol der Erscheinung, zur Öffentlichkeit, es bestimmt die Form des wirklichen Lebens in der Polis und ist die höchstmögliche Form der Vita activa. Ein wichtiges Moment besteht in der Pluralität der Menschen im politischen Raum (polis), denn diese dient zum Diskurs über das gute Leben und die Freiheit. Her­ stellen als die mittlere Kategorie liegt zwischen den beiden Polen, indem es öffentliche und private Aspekte umfasst. Einerseits trägt es zur Herstellung der Welt in andauern­ den Formen bei, der Charakter des Werks ist durch seine Dauerhaftigkeit gegeben und kann durch diese Spuren die Zeitlichkeit ausdehnen. Herstellen ist andrerseits auch auf die Notwendigkeit der Technik und der materiellen Umstände angewiesen, womit der Moment der Freiheit wieder eingeschränkt wird. Herstellen mit seinem Resultat ei­ nes Werkes kann zwar der rein reproduktiven und nicht den Status eines dauerhaften Werkes erreichenden Arbeit überlegen sein, weil es zum ökonomischen Gelingen das Werk in der Öffentlichkeit ausstellen und präsentieren muss. Indirekt wird dadurch der Markt aufgewertet, weil er durch die Vermittlung beider Sphären transaktionale Qualitäten erlangen kann. Die Kontrastierung des öffentlichen Raums mit dem privaten Raum im Sinne der Ökonomie bedeutet nach Arendt, dass die Sphäre der Arbeit und des Herstellens dem Privaten zugeordnet sind, erst das politische Handeln in der Öffentlichkeit ist vom pri­ vaten Interesse befreit. Daraus kann leicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass ökonomisches Handeln aufgrund des privaten Interesses und der Vernachlässigung

Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung?

einander ausschließende Sphären bezeichnet, die möglicherweise auch anders gestal­ tet sein könnten. Wir versuchen zunächst eine kurze Darstellung von Hannah Arendts Theorie, die in ihrer Wirkmächtigkeit zu dieser Frage an vorderste Stelle zu reihen ist.

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des Öffentlichen als höchstes Gut immer Gegenstand der leichten Verachtung sein kann, eine Einstellung, die sich in modifizierter Form auch im Christentum im Sin­ ne der platonischen Präferenz der Vita contemplativa fortgesetzt hat. Schließlich gilt auch bei Arendt im Sinne der Tradition das Handeln als die höchste Form der Vita activa, trotz der Einnahme eines Ranges unterhalb der Vita contemplativa, der zufol­ ge die reine Anschauung aufgrund der Position völliger Ruhe als die höchste Form der Existenz gilt. Der beschriebene Zusammenhang von öffentlichem und privatem Raum, insbe­ sondere der Verdacht der Privatisierung durch die wachsende Verkapselung, kann auch zu einem unproduktiven Dualismus führen, weil er eine vermeintliche Entropie des öffentlichen, urbanen Raumes heraufbeschwört und damit einem ungerechtfer­ tigten Alarmismus Vorschub leistet. Daher sollen unter Bezug auf die Antike einige ur­ bane Raummodelle vorgestellt werden, die diesem Dualismus öffentlich­privat nicht unterliegen, weil sie im Vorhinein ein mehrwertiges Schema entwickelten. Dabei ist insbesondere die Fivesquare City von Robert Jan van Pelt zu erwähnen,17 die Theorie eines fünfteiligen Raumes, die der dreiteiligen Form des Hippodamus von Milet ent­ spricht. In der Fivesquare City wird das Emporion eingeführt, ein fünfter Raum, der ökonomisch ist, aber die Lebensgrundlage der anderen Räume bildet und damit den Dualismus zwischen öffentlich und privat überbrückt. Dabei inspirierten van Pelt die ökonomischen Studien des Cambridger Historikers Moses Finley zu den Städten der Antike. Aufhebung des Dualismus. Die Vermittlung von privater und öffentlicher Sphäre bei Hippodamus. Der quincunx Die Idee der frühen Städte beruhte auf der einfachen Kreuzung zweier Straßen (cardo und decumanus bei den Römern), die ein Rechteck in vier Teile aufteilen und die Fi­ gur des quincunx bilden, die der Fünf des Würfels entspricht. Dieses Quadrat wurde durch Schutzmauern abgesichert, die die Stadt vom übrigen Raum, dem Land, abtrenn­ ten und jenen, die Einlass begehrten, die Macht und Stärke der Einwohner, der Herr­ scher und ihrer Götter demonstrierten.18 Die Formen der Stadt waren unterschiedlich, manche hatten nur ein Tor, andere wieder viele, in manchen Städten befand sich der Tempel im Zentrum, in anderen Städten wiederum an der Stadtmauer, manche Städ­ te waren rund, andere oval, manche waren unregelmäßig, andere wieder rechteckig. Aber alle konnten symbolisch durch das doppelt geteilte Quadrat repräsentiert werden. Wer sich den Toren der Stadt in gebührend respektvoller Form näherte, ging quasi auf das Zentrum einer Welt zu, das in der Form einer miniaturhaften Abbildung des Kos­ mos in quadratischer Form angelegt war, die vier Himmelsrichtungen wie der Kom­ pass durch Punkte betonte und einen fünften Punkt im Zentrum aufwies, einen Altar oder Turm, wo die Vereinigung von Himmel und Erde, Mensch und Gott rituell voll­ zogen wurde. Dieses Bild von Himmel und Erde wurde als quincunx bezeichnet. Die durch den Mittelpunkt gehende senkrechte Achse bildete das Zentrum jenes Raumes, der den Unsterblichen gewidmet und für die Sterblichen verboten war. Es wurde als templum bezeichnet und war ein Ausschnitt des Kosmos, der als Bezirk der Götter galt. Von besonderem Interesse ist nun die Verlagerung in der Interpretation dieses Dia­ gramms eines quincunx bzw. fivesquare in der Achsenzeit.19 Durch die Verwandlung des Mythos in den Diskurs setzte ein kritischer Blick auf die Idee des Zentrums und 430

dessen kosmologische Assoziationen und Verankerungen ein. Insbesondere in der jüdischen Tradition bei Jeremias findet man schon früh die Kritik am Tempel und der Sakralisierung dieses Ortes, bis dieser jede Präsenz im physischen Raum der Stadt ver­ loren hatte. Die Vision des messianischen Jerusalem ist ein Quadrat ohne jedes Heilig­ tum. Damit wurde das Zentrum der Stadt als eine Achse des Kosmos, das den Sterb­ lichen nicht zugänglich ist, irrelevant. Allerdings erlangte das symbolische Bild der Stadt eine neue Bedeutung. „Der quincunx wurde nun ein sprichwörtlich fünfteiliger Platz, der vier kleinere enthielt und ein fünfter erschien nun wirklich und umrahm­ te die anderen vier. In dieser neuen Ordnung nahm nun die Peripherie den Raum des Zentrums ein, der Horizont ersetzte die Vorstellung des Ortes, ein Gefühl der Bestim­ mung triumphierte über die unheilverkündende Vorahnung des Schicksals, die Idee eines Reiches überragte den Palast und ein Wissen um die Geschichte riss sich von

Das Emporion. Eine Rehabilitierung des ökonomischen Raumes In der Achsenzeit veränderte sich die Sicht der Stadtgrenze von der Abtrennung hin zu einem Brückenschlag zum Land außerhalb der Stadt und man begann das Land un­ ter Kontrolle zu bringen. Die zentripetale Bewegung zur Stadtmitte wurde durch eine Dialektik zwischen Zentrum und Peripherie abgelöst, die der Realität der Beziehun­ gen zwischen Stadt und Land entsprach.21 Zum einen bestand ein klarer Bedarf nach Nahrung und Lebensmitteln, der nur durch Austausch gesichert werden konnte. So­ lons Vereinigung der Bewohner Attikas und Athens war die Voraussetzung für die be­ rühmte Vermischung der verschiedenen Stämme, der Trittyes, innerhalb der Stadt. Ein Teil der Bürgerschaft bestand immer aus Bauern, die ihre Felder außerhalb der Stadt bebauten, die aber auch am öffentlichen Leben der Stadt teilnahmen. In Athen wurde der Piraeus, mit seiner gitterartigen Struktur und durch die berühmten langen Mau­ ern, die ihn mit Athen verbanden und vor der Achsenzeit die Stadt abgegrenzt hatten, nun zum Geschäftsdistrikt. Das Zentrum befand sich im Emporion, der Wirtschafts­ zone, die sich am Hafen entlangzog und vom Rest des Piraeus durch Grenzsteine abge­ setzt war. Innerhalb dieser Eingrenzung wurden alle Güter, die von Schiffen entladen wurden, gelagert, besteuert, ausgestellt und verkauft. Innerhalb des Emporions waren Bürger und Fremde, Griechen und Nicht­Griechen gleich. Das Gesetz des Emporions ge­ horchte der Regel des Geldes.22

Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung?

der Umklammerung durch die Natur los“ 20 Nachdem sich die zentripetale Betonung in eine zentrifugale Angelegenheit verwandelt hatte, wurde die alte kosmologische Achse, wo Himmel, Erde und Unterwelt innerhalb eines Heiligtums, das von Priestern und Königen kontrolliert wurde, aufeinander trafen, nun für alle zugänglich. Wer in­ nerhalb der Stadt wohnte, durfte eine Hoffnung darauf haben, die Unsterblichkeit mit den Göttern zu teilen, wer außerhalb wohnte, war noch auf die Zyklen von Geburt und Tod angewiesen. Innerhalb der Mauern gab es die Versprechung auf eine Bestimmung und die Erfahrung von Geschichte, außerhalb herrschten nur Schicksal und die Zyklen der Zeit. Innen gehorchte man dem Gesetz, außen reagierte man nur auf das Glück. Die notwendige Voraussetzung ergab sich durch die Umformatierung des Stadtraumes in einen quincunx, der die sakrale Macht des Zentrums auf die Quadranten umverteilte, die nun auch untereinander neue Verbindungen eingehen konnten. Damit wurde der Dualismus von sakral und profan durch ein komplexeres System abgelöst, das eine Durchmischung von beiden Motiven ermöglichte.

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Hinter der symbolischen Form stand auch eine neue Strategie aus den Zeiten des Peloponnesischen Krieges, die zu einem Aufbruch der urbanen Form führte. Solange die athenische Flotte die See beherrschte, konnte die Stadt überleben. Daher schien es logisch, die Bevölkerung in diese athenisch­piraeische Zitadelle zurückzuziehen, weil sie in den Worten des Themistokles außerordentlich gut auch von wenigen Truppen schlechter Qualität verteidigt werden konnte, während der Rest in der Marine dienen durfte. „Das Emporion konstituiert den ersten architektonischen Typus. Ohne dieses kann keine Stadt, kann keine Politik, kann keine Zivilisation und kann keine Geschichte existieren. Das Geschäft, der Marktstand, die Verkaufsbude, der Zeitungskiosk, der Basar, der Schalter, der Bahnhof, der Flughafen oder jede weitere Manifestation von Westfalls Wirtshäusern (taberna) konvergieren in der Idee eines Ortes des Austausches oder Emporions als jenes urbanen Typus, der die Stadtmauer während der Achsenzeit ersetzte. Das Emporion macht das, was anderswo produziert wird (Nahrung, Werk­ zeuge, Informationen, Wissen, Menschen) für die Einwohner der Stadt zugänglich. Es verbindet und trennt die Stadt von den Quellen ihrer Versorgung, seien es die Fel­ der der Farmer, die Produktionsstätten oder die Welt insgesamt. Weder der Bauern­ hof noch die Fabrik, noch die Straßen­, Wasser­, Schienen­ oder Luftwege gehören zur Stadt. Der Ort des Austausches leistet dies indem er dem Bauernhof, der Fabrik, und dem Transportnetz eine urbane Fassade bietet. Doch ist es mehr als eine Fassade. Die fehlende ideologische, politische und architektonische Autorität des Shops ist allen klar ersichtlich. „Keine Stadt kann ohne ihre Geschäfte und Warenhäuser auskommen, aber Emporia allein reichen nicht aus, um eine Stadt zu bilden.“23 Die Errichtung der Stadt wurde nicht als Positionierung zwischen Natur und Kul­ tur oder der ummauerten Stadt und dem Land gedacht, als Basis der Unterscheidung diente vielmehr die Trennlinie zwischen dem Privaten und der Öffentlichkeit, dem Haushalt und der Civitas. Diese Unterscheidung der Stadt in zwei radikal unterschied­ liche Domänen, die nicht durch Stadttore, sondern durch die Schwelle jeder Wohnung gekennzeichnet waren, klärte über die Beziehung der individuellen persönlichen An­ gelegenheiten zur Verantwortlichkeit des Bürgers und der mannigfaltigen Aufgaben der Gemeinschaft auf. Die Fivesquare City verkörpert die zweifache Struktur der Stadt. Die fünf Quadra­ te manifestierten sich in fünf architektonischen Typen. Nur einer dieser Typen, der Ort des Austausches, das Emporion, drückte nicht die Unterscheidung zwischen der öffentlichen Welt der Polis und der privaten Welt des Haushalts aus. Er diente den pri­ vaten Bedürfnissen der Öffentlichkeit im Allgemeinen, indem er Fragen, die den Haus­ halt betrafen, in die physische und bis zu einem gewissen Ausmaß auch in den poli­ tischen Bereich der öffentlichen Domäne brachte.24 Nach Hannah Arendt müsste man ihn dem Bereich des Sozialen zuordnen, eine für sie nachrangige und problematische Dimension. Van Pelts Koautor C. W. Westfall erwähnt, dass er das Emporion ursprüng­ lich gar nicht als architektonischen Typus, sondern als eine Subkategorie des Hauses aufgefasst hatte, zur Feststellung, dass es ein Ort des Austausches sei, gelangte er erst durch die Analyse der Stadt­Landbeziehung.25 Für van Pelt ist die Fivesquare City ein großes Quadrat, das vier kleine umschließt. Diese vier Quadrate umfassen vier unterschiedliche Bereiche mit einer jeweils eigenen Angelegenheit, jeweils eigener politischer und existenzieller Signifikanz und einem 432

Hippodamus von Milets dreiteiliger Stadtraum Man könnte diese Fivesquare City nach Jan van Pelt auch in eine dreiteilige Stadt nach Hippodamus mit einem sakralen, einem öffentlichen und einem privaten Raum trans­ formieren. „Hippodamus von Milet, der Städteplaner, erster Privatmann, der eine neue Verfas­ sung entwarf. Er teilte die Staatsbürger in drei Stände und das Land in drei Teile. […] Und zwar wollte er die Zahl der Bürger (polites) auf zehntausend festsetzen und diese in drei Stände teilen, in den der Handwerker (technites), den der Bauern (georgos) und endlich den des Wehrstandes und der Waffenführenden. Und ebenso wollte er auch das Land in drei Teile teilen, in das Tempel­ (hiera), Staats­ (demosia) und Privatland (idia). Aus dem ersten sollten die Kosten für den hergebrachten Gottesdienst, aus dem Gemeindeland die für den Lebensunterhalt der Krieger aufgebracht werden und das Eigentum der Bauern endlich das Privatland bilden.“27 Bei Jan van Pelt finden wir als erstes das Emporium, die Mauer zwischen innen und außen, die das Feld der anderen Quadrate umschreibt. Darinnen befinden sich der Oi­ kos, das Privathaus, die Agora mit der Stoa, die Akropolis mit dem Tempel oder Altar und die Nekropolis mit der Stele. Bei näherer Betrachtung lässt sich diese fünfteilige Stadt auf die dreiteilige des Hippodamus reduzieren. „Wenn man die Akropolis und die Nekropolis miteinander verbindet, sehen wir eine schräge Zone zwischen dem Oikos und der Agora, einen diagonalen Balken im Sche­ ma der Fünf­Felder­Stadt zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen. Dieser diagonale vermittelnde Raum, der vom Tempel bis zum Friedhof reicht, repräsentiert das einschließende Reich aller ,anderen Orte‘: Theater, Stadium, Palaestra, Hippodrom, Gymnasium etc. Dieses vermittelnde Terrain korrespondiert mit der dritten Sphäre von Hippodamus.“28 Die vier Teile des quincunx waren das Wohnviertel mit dem Haus, die Nekropolis, die Akropolis und die Agora. Wenn Nekropolis und Akropolis miteinander verbunden werden, so bilden sie einen sakralen Raum, der den Dualismus von öffentlich (agora) und privat (oikos) durch Addition auflöst. Daraus folgert Lieven de Cauter, dass die

Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung?

zugehörigen architektonischen Typus. Das Wohnviertel mit dem Haus, die Nekropolis (Stadt der Toten, Friedhof) mit der Stele, die Akropolis (Stadt der Götter) mit dem Altar und die Agora mit der Stoa. Diese vier Typen – das Haus, die Stele, der Altar und die Stoa – können die Intentionen des fünften oder ersten und größten Quadrats erfüllen. Ohne den privaten Bereich des Hauses kann es keine Bürgerschaft und keine Stadt ge­ ben. Ohne die Erinnerung, die in der Landschaft der Stelen verkörpert ist, gibt es keine Loyalität und keine Anhänglichkeit an die Stadt als historische Gemeinschaft. Als eine Gründung zivilen Engagements beinhaltet die Stele die vier anderen Bezirke der Stadt. Ohne die Aspiration und Hoffnung, die im Altar verkörpert sind, wird die Idee der Stadt als einer kollektiven Anerkennung des Lebens angesichts des Todes, wenn nicht völ­ lig, so zumindest weitgehend unverständlich. Daher beinhaltet der Altar die Stadt als ein Ideal, das im Gottesdienst gefeiert wird. Und ohne das vagabundische Forum der Stoa, das die Gesetzgebung von der Administration abtrennt, das den politischen Dis­ kurs und die Regierungspraxis mit dem Bürger verbindet, gibt es keine Freiheit. Daher umfasst die Stoa, die allen zugänglich ist, in der Fivesquare City den Auftrag sie zum grenzenlosen Horizont der Möglichkeiten zu machen.26

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Heterotopie nichts anderes als der dritte Raum bei Hippodamus sei, eine Sphäre, die weder politisch oder öffentlich, noch ökonomisch oder privat, sondern ein sakraler Raum ist. De Cauter meint, dass damit die Andersheit bei den Heterotopien Foucaults deutlich wird. Es ist wohl richtig, dass sich der andere Raum von der Ökonomie des Oikos und von der Politik der Polis unterscheidet, die in der Agora diskutiert wird, und man mag auch den Schluss daraus ziehen, dass die Heterotopie das Andere des Poli­ tischen und das Andere des Ökonomischen ist. Damit erhellt sich aber die Bedeutung der Foucault’schen Heterotopie wenig. Passender wäre eine Neo­Durkheim’sche Inter­ pretation, wonach diese zumeist säkularisierte Sphäre des sakralen Raumes dem nahe kommt, was heute als die kulturelle Sphäre bezeichnet wird, jener Platz, der Raum für Religion, Kunst, Sport und Freizeit bietet. Vielleicht sollte man hier eine kurze Erwähnung des sakralen Raumes der Mit­ te anbringen, wie er in der europäischen Stadt mit der Kirche anzutreffen ist. Darauf beruhen die weltweit verbreiteten zentristischen Tendenzen der Anthropologie der Siedlung. In der religiösen Interpretation ist es der katholische Monotheismus, der die sakrale Quelle dieses heiligen Raumes bildet. Dieser Typus eines sakralen Raumes ist aber seiner inhärenten Logik nach in jeder Hinsicht den anderen Räumen qualitativ überlegen, indem die Raumqualität der anderen Räume von ihrer Distanz zum Zen­ trum abhängt. Dabei geht es um die magische Qualität einer Ausstrahlung heiliger Substanz, die von diesem Zentrum emaniert und mit wachsender Distanz abnimmt. Die Rituale der Messe und der Zauber der Sakramente zeugen von magischen Prak­ tiken, die eine Vereinigung mit dem Körper Christi als einer unermesslichen Ener­ giequelle ermöglichen. In diesem Sinne einer Aufladung sind auch die im Mittelalter erfolgten Einlagerungen der Reliquien von Heiligen zu verstehen. Insofern war die Raumorganisation der Stadt in der Form eines Kontinuums zwischen sakral und pro­ fan zu begreifen, die vom Zentrum zur Peripherie reichte. Der öffentliche Raum hatte zur Zeit des Feudalismus und der späteren Monarchien geringe politische Bedeutung und entwickelte sich erst mit der Demokratisierung, überwiegend von der griechi­ schen Antike oder lokalen Bürgertraditionen inspiriert. Eine Funktion des Marktes hatte der öffentliche Raum jedoch immer. Der ältere griechische Polytheismus brachte kein privilegiertes Zentrum der Stadt hervor, sondern mehrere unterschiedlich Raumtypen, die dem sakralen Raum nicht unterlegen sind sondern gleichwertig, und die daher in einer Wechselbeziehung mit diesem stehen können. Auch hat sich der sakrale Raum bereits in zwei Felder aufge­ spalten, die in älteren Kulturen immer vereinigt waren, in Nekropolis und Akropolis, wobei sich das erste auf die Vergangenheit und das zweite auf die Zukunft bezieht. Die­ se Teilung könnte allerdings auch zu einer Schwächung der sakralen Energie geführt haben, die möglicherweise intendiert war, weil die Griechen die Agora absichtlich von der Akropolis absetzten. Und wie man anhand Arendts Theorie ersehen kann, rückte der sakrale Raum zugunsten der Betonung des Dualismus von öffentlich und privat weitgehend in den Hintergrund. Tertium datur: Der sakrale Raum als ein Drittes zwischen öffentlich und privat In van Pelts Aufsatz wird damit jener Raum eingeführt, der in der Analyse von Arendt unterbesetzt ist und einen dritten Bereich zwischen dem öffentlichen Raum der Er­ scheinung und dem privaten Raum des Verborgenen darstellt. Man könnte ihn auch 434

den verborgenen Raum der Erscheinung nennen.29 Alles was keinen Platz im öffent­ lichen oder privaten Raum findet, kann hier untergebracht werden. Das Andenken an diese dritte Sphäre, deren Autonomie in der zunehmenden Ökonomisierung weit­ gehend vergessen wurde, lässt uns die Relevanz der Heterotopie erkennen. Die Räume der Stadt, die zu dieser dritten Kategorie zählen, halten nicht an den binären Oppositionen fest, die die Unterscheidung zwischen Oikos und Agora stabili­ sieren. Kriterien wie einschließend versus ausschließend, Verwandtschaft versus Bür­ gerschaft, verborgen versus offen, privates Eigentum versus öffentliche Domäne werden

meinsamen Interesse, die alternative Formen der Teilhabe an Eigentum und deren Nut­ zung haben. Die Palaestra, die Sporthallen der Gymnasiasten, war etwa im Eigentum der Pedotribes. Weil das Training nackt ausgeübt wurde, war es nur für die Beteiligten zugänglich. Doch Platon erinnerte, dass dieses Verbot kaum kontrolliert wurde, und be­ richtet im Dialog Lysis über den Besuch Sokrates mit seinen Freunden in der Palaestra, um die schönen jungen Athleten zu bewundern. Und es gibt auch mehr Heterotopien als Foucault beschrieben hatte. Die Akademie wurde nicht als Heterotopie qualifiziert, obwohl sie der sichere Hafen des Bios theoreticos ist (Vita contemplativa), wie Hannah Arendt unter Bezug auf Aristoteles schreibt, da sie weder ökonomisch, noch politisch sei, sondern sich auf die scholé bezieht, die Zeit der Muße ohne Arbeit und Handeln. Heterotopie als Heterochronie. Der vierte Grundsatz bei Foucault bezieht sich auf die Verbindung der Heterotopie mit der Heterochronie, die ihre volle Funktionalität erst erreicht, wenn die Menschen mit der herkömmlichen Zeit brechen. Insofern kann die territoriale Einteilung von Hippodamus auch im Sinne von Sphären gesehen wer­ den, die als Raum­Zeit­Einheiten zu sehen sind. Hier sind zunächst die Hieromenia zu erwähnen, die sich auf das Heilige (hieros) und die Feste beziehen. Dazu zählen in ers­ ter Linie der Agon der Spiele, die verschiedenen Rennen und anderen Wettbewerbe, sei es im Sport oder in der Musik. Die Heterotopie bildet das Gegenstück zum Ereignis, zum Event, das in der Zeit verläuft, aber als Heterochronie, als eine andere Zeit ebenfalls eine Diskontinuität darstellt. Dieses Ereignis der Heterochronie kann durch die Architektur auch einen Permanenzstatus erlangen. In diesem Falle wird die sakrale Natur des Rituals durch die Architektur in eine andauernde Repräsentation verwandelt, als ob durch eine Be­ schwörung ein Gebäude entstünde. Viele Heterotopien entstanden aus einem Ereignis, das in ein Gebäude transformiert wurde, gewissermaßen aus der Zeit in den Raum überging und von einem vorübergehenden Moment in einen dauerhaften Ort übersetzt wurde, in manchen Fällen als Reaktion auf eine Krise. Kirchenarchitektur ist eine ver­ steinerte Abbildung der Rituale der Liturgie. Die Heterotopie steht in Gegensatz zur Alltagsarchitektur, weil sie sich auf eine Ar­ chitektur der freien, sakralen Zeit bezieht. Die Beispiele, die Foucault anführt, haben sehr viel damit zu tun: die Flitterwochen, die Altersheime, der Friedhof, Theater und Kino, Bibliotheken und Museen, Messen und Karneval, Ferienlager, Hamams, Saunen, Motels, Bordelle und Schiffe, sie alle beruhen auf einer Form der von Alltagsverpflich­ tungen freien und damit heiligen Zeit.

Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung?

in der Welt der Heterotopie neu formatiert. So wurden während der alljährlich stattfin­ denden Dionysien diese Unterscheidungen aufgehoben, Fremde, Bürger anderer Städte, Frauen und sogar Sklaven durften an diesen Festivitäten teilnehmen. Viele Heteroto­ pien erinnern an „Gesellschaften“, Vereine oder Clubs, Vereinigungen mit einem ge­

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Heterotopie. Die Mediation zwischen dem Öffentlichen und Privaten Die triadische Konzeption von Hippodamus, die privat, öffentlich und sakral unter­ scheidet, bietet eine Möglichkeit den fatalen Dualismus des westlichen Stadtdenkens aufzuheben. Andere Orte sind alternative Räume, oft auch alternierende Räume, die einen zu etwas anderem machen, die verändern, wo unterschiedliche Raum­Zeiten zusammenkommen und ineinander übergehen. Das Theater stellt eine solche Art von Raumkombination dar, weil es den realen Raum des Publikums und den virtuellen Raum der Szene vereinigt. Während des Spiels wird das Virtuelle real und das Reale verschwindet. Nach dem Ende des Schauspiels verkehren sich die Verhältnisse wieder und kommen in die Realität zurück.30 Das griechische Theater, insbesondere die Tragödie, stellt eine besondere Form der Mediation zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten dar. Sehr oft sind Frauen die Protagonistinnen, weil in diesen Figuren der Gegensatz von oikos und agora vermit­ telt wird. Ein klassisches Beispiel ist Antigone, die dem Gesetz des oikos und der Götter nach ihren Bruder Polyneikes mit den erforderlichen Ritualen bestatten müsste, da­ mit er im Hades Eingang finden kann. Dem Befehl ihres Onkels Creon, dem König von Theben nach wird ihr das verboten, weil Polyneikes durch seinen Angriff auf Athen als Verräter galt. Weil sie die Bestattung im Sinne eines zivilen Ungehorsams trotz­ dem durchführt, wird sie von Creon mit dem Begraben bei lebendigem Leib bestraft, obwohl sie mit Creons Sohn Haimon verlobt ist. Das tragische Dilemma Antigones besteht darin, eine Entscheidung zwischen zwei konträren Gesetzen treffen zu müs­ sen, entweder dem Gesetz des Gewissens und der inneren Stimme, als dem Privaten, oder dem politisch gesetzten Recht, dem Öffentlichen, zu folgen. Bei Antigone, die zum thebanischen Zyklus der griechischen Mythologie zählt, endet die Sache tragisch, wie aufgrund ihrer Herkunft durch die blutschänderische Ehe des Vaters Ödipus mit seiner eigenen Mutter Iokaste vorbestimmt. Creon verurteilt sie, obwohl die künftige Schwiegertochter, zum Tod, weil sie ihren verräterischen Bruder bestattete. Erst zum Schluss erkennt Creon seine eigene Hybris und Verantwortung. Es gibt weitere Formen der Mediation. Der Friedhof vermittelt zwischen der Welt der Lebenden und Toten und somit auch zwischen der Vergangenheit und Zukunft. Im Friedhof äußert sich die Sorgfalt einer Pflege der Vergangenheit der Stadt und die An­ erkennung jener Opfer der Bürger, denen die Stadt Wohlstand und Freiheit verdankt. Der Tempel vermittelt zwischen den Göttern als Unsterblichen und den Ahnen, im weiteren Sinne der Welt der Sterblichen. Daher bildet er die historische Achse, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindet. Die Nekropolis ist die Verräumlichung der Vergangenheit, der Tempel die Vergegenwärtigung der Zukunft, die Agora, die zwischen Nekropolis und Akropolis gelegen ist, sollte für das gute Le­ ben der Gegenwart sorgen.31 Das Stadion, das Hippodrom und die Palaestra sind alles Plätze für Sport und Spiel und dienen ebenfalls der Vermittlung. Der Sport und die körperliche Übung zeigen die Schwelle zwischen Natur und Kultur, zwischen dem Körper als Manifest der tierhaf­ ten Natur (zoé) und dem trainierten Körper als Ausdruck des kulturierten Lebens (bios). Manche Spiele dienen auch als rites de passage zwischen infantiler Existenz und reifer Haltung, zwischen ungeregeltem Verhalten und zivilem Leben unter der Ägide des Ge­ setzes. Auch prägen die Spiele eine Parallelwelt, in der militärische Übungen zu einem Zweck für sich selbst werden und im Bereich der Ästhetik verbleiben. 436

„Die Architektur des Theaters rekapitulierte die dreifache Natur des öffentlichen Raumes für jede private Einzelperson, die im Theatron, dem Auditorium saß. Zunächst gab es da die unabänderliche Vergangenheit, die Welt des Stammes, der chtonischen Impulse und der Herrschaft des Unbewussten, wie sie in der Orestie durch die Furien repräsentiert wird, wenn sie nach Rache für die Ermordung der Klytemnestra trachten. Dies war die Welt der verborgenen Höhlen, der Erde und der Necropolis, jenes Scho­ ßes, aus dem wir alle stammen und auch wieder zurückkehren werden. Das Theatron, das Auditorium, das aus dem Felsen gemeißelt wurde, vergegenwärtigte diese Welt im Theater. Dann gab es die immerwährende Zukunft, die Herrschaft des Bewussten, die in der Orestie durch Apollo Patroos repräsentiert wird, den strahlenden, väterlichen Apoll, der den Fall des Orestes und auf diese Weise die Idee der patriarchalen Herr­ schaft verficht. Dies war die Welt des Lichtes, des Himmels und der Akropolis, jenes Bereiches, den Jaspers mit dem unerschöpflichen Umgreifenden identifizierte, das als Hintergrund aller Hintergründe unser Feld des Handelns und Wissens bestimmt. Dies war die vertikale Ebene unserer Landschaft und des Himmels, die wie eine kosmische scaenae frons (Hinterbühne Anm. d. A.) das kegelförmige Gehäuse des Theatrons ab­ schloss und verwandelte. Zwischen dieser Welt von unten und oben befand sich die Ebene, wo sich das Soziale und das Politische traf. Dies war die Welt des politischen Diskurses und des tragischen Wissens, die Domäne, die durch die Unterscheidung von öffentlich und privat begründet wird, jener Bereich, der zwischen dem Unterbewus­ sten und Bewussten vermittelt, wie es in der Orestie durch Athene repräsentiert wird. Athene war die zarte und schwer bewaffnete Göttin der Stadt, die die konkurrieren­ den Forderungen der Furien und des Apollo Patroos beseitigte, indem sie zivile Struk­ turen einführte, die eine Autorität beherbergten, die sich gegen den Druck des zorni­ gen Mobs und die Macht des selbstherrlichen Herrschers durchsetzte. All dies wurde durch die Orchestra repräsentiert, jene Bühne, die als erste auf der Agora errichtet worden war. Daher ist es das Gebäude des Theaters, das die fivesquare City zur Voll­ endung brachte.“33 Mit dieser Beschreibung des Theaters als dem Prototyp der urbanen Heterotopie gelingt Van Pelt die Vereinigung der zentralen Sphären in Athen in der Figur des Quin­ cunx. Die Vertikale Achse des auf der Spitze stehenden Kegels des Theatrons, des Zu­ schauerraumes bewegt sich zwischen dem Unten der Necropolis, dem Chtonischen, der großen Mutter, des Ursprungs und des Todes, und dem Oben der Akropolis, der Sphäre des Himmels, des Geistes, aber auch des Patriarchalen und – wenn man an Jaspers Umgreifendes denkt – auch Bewusstsein, Geist, Welt und Gott. Die horizon­ tale Ebene betrifft den Diskurs, der Politik und des Sozialen, die zwischen den Positio­

Die Stadt als Archipel der Kapseln. Heterotopie als Chance oder Bedrohung?

Insofern kann man den vermittelnden Charakter der Heterotopie als eine direkte Funktion eines dialektischen Dritten in der Verfassung der Stadt zwischen dem öffent­ lichen und dem privaten Bereich ansehen, von einer rastlosen Dialektik angetrieben und dennoch immer etwas übrig lassend.32 Dieser schwankende, unvollständige Pro­ zess, der zu keiner Synthese führt, kann jederzeit von Stillstand oder Unterbrechung betroffen sein. Aber gerade aufgrund dieser Instabilität erfordert der heterotopische Prozess der Vermittlung besondere, andere Räume, wo der Zutritt begrenzt wird, wo Initiation notwendig wird, wo die Erscheinung verborgen ist und das Verborgene er­ scheint. Das theatralische Ereignis enthüllt die Kraft dieser widersprüchlichen Formel der „verborgenen Erscheinung“, deren Zeichen die Maske ist.

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nen des Öffentlichen, der Agora und des Privaten, des Oikos eingelassen ist. Der Ort, an dem sich diese Flächen treffen, ist die Orchestra, die Bühne, die den Mittelpunkt des Quincunx oder des Würfels mit der Fünfzahl bildet. Die Heterotopie vermittelt zwischen dem Privaten und Öffentlichen, weil sie in der Lage ist, auch der existenziel­ len Einbettung des Menschen zwischen dem Chtonischen und dem Umgreifenden im Theater auf der Bühne als Schnittpunkt zu entsprechen. Somit wäre die Wurzel der Ur­ banität nicht allein im öffentlichen Raum, sondern in der Heterotopie des Theaters zu finden. Indem es Athene vermochte, die zivilen Strukturen des Schiedsgerichts gegen die Rachegelüste der Erinyen an Orest, der seine Mutter Kytemnestra für ihren Mord an seinem Vater Agamemnon getötet hatte, einzuführen, gelang ihr eine Beendigung des Fluches, der über dem Geschlecht hing. Mit der Heterotopie des antiken Theaters und der Orchestra ist ein Ort gegeben, der alle Sphären verbinden kann und damit zum perfekten Modell der Urbanität wird, das den öffentlichen Raum der Agora noch an Leistungsfähigkeit übertrifft, weil er sich des Einschlusses der anderen Motivsphären bewusst ist. Man kann die Welt der Anti­ ke nicht umstandslos auf die Gegenwart projizieren, aber es ist möglich, einige Lehren daraus zu ziehen. Anhand dieser Ergebnisse lässt sich jedenfalls die Behauptung auf­ stellen, dass die dualistischen Modelle der Urbanität zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen zu kurz greifen, weil sie – um es soziologisch auszudrücken – der syste­ mischen Leistungskraft der Heterotopie unterlegen sind. Aus der Systemtheorie wissen wir, dass durch die Ausdifferenzierung der Wert­ sphären immer kleinere Einheiten des Konsenses entstehen, deren Bestand zuneh­ mend flüchtiger wird und deren Manifestation sich nach Sloterdijks Metapher in der Form von Schäumen zeigt. Zudem ist die Anziehungskraft vieler modernen Hetero­ topien durch narzisstische Motive, von der Erwartung einer Spiegelung des Selbst im Anderen geprägt. Diese Heterotopien sind ihrem Charakter nach unbegrenzt und haben den Zusammenhang mit der Stadt verloren, weil sie häufig Projektionen ins Unendliche darstellen. Die Antike hatte noch ein kosmologisches Verständnis, das auch für die Stadt galt und die Notwendigkeit einer holistischen Sicht einschloss. Die Heterotopie konnte zwischen den verschiedenen Sphären vermitteln, weil das Andere noch im urbanen Gesamtkontext enthalten war, während er von den modernen nar­ zisstischen Projektionen weitgehend verfehlt wird. Man müsste die Frage stellen, ob es neben dem narzisstischen Anderen, der nur durch die Selbstspiegelung gegeben ist, noch die Möglichkeit eines transzendenten Anderen in der wirklichen Begegnung bestünde, die auf mehr hinausliefe als auf familiäre Koexistenzen, Symbiosen und narkotisierte Partnerschaften. Die Verfolgung dieser Frage wäre eine schöne Aufgabe künftiger Heterotopien.

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1 Lieven de Cauter, The Capsular Civilization, nai010 Pu- roll William Westfall, Architectural Principles in the Age blishers, Rotterdam 2004 vgl. dérive, 53, Geschichte der of Historicism, Yale University Press, New Haven/LonUrbanität, Postmoderne 7. 2 Frederic Jameson, Postmo­ don 1991, S. 168 – 251. 18 Ebd., S. 169. 19 „Als Achsendernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Duke zeit bezeichnet Karl Jaspers in seinen geschichtsphilosoUniversity Press, Durham, S. 44. 3 De Cauter (wie Anm. 1); phischen Betrachtungen die Zeitspanne von ca. 800 bis vgl. dérive, 54 , Geschichte der Urbanität, Postmoderne 200 v. Chr. In dieser Zeitspanne hätten die Gesellschaf8 . 4 Vgl. dérive, 54 , Geschichte der Urbanität, Postmo- ten von vier voneinander unabhängigen Kulturräumen derne 8 . 5 Sämtliche Bezüge zur Heterotopie bei Fou- (Anm.: China, Indien, Orient, Okzident) gleichzeitig becault beziehen sich auf den Aufsatz „Andere Räume“, deutende philosophische und technische Fortschritte gein: Michel Foucault, Botschaften der Macht, DVA , Stutt- macht. Diese wiederum hatten einen prägenden Einfluss gart 1999, S. 145 – 161. 6 Victor Burgin, „Der paranoide auf alle nachfolgenden Zivilisationen.“ (Quelle: WikipeRaum“, in: Roland Ritter/Bernd Knaller-Vlay, Other Spaces, dia) 20 Van Pelt (wie Anm. 17 ), S. 170. 21 Van Pelt (wie Graz, Haus der Architektur. 7 Peter Sloterdijk, Sphären III , Anm. 17 ), S. 171. 22 Van Pelt (wie Anm. 17 ), S. 173. 23 Van Suhrkamp, Frankfurt/Main 2004 , S. 350. 8 Vgl. Ebd., Pelt (wie Anm. 17 ), S. 175 . 24 Van Pelt (wie Anm. 17 ), Kap. 1 B. 9 Jacques Lacan, Schriften I, Quadriga, Wein- S. 176. 25 Van Pelt (wie Anm. 17 ), S. 177. 26 Van Pelt (wie heim/Berlin 1986, S. 64 . 10 Gerda Pagel, Jacques La­ Anm. 17 ), S. 211. 27 Aristoteles, Politik, Rowohlt, Hamcan zur Einführung, Junius, Hamburg 1989, S. 24 . 11 Pu- burg 1965, 1267 b 30 – 35. 28 Lieven de Cauter/Michiel blius Naso Ovidius, Metamorphosen, übers. und hrsg. Dehaene, „The Space of Play. Towards a general Theov. Michael von Albrecht, Reclam, Stuttgart 2010, Vers ry of Heterotopia“, in: Lieven de Cauter, Entropic Empi­ 465. 12 Pagel (wie Anm. 10), S. 31. 13 Ebd. 14 Hinrich re, nai010 Publishers, Rotterdam 2012 , S. 176. 29 Ebd., Fink-Eitel, Foucault Michel zur Einführung, Junius, Ham- S. 177. 30 Van Pelt (wie Anm. 17 ), S. 214 – 251. 31 Van burg 1990, S. 29. 15 Ebd., S. 32. 16 Hannah Arendt, Vita Pelt (wie Anm. 17 ), S. 180 – 214 . 32 De Cauter/Dehaene activa, Piper, München/Zürich 1981. 17 Robert Jan van (wie Anm. 28), S. 181. 33 Van Pelt (wie Anm. 17 ), S. 232. Pelt, „Athenian Assurance“, in: Robert Jan van Pelt/Car-

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Richard Sennett, Fleisch und Stein, Berlin Verlag, Berlin 1995

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David Harvey, The Condition of Postmodernity, Blackwell, Oxford 1990

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Bildnachweise Abb. 1: Travlos, Wasmuth Verlag Tübingen Abb. 2: Rom Instituto Nazionale per la Grafica. Mit freundlicher Genehmigung des Ministeriums für Kulturgüter und Tourismus Rom Abb. 3: Yale University Press London Abb. 4: Lexikon der Revolutions-Ikonographie, Justus-Liebig-Universität Gießen, Historisches Institut Abb. 5: Lexikon der Revolutions-Ikonographie, Justus-Liebig-Universität Gießen, Historisches Institut Abb. 6: Israel Museum, Jerusalem Abb. 7: ETH Zürich, Institut gta, Institut für Geschichte und Theorie der Architektur Abb. 8: Museumsberg Flensburg, Städtische Museen und Sammlungen für den Landesteil Schleswig Abb. 9: Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin Abb. 10: Wolfenbüttel, Herzog-August-Bibliothek Abb. 11: General Motors 2016 Abb. 12: Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte, Berlin, Sprengel Museum Hannover/Michael Herling/Aline Gwose Abb. 13: Paris, Fondation Le Corbusier, Bildrecht GmbH Gesellschaft zur Wahrnehmung visueller Rechte, Wien Abb. 14: Salomon R. Guggenheim Museum Abb. 15: The Newark Museum/Art Resource/Scala, Florence Abb. 16: Bildrecht GmbH Gesellschaft zur Wahrnehmung visueller Rechte, Wien Abb. 17: Bildrecht GmbH Gesellschaft zur Wahrnehmung visueller Rechte, Wien, Standort Museum Bochum Abb. 18: Bildrecht GmbH Gesellschaft zur Wahrnehmung visueller Rechte, Wien

Cover: The Newark Museum/Art Resource/Scala, Florence. Bildausschnitt aus: Stella, Joseph (1879 – 1946), The Voice of the City of New York (1)( A ) Interpreted, 1920 – 1922. Entire view. Oil and tempera on canvas. Collection of The Newark Museum, 37.288 a–e. Newark, The Newark Museum. © 2015. Photo: The Newark Museum /Art Resource/Scala, Florence

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Stadt entwerfen Grundlagen, Prinzipien, Projekte Leonhard Schenk 356 Seiten, 90 Abb., gebunden 978 ­3 ­0346 ­1320 ­0 DE 978 ­3 ­0346 ­1325 ­5 EN

Städtebauliches Entwerfen basiert auf Ordnungs­ und Gestaltungsprinzipien, die funktionale Ansprüche erfüllen und zugleich die Entwurfselemente zu einem unverwechselbaren Ganzen fügen müssen. Stadt entwerfen erläutert die wichtigsten Entwurfs­ und Darstellungsprinzipien im Städtebau anhand von ausgewählten historischen Beispielen und inter­ nationalen zeitgenössischen Wettbewerbsbeiträgen, entworfen von Büros wie Foster + Partners, KCAP Architects & Planners, MVRDV , OMA und anderen.

Platzatlas Stadträume in Europa Hrsg. v. Sophie Wolfrum 312 Seiten, 380 Abb., gebunden 978 ­3 ­03821­648 ­3 DE 978 ­3 ­03821­649 ­0 EN

Bei jedem städtebaulichen Entwurf, jedem Eingriff in öffentliche Räume stellt sich die Frage nach der Platz­ komposition und der nutzungsgerechten Qualität. Der Platzatlas ist das erste breit angelegte Referenzwerk, in dem die Gestaltung, die Proportionen städtischer Platz­ räume studiert und verglichen werden. 70 europäische Plätze werden in Schwarzplan, Grundriss, Schnitt und Axonometrie mit den wichtigsten Charakteristika systematisch präsentiert.

Der urbane Code Chinas Dieter Hassenpflug 2. Auflage 176 Seiten, 101 Abb., Broschur 978 -3 -0346 -1303 -3 DE 978 -3 -0346 -0572-4 EN

Erst die Dekodierung der Sinität der chinesischen Stadt eröffnet die Möglichkeit, die Vielfalt der empirischen Eindrücke richtig zu gewichten und sinnvoll einzuordnen: Es geht hier weniger um bekannte Städte wie Peking, Shanghai oder Shenzhen, sondern um jene Formen, Strukturen, Zeichen und Botschaften, die das Chinesische der chinesischen Stadt ausmachen. So liefert dieses Buch auch einen Schlüssel zum Verständnis der aktuellen Hyperurbanisierung und der Vielzahl westlicher Städtebauprojekte in China.

A Quantum City Mastering the Generic Hrsg. v. Ludger Hovestadt / Vera Bühlmann Reihe: Applied Virtuality Book Series 10 824 Seiten, 1500 Abb., gebunden ISBN : 978 -3 -0356 -0626 -3 EN

Wir kennen die Stärken unterschiedlicher Städte, aber was wissen wir über die Qualitäten des „kleinsten gemeinsamen Nenners“? Die Gene der Stadt: das ist das Thema von A Quantum City. Dieses kolossale Werk ist eine Liebeserklärung an das Städtische in all seinen Facetten: intellektuelle Höchstleistungen werden teils obskuren, teils profanen Ereignissen gegenübergestellt. Ein neuer und inspirierender Blick auf die Stadt in uns und um uns herum.

Das Geschäft mit der Stadt Zum Verhältnis von Ökonomie, Architektur und Stadtplanung Hrsg. v. ÖGfA Reihe: UmBau 28 128 Seiten, 50 Abb., Broschur 978 -3 -0356 -0376 -7 DE

Diese Ausgabe des UmBau befasst sich mit der Verschränkung von Ökonomie und Stadtplanung und fragt nach Alternativen zu aktuellen Planungsimperativen: Welche Gegenentwürfe zur privaten Finanzierung von öffentlichen Gebäuden und Räumen sind möglich? Was bedeutet öffentliche Planungsverantwortung und in welcher Form wird sie wahrgenommen? Hier stehen interdisziplinäre Fragen zur Debatte.

LONDON . The Unique City

Die Geschichte einer Weltstadt Steen Eiler Rasmussen Hrsg. v. Ulrike Franke / Thorsten Lockl Reihe: Bauwelt Fundamente 149 440 Seiten, 300 Abb., Broschur 978 -3 -0346 -0820 -6 DE

In seinem erstmals 1934 erschienenen Buch London. The Unique City erzählt Steen Eiler Rasmussen die faszinierende Geschichte einer Weltstadt. Seine auf umfangreiche Recherchen zur Stadtgeschichte, zu den Lebensformen der Londoner sowie auf eigene langjährige Beobachtungen gestützte Analyse von Londons städtebaulicher und architektonischer Entwicklung macht London. The Unique City zu einem Standardwerk, das hier erstmals in deutscher Üersetzung vorliegt.

Die Architektur der Stadt Aldo Rossi Reihe: Bauwelt Fundamente 41 Mit einem neuen Nachwort 174 Seiten, 50 Abb., Broschur 978 -3 -0356 -0044 -5 DE

Aldo Rossi verfolgte in seiner 1966 erschienen Publikation L’Architecttura della Città die städtebauliche Entstehung und Entwicklung der großen europäischen Metropolen und legte damit seine Theorie zum Umgang mit den historisch gewachsenen Strukturen dar. Die 1973 in der Reihe der Bauwelt Fundamente erstmals erschienene deutsche Ausgabe gehört bis heute zur Pflichtlektüre für Studierende, Architekten und an der Architektur Interessierte.

Die Stadt entschlüsseln Wie Echtzeitdaten den Urbanismus verändern Hrsg. v. Dietmar Offenhuber /Carlo Ratti Reihe: Bauwelt Fundamente 150 200 Seiten, 50 Abb., Broschur 978 -3 -03821-590 -5 DE

Das Senseable City Lab am MIT unter Carlo Ratti beschäftigt sich mit den Strömen von Menschen und Waren, die sich um den Globus bewegen. Erfahrungen mit infrastrukturellen Großprojekten legen nahe, dass komplexe und flexible Antworten auf Fragen des Transports oder der Entsorgung gesucht werden müssen. Die Autoren zeigen, wie Big Data die Realität und damit die Beschäftigung mit der Stadt verändern, und sie diskutieren anhand von Beispielen die Auswirkungen von Echtzeitdaten auf Architektur und Stadtplanung. Nicht übersehen werden dabei die Schattenseiten der Datenerfassung und -steuerung.

Der Autor: Manfred Russo, Kultursoziologe und Stadtforscher, zuletzt Gastprofessor an der Bauhaus Universität Weimar (2012–2015), langjährige Lehrtätigkeit an der Universität Wien, TU Wien und der Hochschule für angewandte Kunst Wien.

Korrektorat: Barbro Repp Projektkoordination: Lisa Schulze Herstellung: Katja Jaeger Designkonzept und Covergestaltung: Jenna Gesse Satz: Kathleen Bernsdorf Schrift: Franziska Pro, Amsi Pro Papier: 115 g/m2 Schleipen Fly 05 Druck: Beltz Bad Langensalza GmbH Lithografie: LVD Gesellschaft für Datenverarbeitung mbH Library of Congress Cataloging-in-Publication data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. Dieses Buch ist auch als E-Book ( ISBN PDF 978-3-0356-0709-3; ISBN EPUB 978-3-0356-0711-6) erschienen. © 2016 Birkhäuser Verlag GmbH, Basel Postfach 44 , 4009 Basel, Schweiz Ein Unternehmen der Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Printed in Germany ISBN 978-3-0356-0835-9 987654321

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