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German Pages 278 Year 2018
Thomas Schlereth Konjunktion
| Band 56
Editorial Medien entfachen kulturelle Dynamiken; sie verändern die Künste ebenso wie diskursive Formationen und kommunikative Prozesse als Grundlagen des Sozialen oder Verfahren der Aufzeichnung als Praktiken kultureller Archive und Gedächtnisse. Die Reihe Metabasis (griech. Veränderung, Übergang) am Institut für Künste und Medien der Universität Potsdam will die medialen, künstlerischen und gesellschaftlichen Umbrüche mit Bezug auf unterschiedliche kulturelle Räume und Epochen untersuchen sowie die Veränderungen in Narration und Fiktionalisierung und deren Rückschlag auf Prozesse der Imagination nachzeichnen. Darüber hinaus werden Übergänge zwischen den Medien und ihren Performanzen thematisiert, seien es Text-Bild-Interferenzen, literarische Figurationen und ihre Auswirkungen auf andere Künste oder auch Übersetzungen zwischen verschiedenen Genres und ihren Darstellungsweisen. Die Reihe widmet sich dem »Inter-Medialen«, den Hybridformen und Grenzverläufen, die die traditionellen Beschreibungsformen außer Kraft setzen und neue Begriffe erfordern. Sie geht zudem auf jene schwer auslotbare Zwischenräumlichkeit ein, worin überlieferte Formen instabil und neue Gestalten produktiv werden können. Mindestens einmal pro Jahr wird die Reihe durch einen weiteren Band ergänzt werden. Das Themenspektrum umfasst Neue Medien, Literatur, Film, Kunst und Bildtheorie und wird auf diese Weise regelmäßig in laufende Debatten der Kultur- und Medienwissenschaften intervenieren. Die Reihe wird herausgegeben von Marie-Luise Angerer, Heiko Christians, Andreas Köstler, Gertrud Lehnert und Dieter Mersch.
Thomas Schlereth (Dr. phil.), geb. 1984, ist Betreuer und Vorstandsmitglied der Gratianusstiftung Reutlingen und befasst sich mit Bildender Kunst und Relationstheorien.
Thomas Schlereth
Konjunktion Eine medienphilosophische Untersuchung
Zugleich Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam 2016, Erstgutachter: apl. Prof. Dr. Michael Mayer, Zweitgutachterin: Prof. Dr. Mirjam Schaub
© 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlaggestaltung und Satz: Thomas Schlereth, Reutlingen Umschlagabbildung: David Heitz, Ohne Titel (Athen, 2016), © David Heitz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4418-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4418-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung: Nicht nur nicht nur, sondern auch | 7 1. Das und als philosophische Methode (Schaub) | 21 2. Das und als kulturtheoretischer Parameter (Bexte) | 63 3. Das und als Generativum von Text und Welt (Gass) | 97 4. Das und als Funktion der Irritation und Wandlung (Deleuze/Parnet) | 151 5. Das und zwischen Vermittlungs- und Ursprungsprinzip (Gloy) | 207 Schluss: Konjunktionale Relationalität | 259 Literaturverzeichns | 271
Einleitung: Nicht nur nicht nur, sondern auch Was heißt: im Denken einer Konjunktion zu folgen?
„Es scheint eine Tatsache zu sein, wenn man in meiner Lage noch von Tatsachen sprechen kann, dass ich nicht nur über Dinge zu sprechen habe, über die ich nicht sprechen kann, sondern auch, was noch interessanter ist, dass ich, was noch interessanter ist, dass ich, ich weiß nicht mehr, das macht nichts. Ich bin jedoch genötigt, zu sprechen. Ich werde nie schweigen. Nie.“ S AMUEL B ECKETT
Geht es nach der Konjunktion, geht ein Satz, eine Aussage nicht allein in dem auf, was explizit zum Ausdruck kommt – nicht nur, sondern auch. Das Schwingen der vier kleinen Worte rührt an die Grenzen des Gesagten und weist darüber hinaus. Jenseits des jeweiligen Fokus ist Anderweitiges gleichsam von Relevanz und seinerseits maßgeblicher Teil der Zusammenhänge. Im Bezug darauf verfährt nicht nur, sondern auch anders als Begriffe es tun. Weder das Unausgesprochene noch das Unaussprechliche nennt die Konjunktion direkt beim Namen. Während sie die Aufmerksamkeit weitet, gibt sie nicht vor, worauf. Und schließlich geht sie auch über sich selbst hinaus: Nicht nur nicht nur, sondern auch, sondern auch. Diese Eigenheiten sind bei anderen Konjunktionen nicht in gleicher Weise und nicht in gleichem Ausmaß ausgebildet. Das betrifft vor allem den Fall des Selbstbezugs. Er besitzt nicht allein formalen oder stellvertretenden Charakter wie etwa und und und. Und so weiter – spätestens mit der Referenz auf sich selbst macht die Konjunktion nicht nur, sondern auch deutlich, dass es ihr zufolge nicht nur so, sondern stets auch anders weiter geht. Ohne Vorbehalt reicht die Konjunktion auch im Bezug auf sich selbst über sich selbst hinaus. Was aber hat diese Option dem Nachdenken mitzuteilen, das sich jenes Falls annimmt?
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Zuerst stand ein Gefühl im Raum – von neu gewonnener Freiheit, Weite, nicht ohne Schwindel, aber mit reichlich Luft zum Atmen – und davon getragen der Gedanke, die Entdeckung an das Vermögen der Sprache rückzukoppeln: Neben allem Bezeichnen und Einhegen ein ungeahntes Moment der Reichhaltigkeit und Öffnung, wie es sonst der Kunst eigen ist.1 Oder, als handelte es sich bei der kleinen Wendung um eine Funktion, die ihren Definitionsbereich mit jedem Mal, dass sie durch den Kopf bzw. den Mund geht, größer zieht. „Alles: die minutiöse Geschichte der Zukunft, die Autobiografien der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium des Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolationen jeden Buches in allen Büchern, den Traktat, den Beda hätte schreiben können (und nicht schrieb), über die Mythologie der Angelsachsen, die verlorenen Bücher des Tacitus.“ 2 Fortlaufend weiten sich die Kreise, in unterschiedlichster Hinsicht und auch dann noch, wenn das Verfahren an sich selbst rührt. Nicht nur nicht nur, sondern auch, sondern auch. Das Interesse an der Konjunktion hat neben Formen der Verbindung ebenbürtig mit Phänomenen der Überschreitung zu tun. Nicht nur, sondern auch wird zum Anlass, in einer Verbindung mehr zu sehen als minimal zwei zusammengebrachte und aufeinander bezogene Elemente. Im Einsatz der Konjunktion klingt ein Moment der Vielfalt an: Auf die Verneinung von Einschränkung (nicht nur) folgt die positive Wendung und Eröffnung von Beteiligung (sondern auch). Beide Modi des Bezugs sind weiter und offener, als dass sie mit einem Satz oder einer Aussage abzugelten wären. Fast so, als stünde man vor einem Bild: Stets findet sich noch ein Aspekt, ein Zugang, ein weiterer Zusammenhang, der bislang noch nicht zur Sprache kam. Wie das Sehen befindet sich die Sprache in Bewegung, so begrenzt der gegebene Moment auch sein mag.
1 | „Das Ding entreißt den, der es bezeichnet, der Unmittelbarkeit des Sinnlichen, das er aber doch gesteigert dann wiederfindet, wenn er durch seine Arbeit nicht mehr das Nützliche, sondern das Kunstwerk schafft.“ (Georges Bataille: Lascaux oder die Geburt der Kunst, übers. v. Karl Georg Hemmerich, Genf 1955, S. 28) 2 | Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel, in: Fiktionen – Erzählungen 1939–1944, übers. v. Karl August Horst u. Gisbert Haefs, Frankfurt a. M. 2015, S. 71. Ein Dank an Sarah Schlenker für die Hinweise.
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Frühen Rückenwind erhielt diese Faszination durch Gilles Deleuze und Félix Guattari. In Tausend Plateaus stellen sie eine Auffassung von Relation und Konjunktion vor, die sich von herkömmlichen wie naheliegenden Vorstellungen stark unterscheidet: „C’est que le milieu n’est pas du tout une moyenne, c’est au contraire l’endroit où les choses prennent de la vitesse. Entre les choses ne désigne pas une relation localisable qui va de l’une à l’autre et réciproquement, mais une direction perpendiculaire, un mouvement transversal qui les emporte l’une et l’autre, ruisseau sans début ni fin, qui ronge ses deux rives et prend de la vitesse au milieu.“ „Die Mitte ist eben kein Mittelwert, sondern im Gegenteil der Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden. Zwischen den Dingen bezeichnet keine lokalisierbare Beziehung, die vom einen zum anderen geht und umgekehrt, sondern eine Pendelbewegung, eine transversale Bewegung, die in die eine und die andere Richtung geht, ein Strom ohne Anfang oder Ende, der seine beiden Ufer unterspült und in der Mitte immer schneller fließt.“ 3 Relation wird hier zuerst von der Mitte her gedacht. Was in Relation zueinander steht, rückt dagegen an den Rand. Als Ausgangspunkt stellt die Mitte für die Autoren mehr ein Geschehen als eine Größe dar, sie steht eher für eine Gemengelage als einen räumlich abgrenzbaren Ort. Explizit rufen Deleuze und Guattari die beiden Typen linearer Logik auf, die einseitige Ausrichtung und die Reziprozität, um deutlich zu machen, dass jenes Zwischen, auf das sie abzielen, mit mehr zu tun hat und komplexer beschaffen ist. An den beiden Motiven von Pendel und Fluss tritt dies weiter vor Augen. Im ersten Bild handelt es sich um eine Art foucaultsches Pendel, eine Anordnung, bei der eine Hin- und Her-Bewegung nicht allein auf einer festen Raumlinie und in einer ebensolchen Ebene stattfindet. Die Richtungsänderungen gehen mitunter so weit, dass sie auf die ursprüngliche Ausrichtung senkrecht stehen und die Bewegung zur Ausgangslinie quer verläuft. Transversal nennt die Geometrie eine Linie entsprechend dann, wenn sie zu einer Hauptachse einen rechten Winkel einnimmt. So kann sich das zweite Bild des Flusses auch von einem festen Anfang und Ende verabschieden, ohne dass die beiden Relata verloren gehen. Sie stehen nunmehr zu beiden Uferseiten, verbunden durch ein fließendes Dazwischen, welches in Gestalt
3 | Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Mille plateaux – Capitalisme et Schizophrénie 2, Paris 1980, S. 37, bzw. Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie II, hrsg. v. Günther Rösch, übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 41f.
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eines Stroms gewiss nicht zu klein ausfällt. Aus der transversal verlaufenden Linie wird ein strömendes Treiben, das aus einer anderen Richtung kommt und in eine andere Richtung zieht als die Dinge, um deren Konnex es geht. Die Dynamik läuft quer zur intendierten Verbindungslinie. Diese Relativierung geschieht jedoch nicht im Zeichen einer Herabstufung und Minderung, sondern vielmehr im Licht nachdrücklicher und soghafter Vielfalt. Relativiert sehen sich also weniger die an den Rand gerückten Relata als vielmehr jegliche Ansätze, die ihren Beziehungsreichtum auf den Engpass einer bipolaren Linearität reduzieren. Und auch die zuletzt angesprochene Unterminierung – das erweist der Kontext, aus dem der zitierte Passus stammt – richtet sich weniger gegen die Bezugspunkte der Relation als gegen deren einseitige Festlegung und Stillstellung. Relation wie Konjunktion bergen mehr, als sich für den Moment festhalten lässt. Diese alternative Auffassung von Konjunktion bildet das zentrale Interesse der hier vorliegenden Untersuchung. So spezifisch und kleinteilig dieses Anliegen anmuten mag, korreliert ihm ein größerer, äußerer Rahmen, der, wenn auch nur selten expliziert, von Beginn an mitzudenken ist: Die Selbstermächtigungen des neuzeitlichmodernen Subjekts schreiben ihre Erfolgs- und Katastrophengeschichte weiter fort. Kaum mehr vorzustellen, dass es einmal Zeiten gab, in denen sich dieses Wesen, das zu einem Bewusstsein seiner selbst begabt ist, nicht als den Dreh- und Angelpunkt der Welt gesetzt hat. Als ob „der ausschließliche Zweck menschlichen Denkens und Forschens eine möglichst lückenlose Durchdringung und Beherrschung der Erfahrungswelt sei.“ 4 Dieser „moderne Aberglauben“ hat sich bis heute mitnichten erledigt. Dabei setzt das Paradigma von Durchdringung und Beherrschung weiter auf Lückenlosigkeit: Unmittelbarer Zugriff und unmittelbare Verfügung bedürfen unmittelbarer Vermittlung. Sämtliche Einschnitte und Krisen dieser besitzergreifenden Einstellung zur Welt, wie sie etwa mit den Namen Kopernikus, Darwin und Freud verknüpft sind, mögen aufzeigen, dass die äußere wie die innere Welt lange nicht so zentriert und disponibel verfasst sind, wie erhofft und angenommen.5 Doch gehen Einsichten dieser Art nicht selten in neuerliche Selbstermächtigungen über, die ihren
4 | Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit – Die Krisis der Europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, München 2012 [1927–31], S. 91. 5 | Für eine differenziertere Darstellung der „kosmologischen“, „biologischen“ und „psychologischen“ Kränkungen des menschlichen Narzissmus vgl. Sigmund Freud: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: Imago – Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften, Bd. V, Leipzig/Wien 1919 [Budapest 1917], S. 1–7 sowie umfassender ders.: Das Unbehagen in der Kultur, Stuttgart 2010 [Wien 1931], S. 19ff.
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um keine Aufdringlichkeit verlegenen Selbstauftrag einmal mehr auszuagieren bereit sind. Scheinbar gänzlich unbeeindruckt bleibt keine Möglichkeit der technikverstärkten Zurichtung all dessen, was sich darbietet, unangetastet. Sind die Sätze von Gödel und Heisenberg schon verklungen, denen zufolge weder die Mathematik noch die Physik in der Lage ist, sich über ihre Grundlagen mit den eigenen Mitteln letzte Gewissheit zu verschaffen? 6 Der Reim, den sich der Mensch mittels Technik auf die Welt macht, wächst sich so monströs wie reduktionistisch aus.7 Das Experiment allumfassender Schicksalsmeisterschaft geht dabei weiter. Das Subjekt behauptet sein Primat, sei es, dass es welchen höheren Mächten auch immer kündigt und sie der Vergangenheit und den Fanatikern überlässt, sei es, dass es seinen Glauben in die Hand nimmt und zu seinem Nutzen zu gestalten versucht. „Jetzt hast du’s aber gesehen: sie haben leere Augen. Sie denken jede Minute nur daran, ihren Preis zu halten, sich möglichst teuer zu verkaufen. Sie wollen alles bezahlt haben, jede seelische Regung. Sie wissen, sie sind was in der Welt. Sie sind die Berufenen. Sie leben ja nur einmal. Wie wollen solche an etwas glauben?“ 8 Und wenn ich mich zuletzt zu einem Ja gegenüber meinem eigenen Untergang durchringe, habe ich es einmal mehr geschafft, einer Vermittlungssituation ihre unbestimmte Offenheit zu nehmen und sie zu einer Leistung maßgeblich meiner selbst zu modellieren. Die Enge dieses Subjekt-Daseins geht in Komfort und Sicherheit nicht auf. Es bleibt ein Unbehagen. Wie verträgt es sich allerdings, an dieser Situation Kritik zu üben und gleichzeitig auf ihre Annehmlichkeiten nicht verzichten zu wollen und mitunter auch nicht mehr zu können? Mit Blick auf die Rolle der Konjunktion ist entsprechend zu fragen, ob sie vornehmlich ein galantes Mittel darstellt, auf Beschränktheiten aller Art hinweisen zu können und die zugehörigen Vorteile doch einzustreichen –
6 | Vgl. Kurt Gödel: Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme I, in: Monatshefte für Mathematik und Physik 38, Leipzig 1931, S. 173–198 sowie Werner Heisenberg: Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik, in: Zeitschrift für Physik, Band 43, Berlin 1927, S. 172–198. 7 | Bei Dieter Mersch heißt es dazu: „Die vorherrschende Gestalt kultureller Praxis ist heute die Entscheidbarkeit. Sie diktiert unser Verständnis von Technik und Wissenschaft – wie sie gleichermaßen das bestimmt, was sagbar, vertretbar, darstellbar oder verhandelbar ist. Nur das Entscheidbare erscheint; das Unentscheidbare ist ohne Platz.“ (Ordo ab chao – Order from Noise, Zürich 2013, S. 45f, im Original kursiv) 8 | So der sogenannte Stalker, der Fährtensucher, abschließend in Andrej Tarkowskijs gleichnamigem Film (UdSSR 1980), der offensichtlich eine andere Art, zu glauben, anspricht. Zitiert nach Norbert P. Franz ( Hrsg.): Stalker – Protokoll des Films in der Original- und der deutschen Synchronfassung, übers. v. Wolfgang Woizick, Potsdam 2009, S. 100.
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nach dem Motto: Nicht nur noch günstiger, sondern auch noch mehr Inhalt und nicht nur mehr Inhalt, sondern auch noch mehr Qualität – höher, schneller, weiter, besser –, nicht nur, sondern auch. Im Folgenden soll ein Versuch unternommen werden, diese Problematik weder einfach abzulehnen noch begründetermaßen zu negieren, sondern aus ihr selbst heraus eine Grenze auszuloten. Denn sieht sich das nicht nur, sondern auch im Sinne eines immer mehr auf eine inkludierende Steigerungslogik verpflichtet, hebt es sich bei genauer Betrachtung selbst aus den Angeln: Nicht nur nicht nur, sondern auch, sondern auch. Die Frage lautet dann: Und dann? Folgt eine lineare Fortsetzung, eine Umkehr, ein Bruch, eine Ablenkung, ein Aussetzen, Abwarten oder etwas ganz anderes? Es mag alles Mögliche bereits zur Sprache gekommen sein, auf unterschiedlichsten Ebenen und in unterschiedlichster Hinsicht: Geht es nach der Konjunktion, reicht die Weite, in der dies alles stattfindet, weiter. Die zentrale Frage dieser Arbeit richtet sich also an die Konjunktion und ihr Vermögen, in ihrem Zwischen einen Raum zu entfalten, der komplexer beschaffen ist als die Verbindungslinie zweier Relata. Das Zwischen der Konjunktion birgt Variabilität und die Besonderheit dieses Potentials besteht darin, sich nicht zu verbrauchen. Stets impliziert nicht nur, sondern auch Weiteres. Was kann es dann heißen, im Denken dieser Konjunktion zu folgen? Die zentrale Schwierigkeit liegt auf der Hand: Die Konjunktion gibt einen Untersuchungsgegenstand ab, der nicht still hält. Wenn das leitende Interesse dem Aspekt gilt, dass nicht nur, sondern auch über Zusammenhänge allein linearer und bipolarer Natur hinausreicht, ist dem Phänomen auf diese Weise auch nicht beizukommen. Die Konjunktion fungiert dann nicht nur als Gegenstand, sondern ist zugleich auch als Mittel aktiv. Mit jedem Mal, dass die Sprache auf sie kommt, macht die Konjunktion deutlich, dass sie nicht ohne Weiteres zu haben ist. Dieser Hergang kann – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des konjunktionalen Selbstbezugs – uferlos erscheinen. Herkömmliche Subjekt-Objekt- und Zweck-Mittel-Relationen verlieren ihre Verfügungsgewalt. Stattdessen zeigt sich eine Offenheit, die sich nicht abschließend funktionalisieren lässt: eine Lücke im System. Gegen die Konsequenz dieser Offenheit liegen zwei Angriffspunkte besonders nahe. Zum einen ist zu fragen, ob das Weiterreichen der konjunktionalen Relationierung nicht eine schlichte Konsequenz der Zeit darstellt. Die Konjunktion folgte dann dem Lauf der Dinge und nicht umgekehrt. Unter diesem Vorzeichen bildete nicht nur, sondern auch nur eines von vielen Mitteln der Zeit, sich kundzutun. Jede Verbindung würde zu einer Abfolge. Auf den ersten Blick könnte sich auch diese Art von Relationslogik potentiell ins Endlose erstrecken; auf den zweiten Blick sieht sie sich jedoch von der Einheit der Zeit eingefasst, die sich darauf gründet, dass einzig die Tatsache,
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dass die Zeit vergeht, nicht vergeht. An die Stelle konjunktionaler Weite tritt letztlich die temporale Einheit, die Zeitlichkeit selbst, deren eigene Zeitlosigkeit die Gesamtheit der Zeit einrahmt.9 Von Seiten der Konjunktion stellt sich dann allerdings die Frage, wie die Relation von Zeit und Zeitlosigkeit genauer beschaffen ist. Brauchen sich beide – bei aller Negation – nicht auf eine grundsätzliche Weise gegenseitig? Und warum sollte es keine zeitlosen Momente in der Zeit und keine zeitlichen Einschübe in der Zeitlosigkeit geben sowie Momente zeitlicher Unbestimmtheit? Warum also sollte der Zwischenraum des Verhältnisses von Zeit und Zeitlosigkeit nicht passierbar und durchlässig sein? Wenn dem so wäre, könnten sich im Feld jener Relation auch noch andere Größen finden, etwa räumliche oder logisch-geistige oder unbestimmte. Warum also nicht anderweitige Weiten? Zum anderen kann der Einwand erhoben werden, dass das konjunktionale Weiterreichen nicht nur Unbestimmtheit integriert, sondern von dieser gar nicht mehr zu unterscheiden ist. Was sollte nach der Verknüpfung aller denkbaren Bestimmungen weiter bleiben als Unbestimmtheit? Das betrifft die Konjunktion auch selbst: Steht sie am Ende offen da, wird deutlich, dass sie keinen eigenen Referenten besitzt, also nichts aufweist, worauf sie eigens und spezifisch deutet.10 Diese Beschaffenheit hängt eng mit ihrer Funktion zusammen. Denn sobald die Konjunktion ihrer Vermittlungsfunktion nachkommt, rückt das Vermittelte in den Vordergrund. Und wenn die Aufmerksamkeit der Vermittlungsfunktion selbst gilt – wie im Fall der hiesigen Untersuchung –, ist eine neuerliche Vermittlung vonnöten, die dann ihrerseits in den Hintergrund tritt. Auf diese Weise muss das aktiv Vermittelnde als Medium stets vorausgesetzt werden und kann selbst nicht einsichtig, also auch nicht weiter verständlich werden. Das Denken hat sich schließlich damit abzufinden, dass es dieser Voraussetzung unterliegt.11 Erneut kann jedoch von Seiten der Konjunktion die Gegenfrage erhoben werden, wie die Relation von Bestimmtheit und Unbestimmtheit genauer beschaffen ist. Es macht einen gehörigen Unterschied aus, ob im Zwischen-
9 | Soweit könnte sich dieser Einwand auf die zeitphilosophischen Überlegungen in Georg Pichts Die Fundamente der griechischen Ontologie stützen (Stuttgart 1996, S. 190). 10 | Wohl aus diesem Grund fasst Aristoteles die Konjunktion in seiner Poetik als „Laut ohne Bedeutung“ auf (übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 63). 11 | Bei Ulrich Blau heißt es dazu: „Das natürliche Weltbild ist dualistisch, es unterscheidet zwischen Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Gewissheit und Wissen, Bewusstsein und Sein. Diese Trennungen sind unvermeidlich, die Verbindungen sind unverständlich, das dualistische Weltbild ist vermutlich falsch. Aber es gibt kein anderes, solange wir zwischen Welt und Bild unterscheiden.“ ( Das dualistische Welt-Bild, in: Jakob Steinbrenner u. Ulrich Winko ( Hrsg.): Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten & Wissenschaften, Paderborn 1997, S. 61)
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raum einer Relation nicht nur, sondern auch oder entweder-oder steht. Die Spezifik, die eine Konjunktion in eine Relation einbringt, ist dabei nicht allein formaler, nicht-inhaltlicher Natur. Sie kann darüber hinaus etwa auch qualitative, kausale oder modale Differenzierungen einbringen: Konkret nimmt sie dann Konnotationen wie andererseits oder gleichsam, folglich oder ursächlich, möglicherweise oder in jedem Fall in sich auf. Und mag die Konjunktion in ihrem medialen Fungieren auch in den Hintergrund treten und nicht ohne Weiteres hervorzuholen sein – mit dem Blick auf sie selbst macht es ebenfalls einen deutlichen Unterschied aus, welchen Weg eine Annäherung beschreitet. Gilt es, die Konjunktion zu observieren, zu definieren, zu instrumentalisieren oder auf einen eigenen, festen Standpunkt versuchsweise zu verzichten und ihr zu folgen? Die Vielgestaltigkeit der Verbindungsformen kehrt in der Thematisierung der Konjunktion selbst wieder. Warum also nicht zumindest versuchen, die Verengung exklusiv-dualistischer, mono-direktionaler Verbindungsweisen auf die umliegenden und eingehenden Weiten näherhin zu betrachten? Wenn der im Folgenden zugrunde gelegte Ansatz mit der Frage Was heißt: im Denken einer Konjunktion zu folgen? eingeleitet wird, klingt dabei eine hochgegriffene Referenz an. 1786 veröffentlichte Immanuel Kant einen Aufsatz unter dem Titel Was heißt: sich im Denken orientieren?, fünf Jahre nach der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft und ein Jahr vor der zweiten, erweiterten und überarbeiteten Fassung.12 Die vorliegende Arbeit stellt jedoch keinen Beitrag zur Kant-Forschung dar. Sie intendiert weder eine explizite Auseinandersetzung mit dem genannten Aufsatz noch der Kantischen Philosophie in einem weiteren Sinne. Die hiesige Untersuchung nimmt sich mit der Frage nach der Konjunktion – anstelle der des Orientierens – ein anderes Thema zur Aufgabe. Der Horizont und die Sterne sowie das Streben der Vernunft auf sie hin und über sie hinweg spielen dabei zwar ebenfalls eine Rolle. Zum engeren Kreis der Thematik gehört der Kant-Aufsatz jedoch nicht. So bleibt es vorerst bei einem fernen Gruß nach Königsberg ob der so trefflichen Formulierung und des Aufwerfens der Frage. Ähnlich verhält es sich mit der Referenz auf Sören Kierkegaard, der sein Alter Ego Victor Eremita 1843 damit betraute, eine Sammlung „Papiere“ von mutmaßlich zwei unbekannten Autoren unter dem Titel Entweder-Oder herauszugeben. Die vorliegende Arbeit stellt keinen Beitrag zur Kierkegaard-Forschung dar und enthält keine Auslegung des ersten großen Werkes des dänischen Philosophen. Denn eine explizite Auseinandersetzung mit der Konjunktion im engeren Sinne des Wortes ent-
12 | Immanuel Kant: Was heißt: sich im Denken orientieren?, in: Schriften zur Metaphysik und Logik 1, Frankfurt a.M. 1988.
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hält Entweder-Oder nicht. Die einzige Ausnahme bildet ein kurzes Skriptum aus den Papieren von A, das unter der Überschrift Ein ekstatischer Vortrag zu finden ist.13 Darin wird die Konjunktion als ein Parameter vorgestellt, der – lässt man sich auf ihn ein – nur zu enttäuschen wissen wird. Ganz gleich, welche der durch ihn eröffneten Optionen schließlich zum Zuge kommt, eine „doppelte Reue“ wird die Folge sein, etwa: „Lache über die Torheiten der Welt oder weine über sie, du wirst beides bereuen“. Entsprechend hält es sich A, der Vortragende, zu Gute, gar nicht erst mit irgendetwas anzufangen, das die Konjunktion einzuleiten im Begriff ist. Dergestalt verortet er sich vor die Konjunktion, in die Ungeschiedenheit eines „aeterno modo“. Scharf grenzt er diesen Zustand gegen jegliche Formen der Entgegensetzung, der Vereinigung oder der Vermittlung ab, um sich im Gegenzug von jeglichen Bindungen dieser Art freizusprechen: „Wenn ich also hier sage, dass ich nicht von meinem Grundsatz ausgehe, so hat dies seinen Gegensatz nicht in einem Davon-Ausgehen, sondern ist lediglich der negative Ausdruck für meinen Grundsatz, das, wodurch er sich selbst begreift im Gegensatz zu einem Davon-Ausgehen oder einem Nicht-davon-Ausgehen. Ich gehe nicht von meinem Grundsatz aus; denn ginge ich von ihm aus, würde ich es bereuen, ginge ich nicht von ihm aus, würde ich es auch bereuen. [. . .] Nun aber, da ich nie ausgehe, kann ich jederzeit aufhören; denn mein ewiger Ausgang ist mein ewiges Aufhören.“ 14 Die Verneinung, um die es hier geht, bezieht sich auch auf sich selbst, ohne dadurch jedoch zu einer Form der Bejahung zu gelangen. Die Negation der Negation führt nicht zu einer positiven und höheren Bestimmtheit des zuvor Negierten.15 Stattdessen beharrt die Widerrede darauf, weder sich noch etwas anderes zu positionieren. Der Verzicht, den Kierkegaard damit andenkt, führt aus den Umständen heraus, in denen sich ein Subjekt seine Grundsätze zurechtzulegen hat. Dafür gewinnt er die Möglichkeit, danach zu fragen, ob die Welt allein vom Horizont subjektiver Entscheidungsroutinen begrenzt und beglückt wird. Dasselbe Fragezeichen trifft die Mittel herkömmlicher Relationslogik – das Auseinanderhalten, Zusammenfügen und
13 | Sören Kierkegaard: Entweder-Oder – Teil I und II, übers. v. Heinrich Fauteck, München 2005, S. 49–51. 14 | Ebd., S. 50f. 15 | Damit wendet sich Kierkegaard implizit gegen die Hegelsche Dialektik. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Wissenschaft der Logik I, Frankfurt a.M. 2014 [Nürnberg 1812], S. 121ff.
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ausgleichende Vermitteln. Der so gewohnte wie selbstvergessene Umgang mit Relationen kommt an eine Grenze und darf sich irritiert fühlen. Vielleicht muss Relation nicht gleich Entscheidungsvollzug heißen und einem Subjekt dienen, das auf die Bestätigung seiner Gewohnheiten und Grundsätze aus ist. Diese Fragen stellen sich auch aus einer Warte, die den Fall nach sämtlichen denkbaren konjunktionalen Relationen eigens zu berücksichtigen versucht – unter umgedrehten Vorzeichen ein vielleicht nicht ganz unähnliches Extremum. Von dort ein Gruß nach Kopenhagen. Mit Blick auf die nähere Ausrichtung der folgenden Untersuchung ist nunmehr positiv vorauszuschicken, dass sie so stark wie ihr möglich auf eine kleine Auswahl von Texten fokussiert. Diese Quellen widmen sich entweder ganz der Frage nach der Konjunktion oder befassen sich zumindest sehr stark und weiterreichend mit ihr – und zwar ausdrücklich nicht in einem sprachwissenschaftlichen Sinne. Das treibende Interesse ist also kein sprachwissenschaftliches in der engeren Bedeutung des Wortes, sondern ein dezidiert medienphilosophisches, wie es in der Frage nach der Konjunktion, ihrer Rolle und ihren Möglichkeiten im sprachförmigen Denken aufscheint.16 Die Auffassung von Medienphilosophie, die damit angesprochen ist, sieht sich mit den Ansätzen von Michael Mayer und Dieter Mersch in Zusammenhang. Medienphilosophie stellt demnach „keinen vorübergehenden Trend in den akademischen Moden dar, keinen ‚Turn‘ und keine Sub- und Bindestrichdisziplin im Feld der Allgemeinen Philosophie, sondern die ausdrückliche Wendung hin zu einem Begriff des Mediums, der im Medium des Begriffs nicht erschöpfend zu verhandeln ist.“ 17 Im selben Kontext weisen Mayer und Mersch bereits auf die Thematik der Konjunktion hin: „In Medienphilosophie wird mithin explizit, was implizit die Diskurse der Philosophie von Anfang an heimsuchte und verunsicherte. Von Anfang an wurden die stehenden Oppositionen von Form und Stoff, Sensibilität und Intelligibilität, einer Welt der Erscheinungen und einer Welt der Ideen, Diesseits und Jenseits, von Schein
16 | Primär linguistischen Interessen können, wenn nicht schon bekannt, folgende Titel empfohlen werden: Für einen ersten Überblick Joachim Buscha: Lexikon der deutschen Konjunktionen, Leipzig 1989; weiterführend sowie als Nachschlagewerk Eva Breindl, Anna Volodina u. Ulrich Hermann Waßner: Handbuch der deutschen Konnektoren 2 – Semantik der deutschen Satzverknüpfer, Berlin/München/Boston 2014; und für die detaillierte Behandlung je spezifischer Aspekte Roland Harweg: Studien zu Konjunktionen und Präpositionen, Aachen 2010; Suang-Jing Pong: Konjunktion und konjunktionale Funktion, Frankfurt a.M. 2000; sowie Ulrike Sköries: Bedeutung und Funktion von and als dialogische Instruktion, Frankfurt a.M. 1999. 17 | Michael Mayer u. Dieter Mersch: Editorial, Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie, Volume 1, Berlin/München/Boston 2015, S. 8.
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und Sein, Allgemeinem und Besonderem, Geist und Materie, Zeichen und Bezeichnetem etc. durch jenen Rest destabilisiert, der zwischen sie trat und das ‚und‘, den Bezug als solchen, ermöglichte.“ Die Rolle, die der Konjunktion hier zugedacht wird, wird samt der genannten Kontexte an entsprechender Stelle näher zu beleuchten sein. Im Vorfeld ist hervorzuheben, dass weder „Medium“ noch „Konjunktion“ im Folgenden instrumentell verstanden werden: Ihre Begriffe stehen weder für technische noch esoterische Verfügungen und Machbarkeitsversprechen ein. Eine Medienphilosophie der Konjunktion ist entsprechend mit einer grundsätzlichen Verlagerung der Perspektive verbunden, wie Mayer betont: „Es geht nicht mehr um identifizierbare Elemente, gleichviel, was damit jeweils wie bestimmt werden mag – Menschen oder Maschinen, Dinge, Körper oder Artefakte, Apparate, Instrumente oder industrielle Komplexe –, sondern um die Beziehung zwischen diesen Elementen, die durch die scheinbar leere Konjunktion des ‚und‘ grammatisch ausgedrückt, medial induziert und reguliert wird.“ 18 So ungewohnt es erscheinen mag, das Ruder in der Hand jenes kleinen Zwischenwortes zu sehen, so rasch erfolgt zumeist die Rückkehr an ein vermeintlich festes Ufer. Bei Mayer heißt es weiter: „Das ‚und‘ erweist sich zwar als grammatischer Platzhalter des Medialen überhaupt, doch gerade deshalb zunehmend als Interventionsfeld von Machtbetrieben, die die Beziehungen, die Öffnung und Offenheit auf . . . , die Infinität des Lebens selbst zu finalisieren trachten.“ Dem konjunktionalen Potential, stets und erneut für eine Öffnung des Gegebenen gut zu sein, stehen demzufolge Bestrebungen der Vereinnahmung und der Schließung gegenüber. Solche Tendenzen der Engführung werden zwangsläufig darauf aus sein, die Konjunktion einem Begriff zuzuschlagen und unterzuordnen. Ein Denken, das dem entgegen der Konjunktion als Konjunktion zu folgen versucht, wird sich daran zu messen haben, ob es ihm gelingt, auch und gerade solchen begrifflichen Vereinnahmungen zu begegnen, sie zu relationieren und zu relativieren. Was sich in diesen projektierenden Zeilen ankündigt, ist ein anderes Denken, ein Denken, das weder daran glauben kann noch mag, alleine zu schalten und zu walten, sondern stattdessen und vor allem beziehungssensibel zu nennen ist sowie nichts als unbeteiligt und alles als beziehungshaft erachtet. In der umrissenen Frageperspektive liegt zur Konjunktion nicht nur, sondern auch bislang keinerlei Literatur vor. Nach dem Kenntnisstand des Verfassers sind ähnliche Untersuchungen zu anderen Konjunktionen ebenfalls nicht reich an der Zahl. Von besonderer Relevanz für das Folgende erweisen sich fünf Texte, die sich allesamt mit der Konjunktion und befassen, jenseits dessen allerdings formal wie inhaltlich
18 | Michael Mayer: Kapital als Medium, in: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie, hrsg. v. dems. u. Dieter Mersch, Volume 2, Berlin/München/Boston 2016, S. 149.
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stark differieren. Neben zwei Aufsätzen, die wohl aus Tagungsbeiträgen hervorgehen, kommen ein Essay, ein Buchkapitel und eine Habilitationsschrift zusammen. In dieser Reihenfolge ordnen sich die Funde nach einem steigenden Komplexitätsgrad; in derselben Reihenfolge werden sie auch bearbeitet. Den Auftakt macht ein Aufsatz von Mirjam Schaub: Das Wörtchen ‚und‘ – Zur Entdeckung der Konjunktion als philosophische Methode. Diese Entdeckung wird vor allem Gilles Deleuze gutgeschrieben und so bewegt sich die Untersuchung der Thematik vorrangig im Kontext seiner Philosophie. Sowohl das dezidiert philosophische Interesse an der Konjunktion als auch die Auseinandersetzung mit Deleuze sprechen dafür, die nähere Betrachtung dieses Aufsatzes im hiesigen Kontext an den Anfang zu stellen. Das zweite Kapitel befasst sich mit einem Aufsatz von Peter Bexte: ‚und‘ – Bruchstellen im Synthetischen. Im Untertitel klingt bereits eine strukturspezifische Diskussion an, die der Autor anhand von Beispielen entwickelt. Die exemplarischen Fälle stammen aus der Bildenden Kunst sowie der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte. In einem Abschnitt zur Philosophie kommen zudem Franz Rosenzweig und abermals Deleuze und Guattari zu Wort. Neben der thematischen Vielfalt, die sich rings um die philosophischen Aspekte entfaltet, ist es vor allem das Verhältnis von Analyse und Synthese, von Trennen und Verbinden, das in diesem Zusammenhang die Frage nach der Konjunktion bereichert. Nach den beiden Aufsätzen folgt ein Essay von William H. Gass, der schlicht and betitelt ist. Die Anschlussoffenheit der Konjunktion gibt diesem Text nicht nur das Thema, sondern auch den Anspruch. Vor allem mit sprach- und literaturwissenschaftlichen Mitteln versucht Gass, des kleinen Wortes und seiner Offenheit habhaft zu werden. Hinzu kommen Exkurse in die Logik und eine abschließende mythoskundige Erzählung, um die „Undheit“ aller Dinge einzukreisen. Nach einer kaum abschließbaren Deklination ihrer operativen Optionen wächst sich die Konjunktion unter der Feder des Autors jedoch ungebändigt zu einer Art Unvollständigkeitsparameter aus. Entsprechend gewinnt die Frage an Gewicht, wohin es führt, wenn die Konjunktion nicht mehr nur eine Observable oder ein Instrument darstellt. Hier nimmt ein Kapitel aus den Dialogen von Gilles Deleuze und Claire Parnet seinen Ausgangspunkt: Von der Überlegenheit der angloamerikanischen Literatur. Mit dem französischen Begriff agencement – in der deutschen Übersetzung am besten mit Gefüge wiedergegeben – gewinnt ein Denken von Verbindung deutlichere Konturen, dem Relation nicht mehr nur ein stillgestellter Gegenstand oder ein intentional vorbestimmtes Mittel ist. In einer Reihe von philosophiegeschichtlichen und zeitdiagnostischen Exkursen spürt dieses Denken seinen Quellen und aktuellen Reibungsflächen nach. Besondere Bedeutung gewinnen diese Zeilen für die hiesige
Einleitung: Nicht nur nicht nur, sondern auch | 19
Untersuchung zudem dadurch, dass sie nahezu alle Aspekte in sich zusammenführen, die Deleuze ansonsten recht verstreut über sein Werk mit der Konjunktion in Verbindung bringt. Zuletzt geht es um Karen Gloys Habilitationsschrift Einheit und Mannigfaltigkeit – Eine Strukturanalyse des ‚und‘. Diese gliedert sich entsprechend der Möglichkeiten, die beiden Großbegriffe ihres Titels aufeinander zu beziehen – nach Einschluss und Ausschluss, jeweils vom einen wie vom anderen Begriff aus gedacht. In jedem der resultierenden vier Komplexe fallen der Konjunktion andere Aufgaben zu, doch zeigt sich stets, dass sich der Beziehungsaspekt, für den die Konjunktion einsteht, in keinem Fall nach- oder unterordnen oder gar ausklammern lässt. Zur begrifflichen Herausforderung wird dies vor allem in der Relation von Einheit und zugleich Mannigfaltigkeit. Die Frage nach der Konjunktion stellt sich dann nicht mehr nur im Rahmen von Vermittlung und Begründung, sondern kommt um Momente der Öffnung und des Weitertreibens nicht mehr herum. Der Schluss der Untersuchung gehört schließlich nicht mehr nur implizit der Konjunktion nicht nur, sondern auch. Ausgehend von einer Zusammenfassung der vorherigen fünf Kapitel nimmt er sich zuerst des Verhältnisses von und und nicht nur, sondern auch an.19 Auf der Basis aller Befunde zum und wird sichtbar, dass und inwiefern sich nicht nur, sondern auch besser eignet, dem Gedanken einer konjunktionalen Beziehungshaftigkeit gebührende Weite und Komplexität zu schenken. Bleibt noch, einen Hinweis auf das nähere Vorgehen zu geben. So überschaubar die Zahl der Quelltexte, so ausführlich und detailliert versucht sich die folgende Untersuchung ihrer anzunehmen. In einem stets aufs Neue kleinschrittigen Verfahren wird jeder Text mit dem Finger am Wort nachvollzogen.20 Lässt sich diese Herangehensweise in den Kapiteln eins, zwei und drei durchaus als kleinliches Reformulieren und Befragen umschreiben, lockern sich Methode und Duktus in den Kapiteln vier und fünf langsam, um sich im Laufe des Schlusses schließlich freizuschwimmen. Das primäre Ansinnen der Arbeit mit den fünf Quellen ist es dabei bis zuletzt, die Texte an ihrem Thema zu messen: Was würde die Konjunktion sagen? Was würde sie bewirken auch an Stellen, an denen sie auf den ersten Blick nicht anzutreffen ist? Bei so vielen Zwischenräumen als möglich halt zu machen und zu schauen, was in und mit ihnen vor sich geht – so ließe sich die Methode in aller Kürze angeben. Dass sich
19 | Im Lateinischen ist das und expliziter Teil von nicht nur, sondern auch: Das in non solum, sed etiam enthaltene etiam setzt sich aus et und iam = und schon zusammen. 20 | Die Formulierung „mit dem Finger am Wort“, die dem Verfahren des close reading einen deutschen Begriff schenkt, verdanke ich Bruder Leopold Mader.
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das Verfahren nicht nach den unterschiedlichen Gattungen und Ansprüchen der zu untersuchenden Texte richtet, geschieht aus demselben Grund: Von der Warte einer Konjunktion aus ist kein Detail unbedeutend. Jeder Kiesel gibt dem Fluss eine Richtung. Zusätzliche Quellen kommen vornehmlich dann zu Wort, wenn sie bereits in den Primärtexten eingebettet sind oder in besonderer Weise nahegelegt werden. Die kapitelweise erfolgenden Abschlussbetrachtungen nehmen bei besonderer Triftigkeit Aspekte der Externa nochmals gesondert in den Blick. Ansonsten entspinnt sich die Auseinandersetzung mit außenstehenden Stimmen vorrangig im Raum der Fußnoten. Zwei letzte Hinweise: Diese Zeilen entstanden aus Liebe zur Sache. Mein Dank gilt allen, die das Folgende in der Zeit seiner Entstehung begleitet und unterstützt haben, insbesondere meinen Eltern.
1. Das und als philosophische Methode Zu Mirjam Schaubs Das Wörtchen ‚und‘
Zeit seines Lebens beschäftigte Gilles Deleuze (1925–95) das Thema der Relation, das eine gesonderte Aufmerksamkeit für die Konjunktion und mit sich brachte.1 Mirjam Schaub nahm sich zur Aufgabe, zu zeigen, dass sich aus den wiederholten Bezugnahmen auf die unscheinbare Konjunktion bei Deleuze eine Linie ergibt, das heißt, dass jene Äußerungen weder unvermittelt noch unvermittelbar fielen. Im Rahmen eines Aufsatzes reflektiert sie auf Voraussetzungen, Absichten und Übertragungsmöglichkeiten des Deleuzeschen Denkens der Konjunktion. Entgegen den diversen Stoßrichtungen der Rezeption, die sich vornehmlich an Deleuzeschen Termini festmachen, spricht sich Schaub dafür aus, in der scheinbar so simplen Partikel und nicht weniger als eine philosophische Methode zu erblicken. Welche Argumente sie dafür heranzieht und vorträgt, soll im Folgenden nachgezeichnet und befragt werden.2
1 | Exemplarisch ein Zitat aus dem Frühwerk: „Tatsächlich ist die Beziehung nicht einsinnig, und darf nicht mit einer Richtung verwechselt werden. Relationen setzen zwischen Vorstellungen eine Bewegung in Gang, eine Art Pendelbewegung, die bewirkt, dass eine Vorstellung nicht nur zu einer anderen führt, sondern de jure die zweite auch zur ersteren führt: die Bewegung verläuft in beiden Richtungen.“ (Gilles Deleuze: David Hume, übers. v. Peter Geble u. Martin Weinmann, Frankfurt a.M. 1997 [Paris 1953], S. 154) Ein Beleg aus dem Spätwerk findet sich im hiesigen Kontext auf S. 9. 2 | Mirjam Schaub: Das Wörtchen ‚und‘ – Zur Entdeckung der Konjunktion als philosophische Methode, in: Friedrich Balke u. Marc Rölli ( Hg.): Philosophie und Nicht-Philosophie – Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen, Bielefeld 2011, S. 227–251. Die Nummern in Klammern, wie sie sich im Folgenden finden werden, beziehen sich auf die Seitenzahlen jener Ausgabe.
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Den Einstieg nimmt Mirjam Schaub über den Begriff der Interdisziplinarität. Dass sich dieser aktuell einer großen und weit gestreuten Beliebtheit erfreut, bedarf keines gesonderten Nachweises. Dennoch liegt Schaub zufolge nicht unmittelbar auf der Hand, warum ein Forschen ergiebiger ausfallen sollte, wenn es sich für den Zwischenoder Übergangsbereich zu anderen wissenschaftlichen Disziplinen öffnet, anstatt sich ganz auf das je Eigene und die „natürlichen Verstärkereffekte des Ähnlichen“ zu konzentrieren (227). Sowohl praktische Mittel zur Überbrückung der Differenzen verschiedener, wissenschaftlicher Arbeitsbereiche, als auch theoretisches Wissen um die Bedingungen der Möglichkeit dazu dürfen nach Schaub als unklar gelten. Die Fragen, die die Interdisziplinarität aufgibt, sind mit ihrer Konjunktur als Phänomen und Begriff wohl eher verschärft als schon beantwortet. Ausgehend von diesem Befund obliegt es der Theorie, den Begriff weiter zu untersuchen. Im Falle der Interdisziplinarität eröffnet das primär zwei Wege, deren erster am Präfix Inter-, deren zweiter an der Disziplinarität ansetzt. Mirjam Schaub entscheidet sich für den ersten, scheint es doch vom Inter- des Interdisziplinären zur Konjunktion des und nicht mehr weit. Mit kleinem Vorbehalt – „womöglich“ – räumt sie der Konjunktion sogleich ein höheres Potential ein, über wissenschaftsinterne Grenzen hinweg zu vermitteln. Dass es sich bei inter bzw. zwischen nicht um eine Konjunktion, sondern eine Präposition handelt – hier in der Rolle eines Präfixes –, wird von Schaub nicht weiter verfolgt. Das hätte jedoch von Interesse sein können, insofern und und zwischen grammatikalisch nicht gleichwertig sind und sich also nicht als Optionen für ein und dieselbe Art von Anwendungen ausschließen. Vielmehr können sich beide gegenseitig ergänzen. Etwa werden Ort und Zeit der Konjunktion und mit dem (substantivierten) Zwischen namhaft.3 Schaub gibt im selben Satz, mit dem sie und und zwischen gegenüberstellt, also dem und den Vorzug. Eine erste Charakterisierung der Effekte der Konjunktion begleitet diesen Schritt. Demnach ist es genau genommen zweierlei, was Verknüpfungen via und auszeichnet: Die Unterschiede, die zwischen dem je Verknüpften bestehen, werden durch und als drittes Element weder verneint noch überhöhend bejaht. Als zweites kommt hinzu, dass sich jene räumlich konnotierte Zurückhaltung der und-Verknüpfung auch zeitlich auswirkt: Während der Zeit des so gearteten Verknüp-
3 | Auf jenes Zwischen geht Heidegger in Unterwegs zur Sprache ein und weist damit auf eine sprachbezogene Differenz- und Medientheorie hin – auch wenn anstelle von Differenz und Medium von Unter-Schied die Rede ist. Vgl. ders.: Unterwegs zur Sprache, Frankfurt a.M. 1985, S. 22f. Jene Referenz klingt bei Mirjam Schaub in einem Zitat Heideggers an, das aus Schellings Abhandlung stammt und ihrem Text vorangestellt ist: „Das ‚und‘, die Möglichkeit dieses Zwiespalts und all dessen, was er verschlossen hält, ist das Entscheidende.“ (Tübingen 1971, S. 117)
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fens erhält an ihrer Stelle eine vorschnelle Nivellierung oder Relativierung von Unterschieden keinen Platz. In beiden Fällen könnten, darauf geht Schaub nicht eigens ein, vergleichende Verknüpfungen mit der Konjunktion als einen Kontrast bilden, welche, wenn sie einem Adjektiv folgen, mit diesem zusammen eine positive oder negative Steigerung implizieren: Dieses ist wichtiger/unwichtiger als jenes.4 Das zeitliche wie räumliche Versammeln aber Bestehen-Lassen von Differenzen ist dem entgegen die erste nähere Zuschreibung an die Konjunktion und. Gleichzeitig ist damit bereits der Kern eines möglichen philosophischen Programms benannt: „Die Kunst der produktiven Verbindung des Verschiedenen, ohne die Verschiedenheit zu leugnen oder zu nivellieren, rückt damit ins Zentrum einer Philosophie der Konjunktion.“ (228) Worin ist das spezifisch Produktive zu sehen, das der Konjunktion und zugeschrieben wird? Diese Frage stellt sich umso mehr, als die Kennzeichnungen, die bis zu dieser Stelle an das und herangetragen werden, mehrheitlich, wie in dem herausgestellten Satz, in der Form negativer Aussagen erfolgen. Ein erster Hinweis findet sich bereits im Rahmen der Vorbemerkungen zur Interdisziplinarität, insofern sich ein produktives Moment darin abzeichnet, „wenn der schiere Kontakt“, den die Verknüpfung vermittelt, „allein nahe legt, einen veränderten Blick auf das je Eigene werfen zu müssen.“ Folglich geht es um eine „Schärfung der eigenen disziplinären Bewusstheit“ (beide 228). Die Fragen nach Eigenem und Anderem sowie die Zusammenhänge der zugehörigen Perspektiven bereits an dieser Stelle zu vertiefen, würde die Nähe zu den Zeilen des Primärtextes schnell verlassen. Umso mehr insistiert die Frage, wie es nach obigem Zitat zu verstehen ist, dass ein Müssen nahegelegt wird: „wenn der schiere Kontakt allein nahelegt, einen veränderten Blick auf das je Eigene werfen zu müssen.“ Das Offerieren einer Pflicht scheint paradox, umso mehr, wenn Ironie ausgeschlossen werden kann. Jedoch geht die Auffassung eines Paradoxons von einer Gleichzeitigkeit aus. Nahelegen und Müssen werden aufeinander bezogen, während beide in ihren jeweiligen Bezügen zur selben Zeit bereits feststehen. Das Nahelegen gehört derselben Zeit an wie das Müssen, das nahegelegt wird. Diese Voraussetzung ist im Fall der hiesigen Ausdrucksweise offensichtlich nicht gegeben, sonst würde diese bei genauerer Hinsicht absurde Züge annehmen. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass das Nahelegen nach einer anderen zeitlichen Ordnung verfährt als das Müssen, etwa: Während das Erste bereits im Gange ist, beginnt sich das Zweite erst nach und nach herauszustellen. Lohnenswert scheint jenes Nachhaken wiederum
4 | Als gilt grammatikalisch als Konjunktion und nicht als Präposition, da es keinen bestimmten Kasus nach sich fordert, sondern den je zuvor geforderten weiterleitet.
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vor dem Hintergrund der Konjunktion und, denn jene zeitliche Staffelung, und sei sie noch so kurz, kann auf die Verknüpfung zurückbezogen werden: Während die Konjunktion differente Größen einfach verknüpft, das heißt selbst keine weiteren qualitativen Differenzierungen an diese heranträgt, kann sich währenddessen hinsichtlich der je eigenen Bezüge der verknüpften Größen etwas ändern. Zumindest die Möglichkeit derartiger struktureller Implikationen wird weiter im Blick zu behalten sein, wenn die Frage lautet: „Wie kann Heterogenes mit- und zueinander in ein produktives Verhältnis gesetzt werden, wie miteinander agieren?“ (228) So eng Mirjam Schaub zu Beginn den Blick auf den Begriff der Interdisziplinarität richtete, so weit greift sie im Anschluss auf die Philosophie als Ganzes aus. Ihr zufolge steht Philosophie für ein historisches und systematisches Konvolut von Diskursen und Dokumenten. Historisch könne die Philosophie als der Ausgangspunkt zahlreicher jüngerer wissenschaftlicher Disziplinen gelten. Schaub nennt diesbezüglich die Physik und die Psychologie. Als Antrieb dieser Geschichte von Abspaltungen und Spezifizierungen verweist sie auf den von Thomas Kuhn geprägten Begriff des Paradigmenwechsels. Wenn sich ein Paradigma neu herausstellt, spaltet es die betroffene wissenschaftliche Gemeinschaft in jene, die der Änderung folgen, und jene, die ihr die Gefolgschaft verweigern. Gegenwärtige Philosophie könnte vor dieser Folie als der unspezifische Rest erscheinen, der übrig geblieben ist, nachdem sich sämtliche andere wissenschaftliche Disziplinen erfolgreich aus und von ihr spezifiziert haben. Diesem Generalverdacht entgegen weist Schaub darauf hin, dass die Philosophie nicht nur historische, sondern auch systematische Geltung besitzt. Wendet man nämlich die Unspezifik, tritt auf ihrer Kehrseite eine Offenheit und Beweglichkeit zu Tage, die den jüngeren Wissenschaften durch die Spezifizierung ihrer Foki ebenso systematisch erschwert oder gar verbaut sein kann. Von daher können jene fachwissenschaftlichen Ausdifferenzierungen gleichsam als Beleg für die anhaltende Relevanz der Philosophie herangezogen werden. Denn gerade wenn das Eintreffen oder Ausbleiben bestimmter Ergebnisse Zweifel bezüglich des Sinn und Zwecks der festgelegten Fachgrenzen wachruft, dient die Philosophie nicht selten als essentielle Rücklage, um der anschließenden Selbstreflexion methodischen Halt zu vermitteln.5 In der Zusammenschau beider vorgetragenen Aspekte – der Historizität mit dem Verdacht der
5 | Eine entgegengesetzte Auffassung der Philosophie und ihres Werdeganges formuliert Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches (1886) unter dem Stichwort Der Störenfried in der Wissenschaft: „Die Philosophie schied sich von der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: welches ist diejenige Erkenntnis der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten lebt? Dies geschah in den sokratischen Schulen: durch den Gesichtspunkt des Glücks unter-
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Antiquiertheit und der Aktualität mit dem Vorzug undisziplinierter Beweglichkeit – verortet Schaub die Philosophie auf einem disparaten Feld. Die Konsequenz dieser Herleitung erstreckt sich nun, folgt man Schaub weiter, nicht nur weit zurück und über viele wissenschaftliche Disziplinen und Subdisziplinen hinweg, sondern wirkt sich auch nach Innen aus. Demnach setzt die Philosophie in sich fort, was die Einheitlichkeit ihres Namens oberflächlich zu überbrücken scheint: Heterogenität und Dissonanz durchziehen ebenfalls die eigenen, dann fragwürdigen Reihen. Mitunter sei es gar Feindschaft, was einzelne philosophische Schulen miteinander verbinde. Auf diesen Befund fällt möglicherweise jedoch ein anderes Licht, denkt man an die Zuschreibungen zurück, die sich zuvor an die Konjunktion und richteten. Mit der Eigenschaft, Differenzen zu versammeln ohne sie vorschnell und einseitig aufzulösen, scheint die Konjunktion in der Philosophie ganz zu Hause sein zu können. Ein üppiger Fundus an Differenzen und Diskrepanzen ist dort gewiss und systematische Gründe versprechen, dies auch in Zukunft zu verbürgen. Jene Gründe sind es wohl auch, die Schaub nach verborgenen philosophischen Kenntnissen hinsichtlich der Thematik der Konjunktion fragen lassen: „Welchen Schatz an Wissen hält die Philosophie, die ihre eigene irritierende Vielfalt gerade durch das Beharren auf der Nicht-Verbindung wahrt, über die ‚Kunst der Konjunktion‘ parat [...] ?“ (229) Diese Frage bringt Mirjam Schaub auf Deleuze zu sprechen. Die einleitenden Themen der Interdisziplinarität und der Philosophie als solcher scheinen sich bei ihm in einem hohen Maße zu verschränken. Doch so sehr sein Denken im Hinblick auf einzelne Termini oder Theoreme Anschlussfähigkeit verspricht, so sehr begünstigen sein „bis an die Schmerzensgrenze offener Vortragsstil“ und der auf ihn ausgeübte „Aktualitäts- und Anwendungsdruck“ Missverständnisse (229f). Unter Berufung auf Rezeptionshinweise von Deleuze selbst, versucht Schaub anhand von drei Punkten herauszustellen, wodurch sie die Extraktion einer philosophischen Methode der Konjunktion aus dem Deleuzeschen Œuvre gerechtfertigt sieht. Erstens dient die ausgewiesene Eigenschaft des Gegenstandes der Konjunktion, Differentes zu versammeln ohne Differenzen zu beschneiden, als Leitlinie. Diese Ausrichtung ermöglicht einen kritischen Abstand zum Deleuzeschen Denken selbst, sowie zu jenen Positionen, die sich in einem engeren Sinne dazu positionieren, sei es, dass sie auf Affirmation oder Ablehnung bauen.
band man die Blutadern der wissenschaftlichen Forschung – und tut es heute noch.“ (Frankfurt a.M. 1982, S. 22)
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Zweitens stellt eine Methode kein einfaches Rezept dar. Schaub beruft sich zwar nicht auf die Etymologie des Methodenbegriffs, fordert jedoch eine genauere Befragung der Deleuzeschen Begriffe Fluktuation und Proliferation. Diese könnten als Richtgrößen für ein „prozesslogisches und vollzugsorientiertes Philosophieren“ dienen.6 Nicht eine „distanzlose Anwendbarkeit und instantane Applikation“ stehen demnach auf dem Programm, sondern eine ergebnisoffene und insofern „unorthodoxe Prüfung von philosophischen Sachverhalten“ (230f). In der naturgemäß begriffsorientierten Exegese des Deleuzeschen Œuvres kann eine Untersuchung der Konjunktion und damit nicht nur einen kritischen, sondern auch einen ergänzenden Beitrag leisten. Drittens leitet das unscheinbare und weniger auf die methodischen Selbstbeschreibungen von Deleuze, die sich meist an sehr verdichteten Formeln festmachen,7 sondern vielmehr auf deren Umsetzung. Das heißt zum einen, dass sich jene Methode der Konjunktion nicht an einem bestimmten Punkt seines Denkens ausbuchstabierte, sondern sich schrittweise implizit entwickelte und nur vereinzelt und bruchstückhaftprojektierend als solche explizit zum Vorschein kam. Zum anderen ist insbesondere auf die erste philosophiegeschichtliche Auseinandersetzung von Deleuze mit David Hume zu achten, da Hume die Thematik der Konjunktion bei Deleuze angestoßen haben könnte und in jedem Fall stark inspiriert hat. Mit diesen drei Punkten erhält die These von Mirjam Schaub, gerade in der Konjunktion und den Parameter einer philosophischen Methode zu sehen, klarere Konturen: Von der Konjunktion ausgehend, verspricht die Untersuchung ihrer Implikationen einen Grundzug der Deleuzeschen Philosophie sichtbar zu machen – und zwar in einem kritischen, ergänzenden und erneuernden Licht. Und von der Deleuzeschen Philosophie ausgehend, bieten sich offenbar unterschiedliche Mittel, die Konjunktion und als einen methodischen Parameter zu begreifen und womöglich weiterzuentwickeln. Für die Verteidigung ihrer These wendet sich Mirjam Schaub zuerst gegen den Vorbehalt, im und ein Motiv der Ablenkung, des bequemen Aufschubs und der Schwäche zu erblicken. Dafür muss sie folgender Frage begegnen: Was spricht für die Setzung eines und, wenn eine Entscheidung und der Abschluss in einem Urteil ge-
6 | Der Begriff der Methode leitet sich von griechisch metá „hinter, nach“ und hodós „Weg“ her, vgl. Duden-Herkunftswörterbuch, Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 2006, S. 524. 7 | Schaub nennt die Beispiele „‚transzendentaler Empirismus‘ (wie 1968 in Differenz und Wiederholung), seinen taxonomisch-genealogisch-kritischen Zugang (wie er ihn im NietzscheBuch von 1962 projektierte) oder die Figur der ‚Gegenverwirklichung‘ (contre-effectuation) aus Logik des Sinns (1969)“ (231).
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boten ist? Aus einem Interview, das den Cahiers du cinéma entstammt, zitiert Schaub eine Passage, in der Deleuze jene schließenden Urteile nach zwei Typen differenziert: dem Typus der Zuschreibung (a ist b) und dem Typus der Existenz (a ist). Diesen beiden Urteilsformen gegenüber sieht Deleuze – unter Berufung auf Vorstöße aus der angelsächsischen Philosophie – die Möglichkeit eines Relationsurteils, das seinen Vollzug im und findet.8 Dabei geht er soweit, in jenem und nicht weniger als „die Mannigfaltigkeit, die Vielheit, die Zerstörung der Identitäten“ zu erblicken.9 Betont vorsichtig setzt Schaub es unter das Vorzeichen der Intuition, in dem Spielraum, den Deleuze der Konjunktion und zuerkennt, eine „bewusste, methodische Entscheidung“ zu sehen (232). Folglich wird es weiter darum gehen, zu überprüfen, inwieweit die Implikationen, die Deleuze selbst am und festmacht, auch als methodische Parameter seiner Philosophie und Philosophiegeschichtsschreibung angesehen werden können. Die Herausarbeitung einer Methode der Konjunktion beginnt Mirjam Schaub mit einem überblickshaften Abriss der zugehörigen Ziele, Mittel und Folgen. Was trachtet ein methodisches Vorgehen mit der Konjunktion und zu erreichen? Was lässt sich über etwaige Ziele sagen und wie lässt sich darüber sprechen, soll die zugehörige Methode eben nicht auf eine reduktionistische Handlungsanleitung hinauslaufen? Schaub führt hierzu den Anspruch auf Erneuerung an, der der Methode vorausgeht, um von ihr eingelöst und aktualisiert zu werden. Dabei fällt auf, dass sich Schaub an dieser Stelle bevorzugt sprachlicher Bilder bedient, etwa wenn fachfremde Termini via und „wie Testballons“ in kanonische Gefilde der Philosophie ziehen, um dem Denken ungewohnte Wege zu ermöglichen.10 Nachdem das und zu einem Element stets
8 | Deleuze führt nicht weiter aus, auf wen er sich dabei bezieht. Mirjam Schaub wird später auf David Hume zu sprechen kommen, der in dieser Hinsicht mit Sicherheit unter die zentralen Referenzen zählt. Des Weiteren kann der Text Von der Überlegenheit der anglo-amerikanischen Literatur als Ausführung des knappen Hinweises aus den Cahiers gelten. Dieser findet sich in: Gilles Deleuze u. Claire Parnet: Dialoge, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1980, S. 43– 82. Vgl. dazu im hiesigen Zusammenhang das Kapitel zum und als Funktion der Irritation und Wandlung. 9 | Auch wenn die These einer Methode der Konjunktion auf deren Implizitheit bei Deleuze abhebt, zeigt sich hier, dass die expliziten Hinweise, die Deleuze zum und gibt, zur Plausibilisierung große Dienste leisten. Die zitierte Stelle findet sich in den Cahiers du cinéma Nr. 271, 1976, in: Gilles Deleuze: Drei Fragen zu six fois deux (Godard). Dies wiederum in: ders.: Unterhandlungen, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a. M. 1993, S. 67f. 10 | Deleuze selbst stand der Metapher sehr skeptisch gegenüber. In den Dialogen mit Claire Parnet geht er soweit zu sagen, „ jede Metapher ist ein schmutziges, ein ‚faules‘ Wort oder
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ein zweites hinzufügt, ohne die Beziehung der beiden Größen qualitativ zu berühren, können durch seine Vermittlung die ungewöhnlichsten Verknüpfungen stattfinden. Für etablierte Begrifflichkeiten und Zusammenhänge kann das eine entsprechend große Herausforderung bedeuten. Allerdings, das ist zu Schaub ergänzend anzumerken, funktioniert jene Logik der Konfrontation in umgekehrter Richtung nicht minder, das heißt das Ungewöhnliche kann via und in gleicher Weise mit dem Gewöhnlichen in Verbindung gebracht werden. Das hat seinen Grund darin, dass die Konjunktion sich hinsichtlich ihrer Referenzgrößen strukturell egalitär verhält. Sie ist für dieses wie jenes offen und hat von sich aus keine Vorzugsrichtung. Das bedeutet keine Aufhebung, weder für innovatorische noch für konservativ gesinnte Einwürfe, allein es zeigt sich, dass jedweder Einsatz nicht nur mit Einbeziehung, sondern auch mit Widerrede rechnen darf, ist doch die Schwelle für beides nicht höher als ein abermaliges und. Bezüglich der Mittel der Methode hätte es sich zudem anbieten können, erste feinere Differenzierungen von Begriffen wie Verknüpfung und Verbindung, Relation und Beziehung, Konfrontation und Konstellation vorzunehmen. Vorerst bleibt es nach Schaub jedoch bei einer mehr oder weniger synonymischen Verwendung der Termini, die sich allesamt in den Dienst des und gestellt sehen. Dafür deutet sie kurz an – und nimmt in gewisser Weise vorweg –, dass jene Mittel etwas „Experimentelles, Künstliches und Voluntaristisches“ mit sich bringen. Unter diesen Vorzeichen richtet sich die „Verbindung heterogener Begriffswelten“ auf die Möglichkeit von etwas Neuem (232). Das wirft – noch immer im Rahmen des kurzen Überblicks – die Frage auf, wie es dazu kommt, dass Verknüpfungen mittels und derartige Konsequenzen nach sich ziehen. Wie im Falle der Ziele kann es bei den Folgen aus einer Methode der Konjunktion nicht um die Angabe von konkreten Zuständen und Rezepten gehen. Vielmehr interessiert die Frage struktureller Implikationen: Was geht damit einher, wenn eine sprachliche Operation gemäß ihrer Anlage,
macht es dazu“. An späterer Stelle kommt er nochmals darauf zurück: „Wir [Gilles Deleuze und Félix Guattari] machen absolut keinen metaphorischen Gebrauch von diesen Begriffen, wir sagen genau nicht: Das ist ‚wie‘ ein schwarzes Loch in der Astronomie, das ist ‚wie‘ eine weiße Leinwand in der Malerei. Wir bedienen uns deterritorialisierter, das heißt aus ihrem Feld herausgerissener Termini, um einen weiteren Terminus, den des ‚Gesichts‘, der ‚Gesichtlichkeit‘, als sozialer Funktion, zu re-territorialisieren.“ (Gilles Deleuze u. Claire Parnet: Dialoge, a.a.O., S. 11 u. 25) Sicher ging es Deleuze dabei nicht um das Aufstellen einer Regel wider metaphorischen Sprachgebrauch, sondern vielmehr um das Entlarven und Bloßstellen von sprachlichen Strukturen, die dem Prinzip der Repräsentation dienen: Eines steht für etwas anderes bzw. hat dafür zu stehen. Über diese Problematisierung hinaus wird im Folgenden darauf zu achten sein, was den Zusammenhang von Konjunktion und Bildlichkeit betrifft.
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das heißt ihrer internen Funktionslogik stets eine Fortsetzung fordert? Die naheliegenden Vorwürfe von Willkür und Beliebigkeit kommen nicht eigens zur Sprache, doch sind wohl sie es, gegen die Mirjam Schaub den Trumpf der Spätergeborenen ausspielt: Sie beruft sich auf die breite Anerkennung, die die Fachwelt den philosophiehistorischen Monographien von Deleuze bis heute zukommen lässt.11 Demzufolge muss es Deleuze gelungen sein, trotz der bedrohlichen Offenheit und dem ständigen Weitertreiben der Methode der Konjunktion „etwas Stichhaltiges und Neues“ erarbeitet zu haben. Mit dem argumentativen Einsatz dieses Befundes droht allerdings durcheinander zu gehen, was einerseits die Intentionen von Deleuze und andererseits die Reaktionen der Um- und Nachwelt anbelangt. Schaub pendelt zwischen dem Reformulieren der Ansprüche, die Deleuze sich selber stellte, und dem Versuch, die Erfüllung bzw. Erfüllbarkeit dieser Ansprüche nachzuweisen. Ein solcher Nachweis kann sich vor dem Hintergrund der Rezeption der Deleuzeschen Werke vielleicht bekräftigt, nicht jedoch erbracht sehen. Andernfalls befände man sich in der Logik eines linearen Reiz-Reaktions-Schemas, nach dem sich im Nachhinein auf eine bestimmte Art etwas auswirkt, weil es im Vorfeld entsprechend angelegt wurde. Die Nachteile jener Bezugnahme auf die postume Anerkennung durch die jeweilige Expertenschaft zeigen sich nochmals, wenn Mirjam Schaub einräumt, dass die von Deleuze gewagten, terminologischen Verknüpfungen der Möglichkeit, zu scheitern, nicht enthoben sind und dass ein solches Scheitern „fraglos auch geschieht“ (233). Wie aber sieht dieses Scheitern aus, wenn es eintritt? Scheitert eine Konjunktion im Allgemeinen, entkoppelt etwa durch den unaufhaltsamen Lauf der Zeit, oder scheitert sie im Spezifischen an bestimmten Eigenschaften, die ihr selbst oder ihren Verbindungselementen eingeschrieben sind? Stellt die „Zerstörung der Identitäten“, die Deleuze dem Urteilstyp der Relation anrechnet, ein Scheitern dar? Wäre es das Scheitern der Prinzipien von Existenz- und Zuschreibungsurteil, das schließlich auch das Relationsurteil nicht unberührt ließe? Scheitert die „Kunst der Verbindung“ schließlich und konsequent an sich selbst? Oder wird das Scheitern, insofern das und weiter und immerfort auf einen Nicht-Abschluss von Existenz- und Zuschreibungsurteil beharrt, kaum mehr so definitiv sein können, dass es bei der Existenz oder Zuschreibung von Scheitern bleibt? Dann wäre auch das Scheitern ein Phänomen oder eine Zuschreibung, deren Urteil von den Wucherungen des und wieder gelockert und gelöst
11 | Als Kontrast führt Schaub Manfred Frank an, der die gemeinsamen Arbeiten von Deleuze und Guattari von Seiten der Subjektphilosophie aus kritisiert. Ob seine Motive in die Richtung der Problematik von Willkür und Beliebigkeit weisen, geht daraus jedoch nicht hervor (vgl. 232).
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wird. Schaub geht auf Fragen dieser Art nicht weiter ein.12 Eine Verfolgung dieser oder ähnlicher Fragen wäre wünschenswert, denn gerade an ihnen wäre es, den experimentellen Status der Deleuzeschen Verknüpfungen als solchen auszuweisen. Die Berufung auf den Erfolg der Experimente von Deleuze scheint dagegen eine feinere Ausdifferenzierung und Nachvollziehbarkeit derselben mehr zu erschweren, als dass sie diese fördert. Auf die kursorische Darstellung von Zielen, Mitteln und Folgen, die eine potentielle Methode der Konjunktion im Kontext der Deleuzeschen Philosophie auszeichnen, baut Mirjam Schaub eine Reihe weiterer Charakterisierungen auf, die direkt an die Verknüpfung adressiert sind. Demnach bietet das und eine Verbindung an, die verbürgt, dass sie Was-auch-immer zusammenbringt, die aber keinerlei Versprechen abgibt, dass das Zusammengebrachte auch zusammenbleibt. „Sie schafft Kohärenz bloß auf Zeit, denn ihr haften fraglos disparate Wirkungen an.“ (234) Zurückzudenken ist an die Programmatik eines „prozesslogischen und vollzugsorientierten Philosophie-
12 | Dass die Möglichkeit des Scheiterns einer Konjunktion von Mirjam Schaub dennoch angesprochen wird, könnte seinen Grund in wiederholten Aussagen von Deleuze selbst haben, in denen er sich (und Guattari) jene nicht weiter begründete Möglichkeit des Scheiterns und ihr Eintreten zuschreibt: „Was ich in meinen früheren Büchern versucht hatte, war die Beschreibung einer bestimmten Ausübung des Denkens; die Beschreibung war aber noch nicht die Ausübung des Denkens in eben dieser Weise. (Genauso wenig wie ‚Es lebe das Vielfältige‘ bedeutet, es auch zu tun; das Vielfältige ist zu tun. Es reicht auch nicht, dass man sagt: ‚Nieder mit den Gattungen‘ – man muss effektiv so schreiben, dass keine ‚Gattungen‘ mehr bestehen.) Mit Félix wurde dies alles möglich, sogar noch unser Scheitern. Wir waren nur zwei, was für uns allerdings zählte, war weniger der Umstand, gemeinsam zu arbeiten, als dass dies zwischen uns beiden geschah.“ (Gilles Deleuze und Claire Parnet: Dialoge, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1980, S. 24) Auf die Konjunktion zurückbezogen verweist die Bescheinigung des Scheiterns auf zweierlei: Einerseits funktioniert das und hinsichtlich seiner Bezüge denkbar offen bzw. egalitär. Das kann für ein Scheitern eine hinreichende, jedoch noch keine notwendige Bedingung abgeben. Auf der anderen Seite, das ist ergänzend zu Schaub anzumerken, verhält sich das und im Bezug auf seine Verknüpfungen nicht nur vollzugsorientiert, sondern auch vollzugsfordernd. Sobald die Sprache auf ein und kommt – und zwar in der Rolle einer Konjunktion, das heißt nicht substantiviert –, kann nicht nur, sondern muss auch etwas folgen. Jener Forderungscharakter, den das und in aller Offenheit birgt, kann schließlich auch, das wäre der Bezug zum Scheitern, zu einer Überforderung führen. Da Schaub eine Differenzierung beider Momente, von Offenheit und Forderungscharakter, bislang noch nicht explizit vornimmt, implizit jedoch zunehmend voraussetzen muss, wird im Folgenden gesondert darauf zu achten sein.
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rens“, die Schaub Deleuze zuvor zuschrieb. Konsequent räumen die Sätze, die in diesem Abschnitt ganz dem und gelten, nun der Konjunktion die Subjektposition ein: Das und schafft, arbeitet, funktioniert und wirkt (vgl. 234). Allein ein Satz fällt aus dieser Reihe heraus: „Stets ist die Konjunktion das Ergebnis einer mehr oder minder zufälligen oder willkürlichen Koppelung von etwas Heterogenem.“ (233f) Diese Aussage scheint entgegen den aktivischen und prozessualen Charakterisierungen ringsum etwas zu konstatieren: Konjunktion = Ergebnis einer Kopplung. Damit erhält der Begriff der Konjunktion neben seiner spezifischen Ausrichtung auf die Partikel und noch einen allgemeineren Bezug: die Bezeichnung des Erfolgens einer Verknüpfung. Der zitierte Satz differenziert diese Gleichung bereits weiter aus, indem er von einer „mehr oder minder zufälligen oder willkürlichen Kopplung“ spricht. Diese Zusätze rücken den Ausdruck des Ergebnisses aus der alleinigen Verfügung des anfänglichen „Stets ist“ und geben wieder Raum für etwas, das sich ergibt. Dabei legt der betreffende Satz eine zeitliche Abfolge nahe: Mit der Zusammenführung differenter Elemente kommt etwas zustande, das als Konjunktion bezeichnet werden kann. Auch wenn damit im strengen Sinne noch nicht expliziert wird, dass jene Elemente bereits vor ihrer Verkopplung als solche bestehen, liegt jene Reihenfolge doch in jedem Fall näher, als wenn es umgekehrt hieße, Heterogenes ist das Ergebnis einer Konjunktion. Auch wenn Schaub nicht ausführt, dass die Bezugspunkte einer Konjunktion der Konjunktion selbst vorgängig sind, stimmt ihre Formulierung eine Genealogie dieser Art an. Damit wird die Konjunktion zu dem, was sie in Beziehung bringt, nicht nur als äußerlich vorgestellt, sondern auch als nachträglich.13 Diese zeitliche Zuordnung scheint vor dem Hintergrund des Anspruches, Neues zu ermöglichen und zu schaffen, plausibel, denn eine Vorträglichkeit der Konjunktion würde gerade nichts Neues, sondern etwas Vorgefertigtes bedeuten. Dennoch stellt sich die Frage, ob jene nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Bestimmung der Konjunktion im Bezug zu ihren Relata sich bei Deleuze wiederfindet und, unabhängig davon, was diese Bestimmung für das Denken der Konjunktion nach sich zieht. Sollte das und tatsächlich das Potential zu einem eigenen Urteilstyp besitzen, wäre jenes Relationsurteil mit der Nachträglichkeit der Konjunktion zu ihren Referenzelementen eine bloße Ableitung von Existential- und Zuschreibungsurteil. Die zugehörige Logik lautete: Erst muss es etwas geben, dann kann es miteinander in Beziehung treten. Wie soll sich jedoch
13 | Die Äußerlichkeit hat Deleuze selbst immer wieder betont: „Weder Element noch Gesamtheit, was ist dann das UND? [. . .] Das UND ist weder das eine noch das andere, es ist immer zwischen den beiden, es ist die Grenze, es gibt immer eine Grenze, eine Flucht- oder Stromlinie, nur sieht man sie nicht, weil sie das Unscheinbarste ist.“ (Gilles Deleuze: Unterhandlungen, a.a.O., S. 68)
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irgendeine Existenz oder Eigenschaft vor jeder Beziehung formieren und mitteilen können? Die Frage nach der zeitlichen Einordnung der Konjunktion droht bisherige argumentative Stationen zu einander in Widerspruch treten zu lassen. Der Anspruch auf Erneuerung, dem sich die Methode der Konjunktion unterstellt sieht, setzt darauf, dass die Konjunktion zu etwas Älterem, also Gegebenem als etwas Jüngeres hinzutritt und mit ihrem Werk der Verknüpfung entsprechend etwas Neues schafft. Dagegen pocht die Konjunktion – aufgefasst als Relationsurteil – darauf, hinsichtlich der Urteilstypen von Existential- und Zuschreibungsurteil nicht nachträglich – oder sonst irgendetwas – zu sein. Andernfalls wäre es um die Eigenständigkeit des Relationsurteils geschehen. Der Satz, der die Frage nach der spezifischen Zeitlichkeit der Konjunktion aufwarf, gab kaum mehr als eine tendenzielle Richtung in dieser Frage vor. Ihm zufolge lässt sich der Terminus der Konjunktion nicht nur auf Partikeln wie das und beziehen, sondern auch auf das Erfolgen einer Verknüpfung einander differenter Elemente mithilfe jener Partikeln. Der erste Fall geht terminologisch exkludierend vor. Nach ihm ist im Rahmen von a und b alleine das und als eine Konjunktion anzusprechen. Der zweite Fall verfährt dagegen inkludierend, indem er a und b als Ganzes als Konjunktion versteht. Erst jener Einschluss der Referenzelemente (a, b) macht es möglich, in einer Konjunktion ein „Ergebnis“ zu sehen, weil sie erst dann etwas ergibt, was zuvor in dieser Form nicht vorlag. Allerdings – das geben die Charakterisierungen, die sich rings um jenen Satz im speziellen auf das und beziehen, zu bedenken – bleibt die Konjunktion kein Ergebnis, weil sie in all dem, was sie hervorbringt, explizit zeitabhängig ist.14 In der Frage, ob die versammelten Problemstellungen mit einem zugehörigen Verfahren bei Deleuze korrespondieren und welche Rolle die Konjunktion dabei genauer spielt, geht Schaub nun einen Schritt weiter. Unter Rückgriff auf ganz unterschiedliche Texte von Deleuze umreißt sie eine Vorgehensweise, die sich in dreierlei Hinsicht auf das und stützt: Die Konjunktion tritt demnach „als provokante Kopplung disparater Begriffe, als offenes Experimentieren mit einer neuen Denk- und Schreibpraxis, zuletzt als philosophisches Credo“ auf (234). Dieser Unterscheidung liegen drei Ebenen einer konjunktionalen Praxis zugrunde, die sich danach ausrichten, was
14 | Erneut die Frage des Scheiterns: Findet diese Abhängigkeit von der Zeit über ihre Referenzgrößen Eingang in die Konjunktion oder bereits über die Konjunktion im engeren Sinn selbst? Immerhin, das kann an dieser Stelle zu Schaub ergänzt werden, kann jede erfolgte Konjunktion selbst wiederum Element einer weiteren Konjunktion werden.
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konkret miteinander verknüpft wird, wie es zu jenen Verknüpfungen kommt und was sie darüber hinaus zum Ausdruck bringen. Der erste Aspekt, die provokante Kopplung disparater Begriffe, fokussiert auf die Möglichkeit des und, auch und gerade heterogene Begrifflichkeiten miteinander zu verbinden und damit eine ungewöhnliche und überraschende Wirkung zu erzielen. Das schließt direkt an die strukturelle Anlage des und an, Differentes zu verknüpfen, ohne die entsprechenden Differenzen qualitativ zu belangen. Begriffe, die scheinbar nichts oder kaum etwas miteinander zu tun haben oder bislang für ganz unterschiedliche Bereiche oder Reichweiten im Einsatz waren, finden sich plötzlich durch ein und denkbar nahe zusammengebracht und verkoppelt. Dass Deleuze von der Möglichkeit derartiger Begriffsverknüpfung bewusst Gebrauch macht, zeigen bereits die Titel und Untertitel vieler seiner Arbeiten. Schaub nennt von Empirisme et subjectivité (1953) bis Leibniz et le baroque (1988) eine ganze Reihe von Beispielen und veranschaulicht damit nicht nur das Verfahren, sondern zeigt auch seine anhaltende Relevanz innerhalb des Deleuzeschen Œuvres. Ein offenkundiger Zusammenhang – Schaub geht sogar soweit, von Vorbild zu sprechen – besteht dabei zu Heideggers Sein und Zeit (1927). Deleuze würde den Titel des frühen Hauptwerks von Heidegger ihr zufolge als sogenannte Gegenverwirklichung lesen: „Sein ist Zeit und Zeit ist Sein“. Für Schaub geht es bei diesem Hinweis nicht um eine umfassende inhaltliche Prüfung dieser Wendung, sondern um eine enge Fokussierung auf jene Aspekte, die im Spezifischen mit der Konjunktion und zusammenhängen.15 Das Deleuzesche Verfahren der Gegenverwirklichung baut – buchstäblich an zentraler Stelle – auf das und auf. An ihm ist es, die Konstruktion zu koordinieren, das heißt einen Bezug zu ermöglichen, der durch die Setzung eines Kommas nicht gegeben wäre. Jener Bezug lässt nach Schaub ein „minimales, aber entscheidendes“ Moment der Differenz zwischen beiden aufgestellten Identitäten – im Beispiel: Sein ist Zeit hier, Zeit ist Sein dort – sichtbar werden (234). Jene Ausführungen werfen zwei Fragen auf – an Schaub wie an das und. Zuerst die Frage nach dem Gewicht der Reihenfolge. Aussagen, die auf das Verb sein bauen, vergeben an das erstgenannte Substantiv häufig auch den Status des Subjekts. Alles Folgende wird diesem zugeordnet. Damit setzt die Reihenfolge, auch im Falle kürzester Sätze, ein eigenes Gewicht. Sein ist Zeit unterscheidet sich darüber von
15 | Eine eigene Untersuchung wäre es wert, der Frage nachzugehen, warum Deleuze Heidegger verhältnismäßig gründlich, das heißt abgesehen von wenigen, kurzen Anmerkungen, mit Schweigen bedenkt. Für den hiesigen Kontext wirft das die Frage nach dem Verhältnis auf, das eine Methode der Konjunktion zur Nicht-Verbindung unterhält bzw. unterhalten kann. Darauf wird zurückzukommen sein.
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Zeit ist Sein. Mitunter auf diesen Unterschied zielt das Verfahren der Gegenverwirklichung. Aber hängt es nur an der Entscheidung über die Reihenfolge und einer entsprechenden Variation in der Anordnung der Satzglieder, dass die Differenzen sichtbar werden, die aus der Setzung einer Reihenfolge resultieren? Angesichts dieser Frage scheint sich die durchgängige Charakterisierung des und, Differentes zusammenzubringen ohne Differenzen zu beschneiden, nochmals zu spezifizieren. Wenn sich die Elemente, die das und verbindet, einzig in Aspekten der Reihenfolge voneinander unterscheiden, zeigt sich, dass das und als Schnitt- und Übergangsstelle keinen eigenen Richtungssinn hat. Die lineare Entwicklung von Sprache, derzufolge die Worte nacheinander folgen, scheint im und in gewisser Weise ihren kleinsten, wenn überhaupt einen Widerstand zu finden.16 Daran schließt sich die zweite, ergänzende Frage an: Offenbar unterscheidet sich das und von anderen Elementen der Sprache darin, dass es dem allgemeinen Verlauf der Sprache von sich aus so gut wie nichts Spezifisches entgegensetzt, sondern vielmehr jenen Lauf noch befördert. In diesem Sinne sprechen Deleuze/Guattari nicht von geringem Widerstand, sondern von Beschleunigung.17 Wenn der zeitlich lineare Ablauf von Sprache im und derart wenig Widerstand findet, kann das und – wiederum ganz für sich genommen – dann nicht nur als idealtypisch linear, sondern auch als der Gleichzeitigkeit besonders nahe gelten? Erscheinen die Elemente, die allein durch ein und verbunden werden (also nicht: und dann, und dort), tendenziell nicht eher nebeneinander als nacheinander? Ließe sich diese noch vage Tendenz zur Simultaneität weiter plausibilisieren und verfolgen? Rührt das und womöglich mitten in Sprache an eine sprachliche Grenze?18
16 | Diese Beobachtung verdankt sich allerdings einem Fall, bei dem nicht ein hohes Maß an Heterogenität, sondern vielmehr eine sehr große Ähnlichkeit zwischen den Verbindungselemente vorliegt. Auch wenn Schaub nicht gesondert darauf eingeht, fällt das Beispiel der Gegenverwirklichung von seiner Grundanlage her damit deutlich aus den bislang gewählten Beispielen und Veranschaulichungen heraus. Dies liefert einen Hinweis dafür, dass nicht nur die Konjunktion großer, sondern auch kleiner Differenzen einer Untersuchung wert ist. 17 | Vgl. die eingangs zitierte Passage: „Die Mitte ist eben kein Mittelwert, sondern im Gegenteil der Ort, an dem die Dinge beschleunigt werden . . .“ (Gilles Deleuze und Félix Guattari: Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie, übers. v. Gabriele Ricke und Roland Voullié, Berlin 1992 [Paris 1980], S. 41f, im hiesigen Kontext S. 9) 18 | Ein zweites Mal taucht die Frage nach der Beziehung zwischen Konjunktion und Bildlichkeit auf: Simultaneität ist seit Lessings Laokoon-Aufsatz (1766) eine gebräuchliche Charakterisierung dafür, wie sich Bilder bzw. Sichtbares mitteilen: „bei ihr [der Malerei] ist alles sichtbar; und auf einerlei Art sichtbar.“ (Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie, Stuttgart 1964, S. 98)
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Unter dem zweiten Punkt einer konjunktionalen Praxis kommt Mirjam Schaub auf die Art und Weise zu sprechen, in der Deleuze und Guattari zusammengearbeitet haben. Beide Autoren lehnten es entschieden ab, die gemeinsamen Texte nachträglich in irgendeiner Form aufzuteilen und bestimmte Passagen ihnen als einzelnen Autoren zuzuordnen. Vor dem Hintergrund der Eigenschaft des und, Differentes zusammenbringen ohne Differenzen zu tilgen, könnte man gegen Schaub einwenden, dass Deleuze/Guattari als Autorenduo gewisse Differenzen, nämlich solche personeller Art, gerade nicht wahren, sondern vielmehr unkenntlich machen. Jedoch geschieht die verweigerte Aufteilung und Zuordnung der gemeinsam erarbeiteten Texte nicht im Namen einer neuen Einheit, sondern – gerade im Gegenteil – im Namen der Vielheit. Schaub zitiert die entsprechende Stelle aus dem Einleitungstext der Tausend Plateaus, in der Deleuze/Guattari der Frage nach den jeweiligen Schreib- und Textanteilen mit dem Hinweis entgegnen, dass sie nicht zu zweit, sondern als viel mehr an der Arbeit waren.19 Dieser Aspekt einer Praxis der Konjunktion wirft – über die Ausführungen von Schaub hinaus – die Frage nach den quantitativen Implikationen des und auf. Anders als im Falle der Kategorie des Qualitativen scheint sich die Konjunktion im Kontext des Quantitativen nicht durch Zurückhaltung auszuzeichnen. Nahe würde es liegen, im und ein Mittel der Addition zu sehen, das zu Einem stets etwas Anderes hinzufügt. Die Aussage von Deleuze und Guattari – „jeder von uns [war] mehrere“ – geht jedoch deutlich über ein Zusammenzählen von Einzelnem hinaus. Vielmehr scheint das und in diesem Fall zu zeigen, dass es in quantitativer Hinsicht einen Überschuss ermöglicht. Einen entsprechenden Anhaltspunkt kann man erneut in der Eigenschaft der Konjunktion sehen, die qualitativen Eigenheiten dessen, was es verbindet, zuzulassen, ohne irgendetwas urteilend zu belangen. Diese Offenheit vermag jedoch nicht mehr, als einem potentiellen Überschuss als Grundlage zu dienen. Für ein näheres Verständnis der Möglichkeit, dass jeder Relationspartner mehr wird, als er für sich oder im Rahmen einer Aufzählung wäre, reicht jener Aspekt nicht aus. Es ist erneut darauf zurückzukommen, dass die Konjunktion noch mehr als nur eine denkbare Offenheit birgt. Stets spricht sich das und für eine Fortsetzbarkeit dessen aus, was zu ihm führt. Kein Satz kann mit einer Konjunktion in der Rolle als Konjunktion – das heißt nicht substantiviert – enden und gleichzeitig als vollständig gelten. Ist eine Konjunktion als Konjunktion einmal gesetzt, wird eine Fortsetzung der laufenden sprachlichen Artikulation sinnfällig. Jener Impuls der Konjunktion äußert sich damit nicht nur in der Offenheit, an alles Mögliche anschließen und zwischen allem Möglichen
19 | Vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 12.
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vermitteln zu können, sondern darüber hinaus noch in einem ausgesprochenen Forderungscharakter: Der Fluss, der an das und heranführt, muss über es hinweg, durch es hindurch und also weitergehen – in welche Richtung auch immer, möglicherweise nahezu gleichzeitig wieder zurück. Diese Implikationen könnten für Schaub Gelegenheit bieten, die Rede von der „Produktivität der Konjunktion“ zu vertiefen. Vorerst baut ihre Untersuchung jedoch allein auf das Charakteristikum der Offenheit. Der dritte Punkt konjunktionaler Praxis gilt dem, was sie als Ganzes zum Ausdruck bringt. Schaub spricht diesbezüglich von einem philosophischen Credo, das mit einer „Theorie des Mannigfaltigen“ zusammenhänge. Jenseits des obigen Zitates, in dem Deleuze selbst das und mit der Mannigfaltigkeit verknüpft, beide zuletzt sogar miteinander identifiziert, expliziert sich der terminologische Zusammenhang zwischen Mannigfaltigkeit und Konjunktion hier zum ersten Mal. Schaub vertieft diesen Aspekt jedoch vorerst nicht, sondern verweist stattdessen auf seine durchgehenden Relevanz im Deleuzeschen Œuvre. Exemplarisch nennt sie Proust et les Signes (1964), Cinéma I. L’image-movement und Cinéma II. L’image-temps (1983 und 1985), in denen die „scheinbar nahtlose und mit einer intensiven Lustempfindung gepaarte Verknüpfbarkeit des Heterogenen“ in eine Theorie der Zeit und des Kinos münde (234f, Hervorhebung im Original). Schließlich führt Schaub die unterschiedlichen Praktiken der Konjunktion bei Deleuze wie folgt zusammen: Neben dem Vermögen, heterogene Größen zu verknüpfen, berge das konjunktionale Verfahren stets Möglichkeiten, die vorab nicht näher zu bestimmen sind. Mit jeder Konjunktion gehen Möglichkeiten dieser Art einher. Um diese Möglichkeiten allererst sichtbar werden zu lassen, stelle es für Deleuze geradezu eine notwendige Voraussetzung dar, scheinbar Unzusammenhängendes zusammenzuführen. „Die Singularität des Begriffs und die Systematizität der Philosophie zu versöhnen, darin erweist sich die Kunst der Konjunktion.“ (235) Das und sorgt nicht ohne Weiteres dafür, dass sich Singularität und Systematizität gegenseitig weniger widersprechen. Vielmehr macht es die denkbar große referenzielle Offenheit und Egalität der Konjunktion möglich, nicht nur heterogene, sondern auch einander widersprechende Elemente zu konstellieren und einer wechselseitigen Auseinandersetzung zuzuführen. Ergänzend zu Schaub ist anzumerken, dass die Möglichkeit der Paradoxie zwischen den verbundenen Größen auch die Verfasstheit des und in ein spezifischeres Licht rückt. Mit dieser Möglichkeit tritt deutlich vor Augen,
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dass die Performativität des und selbst paradox ist, indem sie gleichzeitig für eine Verbindung und eine Trennung ihrer Referenzelemente eintritt.20 Im Kontext der verschiedenen Facetten konjunktionaler Praxis kommt Schaub abschließend gesondert auf den Aspekt der Zeit zu sprechen. Nach Aussagen der letzten gemeinsamen Arbeit von Deleuze und Guattari, Qu’est-ce que c’est la philosophie? von 1991, sind philosophische Begriffe nicht nur explizit von ihrem Kontext, sondern auch von der Zeit abhängig. Ganz offen räumen Deleuze/Guattari die begrenzte Haltbarkeit der Termini ein. Nachdem Begriffe allerdings stets auf weitere Zusammenhänge verweisen und erst durch sie ihre Bedeutung gewinnen, sind diese Zusammenhänge – Formen der Konjunktion – nicht minder von der Möglichkeit zeitlicher Veränderungen betroffen. Im Rückbezug auf die Versöhnung des Widerspruches zwischen Singularität und Systematizität wird deutlich, dass damit weniger ein Zustand, denn ein Prozess gemeint ist. Wie die terminologische und konjunktionale Vergänglichkeit allerdings genauer begründet wird, wie der begriffsspezifische „Zeitindex“ und das konjunktionsspezifische „Vorliegen disparater Aspekte“ näherhin zusammenhängen, verfolgt Schaub vorerst nicht weiter (235). Vor allem, um in der Frage nach den Möglichkeiten eines Scheiterns der Konjunktion weiterzukommen, wird im Fortgang der Lektüre besonders auf den Aspekt der Zeitlichkeit zu achten sein. Nach den genannten Punkten einer Praxis der Konjunktion nimmt sich Mirjam Schaub dem Begriff der Konjunktion selbst an, um ihn in seinen angestammten Kontexten von Grammatik und Astronomie zu beleuchten. Dem voran stellt sie allein noch die sprachgeschichtliche Herkunft des Wortes, das lateinischen Verbum coniungere, mit den Bedeutungen „zusammenspannen, gewaltsam unter ein gemeinsames Joch nehmen“ (235).21 Die Grammatik hält für den Terminus auch den Namen Bindewort bereit. Die funktionalen Möglichkeiten fallen durchaus sehr unterschiedlich aus, wie Schaub mittels einer exemplarischen Zusammenstellung vor Augen führt: Über die Bildung von Summen und Reihen (und, weder-noch), die Koordination von Gegenüberstellungen oder Vergleichen (entweder-oder, als) und die Einleitung von Gegensätzen und Einwänden (aber, allerdings) bis hin zur Markierung von Erläuterungen (das heißt) und
20 | Schaub kommt an späterer Stelle auf diesen Punkt zurück (vgl. 243f ). Hier kündigt er sich bereits deutlich an. 21 | Das Etymologische Wörterbuch des Deutschen nennt des Weiteren „verbinden, vereinigen“ und versieht die von Schaub genannten Bedeutungen mit dem Verweis auf Tiere, die in einem Gespann zusammengebracht werden. Vgl. www.dwds.de/?qu=Konjunktion (5.3.2014).
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dem Ausweis von Ursachen und Wirkungen (da, wenn-dann) kann sich der Verfügungsbereich der Verknüpfungen erstrecken.22 So vielseitig das Spektrum der Verbindungsformen ausfallen mag, ruft es – ergänzend zu Schaub – abermals die Frage auf, ob, und wenn ja, wie sich ein Verhältnis von Verknüpfung und Nicht-Verknüpfung denken lässt. Wenn Konjunktionen für die Koordination von Verhältnissen aller Art zuständig sein können, wie findet dann statt, was Schaub das Scheitern einer Konjunktion nennt? Von der Fülle der Verbindungsformen geht Schaub zu einer Definition über, die Aristoteles im Rahmen seiner Poetik (um 335 v. Chr.) formulierte. Nach Aristoteles handelt es sich bei einer Konjunktion um einen „Laut ohne Bedeutung“. Im Rahmen einer allgemeinen Gliederung der Sprache nach der Größe und Funktion ihrer Elemente stellt die Konjunktion das Glied zwischen Silbe und Artikel dar.23 Abgesehen von der Möglichkeit, auch Präpositionen bezeichnen zu können, deckt sich der Aristotelische Begriff der Konjunktion mit seiner heutigen grammatikalischen Bedeutung. Allein die Option, dass eine Konjunktion nicht nur am Anfang und in der Mitte eines Satzes, sondern auch an seinem Ende stehen können soll, wie es Aristoteles des Weiteren anführt, scheint fragwürdig – zumindest für die größte Anzahl der Bindewörter. Nach der zuvor aufgestellten Ordnung der sprachlichen Elemente nach Größe und Funktion fiele eine substantivierte Konjunktion, die ganz plausibel am Ende eines Satzes stehen kann, unter die Kategorie der Nomen. Höchstens die Option, das Ende einer Frage zu markieren, bliebe für eine Konjunktion am Satzende noch offen. Allerdings geht weder Aristoteles noch Schaub dieser Frage nach. Mit Wilhelm von Ockhams Summa Logicae von 1341 fügt Schaub einen kurzen Exkurs in die formale Logik ein, den sie ohne gesonderten Ausweis dem Überpunkt der Grammatik subsummiert. Hier nun wird die Frage der Paradoxie explizit, da sich Ockham speziell für die Möglichkeit interessierte, dass mittels und zwei Aussagen miteinander verknüpft werden können, die sich offen widersprechen. Dabei ist die Ockhamsche Untersuchung der Konjunktion ganz der Strenge zweiwertiger Logik verpflichtet, derzufolge eine Aussage entweder wahr oder falsch ist und jenseits dessen keine weiteren Optionen bestehen. Dass jedoch alle anderen Fälle, in denen entweder ein wahrer und ein falscher oder gar zwei falsche Aussagen miteinander verknüpft werden, zumindest auf formaler Ebene ebenso möglich sind, sieht Ockham
22 | Mit der Duden-Grammatik ließe sich noch die Funktion der Spezifizierung hinzufügen (außer, es sei denn), vgl. dies., Mannheim/Zürich 2009, S. 624. 23 | Insgesamt differenziert Aristoteles die Sprache als Ganze in folgende Bestandteile: „Buchstabe, Silbe, Konjunktion, Artikel, Nomen, Verb, Kasus, Satz.“ (Aristoteles: Poetik, hrsg. u. übers. v. Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 63)
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in den Worten von Schaub „als zwangsläufige Folge der Bedeutungslosigkeit des Partikels“ an, über den die Vermittlung läuft (236). Diese Ausdrucksweise ist ganz der Aristotelischen Definition der Konjunktion verpflichtet. Als Laut ohne Bedeutung ist das und blind für alles, was um es herum steht und geschieht. Jedoch, das ist an dieser Stelle anmerkend zu fragen, wie kann aus Bedeutungslosigkeit etwas mit der Strenge eines Zwangs folgen? Um das und in der gänzlichen Bedeutungslosigkeit zu halten, muss Ockham entsprechend streng zwischen formal-syntaktischer und semantischer Ordnung trennen.24 Die restlichen Betrachtungen, die unter den Überpunkt der Grammatik fallen, gelten einem Diskurs, der sich nicht am Konjunktionsbegriff, sondern speziell am und festmacht.25 Ausgangspunkt dafür ist der logische Satz vom ausgeschlossenen Dritten. Verwandt, aber nicht identisch mit dem Satz der Zweiwertigkeit, welcher auf die Wahrheit von Aussagen abhebt, betrifft der Satz vom ausgeschlossenen Dritten allein deren Geltung: Demnach kann jede beliebige Aussage solange als geltend angesehen werden, als nicht ihr Gegenteil gilt. Entweder sie gilt oder sie gilt nicht; eine zwischenliegende Option besteht nicht. Diesem Ordnungsprinzip scheint die Möglichkeit, mittels und einander widersprechende Elemente zu verbinden, entgegenzustehen. Schaub folgt dieser Problemstellung allerdings nicht in die Aussagenlogik,
24 | Im selben Kontext gelingt es Ockham zu zeigen, dass allein unter Zuhilfenahme der Negation Verbindungen mittels und in oder-Verknüpfung überführt werden können und umgekehrt: „It should also be noted that the contradictory opposite of a conjunctive proposition is a disjunctive proposition composed of the contradictories of the parts of the conjunctive. Thus, the same thing that is necessary and sufficient for the truth of the opposite of a conjunctive proposition is necessary and sufficient for the truth of a disjunctive proposition. Hence, the following are not contradictories: ’Socrates is white and Plato is black’ and ’Socrates is not white and Plato is not black’. Rather, the contradictory of the first conjunctive is this: ’Socrates is not white or Plato is not black’.“ (Ockham’s Theory of Propositions – Part II of the Summa Logicae, übers. v. Alfred J. Freddoso u. Henry Schuurman, Notre Dame (Indiana) 1980, S. 187) Diese Beobachtung deckt sich mit den sog. Regeln von DeMorgan: ¬(α ∧ β ) ≡ ¬α ∨ ¬β
bzw.
¬(α ∨ β ) ≡ ¬α ∧ ¬β
Vgl. dafür etwa Wolfgang Rautenberg: Einführung in die Mathematische Logik, Braunschweig/ Wiesbaden 1996, S. 9. 25 | Damit bleibt eine Klärung der zuvor aufgetretenen Komplikationen in der begrifflichen Fassung der Konjunktion bei Schaub vorerst außen vor. Für Probleme hatte die unterschiedliche Verwendung des Begriffs gesorgt, der einmal exkludierend mit ausschließlichem Bezug auf und, in anderen Fällen inkludierend unter Einbeziehung der verknüpften Elemente Anwendung fand.
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sondern nimmt sie zum Anlass, die Etymologie des und nochmals näher zu betrachten. Mit Verweisen auf entsprechende Fachliteratur zeichnet sie einen möglichen Gang der Entwicklung von indogermanischen Präpositionen der Grundform ‚nthá‘ bis hin zu and und und nach. Dabei soll jenen Grundformen „ursprünglich weder konnektive noch additive, sondern adversative Bedeutung“ zugekommen sein (236). Dagegen zeigt sich der Verfügungsbereich des griechischen κα΄ı als außergewöhnlich groß: „es eröffnet (stiftet) und kittet zugleich“, „schafft zwanglos“ Kongruenzen und „behauptet ihre Irrelevanz“ (alle 237). Schaub versieht dies mit zwei Zitaten des Gräzisten Jerker Blomqvist, die in eine klare Opposition zu der Definition der Konjunktion durch Aristoteles treten, der von einem Laut ohne Bedeutung sprach. Demnach bleibt die Partikel keineswegs ohne Bedeutung, da sie nicht einfach und gänzlich beliebig zur Anwendung kommt, sondern die Bestimmung trägt, ihre konnektive Funktion zu erfüllen. Aus diesem Grund ist die Konjunktion weder austauschbar noch verzichtbar. Nicht nur steht sie im Dienst der Elemente, die Bedeutung tragen, auch jene Elemente schulden der Konjunktion etwas für ihren Beitrag, ohne den sie nicht sein könnten, was sie sind. Darüber hat die Konjunktion am Bedeutungsgehalt von Aussagen unmittelbar Anteil. Zusammenfassend hebt Schaub die „exzeptionelle konnektive und konjunktionelle Kraft der Partikel“ hervor (238). Die Bedeutungslosigkeit, von der Aristoteles ausging, wandelt sich zu einer Merkmallosigkeit, die sich weniger als Mangel denn als Potential auswirkt: Die Möglichkeit, mittels und einander widersprechende Aussagen miteinander zu verknüpfen, muss nicht ausschließlich als semantische Unmöglichkeit angesehen werden – wie der Fall bei Ockham –, sondern kann auch als die Veranschaulichung einer gleichzeitigen Gültigkeit aufgefasst werden. Jedoch – so muss Schaub einräumen – findet die Provokation, die die Konjunktion im Rahmen zweiwertiger Logik stiftet, in den konsultierten linguistischen Untersuchungen kaum Widerhall. Neben der Grammatik kommt der Begriff der Konjunktion auch in der Astronomie zur Anwendung. Die Erde wird dafür als ein ruhendes Bezugssystem vorausgesetzt, relativ zu dem sich alles andere bewegt. Kommt es nun aus dieser Perspektive zu Kreuzungen von Himmelskörpern und also einer zeitweiligen gegenseitigen Überblendung am Firmament, ist von einer Konjunktion die Rede. Das muss nicht unbedingt, wie Schaub referiert, zwei Planeten jenseits der Sonne betreffen, sondern kann schon für einen Planeten und die Sonne selbst gelten.26 Von grundsätzlicherer Relevanz ist jedoch – so betont es auch Schaub –, dass die Konjunktion im astrono-
26 | Vgl. Helmut Bernhard u. Klaus Lindner u. Manfred Schukowski: Wissensspeicher Astronomie, Berlin 1995, S. 53.
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mischen Sinne eine Frage der Perspektive ist. Was von der Erde aus als Konjunktion erscheint, kann sich unter Umständen bereits vom Mond aus anders darstellen und entsprechend nicht mehr mit demselben Begriff decken. Angesichts der soweit zusammengetragenen terminologischen Befunde aus Grammatik und Astronomie sieht Mirjam Schaub ihre zentrale Annahme bestätigt, wonach es eine Konjunktion in besonderer Weise auszeichnet, die qualitativen Eigenheiten ihrer Bezugspunkte nicht zu belangen: „Allein aus der Unabhängigkeit beider Relata bezieht sie die Kraft, über den Umweg des Anderen etwas Neues im Eigenen zu entdecken.“ (239) Hier nun begegnet die Frage nach dem Eigenen und Anderen wieder, die eingangs bereits im Zusammenhang mit Interdisziplinarität aufgekommen war. Überraschenderweise finden sich beide Kategorien, Eigenes und Anderes, nunmehr der Konjunktion selbst zugeordnet. Was aber ist unter dem Anderen und dem Eigenen einer Konjunktion zu verstehen? Schaub macht dazu keine näheren Angaben. Eine spezifischere Betrachtung der Konjunktion im Kontext der Philosophie folgt in ihrem Text erst an späterer Stelle. Dennoch soll die aufgeworfene Frage bereits hier ergänzenden Raum erhalten, haben doch die in der Zwischenzeit behandelten Diskurse einige Instrumente geliefert, um die Frage nach dem spezifischen Wesen der Konjunktion anzugehen. Es hat sich gezeigt, dass Aristoteles und Wilhelm von Ockham der Konjunktion ein Eigenes im semantischen Sinne absprechen. Eigen ist eine Konjunktion allein in formal-syntaktischer Hinsicht, das heißt in der Form der Zusammenstellung ihrer Relata und ihrer weitgehend beliebigen Platzierung im Gefüge eines Satzes. Jüngere linguistische Diskurse dagegen räumen der Konjunktion die Möglichkeit semantischer Anteile ein, insofern jene Elemente, die Bedeutung tragen, nicht nur hinreichend, sondern auch notwendig auf die Funktionen von Konjunktionen angewiesen sind. Die Zusammenstellung sich widersprechender Elemente lässt sich nicht nur als paradoxale Konstruktion, sondern auch als ein Ausweis gleichzeitiger Gültigkeiten auffassen. Demnach liegt das Eigene der Konjunktion in der Spezifik der jeweiligen Zusammenstellung und kann also auch in einem inhaltlichen Sinne bestehen. Die Konstellation dieser widerstreitenden Auffassungen der Konjunktion führen zu zwei Fragen, die im Verlauf der bisherigen Auseinandersetzung ergänzend aufgeworfen wurden: Zum einen die Frage nach der spezifischen Fassung des Begriffs der Konjunktion selbst – schließt sie ihre Relata ein oder nicht? –, zum anderen die Frage nach dem Verhältnis der Konjunktion zur Zeit – erfolgt sie nachträglich zu den Elementen, wenn sie diese verknüpft, oder nicht? (I) Inkludierender und exkludierender Konjunktionsbegriff
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Aristoteles und Ockham setzten ganz auf einen ausschließenden Konjunktionsbegriff: Die Konjunktion ist von ihren Relata unabhängig, insofern sie keinerlei Bedeutung trägt. Die referierte linguistische Position tendiert dagegen zu einem einschließenden Konjunktionsbegriff, der beide Relata in sich zusammenfasst. Wenn eine Konjunktion funktional Anteil an semantischen Strukturen haben kann, wird sie Teil dessen, was sie verbindet, respektive wird das, was sie verbindet, Teil von ihr. Wenn Mirjam Schaub schließlich die Kategorien von Eigenem und Anderem auf den Begriff der Konjunktion selbst bezieht, liegt es nahe, das Eigene dem inkludierenden Konjunktionsbegriff zuzuordnen, das Andere hingegen dem exkludierenden. Im ersten Fall gelten die Größen a,b als das Eigene der Konjunktion a und b, im zweiten Fall als das Andere der ausschließenden Konjunktion und. Zu beachten ist bei dieser Unterscheidung allerdings, dass im Falle des Anderen mit gleicher Plausibilität an das Außen einer inkludierenden Konjunktion gedacht werden kann, also das, was sich jenseits von (a und b) befindet. (II) Zur Zeitlichkeit der Konjunktion Diesen terminologischen Ausdifferenzierungen korrespondieren entsprechend unterschiedliche Auffassungen davon, welche zeitlichen Verhältnisse zwischen einer Konjunktion und ihren Relata denkbar werden. Kommt einer Konjunktion keinerlei semantisches Eigengewicht zu und steht ihr Begriff für nicht mehr als das und allein, hat auch die Frage nach ihrer eigenen zeitlichen Logik keine Bedeutung: Die Elemente, die Bedeutung tragen, sind, was sie sind, ob mit oder ohne Konjunktion. Im Umkehrschluss kann die Frage nach der Zeitlichkeit einer Konjunktion nicht unbedeutsam sein, sobald der Konjunktion die Möglichkeit inhaltlicher Anteilnahme eingeräumt wird. Eine spezifisch temporale Relevanz klang bereits an, als davon die Rede war, dass die einander widersprechenden Bezugspunkte der Konjunktion auch gleichzeitige Gültigkeit besitzen könnten. Diese Gleichzeitigkeit kann neben dem Nacheinander einer Reihenfolge ebenfalls eine Intention der Konjunktion darstellen. (III) Verschränkungen von (I) und (II) Die Formulierung von Schaub, nach der für die Konjunktion „über den Umweg des Anderen etwas Neues im Eigenen zu entdecken“ ist, legt eine Verschränkung sowohl der begrifflichen Fassungen von Konjunktion als auch der unterschiedlichen, korrespondierenden Zeitlichkeiten nahe. Genauer: Sie legt sie nicht nur nahe, sondern impliziert sie bereits. Auf dem „Umweg des Anderen“ sind a und b von und separat zu denken, um als dessen Anderes gelten zu können. In dieser Konstellation sind beide Größen der Konjunktion zeitlich vorgelagert, auch wenn sich im Ausdruck des Um-
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weges ein kommender engerer Zusammenhang bereits ankündigt. Dieser Zusammenhang kann sich in der Folge als „etwas Neues im Eigenen“ der Konjunktion ereignen, die dann a und b als Ganzes umfasst und gegebenenfalls eine gleichzeitige Gültigkeit beider Relata intendiert. In und mit dem Vollzug der Konjunktion geht Veränderung einher: Die Größe a ist eine andere, je nach dem, mit welchem b sie verknüpft wird und umgekehrt. So sehr die Verknüpfung damit ermöglicht, was a und b jeweils sind bzw. sein können, so sehr liegt es des Weiteren allerdings im und, dass es dabei nicht bleiben muss und in gewisser Weise auch nicht bleiben kann. Das Neue einer Konjunktion bleibt bei seinem Ereignis nicht stehen. Es ist nichts, woran sich ein Halt verlässlich befestigen ließe. Gerade hinsichtlich jener Momente von Prozessualität und Strukturoffenheit muss Schaub schließlich feststellen, dass sich das „Skandalon“ des und in den sprachwissenschaftlichen Diskursen zwar „spiegelt“, jedoch in keiner Form als solches ausbricht. Mit diesem Befund macht Schaub plausibel, warum sie Deleuze darin folgt, den Begriff der Konjunktion über die Bestimmungsgrenzen von Grammatik und Astronomie hinauszuführen. Das Interesse und die Faszination des französischen Philosophen für die Thematik der Relation geht nach Schaub auf seine frühe Beschäftigung mit David Hume und dessen Treatise on Human Nature von 1739 zurück.27 Daher widmet sie der „Entdeckung der Konjunktion“ durch Hume einen eigenen Abschnitt, der sich zuerst der Humeschen Philosophie selbst annimmt, um in einem zweiten Schritt auf die Spezifik der Rezeption durch Deleuze einzugehen. Die Frage, wie aus einzelnen Wahrnehmungspartikeln zusammenhängende Wahrnehmungen und gedankliche Strukturen entstehen, veranlasst Hume, sich dem Thema Verbindung anzunehmen. Einzelnes summiert sich ihm zufolge weder von selbst zu einem Ganzen noch wird es gänzlich vom Denken synthetisiert. Vielmehr eröffnet sich für Hume ein Spektrum an möglichen Verknüpfungen, über die Einzelnes erst zu einem Zusammenhängenden werden kann. Diesbezüglich differenziert er vier Verknüpfungsarten: natürliche, arbiträre, assoziative und habituell-konventionelle (vgl. 240). Mirjam Schaub bespricht diese einzeln und beginnt mit den natürlichen Verbin-
27 | Schaub geht soweit, zu sagen, dass sich daraus bereits das spezielle Interesse für das und bei Deleuze ableitet. Konkrete Belege bezüglich Empirisme et Subjectivité (1953), Deleuzes frühe Untersuchung der Humeschen Philosophie, gibt Schaub jedoch nicht an. Explizit bringt Deleuze Hume und das und auch erst in einem Lexikonartikel von 1972 zusammen. Vgl. Gilles Deleuze: Hume, in: Die einsame Insel – Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, hrsg. v. David Lapoujade, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 2003 [Paris 1972, in: François Châtelet ( Hg.): Histoire de la philosophie], S. 237f.
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dungen. Diese sind es, die Hume im engeren Sinne mit dem Begriff der Konjunktion belegt. Als natürliche verdankt sich eine Konjunktion der Perspektive, das heißt sie geht auf raumzeitliche Nachbarschaften zurück, über die hinaus die Dinge nichts mit einander gemein haben müssen. „Dass solche Ereignisse unwillkürlich als de facto ‚verbunden‘ erfahren werden, obgleich sie das möglicherweise de jure gar nicht sind“, gilt Schaub zufolge als zentraler Einsatz des Humeschen Skeptizismus (240). Das Prädikat natürlich zielt folglich auf Kontiguität ab. Alle weiteren Verknüpfungsmodi – arbiträr, assoziativ und habituell-konventionell – fasst Hume als connexions zusammen. Während im Rahmen einer Konjunktion Eindrücke „zufällig zusammentrafen“, werden die connexions „durch die Einbildungskraft gestiftet“. Nach Reinhard Brandt, dessen Einführung zu Humes Treatise Schaub zitiert, generieren arbiträre Verbindungen die Vorstellung von einem Objekt, assoziative Verknüpfungen stellen Beziehungen zwischen diesen Vorstellungen her und habituell-konventionelle connexions lassen jene Beziehungen zuletzt in Gewohnheiten übergehen (vgl. 240). Die tendenziell aktivische Einbildungskraft – darauf konzentriert sich Schaub im Folgenden – sieht sich bei Hume jedoch bald einer „eigengesetzlichen Assoziationskraft der Vorstellungen“ ausgesetzt (241).28 Nachdem die Vorstellungen in alle Arten der connexions eingehen, gilt die Eigengesetzlichkeit der Assoziationskraft für alle Modi derselben. Die Einbildungskraft büßt deshalb durchgehend an Spielraum ein, wird sogar ein „zunehmend passivischeres Vermögen“. Das lässt an die natürlichen Verbindungen zurückdenken, die der Einbildungskraft und den Assoziationen noch vorgelagert waren. Aus den Gegebenheiten des jeweiligen Blickwinkels geboren, verkörpern die natürlichen Konjunktionen gerade jene Merkmale, die sich nunmehr in der Assoziationskraft wiederfinden. Schaub zitiert Hume selbst, wie er in bescheidener Geste jene Entdeckung dadurch relativiert, dass sie einmal mehr zum Gegenstand dessen werden kann, was sie eigentlich veranschaulichen will: Als eine „sanfte Macht“ agiert das Vermögen der Verknüpfung potentiell freier als die Vorstellung, die man sich davon zu machen sucht (alle 241f). Das Mittel bemächtigt sich der Zwecke bzw. hat sich ihrer bereits bemächtigt. Nach Hume erfüllt die Konjunktion für das Zustandekommen von Erkenntnis eine grundlegende Funktion. Demnach ist die Konjunktion immer schon dabei, einen Schritt weiter zu sein. Das rührt an die referenzielle Offenheit bzw. Egalität des und, die im Vorfeld bereits mehrfach zur Sprache kam, weist aber auch und vielleicht noch stärker auf den Punkt, der ergänzend zu Schaub die Art und Weise betraf, in der die Konjunktion den sprachlichen Verlauf weiterleitet, der an sie heranführt. Kommt die Reihe an die
28 | Die angeführte Ausdrucksweise stammt von Brandt.
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Konjunktion, zeichnet sich diese nicht nur als offen aus, sondern stellt gleichsam eine Forderung dar, die auf eine Fortsetzung der Ausführungen nach sich und über sich hinaus besteht. Bezieht sich die Kennzeichnung der Konjunktion als offen primär auf ihre Verfasstheit, beschreibt der Aspekt der Fortsetzungsforderung weniger einen Zustand, als vielmehr eine Wirkung: Neben der Offenheit gegenüber allem Möglichen vollzieht sich ein Drängen. Was auch immer an ein und heranführt, muss von der Konjunktion aus in irgendeiner Form eine Fortsetzung nach sich ziehen, ob Weiterführung, Alternative oder Rekurs. Dieser Aspekt deutet sich erneut an, wenn Schaub zum Abschluss der Ausführungen zu Hume hervorhebt, dass die Verbindungen, die von Konjunktionen gestiftet und „bestimmt“ werden, dabei durchaus „nötigend“ und „unaufhörlich“ vorgehen (vgl. 242). Diese Funktionslogik bezieht Schaub jedoch auf die Humeschen „Eindrücke und Vorstellungen“ zurück, anstelle sie der Konjunktion gutzuschreiben. Abschließend wendet sich Mirjam Schaub dem Humeschen Ansatz kritisch zu. Die Konklusion Humes, dass für das Bewusstsein letztlich nicht zugänglich sei, wie Eindrücke und Vorstellungen auf der einen und Assoziations- und Einbildungskraft auf der anderen Seite näher miteinander zusammenhängen, bleibt für Schaub eine Behauptung. Hume folge demnach nicht der Konjunktion, sondern lege sich auf einen skeptischen Standpunkt fest. Damit setze er letztlich weniger auf Verbindung als vielmehr auf Trennung. Dem hält Mirjam Schaub das konjunktionale Merkmal der Offenheit entgegen, dank der sich selbst noch größte Differenzen verbinden lassen, ohne dass eigenmächtige Gewichtungen mit einfließen. Allerdings – so kann wiederum Schaub entgegnet werden – könnte Hume nicht nur in eine Offenheit, sondern auch in einen Abgrund geblickt haben, der sich als „sanfte Macht“ umso geschickter „überall einschleicht“ und „alles durchdringt und zersetzt“. Die Frage nach dem Verhältnis von Konjunktion und Nicht-Verbindung respektive von Konjunktion und Bodenlosigkeit ist mit dem Begriff der Offenheit weniger beantwortet, als vielmehr erst aufgeworfen. Bodenlosigkeit und Nicht-Verbindung führen auf die Frage nach dem Scheitern der Konjunktion zurück. Ausgehend von ihren kritischen Anmerkungen zu Hume wendet sich Schaub Deleuze zu. Dieser unterscheide sich von Hume darin, dass er sich der Entdeckung der Konjunktion annimmt, um mit ihr „produktiv – und das heißt auf radikal andere Weise – weiterzuarbeiten“ (242). In vier „Arbeitsfragen“ fasst Schaub vorab zusammen, wie die Weiterführung der Thematik bei Deleuze im Einzelnen näher beschrieben werden kann:
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Erstens bleibe Deleuze nicht bei der Entdeckung Humes stehen, dass der Verstand den „Abgrund des Nicht-Wissens und des Nicht-Wissen-Könnens“ ständig überbrückt, sondern gehe stattdessen den resultierenden Konsequenzen nach.29 Zweitens beziehe Deleuze die Frage der Konjunktion nicht auf den Zusammenhang von Einzelheiten, wie er den Ausgangspunkt der Humeschen Reflexion darstellt, sondern vertiefe die Frage, als es sich bei den Relata vielmehr um Mannigfaltigkeiten handle. Drittens ergebe sich im direkten Anschluss die Frage, was jene Ausgangslage zum einen für die Subjektphilosophie bedeute, zum anderen für philosophische Systematik überhaupt. Viertens und letztens greift Schaub die Frage aus dem Interview mit den Cahiers auf, der es um ein eigenständiges Relationsurteil, also eine Urteilsform jenseits von Existenz- und Eigenschaftsurteil geht, die sich auf das und beruft.30 Mit Ausnahme der dritten Frage zur Subjektivierung und Systematisierung gibt Schaub keine Verweise auf Textstellen bei Deleuze an. Es bleibt daher offen, ob und inwieweit die genannten Fragen unter dem Vorzeichen einer Hume-Bearbeitung bleiben – das legt, neben den Fragen eins bis drei, die Anlage des zugehörigen Abschnittes nahe – oder ob sie dagegen zwar von Hume ausgehen, aber in einem größeren Kontext zu verorten sind – in diese Richtung weist vor allem der vierte Punkt. Des Weiteren steigt Mirjam Schaub mit den versammelten Fragen nicht direkt in die Arbeit von und mit Deleuze ein, sondern führt eine „von Hume überlieferte Antwort“ an (243). Mit wenigen Sätzen umreist sie dabei, was Hume auf die Deleuzeschen Fragen vorzubringen gehabt hätte. Demnach sei das Denken des Menschen von vornherein auf das fortlaufende Bilden von Konjunktionen eingerichtet. Diese Prägung finde ihre Richtgrößen in Gewohnheiten und Affekten. Das fortlaufende Verknüpfen stelle damit eine Festlegung dar, die der menschliche Geist in gewissem Sinne passiv hinzunehmen hat. Nichtsdestotrotz verfüge er gerade darin über ein großes schöpferisches Potential. An welcher Stelle es sich zeigt, dass diese „Antwort“ Deleuze überrasche, wie Schaub es ausdrückt, gibt sie nicht genauer an, noch, woraus hervorgeht, dass Deleuze diese als „schlicht und einfach“ eingestuft hätte. Die Zusammenstellung der von ihr an dieser Stelle vorgebrachten und alternativ übersetzten Deleuze-Zitate ist stattdessen auch und gerade nach Abgleich mit der Primärliteratur nicht ganz leicht
29 | Damit kehrt allerdings das, was Schaub an Hume zuvor als Behauptung kritisierte, als eine Voraussetzung für Deleuze wieder. Schaub spricht an der hiesigen Stelle nicht mehr von Behauptung, sondern von einer „Überzeugung“ Humes (242). 30 | Vgl. im hiesigen Kontext S. 27.
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nachzuvollziehen. Bei Deleuze heißt es: „la conjonction constante est toute la relation nécessaire“.31 Schaub übersetzt: „Die fortgesetzte Konjunktion ist die einzig notwendige Relation“ (243). Der Aspekt der Konstanz ist für Hume Deleuze zufolge – neben dem der Universalität – eine notwendige Bedingung für eine wissenschaftliche Untersuchung des menschlichen Geistes.32 Dieser Zusammenhang kann in der Übersetzung Schaubs aufgrund der Kürze des Zitats nicht zum Ausdruck kommen. Allerdings gleichen ihre beigefügten Erläuterungen diesen Mangel nicht aus. Der Kontext der Aussage – die Frage nach den Bedingungen, die den Geist allererst zu einem wissenschaftlichen Gegenstand werden lassen – geht verloren. Diese Frage bildet für Hume – folgt man Deleuze – jedoch den zentralen Ausgangspunkt. Auf ihn kommt Deleuze im unmittelbaren Anschluss an die zitierte Passage einmal mehr zu sprechen. Des Weiteren wird bei Schaub nicht deutlich, dass die paradoxale Bestimmung des menschlichen Geistes durch Erfindertum und Geeicht-Sein einer bereits spezifizierten Konstellation entstammt. Der Einbildungskraft steht es nämlich sehr wohl offen, „an sich selbst Natur zu werden“, jedoch nicht, ohne dabei ganz der Phantasie verhaftet und das heißt ihren „Erdichtungen und Vorurteilen“ ausgeliefert zu bleiben. Um „solche Fehler wieder zurechtzurücken“, muss sich der Geist der geschilderten, ambivalenten Stellung aussetzen und „erleiden“, was sich durch die „Prinzipien der Natur“ von Außen an ihm zu schaffen macht.33 Deshalb ist in obigem Zitat von Notwendigkeit die Rede und in diesem Zusammenhang durchzieht das Kriterium der Notwendigkeit auch die Passage, aus der Schaub ein zweites, nun etwas längeres Zitat entnimmt. Dabei gleicht sich der Mangel, der aus der immer noch engen Ausschnitthaftigkeit resultiert, abermals nicht recht aus. Zuletzt weist der abschließende Satz des zweiten Zitats – „Bei Hume ist die Bestimmung nicht bestimmend, sondern selbst bestimmt.“ – eine auffällige Parallele zu einem Teil des vorherigen Zitats auf: „Die Relation ist nicht das, was verbindet, sondern das, was verbunden ist.“ Allerdings wird von Schaub weder der Zusammenhang von Bestimmung und Relation noch deren jeweilige Selbstbezüglichkeit an dieser Stelle weiter verfolgt. Stattdessen schlussfolgert sie – „so verstanden“ – direkt auf das und. Nachdem zuvor in keinem Punkt explizit vom und die Rede war, noch die genaueren Bezüge des Relationsbegriffs Klärung erfahren haben, lässt sich der Eindruck vorschneller Übertragung schwerlich ausräumen.34
31 | Gilles Deleuze: Empirisme et Subjectivité – Essai sur la nature humaine selon Hume, Paris 2014 [1953], S. 8. 32 | Vgl. ebenda S. 1 bzw. Gilles Deleuze: David Hume, übers. v. Peter Geble u. Martin Weinmann, Frankfurt a.M. 1997, S. 7. 33 | Alle Zitate aus Gilles Deleuze: David Hume, a.a.O., S. 14. 34 | Vgl. zu alldem ebenda S. 7–29, insbesondere nochmals S. 14f.
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Was leitet Schaub – unabhängig von den genannten Einwänden – aus der Beschäftigung von Deleuze mit Hume im Hinblick auf das und ab? Vor allem, dass eine Verknüpfung nicht in dem aufgeht, was sie zusammenführt. Sie stiftet keine stabile Einheit, weder qualitativ noch quantitativ. Vielmehr, so der Ansatz einer Positivbestimmung, übt sie – „gleichzeitig analytisch-trennend und synthetisch-verbindend“ – eine paradoxale Wirkung aus (243).35 Im Rahmen dieser vorläufigen Zusammenfassung, die den Abschnitt zu Hume abschließt, verlagert sich der Fokus der Beobachtung von dem, was die Konjunktion ist und ausmacht, dahingehend, wie sie wirkt. Jene Wirkung lässt sich jedoch nicht recht beschreiben, ohne erneut von dem Gebrauch zu machen, was beschrieben werden soll: der Konjunktion. Schaub ist sich der Provokation bewusst, die eine solche Verstrickung für den Anspruch einer Definition bedeutet und setzt das und und die ihm anhaftende paradoxe Funktionalität konsequent kursiv. Die Nicht- oder nur Schlecht-Definierbarkeit erfährt an dieser Stelle jedoch keine weitere Vertiefung. Dafür präzisiert sich ein methodisch relevanter Aspekt der Konjunktion, indem Schaub expliziert, dass das und stets ein Verhältnis von Analyse und Synthese impliziert und also beide Vorgehens- und Wirkweisen in sich birgt. Daraus „wird Deleuze [...] seine eigentümliche Methode machen.“ (244) Bevor Mirjam Schaub schließlich auf ihre letzten Punkte zur Methode der Konjunktion bei Deleuze zu sprechen kommt, stellt sie eine Auswahl an Sätzen unterschiedlicher Philosophen vor, die sich alle an der Thematik des und bzw. des Zwischen festmachen. Zu Anfang steht Fichte. In der Wissenschaftslehre von 1804 stellt er das und als das „unverständlichste und durchaus durch keine bisherige Philosophie erklärte Wort in der ganzen Sprache“ heraus (vgl. 244). Schaub ergänzt dies um einen Zusatz, den Fichte zur Wirkung und Funktion des und macht, wonach die Konjunktion lediglich eine „Synthesis post factum“ herstellt. Darüber büßt das und jedoch an Geltung kaum
35 | Diese Charakterisierung entnimmt Schaub einer Studie von Karen Gloy, die sich als „Strukturanalyse des und“ ihrerseits mit der Konjunktion befasst. Offen bleibt, warum Schaub nicht näher auf die Arbeit von Gloy eingeht, die das und zwar primär als Scharnier zwischen den Begriffen von Einheit und Mannigfaltigkeit untersucht, dabei jedoch wertvolle analytische Arbeit im Hinblick auf ein weiteres Verständnis der Wirkweisen und Möglichkeiten der Konjunktion leistet. Dem Text von Gloy geht die hiesige Untersuchung in einem eigenen Kapitel nach, vgl. S. 207ff.
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ein, da es nach Fichte auf eben jene Weise die Aufgabe bewerkstelligt, alle vorgängigen, losen Einzelheiten allererst miteinander zusammenhängen zu lassen.36 Sowohl Slavoj Žižek als auch Martin Heidegger geben Mirjam Schaub weitere Stichworte zum und. Dabei stammen die Aussagen von beiden aus Untersuchungen, die sich mit der Philosophie Schellings befassen. In Der nie aufgehende Rest (1996) arbeitet Žižek das Theorem der „verschwindenden Vermittlung“ heraus und lokalisiert es zwischen den „zwei Polen (das Reale und das Ideale)“.37 Schaub merkt dazu an, dass Žižek die Kursivierung der Konjunktion nicht weiter ausführt, obwohl sich darin doch bereits niederschlägt, dass die Konjunktion selbst als „verschwindende Vermittlung“ begriffen werden kann. Diese naheliegende Möglichkeit wird jedoch auch von Schaub nicht mehr als angesprochen.38 Die strukturelle Verkopplung von Verschwinden und Vermittlung findet sich auch bei Heidegger.39 In seiner Untersuchung von Schellings Über das Wesen der menschlichen Freiheit (1809) sieht er im und „die Möglichkeit eines Zwiespalts und all des-
36 | Einmal mehr deutet sich an dieser Stelle eine Reflexion über die Zeitlichkeit der Konjunktion bzw. des Verhältnisses der Konjunktion zu ihren Relata an. Im Anschluss an die bisherigen Ergänzungen beruht auch der Satz von Fichte auf einer Ausdifferenzierung des Konjunktionsbegriffs. Auf der einen Seite ist das und ein „Wort“, das von etwaigen Relata getrennt steht (exkludierende Konjunktion). Auf der anderen Seite fällt es dem und zu, Synthesen herzustellen, in die entsprechende Relata eingehen (inkludierende Konjunktion). Grundlage jener Differenzierung ist bei Fichte die Annahme, dass zeitlich vor jedem Zusammenhang etwas besteht, um nachträglich in Zusammenhang gebracht werden zu können. Jener nachträgliche Zusammenhang kann sprachlich via und als Synthesis ausgebildet werden. Dank jener Syntheseleistung wird es möglich, dass das „reine Durcheinander [...] innerlich erst zusammenhält.“ (244) 37 | Der Untertitel der Studie lautet Ein Versuch über Schelling und die damit zusammenhängenden Gegenstände (hrsg. v. Peter Engelmann, übers. v. Erik Michael Vogt, Wien 1996). 38 | Welche philosophischen Konsequenzen zöge es nach sich, wenn das und den Rang einer „Grundoperation“ einnehmen würde, den Žižek für seine Figur der verschwindenden Vermittlung vorsieht? An dieser Stelle zeichnet sich eine strukturelle Verwandtschaft zwischen der Konjunktion und dem ab, was als Medium bezeichnet werden kann: Ein Medium vermittelt seine Bezugselemente umso besser, je weniger es an sich selbst wahrgenommen wird, je mehr es also in seiner Mittlerrolle verschwindet. Zur Problematik dieses medientheoretischen Postulats, gerade auch im Hinblick auf den Anspruch einer fundamentalen Operation, vgl. Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung, Hamburg 2006, S. 221f. 39 | Schaub merkt zu Heidegger an, er könne als „philosophischer Antipode“ von Deleuze betrachtet werden. Nachdem das folgende Zitat Heideggers den Deleuzeschen Ausführungen weder explizit noch implizit widerspricht – Schaub stellt es ihrem Aufsatz sogar einleitend voran –,
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sen, was er verschlossen hält“ (244). An jene Motive der Kluft und des Verschlusses bindet sich – unter dem Vorzeichen der Möglichkeit – für Heidegger jedoch „das Entscheidende“. Schaub rechnet diesen Konnex der Wirksamkeit des und an, die kraft ihrer Uneindeutigkeit das Denken herausfordert. Inwiefern sich die Herausforderung jedoch aus der Widersprüchlichkeit von Verschließen und Entscheiden oder aus dem Status bloßer Möglichkeit ableitet bzw. wie beide Momente – bei Heidegger und anderweitig – zusammenhängen, verfolgt Schaub vorerst nicht weiter. Zuletzt ist es an Jean-François Lyotard, eine ethische Dimension geltend zu machen. Die von Schaub aufgeführte Formel Lyotards, „Verketten heißt trennen“, erhält ihre Schärfe nicht primär vor einem logischen Hintergrund, vor dem sie ein Paradox darstellen würde, sondern vor einem historischen, insofern der Passus aus Sprechen ‚nach Auschwitz‘ (1981) stammt. Lyotard argumentiert darin gegen den Versuch, das Geschehene als „Unverknüpfbares“ hinter sich zu lassen. Stattdessen plädiert er für das Wagnis der Widersprüchlichkeit, das darin besteht, jenes Unverknüpfbare zu verknüpfen, gerade „damit es nicht wiederkehrt“. Dies geschieht in der Hoffnung, die anfängliche Formel möge sich einlösen, das heißt, dass eine Verkettung stets eine Trennung mit sich führe und bewirke (vgl. 244f). Wie im Falle von Žižek enthalten die zitierten Aussagen Lyotards keine expliziten Bezüge zur Konjunktion und. Schaub nimmt ihrerseits keine nähere Explikation vor und belässt es bei den Assoziationen, zu denen das und vor der Folie ethischer Fragestellungen anregt. Explizit wird dagegen ein Aspekt genannt, der bislang noch nicht auf die Konjunktion übertragen wurde: Entgegen den bisherigen Befunden einer besonderen Widerstandslosigkeit des und offenbart die Katastrophe des Holocaust eine „Anstrengung der Verknüpfung“ (245). Dieser Schluss steht bei Schaub weniger im Zusammenhang psychologischer Schwierigkeiten wie Ängsten oder Traumata, sondern folgt auf das aussagenlogische Problem, einzelne, sinnvolle Sätze weiter sinnvoll miteinander zu verbinden. Einen gewichtigen Grund, wenn nicht die Ursache dieser Problematik sieht Schaub in der Nicht-Gegebenheit einer „apriori-Regel“, die die Bedingungen der Anwendbarkeit des Verknüpfens je im Voraus klären würde (244). Nachdem eine solche Regel weder vorliegt noch in Aussicht steht, scheint die Erschwernis sinnvoller Verkettung nicht nur einen spezifischen Grund zu haben (etwa die Geschehnisse des Holocaust), sondern auch einen systematischen.40 Inwiefern diese „Anstrengung der Verknüpfung“
bleibt die Frage offen, worin genau Heidegger und Deleuze eine völlig gegensätzliche Einstellung besitzen. 40 | Immer schon würde sich jene apriori-Regel in sich selbst verstricken: Was sollte ihre eigene Anwendbarkeit regeln? Jede Anwendung würde eine zugehörige Meta-Regel fordern, die wiederum abhängig wäre von einer Meta-Regel und immer so fort.
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und die „scheinbar nahtlose und mit einer intensiven Lustempfindung gepaarte Verknüpfbarkeit des Heterogenen“, von der zuvor die Rede war (234), zusammengehen oder nicht, wird in den noch ausstehenden Ausführungen von Schaub gesondert zu beachten sein. Zusammenfassend und ergänzend lässt sich an allen von Schaub zitierten Passagen ein kursorisches Moment beobachten. Selbst wenn Fichte und Heidegger das und direkt thematisieren und seine unbemerkte Fragwürdigkeit und Relevanz herausstellen, bleiben Schaubs Ausführungen knapp und sind von lediglich andeutendem Charakter. An Žižek und Lyotard zeigt sie – nicht minder kompakt – die Anschlussfähigkeit des Themas an andere philosophische Fragestellungen und Felder. Als „verschwindende Vermittlung“ (Žižek) tritt das und in die Rolle eines Mediums: Je besser es zwischen zwei Größen vermittelt, desto unscheinbarer wird es für sich genommen, das heißt desto mehr verschwindet es. Rückt die Verknüpfung dagegen in den Vordergrund, kann sie mitunter der Anlass zu der „ethischen Forderung“ werden, wider besseres Wissen zu verknüpfen, was nicht verknüpfbar scheint (Lyotard). Der letzte Punkt, den Mirjam Schaub zu ihrer These einer Methode der Konjunktion bei Deleuze ausführt, schickt voraus, die „Skizze einer Praxis der Konjunktion“ zu enthalten (245). Gleich mit dem ersten Satz rechnet es Schaub Deleuze an, von der „Fragilität und Prekarität einer durch Konjunktionen gestifteten Verbindung“ nicht abgesehen zu haben. Unweigerlich hallt dabei Lyotards „Verketten heißt trennen“ wieder. Gerade in der Zerbrechlichkeit konjunktionaler Fügungen sieht Schaub folglich den Anlass, das erkenntnistheoretische Potential der Verknüpfung näher zu untersuchen. In sehr kompakten, summarischen Sätzen führt sie drei Werke von Deleuze als Beispiele an, um sein Vorgehen anschaulich zu machen. An erster Stelle steht die Konjunktion von Sinn und Unsinn aus Logik des Sinns (1969), gefolgt von Differenz und Wiederholung aus der gleichnamigen Untersuchung (1968), an dritter Stelle nennt Schaub die Verknüpfung von Sagbarem und Sichtbarem, der Deleuze im FoucaultBuch (1986) nachgeht. Die letzte Konjunktion, Sagbares und Sichtbares, findet sich nach Schaub auch in den vorherigen, also in Sinn und Unsinn, sowie in Differenz und Wiederholung wieder. Verbalität und Visualität stünden dort im Kontext einer „komplexen“ bzw. „doppelten und disparat bleibenden Ereignislogik“ (245). Schaub verweist auf Wittgenstein, der dafür eingetreten war, dass sich die Artikulationsformen von Sagen und Zeigen medial grundsätzlich unterscheiden, ja ausschließen würden, und doch in stetiger Beziehung zu einander stünden.41 Deleuze vertieft und verschärft
41 | Der Hinweis bleibt jedoch ohne genauere Angaben. Nahe liegt die Referenz auf den Tractatus, darin 6.522: „Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“
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Schaub zufolge diese paradoxale Wechselseitigkeit, indem er nach der „konstitutiven Verwiesenheit“ fragt, in der visuelle und textuelle Ordnung zueinander stehen. Ihre jeweilige Verfasstheit wäre ohne die Beziehung aufeinander nicht einzusehen (245).42 Der erkenntnistheoretische Gewinn, den Schaub für die Deleuzesche Methode in Aussicht stellt, scheint demnach daraus zu bestehen, dass sich die Konjunktion über kategoriale Grenzen hinweg als eine Funktion erweist, die für alle ihre Relata von konstitutiver Bedeutung ist. Dieser Fundierungsfunktion steht jedoch der wiederholte Befund gegenüber, nach dem sich Konjunktionen gerade auch durch ihre „Fragilität und Prekarität“ auszeichnen. Wie geht dies zusammen? Äußert sich jene Zerbrechlichkeit darin, dass das und in a und b für alle möglichen Bewegungen zwischen a und b offen ist und sich gerade nicht dafür eignet, bei einer einzelnen, festen Bestimmung Halt zu machen? Oder rührt die fragliche Haltbarkeit der Konjunktion an ihre stetige Offenheit nach Außen, über a und b hinweg, wie sie sich in der Offenheit gegenüber und der Forderung nach c etc. äußert? Mirjam Schaub wendet sich dem Aspekt konjunktionaler Instabilität nun eingehender zu. Die Beziehung von Sichtbarem und Sagbarem lenkt sie auf die beiden Studien, die Deleuze dem Kino widmete (1983 und 1985) und über die sie bereits ausführlich gearbeitet hat.43 Von besonderem Interesse sind deshalb an dieser Stelle Filme, die Bilder und Töne miteinander verbinden, ohne dass diese derselben Zeit und demselben Ort entstammen. Die Verbindung ist also nicht auf die Repräsentation einer bestimmten Handlung und den Dienst an einer einheitlichen Narration angelegt. Vielmehr gebiert die Verknüpfung durch ihre bewusste, interne Differenz einen „spürbaren Zwischenraum“, der nicht bei der Differenz zwischen Bild und Ton stehen bleibt, sondern sich auch zwischen zwei Bilder bzw. zwei Töne erstreckt und ausweitet (246). Eine nachträgliche Vereinheitlichung der so gearteten Eindrücke wird nicht nur kompliziert, sondern gar unmöglich. Zu diesen Ausführungen von Schaub ist anzumerken, dass sich weniger die Konjunktion von „Sichtbarem und Sagbarem“, denn vielmehr die Bemühung – und wohl auch das Verlangen – nach einer einheitlich verfassten Wahrnehmungsweise als zerbrechlich erweist. Dass sich differente Größen, wie weit auch immer sie sich unterscheiden, miteinander verknüpfen lassen, erklärt das Problem der Labilität nicht hin-
42 | Entsprechend könnte man im Rückbezug auf Wittgenstein ergänzen, dass es nicht nur Unaussprechliches gibt, das sich zeigt, sondern auch Unzeigbares, das sich aussprechen lässt. Etwa die Gegebenheit des Wörtchens „alles“ kann dafür – insofern es nicht attributiv verwendet wird – als eindrücklicher Beleg gelten. 43 | Die Dichotomie von Sichtbarem und Sagbarem trägt ihre Untersuchung im Untertitel, vgl. Mirjam Schaub: Gilles Deleuze im Kino – Das Sichtbare und das Sagbare, München 2003.
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reichend. Zerbrechlich wird die „Konjunktion von Sichtbarem und Sagbarem“ erst dann, wenn sie mit dem Anspruch auf „kohärente Interpretation“ zusammengebracht wird. Eine Differenzierung des Konjunktionsbegriffs nach Form und Inhalt würde schon ausreichen, um genauer angeben zu können, in welcher Hinsicht das Bestehen einer Konjunktion problematisch werden kann. Eine Konjunktion formal aufzustellen und zu erhalten bedarf vergleichsweise geringerer Anstrengungen, als ihre inhaltlichen Bezüge verfügbar, konstant und also stabil zu halten.44 Den Hintergrund dafür bildet einmal mehr die Frage nach der Zeitlichkeit einer Konjunktion sowie, nochmals spezifischer, nach ihrem Scheitern-Können. Beide Fragen werden von Schaub zum wiederholten Male berührt, ohne jedoch genauer untersucht zu werden. In den weiteren Ausführungen zu einer Praxis der Konjunktion konzentriert sich Schaub auf die Überlegung, dass Buster Keaton im Medium des Filmes zur Ausführung gebracht habe, was Deleuze seinerseits in einem philosophischen Sinne verfolgte. Jene Argumentation soll, wie alles bisherige auch, allein im Hinblick auf die Thematik der Konjunktion betrachtet werden.45 So führt Schaub in einem Nebensatz an, dass es „im Sinne von Konjunktionen“ ist, „bald freiwillig, bald unfreiwillig“ zu philosophieren (246). Weiter unten heißt es, dass der Zweck eines „absurden Konnektionismus“ primär in seinem Bewirken von Transformationen, einem Anderswerden bestehe. Zuletzt versammeln sich eine ganze Reihe von Prädikaten auf die Konjunktion: Sie ist „physikalisch korrekt“, aber keinesfalls „nahe liegend“; sie ist „gewagt“ und „verrückt“; schließlich „unwahrscheinlich“ und dennoch zur „Überwindung prekärer Situationen“ geeignet (247). Diese Zusammenstellung mündet – getragen von dem veranschlagten kineastisch-philosophischen Parallelismus – in ein Resümee der Ziele und Absichten der Deleuzeschen Philosophie: „Das Mannigfaltige denken, ohne es durch allgemeine Begriffe in seinem Inhalt zu beschneiden, das Ereignis verstehen, ohne sich seiner Intensität und Schmerzhaftigkeit zu entledigen“ (247). Den spezifischen Konnex zur Thematik und Methode der Konjunktion sieht Schaub schließlich darin, dass es Deleuze dank der Konjunktion gelingt, „die ‚große
44 | Diese Unterscheidung korrespondiert in gewisser Weise mit der bereits ergänzten Differenzierung von inkludierendem und exkludierendem Konjunktionsbegriff. Im ersten – inhaltlichen – Fall schließt eine Konjunktion ihre Elemente mit ein (a und b), im zweiten – formalen – Fall bezeichnet sie das und allein. 45 | Sicherlich ließen sich die Vorannahmen kontrovers betrachten, die nötig sind, um ein künstlerisches Tun als Vorbild für ein philosophisches zu plausibilisieren. Dies führte in die Diskussion um die sogenannte künstlerische Forschung, die ein anderes Thema darstellt. Für eine kritische Perspektive darauf vgl. Dieter Mersch: Epistemologien des Ästhetischen, Zürich/Berlin 2015.
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Maschine‘ Philosophie mit dem Kleinsten, Leichtesten, mit einem einzelnen, phantastischen, unwahrscheinlichen Begriff in Gang zu bringen und rotieren zu lassen“ (248).46 Die Praxis der Konjunktion ist Mirjam Schaub zufolge von Ambivalenzen geprägt. Das Subjekt, das in und mit der Verknüpfung agiert, wird mitunter auch Objekt jener Praxis, wenn sich diese „bald freiwillig, bald unfreiwillig“ vollzieht. Der Konjunktion zu folgen, setzt dabei am Gewohnten und Konventionellen an, führt aber in gleicher Weise ein Potential der Überschreitung mit sich. Diese Überschreitungen tragen Züge des Absurden oder, allgemeiner, des Unverhältnismäßigen, die die Ambivalenz in sich fortsetzen. So erwecken die Absurditäten einerseits den Anschein des Zweckfreien oder zumindest Eigengesetzlichen, andererseits werden sie dem Zweck unbestimmter Verwandlung zugeordnet. Wenn die Unverhältnismäßigkeiten zu Übertreibung und Verausgabung neigen, werden sie in gleicher Weise zum Angelpunkt von Heilsversprechen. Der letzte Punkt, den Schaub anführt, droht die Ambivalenz diesbezüglich ins Kippen zu bringen, das heißt einseitig zu entscheiden: Der Ausblick der Rettung, der auf Krieg Frieden und auf Sehnsucht erwiderte Liebe folgen lässt, tendiert offenkundig dazu, das ambivalente Gegenstück, die Verausgabung, in den Hintergrund zu rücken, wenn nicht gar fallen zu lassen (vgl. 248). Auf die Konjunktion zurückbezogen heißt das, dass ihr Vermögen unfreiwilliger Impulsivität unterbunden wird. Soll das und dagegen tatsächlich eine methodische und das heißt leitende Funktion innehaben, wird ein Ziel nicht nur End- sondern auch Ausgangspunkt sein. Das und pocht auf weiteres, auch an einem „Ziel“. Dieser Forderungscharakter, der eine mitunter „bald unfreiwillige“ Getriebenheit ausübt, wird von Schaub an dieser Stelle nicht gebührend weitergeführt. Die Ambivalenz der Konjunktion wird nominell angeführt, argumentativ jedoch beschnitten. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Schaub zuletzt nicht auf das Verknüpfen selbst, sondern auf eines der Verknüpfungselemente fokussiert: Hier ist es nämlich nicht an der Konjunktion, neue Bewegung zu initiieren, sondern an dem „einzelnen, phantastischen, unwahrscheinlichen Begriff “ (248). Was jedoch, wenn nicht die Konjunktion, macht es möglich und vermag es mit Leichtigkeit, jenen Begriff abermals mit Weiterem zu verknüpfen?
46 | Das Sprachbild der Maschine steht im Kontext der Ausführungen zu Buster Keaton. Vor allem an der Art, wie Keaton auf technische Apparaturen reagiert und sie sich zu Nutze macht, versucht Schaub zu zeigen, dass sich dieses Vorgehen als eine „Praxis der Konjunktion“ begreifen lässt.
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In einer abschließenden Zusammenschau stellt Mirjam Schaub zwei „Operationen“ heraus, die ihr zufolge als Minimalbestimmung der konjunktionalen Methode gelten können: „Produktion und Produktivität“ sowie „Distribution und Distributivität“ (248f). Die Operation der Produktion und Produktivität macht Schaub am Begriff der Neuverkettung fest. Demnach ermöglicht und bewirkt das und nicht nur einen formalen Zusammenschluss, sondern auch inhaltliche Neuerungen. Schaub spricht von „Effekten der ‚Verfremdung‘“ und der „Neubewertung“ (248). Diese setzen zum einen an beiden Bezugsgrößen der Konjunktion an, zum anderen betreffen sie aber auch den Zwischenraum selbst, der nunmehr nicht mehr einfach nur leer und ohne semantisches Gewicht ist.47 Die zentrale Referenz dieser Operation sieht Schaub in Leibniz, mit dem sich Deleuze in Die Falte – Leibniz und der Barock (1988) intensiv auseinandersetzte. Das innovatorische Potential der Verkettung gründet sich demnach weniger auf eine Abgrenzung von Figuren der Differenz, vom „Bruch“ bis zur „Auflösung“, sondern nimmt diese vielmehr und gerade als Voraussetzung an (248). Produktion und Produktivität speisen sich folglich aus einer grundlegenden Differenz. Die zweite Operation, die der Verteilung, der „Distribution und Distributivität“ gilt, orientiert das produktive Moment der Konjunktion schließlich nach Außen. In dieser „relationalisierenden Kraft“ sieht Schaub einen „naturalistischen Grundzug“ enthalten, der in der Tradition von Epikur und Lukrez stehe (249). Natur stellt sich demnach als etwas Zusammengesetztes dar, das jedoch nicht aus einer Position des Überblicks, das heißt nicht mit einem übergeordneten Begriff ansprechbar ist: Sie ist „eine Summe, aber kein Ganzes“ (249). Entgegen einem metaphysischen Begriff des Seins, der auf das gleichnamige Verbum zurückgeht, birgt das und keinerlei Tendenzen, seine Relata an irgendeinem Ganzen zu messen und darüber auf- oder abzuwerten. Dieses Geschehen, das primär von Singularitäten und ihren Konjunktionen ausgeht, habe Deleuze im Blick, wenn er mit dem Begriff der Mannigfaltigkeit arbeitet. Auch wenn das Mannigfaltige auf „intensive und qualitative Einzelheiten“ zurückgehe, wird es Schaub zufolge erst dank der Distributivität der Konjunktion denkbar.
47 | Ohne dass Schaub darauf zurückkommt, tritt sie an dieser Stelle nun entschieden für die Argumentation ein, die sie zuvor im Rahmen der etymologischen Ausführungen zum und als linguistische Position eingeführt hat. Demnach sind Konjunktionen in ihrer Funktion des Verknüpfens weder austausch- noch verzichtbar. Auch wenn Begriffe komplexer erscheinen, verdanken sie ihre Komplexität auch und gerade konjunktionalen Verbindungen. In dieser Form haben Konjunktionen nicht nur an syntaktischen, sondern auch an semantischen Strukturen Anteil. In der Konsequenz wird die Konjunktion zu einer Herausforderung der klassischen, zweiwertigen Logik: Mit ihr ist ein Drittes gegeben – tertium datur.
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Ganz am Ende kommt Schaub zu ihrem Ausgangspunkt, der Interdisziplinarität, zurück und hebt hervor, dass der interdisziplinäre Zug in der Deleuzeschen Philosophie weniger eine Möglichkeit, denn vielmehr eine Notwendigkeit darstellt. Der experimentelle Umgang mit den tradierten begrifflichen Grenzen einzelner Disziplinen – Schaub nennt neben der Philosophie übergeordnet die (Natur-)Wissenschaften und die Künste – leite sich als Konsequenz aus der Methode der Konjunktion ab.48 Des Weiteren folge die Notwendigkeit terminologischer und fachspezifischer Überschreitungen nicht nur aus der Deleuzeschen Philosophie, sondern wirke auch auf sie zurück. Schaub nutzt diese Rückkopplung, um den Bezug von Deleuze im engeren Sinne auf die Philosophie als Ganze auszuweiten. Der „Kontakt zur Nicht-Philosophie“ werde für die Philosophie durch die Methode der Konjunktion möglich und nötig. Er stellt nach den abschließenden Worten von Mirjam Schaub nicht weniger als eine „notwendige Kur“ dar, in der es nicht um Genesung, sondern um „Erregung“ im Sinne einer „Ansteckung mit neuen Erregern“ geht (249). Schlussbetrachtungen Die soweit versammelten Anmerkungen, Ergänzungen und offen gebliebenen Fragen lassen sich in drei Aspekten zusammenfassen: (I) dem Forderungscharakter, der dem und innewohnt, (II) der Frage nach der Selbstbezüglichkeit der Konjunktion und (III) dem Aspekt ihres Scheitern-Könnens. (I) Strukturell zeichnet sich eine Konjunktion nicht nur durch ihre referenzielle Offenheit aus, sondern auch durch einen funktionslogischen Forderungscharakter. Das und pocht in seiner Funktion als Konjunktion auf eine Fortsetzung nach bzw. hinter sich, ganz gleich, aus welcher Richtung der Lauf der Sprache zu ihm führt. Dieser Forderungscharakter geht in einem innovatorischen Potential nicht auf. Das Neue folgt bei Schaub aus der Möglichkeit, größte Differenzen mit einem und zu verknüpfen, ohne sie dabei in irgendeiner Form zu beeinträchtigen. Die Kehrseite jener Differenzentoleranz besteht jedoch darin, dass sich eine Methode der Konjunktion unter dem Vorzeichen der Innovation von der Gegebenheit von großen Differenzen abhängig macht. Ganz zu schweigen ist von dem Zwang, dass bald nicht nur weitere Differenzen vorliegen müssen, sondern auch und immer weiter tatsächlich Neues daraus
48 | Schaub umschreibt das Experimentieren von Deleuze mit einer Reihe von Verben, die zuerst paarweise aufeinander bezogen sind – „gesucht, gefunden“ und „gebraucht, missbraucht“ –, um zuletzt noch das einzelne „ruiniert“ mit aufzunehmen. Bis zuletzt bleibt damit das ScheiternKönnen der konjunktionalen Methode virulent, ohne jedoch zu einer eigenen Frage zu werden.
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folgen muss. Dem entgegen stellt sich die Frage, warum die Konjunktion per se gänzlich Heterogenes zu Neuem verknüpfen muss. Mit gleicher Plausibilität kann ein und Bekanntes zu Neuem verknüpfen, wie sich umgekehrt auch Neues zu Bekanntem verbinden lässt. Schaub berührt diese Frage am deutlichsten in den Ausführungen zum Deleuzeschen Konzept der Gegenverwirklichung, das nicht auf eine maximale, sondern umgekehrt eine minimale Differenz zwischen dem, was es zusammenbringt, setzt (vgl. 234). Die Konjunktion zeichnet sich nicht nur durch Offenheit und Toleranz gegenüber großen inhaltlichen Differenzen aus, sondern ist genauer noch durch eine Arbitrarität hinsichtlich der Beschaffenheit ihrer Relata zu charakterisieren: Aus der Perspektive des und ist es beliebig, was verknüpft wird und worauf hin die Verknüpfung geschieht. Beliebig ist dagegen nicht, wie verknüpft wird – referenziell offen bzw. egalitär gegenüber Differenzen – und dass überhaupt verknüpft wird – gemäß der Forderung einer Fortsetzung.49 An jener Arbitrarität zeigt sich, dass eine Charakterisierung des und allein durch seine referenzielle Offenheit zu einseitig ausfällt. Der Differenzentoleranz des und läuft ein Forderungscharakter parallel. Sobald die Reihe am und ist, kann nicht nur, sondern muss etwas folgen.50 Das von der Konjunktion eingeforderte Etwas muss jedoch nicht etwas Bestimmtes, sondern kann alles Mögliche sein. Die Differenz, die für das und charakteristisch ist, hat demnach weniger auf der Gegenstandsebene ihren Ort. Sie besteht vielmehr zwischen der Beliebigkeit der verknüpften Gegenstände und der Notwendigkeit des Verknüpfens, ihres Verknüpft-Seins. (II) Die Verbindung von referenzieller Offenheit und funktionslogischem Forderungscharakter führt zu der Frage, wie sich eine Konjunktion zu sich selbst verhält. Bei Schaub klingt dieser Aspekt in der Formulierung an, „über den Umweg des Anderen
49 | In dieser Hinsicht spezifiziert sich die konjunktionale Arbitrarität von der allgemein zeichentheoretischen, nach der das Verhältnis zwischen der Form eines Zeichens und seiner Bedeutung willkürlich ist. Im Bezug auf die Konjunktion bzw. von ihr ausgehend ist sowohl die Form als auch die Bedeutung der Relata arbiträr, nicht jedoch das Zustandekommen und die Auswirkung der Relationierung. 50 | Dies gilt wiederum nur für Konjunktionen in der Funktion als Konjunktion. In substantivierter Form können Konjunktionen dagegen sehr wohl auch das Ende eines Satzes einnehmen. Einen Sonderfall scheinen Fragen darzustellen, die mit einem und enden können und doch vollständige Sätze abgeben. Gerade diesbezüglich kann jedoch sichtbar werden, wie sich etwas von der Forderung einer Frage (auf eine Antwort) auch innerhalb einer Konjunktion (auf eine Fortsetzung) wiederfindet bzw. umgekehrt, die konjunktionale Fortsetzungsforderung in die Ausgerichtetheit jeder Frage eingeht.
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etwas Neues im Eigenen zu entdecken“. Die Kategorien von Eigenem und Anderem werden dabei auf die Konjunktion selbst bezogen (vgl. 239). Die Frage, worin genauer das Eigene und Andere einer Konjunktion besteht, findet bei Schaub jedoch keine weitere Bearbeitung. Bisherige Ergänzungen ergaben, dass sich in der Figur des Eigenen und Anderen einer Konjunktion verschiedene Konjunktionsbegriffe sowie verschiedene zeitliche Ordnungen miteinander verschränken. Demnach lässt sich der Begriff Konjunktion inkludierend, das heißt mit Einschluss der Relata (a und b), oder exkludierend, das heißt unter Ausschluss der Relata (als und alleine), auffassen. Im inkludierenden Fall geben die Elemente von a und b sowie deren Beziehung das je Eigene der Konjunktion an, im exkludierenden Fall stellen selbige das Andere der Konjunktion dar. Entsprechend steht die exkludierende Konjunktion auch zeitlich separat zwischen ihren Bezugselementen, während die inkludierende Konjunktion die Gleichzeitigkeit der einzelnen Elemente und ihrer Wechselwirkung intendiert.51 Wie kann sich eine Konjunktion demzufolge zu sich selbst verhalten? Nach der Unterscheidung von Einschluss und Ausschluss kann die inkludierende Konjunktion zum Gegenstand der exkludierenden werden: (a und b) und c. Der umgekehrte Fall, wonach die exkludierende Verknüpfung Element der inkludierenden wird, ist dagegen nur unter der Bedingung möglich, dass die exkludierende Konjunktion ihre Funktion als Konjunktion einbüßt und substantiviert wird: Und und Weiteres. Aus der Unterschiedlichkeit beider Fälle geht hervor, dass die Konjunktion und nicht beliebig auf sich selbst bezogen werden kann, insofern ihre konjunktionale Funktion erhalten bleiben soll. Der Selbstbezug ist für das und nur dann möglich, wenn über die einschließende Konjunktion nicht-konjunktionale Elemente (a,b) zum Bestandteil der Bezugnahme werden. Diese Einschränkung in der Frage nach der Selbstbezüglichkeit des und lässt sich auf die zuvor erweiterte Charakterisierung durch Offenheit und Forderungscharakter zurückbeziehen. Auf den ersten Blick scheint nichts dagegen zu sprechen, dass die Konjunktion dank ihrer strukturellen Offenheit auch sich selbst zum Gegenstand haben kann. Bei näherem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass eine Differenzierung des Konjunktionsbegriffs nötig wird – räumlich nach Ein- und Ausschluss, zeitlich nach Sukzession und Gleichzeitigkeit –, wenn die konjunktionale Funktion des und im
51 | Aus dieser auch zeitlichen Separierung heraus liegt es nahe, der exkludierenden Konjunktion eine Unabhängigkeit zuzusprechen. Das würde jedoch vergessen lassen, dass es sich bei ihr nach wie vor um eine Konjunktion handelt. So wenig eine solche gänzlich unabhängig für sich stehen kann, so wenig können ihre Bezugselemente für sich alleine semantisch bedeutsam werden. Aus der separaten Betrachtung von Konjunktion und Relata folgt nicht deren jeweilige Unabhängigkeit.
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Selbstbezug erhalten bleiben soll. Nicht nur die Offenheit, sondern auch die Forderung des und muss berücksichtigt werden, das heißt externe, nicht-konjunktionale Elemente können nicht nur, sondern müssen auch hinzukommen, um dem und einen Bezug auf sich selbst zu ermöglichen.52 (III) Zuletzt ist dem und eine Tendenz zur Verausgabung eigen. Der Fall der Selbstbezüglichkeit zeigt, dass die Konjunktion auch im Rekurs auf sich selbst keinen verlässlichen Halt finden kann. Damit scheint sich mit den ergänzenden Ausführungen systematisch zu bestätigen, was Schaub zuvor an Beispielen als die Fragilität und Prekarität der Konjunktion anführte (vgl. 245). Die Verschränkung von Offenheit und Forderung stellt sich als das antreibende Moment jener „Kohärenz bloß auf Zeit“ dar, die Schaub den durch und gestifteten Verknüpfungen attestiert (234). Und doch bleibt bis zu dieser Stelle offen, was genauer damit gemeint sein kann, dass ein Scheitern der Konjunktion „fraglos auch geschieht“ (233). Diese Frage ist für eine Methode der Konjunktion vor allem deshalb von Bedeutung, weil sich an ihr der experimentelle Status zu erweisen hat, über den sich die Methode als solche legitimiert. Könnte die Methode nicht fehlgehen, drohte sie stattdessen in Trivialität oder Beliebigkeit abzugleiten. Nicht zuletzt die abschließenden Punkte von Schaub lassen diese Abhängigkeit von der Möglichkeit zu scheitern, deutlich werden, wenn die Produktivität des und auf Brüche baut und seine Distributivität die Ausbildung eines abgeschlossenen Ganzen verhindert (vgl. 248f). Zuerst ist zu präzisieren, woran das und scheitern kann. Die Maßstäbe, die Schaub anführt, lauten Stabilität und Zeit, was nahelegt, an die Dimensionen von Raum und Zeit zu denken. Scheitert die Konjunktion nach diesen Parametern, kommt eine Verknüpfung entweder gar nicht erst zustande oder sie zerbricht nach ihrer Bildung. Gegen ein vorläufiges Scheitern, den ersten Fall, spricht jedoch die referenzielle Offenheit, die dem und eigen ist. Wie sollte es am und selbst liegen, eine Verknüpfung bereits im Vorfeld nicht zustande kommen zu lassen? Umso plausibler wird die zweite Option, nach der eine Verknüpfung stattfindet, aber nicht dauerhaft stabil ist. Es
52 | Die im Vorfeld vorgenommenen Differenzierungen des Konjunktionsbegriffs verlängern sich damit in den Versuch hinein, in der Selbstbezüglichkeit ein „Selbst“ der Konjunktion vorzufinden. Das und ist demzufolge als Konjunktion nur schwer, in einem strengen Sinne gar nicht isolierbar. Aus der Nicht-Isolierbarkeit folgt eine Nicht- oder nur Schlecht-Definierbarkeit, insofern beim Versuch, das und zu definieren, wiederum auf die Konjunktion als den zu definierenden Gegenstand zurückgegriffen werden muss. Eine Ausnahme davon stellen bislang allein Negativ-Bestimmungen dar, die angeben, was die Konjunktion nicht ist bzw. nicht macht, wie etwa das Eintragen qualitativer Gewichtungen.
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liegt nahe, den Grund jener Hinfälligkeit in der strukturellen Offenheit und dem fordernden Moment der Konjunktion im Hinblick auf weitere Elemente zu sehen, die eine bestehende Konjunktion (a und b) stets in das Licht eines neuen Bezugs (und c) stellen. Darüber zeichnet sich ab, dass die Möglichkeit einer Konjunktion, zu scheitern, nicht nur aus konkreten und spezifischen Gegenstandsbezügen resultiert, sondern auch systematische Gründe besitzt. Im Hinblick auf die Eigenständigkeit eines Relationsurteils, das sich auf das und gründet, lotet Deleuze selbst jene Systematik mit ihren Konsequenzen aus: 53 „Wenn man allerdings aus dem Relationsurteil einen eigenständigen Urteilstyp macht, merkt man auf einmal, dass es sich überall einschleicht, dass es alles durchdringt und zersetzt: das UND ist nicht einmal mehr eine besondere Konjunktion oder Relation, es reißt alle Relationen mit sich fort, [...].“ 54 Der Forderungscharakters und die Selbstbezüglichkeit der Konjunktion werden von Deleuze zwar nicht eigens benannt, aber in aller Deutlichkeit beschrieben. Der Aktionsradius des und – einschleichen, durchdringen und zersetzen – baut nicht nur auf eine Differenzentoleranz, indem er allem gleich gilt, sondern zeugt gleichsam von einem treibenden Moment im Vollzug der Konjunktion. Mit der Verschränkung von Offenheit und Forderung gerät „alles“ „überall“ in den Bezugsbereich des und. Deleuze denkt diese Reichweite konsequent und spart die Konjunktion und ihre Relationen nicht von den Durchdringungen und Zersetzungen aus: Die Konjunktion kann nicht aus der Unterordnung bezüglich Existenz- und Eigenschaftsurteil befreit werden und gleichzeitig als etwas besonderes gelten wollen. Vielmehr muss sich das und auch auf sich selbst beziehen, das heißt es muss auch für sich selbst offen sein, sich selbst einreihen und relativieren. In dieser Unaufhaltsamkeit unterhält die Konjunktion ein sehr enges Verhältnis zum Lauf der Zeit. Vor allem in dieser Hinsicht unterscheidet sich das und von den anderen, von Deleuze genannten Urteilsformen, dem Existenzund dem Eigenschaftsurteil. Die Konjunktion verknüpft von sich aus betrachtet zwar mit Bestimmtheit, aber nicht bestimmend. Spätestens wenn ersichtlich wird, dass sie davon auch sich selbst nicht ausnimmt, wird deutlich, dass ein Scheitern der Konjunktion mit den Maßstäben von Existenz- und Eigenschaftsurteil gemessen wird: Das und scheitert im Bezug auf Identitätsbildung und Definierbarkeit. Ein Scheitern
53 | Schaub zitiert die entsprechende Passage ausführlich. Im Anschluss fokussiert sie jedoch allein auf gelingende Innovationen, die dem methodischen Einsatz des und zu verdanken sind (vgl. 231f). 54 | Gilles Deleuze: Unterhandlungen, a.a.O., S. 67.
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in der ihm eigenen Aufgabe des Verknüpfens ist damit jedoch eher revidiert denn erwiesen. Kann das und schließlich von sich aus scheitern? In dieser Frage weiterzukommen hängt davon ab, inwiefern sich die Konjunktion auch mit ihrem eigenen Maß messen lässt. Dafür sind nochmals die verschiedenen Anwendungsmöglichkeiten des und in den Blick zu nehmen. Der konventionelle Fall lautet a und b. Im Kontext der Selbstbezüglichkeit wurde dieser weiter ausgebaut zu den Formen (a und b) und c (selbstreferenzieller Fall) sowie zu Und und Weiteres (quasi-selbstreferenzieller Fall). Eine Anwendung der Konjunktion kam bislang jedoch noch nicht zur Sprache, der Fall des wiederholten Bezugs auf ein und dasselbe Element: a und a. Formal spricht nichts gegen diese Option, allein inhaltlich scheint sie fragwürdig. Der Zusammenschluss klingt verdächtig redundant. Plausible Ausnahmen sind von entsprechend formalem Charakter, etwa das Bilden von Listen, die dem Prinzip der Summation folgen, oder die Angabe eines Rhythmus, und 1 und 1 und . . . In diesen Fällen spielt die jeweilige Beziehung zwischen den verbundenen Gliedern keine große, wenn überhaupt eine Rolle. Umso bedeutender sind übergeordnete Strukturen, wie etwa Fragen der Reihenfolge, der Zugehörigkeit der Glieder zu Gruppen, des Umfangs der Reihe bzw. ihrer Dauer, der Präzision des Taktes usw. Diese quantitativen Ordnungsfiguren bauen darauf, dass sich die einzelnen Elemente voneinander unterscheiden, selbst wenn sie auf denselben Namen hören, und dem kann die Verknüpfung mittels und entsprechen. Die Konjunktion stellt sicher, dass eine gegebenenfalls minimale Grenze zwischen a und a bestehen bleibt, die es wiederum erst möglich macht, dass eine übergeordnete Struktur auf die vorliegenden Elemente Bezug nimmt. Damit wird ersichtlich, dass das und ein doppeltes Differenzmoment in sich birgt: Erstens ist der Einbezug differenter, das heißt nicht-konjunktionaler Elemente selbst noch im Selbstbezug notwendig und zweitens differieren jene Elemente notwendig auch untereinander. Möchte man schließlich an der Formulierung des Scheiterns der Konjunktion festhalten und soll dieses Scheitern nicht dem Ansatz fremder Maßstäbe geschuldet sein, dann wird es auf die Bezugnahme der Konjunktion auf Identisches zu beziehen sein. An der Verknüpfung von a und a zeigt sich, dass das und in diesem Fall nicht anders kann, als quantitativen Belangen den Vorzug einzuräumen, und seinen Sinn für die Stiftung qualitativ eigenständiger Beziehungen einbüßt. Ein und dasselbe wird quantitativ differenziert, qualitativ kann es über das und auf sich selbst nicht zurückwirken. Wie diese Einschränkung zu bewerten ist, ist nochmals eine andere Frage. Ihr wird dann sinnvoll nachzukommen sein, wenn eine entsprechende Analyse anderer Konjunktionen – im hiesigen Zusammenhang von nicht nur, sondern auch – daneben gestellt werden kann. Allein soviel lässt sich schon hier ersehen: nicht nur a, sondern auch a unterliegt den bezüglich des und aufgezeigten Grenzen nicht.
2. Das und als kulturtheoretischer Parameter Zu Peter Bextes ‚und‘ – Bruchstellen im Synthetischen
1927 erschien in der Zeitschrift i10 (Nr.1/I) in Amsterdam ein Artikel Wassily Kandinskys, der ausgehend vom 19. Jahrhundert Bilanz zieht, um daraus eine Perspektive für die eigene, kommende Zeit, das noch nicht weit fortgeschrittene, aber bereits stark belastete 20. Jahrhundert abzuleiten. „So wie seinerzeit das feine Ohr in der Ordnungsruhe das Donnern hörte, kann das scharfe Auge im Chaos eine andere Ordnung erraten. Diese Ordnung verlässt die Basis ‚entweder-oder‘ und erreicht langsam eine neue – und.“ 1 Der darauf folgende Satz überträgt der in Aussicht gestellten, langsamen Herausbildung dieser anderen Ordnung die Aufgabe, nicht nur Basis, sondern auch Signum des gesamten 20. Jahrhunderts zu sein. Eben jenes Diktum – „Das 20. Jahrhundert steht unter dem Zeichen ‚und‘.“ – dient Peter Bexte als Eingangszitat seiner Ausführungen zu selbigem und.2 Zumal, wenn man den Kontext von Kandinskys weitgespannter Aussage berücksichtigt, fällt sogleich auf, dass Peter Bexte das und nicht vorbehaltlos als Vorzeichen einer anderen Ordnung und als tragenden Grund für die Bildung von Synthesen gelten lässt: In seiner Überschrift treten „Bruchstellen“ dazwischen. Auch Kandinsky selbst nimmt etwas von der Last zurück, die er der kleinen
1 | Wassily Kandinsky: und – Einiges über synthetische Kunst, in: Ders.: Essays über Kunst und Künstler, hrsg. v. Max Bill, Bern 1973 [1955], S. 99. 2 | Peter Bexte: ‚und‘ – Bruchstellen im Synthetischen, in: Gabriele Gramelsberger, Peter Bexte, Werner Kogge ( Hg.): Synthesis – Zur Konjunktur eines philosophischen Begriffs in Wissenschaft und Technik, Bielefeld 2014, S. 25–40. Die Nummern in Klammern, wie sie im Folgenden auftreten, beziehen sich auf die Seitenzahlen dieser Quelle. In abgewandelter Form findet sich der Aufsatz nochmals unter dem Titel Trennen und Verbinden – Oder: Was heißt ‚und‘? in: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie, Volume 1, hrsg. v. Dieter Mersch u. Michael Mayer, Berlin/München/Boston 2015, S. 51–66.
64 | Konjunktion
Konjunktion auferlegt hat, wenn er im unmittelbaren Anschluss im und „nur die Folge“ eines Prozesses der Verinnerlichung sieht, der sich von der „Form“ zum „Inhalt“ entwickle. Diese Relativierung, die aus einem kausalen respektive temporalen Ableitungsverhältnis hervorgeht, ist jedoch von anderer Natur als die der „Bruchstellen“ bei Bexte. Die Bruchstellen haben nicht vor oder nach, sondern in der Synthese ihren Ort und in dieser Form betreffen sie wohl auch die Konjunktion.3 Damit stehen sich in aller Kürze zweierlei Perspektiven auf das und gegenüber: Die eine trägt ihm eine erneuernde Kraft zu; die andere erblickt dagegen Zäsuren, die mit der Synthesis und wohl auch dem und zusammenhängen. Die Verhältnisbestimmung zwischen diesen beiden Sichtweisen gibt der Untersuchung des vorliegenden Aufsatzes eine erste Richtung. „Bruchstellen“ liefern dafür eine erste Koordinate. Abermals wird eine kleinschrittige Relektüre und Befragung des Textes folgen. Aus der Trias, die der Titel nennt – ‚und‘, Bruchstellen und Synthetisches –, wählt Peter Bexte den Begriff des Synthetischen als Ausgangspunkt. Mit Blick auf die Geschichte des Terminus öffne sich eine lange Tradition, die Raum für zahlreiche „Schwankungen und Konjunkturen“ bietet (25). Wo hat der Synthese-Begriff seinen Ursprung? Mit betonter Vorsicht legt Bexte eine Verortung in der Philosophie nahe. Umso deutlicher stehe vor diesem Hintergrund der dortige Bedeutungsverlust in der Gegenwart vor Augen. Der Artikel zum Stichwort der Synthesis aus dem Historischen Wörterbuch der Philosophie, den Bexte zum Beleg in einer Anmerkung heranzieht, spricht gar von einer Vermeidung des Begriffs, wovon lediglich die Bewusstseinsphilosophie auszunehmen sei. Noch im Rahmen der Fußnote fügt Bexte hinzu, dass er das und befähigt sieht, die Lücke auszufüllen, die der Synthese-Begriff in der Philosophie hinterlassen habe. Dies geschieht in einem ausgesprochen heuristischen Gestus, denn weder führt er weiter aus noch skizziert er an, wie dieser Stellenwechsel genauer zu denken sein könnte. Immerhin handelt es sich im einen Fall um einen Begriff, im anderen um eine Konjunktion. Am Rande ist zu vermerken, dass das und dabei mit einer zweiten Ortszuschreibung konfrontiert wird: Nach den Bruchstellen aus der Überschrift sieht es sich nun einer „Leerstelle“ gegenüber.
3 | Die Schreibweise der Konjunktion – in ihrer Ansprache, nicht ihrer Anwendung – richtet sich bei Peter Bexte danach, ob ein substantivischer Zusatz gegeben ist, etwa „das Wort und“, oder ob die Konjunktion alleine auftritt, als substantiviertes, großgeschriebenes Und. Da es im hiesigen Zusammenhang dezidiert um die Konjunktion in ihrer Rolle als Konjunktion gehen soll, erhält die kleine Schreibweise im Rahmen dieser Ausführungen Vorrang, auch wenn die Konjunktion als Substantiv auftritt.
2. Das und als kulturtheoretischer Parameter (Bexte) | 65
Was angesichts des Bedeutungsverlustes des Synthese-Begriffs in der Philosophie gleichsam auffallen kann, ist seine neuerliche Konjunktur in anderen kulturellen und wissenschaftlichen Bereichen. Bexte nennt exemplarisch die elektronische Musik, die sich maßgeblich auf die Entwicklung des Synthesizers stützt, sowie die Bereiche von synthetischer Chemie und Biologie, die das Prädikat des Synthetischen offiziell in ihrem Namen tragen. An der Reihe dieser Beispiele macht Bexte die Bemerkung fest, dass der Terminus der Synthese „ebenso häufig wie divergierend“ zur Anwendung komme (26). Welche Divergenzen kamen bereits zur Sprache? Einander widerstrebende Tendenzen machten sich bislang daran fest, ob der Begriff überhaupt Verwendung findet oder vermieden wird; in einem zweiten Schritt, wenn der Terminus in Gebrauch ist, zeigten die aufgerufenen Beispiele, dass er einmal den Wortstamm in der Benennung eines Musikinstrumentes bzw. einer Instrumentengruppe liefert, ein andermal zwei Wissenschaftszweige benennt, die aus einfacheren materiellen Komponenten komplexere zusammenzusetzen bzw. abzuleiten versuchen. Die erste Divergenz besitzt einen schließenden Charakter, insofern zwei klar umrissene Optionen vor- und einander gegenüberliegen: Entweder der Begriff findet Verwendung, oder nicht. Die zweite Divergenz tritt dagegen in einer offenen Struktur auf: Prinzipiell ließen sich darin beliebig viele weitere Beispiele anführen, solange sie von einer unterschiedlichen Verwendung des Synthese-Begriffs zeugen. Diese potentielle Vielzahl an Spezifika lässt Bexte nach einem allgemeinen Grundzug fragen: „Jede Synthese setzt voraus, dass zumindest zweierlei zusammenkommt: das Eine und das Andere. Was aber heißt ‚und‘? Was macht ‚und‘ in den diversen Modalitäten des Verbindens?“ (26) Die Vorhandenheit und Zusammenkunft von zwei unterschiedlichen Elementen stellt nach dieser Aussage die Minimalbedingung für die Möglichkeit von Synthese dar. Augenscheinlich kommt in der schematischen Formulierung „das Eine und das Andere“ jedoch noch etwas Drittes vor: das und – klammert man die bestimmten Artikel einmal aus. Bexte wendet sich an die Konjunktion, als könnte sich hinter ihr eine gegenständliche Referenz offenbaren; als könnte das und etwas benennen, dafür einstehen und es abbilden. Näher scheinen die „diversen Modalitäten des Verbindens“ an die Konjunktion zu reichen. Allerdings lässt die Frage noch vollkommen offen, was die Rolle des und in diesem Kontext betrifft: Es könnte ebenso als schlichter, unflektierbarer Lückenfüller fungieren wie als eine besonders facettenreiche Größe in der angesprochenen Vielfalt der Verknüpfungsarten.
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Vor der weiteren Erörterung der Frage nach dem und führt Peter Bexte den Gegenbegriff der Synthese ein: die Analyse. Mit William Hogarth’s Schrift The Analysis of Beauty von 1753 nähert er sich dem Begriff erneut über ein historisches Exempel. Darin unternahm der englische Künstler den Versuch, Schönheit auf ein einziges graphisches Element zurückzuführen. Wie beigefügte Illustrationen verdeutlichen, bestand das Ziel jener Grundform allerdings nicht nur darin, Schönheit analytisch nachweisbar zu machen, sondern auch darin, sie konstruieren zu können. Die Schritte, die die Analyse bis hin zur Grundform tätigt, sollen also auch in der Gegenrichtung und das heißt synthetisch gangbar sein. Dafür muss angenommen werden, dass sich die jeweiligen Verfahrensschritte ohne nennenswerte Verluste ineinander übersetzen lassen. Das schließt nicht aus, dass eines der Verfahren mit einer Präferenz ausgestattet ist und sozusagen die Vorzugsrichtung darstellt, wie im Fall Hogarth die Analyse. Die Kompatibilität der Verfahren bleibt jedoch eine zentrale Voraussetzung des Ansatzes. Diese Annahme trennt Bexte scharf von dem ab, was er in der Gegenwart vorherrschen sieht. Von einer Neutralität und Gewährleistung der Übersetzung lasse sich „heute“ in keinem Fall mehr fraglos ausgehen, „und zwar nirgends, weder in den Künsten noch in den Wissenschaften“ (26).4 Zur Begründung kommt Bexte, neben dem Verweis auf die weiteren Aufsätze des Bandes, dem auch sein Text entstammt,5 nochmals auf das Analyse-Verständnis bei Hogarth zurück. Dem liege nicht nur eine geometrische Auffassung seiner Gegenstände zugrunde, sondern auch die Tradition neuzeitlicher Anatomie. Das Zerlegen und entsprechend fokussierende Studieren organischer Substanzen schenkt der Analyse ein sehr anschauliches Modell ihrer selbst. In diesem Zusammenhang wird jedoch exemplarisch auch das Problem sichtbar, dass bestimmte Ableitungszusammenhänge einseitig angelegt sein können, das heißt, dass die Auftrennung eines Ganzen in seine Teile nicht beliebig reversibel ist. Es versteht sich nicht von selbst, nach dem Vollzug bestimmter Analyseschritte wieder auf den unveränderten Ausgangspunkt zurückkommen zu können. Einen gewissen Spielraum im Umgang mit Einschränkungen dieser Art eröffnet die von Bexte so bezeichnete ästhetische Synthesis, die im Bild realisiert, was an-
4 | Bexte kommt an keiner Stelle mehr auf diese sehr allgemein gefasste, zeitgeschichtliche Diagnose zurück, weder erhärtend noch relativierend. Im Speziellen ist zu bezweifeln, dass sich in der Hogarthschen Ironie keinerlei Anzeichen eines Problembewusstseins bezüglich seines Verfahrens finden. Und im Allgemeinen bleibt ungeklärt, welche Kriterien verbürgen sollten, dass die kritisierte Naivität in der Gegenwart mit Sicherheit ausgeschlossen werden kann. Für eine historisch vorsichtiger verfahrende Betrachtung von Hogarth’s Analysis of Beauty vgl. Wolfgang Ullrich: Was war Kunst? Biographien eines Begriffs, Frankfurt a.M. 2005, S. 31ff. 5 | Vgl. Fußnote 2, S. 63.
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sonsten verwehrt bleibt. Wie der geometrischen eine anatomische Analyse entgegengestellt wird, findet die ästhetische Synthesis nach Bextes Terminologie ihren Widerpart in einer biologischen. Ohne dass letztere Begrifflichkeiten jenseits ihres gemeinsamen, aufeinander verweisenden Auftretens weiter charakterisiert werden, bindet sie Bexte unmittelbar in die Problematisierung des Verhältnisses von Analyse und Synthese ein. Schwierigkeiten stiftet also nicht nur die potentielle Inkompatibilität der Verfahrensweisen untereinander, sondern auch deren jeweilige interne Differenziertheit, nach der sich geometrische und anatomische, ästhetische und biologische Richtlinien und Mittel gegenüberstehen. Nichtsdestotrotz beobachtet Bexte gegenwärtig eine zunehmende Angewiesenheit der Methodiken auf- und untereinander. Etwa nehme die Bedeutung bildgebender Verfahren in der Biologie zu. Das spezifisch synthetische Moment in der Ästhetik setzt Bexte dagegen nicht auf die Gegenwart, sondern die „Künste des 20. Jahrhunderts“ an, insofern diese eine nicht minder enge Verbindung mit dem Synthetischen unterhielten, wenn auch, um sich davon abzugrenzen: „als Sprachzerfall, Klangzerfall, Bildzerfall“ (27). Diese Formen des Zerfalls versprechen dem „Problem der Synthesis“ unter umgekehrtem Vorzeichen Anschaulichkeit: Die in Aussicht stehenden Rückschlüsse weisen dabei nicht schlicht und unmittelbar auf einen wie auch immer gearteten Aufbau, als das Gegenstück zum Zerfall, sondern deuten auf eine Synthesis, die explizit als ein Problem gekennzeichnet ist. Das lässt, auch wenn Bexte nicht gesondert darauf hinweist, an die Bruchstellen des Textbeginns zurückdenken. Deutlicher jedoch als jene führt die Vokabel des Zerfalls ein Moment der Unwillkürlichkeit mit sich. Sie lässt sich leichter mit erlittenem Scheitern und Untergang in Verbindung bringen als mit erarbeiteter Abstraktion, Reduktion und Dekonstruktion, welche die gemeinhin gebräuchlichen Stichworte im ästhetischen Kontext abgeben. Den Aspekt der Unwillkürlichkeit, der die willensgeleitete Machbarkeit und Aktion zumindest auf seiner Kehrseite trägt, macht Bexte vorerst nicht zum Thema. Dafür versucht er den Konnex zwischen den genannten Formen des Zerfalls und dem Problem der Synthesis geschichtlich zu plausibilisieren. Im Rahmen einer Anmerkung beruft er Samuel Beckett zum „Kronzeugen“, der „an entscheidender Stelle“ eine Wendung aus dem Philliper-Brief von Paulus aufgreift: cupio dissolvi – ich begehre, mich aufzulösen. Was an entscheidender Stelle damit entschieden wird, führt Bexte allerdings nicht aus. Zwar legt der gegebene Kontext nahe, dass die referierte Verknüpfung zwischen dem irischen Autor und dem Apostel nicht nur werkimmanente Bedeutung hat, Präzisierungen und Belege folgen jenseits der genannten, sehr generellen Relevanz für die „Künste des 20. Jahrhunderts“ allerdings nicht. Stattdessen verfolgt Bexte den Ausdruck weiter in den griechischen Urtext. Darin tritt zu Tage, dass das lateinische dissolvi auf den griechischen Analyse-Begriff zurückgeht, der durch Paulus
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eine neue, christliche Prägung erhält. Die Analyse paulinischer Prägung leite „nicht mehr auf letzte Elemente, sondern in einen gewollten regressus ad infinitum“ (27). Aus dem zielgerichteten Wunsch sich aufzulösen, mache Paulus also eine fortlaufend um sich selbst kreisende Bewegung. Der Analyse-Begriff, wie ihn Bexte bei Paulus und Beckett findet, unterscheidet sich von demjenigen, den er zuvor nach einer geometrischen und einer anatomischen Linie ausdifferenzierte. Im ersten Fall richtet sich die Analyse nach der Natur ihres Gegenstandes, der abstrakt oder konkret bzw. organisch oder anorganisch verfasst ist. Im zweiten Fall orientiert sich die Analyse an der Ausrichtung ihres eigenen Verfahrens, das linear oder zirkulär verfährt. Vor diesem Hintergrund erweckt der Ansatz, den Wunsch nach Auflösung als endlosen Regress zu interpretieren, den Eindruck, widersprüchlich zu sein: Mit der Auflösung ist ein klares Endziel benannt, das einen linearen Bezug nahelegt, wohingegen ein endloser Regress sich gerade dadurch auszeichnet, keinen Abschluss zu finden. Wie also ist der Zusammenhang von endlosem Regress und dem Wunsch nach Auflösung zu verstehen? Beide Aspekte leitet Bexte aus dem Ausdruck cupio dissolvi ab. Der Wunsch, zu vergehen, geht direkt aus der Übersetzung hervor, der endlose Regress bleibt in seinem Zusammenhang zunächst noch lose, auch wenn Bexte als weiteres Stichwort die Mystik hinzufügt, die sich dem paulinischen Regress später angenommen habe. Die Ableitung des regressus ad infinitum erschließt sich erst mit einer Lektüre der betreffenden Stelle im Brief an die Philliper etwas genauer (1,19–26): Der Wunsch, in der Hoffnung auf Auferstehung aus diesem Leben zu scheiden, sieht sich dort mit dem zweiten Wunsch konfrontiert, als Apostel weiterwirken zu können. Beide Wünsche gehen von ein und demselben Subjekt aus, schließen sich jedoch in ihren Zielsetzungen gegenseitig aus. Die einzige Lösung scheint in einer Entscheidung für einen der beiden Wünsche zu liegen, entweder Tod und Auferstehung oder die Fortsetzung des Apostellebens. Paulus berichtet jedoch von einem anderen Verhalten. Er spricht sich für ein Abwarten aus. Eine eigene Entscheidung, die der Erfüllung eines Wunsches entgegenwirken könnte, wird weder getroffen und vollzogen noch in ihren Möglichkeiten ausgeblendet und vergessen. Die Möglichkeiten werden offen gehalten. Diese Offenheit ist eine potentiell unendliche, insofern ihre Schließung nicht im Bereich der eigenen Aufgaben und Möglichkeiten, sondern von Paulus in der Verantwortung einer höheren Instanz, bei Gott, gesehen wird. In diesem Warten drückt sich folglich keine beliebige, sondern eine bestimmte Passivität aus und von einem gewollten regressus ad infinitum ist schließlich auch bei Bexte die Rede.6
6 | Die Verschränkung von aktiv und passiv, die ein ergebnisoffenes Abwarten ausmacht, könnte, ohne dass Bexte an dieser Stelle darauf eingeht, auch ein Muster für die Unwillkürlichkeit
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Ausgehend von Paulus kann zur Frage nach der Konjunktion und ergänzt werden, dass entsprechend zu Entscheidungssituationen, die von der Konjunktion entwederoder koordiniert werden, deren Aufschub sich vom und getragen sehen kann. Dieser Aufschub muss nicht mit Verdrängung und Vergessen in eins fallen, was nicht zuletzt ein Verdienst des Ausdrucks wäre, den das und ermöglicht und hervorbringt. Eine Entscheidung wird demnach weniger im Hinblick auf ihren Vollzug, als vielmehr auf ihre Möglichkeiten vor Augen geführt, und möglicherweise noch um solche erweitert. Ob sich dieses Geschehen als eine Handlungserweiterung, eine Handlungsentlastung oder eine Hemmung entfalten wird, bleibt seinerseits offen und unentschieden.7 Damit ist die Frage aufgeworfen, welche Rolle die Konjunktion und innerhalb der Verfahrensweisen von Analyse und Synthese spielt. Bexte geht dafür nochmals von der Figur des Zerfalls aus. Er merkt an, dass Zerfall auch dann noch Gegenstand von Analysen sein kann, wenn er sich „bodenlos“ auswirkt. Das Prädikat des Bodenlosen bedeutet dann den ersten Analyseschritt. Allerdings sind es nicht die Bedingungen, die erfüllt sein müssen, um einen rückhaltlosen Zerfall analytisch weiter auszuwerten, die Bexte interessieren. Sein Blick gilt vielmehr der Verschiebung, die die Zerfallsfigur der Analyse einzutragen vermag: Demzufolge sind es weniger „elementare ‚Bausteine‘“, die von der Analyse zu Tage gefördert werden, als dass ein „Verbinden als solches“ in den Fokus rückt. Unmittelbar schließt Bexte von dieser Verschiebung in der analytischen Aufmerksamkeit auf einen Bedeutungszuwachs, wenn nicht ein allererstes Bedeutsam-Werden der „Kopula“ als demjenigen Glied, das Subjekt und Prädikat zu einer Aussage verbindet (alle 27). Allerdings kommt Bexte weder über die Formel von Subjekt und Prädikat noch über die Abgrenzung von anderen Konjunktionen auf die spezifische Konjunktion und, sondern über eine weitere Problematisierung. Diese steht nicht mehr unter dem Vorzeichen des Zerfalls, sondern der Komplexität: Im Hinblick darauf, von einem bloßen Wort zu einem Begriff werden zu können, sei das und „völlig untauglich“ (27). In der Konsequenz habe es die Konjunktion in einer Begriffsdisziplin wie der Philosophie nicht gerade leicht. Ungeachtet der Tatsache, dass diese Herleitung auf alle Konjunktionen, nicht allein das und zutrifft, erklärt Bexte letztere zu seinem Thema. Umgehend bindet er
im Zerfallsbegriff abgeben, insofern sich dieser auf ein „ästhetisches Programm“ bezogen sieht. Denn ohne Weiteres werden Zerfall, als Geschehen an etwas, und Ästhetik, als Umgang mit etwas, nicht zusammenkommen. 7 | Diesem nicht unspezifischen Ausharren in der Schwebe von Möglichkeiten hat Joseph Vogl eine kleine Studie gewidmet, die an mehreren Stellen an die Rolle von Konjunktionen rührt, ohne jedoch eine eigene Frage daraus zu machen. Vgl. ders.: Über das Zaudern, Zürich/Berlin 2008, S. 14, 68, 76.
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sie in die zurückliegenden Überlegungen zur Synthesis ein: Die Minimalbedingung, dass für eine Synthese mindestens zwei Elemente vorliegen müssen, gelte demnach in gleicher Weise für die Konjunktion. Bexte sieht diese Voraussetzung weiter dadurch bekräftigt, als es kaum einen Sinn ergeben könne, ein und dasselbe Element mit sich selbst zu synthetisieren. Den Zusammenhang zwischen Konjunktion und Synthese fasst er schließlich formelhaft wie folgt zusammen: „keine Synthese ohne ein Und.“ (27) Dieser Zusammenhang lässt nicht viel Raum für Ausnahmen. Ihm zufolge muss die Konjunktion immer schon und weiterhin Bestandteil des Verfahrens der Synthese sein. Offensichtlich geht es Bexte dabei um die Konjunktion als Paradigma und nicht darum, dass sie konkret, also syntagmatisch, in jeder Form von Synthese auftritt. Paradigmatisch steht das und dafür ein, dass Zusammenhänge nicht einfach gegeben, sondern an Mittel gebunden sind. Bevor Peter Bexte dazu übergeht, die Vermittlerrolle des und näher in den Kontexten von Kunst und Philosophie zu beleuchten, ist zwei Zwischenbemerkungen Raum zu geben. Erstens kann die Voraussetzung, dass zwei oder mehr Relata für eine Konjunktion vorhanden sein müssen, mit gleicher Plausibilität auch als eine Konsequenz der Konjunktion betrachtet werden: Das zweite Relatum – und jedes beliebig weitere – folgt dann aus dem Grund, dass es durch die Konjunktion auf den Weg gebracht wurde. Demnach müssen die verbundenen Elemente keineswegs von vornherein in ihrer Gesamtheit gegeben sein. Bereits das zweite Glied hat solange Zeit zu erscheinen, bis der Auftritt des ersten Gliedes und des Verbindungselementes selbst vorüber ist. Eine Konjunktion – und mit ihr eine Synthese – kann sich demzufolge auch erst mit der Zeit ergeben. Die Bedingung, dass mindestens zwei Elemente für die Bildung einer Konjunktion gegeben sein müssen, geht dagegen von einem Zeitpunkt aus, zu dem die Konjunktion schon gebildet ist oder gebildet worden sein kann. Das Verfahren der Konjunktion zeigt sich demgegenüber jedoch als offener: Für seinen Ausgangspunkt kann vorerst irgendein Element genügen, an dem es sich festmacht. Von diesem Minimum ausgehend wird die Konjunktion dann zur Forderung auf eine Fortsetzung, die ein zweites Element nötig macht. So sehr die Konjunktion von jenem Folgeglied abhängt, so sehr hängt auch dieses von der Konjunktion ab. Zweitens lässt sich an der Bedingung zweifeln, dass sich die Relata einer Konjunktion voneinander unterscheiden müssen. Bexte spricht in diesem Zusammenhang genau genommen nur von der Synthese: „Es wäre völlig sinnlos, ein einziges Element mit sich selbst synthetisieren zu wollen.“ Das Beispiel, mit dem er dies veranschaulicht, greift allerdings – keine Synthese ohne ein und – auf die Konjunktion zurück: „eins und eins“ (beide 27). Auch wenn Bexte dabei nichts anderes als mit der zuvor
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verwendeten Formulierung „das Eine und das Andere“ intendiert, macht die Konjunktion von „eins und eins“ gerade davon Gebrauch, was er auszuschließen behauptet. Zumindest auf formaler Ebene führt die Konjunktion hier vor Augen, dass sie sich sehr wohl auf ein und dasselbe Element zu beziehen vermag.8 Im folgenden Abschnitt seines Textes widmet sich Peter Bexte dem und im Kontext der Künste.9 Seine Ausführungen orientieren sich vor allem an einem einzelnen Beispiel, dem Undbild von Kurt Schwitters, einer Materialcollage aus dem Jahre 1919. Bexte nähert sich dem Bild über den werkimmanenten Kontext. Demnach fällt das Undbild in die ersten Jahre jener Bilder und Gebilde, die Schwitters ab 1918/19 unter dem Fragmentbegriff MERZ subsumierte. Das zugehörige Verfahren zeichnete sich durch seine Offenheit aus: Kein Material, kein Fundstück war prinzipiell ausgeschlossen. Noch vor der Komposition könnte die Konjunktion ein gesondertes Thema dieser künstlerischen Arbeitsweise darstellen. So kann Bexte belegen, dass die Frage „Wie gestaltet man ‚und‘?“ auf Schwitters einen besonderen Reiz ausübte (28). Die Konjunktion scheint dem Prozess der Bildentstehung näher zu stehen als irgendeinem bestimmten Ausdruck und irgendeiner festen Bedeutung: „Die Konjunktion verbindet allenfalls Expressionen, allein genommen aber steht die bloße Kopula für gar nichts – es sei denn, für ein Verbinden als solches, ohne dass deren Modalität schon geklärt wäre.“ (28) Das gängige analytische Verfahren, den Untersuchungsgegenstand möglichst isoliert zu betrachten, greift im Falle der Konjunktion offenbar ins Leere. Eine gewisse Abhilfe schafft es, via negationis vorzugehen und das und darüber zu charakterisieren,
8 | Jenseits der formalen Ebene führen Fälle dieser Art auf die Frage von Identität und Differenz. In einem Aufsatz von 1957 stellt Martin Heidegger das vermeintliche Gegensatzpaar in ein Licht der Zusammengehörigkeit. Ohne eigens auf das und zwischen beiden Größen einzugehen, liefert er eine ganze Reihe impliziter Anstöße, die Konjunktion anders zu denken, als dass sie bloß hinzutritt und dazwischensteht: „Seit der Epoche des spekulativen Idealismus bleibt es dem Denken untersagt, die Einheit der Identität als das bloße Einerlei vorzustellen und von der in der Einheit waltenden Vermittlung abzusehen.“ (Ders.: Identität und Differenz, Stuttgart 2008, S. 12) Diesen Hinweisen wird noch genauer zu folgen sein. 9 | Bexte spricht dieselben beständig im Plural an. Nachdem er Sprach-, Klang- und Bildzerfall getrennt aufführte, ist zu vermuten, dass der Plural der Künste einem weit gefassten Bezug geschuldet ist, der sämtliche Sparten der Kultur umfassen soll. Ob die Kunst in ihrer seit gut zweihundert Jahren erprobten Form des Singulars am Ende in den Möglichkeiten ihrer Bezüge nicht doch weiterreicht, sei dahingestellt. Zu dieser Frage vgl. Rainer Metzger: Buchstäblichkeit – Bild und Kunst in der Moderne, Köln 2004, S. 165ff.
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was es für sich betrachtet nicht tut und nicht vermag. Demnach weise es keinen eigenen Gehalt auf – weder dem Inhalt noch dem Ausdruck nach. Als einzige Ausnahme könne die Erhebung zum Paradigma gelten, von der Bexte zuvor bereits Gebrauch machte. Allerdings räumt er nun ein, dass jene Option Grund zu neuen Fragen gibt: Das „Verbinden als solches“ kann sich zwar von allen Relata losgelöst sehen, nicht jedoch von der Frage, wie Verbindung in dieser Form stattfinden und zu denken sein könnte. Vorerst nimmt sich Bexte jedoch der Interpretation des Undbildes an. Sogleich erblickt er in der Collage eine „visuelle Entfaltung weitgehender Reflexionen zu der besagten Konjunktion“ (28). Im Hintergrund dieser Aussage steht eine Recherche, in der Bexte alle bildlichen wie textlichen Werke zusammentrug, die eine Auseinandersetzung Schwitters mit der Konjunktion dokumentieren. Daraus geht hervor, dass das Thema für den Künstler schwerer wog, als dass es sich mit einem Mal hätte abarbeiten lassen: Neben einem kurzen Prosatext finden sich insgesamt drei Bilder zur Konjunktion. Das von Bexte ausgewählte Exponat bildet das früheste in dieser Reihe.10 Mit zwei Vermutungen wendet sich Bexte an das Bild von 1919: Erstens könnte die Auseinandersetzung mit der Konjunktion aus der Arbeit mit dem damals neuen künstlerischen Materialfundus der Alltagsgegenstände resultieren. Das und wäre dann ein textuelles Pendant zum Prozess der Bildfindung, insofern beide zwischen unzähligen Möglichkeiten und nötigen Entscheidungen stehen. Zweitens liegt es mit den Geschehnissen des 1. Weltkrieges nahe, Bild und Bildthema vor einem zeitgeschichtlichen Hintergrund zu sehen. Bexte zitiert Franz Werfel, nach dessen Schilderungen „das ‚und‘ zwischen den Dingen [...] rebellisch geworden“ war, so dass sich diese nicht mehr ohne Weiteres in eine propositionale Ordnung überführen ließen. Nicht nur unverbunden, sondern „unverbindbar“ lägen sie durcheinander (28). Die dadaistische Bildwelt wäre demnach, so Bexte, der Versuch einer Entgegnung, die sich weder den Vorwurf der Restauration noch der Humorlosigkeit gefallen lassen wollte. Dieser schrittweisen Annäherung folgt eine Bildbetrachtung im engeren Sinne: Bexte hebt die Detailfülle hervor, die das handliche Format berge, und beschreibt jene Elemente, die besonders hervortreten und die Bildfläche farblich wie graphisch organisieren. War der Fund der Bildinhalte weitgehend dem Zufall überlassen, verdient
10 | Hinsichtlich der „weitgehenden Reflexionen“, die Bexte im Bild ausmacht, kann die Tatsache, dass der Künstler das Thema im Anschluss weiterbearbeitete, allerdings gerade auch umgekehrt ausgelegt werden: Nach der Aussage Bextes wären besagte Reflexionen bereits im ersten Bild enthalten; sie könnten aber auch erst mit der Zeit und im Verlauf des weiteren Arbeitsprozesses entstanden sein. Weshalb nahm sich der Künstler dem Thema sonst weiter an?
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der folgende Umgang mit ihnen für Bexte das Prädikat des Konstruktiven. Entsprechend abgewogen steht, quasi auf der Stirn des Bildes, ein loses und in gedruckten Lettern. Die Konjunktion gibt der Collage also nicht nur den Titel und mit ihm eine Formel ihrer Genese, sondern gleichzeitig auch einen prägenden formalen und materialen Bestandteil. In dieser doppelten Funktion zeichnet sich für Bexte ein „Übergang von einer bloßen additiven Logik des Und“ zu einer „weitergehenden ästhetischen Synthesis“ ab (30). In welchem Sinne geht diese Synthesis über ein ausschließlich additives Verfahren hinaus? Bexte antwortet mit einem Schwitters-Zitat: Analog zu chemischen Synthesen sei ein Kunstwerk „wie jede Einheit nicht Summe, sondern Zustand“ (30). Daraus erwüchsen seinen einzelnen Bestandteilen mitunter ganz neue Eigenschaften. Die beide Begriffe von Einheit und Zustand gelten Schwitters augenscheinlich als beziehungsreiche Größen – innerhalb des Bildes wie hinsichtlich seiner Wirkung. Mit anderen Worten zeichne sich ein Kunstwerk durch synergetische Effekte aus, die dafür sorgen, dass stets mehr gegeben ist als eine Summe von Einzelteilen. Damit wird im Bezug auf Schwitters’ Merzkunst die von Bexte vorangestellte These fragwürdig, die die Künste des 20. Jahrhunderts unter das Vorzeichen des Zerfalls stellte. Bexte bemerkt diese Diskrepanz, bezieht sie allerdings nicht auf den Gang seiner Argumentation, sondern auf „postmoderne Erwartungen“ (31). An diesen sei es nun, im vorliegenden Fall eine Ausnahme gelten lassen zu müssen. Dennoch merkt Bexte zur Verteidigung der Zerfallsthese an, dass sich Schwitters‘ Merzbau (ab 1920) „in endlosen Wucherungen verlor“ und die konstruktiven Begriffe von Einheit und Zustand in diesem Bezug kaum mehr zutreffen könnten. Dass der Ausschluss der konstruktiven Termini im Umkehrschluss Zerfall bedeute, lässt Bexte ohne Nachfrage gelten. Im selben Zug kommt er auf die Frage nach der Konjunktion zurück. Das und scheint für Wucherungen und Synthesen gleichermaßen offen zu sein: „Als bildliches Element tritt das Wort ‚und‘ aus der linearen Ordnung der Schrift heraus und streut die Anschlusselemente im Raum. Es erscheint als Hybrid aus Konstruktion und Zerfall zugleich.“ (31) Die werkimmanenten Spannungen bei Schwitters, bei denen sich gerahmte Materialcollagen und die nicht rahmenlose, aber doch rahmen-relativierende Installation des Merzbaus gegenüberstehen, korrespondieren für Bexte mit Spannungen innerhalb der Konjunktion: Während das und auf der einen Seite im Dienst der Synthesis stehe, könne es andererseits, etwa im Kontext der Kunst, Funktionen entfalten, die offensichtlich über geschlossene Synthesen hinausreichen. Bexte beschreibt diesen Vorgang als eine richtungsoffene Aussendung der Relata, die von der Konjunktion bewirkt werde. Die vorangehende Aussage, dass keine Synthese ohne ein und erfolge, ist demnach nicht umkehrbar: Nicht jedes und muss einer Synthese zuarbeiten. Ob diese Ungebun-
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denheit der Konjunktion jedoch sogleich in Formen von Zerfall mündet, ist – auch wenn Bexte wiederholt darauf zurückkommt – noch nicht hinreichend begründet. Die Einführung der nicht-synthetisierenden Konjunktion wirft zwei weitere Fragen auf: Die eine betrifft die mediale Verfasstheit der Konjunktion, die andere ihre Wirkung. Wenn Bexte das nicht-synthetisierende und als „bildliches Element“ ausweist und es näher dadurch charakterisiert, dass es seine Relata „im Raum“ verteile, bezieht er sich offenbar auf die konkret gedruckt vorliegende Konjunktion im Undbild und die paradigmatisch implizite Konjunktion im Merzbau. Während die Rezeption eines Text das festgelegte Nacheinander der Worte zur Grundlage hat, gibt es im Bild wie in der Installation unzählige gleichberechtigte Möglichkeiten für die Betrachtung, sich ihren Weg zu bahnen. Wenn ein Element aus dem textlichen Gefüge in ein bildliches übersiedelt, liegt es von daher in der Natur der Medien, dass sich sämtliche Folgeglieder nicht mehr nur vor und hinter ihm, sondern auch in allen anderen Richtungen von Fläche und Bildraum befinden können. Die Wirkung, die Bexte dem und als Bildelement zuschreibt, nämlich dass es aus der Linearität heraustritt und seine Bezugspunkte nunmehr räumlich verteilt, kann demzufolge dann allerdings für jedes Wort gelten, das sich dergestalt in ein Bild versetzt sieht. Bexte kommt nochmals auf das Undbild zurück. Gesondert weist er auf einen Zettel mit dem Aufdruck „E. Sökeland & Söhne“ hin, der dem Bild ein zweites appliziertes und schenkt. Am Beispiel dieses „Kaufmanns-Und“ präzisiert Bexte nun, was er unter der „Brüchigkeit“ der Konjunktion versteht (31): Dem einen schlichten „&“ lässt sich eine ganze Reihe von Verbindungsweisen zuordnen, die neben einer formal-logischen Vereinigung etwa eine Verwandt- und Nachkommenschaft, ein Geschäftsmodell, eine Rangordnung, psychologische Verstrickungen und wohl noch manches Andere zu Tage bringen kann. Die Brüchigkeit des und, von der Bexte spricht, hängt also mit seiner strukturellen und modalen Offenheit zusammen, die den Fall einschließt, sich nicht mehr schließen zu lassen. Was würde diesen Möglichkeiten zufolge jedoch zu Bruch gehen? Für Bexte scheint das Problem der Brüchigkeit weniger in der resultierenden Vielfalt zu liegen, wie sie die Konjunktion eröffnet, als vielmehr in der Wirkweise des und selbst: „Es verbindet zwei Seiten [...], zugleich aber differenziert es die Voraussetzungen.“ (31) Diese Aussage greift – wie zuvor schon die Diagnose des Hybriden – auf das Adverb zugleich zurück, um zwei widersprüchliche Aspekte zusammenzuführen: Verbindung und Trennung. Beide stellen Formen von Relation dar, auch wenn sich die jeweiligen Arten der Relationierung genau entgegenstehen. Daneben fällt auf, dass Bexte die beiden Relationsfiguren von Trennen und Verbinden auf unterschiedliche
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Bezugspunkte ansetzt: Das verbindende Moment gilt den beiden Anschlussstellen der Konjunktion im Text, den Worten davor und dahinter; das trennende Moment richtet sich dagegen an deren Voraussetzungen. Damit verortet Bexte die separierende Funktion des und nicht allein im konkreten Spatium zwischen den Relata, sondern auch in einem übergeordneten Sinne im umliegenden Relevanzbereich der Elemente, die in einer Konjunktion zusammenkommen. Demnach schwingen im Kontext des und neben den explizit genannten Relata stets auch anderweitige Aspekte mit. Die verschiedenen Momente des Verbindens und Differenzierens bündelt Bexte im Stichwort der „disjunktiven Konjunktion“ (31). Diesen Terminus entnimmt er der Grammatik und gesondert weist er auf seine frühe Verwendung durch Priscian (um 500 n. Chr.) hin. Bis heute, so merkt Bexte weiter an, werde der Ausdruck jedoch fast ausschließlich auf das oder bezogen. Die Übertragung auf das und finde sich erst in der jüngeren Vergangenheit bei Gilles Deleuze und Jean-Luc Nancy. Neben dem bloßen Hinweis auf die Namen der genannten Autoren macht Bexte an dieser Stelle jedoch keinerlei weitere Angaben.11 Ein letzter Aspekt unter dem Vorzeichen von Kunst und Konjunktion: Sich dem „bildlichen Element“ der Konjunktion anzunähern, ist auch im und mittels Bild möglich, im textuellen Sinne metaphorisch. Diese Richtung schlägt Bexte ein, wenn er
11 | Unter dem Stichwort „diskonjunktiver Interventionen“ findet sich bei Michael Mayer neben einer ganzen Liste an Referenzen auch ein Vermerk zu deren Absicht und Potential: „Ihre hermeneutischen, erkenntniskritischen, ontologischen, endlich auch pädagogischen Effekte referieren dabei auf offenkundig prototypische Annoncen in Begriffen wie ‚Konstellation‘ (Adorno) und ‚Konfiguration‘ (Benjamin), ‚Zusammengehörigkeit‘ und ‚Gegen-einander-über‘ ( Heidegger), auf die ‚Verkettung‘ (Lyotard), auf die ‚disjunktive, einschließende oder inklusive Synthese‘ (Deleuze/Guattari), verweisen auf eine verborgene Tradition philosophischer Dissidenz, die durch die Assoziation unnatürlicher Verbindungen in eine völlig neue Praxis des Denkens initiierte. Es ist die Praxis eines und, eines analytisch synthetisch operierenden und, das distanziert, was es verknüpft“. ( Ders.: Tarkowskijs Gehirn – Über das Kino als Ort der Konversion, Bielefeld 2012, S. 11f ) Für nähere Angaben zu den genannten Autoren vergleiche die gesetzten Fußnoten ebendort. In einer Reihe verwandter Ausdrücke verweist Mayer bezüglich der „einschließenden Disjunktion“ – der „disjunktiven Konjunktion“, von der Bexte spricht, am nächsten – auf Deleuzes Aufsatz Erschöpft (in: Samuel Beckett: Quadrat – Stücke für das Fernsehen, übers. v. Erika Tophoven, Frankfurt a.M. 1996, S. 55). Was eine sprachwissenschaftliche Betrachtung des Zusammenhangs zwischen und und Disjunktivität anbelangt, vgl. Roland Harweg: Austauschbare und- und oder-Koordinationen oder Der Zusammenfall von Kopulativität und Disjunktivität, in: Ders.: Studien zu Konjunktionen und Präpositionen, Aachen 2010, S. 299ff.
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die Konjunktion als Chamäleon bezeichnet. Unscheinbarkeit und Anpassungsfähigkeit sind die Eigenschaften, die er der Konjunktion damit zuspricht. Was das und schließlich zum Ausdruck bringt, hänge im strengen Sinne von seinem Umfeld ab. Abermals greift Bexte auf antiken Wortschatz zurück, wenn er diesbezüglich auf den Begriff des Synkategorems verweist. Unter diese Bezeichnung fallen all jene sprachlichen Elemente, die für sich alleine genommen zu unbestimmt sind, als dass von einer ihnen eigenen Bedeutung die Rede sein könnte. Dadurch allerdings, dass diese Eigenschaft benennbar ist, wird es möglich, in ihren Bereich weiter vorzudringen. Zum einen könne jener Bereich als das angesehen werden, was die Grammatik Syntax nennt und worunter sämtliche Fragen des Satzbaus fallen; zum anderen spricht Bexte jedoch auch davon, dass die Konjunktionen in der Folge „bedeutsam und problematisch zugleich“ würden (32). Bexte belässt es vorerst bei diesem knappen Hinweis, in dem die zuvor behandelten Ambivalenzen nochmals nachhallen: Der Reihe nach sind es die Ambivalenzen von Nicht-Expressivität und Modalität, Piktoralität und Textualität sowie zuletzt Konnektivität und Differenzialität. Wie die Ausführungen zum Verhältnis von Kunst und Konjunktion stützt Bexte die Untersuchung im Rahmen der Philosophie auf das Beispiel, in diesem Fall deren zwei: Franz Rosenzweigs Stern der Erlösung aus dem Jahr 1919 und Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Tausend Plateaus von 1980, die in deutscher Übersetzung 1992 erschienen. Peter Bexte nimmt sich den beiden Werken nacheinander und in chronologischer Reihenfolge an. Wie das Undbild steht auch Rosenzweigs Stern der Erlösung im Schatten des 1. Weltkrieges. Aus einer „Erschütterung des geschichtlichen Bewusstseins“ sei das Buch geboren, so umreißt es Bexte bündig (32). Im Rahmen einer kurzen Rekapitulation der wissenschaftsbiographischen Stationen Rosenzweigs weist er dem Stern der Erlösung darüber hinaus die Rolle des Hauptwerkes im Œvre des jüdischen Philosophen zu. Jedoch muss Bexte relativierend einräumen, dass sich eine Auseinandersetzung mit der Konjunktion darin lediglich abzeichnet. Explizit wendet sich Rosenzweig dem und erst in einem Nachtrag zu: Als „Grundwort aller Erfahrung“ fällt die Bedeutung, die die Konjunktion dann erhält, jedoch nicht zu gering aus. „Gott und die Welt und der Mensch. Dieses Und war das erste der Erfahrung; so muss es auch im Letzten der Wahrheit wiederkehren. Noch in der Wahrheit selber, der letzten, die nur eine sein kann, muss ein Und stecken [...].“ (Franz Rosenzweig, 33) Rosenzweig geht von der Beziehung zweier Extrema aus: Der Anfang aller Erfahrung müsse mit dem Finale der Wahrheit korrespondieren. Die zugehörige Brücke bildet die Konjunktion und, allerdings nicht dadurch, dass sie zwischen beiden Polen steht,
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sondern dadurch, dass sie in den Polen selbst ihren Ort hat: Im Bezug auf die Erfahrung sei die Konjunktion selbst das Erste, hinsichtlich der Wahrheit, befinde sich die Konjunktion in ihr. In der Vermittlerrolle der Konjunktion setzt Rosenzweig auf Kontinuität: Als Erstes muss sie „auch“ im Letzten vorhanden sein. Der Kontinuität stehen dafür grundsätzlich zwei Möglichkeiten offen: Die Konjunktion könnte während der ganzen Zwischenzeit von grundlegender Relevanz sein, sie könnte dergestalt aber auch lediglich zu Beginn und am Ende auftreten. Der erste Fall drückt sich in einem noch aus, der zweite in einem wieder. Rosenzweig greift in seinen Aussagen auf beide zurück: Das und muss „auch im Letzten der Wahrheit wiederkehren“ und „noch in der Wahrheit selber, der letzten, [...] stecken“ (33, eigene Hervorhebungen). Für Bexte läuft die Kontinuität, die Rosenzweig für die Konjunktion vorsieht, auf eine Omnipräsenz des und hinaus: „Es muss in aller Erfahrung stecken.“ (33) Entsprechend nennt er die Bedeutung der Konjunktion bei Rosenzweig „kategorisch“. Nachdem die genannten Sätze vom Ersten und Letzten, von wieder und noch sprechen, scheint diese Deutung plausibel. Ein Problem sieht Bexte jedoch in Rosenzweigs Absicht, anhand des und eine „religionsphilosophische Wendung“ herbeiführen zu wollen (33). In der dreiteiligen Konjunktion „Gott und die Welt und der Mensch“, wie sie das obige Zitat eröffnet, sieht er ein altes Problem der Mystik wiederkehren: Jedes und, das auf Gott als erste Instanz folgt, lässt diesen als unvollkommen erscheinen, insofern sich nunmehr etwas neben ihm befinde. Als Vergleich zieht Bexte den mathematischen Formalismus der Unendlichkeit heran: „Unendlich plus eins ist wiederum unendlich.“ (33) Wie also verhält sich die Konjunktion angesichts einer absoluten Größe? Bexte schlussfolgert angesichts der Größe Gottes, dass es sich bei jedem auf sie folgenden und um keine „bloß äußerliche Hinzufügung“, sondern um eine „interne Differenzierung“ handeln muss, in der „Einheit und Differenz zugleich gedacht sind“ (33). So ließe sich schließlich auch die Paradoxie zwischen dem Einssein der Wahrheit und einem integrierten und verstehen. Demnach spielt sich Differenz im Rahmen umfassender Synthesen ab. Auf diesem Weg spezifiziert sich auch das Verhältnis von Summation und Konjunktion: Während das „+“ darauf festgelegt ist, getrennte Elemente miteinander zu verbinden, kann sich das und auch in Fällen der Verschränkung und Implikation bewegen. In einem kurzen Absatz zieht Bexte Bilanz. Er rekurriert nochmals auf die Verweisstruktur des und, nach der die Konjunktion auf mindestens zwei Größen – „das Eine und das Andere“ – ausgerichtet sei. Die Fälle von Gott, Welt und Mensch, sowie Unendlich und eins scheinen jedoch nicht unter diese Voraussetzung zu fallen. Ungeachtet der zuvor erwogenen Figur interner Differenzierung sieht er bei den exemplarisch genannten Verknüpfungen das Eine und das Andere nicht mehr ausreichend getrennt; die Relata beliefen sich vielmehr auf „dasselbe“ (33). Dann stellt sich die
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Frage, wie sich die Konjunktion verhält, wenn die durch sie verbundenen Größen identisch miteinander sind. Ohne weiteren Differenzierungen Raum zu geben – etwa zwischen einer Identität mit sich und einer Identität mit anderem – legt sich Bexte auf die Sichtweise fest, dass das und stets auf zwei Elemente ausgerichtet sein müsse, die hinreichend unterscheidbar zu sein haben. Im Rekurs auf den theologischen Kontextes bei Rosenzweig rechnet er der Konjunktion vor diesem Hintergrund den „gespaltenen Huf des Teufels“ an: „Näher betrachtet verstört das Wörtchen den Gedanken einer Einheit. Es scheint allemal auf Zweiheit zu rekurrieren. [. . .] Die Konjunktion markiert eine Bruchstelle in eben jenem Fundament, das sie als Grundwort hatte legen sollen.“ (33) Der argumentative Weg Bextes, der von Rosenzweigs und zum Irritationspotential der Konjunktion führt, wirft eine Reihe Fragen auf. Das betrifft zuerst die Parallelisierung von theologischen und mathematischen Begriffen. Das mathematisch Unendliche (∞) stellt keine Zahl dar, sondern – im Bezug auf Zahlen – ein Verhältnis und zwar das Verhältnis zur Menge aller reellen Zahlen (R): ±∞ ist größer bzw. kleiner als jede Zahl aus R. Das Beispiel Bextes, das „unendlich und eins“ mit „Gott und der Welt“ konstelliert, greift deshalb mathematisch ins Leere. Auf der mathematischen Seite könnte dagegen anschaulich werden, dass das und im Gegensatz zu größer/kleiner als im Bezug auf seine Relata keine Gewichtungen vornimmt oder unterstützt. Es ist von horizontaler Natur. Auf dieser Basis können sich auch das Unendliche und die Eins, ein Verhältnis zu allen Zahlen und eine bestimmte Zahl begegnen, allerdings nicht im Sinne einer Addition. Das Problem der Zahlen reicht noch weiter. Eine Wahrheit, die „nur eine sein kann“ und dennoch ein und enthält, kann nicht quantitativ gedacht sein. Bexte geht auf den Wahrheitsbegriff Rosenzweigs nicht ein und fokussiert stattdessen auf das Prädikat der Einheit. Einheit und Konjunktion bilden nach seiner Sicht einen Kontrast und schließen sich aus. Der Fall bei Rosenzweig ist allerdings komplizierter als 1 + x = y mit x > 0 also y > 1. Der Gedanke von Rosenzweig baut auf die Konjunktion von „Gott und Welt und Mensch“. Es liegt mehr als nahe, darin eine Referenz auf das Buch Bereschit, das 1. Buch Mose und den dortigen Schöpfungsbericht zu sehen. Wenn Rosenzweig vor diesem Hintergrund zwischen Gott und Welt und Mensch jedes und betont und dennoch am Prädikat der Einheit festhält, zielt er weniger auf Omnipräsenz im Sinne eines konstanten räumlichen Nebeneinanders, sondern vielmehr auf eine Kontinuität, in der alle Dinge beständig auseinander hervorgehen: Gott schuf die Welt und in ihr den Menschen. In diesem Zusammenhang unterscheiden sich Gott und Welt und Mensch weniger nach der Zahl, als vielmehr nach ihrer Verfasst- und
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Bedingtheit. Als Verschränkung von Verbindung und Separierung ist das und Medium des schöpferischen Prozesses, in dem sich Beziehung als Fundament erweist und gleichzeitig fortlaufend erweitert. Wenn noch die letzte Wahrheit ein und enthält, kann die eine Schöpfung nicht für abgeschlossen gelten.12 Auf die Konjunktion zurückbezogen ist die Voraussetzung, dass mindestens zwei Elemente zur Bildung einer Konjunktion vorliegen müssen, nicht allgemein gültig. Dieser Sachverhalt zeigt sich Bexte entgegen hier nochmals. Das Geschehen einer Konjunktion kann auch an einer einzelnen Größe seinen Anfang nehmen und noch während der Nennung des Verbindungsgliedes nicht um das Folgeelement wissen. Letzteres muss sich wiederum nicht zwingend der Zahl nach vom ersten Relatum unterscheiden. Seine qualitative Beschaffenheit oder seine Bedingtheit können gleichsam als Differenzmomente in der Konjunktion zum Ausdruck kommen. Dagegen implizieren die Ausführungen Bextes einen Standpunkt, von dem aus die Konjunktion bereits abgeschlossen ist, zumindest abgeschlossen sein könnte oder gar abgeschlossen sein müsste. Nur von dort lässt sich die Bedingung generalisieren, die Konjunktion benötige mindestens zwei Bezugspunkte und irritiere genau aus diesem Grund den „Gedanken einer Einheit“. Das zweite Beispiel, das der Konjunktion im Kontext der Philosophie gewidmet ist, entnimmt Bexte den Tausend Plateaus von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Es handelt sich dabei um die zugehörige Einleitung mit Titel Rhizom. Vorab stellt er den Text unter das Vorzeichen einer Radikalisierung: Die Problematik, dass es Formen der Konjunktion gibt, die nicht in einer Synthesis aufgehen, resultiere nun in einer „Logik des Zerfalls“. An dieser Logik sei es, die Ambivalenzen der Konjunktion, „ihr Doppelbödiges aus Verknüpfung und Unterminierung zugleich“ zum Ausdruck zu bringen (beide 33). Jenes Zugleich zeichnet sich folglich nicht durch Ausgeglichenheit aus, sondern durch das Eindringen eines Differenzmomentes. So ergänzt Bexte
12 | Diese Lesart kann sich durch Bernhard Casper bestätigt sehen, den Bexte heranzieht, um zu belegen, dass Rosenzweigs Stern der Erlösung aus einer „Erschütterung des geschichtlichen Bewusstseins“ resultiere (32). Casper hält in derselben Quelle dem kartesischen clare e distincte Rosenzweigs und entgegen, indem er zu letzterem ausführt: „Dem Denken wird dadurch jedes abschließende Zugreifen entwunden. Es kann sich nur in der reinen Geste des aufmerksamen Achtens-auf-das halten, was ihm deutlich wird und zugleich rätselhaft bleibt.“ (Bernhard Casper: Transzendentale Phänomenalität und ereignetes Ereignis. Der Sprung in ein hermeneutisches Denken im Leben und Werk Franz Rosenzweigs, http://www.freidok.unifreiburg.de/volltexte/310/pdf/derstern.pdf, S. 9, 2.6.2014)
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das Motiv des Zerfalls um ein zweites Stichwort, die Dekonstruktion, auch wenn diese nicht Deleuze und Guattari, sondern Jacques Derrida beschäftigte.13 Die nähere Hinführung an den Text macht Bexte am Titelbegriff des Rhizoms fest. Er spricht denselben allerdings nicht als Terminus, sondern als Bild, genauer noch als Vorbild an. Dem „wuchernden Wurzelwerk“, das sich „unstrukturiert verbreiten würde“, versuchten Deleuze/Guattari es gleichzutun (33). Das Ziel und Anliegen dieses Vorgehens, seine „Pointe“, bestehe laut Bexte in zwei konfrontativen Entgegnungen: zum einen „gegen logische Ableitungsverfahren“, zum anderen „gegen den Strukturbegriff des klassischen Strukturalismus“. Jenem Denken, das sich stattdessen am Rhizom orientiere, ordneten Deleuze/Guattari im Gegenzug „viele Eigenschaften“ zu, unter denen eine explizit dem und gelte (alle 34). Bexte zitiert einen Passus, in dem Deleuze/Guattari die Konjunktion als „Zusammenhalt“ der rhizomatischen Ordnung bezeichnen, wohingegen andere Ordnungen gemeinhin auf das Verbum sein zurückgreifen. Im selben Kontext wird der Konjunktion auch das Potential zugesprochen, „das Verb ‚sein‘ zu erschüttern und zu entwurzeln“ (34). Bexte interessiert sich bei dieser Aussage vor allem für die Form, in der Deleuze/Guattari die Konjunktion auftreten lassen: „und. . .und. . .und. . .“. Durch die Homophonie der französischen Vokabeln est (er/sie/es ist) und et (und) entstehe ein „geradezu dadaistisches Wortspiel“, das die ontologische Zentralstellung von sein bereits klanglich relativiere (34). Anstelle einer eindeutigen Setzung nehme eine Reihe von Doppeldeutigkeiten ihren Lauf, die „unendlich weitergehen könnte“. Die Unbestimmtheit des Zwischen wird zum Maß der Dinge: „Der Sinn von Sein besteht demnach darin, eine Kopula zu sein: ‚est/et‘.“ (34) Und wie im Falle Rosenzweigs zieht Bexte zur Veranschaulichung einen mathematischen Formalismus heran, in diesem Fall den Grenzwert n → (n + 1). Alles, was in irgendeiner Form eindeutig bestimmt wird (n), verliert seine eindeutige Gültigkeit, da nunmehr immer noch etwas hinzu-
13 | Derrida selbst spricht dort, wo ihm die Frage der Konjunktion begegnet, nicht von Zerfall, sondern von Assoziation und Wagnis, Analogisierung, Differenzierung und Kontrastierung: „Die Konjunktion ‚and‘ assoziiert Wörter, Begriffe, vielleicht sogar Sachen oder Dinge, die kategorial nicht zusammengehören. Eine solche Konjunktion (‚and‘) wagt es, die Ordnung, die Taxinomie, die klassifizierende Logik herauszufordern, gleichgültig, ob sie eine analogisierende, eine unterscheidende oder eine entgegensetzende Funktion erfüllt.“ ( Ders.: Gesetzeskraft – Der „mystische Grund der Autorität“, übers. v. Alexander García Düttmann, Frankfurt a. M. 1991, S. 7f )
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kommt (n + 1). Dies haben Deleuze/Guattari laut Bexte im Sinn, wenn sie von einer Logik des und sprechen.14 Auf dieser Grundlage stellt Bexte die Positionen von Rosenzweig und Deleuze/ Guattari abschließend einander gegenüber. Während es bei dem jüdischen Philosophen um eine Einheit ginge, die „im Durchgang durch das Und immer wieder sich herstellt“, verfolgten Deleuze/Guattari dagegen die dezidierte Absicht, „jedes Denken von Einheit zu sprengen“ (34). An letzterer Zielvorgabe macht Bexte nun fest, dass die beschriebene Logik des und eine Logik des Zerfalls sei. „Es fragt sich allerdings, ob diese Wendung nicht allzu triumphal daher kam.“ (34) Denn, so hält Bexte entgegen, eine solche Logik laufe Gefahr, sich endlos im Kreis zu drehen, wie er am Paulinischen Diktum des cupio dissolvi bereits gezeigt habe. Es kann nicht erwartet werden, dass Bexte im knappen Umfang seiner Deleuze/ Guattari-Lektüre die Spezifik oder gar den Kontext des dortigen und voll zur Kenntlichkeit bringt. Umso verwunderlicher ist jedoch, dass er dabei Setzungen vornimmt, die zu klären einen unweigerlichen Mehraufwand darstellen: Von Zerfall ist im betreffenden Text an keiner Stelle explizit die Rede. Das Problem, das sich Bexte dadurch einhandelt, ist keines der Ausdrucksweise im Sinne einer gewagten Paraphrase. Problematisch ist vielmehr, dass der Primärtext seinen Auslegungen mitunter direkt widerspricht, ohne dass Bexte davon Kenntnis nimmt. Bexte beschreibt das Rhizom nicht nur als „wuchernd“, sondern spezifiziert dieses Wachstum noch im ersten Satz, den er der Figur widmet, als „unstrukturiert“ (33). Diese Kennzeichnung führt das binäre Analyse-Schema von Struktur und Strukturlosigkeit ein. Nach diesem Schema verfahren Deleuze/Guattari ihm zufolge, als ginge es schlicht darum, dem Strukturierten je etwas Unstrukturiertes entgegenzuhalten. Dagegen heißt es bei Deleuze/Guattari ausdrücklich: „Wir benutzen den Dualismus von Modellen nur, um zu einem Prozess zu gelangen, in dem jedes Modell verworfen wird. [...] Um zu der Zauberformel zu kommen, die wir alle suchen: Pluralismus = Monismus, und dabei durch alle Dualismen hindurchzugehen, die der Feind sind, aber ein unbedingt notwendiger Feind, das Mobiliar, das wir immer wieder verschieben.“ 15 Zwischen Struktur und Strukturlosigkeit steht ein und. Daran, an diesem
14 | Es verwundert, warum Bexte den Prosatext Kurt Schwitters mit Titel „Und“ (1925) an dieser Stelle nicht nennt, nachdem er ihn zuvor nur nominell erwähnt hatte. Derselbe endet wie folgt: „Darum drängten sie sich vor und schrien überlaut, dass alle es hören konnten: ‚UND UND UND‘. Und dann fuhren sie fort.“ (Kurt Schwitters: Und, in: Ders.: Das literarische Werk – Band
2 – Prosa 1918–1930, hrsg. v. Friedhelm Lach, Köln 1998, S. 244) 15 | Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie, übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, Berlin 1992, S. 35.
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Zwischen, nicht an irgendeinem strukturlosen Gegenpol, entzündet sich der Gedanke bei Deleuze/Guattari. Die Analyse von Bexte zieht weitere Kreise: Dabei geht es kaum um Konjunktionen und fast ausschließlich um Oppositionen. Es wird zum höchsten Zweck des und, gegen „logische Ableitungsverfahren“ und den „Strukturalismus“ anzugehen (34). Die Sache von Deleuze/Guattari ist komplizierter: „Es genügt aber nicht zu rufen Es lebe das Mannigfaltige!, so schwer dieser Ausruf auch fallen mag. [...] Das Mannigfaltige muss gemacht werden, aber nicht dadurch, dass man immer wieder eine höhere Dimension hinzufügt, sondern vielmehr schlicht und einfach in allen Dimensionen, über die man verfügt, immer n − 1 (das Eine ist nur dann ein Teil des Mannigfaltigen, wenn es davon abgezogen wird).“ 16 Bexte blendet sämtliche Ausdifferenzierungen dieses Gedankens aus und stellt stattdessen eine Liste von Gegenpositionen in den Vordergrund. Diese geben bei Deleuze/Guattari keine „Pointe“ ab, wie Bexte meint, sondern zeigen Symptome an. Die verschiedenen Konjunktions- und Syntheseformate, die Deleuze/Guattari davon ausgehend anhand der Begriffe von Einheit und Mannigfaltigkeit diskutieren, bleiben bei Bexte schließlich ganz außen vor. Zwei gröbere Missverständnisse sind die Folge: Erstens rehabilitiert Bexte den Seins-Begriff, noch bevor er zum Problem geworden ist: „Der Sinn von Sein besteht demnach darin eine Kopula zu sein: ‚est/et‘.“ (34) Diese Aussage entbehrt jeder Stütze durch den Primärtext. Bexte führt sie jenseits des erwähnten Gleichklangs von est und et auf keinerlei Quelle zurück und würde auch nicht fündig werden. Zum anderen entbehrt sein Satz schon in sich selbst der Konsistenz, insofern Aussage und Zeichensetzung nicht ineinander aufgehen: Stellt der ausformulierte erste Teil die Identität „est = et“ in Aussicht, zieht sich die Interpunktion der anschließenden Formel auf die Vagheit eines Schrägstrichs bzw. Geteiltzeichens zurück. Zweitens übergeht Bexte den mehrfach von Deleuze/Guattari thematisierten Formalismus von n − 1, um seinerseits „n becomes (n + 1)“ ins Feld zu führen (34).17 Gemäß seiner Formel sieht Bexte, wie sich das Unstrukturierte bei Deleuze/Guattari ins Unendliche auswächst: Wie bei Schwitters der Merzbau besitzt bei Deleuze/ Guattari die „Zeichenreihe“ kein Ende mehr – und zwar „prinzipiell“ (34). Diese Annahme mag mit allgemeinen Vorstellungen von Postmoderne konvergieren, mit
16 | Ebenda, S. 16. 17 | Ausgeschrieben lautet der Formalismus, auf den Bexte sich bezieht, wie folgt: limi→∞ ni = (n+1) Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine Funktion, die gegen unendlich strebt, sondern stattdessen um die Angabe eines Grenzwertes. Eine unendliche Reihe, wie Bexte sie wohl im Sinn hat, bedarf eines Summationszeichens: ∑∞ i=0 ai
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dem Text des Rhizoms tritt sie in eine spezifische und explizite Divergenz: „Es [das Rhizom] ist kein Mannigfaltiges, [...] dem man die Eins hinzuaddieren kann (n + 1). [...] Es bildet lineare Mannigfaltigkeiten mit n Dimensionen, [...] von denen das Eine immer abgezogen wird (n − 1).“ 18 Bextes Grenzwert n → (n + 1) baut auf Serialität und Rekursivität: n steht für etwas, dem immer noch irgendetwas folgt. Dagegen zielen Deleuze/Guattari mit n − 1 auf Singularität und Transversalität: n steht für eine „Dimension“, die etwas Spezifisches aus ihrer „Mitte“ freigeben kann. Wo Bexte eine prinzipielle Quantifizierung vorstellt, arbeiten Deleuze/Guattari eine potentielle Qualifizierung aus. Die Logik des und, wie Deleuze/Guattari sie im Text des Rhizoms projektieren, als eine Logik des Zerfalls zu interpretieren, wird ohne die genannten oder ähnliche Ausblendungen und Missverständnisse nicht gelingen. Bexte kommt zu seinem Befund nur vor der Folie, die er Deleuze/Guattari selbst appliziert. Diese Problematik zeigt sich an den Analyseparametern des Unstrukturierten und Unendlichen; sie hätte sich auch an der fälschlichen Umschreibung des Rhizoms als „Wurzelwerk“ festmachen lassen (33). Deleuze/Guattari erläutern im selben Text, dass es sich bei einem Rhizom nicht um ein Wurzel-, sondern um ein Sprossengeflecht handelt, das im Gegensatz zu Wurzeln Keimfähigkeit besitzt. Bexte geht auch in diesem Fall auf die Terminologie von Deleuze und Guattari nicht weiter ein. In der Konsequenz bleibt gänzlich unbestimmt, wie sich seine Begriffe der Synthese und des Zerfalls zu jenen der Einheit und Mannigfaltigkeit bei Deleuze/Guattari verhalten. Aus Unterbestimmtheiten erwachsen nolens volens Überbestimmtheiten: Die Unabgeschlossenheit eines nicht synthetischen, aber doch verknüpfenden Verfahrens fällt für Bexte also mit Zerfall in eins. Damit stellt er eine ergebnisoffene Prozessualität nicht nur unter Vorzeichen der Vergänglichkeit, sondern gar der Destruktivität. Dagegen nochmals Deleuze in einem Interview zu den Tausend Plateaus: „Es gibt heute in den Wissenschaften, in der Logik erste Schritte zu einer Theorie sogenannter offener Systeme, die auf Interaktionen basieren; sie verzichten bloß auf lineare Kausalitäten und transformieren den Begriff der Zeit. [...] Was Guattari und ich Rhizom nennen, ist genau ein solches offenes System.“ 19 Die Möglichkeit, dass eine Konjunktion nicht nur linear abläuft – nicht nur von einem Relatum zum anderen, sowie nicht nur von den Gliedern zur Synthese oder umgekehrt –, ist für Bexte ausgeschlossen. Stattdessen erhärtet sich für ihn,
18 | Deleuze/Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 36. Dieser Passus kann exemplarisch dafür gelten, wie weitreichend Deleuze/Guattari um eine begriffliche Konsistenz und Präzision bemüht sind: Sie kennzeichnen das Rhizom nicht dadurch, dass es etwas ist, sondern dadurch, dass es etwas bildet. 19 | Gilles Deleuze: Unterhandlungen, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 1993, S. 50f.
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dass Synthesis zwingend mit der Überschaubarkeit und vorzeitigen Vorhandenheit ihrer Elemente einherzugehen hat. Die Selbstbestätigung seiner Begriffe von Synthesis und Zerfall schließt mit allen positiv bestimmten Größen von Deleuze/Guattari – dem Zwischen, der Mitte, der Bewegung – schließlich auch jede Möglichkeit aus, von den präziseren Bestimmungen der Konjunktion und. . .und. . .und. . . zu profitieren. So wenig Rosenzweigs und die ständige Reaktualisierung einer in sich geschlossenen Einheit betreibt, so wenig dient schließlich die Konjunktion bei Deleuze/Guattari dazu, eine solche Einheit einfach zu „sprengen“. Ihre Diktion mag im Text des Rhizoms passagenweise manifesthaften Charakter besitzen, ein Mangel an terminologischer, typologischer und letztlich auch methodologischer Umsicht ist ihnen so leicht nicht nachzuweisen. Nach der Gegenüberstellung der beiden philosophischen Exempel des und fasst Bexte seine Ergebnisse in einem allgemeineren Sinne zusammen. Mit Blick auf das Verhältnis von Konjunktion und Synthese sieht er bestätigt, dass die Konjunktion eine notwendige Voraussetzung des Verfahrens darstellt. Allerdings erweckt ihm das und nunmehr den Anschein, im synthetischen Geschehen zu „verschwinden“ (34). Dies hänge mit einem Überschuss zusammen, den jede Synthese über die bloße Aufzählung und Summation getrennter Elemente hinaus erzeugt. Das Verschwinden der Konjunktion bleibe dabei jedoch nicht ohne Folgen: „Die verschwindende Spur des Und markiert eine Sollbruchstelle im Synthetischen.“ (34) Das und ist nach dieser Aussage nicht nur unscheinbar, sondern im Verschwinden begriffen. Allerdings hinterlasse es dabei eine Spur. Diese Relikte der Konjunktion machten sich nicht als etwas Verbindendes geltend, wofür eine Konjunktion grammatikalisch gemeinhin eintritt. Stattdessen bringen die Reste des und die Möglichkeit eines Bruchs zum Ausdruck. Insofern Bexte von einer „Sollbruchstelle“ spricht, geht diese Möglichkeit mit einer Vorbereitung und Vorwegnahme einher, für die der Bruch nicht irgendeine, sondern eine bestimmte Option darstellt. Näheres geht aus diesem Fazit, mit dem Bexte seine Ausführungen im Rahmen der Philosophie abschließt, jedoch vorerst nicht hervor. Das Verschwinden der Konjunktion ist weder bei Rosenzweig noch bei Deleuze/ Guattari ein Thema. Rosenzweig nennt die Konjunktion – im Rahmen der Zitate, die Bexte anführt – „ungewohnt“ und spricht von ihrem Vermögen, noch in der letzten Wahrheit wiederzukehren. Deleuze/Guattari sehen in ihr eine „Kraft“, die aktiv auftritt und in ihren Kontext eingreift. Das Verschwinden, von dem Bexte am Ende spricht, weist dagegen in eine andere Richtung. Auch wenn es die Möglichkeit einer Nachwirkung hinterlässt, handelt es sich dabei lediglich um eine Option, zu-
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mal zeitlich nachgelagert, auch wenn sie dann besonders nahegelegt wird. Die so beschriebene Wirkweise der Konjunktion hängt nicht mit ihrem Auftreten zusammen, sondern mit etwas, das möglicherweise nach ihr eintritt. Das Geschehen geht nicht mit der Konjunktion einher, sondern knüpft sich an die Synthese. Wie und ob diese Erwägungen mit den Lektüren der Philosophen Rosenzweig und Deleuze/Guattari zusammenhängen, ist unklar. Was ist mit der Hartnäckigkeit des und, mit der es in jeder Wahrheit stecken muss? Was ist mit seiner Überschreitungsfunktion, die der Synthese nicht durch Verschwinden, sondern Überborden gefährlich zu werden droht? Sieht Bexte die ausgemachten Sollbruchstellen von seinen philosophischen Lektüren getragen oder richtet er sie gegen sie? Unklar bleibt auch, wie die verschiedenen Zuschreibungen, die Bexte an die Konjunktion adressiert, miteinander zusammenhängen: Auf der einen Seite sei das und eine notwendige Voraussetzung jeder Synthese, andererseits verflüchtige es sich angesichts dessen, dass jede Synthese mehr als eine „bloße äußerliche Verknüpfung“ sei (34). Zuerst wird die Konjunktion als Bedingung geltend gemacht, dann unterliegt sie den Wirkungen dessen, was sie bedingt. Unter der Hand wird die Kausalität der Verknüpfung zirkulär. Ist deshalb nun von einer Sollbruchstelle die Rede? Im letzten Abschnitt nimmt sich Peter Bexte schließlich der synthetischen Biologie an. Vorab hatte sie Bexte als eine der Disziplinen genannt, die dem Begriff der Synthese gegenwärtig wieder Aktualität verleihen, nachdem er in der Philosophie an Bedeutung verloren habe. Des Weiteren stellte Bexte eine biologische und eine ästhetische Form der Synthesis gegenüber: Wo biologische Verbindungen an Sachzwänge gebunden seien, könnten bildliche Verfahren mitunter weiterführen. Diese Charakterisierung biologischer Synthesis greift Bexte nun wieder auf, indem er allgemeiner reformuliert, die Biologie sei eine „Erfahrungswissenschaft“. Gleichzeitig schlägt er damit eine Brücke zum „Grundwort aller Erfahrung“ (beide 35).20 Zur näheren Untersuchung des und in der synthetischen Biologie wählt er zuerst ein Beispiel aus ihrer „Praxis“, um im Anschluss gesondert auf zugehörige „Darstellungsweisen“ einzugehen. Exemplarisch für die Praxis der synthetischen Biologie zieht Bexte eine Schrift des Informatikers Tom Knight heran, mit der dieser im Jahre 2003 das Konzept der sogenannten Biobricks zur Diskussion stellte. Dieses Konzept habe seither ei-
20 | Das Schwanken Bextes zwischen tendenziell kritischen und tendenziell affirmativen Bezugnahmen setzt sich fort: War ihm Rosenzweigs Ansatz, die Konjunktion als Grundwort aufzufassen, zuletzt „brüchig“ erschienen, dient ihm derselbe nun als argumentative Grundlage, um einen Zusammenhang zwischen Biologie und Konjunktion herzustellen.
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ne große Wirkung entfaltet. Bexte hebt gesondert hervor, dass die Schrift vor dem Hintergrund von Informatik und Ingenieurwissenschaft entstand und das Ziel verfolgte, „Prinzipien eines informationstechnischen Ingenieursdenkens auf biologische Fragen zu übertragen“ (36). Dieser Übertragung nimmt sich Bexte im Folgenden anhand der Gestaltung des Titelbildes besagter Schrift näher an. Die Abbildung zeigt den Umschlag eines Ingenieur-Handbuchs, auf dem Laborutensilien und Legosteine herumliegen und sich vermischen. Bexte erkennt darin ein „zweites Undbild“ wieder, insofern Elemente aus einander fremden Kontexten zusammengebracht werden, um eine neue Ordnung zu erproben. Allerdings gehe die „seltsame Vereinigung“ auf „Ingenieurskunst“ zurück (36). Die Abbildung fungiere entsprechend als „Sinnbild“: Mit piktoralen Mitteln werde vorformuliert, was der Neologismus der Biobricks auf begrifflicher Ebene intendiert: „die Synthese von Ingenieurwissen und Biologie“ (36). Wie das Titelbild der eigentlichen Abhandlung zu den Biobricks vorgelagert ist, sieht Bexte in der „Synthesis verschiedener Wissenskulturen“ ein Apriori der synthetisch-biologischen Praxis (36). Und insofern auch hier gilt, dass keine Synthese ohne ein und auskommt, könne die Konjunktion unter die Bedingungen der Möglichkeit der Synthetischen Biologie gerechnet werden: Aus der Konjunktion von „Biologie und Engineering“ entstehe die Praxis des Fachs (36). Bexte betont, dass die kompakte Formulierung dieser Grundlage nicht dafür garantiert, dass der interdisziplinäre Austausch auf gegenseitigem Verstehen beruht oder solches hervorbringt. Im Gegenteil gebe es „naturgemäß Übertragungsschwierigkeiten“, die sowohl aus innerdisziplinären Konventionen als auch aus Versuchen resultieren können, einander entgegenzukommen (36). Das ändere jedoch nichts daran, dass Interdisziplinarität die Voraussetzung der synthetischen Biologie darstelle. „Diese systematische Voraussetzung ist ebenso oft ausgesprochen wie übersprungen worden“ (37). Das mangelnde Problembewusstsein könnte sich nicht zuletzt am und eines Besseren belehren, so Bexte. Im zweiten Teil seiner Ausführungen zur synthetischen Biologie fokussiert Bexte auf eine bestehende Notationsvereinbarung, die sich der Standardisierung und Vereindeutigung bildlicher Mittel verschrieben hat. Auch hier fände ein Versuch statt, Standards aus der Informatik auf die Biologie zu übertragen. Das Verfahren erweise sich jedoch als problematisch. So habe etwa die Untersuchung der Deutungsmöglichkeiten eines Pfeils im Rahmen eines Diagramms acht voneinander unabhängige Lesarten ergeben. Angesichts dieser potentiellen Vielfalt hinter ein und demselben Symbol kommt Bexte auf die Formel „das Eine und das Andere“ zurück. An früherer Stelle diente ihm der Ausdruck dafür, eine Minimalbestimmung der Voraussetzungen der Konjunktion anzugeben, demnach sich das und minimal auf zwei verschiedene Elemente bezie-
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hen müsse. An dieser Stelle gibt „das Eine und das Andere“ für Bexte jedoch eine Vielfalt an, die zwar wieder größer gleich zwei sein müsse, die Betonung liegt dabei aber weniger auf zwei und mehr auf größer. Ging es vormals darum, die Konjunktion an Bedingungen zu knüpfen, steht das und nun primär unter dem Vorzeichen von Möglichkeiten: „Es führt auf eine Serienbildung missverständlicher Bedeutungsmöglichkeiten, zu deren Beendung erhebliche Anstrengungen unternommen werden.“ (37) Bexte nimmt sich in diesem Zusammenhang einer Arbeitsgruppe an, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, in der Erstellung von Landkarten eine ähnliche Eindeutigkeit der Symbolsprache zu erreichen, wie sie in der Diagrammatik von elektrischen Schaltkreisen gegeben ist. Bexte bezieht sich vor allem auf zwei systematische Probleme: Erstens muss sich jede Karte beschränken, wenn sie eine Übersicht geben können soll. Vollständigkeit wird ihr deshalb verwehrt bleiben. Zweitens muss sie in einem externen Schlüssel angeben, für was die Zeichen und Abkürzungen stehen, die zur Anwendung kommen, weil die Beschränkung – das erste Problem – sie notwendig macht. Bexte bezieht die resultierenden Schwierigkeiten allerdings nicht auf die Komplexität des Bezugssystems, sondern auf die Bezugnahme selbst: Die Karten besäßen ein „Eigenleben“, demzufolge verwendete Zeichen durch wiederum andere Zeichen erläutert werden (38).21 Die Problematik notwendiger, aber erläuterungsbedürftiger Reduktion wirkt sich Bexte zufolge auf unterschiedlichsten Ebenen aus, die von objektiven Schwierigkeiten bis zu subjektiven Vorlieben reichen. Vor diesem Hintergrund kämen die unternommenen Versuche, „Mehrdeutigkeiten auszutreiben“, nicht zu ihrem Ziel, sondern müssten stattdessen einsehen, „neue Mehrdeutigkeiten“ zu schaffen (38). Schließlich kommt Bexte auf das und zurück, das nun nicht mehr für Zweiheit, sondern für „Pluralität“ einsteht. Diese Wendung hängt für ihn zwar nach wie vor mit einer „Brüchigkeit“ zusammen, allerdings gebe sie mitunter neue Per-
21 | Entsprechend muss ergänzt werden, dass die Selbstreferenzialität der Zeichengebung an dieser Stelle wiederum eher die Folge, als den Grund des Problems darstellt: Das Diagramm eines Schaltkreises hat mit seinem Gegenstand gemein, sich in guter Näherung in zwei Dimensionen abzuspielen bzw. stets darin abspielen zu können. Dagegen muss sich eine Landkarte all jenen Konflikten und Entscheidungen stellen, die entstehen, wenn etwas Dreidimensionales in zwei Dimensionen überführt wird.
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spektiven frei: Indem das und „auf interne Differenzen der Synthetischen Biologie verweist, eröffnet es die Möglichkeit von Science and Technology Studies.“ (38f)22 Im Kontext der Philosophie beschrieb Bexte das Verhältnis zwischen Konjunktion und Synthese abschließend als zwiespältig: Einerseits stellt die Konjunktion eine Bedingung jeder Synthese dar, andererseits wirkt sie sich dabei als eine „Sollbruchstelle“ aus. Im Vorfeld „steht“ die Konjunktion und „tritt“ auf, im Folgenden „verschwindet“ sie, um Formen des Zerfalls zu „markieren“. Im Kontext der synthetischen Biologie ist „Brüchigkeit“ nicht eine Folge der Konjunktion, sondern eine „Ausgangssituation“. In ihr verschwindet die Konjunktion nicht mehr, sondern „verbirgt sich“, um dergestalt allerdings ein neues Wissenschaftsfeld zu „eröffnen“ (38f). Den Wandel, den diese Formulierungen zwischen den Untersuchungen des und in Philosophie und synthetischer Biologie anzeigen, nimmt Bexte ohne begleitende Hinweise oder Erläuterungen vor. Nachdem er sich auf Seiten der Philosophie mit nicht weiter hinterfragten Interpretationsfiguren rasch der Kritik zuwendete, um mit ihr zu enden, veranlassen ihn die geschilderten naturwissenschaftlichen Vorhaben kaum, die mitgeführten Machbarkeitsgedanken respektive ihre Voraussetzungen in einem kritischen Sinne zu beäugen. Am Ende wartet nicht der Teufel wie bei Rosenzweig, oder der Zerfall wie bei Deleuze/Guattari, sondern die „Möglichkeit von Science and Technology Studies“. So muss ergänzend angemerkt werden, dass die geschilderten naturwissenschaftlichen Vorhaben mit dem Ziel, in der Darstellung ihrer Gegenstände Eindeutigkeit zu erzielen, präziser als Machbarkeitsphantasien anzusprechen wären. Getragen von den terminologischen Hoffnungsträgern der Information und der Technik, erzeugen sie nicht nur „Pluralität“, sondern wissen diese gleichsam auch rigoros einzuschränken: Was nicht in die zahlenförmigen Darstellungsmodi von Information und Technik passt, was sich nicht portionieren und in Gleichungen übersetzen lässt, hat weder Teil an jener „Pluralität“ noch überhaupt eine Sichtbarkeit. Auf der Basis solcher Verfügungsfiguren sind weder sensible Bildbegriffe noch logische Unvollständigkeitssätze denkbar. Dass Bilder wie Formalismen die Bedingungen ihrer Anwendbarkeit nicht selbst regeln, wird vor diesem Hintergrund als Freiheit nicht denkbar. Im Gegenteil: Wehe jemand fragt, worauf die heilige Zahlenförmigkeit beruht. Kurz: Ein produktives, Möglichkeiten eröffnendes und bleibt Bexte zufolge denjenigen Wissenschaften vorbehalten, die es vermögen, unreflektiert und reduktionistisch mit ihm umzugehen.
22 | Dass die in Aussicht gestellten „Science Studies“ von philosophischen Untersuchungen des und profitieren können, hätte Bexte an dieser Stelle bereits einlösen können: Deleuze/Guattari widmen sich in einem längeren Abschnitt des Rhizoms der Kartografie. Vgl. Dies.: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 23ff.
2. Das und als kulturtheoretischer Parameter (Bexte) | 89
In einem Fazit, das dem gesamten Text gilt, reformuliert Bexte seinen Ansatz wie folgt: „Wir haben nach dem Und gefragt, wie es auf der Schwelle zwischen Zerfall und Synthesis erscheint.“ Indem dabei „die grundlegende Tätigkeit des Trennens und Verbindens“ gleichsam mit angesprochen sei, komme der Frage nach dem und ebenfalls grundlegende Bedeutung zu. Unter Berufung auf Claude Lévi-Strauss gehört die Praxis der Konjunktion für Bexte damit zum „Kern dessen, was Kulturen leisten“. Mit Blick auf eine „Wissenskultur“ konkretisiert Bexte dieses kulturelle Grundgeschehen dahingehend, dass es dabei um die „Trennung und Verbindung von Maschinen, Informationen, Praktiken und Stoffen“ ginge. Gegenwärtig stünden dabei vor allem die Stoffe im Vordergrund. Von ihnen ausgehend eröffneten sich durch die Gentechnik neue Kombinationsmöglichkeiten, insbesondere zwischen Stoffen und Information. Anhand der Konjunktion von „Code und Material“ kommt Bexte schließlich auf die Frage nach dem und und der Spezifik ihres jeweiligen Erscheinens zurück: Die genannte Verknüpfung könnte demnach „eine lose Kopplung“ oder eine „Verschmelzung“ anzeigen, sie könnte auf „neue Qualitäten“ vorausdeuten oder – was Bexte nicht expliziert – Altbekanntes aktualisieren (alle 39). In irgendeiner Form würde die Konjunktion von Seiten der synthetischen Biologie jedenfalls „immer schon vorausgesetzt“. Auf dieser Grundlage kann das Verständnis, das jene Wissenschaft von sich selbst hat, kein einheitliches sein. Bexte schlussfolgert noch allgemeiner, dass die „Selbstbeschreibungen der Wissenskulturen differieren“. In einem geschichtlichen Horizont zeichne sich dabei eine Zeitenwende ab: Nachdem besagte Wissenskulturen lange von einem „analytischen Selbstverständnis“ ausgegangen waren, fände gegenwärtig eine Verlagerung des methodischen Schwerpunktes statt, hin auf die Seite der Synthesis (alle 40). Ein letztes Mal weist Bexte darauf hin, dass jede Form der Synthese die Konjunktion und zur Voraussetzung habe, um wie folgt zu schließen: „Das Wort markiert die Brüchigkeit in dem Übergang zu jenem Neuen, das die Synthetische Wissenschaft verspricht.“ (40) Mit diesem letzten Satz führt Bexte seine zentralen Parameter und die Deutungen, die er ihnen beimisst, zusammen. Das Trennen tritt als Brüchigkeit, das Verbinden als Versprechen auf – beides unter dem Vorzeichen des und. Ausgehend von dieser letzten Aussage lassen sich die Anmerkungen zum Text von Peter Bexte abschließend zusammenfassen.
90 | Konjunktion
Schlussbetrachtungen Wenn der Übergang zu einem Neuen Anlass eines Versprechens ist, hat er sich noch nicht ereignet. Es besteht auch die Möglichkeit, dass sich jener Übergang nicht ereignen wird – sonst wäre kein Versprechen vonnöten. Ob diese Ungewissheit für die Brüchigkeit verantwortlich ist, die den Wandel vom Bestehenden zu etwas Neuem affiziert, lässt das Schlusswort allerdings offen. Die Konjunktion, an der sich der Satz aufhängt, hat an der genannten Zerbrechlichkeit teil – jedoch nicht als Ursache, sondern als „Markierung“. Auf diese Formulierung greift Bexte zum wiederholten Mal zurück (vgl. 33, 37, 38), eine Variante hat sie in der „Spur“ (34). Wenn diese Ausdrucksweise nicht nur stilistischen, sondern auch terminologischen Wert haben soll, kann die Konjunktion nicht der Grund für die Brüchigkeit sein: Eine Markierung stellt ein bildliches, genauer ein indexikalisches Verfahren dar. Als solches bezeichnet sie eine physische Prägung, einen Abdruck. Sie ist eine Hinterlassenschaft, die von etwas verursacht wird, das bereits vor ihr Bestand hatte. Entsprechend impliziert der Ausdruck der Markierung, dass die Bruchstellen im Synthetischen schon vor dem Erscheinen des und vorlagen. Der Zusammenhang zwischen dem und und den Bruchstellen ist bei Bexte folglich nicht kausal, sondern temporal bestimmt. Der Bezugspunkt von Bexte ist weder das Problem der Ursache noch die Ursache des Problems der Synthesis. Stattdessen ist es ihm um einen Aspekt im Erscheinen der Komplikationen zu tun, die mit der Bildung von Synthesen einhergehen. Aus dieser Warte blickt er auf das und. Dabei besteht die weitere Absicht Bextes darin, gegenüber den vergleichsweise jungen synthetischen Wissenschaften durch die Referenz auf Kunst und Philosophie für ein Problembewusstsein zu sensibilisieren: Was sich verbinden lässt, ist deswegen noch nicht zusammen. Was das und formal offeriert, muss es inhaltlich nicht einlösen. Die Sache der Synthesis beginnt folglich bereits auf der Ebene einfacher Konjunktionen kompliziert zu werden. In der Darstellung konjunktionaler Kompliziertheit baut Bexte jedoch auf Begriffe, die weniger Komplexität reklamieren, als dass sie Einseitigkeit ins Feld führen. Ob Bruchstellen, Brüchigkeit oder Zerfall – indem sich diese Metaphern an der quasiabsoluten Autorität der Vergänglichkeit orientieren, reden sie einem linearen, finalistischen Zeitbegriff das Wort. So hält Bexte immer dann die Diagnose des Zerfalls bereit, wenn er zeitlich wie räumlich unabgeschlossenen Prozessen begegnet: beim Abwarten von Paulus, dem Merzbau von Schwitters, dem Wahrheitsbegriff von Rosenzweig und dem Rhizom von Deleuze/Guattari. Alle genannten Fälle, allein den Apostel ausgenommen, setzen sich explizit mit der Konjunktion auseinander, jedoch nicht unter dem Vorzeichen eines ausgemachten Zerfalls, sondern mit Blick auf die Offenheit und Erweiterung konjunktionaler Gegebenheiten und Möglichkeiten. Dagegen
2. Das und als kulturtheoretischer Parameter (Bexte) | 91
hält Bexte an der Einseitigkeit und Vagheit seiner metaphorischen Ausdrücke und Einwände bis zuletzt fest. Eine Diskussion und Rechtfertigung, die aus den Metaphern Begriffe machen würde, bleibt aus. Daher müssen die Ausdrücke letztlich als negatives Pendant dessen erscheinen, was Heidegger ein bloßes Einerlei nennt (vgl. Fußnote 8, S. 71): Eine Haltung, die von der „in der Einheit waltenden Vermittlung“ absehen zu können glaubt, kann nicht minder bei einer Thematisierung der Vielheit zum Zuge kommen. Auch in der Differenz oder der Brüchigkeit, wie Bexte sie nennt, steckt Vermittlung, und zwar nicht nur in linearer Form und mit ausgemachtem Ziel.23 Es finden sich auch Stellen, an denen Bexte vom linearen Kurs seiner Gegenfiguren abrückt. Vor allem innerhalb des Abschnittes, der die Konjunktion im Kontext der Kunst untersucht, macht Bexte das und als komplexes Bindeglied geltend. Mehrfach ist dort von einem Zugleich die Rede: davon, dass die Konjunktion als „ Hybrid aus Konstruktion und Zerfall zugleich“ auftrete; zwei Seiten verbinde, zugleich aber die Voraussetzungen differenziere; und schließlich als „bedeutsam und problematisch zugleich“ einzustufen sei (alle 31f). Bexte vertieft diese Interpretationsansätze allerdings an keiner Stelle weiter. Eine Entfaltung der modalen und temporalen Implikationen jenes Zugleichs findet nicht statt. Unter diesen beiden Aspekte, (I) der Modalität und (II) der Temporalität des und, sollen die soweit versammelten kritischen Ergänzungen abschließend geordnet und nochmals eingehender betrachtet werden.
23 | Dass die Erhebung des Zerfalls zu einem leitenden Begriff nicht mit Ausschluss von Komplexität einhergehen muss, hat E. M. Cioran gezeigt. Exemplarisch ein Aphorismus, der ebenfalls dem Zusammenhang von Sprache und Kultur gilt: „Solange unsere noch munteren Sinne und unser noch einfältiges Herz in der Welt der Attribute zueinander finden und sich in ihr ergötzen, gedeihen sie je nach der Gunst des ihnen begegnenden Adjektivs, das sich jedoch als ungeeignet und unzureichend erweist, sobald es genauer untersucht wird. Wir sagen von Raum, Zeit und Leiden, sie seien unendlich; indes ‚unendlich‘ ist nicht von größerer Tragweite als: ‚schön‘, ‚erhaben‘, ‚harmonisch‘, ‚häßlich‘. . .Will man sich der Mühe unterziehen, den Worten auf den Grund zu gehen? Man wird gar nichts entdecken: losgelöst von der expansiven, schöpferischen Seele sind die Worte nichtig und leer. Es ist die Kraft des Geistes, die ihnen Glanz verleiht, die sie blank und leuchtend macht. Diese Kraft, zum System erhoben, heißt Kultur –: ein Feuerwerk mit dem Nichts als Hintergrund.“ ( Ders.: Lehre vom Zerfall, übers. v. Paul Celan, Stuttgart 1978, S. 28f ) Für eine nähere Untersuchung des Cioranschen Denkens vgl. Jürgen Grosse: Das Ressentiment – Cioran und Nietzsche – Freie Geister, Überwinder, Sklaven der Ideen, in: Lettre International 112, Frühjahr 2016, S. 96–101.
92 | Konjunktion
(I) Zum Problem der Modalität des und Die Frage, wie die Konjunktion in Erscheinung tritt – die Frage nach ihrem Wie, nicht ihrem Was – knüpft sich bei Bexte an das Stichwort der Modalität. Eingangs ist von „diversen Modalitäten des Verbindens“ die Rede, ohne dass damit bereits das und gemeint ist (26); dann, wenn sich Bexte dem und näher annimmt, heißt es, die Konjunktion für sich alleine genommen könne allenfalls für das Verbinden als solches stehen, „ohne dass deren Modalität schon geklärt wäre“ (28); zuletzt wirft das und in der Konjunktion von Code und Material „die Frage nach der jeweiligen Modalität dieser Verbindung“ auf (39). Die nähere Betrachtung der konjunktionalen Modalität führt auf ein Spektrum von Verbindungsweisen: Von einem allgemeinen Verbinden als solchem reicht es bis in die Spezifik des jeweiligen Einzelfalls. Dabei kann das und sowohl dem zufälligen, nicht näher bestimmten Neben- und Nacheinander zweier Elemente dienen als auch in kalkulierte Reihenfolgen und Bündnisse eingehen, die auf festes Bestehen angelegt sind. Offensichtlich legt sich die Konjunktion in der Ausrichtung ihrer Anwendung nicht selbst fest. Wenn sie gesetzt wird, tritt – so nennt es Bexte – eine „paradoxe Funktion“ in Kraft: Demnach verbindet das und „zwei Seiten [. . .], zugleich aber differenziert es die Voraussetzungen.“ (31) Wenn die Konjunktion die Voraussetzungen seiner Relata differenziert, heißt das, dass es nicht allein mit dem zu tun hat, was es konkret verbindet. Wie aber nimmt es diese weiterreichende Wirkung vor? Hier könnte ins Positive gewendet werden, was Bexte der Konjunktion an anderer Stelle als Mangel auslegt: „allein genommen aber steht die bloße Kopula für gar nichts – es sei denn, für ein Verbinden als solches, ohne dass deren Modalität schon geklärt wäre“ (28). Nimmt man die beiden referierten Stellen zusammen – das Differenzieren der Voraussetzungen und das Verbinden als solches –, liegt im Zwischenraum des und nicht nur eine Verbindungslinie vor, die vom Einen zum Anderen führt. Gleichsam kommt im Spatium der Konjunktion zum Ausdruck, dass das konjunktionale Geschehen mit Voraussetzungen zu tun hat, die in seinem Zwischenraum Gelegenheit finden, als Implikationen zu wirken. Die Repräsentationslosigkeit des und wird zum Resonanzraum für Beziehungen, die in das Vorfeld der jeweiligen Verknüpfung zurückreichen. Das „Verbinden als solches“ kann für dieses Wechselwirken der Beziehungen untereinander, für Interferenzen zwischen älteren und jüngeren Verbindungen einstehen. Konkret betrifft dieses Verbindungsgeschehen allerdings nicht nur vorgelagerte Bedingungen. Es strahlt auch in den Raum des Kommenden aus und steht dem nicht minder offen. So sind die Deutungsmöglichkeiten einer Konjunktion nie nur auf das beschränkt, was der Kontext des Vorfeldes nahelegt. Die Beispiele, in denen Bexte verschiedene Auslegungen vornimmt und auflistet, enden offen: et cetera (vgl.
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31 u. 39f). Die Konjunktion kehrt in den Deutungen wieder und erweckt mitunter den Eindruck, als wollte sie das letzte Wort behalten. So auch auf einer höheren Reflexionsebene: Die verallgemeinernde Charakterisierung, dass die Konjunktion zugleich trennt und verbindet, enthält abermals ein und. So fundamental, wie Bexte sie zuletzt bezeichnet, ist diese Charakterisierung folglich mitnichten: Indem die Konjunktion in ihr einmal mehr zum Zuge kommt, findet das, was charakterisiert werden soll, abermals statt. Und in dieser wiederholten Verschränkung von Verbinden und Trennen setzt sich das Spiel fort. Anstelle eines Fundamentes gibt sich ein Zug ins Unendliche zu erkennen. Der Aspekt der Endlosigkeit des konjunktionalen Geschehens begegnet bei Bexte an anderer Stelle. Allerdings wird er im Rahmen der gegebenen Beispiele nicht weiter auf die Konjunktion bezogen, sondern von ihr separiert: Entwickelte sich Schwitters’ Merzbau in „endlosen Wucherungen“, läuft dieser Prozess für Bexte darauf hinaus, dass sich der Künstler darin „verliert“ (31). Und unternehmen Naturwissenschaftler „erhebliche Anstrengungen“, der Bedeutungsfülle einer Konjunktion Herr zu werden, heißt es, dass letztlich doch „eine Pluralität bleibt“, welche allerdings die Möglichkeit neuer Wissenschaftszweige ermögliche (38f). Abschließend lässt Bexte beide Formen des offenen Endes, das hoffnungslose wie das vorläufige, in die Vanitas-Motivik von Zerfall und Brüchigkeit münden.24 Das Auftreten der Konjunktion enthält neben seiner paradoxen Funktionalität des Trennens und Verbindens also noch einen weiteren funktionalen Zug: Demnach hat das und gleichsam auch mit den Bedingungen dessen zu tun, was es verbindet, wobei es allerdings kein Ende findet. In gewisser Weise steckt in jedem und ein Verbinden als solches, das sagt: Alles hat immer mit mehr zu tun.
24 | Dagegen gibt das Aushalten eines offenen Endes nicht nur dem Paulinische cupio dissolvi einen komplexeren Rahmen, sondern verspricht auch den Werken Becketts gerechter zu werden als ein apodiktischer Sprach- und Bildzerfall, wie Bexte ihn anführt. So heißt es etwa bei Deleuze zum Bild bei Beckett: „Das Bild lässt sich nämlich nicht durch das Erhabene seines Inhalts definieren, sondern durch seine Form, das heißt durch seine ‚innere Spannung‘, oder durch die Kraft, die es weckt, um eine Leere zu schaffen oder Löcher zu bohren, die Umklammerung der Worte zu lösen, das Hervorsickern von Stimmen zu ersticken, um sich vom Gedächtnis und der Vernunft zu befreien, ein kleines alogisches Bild, gedächtnislos, beinahe sprachlos, bald im Leeren schwebend, bald zitternd im Offenen.“ (Gilles Deleuze: Erschöpft, übers. v. Erika Tophoven, in: Samuel Beckett, Gilles Deleuze u. Dietmar Kammerer: He, Joe, Quadrat I und II, Nacht Und Träume, Geister-Trio . . .: Filme für den SDR, Frankfurt a. M. 2008 [Paris 1992], S. 16 )
94 | Konjunktion
(II) Zum Problem der Temporalität des und Bexte fragt im Bezug auf den Zusammenhang, in dem die Konjunktion mit den Bruchstellen im Synthetischen steht, nicht nach einer Ursache. In der Folge fangen sich seine metaphorischen Beschreibungen des besagten Zusammenhangs zeitliche Konnotationen ein: Als Markierung und Spur stellt das und etwas Nachträgliches dar. Das Verhältnis zwischen Konjunktion und Brüchigkeit besteht demzufolge aus einer Reihenfolge: Die Instabilität zwischen zwei oder mehr Größen ist bereits vorhanden, bevor das und erscheint. Und indem Bexte bis zuletzt bei seinem Grundsatz bleibt, Synthesis und Konjunktion bedürften mindestens zweierlei Bezugsgrößen, um vollzogen werden zu können (vgl. 26, 27, 33, 40), erstreckt sich die Ordnung der Reihenfolge noch weiter: Relata stellen Elemente dar, die bereits vor ihrer Verknüpfung als solche vorhanden sind. Am Anfang stehen die Einzeldinge, dann treten sie in Beziehung zueinander, woraufhin ein und intervenieren kann, um daran zu erinnern, dass die Dinge auch getrennt sein könnten. Dieser Auffassung stehen nicht nur die Beispiele aus Kunst und Philosophie entgegen. Die Schwankungen und Ungereimtheiten, die im Rahmen von Bextes eigenen Ausführungen mehrfach sichtbar werden, lassen sich als eine Konsequenz der festgeschriebenen Nachträglichkeit der Konjunktion begreifen. Wenn sich die Konjunktion zugleich als Verbindung und Differenzierung manifestiert, äußert sich darin nicht nur eine Modalität, sondern auch eine Temporalität. Der Nachträglichkeit steht dann eine Gleichzeitigkeit entgegen. Bexte benennt sie als solche an keiner Stelle direkt. In jenen Aussagen, in denen er das und und das Adverb „zugleich“ zusammenbringt, kennzeichnet er die Konjunktion als paradox oder hybrid (beide 31). Das zeichnet die Konjunktion allerdings noch nicht spezifisch aus. Von Plus und Komma etwa kann dasselbe ausgesagt werden: Sie stehen dazwischen, trennen und verbinden zugleich. Das und kann sowohl im Sinne der Addition – eins und eins – als auch im Sinne einer Reihenfolge stehen – eins und dann zwei. Der Hinweis auf eine ihm eigene Gleichzeitigkeit kann jedoch gleichsam auf etwas deuten, demzufolge die Konjunktion über Addition und Reihenfolge hinausgeht. Zum einen können im Zwischenraum des und vorherige Beziehungen weiter wirksam sein. Zum anderen können daraus neue Beziehungen erwachsen: An welchen Ausdruck ließe sich die Konjunktion nicht abermals anfügen? Die Möglichkeit der Fortsetzung ist immer schon – zugleich – vorhanden. Bexte berührt diese Spezifik an einer Stelle, allerdings nicht im Bezug auf die Zeit, sondern den Raum der Konjunktion. Noch im Vorfeld der Ausführungen zum und im Kontext der Kunst schreibt er den „Künsten des 20. Jahrhunderts“ einen „Sprachzerfall, Klangzerfall, Bildzerfall“ zu. Diese Formen der Auflösung veranlassen ihn kurz
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darauf, einen „bodenlosen Zerfall“ zu erwägen, der das „Verbinden als solches“ zu einem Thema werden lassen könne (27). Soweit Bexte. Wenn die Ausweitung auf das Bodenlose allerdings konsequent gedacht wird, entzieht sie auch dem Zerfall den Boden. Nichts kann sich mehr von der Anmutung getragen sehen, es könne für sich alleine stehen. Insofern die Bodenlosigkeit alles betrifft, wird die Verbundenheit aller Dinge miteinander sichtbar. Schon mit sich selbst unterhält jedes Element eine Beziehung: Es hält sich an seinen Für und Wider fest. Vor dem Hintergrund der Bodenlosigkeit gibt es keinen Grund zu existieren, aber auch keinen, nicht zu existieren. Auf die Konjunktion bezogen, führt das Szenario der Bodenlosigkeit zweierlei vor Augen: Zum einen ist im Rahmen des konjunktionalen Verfahrens stets eine unüberschaubare Vielzahl von Möglichkeiten hinterlegt. Hinter jeder implizierten, vorgelagerten Beziehung steckt wiederum eine Beziehung. Was jeweils miteinander verknüpft wird, lässt sich deshalb von Kontingenz kaum einmal freisprechen. Zum anderen ist die Faktizität von Beziehung, die Tatsache, dass Relata mit sich, ihren Voraussetzungen und ihren möglichen Auswirkungen wechselwirken, nicht weniger als unumgänglich. Dass Verknüpfung überhaupt stattfindet, kann als notwendig gelten. Im und kommen diese Bewegungen zusammen und fahren fort. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Konjunktion – soll sie sich von Plus und Komma unterscheiden lassen – durch mehr auszeichnet als ein Zugleich von Trennen und Verbinden. In modaler wie raumzeitlicher Hinsicht findet in und mit ihr ein Beziehungsgeschehen statt, dass von referenzieller Offenheit und Wechselseitigkeit gekennzeichnet ist und die Voraussetzungen und Konsequenzen der jeweiligen Relata stets mit betrifft. Bruchstellen werden in diesem Geschehen vor allem dann sinnfällig, wenn die Möglichkeit stets weiterer Konsequenzen ausgeschlossen und stattdessen eine geschlossene Menge zum Bezugssystem wird. Für eine Auffassung der Konjunktion als offenen, treibenden Prozess bedeutet das und dagegen weniger Bruch- als vielmehr Schaltstelle. Wenn sich eine Wissenskultur, wie Bexte sie anführt, auf die Konjunktion stützt, um die „Regelung“ von Trennen und Verbinden zu „leisten“ (39), so wird sie es ihr nicht weniger zu verdanken haben, weiterhin in dem Glauben leben zu können, dass etwas – und nicht zuletzt sie selbst – für sich alleine stehen kann.
3. Das und als Generativum von Text und Welt Zu William H. Gass’ UND
Was macht sich ein Aufsatz zur Aufgabe, der sich und – nichts davor und nichts dahinter – als Überschrift vorsetzt? In dieser Frage hat der Verdacht, dass und als Gegenstand eines Aufsatzes weder ausreichend ist noch ausreichend sein kann, bereits zu einer vergleichsweise sachlichen Form gefunden. Immerhin – auf die Provokation eines solchen Vorbehaltes mag es der knappe Titel vielleicht gerade abgesehen haben.1 Eine Überschrift trägt in der Regel im Nominalstil und das heißt auf möglichst knappem Raum vor, was der folgende Textabschnitt auszuführen versucht. Selbst die Fälle, die verbal verfahren und also dem Textkörper einen Aussage- oder Fragesatz voranstellen, entbehren sehr selten dem Bemühen um Kürze und Prägnanz. Diese Tendenz nach bündiger Fassung scheint im Fall von Gass’ Und an ihr Minimum zu rühren. Dass sich der Umfang der hier gegebenen Überschrift kaum weiter reduzieren lässt, wirkt sich auch auf deren Funktion aus, einen Ausblick auf das zu geben, was folgen wird. Das frei- und alleingestellte und könnte in vielerlei Kontexten seinen Ort haben. Das einzige, was unter dem Zeichen der Konjunktion wohl nicht in Frage kommt, sind Kriterien, die bestimmte Referenzen ausschließen: Was sollte sich nicht durch ein und verbinden lassen? Das Vermögen der Konjunktion, zu binden und zu fügen, kann sich von Worten über Satzteile bis zu ganzen Sätzen erstrecken. Dementsprechend sind Möglichkeiten thematischer Eingrenzung weniger auf der Ebene
1 | William H. Gass: And, in: Habitations of the Word, Ithaca/New York 1985, S. 160–184. Die Nummern, wie sie im Folgenden in Klammern stehen, beziehen sich auf die Seitenzahlen dieser Ausgabe. Eine kürzere Fassung des Essays wurde erstmals veröffentlicht in Harper’s Magazine, Vol. 268, No. 1605, 02/1984, S. 54–61. Ein Dank gilt Michel Kuijpers für den Hinweis auf den Text.
98 | Konjunktion
der einbezogenen Gegenstände als vielmehr im Feld der Bezugsmodalitäten zu erwarten. Nicht worauf sich die Konjunktion bezogen sieht, sondern wie sie Kontakt und Verbindung zu ihrem Umfeld aufnimmt, liegt dann den weiteren Fragen zugrunde. Dieser Überlegung könnte – neben der Lust an der Provokation von Verwunderung – die Entscheidung von William Gass geschuldet sein, seinen Essay weder ausdrücklich in das Licht von Grammatik, Linguistik oder Literaturwissenschaft noch von formaler Logik oder Philosophie zu stellen. Das Ausbleiben jeglicher Anhaltspunkte – ob Disziplin, Kategorie oder Assoziation – führt vielleicht umso zielstrebiger an die fraglichen Eigenheiten der Konjunktion heran. Der Kompaktheit ihres formalen Äußeren korrespondiert dann die Uferlosigkeit potentieller Anschlüsse, die wohl durch keine Auswahl konkreter Referenten in gleichem Maße evoziert werden könnte. Diese referentielle Offenheit erklärt sich jedoch nicht von selbst. In welchem Verhältnis steht die Konjunktion zu den Weiten sprachlicher Möglichkeiten? Bewirkt sie – zum Paradigma erhoben – tatsächlich eine Öffnung gegenüber weiteren Möglichkeiten oder leistet sie in diesem Auftreten nicht bereits einer reglementierenden Einschränkung Vorschub? Oder hat das kleine Wörtchen gerade zwischen dem Aufruf und der Zähmung grenzenloser Vielfalt, zwischen Empfänglichkeit und Verfügung seinen Ort? Wie lässt sich der Konjunktion dann näher kommen? Mindestens diese Fragen muss sich der Text von William Gass gefallen lassen, soll sich das Wagnis, das die Knappheit seines Titels eingeht, ansatzweise vom Nachfolgenden getragen sehen. Der besagte Essay kann in sechs Teile gegliedert werden: Er beginnt (I) mit einer Untersuchung verschiedener formaler Aspekte der Konjunktion und widmet sich dann (II) der Analyse eines Satzes aus Gertrude Steins Melanctha. Auf dieser Basis fragt Gass (III) nach weitläufigeren Möglichkeiten und Aufgaben der Partikel, zuerst in systematischer Anlehnung an die vorherige Satzexegese, dann (IV) mit einem zunehmenden Loslassen der dort zugrundegelegten Anhaltspunkte. Zuletzt führt er das und (V) in das Themenfeld der Liste, um von dort abschließend (VI) an die Frage des Verhältnisses von Wort und Welt zu rühren.2
2 | Im Hinblick auf eine klare Komposition räumt Roberta Maierhofer dem Essay And eine exemplarische Stellung ein. In ihrer Dissertation versucht sie, aus den Aufsätzen und Interviews von Gass eine ästhetische Theorie abzuleiten und darzustellen. Der hier zu behandelnde Aufsatz und sein Gegenstand kommen in einem spezifischeren Sinne dabei jedoch nicht weiter zur Sprache. Vgl. Roberta Maierhofer: Die ungestillte Sehnsucht – Suche nach Ordnung in William H. Gass’ fiktosophischer Theorie der Literatur, Heidelberg 1999; der Hinweis auf And findet sich auf S. 16.
3. Das und als Generativum von Text und Welt (Gass) | 99
Das amerikanische Englisch, in dem der Text verfasst ist, ist für Gass nicht nur formale Fassung, sondern auch Nährboden und Wegweiser seiner Überlegungen. Gerade die zahlreich eingeflochtenen Beispiele und Anspielungen, die aus der Poesie und Literatur, ebenso wie aus der Alltagssprache stammen, weisen der Sprache eine aktive Rolle zu.3 Sofern eine Übertragbarkeit von and auf das deutsche und ohne Verluste gegeben scheint, ist im folgenden Text von und die Rede. In Zweifelsfällen oder offensichtlichen Spezifika des Englischen bleibt unter gesondertem Hinweis and stehen. (I) Erste Annäherungen – Verschiedene formale Aspekte des und Dasjenige und, das Gass seinem Essay voranstellt, ist so losgelöst dann doch nicht. Denn die Konjunktion fungiert nicht nur als Überschrift, sondern gibt als solche dem ersten Satz das Subjekt. In dieser Form führt Gass die Konjunktion als Gegenstand quantitativer Erhebungen ein, von Wort-Indizes aus dem Kontext der Literatur sowie Statistiken der Kommunikation im Alltag. Stets zählt die Konjunktion zu jener Handvoll Worten, die am häufigsten Verwendung finden. Gass hebt dabei hervor, dass die Kürze eines Ausdrucks für dessen Häufigkeit eine zentrale Bedingung darstellt: Je häufiger ein Wort zum Einsatz kommt, desto stärker seine Tendenz zur knappen Form.4 Die hohe Frequenz der Konjunktion korrespondiere jedoch nicht mit einer ebensolchen Hochachtung. Im Gegenteil spiele die Verschränkung von handlicher Form und häufiger Formulierung der Unaufmerksamkeit, mit der die Konjunktion für gewöhnlich über Lippen und Netzhaut läuft, eine pragmatische Begründung zu:
3 | Diesen Aspekt stellt Leo Truchlar in den Mittelpunkt einer Reihe von „Anmerkungen“ zu den Essays aus Habitations of the Word. In jenem Abschnitt, den er dabei dem Aufsatz zur Konjunktion widmet, vermerkt er zwar einen mit ihr eng zusammenhängenden „Eindruck eines ganz unhierarchischen Sprachflusses“, gar ein „Maximum an poetischer Verdichtung“, doch werden diese Beobachtungen nicht weiter untersucht. Stattdessen konzentriert sich Truchlar darauf, die Gass’sche Prosa als musikalisch respektive polyphon auszuweisen. Vgl. Leo Truchlar: Die Polyphonie des Textes. Einige Anmerkungen (en style libre bzw. unplugged) zu William Gass’ Habitations of the Word, in: Wolfgang Grosser, James Hogg u. Karl Hubmayer ( Hg.): Style: Literary and Non-Literary – Contemporary Trends in Cultural Stylistics, Lewiston/New York 1995, S. 214–216. 4 | Eine exakte Regel, etwa ein anti-proportionales Verhältnis zwischen der Häufigkeit und der physischen Länge einer Vokabel lässt sich daraus jedoch nicht ableiten. Schon die wenigen genannten Beispiele zeigen, dass and häufiger als die unbestimmten Artikel – englisch schlicht a bzw. an – oder auch or vorkommt, obwohl es diese um mindestens einen Buchstaben an Länge übertrifft.
100 | Konjunktion
Den möglichst reibungslosen Ablauf sprachlicher Artikulation würde ein je eigens bedachtes und unnötig aufhalten. Insofern kann die Unscheinbarkeit der Konjunktion durchaus als Vorteil gelten.5 Die erste Bestimmung, die ausdrücklich der Konjunktion selbst gilt, nähert sich ihr entsprechend ex negativo: „It hasn’t even a substantiating, an ennobling function like ‚the‘“ 6 (161). Allerdings lassen die Rechtfertigungen, die Gass einer solchen Haltung gegenüber der Konjunktion in den Mund legt, bereits erahnen, dass im Binnenraum jener Lücke, die das und ausfüllt, mehr enthalten sein kann, als eine gewandte Pragmatik auszulassen gedenkt. Die Kluft, die sich zwischen der Reibungslosigkeit der Ausblendung und der Erhebung der Konjunktion zum Titel auftut, überbrückt Gass nicht mit einem Satz. Die erste Annäherung geschieht vermittelt über die beiden Formen des einfachen Artikels – das bestimmte the und das unbestimmte a –, wie sie bereits im Rahmen der Wortzählungen im näheren Umfeld der Konjunktion standen. In James Joyces Finnegans Wake spielen die Artikel Gass zufolge nicht nur die gewohnte Rolle, in der Bindung an zugehörige Nomina ana- oder kataphorisch zu fungieren, das heißt auf Bestimmungen zurück- oder entgegenzuweisen.7 Indem etwa der kataphorische Artikel a in
5 | Demselben Grund kann die geringe Aufmerksamkeit geschuldet sein, die dem hiesigen Essay zuteil wurde. Etwa widmet Brian W. Shaffer im Rahmen einer Besprechung der einzelnen Essays des Bandes Habitations of the Word dem vorliegenden demonstrativ nur einen Satz: „The essay And investigates – ad nauseam, I fear – the different possible senses, uses, and meanings of that word in English.“ (The Journal of the Midwest Modern Language Association, Vol. 18, No. 2, 1985, S. 34) Affirmative Bezugnahmen fallen nicht minder knapp aus: Wenn etwa Hartwig Isernhagen And neben Emerson and the Essay als „wichtigeren“ Aufsatz von Habitations of the Word hervorhebt, geht er doch in keinem weiteren Satz auf dessen Spezifik ein. ( Ders.: William H. Gass – Ästhetische Theorie und erzählerische Praxis zwischen Modernismus und Postmodernismus, in: Gerhard Hoffmann ( Hg.): Der zeitgenössische amerikanische Roman, Band 3, München 1988, S. 188). 6 | Nachdem die Übersetzung bereits als erster Schritt einer Interpretation gelten kann und bislang keine Übertragung des Gass’schen Essays ins Deutsche vorliegt, werden im Folgenden alle zitierten Passagen in eigener Übersetzung angeführt: „Es [das und ] hat nicht einmal eine bündelnde, gar eine auszeichnende Funktion wie die bestimmten Artikel der/die/das, [. . .].“ 7 | Zum Unterschied von ana- und kataphorisch: Während „The word . . .“ in irgendeiner Form auf Bestimmungen verweist, die bereits im Vorfeld der Aussage Geltung besitzen, stellt dieser Rückbezug für „ A word . . .“ nicht im gleichen Maße eine Bedingung dar. So richtet sich der bestimmte Artikel eher an Vorherigem, der unbestimmte eher am Folgenden aus. Vgl. Harald Weinrich: Textgrammatik der deutschen Sprache, unter Mitarb. v. Maria Thurmair u.a., Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1993, S. 407ff.
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Serien auftritt, fungiert er zugleich als Taktgeber einer Sprache, die sich zunehmend dem Rhythmus ihrer selbst überantwortet: „A way a lone a last a loved a long the . . .“. Nach Maßgabe der Musikalität ist es von a zu and nicht weit und entsprechend wird Gass bei Joyce fündig: „And it’s old and old it’s sad and old it’s sad and weary I go back to you my cold father, my cold mad father, my cold mad feary father . . .“. Im Rückbezug auf den Artikel bemerkt Gass dazu eher beiläufig: „‚and‘ had been allowed to perform an equally rocking rhythmical function [. . .].“ 8 (161) Indem die Konjunktion in einem Satz mehrfach wiederkehrt und sich jene Serie mit nur leicht variierten Zwischengliedern abermals wiederholt, entstehen sich wandelnde Klangbilder, die ganze Wörter auf einzelne Vokale verdichten und über später hinzutretende Konsonanten wieder ausweiten: Old rundet sich iterativ zu O, bevor cold den Prozess wieder umkehrt und zurückholt und ausbreitet, was sich zuvor vokalisch bündelte. So sehr sich diese alternierenden Effekte einem freien Spiel der Worte zu verdanken scheinen, so sehr ist es das und, das den musikalischen Lauf initiiert und ihm eine tragende Struktur verleiht. Mit jenem strukturgebenden Verfahren – der Rhythmisierung – erhält die Konjunktion bei Gass eine erste positive Funktion. Die Entfaltung dieser innersprachlichen Eigendynamik bezieht er an dieser Stelle jedoch nicht auf die Konjunktion zurück, sondern rechnet sie Joyce an.9 In einem nächsten Schritt gibt Gass zu bedenken, dass die Unscheinbarkeit des und nicht zwingend aus der Absenz von Bemerkenswertem herrühren muss. Er räumt zwar offen ein, dass die Partikel gemeinhin kaum eine eigene Sichtbarkeit besitze und mitunter gar unsichtbar sei; allerdings könne es sich dabei gleichsam um ein Übergehen handeln. Die Konjunktion wäre dann eine Unbekannte, die nicht unbekannt bleiben muss. Über ihre Funktionen kann vielleicht Weiteres abgeleitet werden:
8 | „[. . .] war es dem und vergönnt, eine ähnlich musikalische Rolle zu spielen [. . .].“ 9 | Nachdem Gass hier auch nicht mehr gesondert auf die Richtungsbezüge von Artikel und Konjunktion zu sprechen kommt, ist vorerst am Rande zu vermerken, dass die Eigenschaft des Kataphorischen trotz aller sonstigen grammatischen Unterschiede auf beide Partikeln zutrifft: Sowohl Artikel, als auch Konjunktion teilen einen kataphorischen Charakter, indem sie notwendig etwas nach sich ziehen müssen, auf das sie für sich genommen vorausdeuten: Kein Satz kann auf sie enden und gleichzeitig als vollständig gelten.
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„‚and‘ no longer appears to be ‚and‘ at all, because ‚and‘ is, as we said, invisible, one of the threads that holds our clothes together: what business has it being a pants leg or the frilly panel of a blouse?“ 10 (161) Zwischen dem konzisen, negativen Prädikat unsichtbar und den Metaphern der Bekleidung, von Hosenbein und Zierkragen, die als Bilder nichts – und als letztes ihre Sichtbarkeit – verneinen können, besteht eine Spannung, die vom Motiv des Fadens vermittelt wird.11 Diese Vermittlung wird möglich durch den Modus der Implizität, den der Faden ins Bild setzt. Derselbe Modus gibt der Frage, worin die spezifischen Aufgaben des und bestehen, eine Grundlage. Die Konjunktion, der die Veranschaulichung letztlich gewidmet ist, erhält darüber eine zweite positive Bestimmung hinsichtlich ihrer Funktionalität: Als einer der Fäden, der unsere Kleidung zusammenhält, steht das und im Dienst einer größeren Form, eines Satzes bzw. einer Aussage, und hat darin eine eher implizite, aber irreduzible Funktion in der Koordination und Konjunktion, also im Ordnen und Zusammenbringen der stärker expliziten Bestandteile. Eine offene Naht bringt ein Kleidungsstück nicht zwingend um seinen Nutzen, aber gewiss ein Stück weit um seine Belastbarkeit, seine Schutzfunktion und seine Eleganz. Entsprechend spricht Gass von business und nicht von task, und suggeriert damit mehr einen Komplex denn eine einzelne Aufgabe. Im Bild reicht das Aufgabenfeld von tendenziell eher pragmatischen bis zu betont ästhetischen Belangen, von Hosenbein bis Zierkragen. Von einer Mehrzahl funktionaler Möglichkeiten geht Gass auch im Folgenden aus, wenn er die Frage nach den Aufgaben des und nicht nach einer Richtung, sondern mit einem Spektrum beantwortet. Aufgespannt wird dessen Breite vom Gegensatzpaar „unwatched“ und „watched“: Auf der einen Seite wird das und dezidiert in den Blick genommen, auf der anderen Seite bleibt es unbemerkt. Für den Fall, dass die Konjunktion nicht beachtet wird, bleibe sie ohne jede weitere Bedeutung, „meaningless“. Wird ihr dagegen Aufmerksamkeit entgegengebracht, beginne sie bald, nicht nur eine bestimmte, sondern vielerlei Bedeutungen zu tragen. Gass wechselt diesbezüglich in eine affirmativ-visionäre Tonlage und stellt im selben Zug eine Vielzahl von unterschiedlichen, darunter „grundlegenden“ Funktionen des und in Aussicht. Mit der
10 | „und wird alles andere als bloß und sein, weil es, wie gesagt, zwar unsichtbar, aber doch einer der Fäden ist, der unsere Kleidung zusammenhält: Was ist seine Aufgabe, im Fall, es steckt in einem Hosenbein oder im Zierkragen einer Bluse?“ 11 | Zum Aspekt piktoraler Nicht-Negativität vgl. Martina Heßler u. Dieter Mersch: Bildlogik oder Was heißt visuelles Denken? in: Dies. (Hg.): Logik des Bildlichen – Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009, S. 21ff.
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Konjunktion verbindet sich für ihn das Versprechen, nicht weniger als ein Lehrstück in Sachen Sprache abgeben zu können. In dieser Rolle spricht er es dem und zu, weit über die Grenzen der Grammatik hinaus zu wirken: „and it has metaphysical significance of an even salutary sort.“ 12 (161). Unter dem Vorzeichen dieser hypothetischen Optionen beginnt Gass nun im eigentlichen Sinne, die Konjunktion zu untersuchen. Nach den anfänglich noch vergleichsweise losen Beobachtungen – darunter die beiden ersten funktionalen Charakterisierungen der Rhythmisierung und des impliziten Zusammenhaltens –, nimmt sich Gass als erstes der stimmhaften Hervorbringung der Konjunktion an. Nicht ohne Sinn für Details zeichnet er die motorisch-anatomischen Abläufe nach, die nötig sind, um die Konjunktion als Laut hervorzubringen. Schließlich weitet er die Betrachtung auch auf die Aussprache der Artikel aus. Anders als die beiden einfachen Artikel unterliege die Konjunktion im Vergleich so gut wie keinen phonetischen Varianzen. Einzig die Dauer ihrer Aussprache scheint einen Spielraum für Abwandlungen zu bergen: „‚aah-nn-duh‘ – where the ‚duh‘ is like a lariat lassoing the next word, filling the voice stream, allowing one’s thought to continue, inhibiting interruptions [. . .].“ 13 (162) Insofern jenes duh – im Deutschen wie im Englischen – elementarer Bestandteil der Konjunktion ist, gelten die ihm hier zugesprochenen Eigenschaften in gleichem Maße für die Konjunktion selbst. Einmal mehr beiläufig bescheinigt Gass dem und darüber eine dritte, positiv bestimmte Funktion: Nach der Rhythmisierung, sowie dem impliziten Ordnen und Zusammenhalten folgen nun Anschluss und Fortsetzung. Differiert die zweite, primär konjunktionale Funktion in einem modalen Sinn, das heißt in der Art, wie sich ihre Momente auf die gemeinsamen Elemente beziehen, teilt sich die dritte Funktion nicht hinsichtlich ihres Modus, sondern bezüglich der Angriffspunkte auf. Aus diesem Grund lassen sich Anschluss und Fortsetzung nicht aufeinander reduzieren: Auf der einen Seite wird etwas zuvor Entfaltetes (erster Bezug) geöffnet, auf der anderen Seite gilt jene Öffnung einem weiteren Wort (zweiter Bezug). Beide Referenzen treten in einen wechselseitigen Bezug ein. In dem Maße, in dem sich das und dabei für ein Weiter engagiert – „lassoing. . . , filling. . . , allowing. . .to continue“ –, wehrt es auch Alternativen ab – „inhibiting interruptions“ –, unter die nicht nur Unterbrechungen zählen, wie Gass anführt, sondern auch ein gänzlicher Abbruch. Noch immer unter dem Vorzeichen der auf duh ausklingenden Konjunktion fungiert der
12 | „und es hat metaphysische Bedeutung von geradezu heilsamer Wirkung.“ 13 | „‚aah-nn-duh‘ – wobei das ‚duh‘ wie eine Schlinge auf das nächste Wort angesetzt ist, den Stimmfluss ausfüllt, dem Gedanken seinen Lauf lässt und Unterbrechungen abhält [. . .].“
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Ausdruck inhibiting nicht allein restriktiv, sondern führt auf seiner Kehrseite gerade jenen Zug ein, der mit dem Terminus des Kataphorischen bereits thematisch wurde (vgl. S. 100): In und mittels der Konjunktion teilt sich eine Forderung mit, die in Leserichtung noch einzulösen ist. Bereits die Metapher des ausgeworfenen Lassos impliziert diese nachdrückliche Direktive, insofern das lose Ende des Seils, sobald es die Form einer Schlinge erhält, nach einem Ziel verlangt. Diese Implikation wechselt schließlich von der metaphorischen auf die logische Ebene: Sobald sich die geäußerte Erlaubnis – „allowing one’s thought to continue“ – in eine Reihe gestellt sieht mit dem Verbot, das Unterbrechungen ausschließt, stellt das Erlaubte mehr als eine bloße Möglichkeit dar: Die Fortsetzung wird zum Gebot, zur Forderung.14 Des Weiteren illustriert das Bild der fliegenden Fangleine, das mit der kontinuierenden Funktion einhergeht, noch eine weitere Eigenschaft, die die Arbeit der Konjunktion an Anschluss und Fortsetzung betrifft: die Überbrückung mittels Flug, das heißt über und durch einen luftigen Zwischenraum. In jenem Intervall treffen sich Lasso und Konjunktion, insofern beide bis dorthin nur einseitig gebunden sind. Auch wenn Gravitation und Grammatik soweit übereinkommen, den Flugobjekten nicht gerade viel Zeit in der Luft zu lassen, macht das Bild des Lassos dennoch deutlich, dass dem Fliegen ein gewisser eigener Spielraum nicht zu nehmen ist. Rein sprachlich ist dieser kurze Augenblick – Gass hat es bereits mehrfach hervorgehoben – nicht dafür prädestiniert, eigens wahrgenommen und bedacht zu werden. Die Schlinge, die gerade aus einer Hand in die Luft entlassen wurde, führt als Bild jedoch vor Augen, was kein Satz unter Maßgabe seiner Vollständigkeit vermag: bei einem und stehenzubleiben. Entsprechend wertvoll ist der Hinweis, den die Metapher der Flugleine auch über die Ausführungen von Gass hinaus gibt: Jede bereits gefügte und fest verbundene Konjunktion muss einmal einen solchen Moment durchlaufen haben, in dem das und bereits auf dem Weg war, ohne sich jedoch schon seines Ziels sicher zu sein. Auf diese zwischenzeitliche Schwebe sowie den damit zusammenhängenden, noch nicht weiter bestimmten intermediären Raum ist im Folgenden verstärkt zu achten. Vor dem Hintergrund der konjunktionalen Funktion des und, die gemäß dem Bild des Fadens vor allem implizit wirkt, lässt sich dazu bereits an dieser Stelle vermerken, dass die kontinuierende Funktion der Konjunktion auch explizitere Züge einräumt.
14 | Wie Gass nahelegt, aber nicht ausführt, findet sich das treibende Moment der Konjunktion nicht nur auf metaphorischer und logischer Ebene, sondern bereits in pneumatisch-phonetischer Hinsicht: Jenes duh, auf dem das und ausklingt, geht aus einer Spannung der Zunge hervor, die ihren wohl größten Gegensatz im letzten Ausatmen eines Sterbenden findet. (Ein Dank an Matthias Korn für den Hinweis.)
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Unter die formalen Gegebenheiten der Konjunktion rechnet in dieser Richtung – neben ihrem lautlichen Auftreten – natürlich ihre äußere Erscheinung als geschriebenes Wort. Gemäß der Überlegung, mit der Gass die verschiedenen quantitativen Erhebungen zu Beginn seines Textes zusammenbrachte, besteht zwischen der Länge eines Wortes und der Häufigkeit seiner Anwendung ein wechselseitiges Begünstigungs-, wenn nicht gar ein Bedingungsverhältnis. In Einklang damit neigen die Abwandlungen, die Gass für schriftliche Notationen der Konjunktion anführt, ausnahmslos zur Abkürzung (an’, ’n, y). Das Verhältnis von Wortkörper und Häufigkeit eröffnete für sich allerdings noch keine inhaltliche Dimension. In dieser Hinsicht schreibt Gass der Konjunktion nun eine durchgehende semantische Wechselhaftigkeit zu: „there is no single meaning (AND) which remains tethered to the token.“ 15 (162) Demnach korreliert mit formaler Kürze und hoher Frequenz keine konstante Inhaltlichkeit, sondern stattdessen ein Moment anhaltender Bewegung und Ungebundenheit. So klar die Form, so fließend der Inhalt. Selbst die Metaphorik von Gurt und Leine (tether), die kurz zuvor – in Gestalt des Lassos – der Beschreibung und Analyse der funktionalen Implikationen der Konjunktion gute Dienste erbrachte, scheint an dieser Stelle nicht über eine bloße Kontrastfolie hinauszukommen: So gut sich die Konjunktion vormals mit dem Lasso verstand, so ungern scheint sie sich selbst zum Objekt eines solchen machen lassen zu wollen. Richtet man die Fangleine auf das und selbst, findet sie dort keinen rechten Halt. Laut Gass bleibt nichts von dem, was der Konjunktion angehängt wird, lange haften oder vermag es gar, sich nachhaltig an ihr festzumachen.16 Zugleich geht aus der Aussage von Gass hervor, dass das Tragen von Bedeutung für das und nicht ausgeschlossen ist. Allein das Verbleiben eines Inhalts wird unter seinem Signum in Abrede gestellt. Dann stellt sich die Frage, wie die Rolle der Konjunktion in semantischer Hinsicht näher zu bestimmen ist. Wie ist eine nähere Untersuchung möglich, wenn sich keine bleibenden Inhalte mit der Konjunktion verbinden lassen? Gass versucht im Folgenden den Dualismus zu verlassen, der alternativlos zwischen den Prädikaten bedeutungstragend und bedeutungslos unterscheidet. Dafür bedient er sich dem Motiv, dass sich die Konjunktion während ihres Auftritts versteckt. Neben dem, dass die Konjunktion dabei eine aktive Rolle einnimmt, bringt es ein Versteck mit sich, dass dort etwas gegeben sein kann, was sich nicht unmittelbar ein-
15 | „[. . .] es gibt keine einzige Bedeutung (UND), die an das kleine Buchstabenbündel gebunden bliebe.“ 16 | In dieser Linie, ausgehend vom Aspekt der Bedeutungskonstanz und den Metaphern von Lasso und Leine, liegt ein Problem, das sich als Frage nach der Selbstbezüglichkeit der Konjunktion allgemeiner reformulieren lässt: Wie verhält sich die Partikel gegenüber sich selbst? Ist sie sich Option oder Grenze?
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sehen lässt. Zwischen Bedeutung und Bedeutungslosigkeit eröffnet sich ein Bereich des Möglichen. In diesem Geltungsraum kann ein Inhalt vorliegen, ohne vorliegen zu müssen. Vor der Folie dieser Offenheit schließt Gass auf eine Vielzahl von Bedeutungen: „the word by itself in the open is manifold in its meanings“ 17 (163). Diese Mehrdeutigkeit decke sich jedoch nicht mit derjenigen von Begriffen, denn der Konjunktion lägen nicht verschiedene, parallele Bedeutungen in eingegrenzten bzw. eingrenzbaren Rubriken zugrunde. Vielmehr sei gerade die Nichtvorhandenheit einer vorrubrizierten, internen Ordnung für das und bezeichnend. Ähnlich verhält es sich Gass zufolge bei Präpositionen: „Such words are constantly in transit between meanings, their very indeterminancy [extends] an invitation to their contexts to seize and to shape them [. . .].“ 18 (163) Die Konstanz erfährt als Ordnungsfigur im Kontext der Konjunktion also keine generelle Absage. Vielmehr liegt ihr Einfluss auf einer anderen Ebene als der im engeren Sinne semantischen. Nicht die Bedeutungswiedergabe, sondern die Weitergabe derselben stellt Gass zufolge eine Eigenschaft dar, die der Konjunktion mit anhaltender Gültigkeit zugeschrieben werden kann. Im Licht jener konstanten Varianz ändert sich die Unbestimmtheit des und: Sie repräsentiert nunmehr keinen Mangel, keine unmöglich aufzuwiegende Unterbestimmtheit, sondern öffnet einen Möglichkeitsraum. Die Stelle der Konjunktion ist demzufolge kein Nichts, das sich verlustfrei kürzen ließe, sondern eine Leere, die ihrem Kontext ein Mehr an Platz zur Verfügung stellt.19 Dieser Raum zeichnet sich durch Zugänglichkeit aus, er ist anschlussfähig und formbar. Dass er jedoch nicht einfach offen steht, sondern eigene Schub- und Zugkräfte birgt, zeigte sich bereits in Ansätzen. Im Bild der Einladung, wie es Gass formuliert, muss entsprechend mitgedacht werden, dass sich eine solche, einmal abgeschickt, nicht mehr ohne Umstände zurücknehmen lässt.
17 | „[. . .] das Wort birgt auch für sich selbst betrachtet eine offensichtliche Vielfalt an Bedeutungen [. . .].“ 18 | „Solche Wörter sind durchgängig auf dem Weg zwischen Bedeutungen, ihre ausgesprochene Unbestimmtheit [ist] eine Einladung an ihren Kontext, in sie einzudringen und sie zu formen [. . .].“ 19 | Eine ähnliche Beobachtung findet sich bei Roland Harweg, der es lokalen Verhältniswörtern, also Präpositionen, zuspricht, den Raum zu leeren, der ihren Bezugselementen im Folgenden dann zukommt. Vgl. ders.: Studien zu Konjunktionen und Präpositionen, Aachen 2010, S. 11f.
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Ein letzter formaler Aspekt, den Gass im Rahmen des ersten Teils seines Essays anführt, gilt schließlich der Etymologie der Konjunktion. Auch hier sieht Gass enge Verbindungen zur Präposition. Ohne die Angabe von Quellen geht er soweit, in and ursprünglich selbst eine Präposition zu sehen, die sich von end im Sinne einer Grenze oder eines Widerstandes ableite. Diese präpositionale Natur verortet er noch vor die Zeit, in der schließlich eine ganze Reihe verwandter Formen, die unter anderem auch das neuhochdeutsche und enthält, zu and verschmolzen sind. Seither dürfe die Konjunktion als vergleichsweise neutral, als „relatively neutral“ gelten (163).20 In dieser Neutralität, darauf verweist Gass nochmals, weiß sich allerhand zu verstecken. (II) Satzanalyse Teil 1 Nachdem Gass die vielfältigen Möglichkeiten der Konjunktion – „our small word’s true and larger nature“ (163) – bis zu diesem Punkt vor allem in Aussicht stellt, verspricht die folgende Analyse eines Beispiels Konkretisierung. Dafür zieht Gass einen Satz aus Gertrude Steins Melanctha heran, der die Konjunktion sechsmal enthält. Er nummeriert die Konjunktionen im Zitat und untersucht die Stellen im Einzelnen und der Reihe nach. „She tended Rose, and1 she was patient, submissive, soothing, and2 untiring, while the sullen, childish, cowardly, black Rosie grumbled and3 fussed and4 howled and5 made herself to be an abomination and6 like a simple beast.“ 21 (163) Das erste und sieht Gass nicht primär auf „She“, das weibliche Personalpronomen bezogen, sondern vorrangig in Beziehung zum Verb des ersten Satzteils. Indem die Konjunktion dreierlei adjektivische Bestimmungen an die angeführte, sorgende Tätigkeit anschließt, erweitert und verfeinert sie deren Geltungsbereich. Auf dieser Grundlage charakterisiert Gass das und1 als adverbial. Das zweite und steht zwischen den letzten beiden Adjektiven der genannten Reihe. Gass zufolge geht es dabei um die Herstellung eines Gleichgewichts. Entsprechend
20 | Nicht die Provenienz aus dem Stamm der Präpositionen, aber doch eine Vergangenheit als weniger neutrale, denn unterordnende, vorrangig konditionale, konzessive, adversative oder auch temporale Konjunktion führt das Etymologische Wörterbuch des Deutschen an. Vgl. http://www.dwds.de/?view=1&qu=und (10.12.2014). 21 | „Sie pflegte Rose und1 war sehr geduldig, unterwürfig, beschwichtigend und2 unermüdlich, während die mürrische, kindische, feige, schwarze Rosie murrte und3 sich aufregte und4 schrie und5 sich selbst zu einem Scheusal entwickelte und6 zu einem richtigen Biest.“
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spricht er die Konjunktion als „the ‚and‘ of balance and coordination“ an (164). Den Maßstab des Austarierens liefern formale Aspekte der miteinander verbundenen Elemente: Demnach sprechen sowohl die gemeinsame Wortart als auch deren Bezug auf ein gemeinsames Subjekt für Ausgeglichenheit. Die Zusammenführung von „soothing and untiring“ steht jedoch nicht für sich, sondern ist Teil einer Serie, die das zweite von Gass genannte Stichwort, die Koordination, sinnfällig werden lässt. Die Konjunktion der beiden Adjektive ist der abschließende Teil einer Reihe, die entsprechend die Gefahr neuerlichen Ungleichgewichts impliziert. In einem kleinen Schaubild ersetzt Gass das und durch ein Symbol, das – unter die Grundlinie der Adjektivreihe gesetzt – als Fußpunkt einer Wippe fungiert. Die in dieser Form veranschaulichte, starke Asymmetrie – drei Worte links zu einem rechts – stellt dem und die Aufgabe, ein entsprechendes Gegengewicht bereitzustellen. Mittels Konnotationen wie und [letztlich], und [im Speziellen] oder und [vor allem] räumt es Gass der Konjunktion ein, die mitunter gehörige Fragilität begrifflicher Gleichgewichtslagen zu mildern. Einen Garanten der Balance könne das und jedoch nicht abgeben. Dem zweiten und stehen des Weiteren nicht allein konnotativ-semantische Mittel zur Verfügung, um einem Ausgleich zu dienen. Auch auf syntaktischer Ebene rechnet es Gass dem Vermögen der Konjunktion an, über seinen Zwischenraum hinaus zu wirken. In dieser Hinsicht verweist er auf die enge Verbindung, die das Füge- und Bindewort mit der Interpunktion durch Kommata unterhält. So sei es in der Art, wie es grammatisch aus der Reihe fällt – eine Konjunktion unter vier Adjektiven –, schon in den ersten Wortintervallen präsent, insofern die Kommata, die ihm dort vorausgehen, als nahe Verwandte gelten können. Im Geiste der Konjunktion, aber ohne ihren Körper, operiere der kleine, gekrümmte Strich als trennendes wie verbindendes Element (vgl. 164). In dieser Form finde Vermittlung auch schon im Vorfeld der explizit genannten Konjunktion statt, was die Gesamtanlage der Adjektivreihe seinerseits ausbalanciert.22
22 | Die Antiproportionalität zwischen Sichtbarkeit und Vermittlungsfunktion findet im Komma ein nochmals extremeres Beispiel als im und. In diesem Verhältnis begegnet ein Grundgedanke der Medientheorie: Je weniger von einem Medium selbst wahrzunehmen ist, desto besser, das heißt störungsfreier kann es seiner Aufgabe der Vermittlung nachkommen. Dieser Zusammenhang ist nicht unproblematisch. Eine erfolgreiche Vermittlung setzt demzufolge eine entsprechende Unkenntlichkeit des vermittelnden Mediums voraus. Wie sollte letzteres dann allerdings jemals Gegenstand von Betrachtung und Reflexion werden können? „Entweder ist daher der Medien-‚Begriff‘ kein Begriff, sondern eine paradoxe Metapher, die sich jeder Bestimmung sperrt (dann kann er aber nicht – wie es zu den Grundpostulaten philosophischer Medientheorie gehört – ein ‚Apriori‘ sein), oder aber man behauptet seine Apriorität – dann
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Nach den Aspekten von Konnotation und Interpunktion, die einer Reihung Struktur und Gewichtung vermitteln, kommt Gass gesondert auf die Logik der Verknüpfung zu sprechen. Unter Logik versteht er vor allem das Verfahren der Analyse, das seine Gegenstände so weit als möglich in ihre Bestandteile zerlegt. Gass zufolge werden dabei die zugehörigen Zusammenhänge erst nach dem Betrachten und Ordnen der Einzelheiten miteinbezogen. In diesem zweiten, synthetisierenden Schritt hat die Konjunktion ihren Ort: „To the logician [. . .] a connective like ‚and‘ [. . .] asserts the joint dependency of every element in the pursuit of truth.“ 23 (165) Allerdings führt Gass den einbezogenen Aspekt der Wahrheit nicht weiter aus.24 Das grob skizzierte Verfahren „der Logik“ kontrastiert Gass nun mit alltäglichen Abläufen, die ihm zufolge – unter Maßgabe der Nützlichkeit – abkürzen und zusammenfassen, sobald die Möglichkeit dazu besteht. Ob die genannte Wahrheit auch für das tagtägliche Vorgehen den leitenden Parameter darstellt oder nicht, führt Gass nicht eigens an. Dafür nimmt er sich vor, die Logik ihres eigenen Kardinalfehlers zu überführen: „The logician’s assertion of mutual dependency of parts where truth is concerned is paradoxical, and tells us a good deal about ‚and‘, because ‚and‘, whenever it interposes its body, separates each quality from the others and insists that we examine them one at a time, as if they might display themselves on different days or places [. . .].“ 25 (165)
bleibt jedoch unklar, wie er überhaupt kenntlich gemacht und wie auf ihn reflektiert werden kann.“ ( Dieter Mersch: Medientheorien zur Einführung, Hamburg 2006, S. 221f ) Diese Problemstellung zeigt sich im Bezug auf das und etwa darin, dass es in substantivierter Form zwar zum Gegenstand von Aussagen erhoben werden kann, gleichzeitig aber seine charakteristische Funktion, das Verknüpfen, einbüßt. 23 | „Für den Logiker [. . .] machen Verbindungsglieder wie das und [. . .] die wechselseitige Abhängigkeit jedes einzelnen Elementes im Streben nach Wahrheit geltend.“ 24 | Es wird aus diesem Grund nicht deutlich, worauf Gass das Kriterium der Wahrheit bezieht – ob auf eine einzelne Aussage oder den Zusammenhang mehrerer Aussagen. Deshalb sei am Rande vermerkt, dass die Wahrheit von Einzelaussagen kein logisches Thema darstellt: „Die Logik befasst sich mit der Beziehung zwischen Prämissen und Konklusion und nicht mit der Wahrheit von Prämissen.“ (Wesley C. Salmon: Logik, übers. v. Joachim Buhl, Stuttgart 1983 [Englewood Cliffs, New Jersey 1973], S. 12) 25 | „Die Behauptung einer gegenseitigen Abhängigkeit der Einzelteile, die der Logiker aufstellt, sobald es um Wahrheit geht, ist paradox und sie bringt bezüglich des und einiges ans Licht, weil und, wann immer es sich dazwischenstellt, jedes Element von allen anderen trennt und darauf beharrt, dass wir jedes für sich gewahren, als ob es zu unterschiedlichen Tagen oder Orten gehören würde [. . .].“
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Dass die trennenden Effekte der Konjunktion die verbindenden Tendenzen logischer Schlussfolgerungen an Kraft übersteigen und letztere schließlich in den Selbstwiderspruch treiben, ist jedoch mit der vorherigen Gegenüberstellung von logischer Extension und alltäglicher Reduktion weder erwiesen noch begründet. In zweierlei Hinsicht ist Gass zu entgegnen: Einerseits geben das Verhältnis von Anspruch und Methode innerhalb der Logik sowie die Angemessenheit und Funktionalität alltäglicher Pragmatik zwei sehr unterschiedliche Probleme auf; andererseits fügt sich das und mit Leichtigkeit einmal mehr zwischen jene separierten Bereiche, um sie trotz aller Differenzen zu vermitteln.26 Allerdings legt Gass noch eine Präzisierung zum „und des Logikers“ nach. Er gibt zu bedenken, dass die Konjunktion in einem rein logischen Sinne nicht wiederzugeben vermag, dass Zusammenstellungen auch als Untergruppierungen oder in einer ganz bestimmten Reihenfolge angelegt sein können. Mathematisch gesprochen, fällt das logische und Gass zufolge sowohl unter das Assoziativ- als auch das Kommutativgesetz: Es verhält sich gegenüber Abstufungen und festgelegten Anordnungen egalitär.27 Einige Beispiele, die Gass dazu anführt, vermögen es allerdings nicht, einen Nachweis darüber zu erbringen, dass die Logik jenseits schlichter Addition keinen weiteren Modus der Konjunktion kennen würde. Vielmehr tritt ein Dilemma zu Tage, das unweigerlich entsteht, glaubt man sich von der Logik erfolgreich distanzieren zu können. In unfreiwilliger Beispielhaftigkeit führt Gass vor, dass man sich nicht zur Logik verhalten kann, ohne von ihr Gebrauch zu machen. Der Ver-
26 | Im Rückbezug auf die Aussagen, die Gass zur Logik macht, stellt sich sogar die Frage, ob die trennende Funktion der Konjunktion dem logischen Verfahren nicht gerade zuarbeitet, anstelle es zu irritieren. Das Problem der Gass’schen Gedankenführung scheint hier in einer Verstrickung von räumlichen und zeitlichen Ordnungsfiguren zu liegen: Während die Logik nach seiner Schilderung ihre Gegenstände räumlich auffächert, ordnet sie den Aspekt der Zusammengehörigkeit zeitlich nach, das heißt sie tut so, als ob sie die Zusammenhänge vorerst ausblenden könnte, um sie anschließend, in einem zwangsläufig vergegenständlichenden Sinn, wieder hinzuzufügen. Zuerst wird die Konnektivität implizit negiert, zuletzt wird sie explizit pauschalisiert. So zumindest könnte dann ein präzisierter Vorwurf lauten. 27 | Das Assoziativgesetz regelt die Indifferenz von Untergruppierungen: (α ∧ β ) ∧ γ ≡ α ∧ β ∧ γ Das Kommutativgesetz tritt für die Indifferenz von Reihenfolgen ein: α ∧β ≡ β ∧α Vgl. etwa Wolfgang Rautenberg: Einführung in die Mathematische Logik, Braunschweig/Wiesbaden 1996, S. 9.
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such einer Abgrenzung und Distanzierung ist davon selbstredend nicht frei. Logisch gesprochen geht Gass so vor, dass er aus dem Zuständigkeitsbereich der Prädikatenlogik heraus, also aus dem Kontext einzelner Aussagen („Melanctha was soothing“), den notwendigen Übergang zur Aussagenlogik, also der Untersuchung der Beziehung zwischen mehreren Aussagen („she was soothing“ and „she failed to soothe“), als einen logischen Mangel auszuweisen versucht. Wie er selbst wider Willen vorführt, schließen sich diese Geltungsbereiche jedoch nicht aus, sondern lassen sich stets und immer wieder aufs Neue miteinander verkoppeln (and).28 So undifferenziert seine Auffassung von Logik, so wenig haltbar scheint seine Grenzziehung zwischen einem „und des Logikers“ und einem und, das in der Konsequenz jenseits dessen seinen Ort hat. Die trennende Funktion der Konjunktion, anhand der Gass die Ordnungsschritte der Logik als unüberwindbar separiert darstellt, lässt sich nicht davon lösen, dass auch verbindende Kräfte an ein und derselben Stelle walten. Unflexibel und einseitig ist nicht die Logik, sondern der Gass’sche Logikbegriff, dem es noch dazu an Konsistenz mangelt. Denn gerade der Gebrauch, den er selbst im Rahmen seiner kritisch intendierten Anmerkungen von der Konjunktion macht, zeigt deutlich, wie sehr es konjunktionaler Logik entspricht, zwischen den Dingen zu stehen, sie gleichzeitig aber auch miteinander zu verbinden und in Wechselwirkung treten zu lassen.29 Die trennenden Kräfte der Konjunktion in Abgrenzung von der Logik über ihr Verbindungspotential bzw. die Wechselseitigkeit von Trennen und Verbinden zu stellen, ist nicht überzeugend.
28 | Dabei muss die Konjunktion nicht zwingend direkt genannt werden. Gass selbst räumt es dem und wenig später ein, dass es selbst dort, wo es nicht explizit vorhanden ist, implizit vorausgesetzt werden kann und wohl auch muss, insofern es sich bei der betreffenden Stelle um irgendeine Form von überbrücktem Zwischenraum handelt. Nach seiner eigenen Formulierung füllt die Konjunktion jene Räume als Organisationsprinzip aus: „as a recurrent idea, a rule of organization“ (166). Gass hätte gut daran getan, diese „Regel der Organisation“ auch im Kontext der formalen Logik zu bedenken. 29 | Heidi Ziegler erliegt der Gass’schen Rhetorik, wenn sie es ihm gesondert anrechnet, den „minimierenden und limitierenden Effekt“ bemerkt zu haben, den Logik und Grammatik „auf die Entfaltung der Bedeutung von Wörtern“ haben sollen. (Einleitung zu William H. Gass: Wie man aus Wörtern eine Welt macht, hrsg. v. Heide Ziegler u. Susan Bernofsky, übers. v. Silvia Morawetz, Salzburg/Wien 1995, S. 9) Um auf eine Gegenposition hinzuweisen: „Die besseren Logiker und Mathematiker verstehen sich nicht als Mechaniker, sondern als kreative Akrobaten, die mit selbstgewählten freien Regeln spielen. Aber die Strenge ihrer freien Regeln ist nur scheinbar selbstgewählt. Unbewusst lotet ihre Akrobatik die reine Bewusstseinsmechanik aus.“ (Ulrich Blau: Die Logik der Unbestimmtheiten und Paradoxien, Heidelberg 2008, S. 12)
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Das dritte und folgt nicht unmittelbar auf die Serie, an deren Balance und Koordination das zweite und arbeitete: „[. . .] während die mürrische, kindische, feige, schwarze Rosie murrte und3 sich aufregte [. . .].“ Den Übergang zu dieser Passage regelt stattdessen die temporale Konjunktion während, die einen Rahmen aufspannt, in dem sich das nächste und befindet. Die zugehörigen Relata stellen in diesem Fall Verben dar, die ihr Subjekt nicht mehr im weiblichen Personalpronomen der vorhergehenden Satzteile haben, sondern in Rosie. Die beiden durch das dritte und verbundenen und an Rosie adressierten Tätigkeiten sind ihrerseits Bestandteile einer Reihe, die hier erst ihren Anfang nimmt. Entsprechend muss man den weiteren Verlauf der während-Klammer hinzuziehen, um die Rolle von und3 angemessen betrachten zu können: „[. . .] murrte und3 sich aufregte und4 schrie und5 sich selbst zu einem Scheusal entwickelte [. . .].“ Offensichtlich unterhalten die Konjunktionen im Kontext der aufgereihten Verhaltensformen eine Kooperation. Gass nimmt die Konjunktionen drei und fünf samt ihrer Bezugselemente in ein neues Schaubild auf, in dem anstelle des und wieder ein symbolisch abgesetzter Fußpunkt erscheint. Da es sich in diesem Fall um mehr als nur einen Anker handelt, ist zur Veranschaulichung nicht mehr von einer Wippe, sondern einer mehrteiligen Brücke zu sprechen, über die hinweg eine fortwährende Verlagerung der Satzgewichtung ihren Lauf nimmt. Jeder Fußpunkt der Brücke trägt und leitet die Bewegung weiter. Innerhalb dieses Prozesses sieht Gass gerade in jenem und, das den Anfang macht, also im dritten, die Konnotation und [zusätzlich] hinterlegt: Der gegebene Ablauf entwickelt sich über Hinzufügungen, er basiert auf einer Struktur der Addition.30 „[. . .] the idea of addition, like those of balance, equality, difference, and coordination, is basic to our word [. . .].“ 31 (166) Neben dem, dass Gass nun selbst einräumt, verbindende und trennende Tendenzen gleichermaßen als Grundlagen des konjunktionalen Geschehens gelten zu lassen – „the idea of [. . .] equality [and] difference“ –, verortet er das Prinzip der Hinzufügung auf dieselbe grundsätzliche Ebene. „Addition“ bezeichnet ihm dabei nicht nur das mathematische Kalkül. In einem allgemeineren Sinn bezieht er den Begriff auch auf Formen der Erweiterung, die neben quantitativen Aspekten ebenso qualitativen Spezifika gelten können. Das heißt, die zusammengetragenen Glieder müssen weder von gleicher Art (zahlenförmig) noch von gleicher Gattung (algebraisch) sein, um Objekte
30 | Im Englischen bildet addition mit to add und in addition to eine Wortfamilie, von der Gass hier regen Gebrauch macht und die im Deutschen keine direkte Entsprechung hat. 31 | „[. . .] die Figur der Addition ist, wie die des Gleichgewichts, der Gleichheit, der Differenz und der Koordination, eine grundlegende Eigenschaft unseres Wortes [. . .].“
3. Das und als Generativum von Text und Welt (Gass) | 113
der Hinzufügung werden zu können. Entsprechend differenziert Gass zwei verschiedene Formen der Addition: Einerseits bezeichnet der Ausdruck die Grundrechenart der Summation. Diese verlange von ihren Objekten eine zeitliche Konstanz, das heißt, die betreffenden Zahlen müssen für die Dauer der Rechnung als gleichbleibend vorausgesetzt werden können.32 Andererseits steht Addition bei Gass für etwas, das man als den Lauf der Dinge bezeichnen kann. Die damit einhergehenden Veränderungen sind nicht notwendigerweise kausal, sondern meist schlicht raumzeitlich verfasst, das heißt, sie sind weniger mit einer fundamentalen Ursache als vielmehr durch ein zeitliches und räumliches Nach- oder Nebeneinander verknüpft. Ohne näher auf David Hume und dessen Kritik am Kausalitätsbegriff einzugehen, deutet Gass zumindest an, dass er sich an dieser Stelle im Schatten des schottischen Philosophen bewegt.33 „[. . .] this notion of a simple ‚next!‘ is another which is fundamental to the meaning of ‚and‘.“ 34 (167) Ist die Zeit und ihr unermüdlicher Lauf einmal unter den Verbündeten, ist man den wahrscheinlich ausdauerndsten Angreifer los. So schlicht ist die Ansage „Das Nächste bitte!“ also mitnichten. Formelhaft fasst sie den Konnex, in dem sich eine weitreichende strukturelle Offenheit („Das Nächste“) und ein funktionslogischer Forderungscharakter („bitte!“) in der Konjunktion verschränken, in bislang bündigster Form zusammen. Der Kausalität und Regelhaftigkeit des mathematisch-additiven und stellt Gass die Kontiguität und Spontaneität von jenem und das Nächste bitte! gegenüber. Unabhängig von dieser Unterscheidung fragt Gass nochmals gesondert nach den Grenzen des Hinzufügens. Sogleich plädiert er dafür, dass dem und [zusätzlich] Grenzen gesteckt bleiben. Die Begründungen liefern ihm zwei unterschiedliche Relationsfiguren, die Implikation und die Tautologie: „Certain things cannot be added to others
32 | Hier stellt sich die Frage, ob diese Voraussetzung auch für Variablen, also unbekannte bzw. vorläufig nicht bestimmte Größen gilt. Bei genauerer Hinsicht zeigt sich, dass die Voraussetzung der mathematischen Addition weniger in der zeitlichen Konstanz ihrer Objekte zu sehen ist, wie Gass dies anführt, als vielmehr in deren gemeinsamer Art und Gattung: Das, was verhandelt wird, muss die Gestalt einer Zahl annehmen können. Wenn etwas Dergleiches verschwindet – woran sich das Argument von Gass festmacht –, stellt dies kein Problem dar, solange sich auch an anderer Stelle etwas verändert. 33 | Eine nähere Betrachtung des Humeschen Interesses an der Konjunktion wird das folgende Kapitel anhand der Hume-Lektüre von Gilles Deleuze vornehmen. 34 | „[. . .] dieses schlichte Das Nächste bitte! liefert einen weiteren grundlegenden Aspekt in der Bedeutung des und.“
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because they are already there by implication.“ 35 (167) Ein bereits einbezogenes Element wurde jedoch irgendwann einmal einbezogen. Was, wenn nicht eine Form der Hinzufügung, leistete diesen Schritt? Die Implikation setzt die Möglichkeit der Hinzuziehung voraus. In der Folge geht der Gass’sche Satz davon aus, dass diese Bedingung mit einem mal abgegolten werden kann: Was einmal hinzugefügt wurde, ist nun fortwährend in dieser Form gegeben. Wie legitimiert sich die Annahme dieser Objektkonstanz allerdings? Im mathematischen Kontext etwa kann jede Zahl stets durch Kombinationen anderer Zahlen oder durch eine Variable (x) ersetzt werden (vgl. Fußnote 32). Was in diesem Zusammenhang zählt, ist nicht, dass sich eine Zahl oder ein Zahlenwert gleich bleiben, sondern dass sich die Möglichkeit der Zahlenförmigkeit erhält. Über die Mathematik hinaus, lässt sich diese Bedingung als Frage nach Kriterien der Zugehörigkeit verallgemeinern. Auch dann lautet die Gegenfrage: Woraus sollte mit Gewissheit hervorgehen, dass etwas sich stets gleichzubleiben vermag, also keinen zwischenzeitlichen Aktualisierungen bedarf noch Veränderungen ausgesetzt ist? Diese Frage berührt den zweiten Punkt, den Gass zur Begründung von Grenzen der Hinzufügbarkeit anführt: die Tautologie. Eine Tautologie stellt für Gass wiederum keine Hinzufügung dar, da sie ihrem Gegenstand keine neuen Bestimmungen einbringt. Dafür muss Gass die Neuheit der Bestimmungen, ihre Geltung als Innovation betonen: Das Nächste muss etwas noch nicht Dagewesenes sein. Wie sollte sich allerdings zweifelsfrei entscheiden lassen, ob etwas noch nicht da gewesen ist? Es könnte zwischenzeitlich auch an einem anderen Ort gewesen sein. Und warum sollte das eine wie das andere in der Bestimmung ein und derselben Sache nicht gleiche Gültigkeit besitzen dürfen? Wer sagt, dass jene zumindest in Gestalt oder Zeitpunkt verschiedenen Bestimmungen nicht etwas zur Sache beitragen könnten – und sei es ihre bloße Verschiedenheit in Gestalt oder Zeitpunkt? 36 Etwa aus der Musik ist bekannt, dass Tendenzen der Einförmigkeit und Wiederholung die Aufmerksamkeit für minimale Abweichungen zu steigern bzw. allererst zu schaffen vermögen. Das Beispiel, das Gass selbst an früherer Stelle von Joyce bezog (vgl. S. 101), wies bereits in diese Richtung und zeigte, dass sich formale Strenge und stilistische Freiheit nicht ausschließen müssen. Im Bestreben, dem additiven und Grenzen aufzuzeigen, gibt Gass auch dem entgegengesetzten Fall Raum, demzufolge eine additive Konjunktion nicht weitgehend
35 | „Bestimmte Dinge können zu anderen nicht hinzugefügt werden, weil sie dort bereits als implizite Bestandteile vorhanden sind.“ 36 | Das entsprechende Stilmittel, das aus der Tautologie eine Tugend macht, wird von Gass nicht erwähnt – das Hendiadyoin (hen dia dyoin griechisch für ‚eins durch zwei‘).
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identische, sondern denkbar disparate Elemente zusammenfügt. Die Proben aufs Exempel, die Gass diesbezüglich anführt, werden – neben dem und – einmal zumindest noch von einer Alliteration zusammengehalten („salt and sensation“), das andere mal fällt auch diese letzte lexikalische Ähnlichkeit fort („affectionate and mitered“). Gass zufolge könnte es sich bei den ungewohnten Kombinationen entweder um Missverständnisse, das heißt um bewusste oder unbewusste Missachtungen von Konventionen handelt, oder um Neuschöpfungen, die zuerst wundersam anmuten, es aber vielleicht nicht bleiben müssen. Gegenüber beiden Optionen, der Regelverletzung wie der Regelerweiterung, trägt das und offenbar keinerlei Hemmnisse in sich. Ohne Weiteres vermag es die unzusammenhängendsten Elemente miteinander in Kontakt zu bringen. Im Bezug auf die Regelerweiterung führt Gass dazu den Begriff der Metapher ein: „[. . .] where it is probably the ‚and‘ itself which is metaphorical, pretending that it can conjoin ‚right and life‘, ‚he and whee‘, ‚solicitude and shrimp‘.“ 37 (167) Im Kontext des Metaphorischen erhält die Konjunktion eine dezidiert aktive Rolle: An ihr ist es, scheinbar alles und nichts miteinander in Beziehung setzen zu können. Dieses Vermögen der Konjunktion reicht für Gass soweit, dass es Wirklichkeit verändert (vgl. 167). Allerdings stehen diese Aussagen nach wie vor unter dem Vorzeichen des Scheins („probably“, „pretending“). Es stellt sich also die Frage, ob das beschriebene konjunktionale Potential seine Möglichkeiten bloß dem Anschein nach besitzt oder ob es sich einem manifesten Gehalt verdankt. Stellt die Konjunktion einen lediglich lückenfüllenden Übergang oder eine wirkmächtige Schaltstelle dar? Die knappe Antwort von Gass lautet: „Boundaries, outer edges, extreme cases, define.“ 38 (167) Es liegt nahe, dass Gass mit der Aufstellung dieser Grenzfiguren auf den Ort abzielt, an dem die Konjunktion operiert. Ihre Zwischenstellung ist demnach nicht von vornherein gegeben, sondern das Ergebnis eines Bestimmungsprozesses („define“). Der Bestimmung, dass auf ein Element ein anderes folgt (a und b), geht eine Grenzüberschreitung voraus (a und?). Passend dazu bemerkte Gass in einem anderen Essay: „Wir können nicht darauf hoffen, dass wir, wie UN-Beobachter an den Grenzen eines umstrittenen Territoriums, ein paar wenn, oder und und einpflocken und dann erwar-
37 | „[. . .] wobei es wahrscheinlich das und selbst ist, das metaphorisch ist, indem es vorgibt, Recht und Leben, Josef und oh je, Sorgen und Salat zusammenbringen zu können.“ 38 | „Grenzen, Randläufe, Extremfälle – an ihnen ist es, Bestimmungen vorzunehmen.“
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ten dürfen, dass sie semantisch neutral bleiben.“ 39 Damit erweist sich der Kontext möglichst heterogener Elemente für die Konjunktion eher als Betätigungsfeld denn als Grenze. Die Fangleine des und reicht weiter (vgl. S. 104). Gass schließt den Abschnitt zum additiven und mit einem kurzen Resümee. Darin versucht er sich im Bezug auf die Verknüpfungen, die durch und gebildet werden, nochmals an einer allgemeinen Grenzziehung: „Generally, ‚and‘ designates only external and unnecessary relations; [. . .] but not when it means something like ‚equally true‘.“ 40 (167) Der erste Teil dieser Aussage fasst die Annahmen zusammen, mit denen Gass zuerst an das und im Sinne von und [zusätzlich] herangegangen ist. Mit der mathematischen Addition teilt die konjunktionale Hinzufügung demnach, sich auf Glieder zu beziehen, die einander äußerlich sind. Mindestens der Zeitpunkt, zu dem die Relata aufgerufen werden, bewirkt einen Unterschied zwischen ihnen („next!“). Anders als in der Mathematik gehe die konjunktionale Erweiterung jedoch nicht mit der Strenge von Notwendigkeit einher. Vom und ausgehend kann Alles und Nichts miteinander verbunden werden. Die Konjunktion enthält keinerlei Anhaltspunkte, die eine bestimmte Auswahl an Relata bevorzugen würden. Auch korrespondiert ihr kein fester Gesamtwert, der als äußere Vorgabe dienen könnte. Im zweiten Teil der freigestellten Aussage sieht sich Gass zum Einräumen einer Ausnahme veranlasst. Im Hintergrund steht die Betrachtung von Fällen, in denen sich die Verbindungselemente der Konjunktion nicht weitreichend voneinander unterscheiden, sondern bis zur Identität einander gleichen. Die Relata jener Verknüpfungen implizieren sich oder werden tautologisch wiederholt. Nichtsdestotrotz findet dabei eine Art von Zusatz statt. Mit der gemeinsamen Nennung beider Aussagenteile kündigt sich an, dass eine Trennung der Sphären – gemäß Metaphorik hier und Logik dort – im Bezug auf die Konjunktion nicht in einem strengen Sinne Geltung beanspruchen kann. Darauf zielten die ergänzenden Fragen im Kontext des additiven und: Das konjunktionale Moment der Hinzufügung ist von einer fortlaufenden Offenheit gegenüber Weiterem nicht zu trennen – und zwar unabhängig von den Grenzen zwischen Anschauung und Logik. Dabei sind die Funktionen der Konjunktion, zu trennen und zu verbinden, nicht separat voneinander einsetzbar. Aus diesem Grund entzieht sich die Kon-
39 | William H. Gass: Die Ontologie des Satzes oder Wie man aus Wörtern eine Welt macht, in: Ders.: Wie man aus Wörtern eine Welt macht, hrsg. v. Heide Ziegler u. Susan Bernofsky, übers. v. Silvia Morawetz, Salzburg/Wien 1995, S. 118. 40 | „Im Allgemeinen zeigt und ausschließlich äußerliche und nicht-notwendige Relationen an; [. . .] das gilt allerdings nicht, wenn es soviel heißt wie im gleichen Sinne wahr.“
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junktion den Eingrenzungsversuchen, die Gass an ihr erprobt. Soll die Offenheit des und prinzipiell begrenzt werden, macht sich ihr Drang auf Anderweitiges geltend: Das Nächste bitte! Diesen Zug räumt Gass noch nicht offen ein; er kündigt sich in den gewählten Formulierungen allerdings deutlich an. Im ersten Satzteil lautet eine Zuschreibung „nicht-notwendig“. Einmal mehr bedient sich Gass an logischem Vokabular: Der Modallogik zufolge, die Aussagen hinsichtlich ihrer Möglichkeit und Notwendigkeit untersucht, fällt die Verneinung von „notwendig“ nicht mit „möglich“ in eins. „Nicht-notwendig“ bedeutet auch nicht zwingend „kontingent“, was soviel heißt wie in mindestens einer möglichen Welt wahr und in mindestens einer falsch. Stattdessen kann eine nicht-notwendige Aussage unmöglich sein, muss es aber nicht: Sie ist möglicherweise unmöglich. Das Charakteristikum der Nicht-Notwendigkeit betritt das Feld der konjunktionalen Möglichkeiten also in gewisser Weise von hinten und räumt zuerst ein, dass es zu den Möglichkeiten von und-Relationen zählt, unmöglich zu sein.41 So ist es genau genommen nicht erst am zweiten Satzteil der Gass’schen Zwischenbilanz, eine Ausnahme geltend zu machen. Es zeichnet sich ab, dass der Konjunktion mittels allgemeiner Aussagen („generally“), Definitionen („only“) oder Äquivalenzen („equally“) nicht ohne Weiteres beizukommen sein wird. Das vierte und kam bereits zur Sprache, insofern es Teil der Reihe ist, die vom additiven und eingeleitet wird: „während [. . .] Rosie murrte und3 sich aufregte und4 schrie“. Ohne weitere Exkurse bringt Gass die Funktion dieser Konjunktion auf den Punkt, einer Steigerung zu dienen: „This is the ‚and‘ of increasing emphasis.“ (167) Als solches nimmt das und die bereits ausgeführten Aspekte der Koordination und Erweiterung auf, baut auf dieser Basis jedoch einen Stock höher. Die Steigerung drückt sich in Konnotationen der Art und [obendrein] aus. An später Stelle einer Abfolge wirkt sie damit auf den Abschluss einer Entwicklung hin, in der sich die verknüpften Elemente fortlaufend und in zunehmendem Maße aufeinander beziehen.42
41 | Vgl. Niko Strobach: Einführung in die Logik, Darmstadt 2005, S. 61. Die Äußerlichkeit, mit der Gass gewöhnliche und-Verknüpfungen an erster Stelle charakterisiert, wird im nächsten Kapitel eingehender betrachtet. Dort überträgt Gilles Deleuze jene Eigenschaft – ausgehend von David Hume – auf die Konjunktion selbst, demzufolge sie den Gliedern, die sie verbindet, äußerlich ist. 42 | Indem Gass in diesem Zusammenhang auch die zwei anderen möglichen Reihenfolgen der drei verbundenen Verben aus dem Steinschen Satz durchspielt, tritt nochmals deutlich vor Augen, dass der Beitrag der Konjunktion in der Erweiterung des semantischen Wirkungsraums liegt: und. . .und [zusätzlich]. . .und [obendrein]. . . Was in das Licht dieser Bühne tritt, und wie es genutzt wird, bleibt dagegen ganz die Sache des jeweiligen Kontextes.
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Die Strukturprinzipien von Erweiterung und Steigerung können sich auch dann vom und getragen sehen, wenn die Intervalle nicht mehr nur durch einzelne Worte, sondern mit ganzen Nebensätzen besetzt sind. Steht die Konjunktion zwischen umfangreicheren Sequenzen – Gass zitiert exemplarisch eine längere Passage aus Thomas Malorys Artus-Sage aus der Mitte des 15. Jahrhunderts –, gibt sie die jeweiligen Einsatzpunkte der Binnensequenzen zu erkennen. Stilistisch fungiert sie dergestalt als Anapher und ist darin für Gass nicht zu ersetzen, da sie nicht nur eine formale Markierung stiftet, die den Satzzeichen assistiert und zu mehr Geltung verhilft, sondern auch als Kontrastmittel für dasjenige dient, was sie verbindet: „Omit the ‚and‘ [. . .], and you will lose, among other things, the sense of contrast between qualities which the conjunction heightens“ 43 (168). Dank der Konjunktion können Elemente nebeneinander bestehen, deren Eigenschaften sich offen widersprechen: „Feuer und Eis, Schnee und Sand, und und aber “ (vgl. 168). Der letztgenannte Aspekt nimmt die Frage wieder auf, ob irgendeine terminologische Kluft weit oder tief genug ist, um durch ein und nicht überbrückt werden zu können. An früherer Stelle, im Exkurs zur Addition, stand dieser Ansatz weitestgehender Verknüpfbarkeit noch unter dem Vorzeichen eines Anscheins („pretending“). Diese Vorsichtsmaßnahme beginnt Gass im Kontext des hiesigen und loszulassen. Die denkbar offene Anschlussfähigkeit der Konjunktion wandelt sich von einer potentiellen Prätention zur manifesten Funktion, die bestehende Kontraste nicht nur gelten lässt, sondern noch hervorhebt („heightens“).44 Das fünfte und gehört in gewisser Weise noch immer zu der Reihe der Konjunktionen drei und vier, weist jedoch gleichzeitig über diese hinaus, indem es zu einer anderen inhaltlichen Ebene überleitet: „während [. . .] Rosie murrte und3 sich aufregte und4 schrie und5 sich selbst zu einem Scheusal entwickelte [. . .]“. Gass sieht in ihm eine Variation zu den Momenten der Erweiterung und Steigerung. Dergestalt folgt diese
43 | „Lässt man das und weg [. . .], wird unter anderem der Sinn verloren gehen, der aus dem Kontrast zwischen den Qualitäten hervorgeht und den die Konjunktion hervorhebt.“ 44 | Ob die Anschlussfähigkeit der Konjunktion letztlich als uneingeschränkt gelten kann, ist damit weder gesagt noch erwiesen. Eine nicht unbedeutende Frage in dieser Hinsicht betrifft die Konjunktion in ihrem Verhältnis zu sich selbst: Kann sich das und auch auf sich selbst beziehen, das heißt mit sich selbst verknüpfen? Eine der von Gass kurz zuvor aufgeführten exemplarischen Wendungen lautet „‚and‘ and ‚but‘“ (168), was zumindest den Anschein einer Autokonnexion erweckt. Jedoch ist zu bedenken, dass jenes verbundene and in Anführungszeichen selbst nichts verbindet. Es scheint, die Konjunktion bezahlt ihre eigene Verknüpfbarkeit mit ihrer Verknüpfungsfunktion. Eine dezidierte Prüfung jenes Sachverhaltes steht noch aus.
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weitere Form der Konjunktion der vorherigen Überbietungslogik nicht unbedingt. Stattdessen schafft sie Raum, den Lauf der Dinge im Rückbezug auf das Subjekt des Satzes zusammenzufassen: Rosie hat sich zwischenzeitlich zu einem Scheusal entwickelt. Nachdem dafür sowohl die Erweiterungs- als auch die Steigerungsformen des Vorfeldes zusammenkommen, spricht Gass von einem summarischen und – „the summarizing, totalizing ‚and‘“ (168). Dieses additiv-kumulative und erschließt eine weitere semantische Ebene: Von ihr aus zeigt sich, wohin die vorangegangenen Elemente führen. Das Motiv, an dem sich die Hinzufügungen und Steigerungen zuvor festmachten, zeigt sich in einer größeren Klarheit. Deshalb ist der Anschluss des fünften und nicht redundant. Das sechste und letzte und – „[. . .] und5 sich selbst zu einem Scheusal entwickelte und6 zu einem richtigen Biest.“ – steht Gass zufolge nicht mehr im Dienst eines Gleichgewichts. Ein zusammenfassender Überblick geht ihm bereits voraus. Daran macht sich das finale und formal wie inhaltlich fest. Das heißt, das letzte und eröffnet kein neues Feld mit neuen Gegenständen, sondern lässt sich als Mittel der Auslegung des Vorherigen, als Anschluss zusätzlicher Erläuterungen verstehen. Es setzt in dieser Rolle weniger auf Progression oder Kumulation; vielmehr gilt es der Explikation und Affirmation. Als und der Gleichwertigkeit, „the ‚and‘ of equivalence, [. . .] the ‚and‘ of ‚that is to say‘“ (168), wie Gass es nennt, wiegt die Konjunktion nicht eigens etwas ab, sondern folgt auf bereits ausgewogene Bestimmungen. Es gibt erläuternder Reformulierung Raum und bewirkt kurz vor Ende des gesamten Satzes eine Abrundung. Auf diese Weise differenziert und spezifiziert Gass jedes explizit genannte und, das der genannte Satz aus Gertrude Steins Melanctha enthält. An jeder Stelle ergibt sich eine andere Anwendungen. Auch wenn sich die Funktionsbereiche stellenweise überschneiden – vor allem hinsichtlich der additiven und ausbalancierenden Komponenten –, behält jedes und eine Spezifik für sich. Entsprechend schreibt Gass den Satz wie folgt aus: „Sie pflegte Rose, und [dabei] war sie geduldig, unterwürfig, beschwichtigend und [schließlich] unermüdlich, während die mürrische, kindische, feige, schwarze Rosie murrte und sich [zusätzlich] aufregte und [obendrein] schrie und sich [insgesamt] zu einem Scheusal entwickelte und [also] zu einem richtigen Biest.“ (168) Dazu ergänzend hier eine Übersicht der Analyse-Ergebnisse:
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Tabelle 3.1: Konjunktionen der Gass’schen Satzanalyse und 1 2 3 4 5 6
im Sinne von indem schließlich zusätzlich obendrein insgesamt das heißt
Funktionsweise adverbial final, konsekutiv additiv, konzessiv progressiv kumulativ explikativ
Wirkung Explikation Kontinuität Addition, Reihung, Einräumung Steigerung, Betonung Überblick, Abschluss Erläuterung, Schließung
Quelle: Eigene Darstellung (III) Satzanalyse Teil 2 Die konnotativen und funktionalen Differenzierungen der Konjunktion, die im Rahmen der Satzanalyse zu Tage treten, schöpfen die Gegebenheiten nicht aus. Um dem kleinen Wort nochmals näher zu kommen, erwägt Gass in einem ersten Schritt, was eine Absenz der Konjunktion für Konsequenzen hätte. Die Aufgabe, den Satzes intern zu gliedern und zu koordinieren, fiele Gass zufolge dann vor allem den Präpositionen zu. Wie ihr Name sagt, stehen sie in der Regel nicht zwischen, sondern vor ihren Bezugspunkten. Als vorgelagerte Vektoren folgen sie stets der Leserichtung. Dergestalt verstärken sie den linearen Verlauf der Sprache. Im Gegensatz dazu bemerkt Gass, dass die Zwischenstellung der Konjunktionen auch die Möglichkeit gegenläufiger Bewegungen birgt: „But our ‚ands‘ part their elements while retaining them. They divvy, weigh, and order. They spread their objects out like dishes on a table.“ 45 (169) Demnach ist die Ausrichtung des und nicht nur vektoriell in die Leserichtung eingebettet, sondern enthält zugleich auch ein gegenläufiges Moment. Dieses Zugleich verschiedener Orientierungen wirke sich auf die Bezugselemente wie eine Streuung aus. Gass gibt diesbezüglich nochmals zu bedenken, dass ohne das und nicht nur eine kontingente Strukturpartikel fehlen würde, die genauso unsichtbar bleiben könnte. Eine Aussage habe – jenseits von unterbrechender Stille – ohne Konjunktionen definitiv weniger Raum, um ihre Bedeutung zur Geltung zu bringen. Der semantische
45 | „Anders die hiesigen unds, die ihre Elemente aufteilen und sie gleichzeitig zusammenhalten. Sie trennen, wiegen ab und ordnen. Sie verteilen ihre Relata wie Teller auf einer Tafel.“
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Rahmen fiele enger und hinsichtlich seiner Möglichkeiten ärmer aus.46 In der Konjunktion überlagern sich folglich Anschluss-, Vermittlungs- und Zäsurbewegungen. Gass macht an dieser Stelle zum ersten Mal ganz deutlich, dass die trennenden und die verbindenden Funktionen gemeinsam und zugleich wirksam werden. Wenn er von einer gleichzeitigen Wirkweise spricht, impliziert er genau genommen zweierlei: „while“ kann nicht nur zeitlich, sondern auch modal aufgefasst werden. Könnten sich trennende und verbindende Kräfte zur selben Zeit auch gegenseitig aufheben oder abschwächen, besteht die Besonderheit der Konjunktion offensichtlich darin, dass sie dies gerade nicht tun und die Spannung des Widerspruchs erhalten bleibt. Wenn es an der paradoxen Anlage der konjunktionalen Funktionen ist, sprachliche Entfaltungsräume zu öffnen, liefert die Konjunktion keine zugehörigen Maßgaben oder Grenzpunkte mit. Stattdessen sei die Konjunktion ein „Feind gewöhnlicher Unterordnungen“ (169). Gass führt nicht weiter aus, ob die Unterordnungen, von denen er spricht, grammatischer oder metaphorischer Natur sind.47 Dafür wendet er sich der Problematik zu, dass die Ablehnung von Hierarchien mit einem Mangel an Spezifik einhergehen könnte. Wie sich kleine Kinder an allen Einzelheiten gleichermaßen begeistern, mache das und von sich aus keinerlei Unterschiede in der Auswahl und Aneinanderreihung seiner Relata. Ergänzend zu Gass findet sich diese Problemstellung ganz ähnlich in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Dort ist nicht von Kindern, sondern von Dichtern und Geisteskranken die Rede: „Denn das Gemeinsame, um das es sich da [zwischen Dichtern und Geisteskranken] handelt, ist ein Geisteszustand, der durch keine weitspannenden Begriffe zusammengehalten, durch keine Scheidungen und Abstraktionen geläutert wird, ein Geisteszustand der niedersten Zusammenfügung, wie er sich am anschaulichsten eben in der Beschränkung auf das einfachste Binde-Wort, das hilflos aneinanderreihende ‚Und‘
46 | Ohne dass Gass es gesondert hervorhebt, konkretisiert sich an dieser Stelle der Modus, in dem die Konjunktion – neben den primär syntaktischen Aspekten der Gliederung und Rhythmisierung – am semantischen Gehalt eines Satzes teilhat: Sie fungiert in dieser Hinsicht als Resonanzelement. Ob sie dabei einer schwingenden Seite oder einem hallenden Körper näher steht, bleibt abzusehen. 47 | Anhand des Prinzips der Subordination gliedert die Duden-Grammatik das Feld der Fügeund Bindewörter: „Man unterscheidet Konjunktionen, die neben- oder beiordnend sind, sowie Subjunktionen, die unterordnen. [. . .] Im Gegensatz zu Konjunktionen verändern Subjunktionen die Syntax des Satzes, den sie einleiten: Das finite Verb nimmt die letzte Position im Nebensatz ein (Verbletztstellung).“ ( Duden-Grammatik, Mannheim/Zürich 2009, S. 619 u. 625)
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ausdrückt, das dem Geistesschwachen verwickeltere Beziehungen ersetzt [. . .].“ 48 Problematisch ist demzufolge nicht nur der Gebrauch, den bestimmte Personengruppen von der Konjunktion machen, sondern auch die Verfasstheit der Konjunktion selbst: Nachdem die Anwendung aus einer „Beschränkung“ hervorgehe, sei ihr Mittel „hilflos aneinanderreihend“. So bescheinigt Musil auch dem und selbst eine unterkomplexe Form und Wirkweise. Dass die Konjunktion jedoch nicht generell hinter den Möglichkeiten und der Spezifik einzelner Begriffe zurückstehen muss, erweist Musil an späterer Stelle selbst, wenn auch nur implizit: „[. . .] ‚die Ungetrennten und Nichtvereinten‘, dieser Name hatte seither für sie an Inhalt nur noch gewonnen, denn ungetrennt und nichtvereint waren sie selbst und sie glaubten in ihrer Ahnung zu erkennen, dass auch alles andere in der Welt ungetrennt und nichtvereint wäre.“ 49 Für in sich gegenläufige Figuren wie „die Ungetrennten und Nichtvereinten“ ist der Beitrag, den jenes „einfachste Binde-Wort“ stiftet, nicht weniger als unabdingbar. In dieser Form verfasste Wendungen auf einen Begriff bringen zu wollen, nähme ihnen ihre Spezifik. Im Umkehrschluss wird deutlich, dass es nicht minder für Begriffe gelten kann, reduktionistisch und unterkomplex verfasst zu sein. Dem Problem konjunktionaler Unspezifik korrespondiert ein Fassungsvermögen, das den Umfang, wie er einem einzelnen Begriff möglich ist, übersteigt. Dieses Potential lässt sich allerdings weder allein den Eigenheiten des und noch dem Gebrauch, der von ihm gemacht wird, zuschreiben.50 Gass kommt auf einem ähnlichen Wege zu der Einsicht, dass ein anhaltender Gebrauch der Konjunktion nicht zwingend einfältig und unterkomplex ist. Anhand eines Beispiels aus Ernest Hemingways After the Storm führt er vor, wie die Konjunktion in dieser Form als stilistisches Mittel in der Darstellung von Aufregung, Überstürzung
48 | Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. v. Adolf Frisé, Hamburg 1952, S. 1037. 49 | Ebenda, S. 1191. 50 | Allgemeiner gefasst: Kein Wort kann es zu seinen Eigenschaften zählen, seine Anwendung selbst zu regeln; sowie umgekehrt keine Anwendung für sich in Anspruch nehmen kann, die Eigenschaften eines Wortes auszuschöpfen. Entsprechend unterscheiden sich innerhalb der Linguistik die Teilbereiche von Semantik und Pragmatik.
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und Außer-sich-Sein fungieren kann.51 Im Bezug auf die Konjunktion fasst er diesen Fall wie folgt zusammen: „These ‚ands‘ condense or skip. They insist upon the suddenness of everything, the disappearance of time, the collision of distant spaces.“ 52 (170) Wiederum sind es strukturgebende Einsätze, die der Konjunktion zugeschrieben werden. Allerdings stehen die neu hinzutretenden Funktionen – das Erhöhen von Druck und die Auslassung – nicht mehr unter dem Vorzeichen der Sichtbarmachung, sondern gehören beide einer Praxis des Verbergens an: Die Verdichtung verengt einen Ausschnitt, die Ellipse organisiert einen Ausschluss. Gass zufolge relativieren diese Komponenten das Agieren der Konjunktion jedoch nicht, sondern weiten es stattdessen aus. Zeitlich befördere die Häufung der Konjunktion die Anmutung einer absoluten Gegenwart („the suddenness of everything“), räumlich seien gegebene Distanzen kein Hindernis mehr („the collision of distant spaces“). Abstände und Abläufe werden minimiert, gestalten sich unter den Vorzeichen von Verdichtung und Auslassung allerdings zunehmend komplexer. Folglich droht der Gesamtaussage nicht Beschneidung, sondern Übersteigerung. Gass räumt dem hypertrophen und, der Konjunktion in gehäufter Form, potentielle Züge ins Pathologische ein. Nervosität und Schlaflosigkeit könnten sich von ihm getragen sehen. In Ergänzung zu Gass ist nochmals gesondert zu vermerken, dass sich die bislang grundlegenden strukturellen Funktionen des und, das Trennen und Verbinden, nunmehr um die Modi von Zeigen und Verbergen erweitert sehen. Die Wirksamkeit der Konjunktion wird mit der Sichtbarkeit ihrer Wirkungen kurzgeschlossen. In gehäufter Form vermag es die Konjunktion Gass zufolge, räumliche wie zeitliche Er-
51 | „Well, I went out of there and there were plenty of them with him and some came out after me and I made a turn and was down by the docks and met a fellow and he said somebody killed a man up the street, I said ‚Who killed him?‘ and he said ‚I don’t know who killed him but he’s dead all right,‘ and it was dark and there was water standing in the street and no lights and windows broke and boats all up in the town and trees blown down and everything all blown and I got a skiff and went out and found my boat where I had her inside of Mango Key and she was all right only she was full of water. So I bailed her out and pumped her out and there was a moon but plenty of clouds and still plenty rough and I took it down along; and when it was daylight I was off Eastern Harbor.“ (Ernest Hemingway: After the Storm, zitiert nach Gass 169f ) 52 | „Diese unds verdichten oder überspringen. Sie bestehen auf die Plötzlichkeit von allem, den Wegfall der Zeit und den Zusammenprall entfernter Räume.“
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streckungen zu einer „Plötzlichkeit von allem“ zu verdichten. Dafür dürfen sich alle Elemente, die in der Serie der Konjunktionen nicht explizit aufgeführt werden, nichtsdestotrotz von der Offenheit des und eingeladen und in gewisser Weise mitgemeint sehen. Auf diese Weise stößt das hypertrophe und zu den Paradoxien einer vermittelten Unmittelbarkeit bzw. einer vermittelten Unvermittelbarkeit vor, je nachdem, ob die Konjunktion unter dem Vorzeichen des Zeigens oder des Verbergens betrachtet wird. Die limitierende Wirkung, die das und an der konkreten Schnittstelle von Auswahlverfahren entfalten kann, steht der strukturellen Offenheit der Konjunktion also nicht entgegen, sondern spielt ihr zu. Wohl aus diesem Grund bleibt Gass weiter bei der Frage nach der Offenheit der Konjunktion – nun allerdings nicht mehr im Versuch der Eingrenzung, sondern – ganz im Gegenteil – im dezidierten Bezug auf Entgrenzung: „‚Ands‘ are almost essential for excess.“ 53 (170) Ein Exzess zeichnet sich durch seine Maßlosigkeit aus. Gass stellt das mehrfache Auftreten der Konjunktion diesbezüglich nahe an den Rang einer Bedingung. Nachdem bislang kein Maß gefunden ist, das die Offenheit der Konjunktion nachhaltig einzuschränken vermag, stellt sich die Frage, warum Gass an dieser Stelle betont vorsichtig vorgeht und ein „beinahe“ einfügt. Denkt man an andere Aussagen zurück, die Gass in weitgehender Allgemeingültigkeit über die Konjunktion traf, kann ergänzt werden, dass die Konjunktion im Kontext des Exzessiven fast so notwendig auftritt, wie sie im Kontext logischer Ordnung fast ausnahmslos kontingent funktioniert. Die Ausnahmen bildeten dort Tautologien, die auf ein und [was im gleichen Sinne wahr ist] rekurrieren (vgl. S. 116). Nun zeichnet sich ein Stück weiter ab, dass nicht nur die Notwendigkeit, sondern auch die Kontingenz eine Ordnungsfigur darstellt, die zwar auf die Konjunktion angewandt werden kann, von ihr jedoch nicht gänzlich umgesetzt wird. Wird das und auf eine bestimmte Ordnung festgelegt, beginnt es, einer gegensätzlichen Ordnung den Weg zu ebnen. Nicht nur im Kontext ihres konkreten, syntaktischen Eingebunden-Seins, auch auf der reflexiven Ebene scheint die Konjunktion auf ihre Offenheit gegenüber Anderweitigem zu beharren. Um an die Maßlosigkeit des Exzessiven heranzureichen, muss das und allerdings entsprechend zahlreich auftreten. Die Zusammenstellung zweier Relata reicht Gass zufolge noch nicht dafür aus. Eine einfache Paarbildung zeichne sich eher durch Hermetik denn Grenzüberschreitung aus. Erst mit der dritten Konjunktion in Serie sieht Gass einen Prozess initiiert, der die Geschlossenheit von Paarbildungen zu öffnen
53 | „Für Exzesse ist der gehäufte Einsatz von und so gut wie essentiell.“
3. Das und als Generativum von Text und Welt (Gass) | 125
vermag und also Anspruch auf erste Züge des Exzessiven erheben kann. Was es mit dem zweiten und einer Folge auf sich hat, genauer, wo es zwischen Hermetik und Hiatus angesiedelt ist, lässt Gass an dieser Stelle außen vor. Schwerer wiegt vorerst jedoch die Frage, ob sich Offenheit und Exzess überhaupt quantitativ bestimmen lassen. Gass liefert wenige Zeilen später eine qualitative Differenzierung nach, indem er mit Blick auf die strukturellen Konsequenzen der Konjunktion zwischen einem geordneten Bündel und einem losen Haufen unterscheidet. Diese Verfasstheiten führt er auf zweierlei Typen des und zurück, die allerdings erneut den Eindruck erwecken, mit quantitativen Bestimmungen einherzugehen: Im einen Fall sei ein aufzählendes und – „the ‚and‘ that enumerates“ –, im anderen Fall ein vervielfältigendes und – „the ‚and‘ which multiplies“ – am Werk (170). Angestoßen von den ausufernden Tendenzen des Exzesses kommt Gass nochmals auf den Satz von Gertrude Stein zurück. Auch wenn die Satzstruktur einen klaren Rahmen setzt, unterhalten die dortigen Konjunktionen ihm zufolge weiterreichende Bezüge. So fungiere etwa das erste und nicht nur adverbial, indem es dem vorhergehenden Verbum eine Reihe von weiteren Bestimmungen vermittelt; auf den gesamten Satz bezogen wirke es sich zugleich adversativ aus, da es die Entgegensetzung der beiden geschilderten Verhaltensweisen – das fürsorgliche Pflegen auf der einen, die unliebsamen Entgegnungen auf der anderen Seite – allererst eröffnet. Dieser Raum wird vom letzten und entsprechend geschlossen, insofern es den Abschluss der Entgegensetzung intoniert. Innerhalb dieser Klammer können alle eingeschlossenen Konjunktionen Gass zufolge als und [währenddessen] oder und [deswegen] gelesen werden, je nachdem, ob die Reihe temporal oder kausal aufgefasst wird. Ausgehend von diesen weiteren Konnotationen schlussfolgert Gass auf zwei Art und Weisen, in denen das und zu seiner Ausrichtung komme: „So there are ‚ands‘ that vary in their meanings, and ‚ands‘ that differ in terms of the kinds of objects they connect: things, inscriptions, concepts, or syntactical shapes and rhetorical patterns.“ 54 (171) Der Plural, in den Gass die Konjunktion hier setzt, ist doppeldeutig. Die semantischen Variationen können demnach sowohl der Vielzahl der Konjunktionen geschuldet sein als auch dem je einzelnen und. Nachdem Gass im Beispielsatz von Gertrude Stein die dortigen Konjunktionen mehrfach mit konnotativen und funktionalen Doppelbelegungen versehen hat, ist anzunehmen, dass er an dieser Stelle von Konjunktionen
54 | „So gibt es eine Form des und, die in ihrer Bedeutungen variiert, und eine solche, die sich im Zusammenhang mit dem, was sie verbindet, mit Dingen, Inschriften, Konzepten, oder mit syntaktischen Formen und rhetorischen Mustern verändert.“
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spricht, die auch im Singular eine Mehrzahl an Bedeutungen beherbergen können. Demnach fällt die Betonung in der Unterscheidung, die Gass trifft, einmal auf das zur Konjunktion gehörende Possessiv-Pronomen „their“, einmal auf die Eigenheiten der Relata – „the kinds of objects“. Auf der einen Seite ist es das und selbst, das eine Fülle semantischer Facetten birgt; auf der anderen Seite geht die jeweilige Bedeutung auf das zurück, was die Konjunktion gerade verknüpft. Die Elemente, die dafür exemplarisch in Frage kommen können, lässt Gass von bloßen Dingen („things“) bis hin zu Konzepten und rhetorischen Mustern reichen. Der Ansatz, den Gass soweit verfolgt, unterscheidet die jeweiligen semantischen Einträge von Fall zu Fall und führt sich schließlich auf bestimmte Quelle zurück. Einmal ist es an der Konjunktion selbst, einmal an ihren Relata, der Verbindung als Ganzer eine bestimmte Ausrichtung und Wirkung zu geben. Allerdings bleibt es im ersten Fall, der es der Konjunktion selbst anrechnet, „ihre“ Bedeutung zu tragen, fraglich, wie sich jene ganz bestimmte Form des und gegenüber allen anderen Möglichkeiten auszeichnen sollte. Was vermag innerhalb der Konjunktion eine solche Wahl zu treffen und einen entsprechenden Ausschluss alles Anderen durchzusetzen? Nach den vorhergehenden Ausführungen von Gass ist es nicht das und selbst, sondern die übergeordnete Satzstruktur, die jenseits der unmittelbaren Relata weitere Formen der Verbindung benötigt und entsprechend das und damit beauftragt. Auch in diesem Fall ist die Konnotation, die die Konjunktion erhält, im strengen Sinn keine eigene. Diese Problematik reicht noch tiefer. Denn die Unterscheidung, die Gass hinsichtlich seiner Konjunktionstypen vornimmt, greift abermals auf die Konjunktion zurück: „So there are ‚ands‘ that [. . .], and ‚ands‘ that [. . .]“ Mit welcher Begründung sollte das mittige und, das zwischen den aufgeteilten Fälle steht, einer der beiden Seiten zugerechnet werden? Der Vorwurf, den Gass gegen „die Logik“ erhob, trifft ihn in zunehmendem Maße selbst: Sein Verfahren setzt primär auf Trennung, auf die Vereinzelung und Aufteilung des Gegebenen. Die Zusammenhänge, die gleichzeitig und untrennbar stattfinden, bleiben unterbeleuchtet oder, wie im Fall zwischen den undTypen, unbemerkt. Nach dem ersten Teil der Satzanalyse war es die erklärte Absicht von Gass, die weitläufigeren Effekte der Konjunktion näher zu untersuchen. Diesen Abschnitt schließt er nun mit einer kurzen Statistik zu den Konjunktionen, die der Satz von Gertrude Stein aufbot. Demnach finden sich neben den sechs offenkundigen Konjunktionen weitere fünf, die durch Kommatas ersetzt sind, und nochmals zwei, die die dreiteilige Komposition des gesamten Satzes zusammenhalten und koordinieren. Gass räumt jedoch demonstrativ ein, dass diese Liste weder die implizite Bedeutungsvielfalt jeder einzelnen Konjunktion noch die Fülle der zugehörigen Wechselwirkungen ausschöpft. Weitere Bedeutungsmöglichkeiten („various senses“) und Wechsel-
3. Das und als Generativum von Text und Welt (Gass) | 127
wirkungen („interaction“) stellen vorerst eher eine Ankündigung dar, als dass sie sich bereits genauer begründet sehen könnten. Dabei macht Gass jedoch eine Randbemerkung, die bereits einen signifikanten Schritt in diese Richtung geht: Angesichts der Rekapitulation jener dreizehn Konjunktionen aus dem Satz von Stein fügt er in Klammern hinzu, dass diese Aufstellung zwar den Konjunktionen gilt, dabei allerdings offenbar nicht anders kann, als weitere Konjunktionen hervorzubringen – „this list (itself an ‚and‘-producing format)“ (171). Die Tragweite dieser Anmerkung reicht offensichtlich über die abschließende Zusammenfassung der Satzanalyse hinaus: Das und zeichnet sich bislang gerade dadurch aus, nicht recht definiert werden zu können. Alle unternommenen Versuche schwanken zwischen antinomischen Bestimmungen, die abermals von der Konjunktion Gebrauch machen – Trennen und Verbinden, Zeigen und Verbergen, Öffnen und Schließen, Aufzählen und Vervielfältigen –, und Negationsfiguren, die um eine maßlos erscheinende, referentielle wie modale Offenheit kreisen. Das weitere Vorgehen von Gass wird sich entsprechend daran zu messen haben, inwieweit es ihm gelingt, die fortlaufende Hervorbringung weiterer Konjunktionen ins Blickfeld zu bekommen. (IV) Weitere Formen der Konjunktion Im Folgenden beginnt Gass, die Bezüge zu den versammelten Zitaten zu lockern. Zunehmend assoziativer lässt er sich von Einzelheiten darin oder jenseits dessen leiten, um weitere semantische Nuancen des konjunktionalen Geschehens ans Licht zu bringen. Kurz kommt er auf die zitierte Passage Hemingways zurück und entdeckt darin zwei noch nicht explizierte Formen der Konjunktion: eine Abweichung des finalen und, das eine verspätete Erklärung nachreicht, sowie ein und, das mittels der Konnotation [in Begleitung / zusammen mit] die aufzählende Funktion im Bezug auf eine Gemeinschaftsbildung verfeinert. Die Dinge einer Gemeinschaft können denselben Namen tragen, was Gass auf jenes und aufmerksam macht, das sich auf ein und dasselbe Element bezieht, genauer auf ein und denselben Namen. In solchen Konstellationen – der Form nach a und a – induziere die Konjunktion der Gleichnamigkeit ein Moment der Differenz. Die Dinge, die jenes und verbindet, seien homonym, aber nicht identisch. Die Konjunktion setze zwischen ihnen einen adversativen Impuls frei.55
55 | Dass die Konjunktion im Fall a und a nicht nur auf Differenz, sondern auch auf Einheit setzen kann, verfolgt Roland Harweg in sprachwissenschaftlicher Hinsicht anhand der Wendung soundso. Vgl. ders.: Deutsche soundso-Verbindungen, in: Linguistics, 1974, Vol.12 (125), S. 58–72. Die Frage nach der Verknüpfung von identischen Elementen jenseits konventioneller
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Aus dem Kontext gleichlautender Bezugspunkte springt Gass zu jener Form der Konjunktion, die auf den ersten Blick nur einen Anschluss bedient, insofern sie am Anfang eines Satzes steht. Auf den zweiten Blick ist die Rückkopplung, die sie an das Vorherige bindet, nicht abgeschnitten, sondern weitläufiger: Wenn sie sich nicht auf einen spezifischen Satzteil bezieht, wird die Referenz dem gesamten vorangehenden Satz gelten. Entsprechend enger knüpft sich die Konjunktion an das, was ihr folgt. Gass zitiert zur Veranschaulichung den Anfang von Ezra Pounds Cantos – „And then went down to the ship, [. . .]“ – und sieht in jenem Und . . . das Walten der Erinnerung. Dergestalt schließe es seine Elemente in einen übergeordneten zeitlichen Ablauf ein, in dessen Rahmen sich Aus- und Rückblicke verschränken.56 Gass fügt hinzu, dass die Konjunktion am Satzbeginn unabhängig von zeitlichen Implikationen eine Bekräftigung dessen bewirkt, was folgt. Nachdem sie dort kein unmittelbares Vorfeld hat, geht der Bezug auf alles Anschließende mit erhöhter Bedeutsamkeit einher. Nicht selten leitet jenes und ein Moment von Überraschung oder Empörung ein: Und [plötzlich] . . . Die Beispielsätze, die Gass anführt, zeigen zudem, dass dieser Einsatz des und nicht auf den Anfang eines Satzes angewiesen ist, auch wenn jene Position die affirmative Funktion am deutlichsten hervortreten lässt. Das Moment der Bekräftigung kann Gass zufolge auch überhand nehmen, etwa wenn es beginnt, mit absoluten Größen zu hantieren. Soll etwas für immer und ewig gelten, oder nie und nimmer eintreten, gibt sich Gass ganz säkular und modern, und bescheinigt den auf Überzeitlichkeit angelegten Wendungen Altertümlichkeit (vgl. 173). Das vorerst letzte und in dieser Reihe widmet Gass jenen Konjunktionen, die auf den ersten Blick weder grammatisch noch semantisch notwendig erscheinen: Die Reihung zweier Adjektive etwa („herrlich und warm“) wäre ohne zwischenliegendes und von unmittelbarerem Charakter und liefe auf ein einheitliches Prädikat hinaus („herrlich warm“). Dagegen macht Gass auf den inhaltlichen Unterschied aufmerksam, der sich durch die eingeschobene Konjunktion ergibt. In der Partikel klinge ein zusätzlicher Hintergrund an, demzufolge an derselben Stelle auch andere Bestimmungen möglich wären. Ähnlich verhalte es sich mit dem Fall, dass die Konjunktion eine Infinitiv-Phrase ersetzt. Im Beispiel bei Gass – „Warum machst du dich nicht auf den Weg und besuchst mich von Zeit zu Zeit?“ – tritt die Konjunktion an die Stelle einer
Wendungen ist bei Gass im Kontext der rhythmisierenden Funktion der Konjunktion bereits berührt worden, steht in einer genaueren Untersuchung jedoch noch aus. 56 | Nachdem bei Pound ein then auf das anfängliche And folgt, muss an dieser Stelle ergänzt werden, dass das schlichte und [dann], die Konjunktion in temporaler Funktion, noch gar nicht zur Sprache kam.
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um-zu-Konstruktion. Auch in dieser Gestalt erinnert die Konjunktion Gass zufolge an einen hintergründigen Fundus weiterer Optionen. Die Substitution der InfinitivVerknüpfung durch die Verbindung via und mildert zudem die Abhängigkeit des Nebensatzes vom Hauptsatz. Der Nebensatz muss nun nicht mehr zwingend eine Zweckbestimmung angeben.57 In einem kurzen Zwischenresümee bilanziert Gass, dass rings um die Konjunktion eine Vielzahl von Optionen in der Luft liegen. Einer Stimmgabel vergleichbar schwinge das und zwischen ihnen hin und her (vgl. 173). Was Gass bislang auseinanderhielt, führt die Metapher der Stimmgabel nun zusammen: Aktive und passive Momente greifen ineinander. Denn so klar sich das Instrument an den eigenen Ton hält, bedarf es des äußeren Anstoßes, der mechanischen Anregung oder der Fremdschwingung, um den Klang hervorzubringen. Dieser potentielle inhaltliche Reichtum des und steht für Gass mit den herkömmlichen Klassifizierungen der Konjunktion durch Logik und Grammatik in Kontrast. Demnach würden es letztere nur in geringem Maße vermögen, an den Bedeutungsspielraum der Konjunktion heranzureichen. „Logical and grammatical form – the fact that ‚and‘ is a connective, and not an article, an adjective, or a noun – limits somewhat the meanings that our word may assume, but only somewhat, and there is little in these formal dispositions that can tell us in advance of experience what ‚and‘ means.“ 58 (173) Die Praxis des alltäglichen Sprachgebrauchs habe dagegen kaum Schwierigkeiten, mit der Fülle konjunktionaler Möglichkeiten umzugehen: „the syntax takes shape simultaneously with the meanings it shapes.“ (174) Gass zitiert weder logische noch grammatikalische Definitionen, an denen sich die Beschränktheit, die er ihnen zuschreibt, überprüfen ließe. Der Maßstab, den er anlegt, lautet Erfahrung bzw. Erfahrbarkeit („experience“). Demnach sei auch die Binnendifferenzierung der Junktionen, der Füge- und Bindewörter, nicht ausreichend geklärt: „We can’t even know whether we are going to be dealing with a preposition, a
57 | Neben der Minderung von Finalität, die Gass anführt, eröffnet die Verknüpfung mittels und auch die Möglichkeit, dass im weiteren Verlauf des Satzes das Subjekt wechselt. Dagegen setzen Infinitiv-Junktionen die Beibehaltung ein und desselben Subjekts über alle angeschlossenen Satzteile voraus. Vgl. Harald Weinrich: Textgrammatik der deutschen Sprache, unter Mitarb. v. Maria Thurmair u.a., Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich 1993, S. 764f. 58 | „Die logische und grammatikalische Form – das heißt die Tatsache, dass und ein Verbindungsglied, eine Junktion ist und kein Artikel, kein Adjektiv oder Substantiv – hält die Bedeutungen etwas in Grenzen, die unser Wort annehmen mag, aber nur ein kleines bisschen, und es gibt nur wenig innerhalb dieser formalen Zuschreibungen, das uns konkret von dem etwas mitteilt, was und konkret bedeuten kann.“
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conjunction, or a strange kind of adverb“ (173). Alle von Gass genannten Wortarten – die Präposition, die Konjunktion und der Artikel – sind nicht flektierbar, das heißt sie passen ihre Form in keinem Fall äußeren Umständen an – weder nach Tempus oder Kasus noch nach Genus, Numerus oder Modus. Ob darin der Grund zu sehen ist, diese Worte nicht klar auseinanderhalten zu können, lässt Gass allerdings offen. Auch nach der Fokussierung auf die Junktionen bleiben Logik und Grammatik eine undifferenzierte Kontrastfolie. Deshalb stellt sich auch hier die Frage, ob das genannte Problem nicht eher daher rührt, dass Gass beide, Logik wie Grammatik, nicht genau genug betrachtet. So gibt es sehr wohl diskrete Kriterien, die eine grammatische Binnendifferenzierung der Junktionen erlauben: Eine Präposition zeichnet es demnach aus, nicht nur stets vor ihrem Bezugspunkt zu stehen, sondern auch einen bestimmten Kasus nach sich zu fordern (Rektion); und allein ein Adverb kann gegebenenfalls vor einem finiten Verb stehen.59 Und hinsichtlich des und als logischem Junktor (∧) gibt es nicht nur eindeutige Definitionen, sondern auch unzählige Möglichkeiten, alternative Definitionen vorzunehmen und auf ihre Konsequenzen auszuprobieren. Vor diesem Hintergrund ist schließlich an Gass zurückzufragen, ob das Wissen um logische und grammatikalische Zusammenhänge die Fülle des Erfahrbaren nicht eher bereichert denn schmälert. Die Frage nach der Erfahrung von Sprache kristallisiert sich als ein Angelpunkt heraus: „so that when the words call our experiences together in a sentence, the ensuing arrangement, and completed meaning, are the result of our memories of life and our understanding of language.“ 60 (174) Demnach bilden Lebenserfahrung und Sprachverständnis das Reservoir, auf das die Sprache zugreift, um Form und Inhalt anzunehmen. Zentrale Bedeutung kommt dabei der Erinnerung zu. Sie fungiert Gass zufolge nicht allein als Ort, an dem Erfahrungen hinterlegt sind, sondern auch als Funktion, die die Worte und das, was sie intendieren, zusammenträgt und verknüpft. Dieses Vermögen parallelisiert und verschränkt Gass schließlich mit physischer Praxis: „My mind remembers the way trained muscles do, so when I speak and read as well as I walk and bike, then we can say that I have incorporated my language [. . .].“ 61 (174) Angenommen, dass sich sprachliche Kapazitäten analog zu gewollten
59 | Vgl. Duden-Grammatik, Mannheim/Zürich 2009, S. 569 u. 602. 60 | „[. . .] so dass das Gefüge, das entsteht, wenn die Worte unsere Erfahrungen in einen Satz zusammenrufen, und seine schließliche Bedeutung das Ergebnis unserer Erinnerungen an das Leben und unseres Verständnisses von Sprache ist.“ 61 | „Mein Verstand erinnert sich in der Art, wie es trainierte Muskeln tun, so dass wir, wenn ich in gleicher Weise spreche und lese wie ich laufe und Fahrrad fahre, davon ausgehen können, ich habe mir meine Sprache einverleibt [. . .].“
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wie notgedrungenen körperlichen Routinen verhalten und entwickeln – so deduziert Gass weiter –, kommen bedeutungstragende Strukturen einer Veranlagung gleich, das heißt Semantik stellt mehr als eine optionale Zutat dar: „[. . .] that language, at least, will have been invested with meaning, not merely assigned it.“ (174) Allerdings muss Gass zuletzt einräumen, dass sich diese Prozesse sprachlicher und spezifisch semantischer Verinnerlichung nicht einfach erlernen und direkt umsetzen lassen. Dazwischen treten eine Reihe großer philosophischer Begriffe: „[. . .] but when, for me, idea and object fuse with their sign, then the sign is valuable like the coin it resembles; it is alive, a unity of mind and body that can be taught to sing, to dance.“ 62 (174) Kurz: die Erfahrung, in der „Idee“, „Objekt“ und „Zeichen“ eine „Einheit“ bilden, ist für Gass ein Ereignis, dessen Zustandekommen nicht in der Hand des Subjekts liegt, das aber für ästhetische Anregungen offen ist. Im Rahmen dieses Vorstoßes, mit dem Gass in aller Kürze eine ganze Reihe großer Begriffe versammelt, wirkt sich einmal mehr nachteilig aus, dass er weder Logik noch Grammatik eigens zu Wort kommen lässt. In der Konsequenz fehlt ihm dann nicht allein das Werkzeug – das er streng genommen gar nicht ablegen kann –, sondern vor allem eine geräumige Werkstatt. Unversehens geht die Analogie von Sprache und Physis („as well as“) in eine Fusion über („incorporated“, „invested“), von der aus gar nicht mehr zur Frage werden kann, wie Fusion und Fusionsfähigkeit überhaupt zustande kommen können, ganz zu schweigen von anderweitigen Beziehungen zwischen Sprache und Körper.63 Auf das und kommt Gass über einen sprachgeschichtlichen Exkurs wieder zu sprechen. Sprache – wobei Gass die Alltagssprache hervorhebt – unterliege der Zeit nicht nur, sondern berge sie auch in sich. Entsprechend dient Gass nicht mehr das Körpergedächtnis der Muskulatur als Modell, sondern – um die Hinfälligkeit des
62 | „[. . .] wenn sich allerdings für mich eine Idee und ein Objekt mit ihrem Zeichen vereinen, dann ist das Zeichen soviel wert wie die Sache selbst; es ist lebendig, eine Einheit aus Verstand und Körper, die dazu gebracht werden kann, zu singen und zu tanzen.“ 63 | Auch Harald Weinrich argumentiert für einen engen Zusammenhang von Körperlichkeit und Sprache, allein dass er diesen Konnex nicht gegen, sondern gerade für eine Grammatik zu nutzen versucht. Im Rahmen eines kurzen Aufsatzes deuten ihm gegen Ende „verschiedene Anzeichen darauf hin, dass für das kommunikations-anthropologische Anschauungsmodell“ – so bringt Weinrich den Sprache-Körper-Komplex auf einen Begriff – „eine linguistische Universalitätshypothese formuliert werden kann, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Präpositionen“, die seinen Untersuchungsgegenstand darstellen, „sondern auch im Hinblick auf die Konjunktionen und auf vielleicht alle Junktoren der Sprache [. . .].“ ( Ders.: Für eine Grammatik mit Augen und Ohren, Händen und Füßen – am Beispiel der Präpositionen, Opladen 1976, S. 25f)
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menschlichen Körpers gar nicht erst zu einem Problem werden zu lassen – die Geologie, konkret die Steine, die seit Urzeiten von Wind und Wasser geformt werden: „‚And‘ is such a polished orb.“ (174) Dieser Übergang der beispielgebenden Kontexte lässt das Verhältnis von Mensch und Wort nicht unberührt: Die Gestalt, die der Konjunktion eigen ist, geht demnach nicht auf ihren gegenwärtigen Gebrauch zurück, sondern resultiert aus der Reibung, die Generationen ihr haben angedeihen lassen. Vor diesem Hintergrund übertrifft die Komplexität, die selbst in ein kleines Wort wie die Konjunktion eingegangen ist, die Gestaltungsmöglichkeiten eines Individuums um ein Vielfaches. Gass verheimlicht sein ehrfürchtiges Erstaunen nicht. Doch bald scheint ihm diese überindividuelle Dimension zu viel zu werden: „And if we were suddenly to speak of the ‚andness‘ of things, we would be rather readily understood to refer to that aspect of life which consists of just one damned ‚and‘ after another.“ 64 (175) Sieht sich der Weg bis zur Hypothese einer Undheit der Dinge noch von der Emphase sprachgeschichtlicher Weiten getragen, kippt die Begeisterung noch im selben Satz und Gass sucht in den Reduktionen des gewohnten Laufs der Dinge einen Halt. Zuerst eröffnet ihm das und eine schiere Überzeitlichkeit, in der er die Konjunktion zu einer eigenen Kategorie, der Undheit, erhebt, dann rekurriert er auf das alltägliche Einsnach-dem-anderen. Enttäuscht kommt Gass auf die Gleichzeitigkeit zurück, in der die Konjunktion ihre Elemente trennt und verbindet: „‚And‘ is a truly desperate part of speech because it separates and joins at the same time. It equalizes.“ (175) Ob diese ausgleichende Wirkung auch die Spannweite der Ambivalenz zwischen einer „Undheit der Dinge“ und „one damned ‚and‘ after another“ zu schließen im Stande ist, lässt Gass an dieser Stelle jedoch – bewusst oder unbewusst – offen. „And so what?“ / „Na und?“ (175) Diese Frage wirft Gass im unmittelbaren Anschluss auf. Sie kann dem letzten Gedankengang, aber auch der gesamten bisherigen Untersuchung gelten. Mehr Fragment als Satz, ist sie in der Regel rhetorisch gemeint. Im Englischen muss ihr die Konjunktion – im Gegensatz zum Deutschen – allerdings nicht zwingend angehören.65
64 | „Und wenn wir plötzlich von der Undheit der Dinge zu sprechen hätten, würden wir uns doch wieder eher auf eine Auffassung des Lebens stützen, die ein verfluchtes und auf das nächste folgen lässt.“ 65 | Das heißt nicht, dass sich der deutsche Ausdruck nicht durch „Was soll’s?“ ersetzen ließe, so wie im Englischen auch „Who cares?“ möglich wäre.
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Nachdem der deutsche Ausdruck „Na und?“ nicht ohne die Konjunktion auskommt, ist ergänzend zu Gass kurz bei diesem Fall zu bleiben. „Na und?“ richtet sich in der Regel als Reaktion an etwas Vorheriges, das relativiert werden soll. In erster Linie ist der Ausdruck rückwärtsgewandt, denn die Relativierung benennt soweit keine Alternative, in deren Namen oder zu deren Zweck sie auftritt. Stattdessen bleibt alles Folgende vorerst eine Sache des Fragezeichens. Die Rolle, die das und dabei übernimmt, ist vielschichtig: Formal steht die Konjunktion zwischen dem Vorherigen, an das sich „Na und?“ richtet, und der Unbestimmtheit dessen, was hinter dem Fragezeichen stehen könnte. Genauer betrachtet kommt in jener Unbestimmtheit die Fülle alles Erdenklichen zum Tragen. Das Vorhergehende wird mit der Anspielung auf eine Vielfalt anderer Möglichkeiten konfrontiert, die umso größer ist, als nichts Bestimmtes aus ihr herausgegriffen wird. Über ein Minimum an Explikation wird ein Maximum an Implikation hervorgerufen. Der Einspruch, den das „Na und?“ erhebt, nutzt die Anschlussoffenheit der Konjunktion, um das Vorhergehende in ein Licht der Kontingenz zu stellen. Ihm zufolge könnten die Dinge stets auch anders laufen. Und worauf ließe sich nicht in dieser Form antworten? Damit liegt für die Art und Weise, in der das und an Vorhergehendes anschließt und sich an Weiteres richtet, ein zweiter konziser Ausdruck vor: Nach jenem „next!“, das bereits zur Sprache kam (vgl. S. 113), nun „Na und?“. Beide Wendungen stellen Formen der Vermittlung dar, wobei der Vorwärtsgewandtheit von „next!“ die Rückwärtsgewandtheit von „Na und?“ korrespondiert. Trotz dieser Präferenzen bleiben beide Ausdrücke beidseitig ausgerichtet: Wie sich die Bitte von „Das Nächste bitte!“ an etwas Vorherigem festmacht, gilt das Fragezeichen von „Na und?“ etwas Folgendem. Genauer betrachtet gehört der Bezug auf etwas Kommendes dem Fall des „Na und?“ nicht minder wesentlich an: Während das Ausrufezeichen von „next!“ tendenziell etwas Bestimmtes verlangt, gilt „Na und?“ in dieser Richtung allem, nur nicht dem, was unmittelbar vorherging. Aus der Menge der Möglichkeiten soll für den Moment gerade nichts Konkretes hervortreten, vielmehr wird jene Menge als solche evoziert, um mit Nachdruck die Begrenztheit und Ersetzbarkeit des Vorherigen aufzuzeigen. Im Rückblick auf den bisherigen Verlauf der Gass’schen Untersuchung können die Fälle von „next!“ und „Na und?“ zwei widerstreitenden Perspektiven zugeordnet werden, zwischen denen Gass schwankt: Auf der einen Seite tastet er sich im Namen größter Möglichkeitsräume bis zum Theorem einer „Undheit der Dinge“ vor; auf der anderen Seite nimmt er Zuflucht bei konventionellen Wendungen wie „ham and eggs“ und lässt sich von ihnen Ausgeglichenheit bescheinigen. Einmal tritt er für die Eigengesetzlichkeit der Konjunktion ein, das andere Mal baut er auf die Erschließbarkeit
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der konjunktionalen Gefüge.66 Die Erschließbarkeit setzt eine wie auch immer geartete Form von Abgeschlossenheit voraus, deren Behauptung sich die eigengesetzliche Perspektive gerade verweigert.67 Analog zum Spannungsfeld zwischen Fremdbestimmung und Eigengesetzlichkeit korrespondiert der ausgleichenden Funktion des und, auf die Gass zuletzt setzt, eine Irritationspotential: In dem Maße, in dem sich das und jeglicher eindeutiger Gewichtungen zugunsten eines seiner Relata enthält, ebnet es Möglichkeiten den Weg, die durch keine konkrete Auswahl an Relata je gänzlich eingelöst werden können. Die Verschränkung von Offenheit und Forderung zeichnet die Konjunktion unabhängig davon aus, ob ihr Einsatz affirmativ oder relativierend intendiert ist.68 (V) Die Konjunktion im Themenfeld der Liste Nachdem die Ambivalenz, die innerhalb der strukturellen Anlage des und waltet, kaum mehr von der Hand zu weisen ist, schlägt Gass einen neuen Ordnungsbegriff vor: „The inner order of the ‚and‘ is the list“ (175). Demnach kann etwas, sobald es durch die Konjunktion verbunden wird, als Bestandteil einer Liste gelten. Jedoch zeigt bereits das erste Beispiel, das Gass anführt und das aus einer Liste mit Listen
66 | Harald Weinrich nimmt den Konflikt zwischen Fremd- und Eigengesetzlichkeit unter den Stichworten von Analogismus und Anomalismus zum Ausgangspunkt seines bereits erwähnten Artikels. Dort finden sich für die zugehörige Debatte innerhalb der Sprachwissenschaft weiterführende Literaturhinweise. Vgl. ders.: Für eine Grammatik mit Augen und Ohren, Händen und Füßen, a.a.O., S. 5f. 67 | Mit Blick auf die Eigengesetzlichkeit des Gegenstandes könnte sich Gass des Zuspruchs von Francis Ponge gewiss sein, was insbesondere die Referenz auf den Kieselstein nahelegt: „[. . .] ich sehe nicht ein, weshalb ich nicht anfangen sollte, uneingeschränkt zu zeigen, dass es möglich ist, endlose Abhandlungen über die einfachsten Dinge zu schreiben, die aus ganz neuen, noch ungesagten Erklärungen bestehen würden, weil nämlich, um was es sich auch immer handelt, nicht allein noch nicht alles darüber gesagt worden ist, sondern noch beinahe alles darüber zu sagen bleibt.“ ( Ders.: Einführung in den Kieselstein, übers. v. Gerd Henniger u. Katharina Spann, Frankfurt a.M. 1986, S. 145) 68 | Das Werk der Künstlerin Ann Veronica Janssens inspiriert Mieke Bal in diesem Sinne zur Analysefigur einer „endlosen Undheit“. Bal konzipiert diese – Deleuze verpflichtet – als die „abstrakt stotternde Wiederholung eines ‚und‘, das sich verweigert, anzuhalten.“ Im künstlerischen Kontext sieht sich das Irritationspotential der Konjunktion entsprechend nicht durch Konventionen gebändigt, sondern vielmehr als Quelle in den Dienst genommen. Vgl. Mieke Bal: Endless Andness, The Politics of Abstraction According to Ann Veronica Janssens, London/New York 2013, S. 223 u. 231 (eigene Übersetzung).
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besteht, dass die Wirkweise des und auf diesem Wege wohl eher einen neuen Namen als eine abschließende Einordnung erhält. Angesichts der Frage, wie eine Liste allererst entsteht, unterscheidet Gass drei Prinzipien: Demnach kann sich eine Liste (1.) spontan, (2.) abstrakt oder (3.) mimetisch aufbauen. Das erste Prinzip, die Spontaneität, bezieht sich auf subjektive Entscheidungen, die aus der Not, wie aus Lust und Laune geboren sein können. Die Prinzipien zwei und drei, Abstraktion und Mimesis, richten sich dagegen primär an den gelisteten Gegenständen aus. Die Abstraktion verpflichtet sich dabei einem externen, übergeordneten Reglement; die Mimesis macht es sich dagegen zum Ziel, eine Ordnung aus dem zu Ordnenden selbst abzuleiten. Einen Sonderfall in dieser letzten Kategorie sieht Gass in Listen, deren Struktur aus einer Eigendynamik heraus – „a hidden internal principle“ (176) – Form annimmt.69 Ein Merkmal, das jenseits der genannten Prinzipien allen Listen eigen ist, bringt Gass auf den Begriff des Nebeneinanders: „Lists are juxtapositions“ (176). Dass er dabei nicht primär an eine horizontale Anordnung denkt, sondern auf die Implikation der Heterogenität abzielt, zeigt der Vergleich zum künstlerischen Ausdrucksmittel der Collage. Beide Formate, Liste wie Collage, vermögen es Gass zufolge, mitunter sehr disparate Elemente in sich aufzunehmen und auf diesem Weg neue, noch unbedachte Zusammenhängen aus sich hervorgehen zu lassen.70 Insofern die Struktur, nach der eine Liste ihre Bestandteile gliedert, nicht zwingend im Dienst von Gemeinsamkeiten und Übersichtlichkeit stehen muss, öffnet sie auch dem Exzessiven die Tür. Dieser Aspekt kann sich mitunter noch verstärken, da eine Liste nicht mit den Dingen selbst, sondern genauer genommen mit deren Namen operiert. Gass reflektiert allerdings nicht weiter auf die erhöhte Beweglichkeit der Listenpunkte, sondern rubriziert die Substitution der Dinge durch ihre Namen vorerst unter die allgemeinen, formalen
69 | Ob der alttestamentarische Schöpfungsbericht, den Gass diesbezüglich als Beispiel anführt, tatsächlich als Liste gelten kann, die sich im Sinne von Mimesis selbst hervorbringt („selfgenerating“), muss als fraglich gelten. Gass mag an dieser Stelle auf die Gott-Ähnlichkeit des Menschen anspielen (1. Mose 1, 26/27), dennoch unterscheidet die Genesis stets klar zwischen Schöpfer-Subjekt (Gott) und Schöpfung. 70 | Diese Punkte stellt auch Peter Bexte in seinen Überlegungen zum Konnex von Collage und Konjunktion heraus. Allein die Wege von Bexte und Gass trennen sich ebenso schnell wieder, insofern Gass dem Stichwort der Collage nicht in die künstlerische Praxis folgt, was für ihn auf „romantische Behauptungen“ hinausliefe. Vgl. 176, sowie Peter Bexte: ‚und’ – Bruchstellen im Synthetischen, in: Gabriele Gramelsberger, Peter Bexte, Werner Kogge ( Hg.): Synthesis – Zur Konjunktur eines philosophischen Begriffs in Wissenschaft und Technik, Bielefeld 2014, S. 27ff; dazu auch das vorherige Kapitel zum und als kulturtheoretischem Parameter.
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Gegebenheiten einer Liste. Listen bestehen demnach zumeist aus Substantiven, die explizit oder zwischen den Zeilen von Konjunktionen verbunden und aufgereiht werden. Gass unterscheidet mit Blick auf die Konjunktion zwei Fälle: den direkten, unmittelbaren Bezug, in dem die Konjunktion zwei Substantive verknüpft, und den indirekten, mittelbaren Bezug, nach dem sich Satzteile oder ganze Sätze durch das und verbunden sehen.71 Dass die Dinge nicht als sie selbst im Raum stehen, sondern durch ihre Namen vertreten werden, stellt Gass zufolge eine Voraussetzung für Listen dar. Allerdings müsse im Umkehrschluss nicht alles, was auf einer Liste steht, auch jenseits dessen existieren. Gass zielt mit diesem Einwand weniger auf erfinderische Namensgebungen, als auf den Spielraum von Listen: „They supply possibilities“ (177). Demnach ist alles, was auf einer Liste steht, wenn auch nicht zwingend existent, so doch zumindest möglich. Diese Optionalität birgt Gass zufolge stets weitere Möglichkeiten. Anders formuliert: Eine Liste stellt ein strukturell offenes Format dar. Im Rückschluss auf die Konjunktion führt Gass allerdings nicht jene Offenheit an, sondern bezieht sich erstmals auf die Disjunktion oder: „These ‚ands‘ resemble ‚or‘ more than they resemble themselves.“ 72 (177) Offenbar bringt es der Kontext der Liste mit sich, dass die trennenden Anteile der Konjunktion die verbindenden überwiegen. Gass führt diesen Punkt allerdings nicht weiter aus. So bleibt vorerst ungeklärt, wie das genannte oder mit dem Möglichkeitsraum der Liste zusammenhängt, und wie es sich logisch als Junktor (∨) oder grammatikalisch als Konjunktion näher zum und verhält und verhalten kann (oder [auch] oder oder [aber]).73 Gass setzt nochmals an den Punkten einer Liste an. Auch wenn es sich dabei gegebenenfalls nur um Möglichkeiten handelt, liege stets ein Bezugspunkt vor: „Lists have subjects.“ (177) So weit diese Subjekte ihrer Herkunft oder Bestimmung nach
71 | Beide Fälle veranschaulicht Gass mit Schaubildern. Das erste stellt eine Wippe vor, deren Fußpunkt wie schon im Kontext der Satzanalyse durch die Konjunktion gegeben ist (vgl. S. 108). Das zweite Schema zeigt ein gleichseitiges Dreieck, das nach unten zeigt. Nun bildet das und nicht die Basis, sondern die oberste, horizontale Seite und verbindet darüber zwei Eckpunkte, die ihrerseits beide auch mit der Basis als dem übergeordneten Bezugspunkt der Konjunktion verbunden sind (vgl. 176). Auffällig ist, dass beide Konjunktionsschemata eine Tendenz zur Labilität aufweisen und dergestalt den Eindruck zwischenzeitlicher Schwebezustände erwecken. 72 | „Diese unds stehen mehr für oder als für sich selber.“ 73 | Eine sprachwissenschaftliche Untersuchung der kopulativen und disjunktiven Ausrichtung des oder im Bezug zum und, so die dortige Ausdrucksweise, findet sich in Roland Harweg: Studien zu Konjunktionen und Präpositionen, Aachen 2010, S. 299ff.
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differieren mögen – von Liste zu Liste, wie auch innerhalb einer einzigen Aufstellung –, teilen all jene Subjekte das Prädikat, dass sie Teil einer Liste sind. Gass legt diese Zugehörigkeit räumlich aus, als einen Ort, an dem eine Versammlung aller Punkte zumindest vorstellbar ist – „where we may imagine these items have been assembled“ (177). Mit der zentralen Bedeutung, die der Raum Gass zufolge für Listen besitzt, gehe einher, dass Verben in ihrer angestammten Funktion als Zeitwörter unterdrückt werden. So sei zu erklären, dass sich Verben im Kontext von Listen entsprechend selten fänden. Die Formulierungen, mit denen Gass auf die Konjunktion zurückkommt, erwecken vor diesem Hintergrund den Anschein, als fiele es den Konjunktionen zu, die Leerstelle der Verben auszufüllen: „While the early ‚ands‘ of a series propel us onward, the later ones run breathlessly in place [. . .].“ 74 (177) Demnach organisieren die Konjunktionen innerhalb einer Liste nicht nur eine bestimmte Reihenfolge, sondern haben an unterschiedlichen Stellen eine unterschiedliche Wirkung auf die Rezeption des Ganzen. Mit fortschreitender Länge schreibt ihnen Gass ein Moment der Verausgabung zu. Je länger sich die Liste erstreckt, desto deutlicher werde die Konzentration auf einen einzelnen Punkt. Dieser Zusammenhang gelte auch dann noch – so führt Gass im Folgenden aus –, wenn eine Liste Züge des Exzessiven annimmt. Die schier endlosen Variationen würden auch dann noch um ein und denselben Sachverhalt kreisen. Mit einem Beispiel aus Rabelais’ Gargantua veranschaulicht Gass, wie die listenartigen Ausschreitungen, die er im Sinn hat, mitunter auch gar nicht das Ziel verfolgen, äußere Fortschritte zu erzielen, sondern vielmehr danach trachten, den Aspekt ihrer Zusammengehörigkeit zu verdichten, auszureizen und zu überfüllen. Soweit Gass bis zu dieser Stelle Listen als etwas schildert, das sich – auch noch im Fall des Exzesses – durch die Konzentration auf einen Ort erschließen lässt, wechselt er im Folgenden die Perspektive. Listen zeichnen sich ihm nun durch eine Offenheit aus, die so weit reicht, dass sie für unabschließbar gelten kann. Als müsste er moralischen Einwänden zuvorkommen, stellt Gass vor diesem Hintergrund klar, einen Anfall niederen Sprachgebrauchs jeder „puritanischen Prosa“ vorzuziehen (178). In der Frontstellung gegen mögliche Einschränkungen sprachlicher Artikulation werden ihm Listen und ihre Konjunktionen zu Garanten eines Lebens in Fülle:
74 | „Während uns die früheren unds einer Liste vorantreiben, treten die späteren atemlos auf der Stelle [...].“
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„Lists are finally for those who love language, [. . .], because lists are fields full of words, and roving bands of ‚and‘.“ 75 (178) Allerdings wird die Konjunktion, sofern das Vagabundieren seinem Namen gerecht werden soll, nicht allein Liebenswürdigkeiten auf den Weg bringen. Gass bezieht sich mit einer Reihe von literarischen Beispielen allein auf die schönen Seiten der ungebundenen Vielfalt.76 In abschließender Emphase – „Perhaps ‚AND‘ should be sewn on the flag.“ 77 (178) – weitet Gass den Geltungsbereich der Liste so weit aus, dass er es wenn überhaupt nur ihrem Format zutrauen würde, an die Fülle dessen heranzureichen, was er das Leben nennt. Bei aller zwischenzeitlichen Ungebundenheit der Konjunktion bleibt Gass bei Fragen der Mach- und Beherrschbarkeit. Insofern Listen der Aufbewahrung dienen, haben sie mit der Erhaltung dessen zu tun, was sie enthalten. Das paradigmatische Beispiel stellt für Gass allerdings nicht die Inventarliste dar, sondern das Wörterbuch und die Literatur als Ganze. In diesem Zusammenhang sind Listen nicht allein Mittel zum Zweck, sondern auch Stilmittel. Dabei geht es nicht nur darum, was gelistet wird, sondern auch wie dies geschieht. Die Konjunktion zählt Gass diesbezüglich zu den festen Bestanteilen: „[Lists] are as frequent a rhetorical element as ‚and‘ is a grammatical one.“ 78 (179) Anfangs führte Gass die These an, dass mit jeder Konjunktion bereits eine Liste im Entstehen sei. Nun zieht er diesen Zusammenhang andersherum auf, wonach jede Liste das Element der Konjunktion enthalte. Ohne dass sich Gass auf seine vorherige Aussage zurückbezieht, ergeben die beiden Sätze zusammengenommen, dass sich Liste und Konjunktion wechselseitig voraussetzen. Das Verhältnis von Liste und Konjunktion wirft die Frage auf, wann eine Liste für abgeschlossen gelten kann: „When do we have a list, however, and when not?“ (179) Um der Möglichkeit des Exzesses Einhalt zu gebieten, nahm Gass an, dass Listen stets auf einen Ort verweisen, an dem alle enthaltenen Aspekte zumindest der
75 | „Listen sind letztlich für jene bestimmt, die die Sprache lieben, [. . .], denn Listen sind Felder voller Worte und vagabundierender und-Banden.“ 76 | Auch Gilles Deleuze weist gesondert auf „Amerikanische Meister der Konjunktion“ hin, lässt Hinweise auf die Schattenseiten der Exzesse, auf Abstürze und Selbstzerstörung, allerdings nicht außen vor. Vgl. ders. u. Claire Parnet: Von der Überlegenheit der angloamerikanischen Literatur, in: Dialoge, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1980, S. 43–82; sowie im hiesigen Zusammenhang das folgende Kapitel. 77 | „Das UND sollte vielleicht auf die Flagge genäht werden.“ 78 | „So häufig sich Mitteilungen in Form von Listen äußern, so häufig wird und innerhalb jener Sätze auftauchen.“
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Möglichkeit nach zusammenkommen können. Ganz ähnlich versucht er nun dem Problem der Listenlänge Herr zu werden, indem er postuliert, eine Liste gehe stets mit der Möglichkeit einher, eine bezifferbare Länge aufzuweisen: „for the idea of a list implies the possibility of a complete enumeration.“ (179) Zahlen stellen jedoch nicht unbedingt ein verlässliches Fundament dar. Gass führt zwar nicht explizit an, dass eine Zahl, um eindeutig bestimmt zu sein, diese Eindeutigkeit bis ins Unendliche erweisen muss; doch äußert er einen verwandten Gedanken, der seinerseits auf den Zusammenhang zwischen Zahlen und potentieller Unendlichkeit hinweist: „There are an infinite number of numbers which no one will ever name.“ 79 (179) Das Mittel zur Begrenzung erweist sich als unbegrenzt. Vor diesem Hintergrund werden die Zahlen für Gass zum Anlass einer Reihe „entmutigender Gedanken“. Für alle Fälle, die er exemplarisch anführt – die Menge aller ungeraden Zahlen, die Unendlichkeit in Zahlenzwischenräumen, sowie Zahlen in der symbolischen Funktion als Identifikatoren – hätten ihm Mengenlehre und Zahlentheorie Linderung verschaffen können. So beläuft sich etwa der Bereich der natürlichen Zahlen (N) – ungeachtet, ob er mit Null (N0 ) oder Eins beginnt – auf eine Menge, die mathematisch als „abzählbar unendlich“ gilt.80 Ungerade Zahlen haben darin die Form ±2k +1 für beliebige k ∈ N0 . Ohne sich den logisch-mathematischen Herausforderungen und Wonnen anzunehmen, hält Gass daran fest, dass Listen eine Länge haben müssen: „So lists must be of a length.“ (179) Mit diesem dogmatischen Schluss wechselt Gass in den Kontext der Literatur zurück. Rabelais’ Gargantua enthält ein Kapitel, das beinahe zur Gänze aus einer Aufzählung von Eigenschaften besteht. In diesem Fall findet Gass im Rahmen der Romanhandlung und der übergeordneten Struktur der Kapiteleinteilung, was er sucht: eine feste, überschaubare Länge und also den manifesten Abschluss einer Liste. Das Problem der Abgeschlossenheit stellt sich vor allem für den Anspruch, die Rahmenbedingungen einer Liste allgemein ausweisen zu können: „When do we have a list, however, and when not?“ Ungeachtet der Schwierigkeiten, die ihm die numerische Bestimmung der Listenhaftigkeit einbrachte, unternimmt Gass einen neuen Versuch in diese Richtung. Demnach könnten weder ein bloßes Paar (eine Konjunktion) noch eine „knappe Pluralität“ (zwei Konjunktionen) bereits als Liste gelten. Erst ab vier Elementen gesteht Gass der Liste eine gerechtfertigte Existenz zu. Zuvor sei sie eine Möglichkeit, im Entstehen begriffen, aber noch nicht vorhanden. Ist das vierte
79 | „Es gibt eine unbegrenzte Anzahl an Zahlen, die niemals von jemandem genannt werden werden.“ 80 | Ernst Zermelo: Untersuchungen über die Grundlagen der Mengenlehre, in: Mathematische Annalen 65, Leipzig 1908, S. 267.
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Glied einmal zur Stelle, scheine die Zugehörigkeit aller früheren Glieder zur Liste dann seit jeher Bestand zu haben.81 Doch womit gedenkt Gass die Zahl vier als minimale Stückzahl einer Liste begründen zu können? Mit der Abgrenzung von bloßer Paarbildung, sowie der Zusammenstellung einer „knappen Pluralität“ versucht er, den Begriff der Liste quantitativ zu definieren. Ergibt ein einzelnes Element gemeinsam mit der leeren Menge bereits ein Paar? Und ist für den Fall, dass sich die leere Menge selbst enthält, dann schon eine knappe Pluralität erreicht? Dann wäre mit einem einzelnen Element schon fast eine Liste gegeben. Das sogenannte Sorites-Paradoxon kann nicht nur für die Menge des namensgebenden Haufens (griechisch sorós), sondern auch für die allgemeine Definition einer Liste gelten: Insofern der Begriff der Liste dafür einsteht, dass eine Liste eine Liste bleibt, auch wenn ein Punkt auf ihr gestrichen wird, lässt sich keine nicht-willkürliche Grenze angeben, an der die Liste aufhören würde, Liste zu sein. Warum sollte eine Liste nicht auch leer sein können? 82 Im Umkehrschluss scheint die Qualität des Listenbegriffs mitunter gerade darin zu liegen, nicht abschließend angeben zu können, wo seine Grenzen verlaufen. Das kann auch im Hinblick auf den Begriff der Konjunktion zu denken geben. Dem Geltungsbereich des Haufen-Paradoxons vermögen auch weitere Anläufe von Gass nicht zu entkommen. Weder subjektives Dafürhalten – „as if, all along, I am searching for the right set?“ –, noch dem entgegengesetzte, objektive Ansprüche einer „korrekten Zusammenstellung“ geben allgemein gültige Kriterien für eine „vollständige Liste“ an die Hand (vgl. 180). Das Kompositionsprinzip der Reihenfolge, das Gass gegen den Haufen anführt, übergeht das Problem bzw. schiebt es auf, anstelle es zu lösen: Auf der einen Seite kann eine Reihenfolge offensichtlich bereits im Fall von zwei Elementen vorliegen; auf der anderen Seite garantiert sie kein abgeschlossenes Ende. Dass die Liste qua Reihenfolge mehr zu einer horizontalen, denn einer vertikalen Ordnung tendiere, ist so plausibel, wie die Behauptung des Gegenteils. Und die Gleichberechtigung zwischen den einzelnen Elementen, die Gass mit dem Begriff des Horizontalen verbindet, gilt nicht allein für die je vorliegenden, sondern für alle möglichen Elemente. Zuletzt schenken auch die Substitution der Dinge durch ihre Namen und die Fragmentierung dessen, was jenseits der Liste zusammengehört, dem Begriff der Liste keinen beständigen Umfang. Eher im Gegenteil. Wie der Fall potentieller Unendlichkeit innerhalb eines Zahlenzwischenraumes bereits vorwegnahm,
81 | Damit gibt Gass der an früherer Stelle genannten Voraussetzung des hypertrophen und eine nachträgliche, wenn auch fragwürdige Begründung, wonach dieses erst ab einer Anzahl von drei aufeinanderfolgenden Konjunktionen als exzessiv gelten kann (vgl. S. 124). 82 | Ein Dank gilt Christoph Poetsch für den Hinweis auf das Paradoxon.
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steht selbst innerhalb eines vorgegebenen Rahmens eine Unmenge von Möglichkeiten zur Wahl, den Zwischenraum des gegebenen Kontinuums zu gliedern. Das Problem der Listenlänge kehrt – nun im Sinne der Maßeinheiten – im Innern der Listenstruktur wieder.83 Einmal mehr zeichnet sich die Antinomie von Trennen und Verbinden als Rahmenhandlung ab. Das Nebeneinander der Listenpunkte teilt auf, was die gemeinsame Zugehörigkeit zur Liste zusammenhält. Während das Prinzip der Reihung kein festes Ende bereitzustellen vermag – weder im Sinne eines letzten Gliedes noch eines konstanten Gliederzwischenraums –, gilt die Listenartigkeit immer schon allem. Hier die fortlaufende Möglichkeit des Exzesses, dort das Versprechen auf Übersicht und Handhabbarkeit. In diesem Koordinatensystem bewegt sich die Diskussion, in der Gass mit dem Problem ringt, dem Begriff der Liste klarere Konturen zu geben. Auf der einen Seite gilt ihm die nach außen wie innen gerichtete Tendenz zur Unabgeschlossenheit als Auszeichnung, indem sie darüber ein Fassungsvermögen besitzt, das es mit gewichtigen Größen aufzunehmen weiß: „Life itself can only be compiled and thereby captured on a list, if it can be laid out anywhere at all [. . .].“ 84 (178) Auf der anderen Seite hält Gass an seiner Setzung fest, dass Listen eine Länge besitzen müssen, trotz dessen, dass sowohl ihr Einzugsbereich als auch ihre Fortsetzungsmöglichkeiten offenbar unbegrenzt sind. Die Präferenz, die ihn sämtliche logisch-mathematischen Freuden ausschlagen lässt, gilt einer Pragmatik, die sich vorzugsweise in Metaphern ausdrückt: „Indeed, I can cut up the action in a lot of ways, [. . .] and in this way never reaching, any more than Achilles does, the hurdle.“ 85 (181) Ein letztes Beispiel nimmt sich dem Problem der allgemeinen Unabschließbarkeit von Listen nochmals an. Es gilt einer Liste, die vor allem durch Michel Foucault Berühmtheit erlangte. Dieser zitierte sie aus Jorge Luis Borges Die analytische Sprache John Wilkins’ von 1952. Die besagte Auflistung stellt einen Vorschlag dar, das Reich der Tiere in Rubriken zu ordnen. Dafür werden – von (a) bis (n) – vierzehn Punkte eröffnet, die schnell deutlich machen, dass sie mit herkömmlicher Tierkunde nicht
83 | Der Gass’sche Einwand, eine beliebige Kleinteiligkeit sei kaum erfolgreich praktikabel, wechselt nicht nur von der Ebene prinzipieller Problematik zur Pragmatik über, sondern fällt auch hinter den Gedanken zurück, dass es unter die Charakteristika von Listen zu rechnen sei, die gelisteten Punkte primär als Möglichkeiten und nicht zwingend als Realien zu führen (vgl. S. 136). 84 | „Das Leben selbst kann nur anhand einer Liste zusammengetragen und begriffen werden, wenn es überhaupt in irgendeiner Weise ausgelegt werden kann [. . .].“ 85 | „Tatsache, ich kann die Handlung auf viele Arten und Wege zerteilen, [. . .] und deshalb niemals und nochmals weniger als Achill die Schildkröte einholen.“
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konform gehen. Scheinbar beliebig mischen sich unter mehr oder weniger disparate Eigenschaften, die zumeist nicht nur auf Tiere zutreffen, Fabelwesen, sowie unter (l), also gerade nicht am Ende, der Punkt „und so weiter“. Gass zitiert Foucault, der zu Beginn von Die Ordnung der Dinge (1966) jene Liste mit einem unmöglichen, „raumlosen Denken“ assoziiert, das mit einem „heiligen Raum“ erlesener wie überbordender Fülle korrespondiere.86 Gegen das Argument der Raumlosigkeit der Borges’schen Liste hält Gass an seiner These fest, nach der es ein allgemeines Charakteristikum von Auflistungen darstellt, ihren Elementen einen gemeinsamen Ort zu vermitteln – auch wenn nicht immer von vornherein klar ist, worin dieser bestehe. Das betreffe nicht weniger die Konjunktion: „‚And‘ always raises this issue [. . .].“ (182) Foucault begehe deshalb den Fehler, die Liste nicht exemplarisch, sondern wörtlich aufzufassen. Erst als Exempel, so argumentiert Gass, lassen die Rubriken der Zusammenstellung ihre mitunter groben Überschneidungen hinter sich, und es wird sichtbar, dass es sich um eine fein abgestimmte Reihe logischer Fehler handelt: „it represents a wellchosen series of logical mistakes.“ (182) Jeder Posten der Borges’schen Liste greife irgendein Ordnungsprinzip oder Strukturmerkmal an, das ansonsten für eine Liste von konstitutiver Bedeutung ist. Insofern diese spezielle Liste also gerade aus jenen Angriffen besteht – und dabei so kompromisslos vorgeht, auch die Angriffe ihrerseits nicht zu ordnen – hebe sie die logischen Fundamente des Formats Liste geradewegs aus den Angeln. Die bewusste Missachtung setzt allerdings eine genaue Kenntnis dessen voraus, was missachtet wird. Auf diese Weise darf sich die Versammlungsund Lokalisierungsfunktion der Liste zuletzt bestätigt sehen. Soweit die Gass’sche Auslegung. Im abschließenden Beispiel kommt die Thematik von Trennen und Verbinden in Form des Widerstreits zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit zum Ausdruck. Auf der einen Seite tritt die These, dass alle Listenpunkte einem gemeinsamen Ort angehören, für Einheit ein („The site of this list“); auf der anderen Seite lässt sich nicht ausräumen, dass die Grenzen dieses Ortes keinen klaren Verlauf aufweisen („that there are more things in heaven and earth than are dreamt of in our taxonomies“). Dennoch hält Gass daran fest, dass sich dieser Widerspruch im Namen der Einheit
86 | Der Ausschnitt, den Gass von Foucault zitiert, suggeriert eine mehr oder weniger naive Metaphysik, nach der die offensichtliche Unmöglichkeit einer einheitlichen Ordnung auf einen übergeordneten, unsichtbaren Bereich verweist, in dem alle Unmöglichkeiten und Absurditäten schließlich doch zu einer Ordnung zusammenfinden. Dagegen bezieht Foucault jene Sätze zuvor explizit auf die Verortung der Liste nach China, dessen „Name allein für das Abendland eine große Reserve an Utopien bildet.“ ( Ders.: Die Ordnung der Dinge, übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt a.M. 1974, S. 21)
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versöhnen lasse. Unberücksichtigt bleibt dabei jedoch zum einen der literarische bzw. poetische Kontext, dem die Liste von Borges entstammt, und zum anderen die Pragmatik der Lesart, mit der Gass an das Beispiel herangeht. Die Unterscheidung zwischen einer poetischen und einer pragmatischen Auffassung von Listen – wie sie etwa Umberto Eco in Die unendliche Liste zugrunde legt – zieht sich implizit durch mehr oder weniger alle Aspekte, die Gass zum Thema insgesamt anführt. Nach Eco gilt für die pragmatische Rezeption, dass sie hinter jedem Listenpunkt einen konkreten, referentiellen Zweck annimmt und die Liste als Ganzes auf diese Weise begrenzt. „Eine praktische Liste ist nie widersprüchlich, wenn man das Kriterium ihrer Zusammenstellung kennt.“ 87 Aus einer poetischen Perspektive können sich Listen dagegen ebenso mit dem Widersprüchlichen wie mit dem Unendlichen einlassen – mit Fragen der Sinnlichkeit, nicht nur der bloßen Information.88 Mit dieser Differenzierung wird sichtbar, dass die abschließende Gass’sche Synthese daraus resultiert, eine poetische Mannigfaltigkeit („( j) innumerable, [...], (l) et cetera“) mit einer pragmatischen Einheit („an introductory text in logic“) zu überschreiben. Dieser Zug entbehrt der Raffinesse nicht, da die offenkundige Unordnung und Unvollständigkeit der Kategorien bei Borges dem Kriterium der Zusammenstellung, es handle sich dabei um eine präzise Sammlung logischer Fehler, genau zu entsprechen weiß. Jede interne Ungereimtheit bestätigt dieses Kriterium auf eine zusätzliche Weise. Allerdings, und diesen Hinweis bleibt Gass zum Ende hin schuldig, lässt sich eine Liste aus poetischem Kontext nicht nur pragmatisch lesen, sondern auch poetisch. Im Bezug auf die abschließende Interpretation von Gass hieße das im Mindesten, die Relativität des Fehler-Begriffs einzuräumen: Womit sollte auch abschließend ausgeschlossen werden, dass es ein Fehler sein könnte, im Rahmen der genannten Liste ausschließlich Fehler zu erblicken? In der Weise, wie der Regelmissbrauch die Regel bestätigt, fordert die Regel wiederum den Missbrauch heraus. Dass das et cetera mitten unter den anderen Punkten der Borges’schen Liste steht, kann entsprechend nicht nur als bloße Abweichung von der Konvention gesehen werden, die Wendung am Ende eines Abschnitts unterzubringen. Die Fortsetzbarkeit, auf die sie gemeinhin abschließend hinweist, hat ihren logischen wie poetischen Ort demnach vielleicht nicht weniger zwischen den Dingen, als bloß nach deren Auflistung.
87 | Umberto Eco: Die unendliche Liste, übers. v. Barbara Kleiner, München 2011, S. 116. 88 | Vgl. ebendort, S.118.
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(VI) Das Verhältnis von Wort und Welt als Frage nach der Konjunktion Einen Text, der das und sehr sparsam bzw. so gut wie gar nicht verwendet, findet Gass in Samuel Becketts Wie es ist von 1961. Der weitgehende Verzicht darauf, die Konjunktion explizit anzuwenden, resultiere in einer „Auflösung und Ablehnung von Identitäten“, was der irische Autor Gass zufolge auch intendierte (183). Allerdings bleibt dabei unerwähnt, dass Beckett zugleich auf jegliche Zeichensetzung verzichtete.89 Dadurch enthält der Text nicht nur an jenen Stellen Ellipsen, die für gewöhnlich ein und enthalten könnten. Diese Vielzahl an Lücken kann – durch die Absenz der Konjunktion zusätzlich gesteigert – als ein umso größerer Spielraum möglicher Verbindungen gelesen werden. Die Aushöhlung fester Identitäten geht in dieser Hinsicht, was Gass nicht ausführt, mit einer Vielfalt potentieller Zusammenhänge einher. Nahezu jeder Wortzwischenraum birgt Interferenzen.90 Auch im Fall einer beinahe vollständigen Absenz des und sieht Gass seine These bestätigt, Liste wie Konjunktion arbeiteten einem gemeinsamen Ort aller ihrer Bezugspunkte entgegen: „But when an ‚and‘ appears between any two terms, as we have seen, a place where these two ‚things‘ belong together has been applied.“ 91 (183) Gass fasst die konjunktionale Funktion der Synthesis weiter primär in einem räumlichen Sinne auf. Die Zusammengehörigkeit von unterschiedlichen Dingen beziehe sich demzufolge auf einen Ort, den diese Dinge teilen. Das und könne – wenn es denn zur Anwendung kommt, einen solchen Ort auf den Weg bringen. Tritt dieser Fall ein, hat der Zusammenhang zwischen den Dingen die Konjunktion zur Voraussetzung. Dass die Dinge, von denen Gass an dieser Stelle in Anführungszeichen spricht, in einem sehr weit gefassten Sinne gedacht sind, wird im unmittelbaren Anschluss deutlich. „‚And‘ again moves between sea and sky and their several waters, so that a new relationship arises between them, one that is external and
89 | Der Text wird ausschließlich durch „Redeportionen“ strukturiert, wie es die Anmerkungen im Anhang nennen. Vgl. Samuel Beckett: Wie es ist, übers. v. Elmar Tophoven, Frankfurt a.M. 1976, S. 718. 90 | Eine andere, nicht unähnlich gelagerte Rezeptionsdiskussion zu Beckett findet sich im vorherigen Kapitel S. 93, Fußnote 24. 91 | „Wenn allerdings zwischen zwei Gliedern ein und erscheint, impliziert dies, wie wir gesehen haben, einen Ort, an dem diese beiden ‚Dinge‘ zusammengehören.“
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unencumbering, although intimate as later Eve and Adam will be.“ 92 (183) Gass reformuliert die alttestamentarische Genesis und unterstreicht darin jedes und. Die Konjunktion tritt dabei nicht mehr als eine Option, sondern als eine aktive Größe auf, die nicht mehr nur die Zusammengehörigkeit seiner Relata zum Ausdruck bringt, sondern auch zum Anlass neuer Beziehungen wird. Die Konjunktion fungiert buchstäblich als rechte Hand des Schöpfers: Sie scheidet das eine vom anderen, steht und bewegt sich fortan dazwischen und hält die Unterschiede aufrecht, die schließlich jedes Ding zu dem werden lassen, was es ist. In dieser differenztheoretischen Genealogie macht Gass im Folgenden auch vor Gott selbst nicht halt. Aus der Scheidung, die die Konjunktion auch ihm einbringt, gehen Gott und Mensch hervor. Und so nimmt die weitere Ausdifferenzierung ihren Lauf: zwischen den Menschen in Geschlechter und im Menschen selbst zum Bewusstsein seiner selbst. In freigiebig erzählerischem Gestus vergisst Gass nicht, dass das Differenzgeschehen, das den Menschen zur Welt brachte, auf der anderen Seite Gott zurückgelassen hat. Die göttliche Geschichte mündet jedoch nicht in vergleichbare Binnendifferenzen, sondern betritt schon mit dem nächsten Schritt ein Terrain, das sich – zumindest im Bezug auf den Menschen – durch eine uneinholbare Differenz auszeichnet: „‚And‘ then God went away to other delights, [. . .] leaving us [. . .].“ Das Gass’sche Differenzgeschöpf Mensch hat also fortwährend mit sich und all dem zu leben, was es sich bewusst macht oder bewusst werden sieht. Die Differenzen und Diskrepanzen der conditio humana, die Gass aus diesem Werdegang hervorgehen sieht, nimmt er zum Anlass einer abschließenden Liste, die schließlich an letzter Stelle beim und selbst angelangt: „[. . .] – ‚and‘: a sword which cleaves things as it cleaves them.“ 93 (184) Das Bild des Schwertes stellt keine einfache Metapher dar. Eine solche würde hinter die Ausführungen zurückfallen, die es der Konjunktion zurechneten, selbst metaphorisch wirken zu können (vgl. S. 115). Eben diese Wirksamkeit kommt in der homonymen Setzungen des Verbums to cleave zum Ausdruck. Trennung und Verbindung vollziehen sich im selben Zug. Bild und Konjunktion treffen sich in einer bestimmten Form der Mehrdeutigkeit. Der Aufsatz von Gass endet mit dieser Verschränkung von Bild und Text und dem nochmaligen Herausstellen der funktionalen Ambivalenz des und allerdings noch nicht. Der letzte Satz lautet stattdessen:
92 | „Und bewegt sich einmal mehr zwischen Himmel und Ozean und ihren vielfachen Wassern, so dass sich zwischen all dem eine neue Beziehung entwickelt, die äußerlich und unbelastet und doch intim sein wird, wie später die zwischen Adam und Eva.“ 93 | „[. . .] – und: ein Schwert, das die Dinge gleichzeitig fällt und hält.“
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„‚And‘ then some.“ So klar then auf ein zeitliches Danach hinweist, so offen und unbestimmt schließt sich das Pronomen some daran an: Und dann irgendetwas, einiges mehr, noch mehr, und so weiter. Ähnlich geht Umberto Eco in Die unendliche Liste vor, wenn er bereits im Vorwort vorwegnimmt, „dass das letzte Wort dieses Buches nur lauten kann: undsoweiter.“ 94 Allerdings fallen und dann irgendetwas und undsoweiter nicht in eins. Zum einen stehen sich eine temporale und eine modale Ausrichtung entgegen, wie sie in dann und so zum Ausdruck kommen; zum anderen beschreiben die Wendungen zweierlei Modalitäten: irgendetwas steht für Variabilität, weiter für Kontinuität. Im Ausdruck „Und dann irgendetwas“ schließt die Konjunktion an das Vorhergehende in einer primär zeitlichen, futurischen Ausrichtung die Variable irgendetwas an. Für dieses irgendetwas kann vielerlei stehen bzw. wird vielerlei stehen können. Der potentielle Umfang des Pronomens ist annähernd so aufnahmefreudig wie das und selbst, allein, dass es bei irgendetwas um Ersetzung und nicht um Anschlussaufnahme geht. Im Rahmen von „‚And‘ then some.“ ist das Pronomen die einzige Variable, das heißt eine Möglichkeit – vielleicht die einzige –, die angesichts jenes irgendetwas nicht besteht, ist, die Stelle zu kürzen, die es freihält. So unbestimmt, vorläufig und kontingent seine Stellvertreterschaft anberaumt sein mag, so zwingend hält das Wort – einmal gesetzt – eine Stelle frei, ob sein Angebot dort schließlich eingelöst wird oder nicht. Das heißt allerdings, dass das Verhältnis von Offenheit und Forderungscharakter im Fall der Variable irgendetwas – anders als im Fall des und – nicht proportional ist: Die Stelle, die das Pronomen besetzt, kann durch alles Mögliche eingelöst werden, muss es aber nicht. Deshalb kann irgendetwas am Ende eines Satzes stehen und stehen bleiben. Indem das letzte und in jenem irgendetwas mündet, macht Gass deutlich, dass seine Ausführungen die Möglichkeiten der Konjunktion nicht ausschöpfen. Ein letztes Mal führt er die Konjunktion an, aber nicht mehr aus. Zwar folgt sie auf den Kontext des abgewandelten Schöpfungsberichts. Da die Konjunktion jedoch einen eigenen Satz beginnt, bleibt eine gewisse Offenheit, ob sich das und allein an den unmittelbar vorherigen Zusammenhang anschließt. „Und dann irgendetwas“ reicht am Ende möglicherweise weiter.
94 | Umberto Eco: Die unendliche Liste, a.a.O., S. 7. Tatsächlich schließt das Buch allerdings mit Auszügen aus einem Gedicht von Guillaume Apollinaire, Die hübsche Rothaarige, das Eco gemeinsam mit Jorge Luis Borges’ Tierliste als Exempel dafür anführt, mit einer „Poetik der Liste den Gipfel der Häresie“ zu erreichen und „ jeder vorgegebenen logischen Ordnung Hohn“ zu sprechen (ebendort, S. 398).
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Schlussbetrachtungen Gass nähert sich dem und weniger mit der Frage, worauf sich die Konjunktion beziehen kann oder konkret bezieht, als vielmehr darüber, wie sie jeweils Bezug herstellt und vermittelt. Er fragt nicht nach spezifischen Referenzen, sondern zielt auf die Strukturen, die in und mit der Konjunktion Form annehmen. Seine Untersuchung gilt der Modalität der Verknüpfung. Zu Beginn richtet Gass das Augenmerk auf die Funktionen des und. Er vergleicht die Konjunktion mit einem Nähgarn, der an Kleidungsstücken kaum auffällt, dafür allerdings die essentielle Aufgabe übernimmt, die versammelten Stoffe zu verbinden und darüber ihre Form und Anordnung zu bestimmen. Expliziter tritt die Konjunktion in einer weiteren Metapher auf: Als fliegendes Lasso ist sie nur einseitig gebunden und mit ihrem losen Ende auf das gerichtet, was es anzuschließen gilt. Jeder konjunktionale Ausdruck passierte einmal dieses Szenario. Am und tritt darüber eine Eigenschaft zu Tage, die sich als kataphorisch, als vorausdeutend bezeichnen lässt. Mit einem und zu enden, hieße, nicht zu enden (vgl. S. 100, Fußnote 7). Diese beiden Funktionen – die Koordination und Konjunktion hier, die Adjunktion und Kontinuierung dort – erfüllen für Gass nicht allein syntaktische Aufgaben. Neben den formalen Anforderungen des Satzbaus dient das und auch in einem semantischen Sinne als Binde- und Fügewort. In dieser Form vermag es zwar nicht, für einen eigenen, bestimmten Inhalt einzustehen; nichtsdestotrotz trägt die Konjunktion ihrem Kontext Schattierungen ein, die inhaltlicher Natur sind. Gass beschreibt diese Eigenheit als „konstant im Durchgang zwischen Bedeutungen“ (vgl. S. 106). Die semantische Unterbestimmtheit des und rückt in das Licht eines Möglichkeitsraums. Die Möglichkeiten, die Konjunktion einzusetzen und aufzufassen, sind reich an der Zahl. In der Analyse eines einzelnen Satzes, der sechsmal auf die Konjunktion zurückgreift, dient das und nach Gass ebenso einer punktuellen Präzisierung, wie einem kontextuellen Ausgleich, worauf Konjunktionen der Ergänzung, der Steigerung, der Anhäufung und der Rekursion folgen. Je nach Kontext trägt die Konjunktion zur Bildung von Bedeutung bei, ohne in diesem seinem Beitrag eindeutig fassbar zu sein. Was sich über funktionale und konnotative Mehrfachbelegungen ankündigt, erhärtet sich bei genauerer Hinsicht: Die Praxis des und sperrt sich gegenüber allgemeinen Aussagen, Definitionen und Äquivalenzen, die ihr selbst gelten. So greift etwa die Charakterisierung, dass die Konjunktion die Trennung und Verbindung seiner Relata stets zugleich realisiert, abermals auf das und zurück. Zwischen Trennen und Verbinden trennt und verbindet die Konjunktion erneut, und immer so fort. Anstelle einer Definition entfaltet sich ein unendlicher Regress.
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Im Namen von Eindeutigkeit auf die Konjunktion zu verzichten, stellt keine Alternative dar. Den resultierenden Aussagen ginge ein Resonanzraum verloren, der für die Herausbildung von Bedeutung nicht nur einen Zugewinn, sondern auch eine Grundlage darstellen kann. In sich gegenläufige Wendungen etwa können nicht auf einen einzelnen Begriff gebracht werden und bedürfen der Konjunktion von daher elementar. Die Konjunktion bietet genug Raum, um Widersprüche in sich aufzunehmen, ohne dass sich diese aufheben und ausgleichen müssten. Dabei erweist sich das und nicht allein gegenüber seinen Relata als offen und anschlussfreudig, sondern auch gegenüber einer Vielzahl an Möglichkeiten, Beziehung zu realisieren: Sie kann mit der Zeit erfolgen (der Fall des Lassos) oder ein Zugleich intendieren (der Fall des Nähgarns); sie kann sich ausweiten oder etwas zusammenfassen. Diese referentielle wie modale Offenheit reicht soweit, dass sie auch kontrafaktische Elemente birgt. Gass führt Beispiele an, in denen er das und an der Verdichtung und Auslassung von Zusammenhängen am Werk sieht. Der Resonanzraum, den die Konjunktion eröffnet, steht folglich auch Aspekten offen, die nur komprimiert oder gar nicht explizit genannt werden. Als wollte es Gass der Ambivalenz seiner Observable gleichtun, schwankt er in seiner Gedankenführung: Einmal veranlasst ihn die fortlaufende Weite, die das und intoniert, zur Emphase, dann setzt er wiederholt an, um gerade jenes Strukturmerkmal mittels Prinzipien einzuhegen. Während eine hypothetische „Undheit“ nicht weniger als alle Dinge zugleich betrifft, ordnet sich „ein verdammtes und nach dem anderen“ dem schlichten Ticken der Uhr unter. Abschnittsweise wird Gass ganz von der Neugier der nächsten Schritte getrieben („next!“), dann scheinen ihm alle Bemühungen fragwürdig („Na und?“). In all diesen Konstellationen spiegelt sich der Konflikt wieder, der Konjunktion eine Eigengesetzlichkeit zuzugestehen oder auf die allgemeine Erschließbarkeit konjunktionaler Gefüge und Praxis zu setzen. Vom und aus gesehen, müssen sich diese Perspektiven nicht ausschließen. Allerdings lassen sich die beiden Ansätze dabei einander nicht abschließend zu- und unterordnen. Stets behält die Konjunktion nicht nur ihre Ausgleichsfunktion, sondern auch ihr Irritationspotential bei. Die Spannung zwischen potentiellem Exzess und prinzipieller Beherrschbarkeit trägt Gass auch unter dem abschließenden Ordnungsbegriff der Liste aus. Er unternimmt mehrere quantitative Definitionsversuche, demzufolge erst vier Punkte eine Liste ergeben würden und eine solche stets mit einer abzählbaren Länge einher gehen müsse. Ohne die reduktionistische Willkür dieser Setzungen offen einzugestehen, kommen die dabei übergangenen Abgründe zumindest in Ansätzen zur Sprache. So ist die Liste der ungeraden Zahlen zwar abzählbar, aber unendlich; und es spricht von Seiten des Listenbegriffs nichts dagegen, „und so weiter“ nicht erst als letzten Punkt in sich aufzunehmen. Sowohl was das Ende einer Liste, als auch was die Maße
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innerhalb derselben anbelangt, weist ihr Begriff keine klaren Grenzen auf. Auch wenn eine Liste stets pragmatisch für vollständig erklärt werden kann, bleibt es mit gleicher Plausibilität möglich, ihr – etwa in poetischer Absicht – noch etwas ein- oder anzufügen oder sämtliche Punkte zu streichen. Zuletzt gibt Gass dem unnachgiebigen Treiben der Konjunktion nach – allerdings nicht, ohne ihre Praxis auf Gott und die Welt auszudehnen: „‚And‘ then God went away to other delights [. . .], leaving us [. . .], with all those divisions among things which ‚and‘ has bridged and rivered, [. . .] – and with ‚and‘ itself – ‚and‘: a sword which cleaves things as it cleaves them. ‚And‘ then some.“ 95 (184) So stabil und bündig die Paarbildungen wirken mögen, die vom und verkoppelt werden („bridged and rivered“) – Gass räumt die Leichtigkeit schließlich ein, mit der die Konjunktion abermals anschließt, um – zeitlich oder modal – weiterzureichen. Das Folgende muss nicht weiter bestimmbar sein, als dass es sich mit irgendetwas umschreiben lässt. Die Konjunktion tritt von ihrem Schritt ins Offene nicht zurück. Die Offenheit, mit der der Titel der Gass’schen Untersuchung anhebt, charakterisiert in ähnlicher Form auch das Ende: Was sollte sich an jenes Und der Überschrift nicht anschließen und als irgendetwas bezeichnen lassen? Allerdings – und das gibt dem Schlusspunkt seine Schärfe – schließt sich dieser Kreis nicht einfach im Namen des Offenen, sondern weitet sich: Anders als irgendetwas kann das und am Ende nicht stehen bleiben. Seine Möglichkeiten können nicht nur, sondern müssen auch eingelöst werden. Bis zuletzt bleibt das und dafür zu haben, als Parameter eines Unvollständigkeitssatzes zu fungieren. Vor allem in dieser Funktion kann der Grund gesehen werden, warum Gass das letzte und seines Textes nur an- und nicht ausführt. Nachdem jenes letzte und am Satzanfang steht, kann sein Bezug nicht allein auf den vorhergehenden Satz, sondern auch auf den Essay als Ganzen zurückbezogen werden. In der Folge sehen sich alle Versuche und Ergebnisse der Analyse in ein neues Verhältnis gesetzt. Im Bild der Waage, wie es Gass zweimal zur Veranschaulichung heranzieht, vermag es das und, das Gewicht aller bisherigen Ausführungen auf sich zu nehmen, gleichwohl das Gegengewicht noch nicht näher bestimmt ist. Aus dieser Unbestimmtheit kann ebenso etwas tatsächlich Neues wie Altbekanntes aufsteigen. Aber dass fortlaufend
95 | „Und dann ging Gott fort zu anderen Freuden [. . .], uns loslassend [. . .], mit all den gröberen und feineren Unterschieden zwischen Dingen, die und überbrückt und unterwandert, [. . .] – und mit und selbst – und: ein Schwert, das die Dinge zugleich spaltet und festhält. Und dann irgendetwas.“
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etwas folgt, ist laut und zwingend. Speist sich aus einer solchen Zusammenhangsstruktur die Möglichkeit, dass sich die Dinge miteinander verändert haben werden können?
4. Das und als Funktion der Irritation und Wandlung Zu Gilles Deleuzes und Claire Parnets Von der Überlegenheit der angloamerikanischen Literatur, 2. Teil
Von Deleuze, so wiederholt und vielzitiert er sich auf das und bezogen hat, liegt kein Text vor, der sich ausschließlich oder vorrangig der Konjunktion widmet. Eine gewisse Unsicherheit, welcher Stellenwert dem kleine Wörtchen im Kontext des Deleuzeschen Denkens gebührt, wird von daher bestehen bleiben. Über- wie Unterschätzung finden ähnliche Voraussetzungen vor. Immerhin geben die Passagen, die die Konjunktion nicht nur als grammatisches Element beherbergen, sondern auch als Figur von allgemeinerer Tragweite thematisieren, stets weitere Anhaltspunkte mit auf den Weg: „Man darf sich nicht darauf beschränken, das ‚und‘ als eine Konjunktion zu analysieren; es ist vielmehr eine ganz spezielle Form jeder möglichen Konjunktion, die eine Sprachlogik ins Spiel bringt.“ 1 Dieser Hinweis für den theoretischen Umgang mit der Konjunktion lässt sich in drei Abschnitte gliedern: Er kontrastiert („sich nicht darauf beschränken“), er relationiert („eine ganz spezielle Form jeder möglichen Konjunktion“), um schließlich zu extrapolieren („die eine Sprachlogik ins Spiel bringt“).
1 | Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus – Kapitalismus und Schizophrenie, hrsg. v. Günther Rösch, übers. v. Gabriele Ricke u. Ronald Voullié, Berlin 1992 [Paris 1980], S. 137. In diesem Sinne plädiert Deleuze auch in einem Interview aus dem Jahre 1976 und in den Dialogen mit Claire Parnet für ein erweitertes Verständnis des und. Vgl. Gilles Deleuze: Drei Fragen zu six fois deux (Godard), in: Ders.: Unterhandlungen – 1972–1990, übers. v. Gustav Roßler, Frankfurt a.M. 1993 [Orig. in Cahiers du cinéma, Nr. 271, November 1976], S. 67; sowie Gilles Deleuze u. Claire Parnet: Dialoge, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1980 [Paris 1977], S. 64.
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Mithin charakterisieren diese drei Aspekte nicht minder das Operieren der Konjunktion: Auch sie kontrastiert, indem sie einem Bezugspunkt einen weiteren zur Seite stellt; sie relationiert, insofern sich jedes der Verbindungselemente von einem neuen, gesonderten Stück Horizont umgeben sieht; und sie extrapoliert, sobald die relationalen Möglichkeiten am jeweiligen Horizont nicht Halt machen. Das Zusammenspiel dieser drei Relationsfiguren könnte bereits einen Beweggrund dafür abgeben, dass Deleuze das und gerade nicht zu einem fortlaufenderen Gegenstand erhob, sondern das Wirken der Konjunktion bald wieder den Zwischenräumen und Grenzzonen der Sprache und des Denkens überließ. Ob nun das Loslassen des und in seine Praxis oder das wiederholte, gesonderte Zurückkommen auf die Konjunktion das leitende Motiv abgibt – die von Deleuze/ Guattari benannte Logik wird beides in sich zu fassen haben. Um näher an das heranzukommen, was an dieser Stelle „eine Sprachlogik“ heißt, ist die Untersuchung eines weiter gefassten Kontextes jedoch unerlässlich: Welches Problem lenkt die Aufmerksamkeit überhaupt auf die Konjunktion? Im Folgenden wird der Versuch unternommen, mit einer Art vertiefter Stichprobe zu antworten. Die Referenz auf das gesamte Deleuzesche Œuvre würde den hier gesteckten Rahmen übersteigen. Folglich bedarf es einer enger gefassten Auswahl: 1977 veröffentlichte Gilles Deleuze zusammen mit Claire Parnet einen kleinen Band mit Aufsätzen, die bei Flammarion in der Reihe Dialogues erschienen und diesen Titel für sich übernahmen. Der zweite Teil des Kapitels Von der Überlegenheit der angloamerikanischen Literatur enthält eine längere Passage, die explizit dem und gilt.2 Darin kommt ein Großteil der Aspekte zusammen, die die Konjunktion in anderen Kontexten bei Deleuze eher einzeln begleiten bzw. überhaupt erst zum Thema werden lassen. Darüber hinaus verspricht die Art und Weise, in der jene Sequenz zum und in das genannte Kapitel eingebettet wird, wichtige Anhaltspunkte in der Frage einer zugehörigen Sprachlogik zu liefern. Die folgende Untersuchung geht also vom zweiten Kapitel, zweiter Teil der Dialoge aus. Sie rekonstruiert die dort dargelegten Zusammenhänge mit ständigem Blick auf die Konjunktion. Soweit es in der Angelegenheit des und Erhellung verspricht, werden weitere Deleuzesche Werke hinzugezogen. Dennoch wird es in der Hauptsache bei einer kleinschrittigen Lektüre des Primärtextes bleiben, nicht zuletzt auch aus dem Grund, an bislang unvermuteter Stelle fündig zu werden.3
2 | Ich danke Anastasia Zueva für den frühen Hinweis darauf. 3 | Gilles Deleuze und Claire Parnet: Von der Überlegenheit der angloamerikanischen Literatur – Teil 2, in: Dies.: Dialoge, a.a.O., S. 59–82. Alle Zitate, die sich auf die Dialoge beziehen, tragen im Folgenden lediglich die betreffenden Seitenangaben dieser Ausgabe in Klammern. Die
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Wie alle Kapitel der Dialoge gliedert sich auch Von der Überlegenheit der angloamerikanischen Literatur in zwei Teile. Anders als jedoch im Fall von Kapitel eins verzichten Deleuze und Parnet jenseits dessen auf eine abschließende Signatur, die die Abschnitte je einem der beiden zuordnen würde. So wird im Bezug auf die Dialoge nicht von entweder Deleuze, oder Parnet, sondern stets von Deleuze/Parnet die Rede sein.4 Der zweite Teil des gewählten Kapitels enthält drei gesondert ausgewiesene Abschnitte: Über den Empirismus, über Spinoza und über die Stoiker. Die ringsum verbleibenden Teilsegmente lassen sich unschwer in ähnlicher Form überschreiben, so dass sich folgende Gliederung ergibt: (I) Zum Begriff des Gefüges (agencement), dann die drei philosophie-geschichtlichen Exkurse zu (II) Empirismus, (III) Spinoza und (IV) Stoizismus, gefolgt von Abschnitten (V) zur aktuellen Wissenschaft, (VI) zum Humor und schließlich (VII) nochmals zum Gefüge.
französischen Originalzitate folgen der Erstausgabe von Gilles Deleuze u. Claire Parnet: Dialogues, Paris 1977, und sind bei den Seitenangaben durch einen Asterisk gekennzeichnet. Eine Überblicksdarstellung zu den Dialogen gibt Charles J. Stivale: Deleuze/Parnet in Dialogues – The Folds of Post-Identity, in: The Journal of the Midwest Modern Language Association, Vol. 36, No. 1 (Spring 2003), S. 25–37. In dem kurzen Essay zeigt Stivale diverse Querverbindungen zu anderen Deleuzeschen Werken auf, um auf dieser Basis speziell Aspekte der gemeinsamen Autorschaft, sogenannte „post-identitäre Strategien“ zu beleuchten. Diese stehen für ihn unter dem Vorzeichen, das Denken fortlaufend für ein Außen zu öffnen. Die Konjunktion und kommt dabei, jenseits eines Zitats von Deleuze/Parnet (S. 28), allerdings nicht gesondert zur Sprache. Ronald Bogue fokussiert unter dem gleichen Titel wie das ausgewählte Kapitel auf die literaturkritischen Ansätze und Aussagen von Deleuze/Parnet. Eine Auseinandersetzung mit der Konjunktion findet dabei allerdings nicht statt. Vgl. ders.: On the Superiority of AngloAmerican Literature, in: Deleuze Studies 7.3 (2013), S. 302–318. Bei Mirjam Schaub, die sich im Rahmen eines Aufsatzes dezidiert dem und bei Deleuze annimmt, finden wiederum die Dialoge keine Berücksichtigung. Vgl. dies.: Das Wörtchen ‚und‘, in: Friedrich Balke u. Marc Rölli (Hg.): Philosophie und Nicht-Philosophie – Gilles Deleuze – Aktuelle Diskussionen, Bielefeld 2011, S. 227–251, sowie im hiesigen Kontext das Kapitel zum und als philosophische Methode. 4 | Zur Begründung dieses Vorgehens führt Claire Parnet am Ende ihres Abschnitts im ersten Kapitel den Handlungs- und Resonanzraum zwischen den Kapitelblöcken an und assoziiert diesen explizit mit der Konjunktion: „Wir können also so vorgehen: Jedes Kapitel bleibt in zwei Hälften geteilt, zum Signieren der einzelnen Teile besteht kein Grund mehr, da die Unterhaltung sich zwischen den beiden anonymen Teilen abspielt. UND Félix, UND Fanny, UND du, UND all diejenigen, von denen die Rede sein wird, UND ich erscheinen gleichsam wie verzerrte Bildnisse in fließendem Gewässer.“ (41)
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(I) Zum Begriff des Gefüges Ohne Umschweife werfen Deleuze/Parnet das Problem der „kleinsten realen Einheit“ auf, um dem, was sie agencement nennen, erste Konturen zu geben (59). Entgegen der Übersetzung von Bernd Schwibs, der das Wort in den Dialogen durchgängig mit Verkettung überträgt, ziehen Gabriele Ricke und Ronald Voullié in der Übersetzung der Tausend Plateaus den Terminus des Gefüges vor. Ihre Begründung lautet, dass „Agencement im Alltagsfranzösisch soviel wie Einrichtung, Anordnung, Aufstellung oder Arrangement [bedeutet] und hauptsächlich im handwerklichen Bereich verwendet [wird]. In anderen Übersetzungen von Deleuze/Guattari wurde agencement zum Beispiel mit Verkettung und Anordnung übersetzt. Verkettung erscheint sachlich falsch, da agencement deutlich von Signifikanten-Ketten oder -Verkettungen unterschieden wird; Anordnung lässt im Deutschen zu sehr an Befehl denken.“ 5 Dass gerade dem agencement, dem Gefüge, die Rolle des kleinsten Bausteins Realität zugedacht wird, versteht sich nicht von selbst, da gemeinhin mehrere Dinge zusammenkommen müssen, um ein Gefüge zu bilden. Wie sollte das, was aus der Fügung hervorgeht, elementarer sein als das, was gefügt wird? Deleuze/Parnet treten in ihrer Sache sehr bestimmt auf und führen an, dass es dem Gefüge obliegt, Aussagen (énoncés) hervorzubringen. Dieses Vermögen könne sich in gleicher Weise weder auf das Wort oder die Idee noch auf den Begriff oder den Signifikant stützen. Die soweit versammelten Gegenentwürfe führen Deleuze/Parnet jedoch nicht auf ihre historischen Quellen zurück – etwa das Neue Testament (Johannes 1,1), die platonische und die kantsche Philosophie, sowie die Linguistik –, sondern bleiben vorerst ganz bei der begrifflichen Kontrastierung zugunsten des Gefüges.6 Ein weiterer potentieller Einwand gegen die elementare Stellung des Gefüges betrifft nach den objektiven Grundlagen der Aussage deren subjektive. Nicht minder üblich sei es, eine Aussage auf ein Subjekt zurückzuführen, genaugenommen in zweierlei Hinsicht, auf ein „Subjekt des Aussage-
5 | Gabriele Ricke u. Ronald Voullié in: Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 12, Fußnote 1 (Herv. im Orig.). Dementsprechend werden alle im Folgenden angeführten Zitate aus den Dialogen in veränderter Übersetzung wiedergegeben. 6 | Dabei wird die Frage, warum der Einschub des Gefüges vor die Aussage nötig ist, nicht aufgeworfen. Warum nicht von der Aussage als „kleinster realer Einheit“ ausgehen? Macht sich mit dem Gefüge ein Primat der Dinge vor der Sprache geltend bzw. zeichnet sich ab, dass ein Gefüge nicht zwingend sprachlichen Ursprungs sein muss? Oder zielen die knappen, sehr dichten Angaben, die Deleuze/Parnet gleich zu Beginn vortragen, vielmehr darauf ab, dass jede Frage einer Reihenfolge und Genealogie wiederum und bereits von einem Gefüge ausgeht und nicht umgekehrt?
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aktes“ und ein Subjekt in der Aussage selbst. Die Art und Weise, wie Deleuze/Parnet daran festhalten, auch hier das Gefüges als ursprünglichen Produktionsort auszuweisen, lässt erkennen, dass es ihnen dabei abermals um ein Moment der Relation zu tun ist: „L’énoncé est le produit d’un agencement, toujours collectif, qui met en jeu, en nous et hors de nous, des populations, des multiplicités, des territoires, des devenirs, des affects, des événements.“ (*65) „Die Aussage ist Produkt eines – stets kollektiven – Gefüges, das außerhalb wie innerhalb unserer selbst Populationen, Vielheiten, Territorien, Affekte, Geschehen und Werden ins Spiel bringt.“ (59) Deleuze/Parnet heben hervor, dass nicht erst die Aussage, sondern bereits deren Ursprung komplexer Natur ist. Die Reihe der Figuren, die allesamt Bestandteile jenes Ursprungs bezeichnen, führt bereits an erster Stelle mehrere Populationen gegen die beiden Formen des Subjekts der Aussage an.7 Die veranschlagte Mehrzahl ist jedoch keine Frage von zwei oder drei oder vier. Zwar könnte die Nennung der Vielheit noch jenen Eindruck hervorrufen und auch Territorien widerstreben einer numerischen Auffassung nicht, doch stehen schließlich die Affekte und die expliziten Prozessgrößen von Geschehen und Werden einem Plural entgegen, der sich primär an Zahlen festmacht. Vielmehr deutet der Verlauf der versammelten Motive an, dass die Kollektivität, die die Produktion von Aussagen allen voran auszeichnet, auf einen variablen Sinn abzielt, womöglich auf die Variabilität selbst. Diese plural-veränderliche Anlage begründet auch eine Abgrenzung des Gefügebegriffs von jenem der Struktur, der seinerseits zu stark von „Bedingungen der Homogenität“ abhänge. Stattdessen
7 | In ihrem gemeinsamen Buch zu Kafka geben Deleuze/Guattari der Differenzierung von Subjekt und Gefüge eine ganz ähnliche Form. Zusätzlich wird dabei deutlich, dass die Fundierung der Aussage im Subjekt mit einer entsprechenden Kausalität der Aussageentstehung einhergeht. Auch gegen jene Implikation scheint der Gefügebegriff angesetzt zu sein: „ Die Literatur ist eine Angelegenheit des Volkes. [. . .] So und nicht anders stellt sich das Problem für Kafka. Das Ausgesagte verweist weder auf ein Subjekt der Aussage als seine Ursache noch auf ein Subjekt des Ausgesagten als seine Wirkung. [. . .] Es gibt kein Subjekt, es gibt nur kollektive Äußerungsgefüge – und die Literatur bringt diese Gefüge zum Ausdruck, sofern sie sich noch nicht selbst veräußerlicht haben, sondern vorerst nur als drohende böse Mächte (oder als erst noch zu schaffende revolutionäre Kräfte) existieren.“ (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Kafka – Für eine kleine Literatur, übers. v. Burkhart Kroeber, Frankfurt a.M. 1976 [Paris 1975], S. 26f ) Nachdem auch Kroeber agencement mit Verkettung überträgt, ist seine Übersetzung ebenfalls verändert wiedergegeben.
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bestimmen Deleuze/Parnet das Gefüge positiv als co-fonctionnement, als einen „gemeinsamen Funktionszusammenhang“, sowie als „Sympathie“ und „Symbiose“ (alle 59). Alle genannten Relationsfiguren haben gemein, dass sie in ihren Auswirkungen nicht auf Angleichung oder Einverleibung abzielen. Der wechselseitige Einfluss ihrer Bezüge schmälert die Verschiedenartigkeit der Bezugselemente nicht. Vielmehr differenzieren die beiden Aspekte von Reziprozität und Heterogenität die plurale und variable Verfasstheit des Gefüges um weitere Schritte aus.8 Diese terminologischen Verfeinerungen machen Deleuze/Parnet durch eine Trennung von Autor und Schriftsteller, auteur et écrivain, anschaulich. Während der Autor auf die Subjekte der Äußerung fokussiert, geht der Schriftsteller von Gefügen aus. Diese Unterscheidung verfolgen Deleuze/Parnet weiter in den Prozess des Schreibens hinein. Der Autor organisiere dabei Angebote der Identifikation und der Distanznahme. Er schreibe unter den Vorzeichen direkter Adressierung für jemanden oder für etwas; oder er nimmt an Stelle von jemandem oder etwas eine Stellvertreterrolle ein. Der Schriftsteller hingegen arbeite mit den Dingen, mit den Menschen, mit dem, was ihn zu schreiben antreibt. Auch wenn bei Deleuze/Parnet allein avec, das mit, kursiv steht, deutet die Hervorhebung der Präposition auf eine Schaltstelle im Gefüge. Insofern es dem Schriftsteller gelingt, sich dem mit zu verschreiben, agiert er „auf der Linie der Begegnung, des Zusammentreffens einer inneren und einer äußeren Welt.“ (60) Wenn die Präposition mit demnach nicht allein als Mittler eines Beisammenseins, sondern auch als Wegbereiter von Kollisionen fungiert, wird daran insbesondere der Aspekt der Wechselseitigkeit deutlich. Entgegen dem subjektorientierten Verfahren der Distanzierung hat die geschilderte Ausrichtung des Gefüges mit den Risiken von Nahverhältnissen zu tun: An der Wechselseitigkeit machen sich Wechselwirkungen fest. Und in Abgrenzung zum zweiten subjektzentrierten Verfahren, der Identifikation,
8 | Die Abgrenzung vom Strukturbegriff impliziert eine solche von strukturalistisch zu nennenden Ansätzen. Sie weist auf eine wichtige Binnendifferenzierung hin, insofern auch der Terminus der Struktur mehr auf die Beziehung abhebt, in der gewisse Elemente zueinander stehen, als auf die Elemente selbst. Dieser Fokus unterliege jedoch, so der Einwand von Deleuze/Parnet, einem Anspruch auf Gleichförmigkeit, dem der Begriff des Gefüges nicht gehorchen muss. Genaugenommen steht ein Gefüge demnach nicht struktureller Homogenität entgegen, sondern der Einschränkung, derzufolge die Homogenität als zwingende Voraussetzung zu gelten habe. Ein Gefüge kann also durchaus eine gleichförmige Struktur aufweisen, allein dass jene keine vorrangige Bestimmung abgibt. Für eine Verortung dieser Strukturdiskussion im Deleuzeschen Œuvre vgl. Martin Stefanov: Das Simulacrum (Baudrillard und Deleuze), in: Stephan Günzel u. Dieter Mersch (Hrsg.): Bild – ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2014, S. 106ff.
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unterstreicht der beidseitig offene Richtungssinn des mit, dass verändernde Eingriffe von und auf allen Seiten stattfinden. Die Reziprozität birgt ein Veränderungspotential. Entsprechend ergänzen Deleuze/Parnet die Kontrastierung von Identifikation und Sympathie, indem sie der Sympathie den Begriff des Werdens zur Seite stellen.9 In den Dialogen heißt es zum Konnex von Schreiben und Werden bereits im ersten Teil des zweiten Kapitels: „Das Schreiben verbindet sich stets mit etwas anderem, das sein Werden ist. Kein Gefüge, das nur an einem Strom funktionierte. Nicht Imitation, sondern Konjunktion.“ (52) Die Kraft, die das Schreiben voranbringt, macht sich nicht an einem Vorbild oder Vorzeichen fest. Die Vorrangstellung, die die Präposition im Namen führt, ist für Deleuze/Parnet kein Mittel der Hierarchie und Einschränkung, sondern Mittel der Vermittlung und Ausweitung. Ein einziger Strom kann nicht genug sein.10 Abermals hängt sich der intendierte Plural nicht an numerischen Bedin-
9 | Jenes Werden ist wiederum von einer Entgegensetzung zum philosophisch voraussetzungsreichen Begriff des Seins nicht zu trennen. Diese Konstellation führen Deleuze/Parnet jedoch nur unter der Hand ein. Eine ebensolche Einführung stellt Deleuze auch an den Beginn von die Logik des Sinns, in der er das Werden vor allem in den zeitlichen Belangen seiner Reziprozität näher charakterisiert: „Wenn ich sage ‚Alice wächst‘, will ich sagen, dass sie größer wird, als sie war. Doch eben dadurch wird sie auch kleiner, als sie jetzt ist. Sicherlich ist sie nicht zur gleichen Zeit größer und kleiner. Es ist aber die gleiche Zeit, in der sie es wird. Sie ist jetzt größer, und sie war zuvor kleiner. Man wird jedoch zur gleichen Zeit mit einem Schlag größer, als man war, und macht sich kleiner, als man wird. Darin besteht die Gleichzeitigkeit eines Werdens, dessen Eigenheit es ist, sich dem Gegenwärtigen zu entziehen. Insofern es sich dem Gegenwärtigen entzieht, verträgt dieses Werden weder die Trennung noch die Unterscheidung von Vorher und Nachher, von Vergangenem und Künftigem. Es gehört vielmehr zum Wesen des Werdens, in beide Richtungen gleichzeitig zu verlaufen, zu streben: Alice wächst nicht, ohne zu schrumpfen, und umgekehrt. Der gesunde Menschenverstand besteht in der Behauptung, dass es in allem eine genau bestimmbare Richtung, einen genau bestimmbaren Sinn gibt; das Paradox jedoch besteht in der Bejahung zweier Richtungen, zweier Sinnprägungen zugleich.“ (Gilles Deleuze: Logik des Sinns, übers. v. Bernhard Dieckmann, Frankfurt a.M. 1993 [Paris 1969], S. 15) 10 | Dass sich die Negation der Einschränkung im mittleren Satz des Zitats – „Kein Gefüge, das nur an einem Strom funktionierte.“ – nicht auf das Motiv des Stromes bezieht, sondern auf den unbestimmten Artikel als Zahlwort, wird im selben Zusammenhang wenig später deutlich: „Schreiben ist ein Strom, der sich mit weiteren Strömen vereinigt [. . .]. Ein Strom ist etwas Intensives, Plötzliches und Wandelbares, zwischen Schöpfung und Zerstörung. [. . .] Das Schreiben vollzieht die Konjunktion, die Transmutation der Ströme – wodurch das Leben dem Ressentiment der Personen, Gesellschaften und Staaten sich entzieht.“ (57)
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gungen auf, sondern speist sich aus den Schalt- und Verbindungsstellen des Gefüges. Was Deleuze/Parnet an der Präposition des mit hervorheben, führt konsequent auf die Konjunktion zu. Der erste Gliederungspunkt schließt mit dem Einschub einer „Regel für diese Gespräche“ (61). Dass Deleuze/Parnet ihr gemeinsames Vorgehen als entretien, als Gespräch oder Unterhaltung auffassen, mag neben dem Hinweis auf die Entstehung des Textes auch daran liegen, dass entretien das Zwischen, französisch entre, explizit im Namen führt. Unter diesem Vorzeichen gestehen sich Deleuze/Parnet offen Wiederholungen zu. Die Diskrepanz zu der kurz zuvor angeführten, verändernden Kraft von Sympathie und Werden ist erläuterungsbedürftig: Schließt das Werden Wiederholungen nicht aus? Oder entspricht eine Wiederholung dem Fall, dass ein Werden auf der Stelle tritt? Deleuze/Parnet antworten kurz und knapp: „Ewig gleiche Leier, ein Ritornell? Jede Musik, jedes Schreiben führt darüber.“ (61) Die Überblendung von Textund Tongestaltung rückt die Wiederholung in ein bestimmtes Licht. Ein Begriff, der im Deutschen zwar nicht alle Konnotationen des Ritornells übersetzt, aber doch auf dasselbe Prinzip abzielt, ist der Refrain. Demnach benennen Ritornell wie Refrain die rhythmische Wiederkehr einer Abfolge bestimmter Elemente in mehr oder weniger ähnlicher Form.11 Dieses rekursive Moment ist Deleuze/Parnet zufolge im Schreiben unausweichlich. Indem sie sich jenes Zugeständnis machen, implizieren sie, dass das Werden kein willentlich erreichbares Ziel darstellt. Es ist nicht der Schlusspunkt eines zu absolvierenden Verfahrens, sondern vielmehr etwas, das nebenbei passiert – weniger forciert, als vielmehr riskiert. Diese Situativität gilt nicht weniger für die Rezeption: Beim Lesen wie beim Hören brauche es nicht nur einen Willen, sondern auch Geduld. Die Verschränkung von Intentionalität und Empfänglichkeit, die sich durch die musikalischen Anspielungen zieht, lässt zudem an einen Text von Bob Dylan zurückdenken, den Deleuze im ersten Teil der Dialoge zitiert: „[. . .] ich habe gebaut und wieder gebaut | auf das, was geduldig wartet | denn der Sand an den Stränden | hat viele Burgen | auf das, was sich aufgetan hat | vor meiner Zeit – | ein Wort, eine Melodie, eine Story, ein Satz | Schlüssel im Wind, die meinen Geist aufschließen | und den eingezwängten Gedanken einen Luftzug vom Hinterhof bescheren [. . .].“ (15) Wie Deleuze/Parnet mit der Hervorhebung der Präposition mit keine Schreibtechnik,
11 | Dem Begriff des Ritornells nehmen sich Deleuze und Guattari in den Tausend Plateaus ausführlich an. Vgl. dies.: Tausend Plateaus, a.a.O. S. 423ff. Ein Ritornell zeichnet sich demnach durch drei Aspekte aus: Die Abgrenzung und den Ausschluss von Chaos, die Schaffung eines Innenraums und die Bewerkstelligung neuer Öffnungen nach Außen (vgl. S. 424f). In diesen Zusammenhang spielt nicht zuletzt auch der Begriff des Gefüges mit hinein: Das Ritornell stelle ein „territoriales Gefüge“ dar (S. 426).
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sondern eine Haltung im Sinn haben, formuliert die angeführte Regel weder ein festes Programm noch gibt sie Rezepte an die Hand. Sie spricht stattdessen von der Bescheidenheit und Mühe, auf den Wind zu vertrauen. (II) Über den Empirismus Als zentralen Beweggrund, sich eingehend mit dem Empirismus und insbesondere der Philosophie David Humes zu beschäftigen, führen Deleuze/Parnet die wechselseitige Durchdringung von Philosophie und englischem Roman an.12 Dass dieser Zusammenhang weder Angleichung noch Imitation bedeutet, klären die zurückliegenden Ausführungen zum Gefüge bereits hinreichend. Die englische Belletristik kommt ihrerseits nicht das erste Mal zur Sprache, die Bezüge reichen jedoch in die vorherigen Kapitelteile der Dialoge zurück. Im ersten Kapitel heißt es, dass es insbesondere amerikanische und englische Schriftsteller „fertiggebracht [haben], in ihren Romanen das Schreiben zu einem Akt des Denkens zu erheben und das Leben zu einer nicht-persönlichen Stärke und Mächtigkeit.“ (37) Daneben enthält der erste Teil des zweiten Kapitels eine Gegenüberstellung von englischem und französischem Roman. Die grundlegende Unterscheidung vollzieht sich dabei gemäß einer Trennung zwischen Betrug und Verrat, wobei der Verrat dem englischen Roman zugeordnet wird: „Essentielle Figur, Held des Romans, ist der Verräter – Verräter an den herrschenden Bedeutungen und an der etablierten Ordnung. Darin ist er wesentlich verschieden vom Betrüger, der sich nur fixen Eigentums bemächtigen, Territorien erobern, zuweilen gar eine neue Ordnung stiften will. Der Betrüger hat Zukunft, aber kein Werden.“ (50) Deleuze/Parnet grenzen ihren Begriff des angloamerikanischen Romans also bereits im Vorfeld explizit von der Verhandlung primär subjektiver Belange ab. Die etwaige Orientierung an objektiven Kriterien liefert dafür keinen Ersatz. Vielmehr rechnen sie es dem angloamerikanischen Roman an, den Raum zwischen beiden Formen, zwischen Subjekt- und Objektzentrierung, als eine Kraft eigenen Ranges zu begreifen. Die Konjunktion von Philosophie und Roman setzen Deleuze/Parnet stark von dem philosophie-geschichtlichen Topos ab, demzufolge die zentrale Aussage des Em-
12 | 1953 legte Deleuze Empirisme et Subjectivité – Essai sur la nature humaine selon Hume vor. 1972 folgte ein Lexikonartikel über Hume in der Histoire de la philosophie von François Châtelet. Auch wenn die Auseinandersetzung mit Hume als eine der wichtigsten Quellen für die Frage nach der Relation bei Deleuze gelten kann, kommt das und erst im Artikel von 1972 zur Sprache, das heißt Empirisme et Subjectivité enthält keine explizite Referenz auf die Konjunktion im engeren Sinn.
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pirismus darin bestehe, dass „das Intelligible vom Sinnlichen ‚herkommt‘“, l’intelligible ‚vient‘ du sensible. Deleuze/Parnet problematisieren diese Formel vor allem hinsichtlich ihrer Methodik, insofern sie auf die Setzung eines „abstrakten ersten Prinzips“, un premier principe abstrait, vertraue (beide 61). Alle weiteren Ausführungen hätten sich diesem ersten Satz dann unterzuordnen. Noch-nicht-Gedachtes unterliege von vornherein einer Reihenfolge, in der es das folgende und folgsame Glied darzustellen hat.13 Dem halten Deleuze/Parnet die Offenheit minder vorstrukturierter Zusammenhänge entgegen. Entsprechend sei es nicht die Frage nach einem Ableitungszusammenhang aller Verstandesbelange von den Sinnen, die als Entdeckung und Arbeitsfeld der Empiristen gelten kann, sondern vielmehr die Frage nach den Relationen selbst. „Les relations sont extérieures à leurs termes. [. . .] la relation n’est intérieure ni à l’un des termes qui serait dès lors sujet, ni à l’ensemble des deux. Bien plus, une relation peut changer sans que les termes changent.“ (*69) „Die Relationen sind ihren Gliedern äußerlich. [. . .] – die Relation ist weder einem der Glieder, das dann Subjekt wäre, inhärent noch beiden gemeinsam. Mehr noch, eine Relation kann sich verändern, ohne dass sich deren Glieder verändern.“ (62) Deleuze/Parnet kommen hier auf einen zentralen Passus aus Empirisme et Subjectivité zurück. Wenn die Relationen ihren Bezugspunkten äußerlich bleiben, wird die Grenze, die die Relata von einander trennt und über die hinweg der Bezug geschieht, zu einem eigenen Bereich. Aber was genau heißt „äußerlich“ und „eigen“? Die Relationen haben dasjenige, was sie zueinander in Beziehung setzen, nicht mehr zur Voraussetzung. In der Konsequenz hängen sie weder gänzlich von einem Subjekt ab noch erschöpfen sie sich darin, Synthesen zu liefern. Eine Synthese würde dem in sie gesetzten Anspruch sicher widersprechen, wenn sie sich unabhängig von ihren Bezugspunkten veränderte. Aus der Quelle anderer, eigener Ursachen können die Relationen Aspekte ins Spiel bringen, die den Relata wie deren Ursachen fremd sind. „Damit entfaltet sich die wahrhaft empirische Welt zum ersten Mal in ihrem vollen Umfang: Welt der Äußerlichkeit, Welt, in der das Denken selbst in einem
13 | Eine Kritik desselben Topos, die weniger an der Methode jener Definition des Empirismus als an der Definition selbst ansetzt, trägt Deleuze in Empirisme et Subjectivité vor. Vgl. ders.: David Hume, übers. v. Peter Geble u. Martin Weinmann, Frankfurt a.M./New York 1997 [Paris 1953], S. 134ff.
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grundlegenden Verhältnis zum Außen steht, Welt, in der es Glieder gibt, die wahrhafte Atome sind, und Relationen, die wahrhafte äußere Übergänge sind [. . .] eine bunte Harlekinwelt aus nicht totalisierbaren Fragmenten, in der man mittels äußerer Relationen kommuniziert.“ 14 Wenn eine Relation keinem der zugehörigen Relata inhaltlich zugeschrieben werden kann, werden diese – ob Vorstellung oder Gegenstand – zu Einzelteilen, von denen keines mehr dazu in der Lage ist, einen absoluten respektive übergeordneten Anspruch zu bedienen. Folglich verlieren die Mechanismen von Ableitungshierarchien, nach denen sämtliche Glieder zu Attributen eines einzigen bestimmt werden, jeden zwangsläufigen Charakter. Die signifikante Reihenfolge stellt lediglich eine von vielen Möglichkeiten der Relation dar. Ein vorrangiges Prinzip ist auf Dauer nicht mehr zu rechtfertigen. Die Äußerlichkeit selbst stellt dabei kein Prinzip dar, „sie ist vielmehr vitaler Protest gegen Prinzipien“, une protestation vitale contre les principes (62).15 Warum Deleuze/Parnet den Prinzipienbegriff im Kontext der Dialoge explizit fallen lassen, wird sich nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Konjunktion und genauer zu zeigen haben. Die Äußerlichkeit macht sich nicht nur hinsichtlich der Ursachen, sondern auch bezüglich der relationalen Wirkungen geltend. Unter diesen Vorzeichen mag sich das Denken zuerst schwer tun. Es findet sich in einer veränderten Rolle wieder, denn dem herkömmlichen Anspruch des Begreifens, der auf die Abgeschlossenheit dessen setzt, was es zu begreifen gilt, kann nicht mehr entsprochen werden. Stattdessen werden die Relationen zu einer unabschließbaren Quelle: „Die Äußerlichkeit der Relation einmal als roter Faden angenommen, breitet sich vor unseren Augen, Stück um Stück, eine ungemein fremdartige Welt aus, [...] gemacht [...] aus Verbindungen
14 | Gilles Deleuze: Hume, in: Die einsame Insel – Texte und Gespräche von 1953 bis 1974, hrsg. v. David Lapoujade, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 2003 [Paris 1972], S. 237f. 15 | Sowohl in Empirisme et Subjectivité als auch im Lexikonartikel über Hume kommt der Terminus des Prinzips positiv besetzt zur Anwendung. Zentral ist in beiden Kontexten die Frage, was dem Geist Beständigkeit verleiht bzw. wie sich das Subjekt konstituiert. Daran macht sich die Unterscheidung von Assoziationsprinzipien und affektiven Prinzipien fest: Auf der einen Seite die stetige Bildung von Relationen, auf der anderen Seite die fortlaufende Auswahl von Gliedern. Dem korrespondieren die Stichworte von Assoziationslehre und Atomismus. Die Relationen stellen sich als Auswirkungen der Assoziationsprinzipien dar, die als allgemeiner Impetus fungieren; ihre spezifische Gestalt erhalten die Relationen allerdings erst über die je vorliegenden „Umstände“, jene „Variablen, die unsere Affekte, unsere Interessen definieren“. An den Assoziationsprinzipien ist es, dass überhaupt verknüpft wird, an den Umständen, wie jeweils verknüpft wird. Vgl. Gilles Deleuze: David Hume, a.a.O., S. 73 u. 128 (Zitat).
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und Trennungen, Wandlungen und Verflechtungen, Summierungen, die nie zu einem Ganzen sich runden, Abnahmen, deren Rest nie feststeht.“ (62f)16 Wie kann etwas als äußerlich, genau genommen als ein beidseitig begrenzter Zwischenraum bestimmt werden und dennoch unbegrenzt sein? Einmal mehr zeigt sich an dieser Stelle, dass die Deleuzesche Ausdrucksweise auch dort beim Wort genommen werden kann, wo sie der Metapher nahezustehen oder gar anzugehören scheint.17 Nicht nur die Relation, sondern genauer noch ihre Äußerlichkeit als roten Faden zu nehmen heißt, auch Richtungen in Betracht zu ziehen, die von der Verbindungslinie der Relata abweichen und also schräg oder quer zu ihr verlaufen. Diese Perspektivierung findet sich bereits in Empirisme et Subjectivité angelegt, wenn die Assoziationsprinzipien „reziproke Beziehungen“ stiften, die affektiven Prinzipien dagegen „diesen Beziehungen eine Richtung“ geben. Nachdem die Reziprozität bereits eine Ausrichtung benennt, liegt es nahe, im richtungsorientierten Zusatz der Affekte eine Abweichung von der lediglich wechselseitigen Orientierung zu sehen.18 Im Vorwort zur amerikanischen Ausgabe der Dialoge expliziert Deleuze diesen weiter gefassten Richtungssinn dann deutlich. Das Buch der Dialoge ging demzufolge weniger von festen Anhaltspunkten aus, für die man etwa die Autoren zum Zeitpunkt seiner Entstehung halten könnte, sondern resultierte vielmehr aus einer anderen Ausrichtung der Verhältnisse, indem es „zwischen den Punkten verlief, sie mitzog, ohne jemals vom einen zum anderen zu führen.“ 19 Wenn die Relation als Sog fungiert, wird die Äußerlichkeit ihrer Wirkung
16 | Diese Charakterisierungen erinnern stark an einen Abschnitt aus dem Aufsatz Lukrez und das Trugbild, der im Anhang der Logik des Sinns vorliegt und die vielleicht erste Stelle im Deleuzeschen Œuvre ausmacht, in der das und selbst thematisch wird: „Die Natur ist keine kollektive, sondern eine distributive; die Naturgesetze [. . .] verteilen Anteile, die sich nicht totalisieren. Die Natur ist nicht attributiv, sondern konjunktiv: sie drückt sich in einem ‚und‘ und nicht in einem ‚ist‘ aus. Dieses und jenes: Abwechslungen und Verflechtungen, Ähnlichkeiten und Differenzen, Anziehungen und Zerstreuungen, Nuancen und Schroffheiten. Die Natur ist ein Harlekinmantel, der vollständig ist und Lücken hat; vollständig und lückenhaft, Dasein und Nichtsein, wobei jedes von beiden sich als unbegrenzt erweist, indem es das andere begrenzt. Als Addition bald ähnlicher, bald unterschiedlicher Unteilbarer ist die Natur zwar eine Summe, jedoch kein Ganzes.“ (Gilles Deleuze: Logik des Sinns, a.a.O., S. 325f) 17 | Mehrfach äußert sich Deleuze ablehnend gegenüber metaphorischem Sprachgebrauch. Deutliche Beispiele finden sich in den Dialogen S. 11, 126 und 152. 18 | Gilles Deleuze: David Hume, a.a.O., S. 67. 19 | Gilles Deleuze: Vorwort zur amerikanischen Ausgabe der Dialoge, in ders.: Schizophrenie und Gesellschaft – Texte und Gespräche von 1975 bis 1995, hrsg. v. Daniel Lapoujade, übers. v. Eva Moldenhauer, Frankfurt a.M. 2005 [New York 1987], S. 292.
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konkret. Sie lässt die Relata nicht unberührt. Deleuze spezifiziert im vorliegenden Fall die relationale Auswirkung als Anziehungs- und Mobilisierungskraft, die einer eigenen Richtung folgt. Dass sich jene Richtung weitgehend und mitunter maximal vom Hin und Her der Verbindungsglieder unterscheidet, verdeutlicht schließlich der geometrische Begriff der Transversalen. Er benennt eine Linie, die zu einer gegebenen Hauptachse senkrecht verläuft.20 Wie weit sich der Lauf der Relation als Transversale erstreckt, ist an den je vorliegenden Relata nicht abzulesen. Aus dem transversalen Zug der Relation speist sich schließlich die spezifische Radikalität des Pluralismus, der in der Formulierung der „Summierungen, die nie zu einem Ganzen sich runden“ wie der „Abnahmen, deren Rest nie feststeht“ zum Ausdruck kommt. Auf diese Weise bleiben die Enden der relationalen Reichweite fortlaufend offen. Im jeweiligen Begrenzen statuiert das und Unbegrenztheit.21 Im Vorfeld des geometrischen Begriffs der Transversalen, der erst in den Tausend Plateaus zur Sprache kommt, fassen Deleuze/Parnet die Richtungseigenschaften der Relation in den Dialogen als „Geographie“, une géographie des relations, auf (63). An dieser ist es, gegenüber der Prinzipienorientierung der Philosophie und ihrer Geschichtsschreibung Alternativen zu entwickeln. Die Problematik des Prinzipiellen erfährt dafür nochmals eine feinere Untergliederung. Die bereits explizierten Funktionen der Festlegung und der Vereinseitigung, von denen sich das Gefüge abhob, bauen nach Deleuze/Parnet auf zwei verschiedene Urteilsformen, ein jugement d’attribution und ein jugement d’existence. Im einen Fall ist das Urteil darauf angelegt, zwischen wesentlichen und unwesentlichen Eigenschaften, zwischen Attributen und Akzidenzien zu trennen; im anderen Fall, über Sein und Nicht-Sein zu entscheiden. In beiden Richtungen finden die Urteile im Verbum sein ihr ausschlaggebendes
20 | Vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 42, 399f u. 459. Anja Kanngieser verfolgt den Begriff der Transversalität speziell in den Arbeiten von Félix Guattari weiter, um ihn mit bestimmten Formen von politischem Aktivismus kurzzuschließen. Vgl. dies.: . . . And . . . and . . . and . . . The Transversal Politics of Performative Encounters, in: Deleuze Studies 6.2, Edinburgh 2012, S. 265–290. 21 | Deleuze/Parnet fokussieren in ihrer Hume-Rezeption also nicht auf dessen Kritik am Kausalitätsbegriff, derzufolge es keine „gesetzliche oder irgendwie essentielle Beziehung zwischen Ursache und Wirkung gebe“ (Metzler Philosophie Lexikon – Begriffe und Definitionen, hrsg. v. Peter Prechtl u. Franz-Peter Burkard, Stuttgart/Weimar 1996, S. 123). Stattdessen nehmen die Dialoge die Äußerlichkeit der Relation zum Ausgangspunkt, wie sie sich nicht zuletzt auch anhand des und zwischen Ursache und Wirkung veranschaulichen ließe. An dieser Spezifik der Relationen bricht sich ein Pluralismus Bahn, der Sinnes- wie Verstandesdinge gleichermaßen erfasst und durchdringt.
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Instrument, um sich prinzipielle Geltung zuzusprechen. Der Himmel ist blau und Gott ist, lauten die aufgeführten Beispiele.22 Bevorzugt in England und Amerika fände sich dagegen die Bereitschaft, Relationen nicht an einen einzelnen Bezug und eine feste Ausrichtung zu binden, sondern „die Konjunktion freizusetzen“ (63). Den Rückhalt dafür gibt nicht ein anderes, von den herkömmlichen Urteilsformen abweichendes Prinzip, sondern eine andere Auffassung von Logik: „Die Logik werdet ihr entweder aufgeben müssen oder gezwungen sein, euch eine neue auszudenken.“ (64) Nachdem die Preisgabe von Logik bar logischer Mittel von sich nicht mehr Mitteilung wird machen können, trifft sich die Entscheidung von alleine. Der ersten Alternative bedarf es jedoch, um mit dem nötigen Nachdruck klarzustellen, dass es einer Logik der Relationen gerade nicht um grundsätzliche Unterscheidungen geht. Ein Satz mag schwer oder leicht ins Gewicht fallen, er mag komplex oder einfach gestrickt sein, das letzte Wort in seiner Sache ist mit ihm gewiss nicht gesprochen. Diese Unabgeschlossenheit betrifft die Fassung der relationalen Logik nicht minder. Gerade das Außen macht die Geographie der Relationen aus: „Toute la grammaire, tout le syllogisme, sont un moyen de maintenir la subordination des conjonctions au verbe être, de les faire graviter autour du verbe être. Il faut aller plus loin: faire que la rencontre avec les relations pénètre et corrompe tout, mine l’être, le fasse basculer. Substituer le EST au ET. A et B. Le ET n’est même pas une relation ou une conjonction particulières, il est ce qui sous-tend toutes les relations, la route de toutes les relations, et qui fait filer les relations hors de leurs termes et hors de l’ensemble de leurs termes, et hors de tout ce qui pourrait être déterminé comme Etre, Un ou Tout.“ (*71) „Die gesamte Grammatik und der Syllogismus sind ein Instrument zur Festschreibung der Unterordnung der Konjunktion unter das Verb ‚sein‘, ein Mittel, jene um dieses Verb kreisen zu lassen. Man muss weitergehen, so weit, bis der Zusammenstoß eindringt und alles korrumpiert, bis das ‚sein‘ unterminiert und zu Fall gebracht ist; so weit gehen und ‚sein‘ (est) durch ‚und‘ (et) ersetzen: A und B. UND ist dabei keine besondere
22 | In einem Interview mit den Cahiers du cinéma, das 1976, ein Jahr vor den Dialogen erschien, findet sich diese Überlegung in ganz ähnlicher Form wieder. Allerdings lässt Deleuze darin explizit offen, ob sich die beiden genannten Urteilsformen auseinander ableiten lassen oder nicht, während in den Dialogen das „Existenzialurteil“ das „Soseinsurteil“ voraussetzt. Vgl. Gilles Deleuze: Drei Fragen zu six fois deux (Godard), in: Ders.: Unterhandlungen, a.a.O., S. 67.
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Relation oder Konjunktion, es ist, was in allen Relationen mitschwingt, die Straße aller Relationen, es ist, was die Relationen außerhalb ihrer Glieder wie deren Gesamtheiten, außerhalb auch all dessen davonziehen lässt, was als SEIN, EINES oder GANZES bestimmt werden könnte.“ (64) So bedenklich weit der Rahmen dieses Vortrags gesteckt sein mag – zu Beginn die gesamte Grammatik und der Syllogismus, zum Abschluss das Ganze, das Eine und das Sein –, so nachdrücklich mag er daran erinnern, in ist und und keine leichtfertigen Sprachspiele zu sehen. Auch sollte die Rigorosität mancher Formulierungen nicht dazu verleiten, die Schärfe des Einsatzes mit ungehaltenem, pauschalisierendem Gestus zu verwechseln. Der heraufbeschworene Umsturz richtet sich an eine genau angegebene Adresse: die „Festschreibung von Unterordnung“, sowie in direkter Konsequenz das Verb „sein“, das jener Fixierung als zentraler Parameter dient. Vor diesem Hintergrund stellt der Wechsel von sein zu und keine einfache Handlungsanweisung dar, sondern die Zuspitzung eines Problems: Worin unterscheidet sich A und B von A ist B? Deleuze/Parnet antworten zuerst mit der Relativierung der Zentralstellung des und. Der Wechsel von ist zu und stellt demnach weder einen einfachen Ersatz dar noch baut er auf Distinktion und Verfeinerung. Vielmehr erfährt die Kopplung der beiden Relata mittels und eine Ausweitung auf alle möglichen Relationen. Die gestiftete Verbindung erschöpft sich nicht in der Zuschreibung des einen zum anderen, einer tendenziell einseitig ausgerichteten Identifikation. Sie ist faktisch unspezifischer, aber potentiell komplexer und tendiert fortlaufend dazu, die anfängliche Situation auszuweiten. Himmel und blau und noch ein Blau, ein anderer Himmel, weitere Blaus, ganz andere Farben . . . Während das Existenzurteil auf Konstanz setzt, eröffnet die Konjunktion jedem Glied die Chance auf Veränderung; und während das Attributionsurteil aus der Einseitigkeit seiner Zuschreibung hervorgeht, sind die Zusammenhänge der Konjunktion immer schon auf Gegen- und Wechselseitigkeit angelegt. Mit diesen Mitteln beraubt sie sich genau genommen selbst der Möglichkeit, zum Gegenstand oder Ziel eines ersten Haupt- oder obersten Grundsatzes zu werden. Das Verb sein wird nicht gänzlich verworfen – zumal es in seinem VerworfenSein präsent bleiben würde. Das zitierte Ersetzen ruft zu einem Stellenwechsel auf und keiner Tilgung. Entsprechend heißt es bei Deleuze/Parnet kurz darauf: „Mit ET denken statt EST, für EST denken – dies war und ist das ganze Geheimnis des Empirismus.“ (64) So wie das und zum Mittel wird, wird das sein zum Zweck. Beide dienen auf ihre Weise den Gegenständen, das heißt deren Vermögen, je spezifisch und eigen verfasst zu sein. Die Besonderheit des empiristischen Denkens siedeln Deleuze/Parnet jedoch vorrangig in den relationalen Zwischenräumen an. An der Konjunktion machen sie anschaulich, dass Verbindungslinien nicht nur eine Frage der Herstel-
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lung und Aufrechterhaltung sind, sondern auch und in gleichem Maße Impulse in sich tragen, die aus der jeweiligen Enge zweiseitiger Begrenzung hinausführen. Das und „lässt Glieder wie Mengen auf der von ihm geschaffenen Fluchtlinie entfliehen.“ (64) Der Terminus der Fluchtlinie, la ligne de fuite, rührt unmittelbar an die transversale Komponente der Konjunktion.23 Das Motiv der Flucht kann jedoch, zumal es in diesem Zusammenhang zum ersten Mal erscheint, den Verdacht erwecken, lediglich eine Reaktion darzustellen. Dem begegnen und erwidern Deleuze/Parnet bereits im Vorfeld des hiesigen Kapitels: „Tatsächlich heißt Fliehen keineswegs auf Taten verzichten – nichts Aktiveres als eine Flucht! Sie ist das Gegenteil des Imaginären, des Hirngespinsts.“ (45) In diesem Sinne unterstreicht der Konnex mit der Fluchtlinie, dass es sich bei der Konjunktion stets um eine Prozessgröße handelt. Als solche kann sie gar nicht anders, als Bestimmungen, die sich auf ein ist gründen, „einen Luftzug vom Hinterhof zu bescheren“. An welches Element sollte sich kein und anschließen lassen? Und welches Element sah sich nicht einmal von einem und auf den Weg gebracht? Der Reichtum dessen, was ist, findet in der Konjunktion eine so unscheinbare wie fortlaufende Quelle. Da der Lauf des und bei einem wie auch immer ausgezeichneten Ist-Zustand nicht anhält, gehen Deleuze/Parnet nicht zu einem substantivierten Sein über, sondern führen den Begriff der multiplicité ein: „Une multiplicité n’est jamais dans les termes, en quelque nombre qu’ils soient, ni dans leur ensemble ou la totalité. Une multiplicité est seulement dans le ET, qui n’a pas la même nature que les éléments, les ensembles et même leurs relations. Si bien qu’il peut se faire entre deux seulement, il n’en déroute pas moins le dualisme.“ (*71f.) „Eine Vielheit ist nichts, was in den Gliedern steckte, einerlei wie viele es sind, in deren Menge oder in der Totalität. Sie steckt allein im UND, das von den Elementen, deren Mengen und selbst von den Relationen verschieden ist, so verschieden, dass es sogar zwischen zwei Gliedern allein sich abspielen kann und gleichwohl die Dualismen durcheinanderbringt.“ (64f)
23 | Ein Passus, der den Zusammenhang von Fluchtlinie und Transversalität explizit macht, findet sich in den Tausend Plateaus und zeigt zudem die enge Verbindung zum Konzept des Werdens auf: „Ein Werden ist weder eins noch zwei noch die Beziehung zwischen beiden, sondern es ist dazwischen, die Grenze oder Fluchtlinie, die Falllinie, die vertikal zu beiden verläuft.“ (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 399f)
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In der Präzisierung der Vielheit als einer numerus-unabhängigen Größe macht sich erneut ein Aspekt der Definition des Gefüges geltend. In dieser Form kontrastieren Deleuze/Parnet die Vielheit mit sämtlichen Versuchen der Zuordnung, ausgenommen die Verortung in einem und, das keine bestimmten Glieder mit sich führt. Genau betrachtet brechen sie dabei mit der landläufigen Minimalbedingung, nach der die Anzahl der Elemente größer/gleich zwei betragen müsse, um überhaupt von einer Vielheit reden zu können. Definiens der Vielheit ist nicht mehr die Zahl der Elemente, sondern deren Verknüpfbarkeit. Denn – das bleibt an dieser Stelle zwischen den Zeilen – jede Bedingung, die sich an der Quantität von Einzelelementen festmacht, muss von der Möglichkeit ausgehen, dass jedes Element auch für sich alleine stehen könnte. Von einem solchen Fall Kenntnis zu erlangen, widerspricht allerdings seiner Bedingung. Das auserkorene Element stünde dann gerade nicht mehr allein. Der Versuch, eine Vielheit auf ihre Elemente zu gründen, scheitert an seinen eigenen Voraussetzungen. Der Einwand, den Deleuze/Parnet gegen den Dualismus vorbringen, schließt daran an. Geht man von einem Element samt Konjunktion aus, wird es bei dieser Zweier-Konstellation nicht bleiben können, sofern eine Aussage als Ziel firmiert, die als grammatisch vollständig gelten können will. Bilden dagegen zwei Glieder den Ausgangspunkt, schlägt die Äußerlichkeit der Konjunktion zu Buche, derzufolge die Verknüpfung keinem ihrer Bezugspunkte zugerechnet werden kann und also ein drittes Glied ausmacht. Die genannte Konfusion dualistischer Ordnung ist mit den herkömmlichen grammatischen Differenzierungen jedoch nicht zu erklären. Auch semantische Verfahren, ob Assoziation oder Repräsentation, finden im und keinen abschließenden Anhaltspunkt: „Das UND ist von fundamentaler Kargheit, Armut, Askese.“ (65) Mit diesen, Verzicht konnotierenden Zuschreibungen geht jedoch eine immense Anschlussoffenheit einher, ein rückhaltloser „Bezug nach Draußen“. Kein Eintrag, keine Belegung mit irgendeinem Inhalt mindert das Weiterdrängen des kleinen Wortes. Es ist unterwegs auf einer „nie sich senkenden, fundamentlosen, obenauf dahinziehenden Straße“ (66). Entsprechend richten sich Kargheit, Armut und Askese eher an das Prädikat des Fundamentalen, als dass sie an der Konjunktion selbst haften blieben.24
24 | In diesem Zusammenhang kommt der französische Philosoph Jean Wahl (1888–1974) zur Sprache, als ihm das Verdienst angerechnet wird, „die Kunst des UND, dies Gestotter der Sprache in sich selbst, diesen minoritären Gebrauch der Sprache, am weitesten vorangetrieben“ zu haben (65). Wie in den Tausend Plateaus geschieht dieser Hinweis jedoch beiläufig, das heißt ohne dass Äußerungen Wahls zitiert und diskutiert würden. Vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 137, Anm. 28. Bruce Baugh geht im Zusammenhang mit der Deleuzeschen Rezeption des Empirismus auf Wahls Les Philosophies pluralistes d’Angleterre
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Wie steht es allerdings um Optionen machtinteressierter Instrumentalisierung? Kann das und nicht gleichsam dafür herhalten, auch noch weit abgelegene Fremdund Andersartigkeiten einer vergleichsweise unkomplizierten Anbindung zu unterziehen, um sie in herrschende Ordnungen einzugliedern? Das und als Mittel, den notwendigen, aber wertlosen Raum zwischen dem einen und dem nächsten Warenspektakel wunderbar klein zu bekommen? Als Mittel, der Stille und der Leere nichts zu schenken? Deleuze/Parnet räumen die Ambivalenz einer Logik des und offen ein. Das Beispiel eines amerikanischen Sklaven verdeutlicht zudem, dass die Problematik nicht allein jüngeren Datums ist. Der Sklave ist zum Gebrauch des offiziellen Englisch genötigt, benötigt es jedoch auch, um die Möglichkeiten der Flucht genauer zu sondieren. Und nicht nur er flieht im Zusammenhang der Sprache, auch die Sprache selbst geht neue Wege, ist in Bewegung, wenn sich etwa Gospels und Slangs entwickeln. Im Hintergrund scheint dabei die Differenzierung auf, die hinsichtlich der Entstehung von Aussagen zwischen Subjekt und Gefüge trennt. Die Eigenheit des und besteht jedoch weniger darin, bevorzugt einer der beiden Seiten zu dienen, als unabhängig von bestimmten Lagern bestehende Sachverhalte in potentiell neue Kombinationen zu verwickeln. Warum Vereinnahmungen verhindern, wenn an ganz anderer Stelle die Zäune gefallen oder noch gar nicht gebaut sind? Entsprechend eignet dem Begriff der machine de guerre, der Kriegsmaschine, die an dieser Stelle dem und beigeordnet wird (65), neben einem Zug der Gegenwehr nicht weniger eine Risikobereitschaft gegenüber gänzlich Unbekanntem: „Das Problem der Kriegsmaschine ist die Schaltstelle, auch mit bescheidenen Mitteln, und nicht das architektonische Problem des Modells oder Monuments.“ 25 Eine fundamentlose Straße verspricht nicht nur angenehme Freiheiten. Sie fordert unwillkürliche Bewegungen heraus. Sie wird unterspült, verworfen und davongetragen. Das Stottern der Sprache selbst, das Deleuze/Parnet seinerseits mit dem und kurzschließen (vgl. 66), fungiert entsprechend weniger im Sinne einer Unterbrechung, der die Option eines Abbruchs droht, sondern vielmehr im Sinn eines Stolperns, eines Verlustes an Gleichgewicht und Sicherheit, der gleichzeitig mit einem Satz oder mehreren kleinen Sätzen nach vorn verbunden ist – um an einer Stelle zu landen, die man zuvor weder zu erhoffen noch zu befürchten in der Lage war. In dieser Form – und damit schließt der Abschnitt zum Empirismus – treibt das und eine schöpferische Spitze vor sich her.
et d’Amérique und Vers le Concret näher ein. Vgl. ders.: Deleuze und der Empirismus, übers. v. Burkhardt Wolf, in: Friedrich Balke u. Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze – Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, zum Aspekt der Konjunktion insbesondere S. 43 u. 52. 25 | Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 519.
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(III) Über Spinoza Die Form, in der sich der jüdische Philosoph der Konjunktion widmete, stellen Deleuze/Parnet gleich mit den ersten Sätzen heraus: „Seele und Körper: keiner hat je eine originellere Auffassung von der Konjunktion ‚und‘ gehabt.“ (66) Beide, l’âme et le corps, Seele und Körper, kommen im Individuum zusammen, gehen dort jedoch nicht in einem Ausgleich auf. Ihr Verhältnis ist fortwährend in Bewegung, da es unendliche Verhältnisse in sich trägt und selbst wiederum Teil unzähliger, größerer Verhältnisse ist.26 Das Individuum ist wie jedes andere Verhältnis stets „mehr oder minder“ zusammengesetzt. Die Veränderlichkeit der zahllosen, untereinander heterogenen Zusammenhänge resultiert aus deren Empfänglichkeit für Wechselwirkungen, ihrem „Vermögen, affiziert zu werden“ (67). Die richtungsweisende Frage lautet stets, ob eine Begegnung bestehende Zusammensetzungen fördert oder ihnen Abbruch tut. Das und zwischen Seele und Körper scheint bei Spinoza den Austragungsort dieser Frage darzustellen. Laut Deleuze/Parnet geht Spinoza das Leib-Seele-Problem weder monistisch noch dualistisch an. Stattdessen folge er dem Gedanken, dass der Ausgangspunkt und die Antriebskraft von allem stets, also immer wieder aufs Neue, in einer Begegnung, einer Relation zu suchen ist. Kein einzelnes Glied, also auch nicht die Seele,
26 | An anderer Stelle, aber ebenfalls im Bezug auf Spinoza, verknüpft Deleuze dieses Beziehungsverständnis mit dem Begriff der Vielheit und unterstreicht dabei nochmals seine prozessuale Natur: „Die Körper (und die Seelen) sind Kräfte. Als solche definieren sie sich nicht nur durch ihre Begegnungen und ihre zufälligen Zusammenstöße (Krisenzustand). Sie definieren sich durch Beziehungen zwischen unendlich vielen Teilen, aus denen jeder Körper sich zusammensetzt und die ihn bereits als eine ‚Vielheit‘ charakterisieren. Es gibt also einen Prozess der Zusammensetzung und der Zersetzung der Körper, je nachdem ob ihre charakteristischen Verhältnisse übereinstimmen oder nicht übereinstimmen.“ (Gilles Deleuze: Vorwort zu Die wilde Anomalie, in: Ders.: Schizophrenie und Gesellschaft, a.a.O., S. 183, Herv. im Orig.) Die genauere Begründung der unendlichen Erstreckung der Verhältnisse, die wie die Vielheit nicht numerisch aufzufassen ist, ist voraussetzungsreich. Ein zentraler Passus aus der zugehörigen Argumentation in Deleuzes Spinoza-Monographie lautet: „An einer wichtigen Stelle der Kurzen Abhandlung behauptet Spinoza, dass ‚wir in uns etwas finden, das uns offenbar hinweist nicht allein auf noch mehr, sondern sogar auf unendlich viele vollkommene Attribute‘; die unbekannten Attribute ‚sagen uns, dass sie da sind, ohne uns doch bisher zu sagen, was sie sind‘. [. . .] In anderen Worten: die Tatsache unserer Existenz selbst offenbart uns, dass die Existenz durch die Attribute die wir erkennen, sich nicht erschöpfen lässt.“ (Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, übers. v. Ulrich Johannes Schneider, München 1993 [Paris 1968], S. 105)
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könnte jemals alleine stehen und bewirken, was in und mit den Verhältnissen möglich ist, denen sie angehört. Wenn Spinoza insbesondere nach dem Vermögen und den Affekten des Körpers fragt, so weil ihm dieser Teil des Verhältnisses ‚Individuum‘ für unterschätzt gilt. Alle Beziehungen, die ein Körper in der Lage ist einzugehen, bilden den Rahmen seiner Bestimmung. Demnach sind es weder biologische noch in einem engeren Sinn physiologische Definitionen, die ihn auszeichnen. Stattdessen plädiert Spinoza nach Deleuze/Parnet dafür, alle relationalen Möglichkeiten, die ein Körper eingehen kann, zum leitenden Kriterium zu machen (vgl. 67). Die Frage, zu welchen Affekten ein Körper in der Lage ist, lautet in anderen Worten, mit was sich alles ein Verhältnis eingehen lässt. Die Affekte können dabei sowohl vom Körper selbst als auch von Außen kommen. Sie sind Herausforderungen und Bewährstellen des Möglichen; Deleuze/Parnet nennen sie devenirs, „Formen des Werdens“ (67).27 Gegen jede Vereinseitigung und Hierarchisierung der Konjunktion von Seele und Körper folge Spinoza dem und, das von sich aus keines seiner Glieder höher stellt. Überall spüre er die Konjunktion auf, weit hinter Seele und Körper zurück wie über sie hinaus.28 Am Beispiel von Tieren, insbesondere der Zecke, führen Deleuze/Parnet aus, wie sich jene Auffassung der Konjunktion in einer konkreten Praxis niederschlagen kann.29 Gerade im Rahmen des vergleichsweise kleinen Spektrums, in dem die Interessen der Zecke liegen, zeige sich die Tragweite eingegangener Verhältnisse: Die Zecke lebt „nicht in unserer und nicht in einer anderen Welt, [sondern] im Bunde mit einer Welt [. . .], die sie ihrem Vermögen gemäß zurechtzuschneiden, zu zerlegen und wieder zusammenzufügen“ versteht (67f). Was zuvor der Konjunktion oblag, übernehmen hier die Präpositionen. In ihrer Hervorhebung tritt ein Denken zu Tage, das sich der Beziehungen nicht nur als Konsequenz, sondern auch als Voraussetzung be-
27 | Der Begriff des Werdens erinnert ferner daran, dass auch die Affekte selbst weder isolierte noch isolierbare Bestandteile von Verhältnissen sind: „Die Affektion ist also nicht bloß die augenblickliche Wirkung eines Körpers auf meinen, sie wirkt auch auf meine eigene Dauer, als Lust oder Schmerz, Freude oder Traurigkeit.“ (Gilles Deleuze: Spinoza und die drei ‚Ethiken‘, in: Ders.: Kritik und Klinik, übers. v. Joseph Vogl, Frankfurt a.M. 2000 [Paris 1993], S. 188) 28 | Dass die Festlegung einer Reihenfolge – vom und ausgehend – eher ein Kompositionsdenn ein Hierarchieproblem darstellt, lässt sich daran erkennen, wie leicht mit seinen Mitteln eine Umkehrung vorzunehmen ist. 29 | Das Beispiel der Zecke verdanken Deleuze/Parnet einem „fernen Nachfolger Spinozas“ (67): „Nietzsche hat kaum Vorgänger. Abgesehen von den sehr alten Vorsokratikern bekennt er sich nur zu einem einzigen Vorgänger: Spinoza.“ (Gilles Deleuze: Vorwort zur amerikanischen Ausgabe von Nietzsche und die Philosophie, in: Ders.: Schizophrenie und Gesellschaft, a.a.O., S. 194)
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wusst ist. Im gegebenen Fall scheint dasjenige eine Welt genannt zu werden, aus dem das Tier seine Mittel bezieht und auf das es diese wiederum ansetzt. Dabei macht es jedoch einen großen Unterschied, diese Welt als konstante Dimension oder als variablen Parameter aufzufassen. Als Dimension ist die Welt unabhängig von Bewegungen in ihr gegeben, als Parameter hängt sie dagegen explizit von Interaktionen mit ihr ab. Die hier vorliegende Parametrisierung deklariert die Welt allerdings nicht als einen Gegenstand unter Gegenständen. Die Menge der Beziehungen, die den Namen ‚Welt‘ trägt, geht nicht nur in mehr oder weniger freie Verfügungen ein, sondern stellt gleichsam auch deren Grundlage. Beziehungen sind nicht nur Machwerk, sondern immer auch Rahmenbedingung. Dieses doppelte Merkmal bündelt sich im Begriff des Affekts. Über diesen laufen die ausschlaggebenden Beziehungen. Mögen sie auch gering an der Zahl sein – wie im Fall der Zecke –, kommen sie doch aus einer Welt und sind darin begriffen, eine andere zu ergeben. Die Größe der Welt nicht als Gegenstand anzugehen, sondern als Miteinander aufzufassen, wirft erneut Fragen der Instrumentalisierung auf, die, wenn auch nur implizit, für die Konjunktion von Belang sind. Indem Beziehungen nicht nur aktiv geknüpft, sondern immer auch passiv als Voraussetzung miteinbezogen werden, eröffnen sich Mittel und Wege gezielter Beeinflussung. „Der Tyrann, der Priester, der Seelengreifer brauchen unser Eingeständnis, dass das Leben hart und schwer ist.“ (68) Die Deutlichkeit dieser Worte leiten Deleuze/Parnet aus der Ethik Spinozas ab: „Wenige Themen erscheinen in der Ethik so regelmäßig wie dieses: alles, was traurig und schlecht ist, macht uns zu Knechten; alles, was Traurigkeit einschließt, drückt einen Tyrannen aus.“ 30 Traurige Affekte mindern das Vermögen, Begegnungen zu initiieren. Sie wirken auf Beziehungen, aus denen heraus und mit denen man lebt, auflösend. In weiterer Konsequenz begünstigen, ja fördern sie die Entstehung von Macht auf der einen, von Abhängigkeit auf der anderen Seite. Wie also der Tatsache begegnen, wenn das Vermögen, affiziert zu werden, als Anschlussstelle macht-geleiteter Interessen missbraucht wird? „Faire du corps une puissance qui ne se réduit pas à l’organisme, faire de la pensée une puissance qui ne se réduit pas à la conscience. Le célèbre premier principe de Spinoza (une seule substance pour tous les attributs) dépend de cet agencement, et non l’inverse.“ (*76) „Aus dem Körper ein Vermögen zu machen, das sich nicht auf den Organismus reduziert, aus dem Denken ein Vermögen zu machen, das sich nicht auf das Bewusstsein reduziert. Das berühmte erste Prinzip
30 | Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a.a.O., S. 239.
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Spinozas (eine Substanz für alle Attribute) hängt von diesem Gefüge ab, und nicht umgekehrt.“ (69) Die Weisung, die Deleuze/Parnet von Spinoza ableiten, baut auf eine aktive Gestaltung der Vermögen als einer möglichsten Ausweitung der Veranlagung, mit der Welt Verhältnisse einzugehen. Innerhalb der Vermögen sind jedoch beide Komponenten angesprochen: aktive und passive, „Ansteckung und Bündnisse“.31 Diese Wege der Verknüpfung sehen sich unter dem Vorzeichen der Ausdehnung mit der Einheit des Organismus, im Denken mit dem Bewusstsein konfrontiert. Worin besteht das Problem bezüglich Organismus und Bewusstsein? Problematisch ist weder die eine noch die andere Größe als solche, sondern ihr Einsatz als Grenzen sämtlicher Beziehungen. Wie zuvor die Welt, schließen Organismus und Bewusstsein als Ort oder Dimension zwar diverse Relationen in sich ein, lassen diese jedoch nur unter ganz bestimmten Umständen an sich oder über sich hinaus reichen. Sie fungieren als invariante und limitative Rahmen. Dementgegen plädieren Deleuze/Parnet mit Spinoza dafür, diese Einheiten stärker zu relativieren, das heißt so aufzufassen, dass sie auch selbst in einer Vielzahl unterschiedlicher und sich wandelnder Verhältnisse stehen. Werden Relationen nicht mehr nur in ihnen, sondern auch mit ihnen wirksam, transformieren sich Organismus und Bewusstsein von Grenzen zu potentiellen Übergängen: „Zwar erkennen wir nur zwei Attribute [Denken und Ausdehnung], wissen aber zugleich, dass das Vermögen zu existieren nicht dem Attribut Ausdehnung gleich ist: eine Idee existiert nicht weniger als ein Körper, und das Denken ist nicht weniger als die Ausdehnung eine Form der Existenz [. . .].“ 32 Auf das und zurückgewendet, konkretisiert sich an der Konjunktion von Körper und Seele, wie das Bindewort nicht allein einen Zwischenraum überbrückt und von sich aus keine seiner Seiten bevorzugt. Im gleichen Sinne wird das und auch zum Ausgangspunkt und Impetus für die Überschreitung der Einfachheit der versammelten Glieder. Alles Gegebene hat mit mehr zu tun. Das und kann als Zeichen dieses Mehr gelesen werden – ein kleiner, verlässlicher Bote aus dem Reich umfangunabhängiger Weite.
31 | Der rätselhaft anmutende Satz „Es ist eine Geschäft von Blut.“ (68), der vergleichsweise unvermittelt in diesem Kontext steht, findet einen klärenden Zusammenhang in den Tausend Plateaus: „In der Zauberei gehört das Blut zur Ordnung der Ansteckung und des Bündnisses.“ (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 336) Zur Zauberei vgl. ebendort S. 35 und insbesondere S. 326–344. 32 | Gilles Deleuze: Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, a.a.O., S. 105.
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(IV) Über die Stoiker Der Begriff des Körpers, den Deleuze/Parnet auf die Stoiker zurückführen, bezieht im Gegensatz zu Spinoza die Seele mit ein. Im Kontrast zu Aristoteles fasse er sowohl die Eigenschaften, die Akzidenzien, als auch das Wesen, die Substanz, in sich. Und anders als bei Platon lägen selbst noch die Ursachen in den Körpern. Tout est mélange de corps: „Alles ist ein Gemisch von Körpern“ (69).33 Entsprechend vielfältig fällt das Spektrum von Mischungsfiguren aus, das Deleuze/Parnet exemplarisch anführen. Von gewaltsamen Formen des Auf- und Ineinandereinwirkens, des Eingriffs, der Übernahme und der Zerstörung oder des Rückzugs und der Preisgabe reicht es bis zum Beisammensein der Liebenden. Sowohl komplizierte Verzahnung als auch übersichtliche Koexistenz fallen unter das Signum des Gemischs. Aus der Weite dieses Bezugssystems resultiert, dass kein Körper jenseits der Relationen steht, die hier den Namen Mischung tragen. Die Zusammenhänge der Körper kennen keine Grenzen. Regeln, die vorgeben, die Reichweite der Vermischungen zu beschränken – Deleuze/Parnet zitieren die stoizistischen Gegenbeispiele von Kannibalismus, Inzest und Orgien –, könnten allein nominell Geltung beanspruchen.34 Wenn also die Ordnung und Reglementierung der Gemische ihrerseits relativ verfasst bleibt, büßen sowohl transzendente als auch immanente Maßgaben ihren Gültigkeitsanspruch ein: „Wieso sollte die Welt der Gemische nicht diejenige einer schwarzen Tiefe sein, in der alles erlaubt ist?“ 35 Angesichts dieser Frage greifen Deleuze/Parnet eine Differenzierung auf, die Chrysipp zugeschrieben wird und die sich den Körpern aus zwei Perspektiven nähert: Auf der einen Seite gilt das Augenmerk dem Ganzen der körperlichen Gemische, vom einfachen Ding bis zum Gefühl und zur Ursache also allem, was der stoizistische Begriff zu fassen bekommt; auf der anderen Seite stehen die unzähligen, interagierenden Einzelgemische. Chrysipp nähere sich beiden Polen aus der Mitte respektive dem Innern der körperlichen Mixturen. Die Relativität jeder Norm scheint sich dabei nochmals zu bestätigen: Im Bezug auf das Ganze darf „alles gut“ gelten, bezüglich der Teile dagegen ist „alles gefährlich“ (70).36 Die Unterscheidung zwischen einer einzigen speziellen Verbindung und dem großen Ganzen bleibt für die Stoiker also ganz eine Frage der Körper. Das Einzige, was dieser großen Melange
33 | Für die abgrenzenden Bezüge zu Aristoteles und Platon vgl. Gilles Deleuze: Logik des Sinns, a.a.O., S. 22f. 34 | Zu den genannten Beispielen vgl. ebd. S. 165f. 35 | Ebd. S. 166. 36 | Ausführlicher diskutiert Deleuze die beiden Mischungstypen von Chrysipp in der Logik des Sinns, vgl. ebd. S. 166f.
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der Körper nicht von vornherein angehört, sind Wirkungen im Wortsinn. In diesem Zusatz verorten Deleuze/Parnet die stoizistische Innovation: „C’est la force des stoïciens d’avoir fait passer une ligne de séparation, non plus entre le sensible et l’intelligible, non plus entre l’âme et le corps, mais là où personne ne l’avait vu: entre la profondeur physique et la surface métaphysique. Entre les choses et les événements. Entre les états de choses ou les mélanges, les causes, âmes et corps, actions et passions, qualités et substances, d’une part, et, d’autre part, les événements ou les Effets incorporels impassibles, inqualifiables infinitifs qui résultent de ces mélanges, qui s’attribuent à ces états de choses, qui s’expriment dans des propositions.“ (*78) „Die Stärke der Stoiker liegt darin, eine Trennungslinie nicht zwischen Sinnlichem und Intelligiblem, Seele und Körper gezogen zu haben, sondern dort, wo noch keiner zuvor sie gesehen hatte: zwischen physischer Tiefe und metaphysischer Oberfläche; zwischen den Dingen und den Ereignissen; zwischen den Sachverhalten oder Gemischen, den Ursachen, den Seelen und Körpern, Aktionen und Passionen, Eigenschaften und Substanzen auf der einen Seite und den infinitiven, unqualifizierbaren, unerschütterlichen, unkörperlichen Wirkungen oder Ereignissen, die aus jenen Gemischen sich ergeben, jenen Sachverhalten sich attributiv zuordnen, in den Sätzen sich ausdrücken, auf der anderen Seite.“ (70) Die Einführung einer unkörperlichen Größe wird im räumlichen Sinne mit einer aufliegenden Schicht, im zeitlichen Sinne mit einem nichtvorhersehbaren Zwischenfall assoziiert. Etwas kommt zum Ausdruck und gliedert sich dem Zusammenhang der Körper dennoch nicht ein. Es ist infinit, nachdem es stets schon geschehen ist und erst noch eintreten wird; unqualifizierbar, da sein Auftreten weder auf eine eigene Existenz noch eine solche von Ideen oder Gegenständen gründet; und unerschütterlich, weil alles Tun und Leiden Sache der Körper ist. In erster Konsequenz knüpfen sich die Ereignisse eher an ihresgleichen denn an das weite Feld der stoizistischen Körper. Nachdem jene Körper auch die Ursachen mit einschließen, geht die Differenz zwischen Körpern und Ereignissen mit einer abgewandelten Auffassung von Kausalität einher. Diese besagt, dass zuerst die „Bindung der Ursachen unter sich und die Ver-
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bindung der Wirkungen untereinander“ erfolgt.37 Zumindest die Konjunktion weiß an dieser Stelle bereits um eine Querverbindung. Dem Zusammenhang zwischen Körpern und Ereignissen nähern sich Deleuze/ Parnet mit Behutsamkeit. Zuerst sprechen sie davon, dass die Ereignisse aus der Dichte der Physis an deren Oberfläche „aufsteigen“ (s’élève) und an ihr „teilhaben“ (participant). Dann sind es Verben, die allesamt im Infinitiv stehen, um den Ereignissen eine Form zu geben: „‚röten‘, ‚grünen‘, ‚schneiden‘, ‚sterben‘, ‚lieben‘“ (alle 70). Auf die stoizistische Theorie der Kausalität – derzufolge Ursachen und Wirkungen nicht von vornherein miteinander zusammenhängen, sondern primär und jeweils mit ihresgleichen interagieren – baut eine Theorie der Sprache auf. Darin nehmen die InfinitivVerben eine besondere Stellung ein: Sie bündeln die Intensität von Aussagen. Soweit bleibt das Geschehen jedoch unkörperlich und gehört noch ganz dem Bereich der Wirkungen an. Zum Kontakt mit der Physis kommt es erst, wenn die Intensität einer Aussage auf etwas gerichtet wird. Dann schreibt sie sich in einen Zusammenhang von Körpern ein: „Ein solches Ereignis, ein solches Infinitiv-Verb ist ebenso das Ausgedrückte eines Satzes wie Attribut eines Sachverhalts.“ (70) Wenn der Körperbegriff so weit gefasst ist, dass die Eigenschaften der Dinge bereits von sich aus zu ihm zählen, kann die attributive Funktion nicht deskriptiv angelegt sein. Auch sind die Ereignisse als Wirkungen gemäß der stoizistischen Kausalität von den Körpern als Ursachen in einer Weise geschieden, dass nicht davon die Rede sein kann, Ereignisse und Körper könnten für einander stehen und eintreten. Repräsentation charakterisiert ihr Verhältnis also ebenfalls nicht. Als Attribute zeigen die Infinitiv-Verben vielmehr an, dass sich mit ihnen respektive vermittels ihrer in der Ordnung der Körper etwas ändert. Wie das Werden in Kategorien des Seins nicht zu greifen ist, gehen die Ereignisse nicht in der Vorhandenheit der Physis auf. Sie sind ihrer Natur nach nicht existent, sondern „subsistieren oder insistieren“.38 Wenn die Ereignisse also „aufsteigen“, wie
37 | Ebd. S. 125. Derselbe Zusammenhang kündigt sich in der Logik des Sinns bereits S. 19 an: „Unter den Körpern gibt es nicht Ursachen und Wirkungen: Alle Körper sind Ursachen, sind wechselseitig, füreinander Ursachen.“ Die Kursivierung des und entstammt in beiden Fällen dem Original. 38 | Ebd. S. 19. In den Tausend Plateaus führen Deleuze/Guattari diese spezifische Form der Attribuierung noch einen Schritt weiter aus: Als „Kette augenblicklicher Transformationen“ verschaffe sich das Ereignis in das „Raster kontinuierlicher Modifikationen“ der Körper Zugang. Die Infinitiv-Verben werden zu „Zeichen“ verallgemeinert, die Körper zu „Dingen“. Die Intervention drückt sich dann darin aus, dass „die Zeichen die Dinge selber bearbeiten, während die Dinge sich gleichzeitig durch die Zeichen ausweiten oder ausbreiten.“ (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 122)
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es Deleuze/Parnet eingangs nennen, bedeutet ihre „Teilhabe“ nicht, dass sie sich zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort der „Oberfläche“ niederlassen. Vielmehr – das verdeutlichen die Ausführungen zu den Infinitiv-Verben – geht das Aufsteigen mit einer verändernden Kraft einher: Die Ereignisse befinden sich ständig im Werden. Röten wird gleichzeitig stärker als es war und schwächer als es sein wird. Die Bedingungen, unter denen ein Ereignis stattfindet und in den Kontext der Körper einwirkt, fallen nicht unter einen einheitlichen Begriff von Existenz oder Sein. Wollte man einen alternativen höchsten Begriff angeben, wäre es „nicht Sein, sondern Etwas, aliquid, insofern es das Sein und das Nicht-Sein, die Existenzen und die Insistenzen subsumiert.“ 39 Deleuze/Parnet gehen davon aus, dass im Zusammenhang mit diesen vom Sein abweichenden Bedingungen weitere Mittel generiert werden können, die gewohnte Vorrangstellung des Verbums ‚sein‘ zu relativieren. Neben dem und, das sich – seiner Möglichkeit nach immer wieder – an das Große und Ganze des Seins anfügt und ihm Variationen und offene Enden einträgt, stellen sie die Attribuierung von Sachverhalten mittels Verben im Infinitiv als ein weiteres Verfahren dar, den Verfügungen des Seins zu entgegnen. Die Infinitive drücken keinen halt- und feststellbaren Zustand aus, sondern Prozesse, mit denen sich etwas wandelt. Gleichzeitig stehen sie jenseits personenbezogener Konjugationsformen. Sie referieren also weniger auf die Subjekte der Aussage als auf die Verlagerung eines Gefüges, auf ein „vielfältiges unbegrenztes Werden“: Les verbes infinitifs sont des devenirs illimités (70).40 Was im Rahmen subjektgebundener Artikulation ein schlichter Verzicht auf das Personalpronomen wäre, nimmt jenseits dessen als Intensivierung des Geschehens seinen Lauf. Erneut geht es Deleuze/Parnet nicht darum, die Bindung zwischen Sprache und Person gänzlich aufzuheben, sondern vielmehr darum, die Potentiale der Relation nicht einseitig an den Grenzen eines der Relata zu bemessen. Entsprechend ist die richtungsoffene Äußerlichkeit einer wechselwirkenden Verbindung nicht unbestimmt, das „Indefinite nicht indeterminiert“ sowie die „Infinitive nicht undifferenziert“ (71). Positiv formuliert werden sich die Glieder der Relation gegenseitig zur Herausforderung, zu einer Kontakt- und Einfallsstelle des Außen. Zwischen ihnen pflegt die fortlaufende Relation die Nähe zu geschehenen wie zu kommenden Ereignissen. Die zugehörigen Bedingungen werden relativ, das heißt sie werden Teil der Verhältnisse, die im Begriff sind, sich zu verändern.
39 | Gilles Deleuze: Logik des Sinns, a.a.O., S. 22. 40 | Dass Deleuze/Parnet das Werden im Französischen auch in solchen Sätzen im Plural anführen, die anders als hier einen Singular nahelegen, demonstriert die personen- wie numerusunabhängige Form dieses Plurals zusätzlich.
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Wie im Kontext von Spinoza der Fokus eher auf den Körper denn auf die Seele fiel, gilt das Gewicht, das im Kontext des Stoizismus dem Ereignisbegriff zukommt, nicht einer neuen Vorrangstellung vor den Körpern, sondern der Freisetzung von Wechselwirkungen. Der kausale Zusammenhang zwischen den physischen Ursachen und den unkörperlichen Wirkungen funktioniert entsprechend nicht als einseitige Ableitung – von den Ursachen zu den Wirkungen –, sondern ist reziprok angelegt: Ursachen und Wirkungen setzen sich wechselseitig voraus und gehen fortlaufend in beiden Richtungen ineinander über.41 In der Konsequenz kann ein Ereignis auf das Engste mit einem bestimmten Sachverhalt zusammenhängen – es ist weder gänzlich auf diese seine Ursachen zurückzuführen noch geht es vollständig in der Entfaltung seiner Wirkung auf. „Die Infinitive ‚sterben‘, ‚lieben‘, ‚bewegen‘, ‚lächeln‘ etc. sind Ereignisse, weil ein Teil in ihnen ist, der im Akt ihrer Vollendung sich nicht realisiert, Werden an sich, das uns stets noch erwartet und zugleich [. . .] vorausgeht.“ (71) Dieses unverfügbare Moment gilt es sich nach Deleuze/Parnet nicht nur einzugestehen und mittels der stoizistischen Kausalität plausibel zu machen, sondern auch derart zu vergegenwärtigen, dass man ihm nachfolgt. In dieser Richtung geht die stoizistische Theorie der Kausalität in eine Moral über. Hier hat das Diktum seinen Ort, das auch Nietzsche beschäftigte: amor fati – Liebe zum Schicksal.42 Nahe liegt der Einwand, in der Schicksalsliebe eine Preisgabe an sämtliche Spielarten der Fremdbestimmung zu erblicken. Die Spezifik der Nachfolge gerade bezüglich jener Dinge, die sich ereignen, ohne vorab darum gebeten worden zu sein, kann so einfach jedoch nicht auf blinde Gefolgschaft reduziert werden, denn sie impliziert eine Relationslogik, die für die Ergebnisoffenheit ihrer Wechselwirkungen eintritt. Die entsprechende Empfänglichkeit unterscheidet sich von vorauseilendem Gehorsam genauso, wie von einem bevormundenden Verfügungsanspruch. Sich auf diesem Weg dem Fatum anzuvertrauen, heißt, die eigenen Befindlich- und Berechenbarkeiten nicht zum entscheidenden Maßstab zu erheben. Das Wirkungspotential der Konjunktion von Körper und Ereignis entfaltet sich vielmehr gerade dann, wenn keines der Relata das andere überdeckt und unterwirft. Bricht ein Ereignis zu früh, zu stark oder zu umfangreich herein, gilt es, dieser Intensität nachzukommen, um sie mit allen Mitteln zu verkörpern: „Sich nicht geringer erweisen als das Ereignis, das einen ereilt, Spross seiner eigenen Ereignisse werden.“ (72) Auch wenn ein Körper selten einmal keinerlei Gebrechen aufweist und bereits geschehene Ereignisse landläufig als Vorlagen für Inszenierungen und Instrumentalisierungen herhalten müssen, bahnen sich die Ereignisse stets ihren
41 | Vgl. dazu auch Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 122. 42 | Vgl. Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Viertes Buch, § 276.
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Weg dazwischen, zwischen Wunde und Heilsversprechen, zwischen eingeschränktem Handlungsraum und selbstgerechtem Konstruktivismus, ohne jemals in einer Seite aufzugehen. Angesichts der Formel ENTITÉ = ÉVÉNEMENT, ENTITÄT = EREIGNIS, in der Deleuze/Parnet die stoizistische Moral verdichten, muss entsprechend daran erinnert werden, dass der eingehende Ereignisbegriff einen Anteil birgt, der sich in seinem Geschehen nicht realisiert. Jener Anteil kann durchaus als Garantie verstanden werden, derzufolge es sich bei dem, was vollständig vereinnahmt zu sein scheint, nicht um ein Ereignis handelt. Vor diesem Hintergrund widerspricht der stoizistische Satz „Alles ist ein Gemisch von Körpern“ der Deleuze/Parnetschen Formel nicht. Beide können – aus entgegengesetzten Richtungen kommend – als Ausdruck der Achtsamkeit gegenüber dem Ereignis gelesen werden. Auch wenn die Konjunktion in allen genannten Aspekten stoizistischer Theorie – der Kausalität, der Sprache und der Moral – nicht explizit zur Sprache kommt, sind die Momente, die Deleuze/Parnet im Vorfeld an und mit ihr entwickelten, in jedem Abschnitt präsent und übernehmen tragende Rollen. Im Kontext der stoizistischen Kausalität tritt das und zwischen Ursachen und Wirkungen auf, um diese auf gleiche Weise zu trennen wie zu verbinden. Der Plural, in dem beide Relata auftreten, deutet dabei an, dass jede der Größen bereits Verhältnisse in sich birgt. Diese vorgelagerten Verbindungen innerhalb der beiden kausalen Parameter von Ursache und Wirkung, sowie die trennende Komponente des und zwischen ihnen erklären und sichern die Unverfügbarkeit ereignishafter Wirkungen. Dementsprechend kreist die stoizistische Theorie der Sprache nach Deleuze/Parnet weder um Fragen der Deskription noch um solche der Repräsentation. Ihre Aufmerksamkeit gilt der Intervention von Sprach-Ereignissen. Die hervorgehobenen Infinitiv-Verben teilen ihr auszeichnendes Merkmal mit der Konjunktion: Aus einer ganzen Reihe von Unbestimmtheiten heraus – etwa hinsichtlich Angaben der Zeit, der Person (Genus, Numerus), des Modus (Indikativ/Konjunktiv/Imperativ) und der Diathese (aktiv/passiv) – vermögen gerade sie es, dem Werden Ausdruck zu verleihen. Die Prozessgröße des Werdens spricht in einem Ereignis wiederum jenen Teil an, dessen Dynamik auch mit dem Eintritt des Ereignisses nicht zur Ruhe kommt. Bleibt zuletzt die stoizistische Moral, in der sich das und zwischen Schicksal und Schicksalsliebe wiederfindet. Wenn diese Liebe ihrem Ziel folgt, gibt sie Eigensinn und Aktivität nicht auf, sondern sucht sich mit den Ereignissen des Schicksals die wohl beweglichsten Relationspartner. Das und fungiert dabei als Mittel des Nahkontakts: nicht allein in der linearen Anlage dessen, was sich bereits verbunden sieht, sondern vor allem quer, also transversal dazu, das heißt im Hinblick darauf, was bislang als zu groß, zu intensiv oder noch nicht geschehen galt.
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Die verbleibenden drei Abschnitte zur Wissenschaft, zum Humor und nochmals zum Begriff des Gefüges kommen ebenfalls nicht mehr explizit auf das und zurück. Wie bereits im Falle des Stoizismus bleibt die Logik der Relation jedoch das bestimmende Problem, dem sich die Gedankenführung von Deleuze/Parnet verschreibt. Von daher verspricht die Untersuchung der ausstehenden Textteile trotz lediglich impliziter Referenzen auf die Konjunktion weitere Präzisierung. (V) Von der aktuellen Wissenschaft Frei von expliziten Bezügen auf die angloamerikanische Literatur sind es Fragen der Relationsthematik, die Deleuze/Parnet zum Thema zeitgenössischer Forschung führen. Sie gliedern das Feld nach zwei Richtungen: Auf der einen Seite stehen Relationen, die, wenn nicht im Voraus, dann im Nachhinein einem Axiom untergeordnet und ihm entsprechend eingerichtet werden; auf der anderen Seite gehen Verknüpfungen aus einem Antrieb hervor, der sich gerade nicht an einer zentralen Regel und deren Ausschlussprinzipien festmacht, sondern der stattdessen empfängt und miteinbezieht, was sich jeweils ergibt. Das erstgenannte, „axiomatisch und struktural“ verfasste Relationsverfahren assoziieren Deleuze/Parnet mit einer „umfassenden Politik“, das letztere, „ereignisbezogene“ mit bestimmten, zunehmenden Tendenzen innerhalb der aktuellen Wissenschaftslandschaft (73f). Der dabei implizierte zeitgeschichtliche Wandel besitzt hypothetischen Charakter. Er geht auf einen „Eindruck“ zurück und wohl auch auf eine Hoffnung. Allerdings liegt es nicht im Bestreben von Deleuze/Parnet, die eingeführte Opposition im Sinne eines Wettstreits zu entscheiden. Vielmehr versuchen sie, die veranschlagte Differenzierung zu verfeinern, sowohl, was die interne Verfasstheit der Wissenschaftstypen anbelangt, als auch, was deren Beziehung zueinander betrifft.43 Was heißt in diesem Zusammenhang Axiom? Ein Axiom stellt nicht minder eine Relation dar, eine Relation allerdings, die auf Standardisierung gründet. Dabei muss es nicht vorgegeben sein, doch hängt es mit dem Anspruch zusammen, dass es im Laufe einer Untersuchung gefunden wird und rückwirkend überprüft werden kann. Ist es einmal gegeben, äußert sich ein Axiom primär darin, zu entscheiden, was einem betreffenden Relationszusammenhang angehört und was nicht. Auf diese Weise organisiert es zum einen den Bestand der Relata; zum anderen weist es 43 | Ob Deleuze/Parnet um die wissenschaftstheoretische Arbeit von Thomas S. Kuhn wussten, der in The Structure of Scientific Revolutions von 1962 zwischen Normalwissenschaft und Wissenschaft in einer außerordentlichen oder revolutionären Phase unterscheidet, geht aus den Dialogen nicht hervor. Vgl. Thomas S. Kuhn: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, übers. v. Kurt Simon, Frankfurt a.M. 1996 [Chicago 1962].
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die integrierten Elemente in einen Formalismus ein. Mit ihm trägt das Axiom Sorge dafür, dass bestimmte Bestandteile konstant bleiben – wenn nicht einzelne Glieder oder deren Verhältnis, dann zumindest die Maße, die zugrunde gelegt werden. In der Weise, wie ein Axiom rückwirkend Anwendung finden kann, ist es möglich, auch präventiv angewandt zu werden. In jedem Fall gibt es ein probates Mittel an die Hand, Übertritte und Unwägbarkeiten auszuschließen und also für geordnete Verhältnisse zu sorgen. In dem Umfang, in dem es Unbestimmtheiten ausräumt, erhöht es die Wahrscheinlichkeit von Prognosen. Ein Axiom ist folglich auch in dieser Richtung nicht von der Absicht zu trennen, einen Relationszusammenhang auf bestimmte, sich gleichbleibende Formen oder Maße zu eichen. Die Äußerlichkeit der Relation erhält einen Rahmen, der von der Relation unberührt zu bleiben hat.44 Abweichungen von den regeldominierten Relationen machen Deleuze/Parnet am Begriff des Ereignisses fest. Unweigerlich hallt der Kontext des Stoizismus nach, in dem der Terminus eine zentrale Rolle spielte. Demzufolge ist ein Ereignis unkörperlich und zeichnet sich weiter dadurch aus, dass es mit seinem Eintritt die gegebenen Strukturen überfordert. Es weicht also von den Maßgaben bestehender Reglementierungen ab; ihnen gegenüber erscheint es „singulär“ (74).45 Dafür vermag es ein Ereignis, auch und gerade zwischen solchen Elementen zu vermitteln, die aus sehr unterschiedlichen Milieus stammen. Geht es nach Deleuze/Parnet, gilt diesen Prozessen
44 | In Tausend Plateaus führen Deleuze/Guattari als Beispiel für eine reglementierende Relation die Gravitation an: „Die universelle Anziehungskraft wurde zum Gesetz der Gesetze, weil sie die Regel für die bi-univoke Entsprechung zwischen zwei Körpern formuliert.“ Demnach wird die Relation per Axiom dazu ermächtigt, ihre Glieder zu beiden Seiten (bi-) einer Vereinheitlichung (-univok) zuzuführen. Das Ziel ist es, „einen universellen Wert (eine konstante Beziehung für alle Variablen) und eine bi-univoke Bedeutung (jeweils zwei Körper und nicht mehr)“ zu erschließen und verfügbar zu machen. (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 508f ). 45 | Weiter in Tausend Plateaus nennen Deleuze/Guattari die ereignisbezogene Forschung nomadisch, minder oder ambulant. Ihr nehmen sie sich vor allem in Satz III. des 12. Plateaus an. In Abgrenzung zum herkömmlichen, herrschenden Wissenschaftsverständnis charakterisieren sich die ambulanten Wissenschaften unter anderem wie folgt: „Dank all ihrer Verfahren überschreiten [sie] sehr schnell die Möglichkeiten der Berechnung: sie etablieren sich in diesem ‚mehr‘, das über den Raum der Reproduktion hinausgeht, und stoßen sehr schnell auf Schwierigkeiten, die unter diesem Gesichtspunkt unüberwindlich sind; sie lösen diese Probleme unter Umständen durch eine gewagte Improvisation. Die Lösungen sollen aus einer Vielzahl von Handlungen hervorgehen, die nicht autonom sind.“ (Ebd. S. 514) Die Frage der Autonomie wird im Folgenden noch zur Sprache kommen.
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die kommende Wissenschaft. Schon gegenwärtig sei diese Entwicklung zu vernehmen. Dies zeige sich immer dann, wenn eine Frage über die Grenzen hinaus verfolgt wird, die die gegebenen Mittel bislang implizieren. Vertraute Werkzeuge und Orientierungspunkte büßen an Wirksamkeit an; neue Wege müssen erprobt werden.46 Diese Praxis sei den Wissenschaften alles andere als neu, vielmehr gehöre sie ihnen von Grund auf an. Dass sich in jüngerer Zeit – die Dialoge erschienen 1977 – allerdings die Tendenzen zugunsten der ereignisbezogenen Wissenschaften verlagern, konkretisieren Deleuze/Parnet neben Beispielen aus der Teilchen- und Quantenphysik auch allgemeiner an der Art und Weise, in der tragende Begriffe ins Verhältnis zueinander gesetzt werden. Anstelle von hierarchisch aufgebauten Strukturen, die sich vorzugsweise einfach, also je zu Paaren, teilen und einem obersten Begriff oder Prinzip unterstehen, treten vielverzweigte Gefüge auf, die kein privilegiertes Oben, sondern wechselnde Zentren besitzen, in denen sich mitunter sehr unterschiedliche Bewegungen kreuzen. „Die Wissenschaft wird immer mehr wie Gras sein, mittendrin, zwischen den Dingen und unter den anderen Dingen, deren Flucht begleitend [. . .].“ (74)47 Das Verhältnis der ereignisbezogenen Forschung zum Axiom ist also ein gespaltenes. Klar ist, dass die Ablehnung eines oder gar jedes Axioms selbst reglementierenden Charakter besitzt. Entsprechend richtet sich die Frage der Axiomatik an die Möglichkeiten ihrer Anwendung und die Ansprüche ihrer Umsetzung. Insofern die ereignisbezogene Wissenschaft „Improvisation“ als probates Mittel schätzt, wird deutlich, dass ihr Verständnis der Regelanwendung weder von einem konstanten noch dominierenden, sondern von einem explizit relativen, das heißt weitreichend situationsspezifischen Verfahren ausgeht. Das Axiom geht dabei in dem auf, was geschieht, insofern seine Gestalt und Funktion stets entsprechend zu verändern ist. Den Anspruch auf Umsetzung teilt das Axiom folglich mit „Zufällen“, die aus Ereignissen resultieren, die nicht nur eintreten, sondern auch fortlaufend weiterwirken. In diesem Sinne war nicht
46 | Zur Methodik der nomadischen oder minderen Wissenschaft heißt es in den Tausend Plateaus an anderer Stelle: „Man geht weder durch spezifische Differenzen von einer Gattung zu ihren Arten über noch durch Deduktion von einem beständigen Wesen zu Eigenschaften, die daraus abgeleitet werden, sondern von einem Problem zu den Zufällen, die es bedingen und lösen.“ (Ebd. S. 496) 47 | Das Motiv des Grases geht auf Henry Miller zurück, der sowohl in den Dialogen (37) als auch in der Einleitung der Tausend Plateaus entsprechend zitiert wird, vgl. dort S. 33. Wenig später, S. 41f, gehen die dem Gras gutgeschriebenen Eigenheiten und Vermögen dann auf das und über: „Ein Rhizom hat weder Anfang noch Ende, es ist immer in der Mitte, zwischen den Dingen, ein Zwischenstück, Intermezzo. [. . .] Der Baum braucht das Verb ‚sein‘, doch das Rhizom findet seinen Zusammenhalt in der Konjunktion ‚und. . .und. . .und. . .‘.“
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zuletzt auch die „Regel für diese Gespräche“ verfasst, die Deleuze/Parnet am Ende des ersten Teilabschnittes aufstellten. Die dortige Hervorhebung von Wiederholungen impliziert, dass der Eintritt eines Ereignisses keiner Prognose gehorcht, sondern nebenbei bzw. dazwischen passiert. Die Regel stiftet einen Kontext, zu dem das Ereignis Ausnahmen beiträgt (vgl. im hiesigen Kontext S. 158). Die von Deleuze/Parnet herausgestellte, wissenschaftliche Beharrlichkeit, stets in weitere Gefilde noch unbestimmter Relationen vorzudringen, sich dorthin zu „delirieren“, geht jedoch nicht ohne Widerstände und Gegenkräfte einher: „Machtapparate“ rufen mit ähnlicher Ausdauer zur Ordnung zurück (73f). Jene Institutionen beziehen sich auf regelbasierte Forschungspraktiken, deren erstes Mittel der Ausschluss ist und deren Legitimität sich vorrangig aus dem Anspruch auf (Vorher-)Bestimmung ableitet. Die Improvisation ist aus dieser Perspektive mit mangelnder Präzision geschlagen und steht im Verdacht der Verantwortungslosigkeit; Zufälle zuzulassen, gilt als Zeichen für schwache Akteure, die offensichtlich nicht in der Lage waren, ordentliche Verfahren in die Wege zu leiten. Warum sollte die Macht Mittel an Stellen bewilligen, die sich per definitionem nicht kontrollieren lassen? Hier löst sich der anfangs genannte Zusammenhang mit einer „umfassenden Politik“ ein.48 Im Kontext dieser Politik stehen die beiden dargestellten Wissenschaftstypen unweigerlich in Konflikt miteinander. Auf der einen Seite gehören ihre Verfahren einem ständigen Verweisungszusammenhang an, da Regelsetzung und Regelabwandlung sich wechselseitig voraussetzen. Auf der anderen Seite verlaufen die Richtungen, in denen sich die typisierten Wissenschaftsformen jeweils weiterentwickeln, jedoch nicht nur konfrontativ einander entgegen. Sie mögen in denselben Feldern operieren, aber die Linien, die sie dabei verfolgen, tragen nicht einfach umgekehrte Vorzeichen. Während nämlich die regeldominierte Wissenschaft auf lineare, das heißt berechenbare Zusammenhänge aus ist, fährt die ereignisgeleitete Wissenschaft auch und gerade dann fort, wenn ihre Observablen Lücken im bestimmenden Zugriff ausnutzen oder allererst entstehen lassen.49 Die Konfrontation der wissenschaftlichen Forschungsweisen vollzieht sich
48 | Bereits 1990, neun Jahre vor der ersten Erklärung und 20 Jahre vor der geplanten Umsetzung der sogenannten Bologna-Reform der europäischen Hochschullandschaft, beschrieb Deleuze die nahenden Wandlungen als „Formen kontinuierlicher Kontrolle und die Einwirkung der permanenten Weiterbildung auf die Schule, dementsprechend die Preisgabe jeglicher Forschung an der Universität, die Einführung des ‚Unternehmens‘ auf allen Ebenen des Bildungsund Ausbildungswesens.“ (Gilles Deleuze: Postskriptum über die Kontrollgesellschaften, in: Ders.: Unterhandlungen, a.a.O., S. 261) 49 | Entsprechend muss die Aussage von Deleuze/Guattari, derzufolge „eine nomadische Wissenschaft die Inhalte der Königswissenschaft unaufhörlich in die Flucht treibt“ nicht im Sinne
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folglich entlang einer „beweglichen Grenze“, in einer Konfliktzone, die sich ständig verlagert und verschiebt. Die Rolle der ereignisorientierten Forschung erhält aus diesem Bezugs- und Konfliktfeld nochmals präzisere Konturen. Würde sie sich lediglich der Egalität spontaner und nicht-überprüfbarer Unregelmäßigkeiten überantworten, hätten es die herrschenden Regelwissenschaften nicht nötig, die Mühen der Exekutive auf sich zu nehmen. Ebenso verneint ein Ereignis einen bestehenden, geregelten Zusammenhang nicht einfach, sondern deckt eine ungeregelte Kombinationsmöglichkeit auf und nutzt sie für sich. Derartigen Ereignissen folgt jener Teil der Forschung, der bereit ist, die Gültigkeit der zuvor bestehenden Axiome entsprechend einzuschränken und abzuwandeln. Auffällig ist, dass Deleuze/Parnet den entsprechenden Wissenschaftstyp vorrangig mittels Verben charakterisieren, die passivische Anklänge, genauer genommen eine höhere Valenz aufweisen: Einer Sache in bestimmter Hinsicht zu folgen, heißt, sich in explizite Abhängigkeit zu ihrem Geschehen zu begeben.50 Die Anfälligkeit, von mächtigen Interessen instrumentalisiert oder reglementiert zu werden, zeugt bei genauerer Hinsicht also nicht von Schwäche oder Naivität, sondern von der Bereitschaft,
einer offiziellen Konfrontation gelesen werden, sondern als Hinweis auf eine verdeckte, aber fortlaufende Entführung von Details oder das Aufspüren von Unberechenbarkeiten. Anders müsste der Sinn der folgenden Sätze im Dunklen bleiben, die von der „Unterdrückung“ der nomadischen Wissenschaft sprechen. Vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 505, ebenso für das unmittelbare folgende Zitat. 50 | In Tausend Plateaus legen Deleuze/Guattari ausführlicher dar, was sich in der Wortwahl der Dialoge bereits abzeichnet: „Bei der Rivalität zwischen den beiden Modellen wird deutlich, dass die nomadischen oder ambulanten Wissenschaften nicht vorsehen, dass die Wissenschaft eine autonome Macht bekommt oder auch nur eine autonome Entwicklung hat. Sie haben nicht die Mittel dazu, weil sie all ihre Verfahren den sinnlich-anschaulichen Bedingungen der Intuition und der Konstruktion unterordnen – dem Strom der Materie folgen, den glatten Raum abstecken und zusammenfügen.“ (Ebd. S. 513) Die spezifische Topologie des sogenannten glatten Raumes wird kurz zuvor eingeführt. Sie unterhält ein enges Verhältnis zur Vielheit, die im Kontext der Tausend Plateaus zumeist mit Mannigfaltigkeit übersetzt wird: „Der glatte Raum ist ein Feld ohne Leitungen und Kanäle. Ein Feld, ein heterogener, glatter Raum, verbindet sich mit einem besonderen Typus von Mannigfaltigkeiten: mit nicht-metrischen, nicht-zentrierten, rhizomatischen Mannigfaltigkeiten, die den Raum besetzen, ohne ihn zu ‚zählen‘, und die man nur ‚erforschen kann, indem man auf ihnen entlanggeht‘. Sie entsprechen nicht der visuellen Voraussetzung, von einem Punkt des Raumes, der außerhalb von ihnen liegt, beobachtet werden zu können: so zum Beispiel das System von Tönen oder auch von Farben, im Gegensatz zum euklidischen Raum.“ (Ebd. S. 510)
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bisherige Errungenschaften zu riskieren und mit Ereignissen in Berührung zu kommen, von denen nicht klar ist, wie sie sich auswirken werden. „Es gibt da gleichsam Infinitiv-Verben, Prozesskurven, zwischen Bereichen verlaufende und von einem Bereich zu einem anderen springende Linien, Zwischen-Reiche.“ (74) Alle genannten Aspekte schließen eine explizite Zeitabhängigkeit, also Veränderung ein, sowie mehr oder weniger große Anteile, die sich durch eine je spezifische Unbestimmtheit auszeichnen. Jene Momente der Indetermination sind der ereignisorientierten Wissenschaft als unnötiger Mangel an Präzision leicht zum Vorwurf zu machen. Jedoch dient ihr diese Anlage nicht als Sinn und Zweck, sondern als Mittel. Die Priorität gilt vorläufig den Mitteln selbst, ihnen zu folgen und sich ihnen zu überlassen. „Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter in die Länge, gebrauche wohl auch eine Apposition, wo sie nicht nötig wäre“ heißt es in Heinrich von Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.51 Inmitten geregelt erscheinender Zusammenhänge stehen Konjunktionen, die nicht in dem aufgehen, was sie verbinden. Von der axiomatisch geleiteten Wissenschaft unterscheidet sich die ereignisorientierte Forschung letztlich gerade darin, dass sie die Äußerlichkeit und Transversalität der Konjunktion bejaht. (VI) Vom Humor Die Probleme, denen Deleuze/Parnet durch die verschiedenen philosophie-historischen Kontexte bis zur aktuellen Wissenschaft folgen, kreisen allesamt um verschiedene Formen des Dazwischen, der Begegnung, der Relation. Das Spektrum reicht von hierarchischen Gefällen bis zu Gefügen, die sich fortlaufend in Bewegung befinden. Unter den Mitteln, die gegen ein oberstes Prinzip, gegen traurige Affekte oder die Vereinnahmung von Ereignissen ins Feld geführt werden, gibt es Überschneidungen. Ein Berührungspunkt ist der Humor: „Englischer Humor (?) [sic], jüdischer Humor, stoischer Humor, Zen-Humor – welch kuriose gebrochene Linie.“ (74f) Diese Aneinanderreihung bündelt in sich Rückbezüge auf den Schotten Hume – daher das Fragezeichen nach dem englischen Humor –, den exkommunizierten Juden Spinoza, sowie die gemeinsame Untersuchung von Stoizismus und Zen-Buddhismus, die Deleuze in der Logik des Sinns vornahm.52
51 | In Sämtliche Werke und Briefe, München 1964, Bd. 5, S. 54. Deleuze/Guattari zitieren die Stelle in Tausend Plateaus, a.a.O., S. 520. 52 | Dass Deleuze nicht allein in der Logik des Sinns auf den Aspekt des Humors in den genannten Philosophien aufmerksam macht, belegen folgende Zitate: „Niemals hat Humes Humor einen solchen Höhepunkt erreicht: Glaubensgewissheiten, die um so mehr zu unserer Natur gehören, als sie unter dem Gesichtspunkt der Prinzipien der menschlichen Natur völlig unberechtigt
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Auf der Ebene der Heiterkeit steht der Humor jedoch nicht für sich allein. Auch hier stellen Deleuze/Parnet den Ausgangspunkt als Gefüge dar, als Relation zwischen Humor und Ironie. Stärker als bei allen vorherigen, leitenden Relationen ist diese geprägt von gegenseitiger Abgrenzung, von Bestrebungen des Gegeneinanders: „Der jüdische Humor gegen die griechische Ironie; der Hiob-Humor gegen die ÖdipusIronie; der Insel-Humor gegen die kontinentale Ironie; der stoizistische Humor gegen die platonische Ironie; der Zen-Humor gegen die buddhistische Ironie; [. . .].“ (75) Im Rahmen dieser widerstreitenden Konstellationen werden Humor und Ironie jeweils zum Anlass, diverse, bereits eingeführte Begriffe nochmals spezifisch zu beleuchten. Die Ironie stützt sich weniger auf die Bezeichnung ihrer Bezugspunkte als vielmehr darauf, welche Bedeutung den verhandelten Dingen beigemessen wird bzw. welcher Rang ihnen zugesprochen werden könnte und werden müsste. Um sich innerhalb der Fülle an Bedeutungsmöglichkeiten nicht zu verlieren, wird eine eigentliche, ursprüngliche Bedeutung vorausgesetzt. Diese ist jedoch nicht ohne Weiteres einzuholen und anzugeben. Das ironische Verfahren besteht entsprechend aus einer Abfolge von Anspielungen, die sich je aufeinander beziehen, allerdings stets unter der Maßgabe einer noch nicht erreichten, eigentlichen Bedeutsamkeit. Die geknüpften Relationen bauen weniger auf ihren vorherigen oder den kommenden Schritt als auf ein fernes höchstes Ziel, in dessen Schatten sie sich wähnen. Deleuze/Parnet unterscheiden diesbezüglich zwei historische Ausprägungen der Ironie. Die klassische Fassung geht davon aus, dass eine fortschreitende Verallgemeinerung am Ende bei etwas anlangt, das alles unter sich weiß und für dieses einstehen kann. Die zentrale Bezugsgröße stellt die „analytische Identität“ des Individuums dar, die letztlich auch dem Allerhöchsten seine Form gibt. Demgegenüber gründet sich die romantische Ironie
sind.“ (Gilles Deleuze: Hume, a.a.O., S. 241) „Wenn man etwas nicht bewundert, wenn man etwas nicht liebt, hat man keinen Grund, darüber zu schreiben. Spinoza oder Nietzsche sind Philosophen, deren kritische und zerstörerische Macht unvergleichlich ist, aber diese Macht entspringt immer einer Bejahung, einer Freude, einem Kult der Bejahung und der Freude, einem Anspruch des Lebens gegen diejenigen, die es verstümmeln und martern.“ (Gilles Deleuze: Gespräch mit Jeanette Colombel, in: Ders.: Die einsame Insel, a.a.O., S. 207) „Dieses Abenteuer des Humors, diese doppelte Entmachtung der Höhe und der Tiefe zugunsten der Oberfläche ist zunächst das Abenteuer des stoizistischen Weisen. Später jedoch und in anderem Zusammenhang ist es auch das des Zen – gegen die brahmanischen Tiefen und die buddhistischen Höhen.“ (Gilles Deleuze: Logik des Sinns, a.a.O., S. 172) Eine ausführlichere Betrachtung und Diskussion der Thematik des Humors im Deleuzeschen Œuvre gibt Ingo Zechner, der seine Untersuchung mit dem Thema beginnen lässt. Vgl. ders.: Deleuze – Der Gesang des Werdens, München 2003.
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auf die „endliche synthetische Einheit“ der Person, indem sie sich eingesteht, dass die Extrapolation der obersten Bedeutsamkeit nicht von subjektiven Ansichten zu trennen ist. „Gemeinsam ist all diesen Figuren der Ironie, dass sie die Singularitäten in die Grenzen des Individuums oder der Person einzwängen.“ 53 Auf dieser Grundlage leiten Deleuze/Parnet ab, dass das „Schicksal der Ironie im ganzen an die Repräsentation gebunden ist“ (75). Ohne für das noch nicht erreichte, eigentlich Wesentliche einzutreten, fiele die Ironie selbst unter das Urteil, das sie über alles fällt, was ihr weiter vom Wesentlichen entfernt scheint als sie selbst: Es komme seiner möglichen Bedeutung nicht ausreichend nach. Der Humor kehrt das Verfahren auf bestimmte Weise um: Die Bezeichnung wird gegenüber der Bedeutung vorrangig. Die Dinge möglichst wörtlich aufzufassen, spricht gemeinhin allerdings nicht für Humor, sondern dessen Gegenteil: Hier versteht jemand keinen Spaß. Wenn Deleuze/Parnet dennoch auf das Wortwörtliche setzen, dann nicht, um daraus einen Grundsatz zu machen. Es geht in einem genaueren Sinn nicht um die Bezeichnung allein, sondern auch um deren Auswirkung: „Prinzipien zählen wenig, es wird alles beim Wort genommen, man erwartet dich bei den Konsequenzen“ (75). Jener wortgetreue Humor ist offen für alles Mögliche; nicht weniger als „alles“ fällt in seinen potentiellen Einzugsbereich. Entsprechend bleibt er weder bei einer speziellen Bezeichnung stehen noch sucht er nach der besten, was erneut eine Frage der Bedeutsamkeit wäre. Seine Heiterkeit gründet sich vielmehr unmittelbar auf die Relation von Wort und Wirkung. In dieser Konstellation stellt die Sprache keinen mangelhaften Formalismus dar, der zu abstrakt, lückenhaft oder verspätet wäre. Sie ist weder ein unreiner Abkömmling aus den Gefilden der Wahrheit noch eine stramme Vertreterin derselben Adresse. Gegen beide Optionen empfehlen Deleuze/Parnet den Humor als Mittel zum Verrat.54 Der Aufrichtung der „falschen platonischen Dualität Wesen-Beispiel“, die in allem zwischen Urbild und Trugbild unterscheidet, stellen Deleuze/Parnet das horizontale Gefüge von Bezeichnung und Effekt entgegen: Der Humor agiert darin als „Beziehung mit Sägezähnen“, die sich vornehmlich an solchen Positionen zu schaffen macht, die sich eine erhöhte Stellung anmaßen.55 Bei Sabotage und Verrat wird der Humor jedoch nicht stehenbleiben.
53 | Gilles Deleuze: Logik des Sinns, a.a.O., S. 175f. Ebendort unterscheidet Deleuze nicht zwei, sondern drei Formen der Ironie gemäß ihren Ausprägungen bei Platon, Kant und in der Romantik. 54 | Der Verrat kam bereits im Kontext des Empirismus zur Sprache, vgl. S. 159. 55 | Die zitierten Ausdrücke stammen aus Gilles Deleuze: Logik des Sinns, a.a.O., S. 171. Eine gesonderte Betrachtung der platonischen Philosophie unternimmt Deleuze ebendort, S. 311– 324.
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Das Beziehungsgefüge, das er unterhält und das ihn ausmacht, lebt Deleuze/Parnet zufolge von Wechselseitigkeit. Die Sprache fungiere sowohl als Gegenspielerin wie auch als Einfallstor der genannten Wirkungen. Wenn Deleuze/Parnet erneut auf das Stottern zurückkommen (vgl. S. 168 im hiesigen Zusammenhang), hängt sich dieses auch hier nicht an einer individuellen oder personengebundenen Störung auf, sondern zeugt von den Potentialen der Sprache selbst, an Grenzen heranzuführen und mitunter gerade im Begriff zu sein, sie zu verschieben.56 Im besten Fall macht der Humor inmitten von äußeren Beschränkungen eine Kontaktstelle zu kommenden „Sprach-Ereignissen“ aus (76). (VII) Nochmals zum Gefüge Dass Deleuze/Parnet abschließend auf den Begriff des Gefüges zurückkommen, gibt Gelegenheit dazu, die Belange einer konjunktionalen Relationslogik im terminologischen Zusammenhang des Gefüges zu präzisieren. In den anfänglichen Ausführungen fiel die Aufmerksamkeit bereits einmal auf die unterschiedlichen Beiträge von Präpositionen. An ihnen war es, die Differenzierung zwischen Schriftsteller und Autor zum Ausdruck zu bringen. Der Schriftsteller verstehe es demnach, den Prozessen in einem Gefüge näher zu kommen. Während der Autor für oder an Stelle von etwas schreibe, arbeite der Schriftsteller mit dem, was ihn zu schreiben antreibt (vgl. im hiesigen Kontext S. 156). In den darauf folgenden Teilabschnitten galt das Augenmerk dann – mehr oder weniger explizit – der Konjunktion und. Ihre verbindende wie differenzierende Funktion schreibt sich in die Relationen von Roman und Philosophie im Empirismus, von Seele und Körper im Spinozismus und schließlich von Körper und Ereignis im Stoizismus ein. In den Abschnitten zur aktuellen Wissenschaft und zum Humor trat die Konjunktion dann hinter verschiedene Verknüpfungsverfahren zurück, die konfrontativ gegeneinander Stellung bezogen: die axiomatische gegen
56 | Diese Wirksamkeit von Sprachfindung und Humor hat Deleuze eng mit seinem eigenen Tun verknüpft: „Es stimmt, dass die Philosophie sich nicht von einem Zorn gegen ihr Zeitalter trennen lässt, aber auch nicht von der Heiterkeit, die sie uns verleiht. [. . .] Die Philosophie hat eine Funktion, die vollkommen aktuell bleibt: Begriffe schaffen, Begriffsschöpfung. Niemand kann dies an ihrer Stelle tun. Sicher hat die Philosophie immer ihre Rivalen gehabt, angefangen bei den ‚Rivalen‘ Platons bis zum Narren Zarathustras. Heute sind es Informatik, Kommunikation, Marketing, die sich die Wörter ‚Konzept‘ und ‚kreativ‘ aneignen, und diese ‚Kreativen‘ bilden eine unverschämte Sippschaft, für die der Akt des Verkaufens der höchste kapitalistische Gedanke ist, das Cogito der Ware. Die Philosophie fühlt sich klein und allein angesichts solcher Mächte, aber wenn sie sterben sollte, so immerhin, weil sie sich totlachen muss.“ (Gilles Deleuze: Unterhandlungen, a.a.O., S. 7 u. 198)
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die ereignisbezogene Wissenschaft und der Humor gegen die Ironie. Die zuvor im Laufe der philosophie-historischen Exkurse verfeinerten, relationslogischen Implikationen kamen in der Diskussion dieser spezifischen Spannungsfelder unmittelbar zur Anwendung. Dem letzten Punkt obliegt es nun, auf diese Implikationen selbst zu fokussieren. „Qu’est-ce qu’un agencement? C’est une multiplicité qui comporte beaucoup de termes hétérogènes, et qui établit des liaisons, des relations entre eux, à travers des âges, des sexes, des règnes – des natures différentes. Aussi la seule unité de l’agencement est de co-fonctionnement: c’est une symbiose, une ‚sympathie‘. Ce qui est important, ce ne sont jamais les filiations, mais les alliances et les alliages; ce ne sont pas les hérédités, les descendances, mais les contagions, les épidémies, le vent.“ (*84) „Was ist ein Gefüge? Eine Vielheit, die, zahlreiche heterogene Glieder umschließend, zwischen diesen Gliedern Verbindungen, Beziehungen unterschiedlicher Natur stiftet – über Zeitalter, Geschlechter und Reiche hinweg. So bildet die einzige Einheit des Gefüges denn auch nur die des gemeinsamen Funktionszusammenhangs: es ist Symbiose, ‚Sympathie‘. Wichtig sind niemals die Abstammungen, wichtig sind die Bündnisse und Mischungen; wichtig sind nicht die Nachkommen, wichtig sind die Ansteckungen, die Epidemien, der Wind.“ (76) Auf die ontologische Frage nach dem Gefüge antworten Deleuze/Parnet erneut zuerst mit seiner pluralen Verfasstheit. War es zu Beginn Kollektivität, stellen die zwischenzeitlichen Ausführungen den Begriff der Vielheit zur Verfügung, der nunmehr das erste Merkmal darstellt.57 Diese Ausgangslage zeichnet sich mehr durch die Verschiedenheit der Elemente sowie ihrer Relationen aus, als durch deren Anzahl. Ein zahlenbasierter Plural setzt auf Linearität: Stets folgt eines auf das andere. Die Pluralität des Gefüges vermag es darüber hinaus, diskontinuierliche Verknüpfungen zu integrieren. Zeiten und Räume können sich demnach nicht nur nacheinander, sondern auch neben- oder durcheinander erstrecken. Weder die Linearität, noch deren Einteilungen vermögen es, dem Verknüpfungspotential des Gefüges Grenzen zu setzen. In dieser Erweiterung des Plurals macht sich nicht zuletzt der Zusatz geltend, dass neben den Bestandteilen eines Gefüges auch die Relationen der Bestandteile von- und zueinander differieren. Deleuze/Parnet spezifizieren die positive Abgrenzung des Gefüges
57 | Vgl. zum Begriff der Vielheit im hiesigen Zusammenhang vor allem S. 166.
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von einer zahlenförmigen Menge noch weiter. Demnach ist die Größe der Einheit aus der Terminologie des Gefüges nicht ausgeschlossen – zumal sie in der Einheit des Nichteinheitlichen ihre sofortige Wiederkehr feiern würde. Allerdings hat ihr Einsatz keine totale, alles in sich einschließende Funktion. Die Einheit des Gefüges ist stattdessen lokaler Natur; sie ist situationsspezifisch. Dabei gilt sie nicht einer speziellen Eigenschaft, die verschiedenen Dingen gleichzeitig zukommt, sondern dem Prozess, in dem sich unterschiedliche Dinge zusammenfinden, ohne dabei eins zu werden. Der Begriff der Einheit steht bei Deleuze/Parnet also dafür, dass verschiedene Elemente in einem Gefüge zusammenkommen; wie sie allerdings zusammenkommen, vermag die Einheit nicht mehr adäquat zu fassen.58 Entsprechend fahren Deleuze/Parnet im herausgestellten Zitat mit einer Unterscheidung von Relationsfiguren fort. Von der Abstammung bis zum Wind zeugen diese allesamt von Empfänglichkeit – sei sie biologisch, politisch oder meteorologisch. Die Differenz, die Deleuze/Parnet als markanten Unterschied in der Relevanz formulieren, trennt dabei zwischen Relationen, die dem herkömmlichen Lauf der Dinge folgen, und solchen, die davon abweichen. Auf der einen Seite stehen kausale Reihenfolgen, wie sie in der biologischen Fortpflanzung und Arterhaltung vorliegen. In notwendig linearer Ordnung geht eines aus dem anderen hervor. Auf der anderen Seite finden sich mit „Bündnissen“, „Ansteckungen“ und dem „Wind“ Abläufe, die zwar kausaler Natur sein können, aber der Kausalität nicht gehorchen müssen. Sie entspringen aus Strategien oder Launen. Dass Deleuze/Parnet dabei nicht nur von Aktivitäten sprechen, sondern mit Ansteckungen und Epidemien auch die Komponente des Erleidens miteinbeziehen, verdeutlicht zuletzt nochmals die wechselseitige Natur des Gefüges: Das Gefüge hat sein Zentrum weder in einem Subjekt noch in einer Gruppe, sondern in einem Geschehen. Die Relativierung des Begriffs der Einheit, die Deleuze/Parnet vornehmen, korrespondiert mit einer Relativierung des Kausalitätsprinzips. Wie die Einheit wird die Kausalität dabei nicht in Abrede gestellt, sondern abgewandelt und vielschichtiger verwandt. Von einem hypothetischen, darin aber allgemeine Gültigkeit beanspruchen-
58 | In Tausend Plateaus führen Deleuze/Guattari die Frage der Einheit im Bezug auf ein spezifisches Gefüge, das Rhizom, weiter aus: „Es [das Rhizom] ist nicht das Eine, das zu zwei wird, oder etwa direkt zu drei, vier oder fünf, etc. Es ist kein Mannigfaltiges, das sich aus der Eins herleitet und dem man die Eins hinzuaddieren kann (n + 1). Es besteht nicht aus Einheiten, sondern aus Dimensionen, oder vielmehr aus beweglichen Richtungen. Es hat weder Anfang noch Ende, aber immer eine Mitte, von der aus es wächst und sich ausbreitet. Es bildet lineare Mannigfaltigkeiten mit n Dimensionen, die weder Subjekt noch Objekt haben, [. . .] und von denen das Eine immer abgezogen wird (n − 1).“ (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 36)
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den Prinzip wird sie zu einem festen Bestandteil mit speziellen Funktionen: Ihre verbindende Kraft steht nicht mehr im Dienst einseitiger Ableitungszusammenhänge, sondern wird zum Träger wechselseitig und variabel verfasster Beziehungen. Diese Transformation ist in unterschiedlichen Formen bereits integraler Bestandteil der philosophie-geschichtlichen Abschnitte des Textes von Deleuze/Parnet: Im Empirismus Humes gehen die Ursachen der Relationen nicht auf die Relata zurück, sondern verweisen auf gesonderte Assoziationsprinzipien und Affekte. Davon ausgehend öffnet sich ein eigener Wirkungsraum, insofern die Eigenständigkeit der Relationen von Richtungen durchzogen wird, die nicht ausschließlich zwischen den Relata hin- und herverweisen, sondern mitunter gänzlich quer dazu stehen. Das Wirkungspotential erweitert sich darüber beträchtlich. Kausalität fungiert nicht mehr nur einsinnig – von der Ursache zur Wirkung – oder reziprok, sondern gleichzeitig auch transversal, so dass sich unzählige weitere Ein- und Auswirkungen in die Relation mit einmischen. Bei Spinoza wird die Konjunktion von Körper und Seele zum Ausgangspunkt, kausale Vereindeutigungen dieses Verhältnisses zu unterwandern. Beide Relata gehören jenseits ihrer Verbindung unzähligen kleineren wie größeren Verhältnissen an. Über diese vielschichtige wie bodenlose Verfasstheit der Glieder relativiert Spinoza auch ihre Verknüpfung. Zum einen wird die Höherstellung der Seele – als Ursache selbst oder dieser näher stehend – fragwürdig; zum anderen gibt der nicht mehr stets hinten anstehende Körper eine Fülle von Möglichkeiten preis, allesamt „Vermögen, affiziert zu werden“. Der Körper wird zu einem Wirkungsraum, der nicht nur von seelischen Ursachen abhängt, sondern auch seinerseits Wirkungen generiert und aussendet. Die Verknüpfung von Ursache und Wirkung geschieht wechselseitig und in wechselnden Rollen. Der Stoizismus weitet den Körperbegriff seinerseits soweit aus, dass ihm keine Ursache mehr äußerlich bleibt. In der Konjunktion von Körpern und Ereignissen manifestiert sich entsprechend eine Zäsur zwischen Ursachen und Wirkungen: Beide bleiben bevorzugt unter sich, sind in sich vielfältig und dort ganz unterschiedlich verwoben. Diese Trennung hat abermals zur Konsequenz, dass sich Wirkungen nicht einseitig aus Ursachen ableiten. Kommt es zwischen ihnen zum Kontakt, geht keine der beiden Seiten in der je anderen auf. Ihre Heterogenität bleibt erhalten, mit dem Effekt, dass sich auf beiden Seiten mit der Begegnung etwas ändert: Die Körper ereilt ein Ereignis, ohne dass sich das Ereignis in dem erschöpft, was die Körper verzeichnen. Dergestalt verzichtet der Stoizismus auf die Anmaßung, der Kausalität als hypothetischem, aber allgemeinem Prinzip prognostisch beikommen zu wollen. Dafür wächst mit dem Zugeständnis an die Möglichkeiten der Ereignisse auch die Komplexität der Körper. Diese Facetten relationslogisch erweiterter Kausalität machen Deleuze/Parnet schließlich auch im Bezug auf den Begriff des Gefüges selbst geltend. Die Ände-
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rungen innerhalb eines Gefüges gehen demzufolge nicht auf einzelne Ursachen zurück, die sich – und sei es im Nachhinein – isoliert angeben ließen.59 Wandlungen ereignen sich aus Beziehungen heraus, aus Verlagerungen, die stets mehr als nur eine Größe betreffen. Ein Gefüge stellt eher eine Prozess- denn eine Zustandsgröße dar. Entsprechend betonen Deleuze/Parnet die Differenz zu gegenständlichen bzw. abbildhaften Auffassungen des Begriffs: „Ein Gefüge ist niemals technologisch; ganz im Gegenteil.“ (77)60 Im Zusammenhang mit dem Stichwort der Technik wenden sich Deleuze/Parnet gegen positivistische und repräsentationsspezifische Verkürzungen. Ihre Absage an das Prädikat des Technologischen ist weder verfahrensspezifisch noch gegenstandsbezogen. Sie wendet sich weder gegen die Technik noch gegen bestimmte ihrer Abläufe, sondern vielmehr gegen Aussagen, die die Technik zu einem unhintergehbaren Vorzeichen für jegliche Form von Gefüge erklären. Das Konzept, das Deleuze/Parnet dagegen vorschlagen, ist nicht auf eine Abgrenzung, sondern auf die möglichste Ausweitung von Beziehungen angelegt. Dazu lassen sich nicht minder präzise Angaben machen: „Comment refuser à l’agencement le nom qui lui revient, ‚désir‘? [. . .] Ici comme ailleurs, c’est l’ensemble des affects qui se transforment et circulent dans un agencement de symbiose défini par le co-fonctionnement de ses parties hétérogènes.“ (*85)
59 | An späterer Stelle konkretisieren Deleuze/Parnet diesen Aspekt in Hinblick auf die Rolle des Menschen: „Wir Menschen befinden uns stets mitten in einer Unternehmung, wo sich nichts als ursprünglich bestimmen lässt. Immer nur Dinge, die sich kreuzen, niemals Dinge, die sich reduzieren. Eine Kartographie, niemals eine Symbolik.“ (120) 60 | Das Gefüge des Rhizoms mag in gewisser Weise zur Assoziation mit dem Internet herausfordern. Dennoch findet sich im gleichnamigen Text eine explizite Abgrenzung vermerkt. Dem Rhizom werden sog. Baumsysteme entgegengestellt und letztere werden explizit mit der Informatik in Verbindung gebracht: „Baumsysteme sind hierarchisch und haben Zentren der Signifikanz und Subjektivierung, zentrale Automaten, die als organisiertes Gedächtnis funktionieren. Daher erhält in den entsprechenden Modellen jedes Element seine Information immer aus einer höheren Einheit, und subjektive Regungen gehen nur von bereits bestehenden Verbindungen aus. Das wird an den aktuellen Problemen der Informatik und der elektronischen Geräte recht deutlich, die so sehr an den ältesten Denkformen festhalten, dass die Macht an ein Zentralorgan oder Gedächtnis delegiert wird.“ (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 29) Zur Diskussion dieser Thematik vgl. Martin Stingelin: Das Netzwerk von Gilles Deleuze oder Der nichtlineare Begriff des Begriffs, in: Kunstforum International 155, Juni/Juli 2001, S. 164–169.
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„Wie könnte dem Gefüge jener Name verweigert werden, der ihm von Grund auf zukommt: ‚Begehren‘? [...] Hier wie anderswo ist es das Ensemble der Affekte, die in einem durch das Ko-Funktionieren ihrer ungleichartigen Elemente definierten Symbiose-Gefüge kreisen und sich transformieren.“ (77) Mit dem Begriff des Begehrens knüpfen Deleuze/Parnet an ein großes Thema des Anti-Ödipus an, den Deleuze als erste gemeinsame Arbeit mit Guattari 1972, fünf Jahre vor den Dialogen, veröffentlichte. Deleuze/Guattari argumentieren dort mit kantischer Hartnäckigkeit dafür, den Wunsch, ergo das Begehren von Grund auf als produktiv zu verstehen. In dieser Form verkörpere es die zentrale Kraft des Unbewussten und stelle also keine bloße Angelegenheit der Phantasie dar. Diejenige Kategorie, die sich zu seiner Verortung am wenigsten eigne, sei der Mangel. Begehren decke sich also nicht mit einem Haben-Wollen, das aus einer Armut heraus geschieht, sondern sei untrennbar mit den schöpferischen Impulsen und Syntheseleistungen des Unbewussten verbunden.61 Wenn Deleuze/Parnet das Begehren schließlich für geeignet halten, das Gefüge auszuzeichnen, geschieht dies vor dem Hintergrund seiner Produktivität. Die hiesige Bezugsgröße stellt dafür nicht das Unbewusste, sondern – allgemeiner gefasst – eine bestimmte Konstellation von Beziehungen dar, „das
61 | Eine von unzähligen, möglichen Belegstellen, die das Verständnis des Begehrens als Mangel angreifen und zudem einen exemplarischen Eindruck der vielseitigen Bezüge geben, die Deleuze/Guattari in ihre ausführliche Argumentation einbinden, lautet: „In einer solchen Praktik des Leeren als Ökonomie des Marktes besteht der Kunstgriff der herrschenden Klasse: sie organisiert den Mangel im Produktionsüberfluss, lenkt den Wunsch in die große Furcht vor Mangel, setzt den Gegenstand in Abhängigkeit von einer realen Produktion, dabei unterstellend, dass diese dem Wunsch äußerlich sei (die Forderungen der Rationalität), während zugleich die Produktion des Wunsches in der Phantasie ablaufen soll (nichts als Phantasie).“ (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Anti-Ödipus, Kapitalismus und Schizophrenie, übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt a.M. 1974 [Paris 1972], S. 38) In den Dialogen findet sich an späterer Stelle ein Rückbezug auf den Begriff des Begehrens, der diese Linie des Anti-Ödipus aufnimmt: „Wir sagten: Das Begehren ist keineswegs ans ‚Gesetz‘ gebunden und definiert sich nicht durch einen wie auch immer beschaffenen essentiellen Mangel. Das alles ist doch nichts anderes als eine Priester-Vorstellung: das im Innersten des Begehrens sich konstituierende Gesetz, das als Mangel konstituierte Begehren, die heilige Kastration, das gespaltene Subjekt, der Todestrieb, die absonderliche Kultur des Todes. Und ohne Zweifel wird es stets auf derartige Abstrusitäten hinauslaufen, wann immer man sich das Begehren als Brücke zwischen einem Subjekt und einem Objekt vorstellt. In dieser Konstellation kann das Subjekt des Begehrens gar nicht anders als gespalten und das Objekt im Voraus verloren sein.“ (97)
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Ensemble der Affekte“. Das Stichwort des Affekts lässt an Spinoza zurückdenken, der den Begriff eng mit dem Vermögen verband, aus der unermesslichen Reichweite bestehender Beziehungen zu schöpfen. Diese Beziehungen fungieren zugleich als Rahmenbedingung und Geschehen. Im Bezug auf konkrete Verknüpfungen – das Ensemble tritt mit bestimmtem Artikel auf – haben Beziehungen definitorischen Charakter, demzufolge die versammelten heterogenen Glieder und Relationen umeinander „kreisen“; bezüglich der Eigenbewegung der Verknüpfung selbst bleibt der Anschluss zu weiteren Relationen allerdings offen, über die sich die Bestandteile des Gefüges „transformieren“. Die funktionale Einbindung von Einheit und Kausalität kommt nicht allein mit dem Begehren zum Ausdruck. Deleuze/Parnet fahren in der Definition des Gefüges fort und setzen in gewisser Weise nochmals neu an. Demnach verlaufen zwei „Achsen“ durch ein Gefüge bzw. spannen es auf.62 Die erste Achse verläuft zwischen „Sachverhalten“ (états de choses) und „Aussagen“ (énoncés) (77).63 In der näheren Klärung dessen, was unter Sachverhalten zu verstehen ist, greifen Deleuze/Parnet sowohl auf den stoizistischen Begriff des Körpers als auch den spinozistischen Terminus des Affektes zurück. Die Sachverhalte versammeln demnach ein großes Gemisch von Körpern in sich, die aus wechselnden, affektbesetzten Verhältnissen heraus fortlaufend ihre Möglichkeiten ausloten. Dem stehen die Aussagen gegenüber, die – der stoizistischen Theorie der Sprache folgend – Signaturen des Ereignisses tragen: „Die Zeichen organisieren sich neu, neue Formulierungen tauchen auf, ein neuer Stil für
62 | Die folgenden Ausführungen korrespondieren eng mit einer Passage aus den Tausend Plateaus, die – einmal ist das Verhältnis umgekehrt – das Theorem der Achsen als „Tetravalenz des Gefüges“ in komprimierterer Form darstellen. Dafür wird es in einen ausführlichen Diskurs integriert, der der Linguistik gilt. Vgl. Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 121ff, zu den Achsen des Gefüges speziell S. 124. 63 | Diese Unterscheidung führen Deleuze/Guattari auf Hjelmslev zurück. Sie impliziert – neben einer Absage an jeden rigorosen Materialismus – eine Abwendung vom Saussureschen Modell des Signifikanten und des Signifikats, von Zeichenform und Zeicheninhalt, insofern es nun „ebenso eine Form des Inhalts, wie eine Form des Ausdrucks“ gebe. An die Stelle der dichotomischen Aufspaltung des Zeichens trete ein „Raster“ oder „Diagramm“. Zu diesem Wechsel schreibt Inna Semetsky: „According to the logic of multiplicities, a diagram serves as a mediatory in-between symbol, ‚a third‘ [. . .] that disturbs the fatal binarity of the signifier/signified distinction. It forms part of the cartographic approach, which is Deleuze and Guattari’s semiotics par excellence, that replaces logical copulas with the radical conjunction ‚and‘.“ ( Dies.: Semiotics, in Adrian Parr (Hg.): The Deleuze Dictionary, Edinburgh 2005, S. 243f, sowie Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 64)
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neue Gesten tritt hervor“ (77). Auf der gemeinsamen Achse sind die Aussagen nicht über die Sachverhalte erhaben, genauso wenig, wie sie diese lediglich beschreiben; sie liefern weder Prä- noch Deskriptionen.64 Beide, Sachverhalte wie Aussagen, wirken je auf ihre Weise in ein Gefüge ein. Sie nehmen aufeinander Bezug, kommen darin aber nicht zur Deckung. Vielmehr treiben sie eine wechselseitige Verschiebung an, ein Hin und Her, bei dem sich die Ausgangslage mit jedem Schritt verändert: un devenir à l’infinitif – „ein unendliches Werden“ (78). Gemeinhin werden – etwa vor der Folie Idealismus versus Materialismus – die Sachverhalte auf Objekte, die Aussagen auf Subjekte bezogen. Deleuze/Parnet erneuern diesbezüglich ihren Widerspruch. Wenn sie stattdessen die Aussagen auf „Kollektivträger“ zurückführen, wird mit den zwischenzeitlichen Ausführungen deutlich, warum es sich dabei nicht einfach um eine personelle Mehrzahl handelt (78). Denn in gleichem Maße sind dabei die internen Relationen jener Kollektivträger angesprochen, deren Dynamik die Rahmenbedingung des Subjektiven als Reduktion sichtbar macht. Während sich das Subjekt als signifikante Grenze, das heißt als konstanter Bezugspunkt von Relationen behauptet, impliziert der Ausdruck der Kollektivträger eine höhere Durchlässigkeit: Beziehungen werden nicht nur eingegangen und gelöst, sondern vermitteln ihrerseits nicht weniger Eingang und Ablöse. Relationen sind folglich nie nur eine Frage von Aktion und Passion, sondern betreffen immer auch deren Voraussetzungen und Konsequenzen. In diesem Sinne verweist der französische Ausdruck für Kollektivträger, agents collectifs, explizit auf das Gefüge, agencement. Bezüglich der Sachverhalte verhält es sich ganz ähnlich. Unter deren Vorzeichen treten Deleuze/Parnet der Auffassung entgegen, es handle sich dabei um die objektive Seite eines Gefüges, indem sie stattdessen von états machiniques, von „maschinellen Zuständen“ sprechen (78). Der zugehörige Maschinenbegriff liegt nicht auf der Ebene technischer Erfindungen,
64 | Deleuze/Parnet nehmen in diesem Zusammenhang eine harte Abgrenzung gegen den Ideologie-Begriff vor: „Die Aussagen sind nichts Ideologisches, es gibt keine Ideologie; [. . .].“ (77) Ganz ähnlich heißt es in der Einleitung der Tausend Plateaus: „Die Literatur ist ein Gefüge, sie hat nichts mit Ideologie zu tun, es gibt keine Ideologie und es hat nie eine gegeben.“ (Ebd. S. 13) Nachdem diese Stellen in beiden Fällen ohne weitere Erläuterungen auskommen, sei hier auf einen späteren Passus aus den Dialogen verwiesen, der noch einmal auf das Thema der Ideologie zurückkommt: „Kein Staat, der nicht auf eine Imago des Denkens angewiesen wäre, die ihm als Axiomatik oder abstrakte Maschine dient und die er im Gegenzug mit der Kraft effektiven Funktionierens ausstattet. Weil er die explikative Durchdringung dieses Verhältnisses schuldig bleibt, ist der Ideologie-Begriff unzulänglich. So war es die fatale Rolle der klassischen Philosophie, in der von uns thematisierten Gestalt, den Machtapparaten, Kirche und/oder Staat, das ihnen genehme und entsprechende Wissen zur Verfügung zu stellen.“ (95)
4. Das und als Funktion der Irritation und Wandlung (Deleuze/Parnet) | 195
sondern geht auf die relationalen Bedingungen zurück, die jene Erfindungen möglich machen.65 Die Referenz auf das Maschinelle bescheinigt den Sachverhalten einerseits einen konstruktivistischen Charakter; andererseits weist sie auf eine dynamische Komponente hin, die sich durch die inneren und äußeren Zusammenhänge der Sachverhalte zieht. Konstruktion und Dynamik ergeben gemeinsam eine Relativität, die der Maschine – anders als dem Objektbegriff – quasi naturgemäß angehört. Vor diesem Hintergrund sind die Sachverhalte für Deleuze/Parnet präziser als Maschinen denn als Objekte benannt. Sie betreffen keine feste Anzahl stabiler Größen, sondern Ausschnitte, deren Grenzen variabel, das heißt Teil von eingeschlossenen wie umliegenden Relationen sind. Ein „maschineller Zustand“ stellt in der Folge keinen festen status quo dar; vielmehr kann er sich mit jedem Moment ändern.66 Mit den Formen von Aussage und Sachverhalt geht ein Gefüge also stets auf Relationen zurück. Es hat mit Zwischenstadien und Übergangssequenzen, mit mehrgliedrigen, sich wandelnden Zusammenhängen zu tun. Immer taucht noch etwas auf. Es war bereits da oder fügt sich hinzu – zum Segen wie zum Fluch. Es gibt nach Deleuze/Parnet noch eine zweite Achse, die jedes Gefüge auszeichnet. Diese trägt nochmals gesondert dem Aspekt Rechnung, dass ein Gefüge nicht nur ein Geschehen umfasst, sondern samt seiner Rahmenbedingungen wiederum weiteren Relationen angehört und von deren Wandlungen betroffen ist. Die Prozesse eines Gefüges hängen neben der Formierung seiner Sachverhalte und Aussagen also nicht weniger mit seinem Umraum zusammen. Die Figuren, die Deleuze/Parnet
65 | Im Vorfeld dieser terminologischen Klarstellung heißt es zum Maschinenbegriff bereits: „Die Werkzeuge setzen stets eine Maschine voraus – und diese ist allemal primär eine Gesellschaftsmaschine und erst sekundär eine technische.“ (77) Diesen Ansatz rechtfertigen Deleuze/ Parnet in den Dialogen weniger soziologisch als vielmehr relationslogisch: „Interessant an derartigen Begriffen wie ‚Begehren‘, ‚Maschine‘ oder ‚Gefüge‘ erscheint, dass sie nur aufgrund ihrer Variablen, des Höchstmaßes an Variablen, das sie gestatten, von Wert und Geltung sind.“ (155) 66 | Die Begrifflichkeit des „maschinellen Zustandes“ leitet sich aus dem Buch ab, das Deleuze gemeinsam mit Guattari dem Werk Kafkas widmete. Der dortige Kontext beleuchtet den Ausdruck auch aus politischer Perspektive, als er „den Maschinisten ebenso wie den Rohstoff braucht, in stillschweigendem Einverständnis beider, in einem Zusammenhang, der eher Konnexion als Hierarchie ist.“ (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Kafka, a.a.O., S. 78) Deleuze/ Parnet beziehen sich im selben Zusammenhang unter allgemeineren Vorzeichen auf Kafka, als er die relationale Vielfalt von Aussagen und Sachverhalten nicht an den Grenzen ausgewählter Subjekte und Objekte bemisst, sondern umgekehrt beide in wuchernde Maschinerien eingehen lässt, um deren Konsequenzen zu erforschen.
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zur weiteren Charakterisierung des Gefüges aufrufen, sind mit entsprechend räumlichen Konnotationen ausgestattet: „Kein Gefüge ohne Territorium, ohne Territorialität und ohne alle möglichen Künstlichkeiten umfassende Reterritorialisierung. Doch auch kein Gefüge ohne Deterritorialisierungsspitze, ohne Fluchtlinie, die es neuen Schöpfungen zuführt oder, mag sein, dem Zufall, dem Tod.“ (78) Das Territorium bezeichnet den Ort, an dem die Wandlungen des Gefüges stattfinden. Die unmittelbar davon ausgehenden Prozessgrößen von Re- und Deterritorialisierung machen jedoch deutlich, dass die zugrundeliegende Räumlichkeit keine unbeteiligte Dimension darstellt. Sie ist nicht von den Bewegungen und Tendenzen zu trennen, die in, genauer: mit ihr stattfinden. Terra, die Erde, wird beschritten wie umgegraben, überflogen wie durchlöchert und umgeschichtet.67 Die zugehörigen Formen des Übergangs und der Transformation unterscheiden Deleuze/Parnet nach der Richtung, in der die Grenze eines Territoriums überschritten wird. In ein Territorium einzudringen, geht mit der Bestimmung desselben einher. Es wird als ein ausgewählter Bestand von Dingen, eine bestimmte Anordnung von Zeichen, ein auch im zeitlichen Sinne abgegrenzter Bereich aufgefasst. Der Modus dieser Bewegung, der sogenannten Reterritorialisierung, ist Konkretion. Genau in umgekehrte Richtung verläuft die Deterritorialisierung. Sie lässt mit dem Überschreiten einer territorialen Grenze sämtliche definierenden Verfügungen hinter sich. Das Vorgehen ist dabei jedoch nicht weniger bestimmt und zwar nicht nur durch Ausschluss: Im Loslassen und Ablegen von bereits bestehenden Bestimmungen folgt die Bewegung offenen, noch losen Enden; Dingen, die sich gerade in einem Prozess befinden; Zeichen, die sich neu formieren. Die Ergebnisoffenheit gilt auch für die Zeit. Jeder Augenblick schwankt zwischen Vergangenheit und Zukunft, ist durchlässig und breitet sich über beide aus. Entsprechend geht die Deterritorialisierung weder in dem auf, was ein bestimmter Moment ihr zugetragen hat, noch in dem, was kommen wird. Ihren Modus macht das Werden aus.
67 | Die enge Verknüpfung von Territorium und Variabilität betonen auch die Tausend Plateaus. Von besonderer Konsequenz zeugt ein Passus, der bereits das Reden über die Belange eines Territoriums als verändernden Effekt in Erwägung zieht: „Das Gefüge ist in erster Linie territorial. Aber warum sollte es nicht schon dabei sein, in etwas anderes überzugehen, in ein anderes Gefüge? Deshalb können wir nicht von der Bildung eines Territoriums sprechen, ohne auch schon von seiner inneren Organisation zu sprechen. [. . .] Wir können auch nichts über das Binnengefüge sagen, ohne schon auf einem Weg zu sein, der uns zu anderen Gefügen oder ganz woanders hinführt.“ (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 440)
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„Les deux mouvements [dé- comme re-territorialisation] coexistent dans un agencement, et pourtant ne se valent pas, ne se compensent pas, ne sont pas symétriques.“ (*87) „Beide Bewegungen [De- wie Reterritorialisierung] bestehen gemeinsam innerhalb eines Gefüges und sind doch nicht gleichwertig, gleichen sich nicht gegenseitig aus, sind nicht symmetrisch.“ (79) Die dynamischen Größen unterscheiden sich also nicht einfach durch ihr Vorzeichen, weder in der Richtung noch im Betrag ihrer Geschwindigkeiten. Die Ausgangslage, auf die sich beide beziehen, wird mit jeder Bezugnahme eine andere. Die greifende Relationslogik ist von einer Prozess- bzw. Transformationslogik nicht zu trennen. Genau diesen Konnex bringen Deleuze/Parnet gegen einen etwaigen DualismusVerdacht in Stellung: Der Lauf, den die Entwicklung einer Beziehung nimmt, ergibt sich nicht einfach aus der Summierung der in sie eintretenden Größen. Im Eigenraum der Relation liegen vielfältige, unterschiedliche Tendenzen der Annäherung und Abstoßung vor, die sich ihrer Beiträge nicht enthalten. Wenn die Bezugspunkte einer Beziehung ‚ihr‘ Zwischen bestimmen, ist das Zwischen bereits dabei, ein anderes zu werden, was wiederum auf die Bezugspunkte zurückwirkt.68 Immer wieder kommen Deleuze/Parnet darauf zurück, dass sich ein Gefüge stets aus anderen Gefügen zusammensetzt, sei es im Hinblick auf seine Entstehung oder seine Auflösung. Ihm auf den Grund gehen zu wollen, wird neue Gefüge hervorgehen lassen. Auch unabhängig davon befindet sich ein Gefüge in Wandlung. Sämtliche Dinge, allesamt Bewährstellen von Möglichkeiten, sind Elemente von Verhältnissen, die
68 | Dem Einwand, die Grundlage des Dualismus sei damit nicht verlassen, sondern lediglich feiner untergliedert – etwa nach dem Schema: Größe1 und Zwischen, Zwischen und Größe2 –, begegnet Deleuze an anderer Stelle gemeinsam mit Guattari wie folgt: „Wir benutzen den Dualismus von Modellen nur, um zu einem Prozess zu gelangen, in dem jedes Modell verworfen wird. Wir brauchen immer wieder geistige Korrektoren, die die Dualismen auflösen, die wir im übrigen nicht festlegen wollten, durch die wir nur hindurchgehen. Um zu der Zauberformel zu kommen, die wir alle suchen: Pluralismus = Monismus, und dabei durch alle Dualismen hindurchzugehen, die der Feind sind, aber ein unbedingt notwendiger Feind, das Mobiliar, das wir immer wieder verschieben.“ (Ebd. S. 35) Neben dem Dualismus-Vorwurf, den Deleuze/ Parnet explizit ansprechen, wenden sich ihre Ausführungen implizit nicht minder gegen jede Form von Positivismus: Das je Gegebene geht qua Relationalität in seiner Gegebenheit nicht auf. (Ich danke Martin Stefanov für den Hinweis.)
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„kreisen und sich transformieren“.69 All jene Veränderungen, wie sie nicht zuletzt aus der Terminologie der Re- und Deterritorialisierung sprechen, zeugen von einer spezifischen Zeitlichkeit des Gefüges. Wie schon die Räumlichkeit stellt jene weder eine losgelöste, für sich bestehende Größe dar noch gibt sie eine Variable aus, über die sich frei verfügen ließe. Die Zeit manifestiert sich im Wandel der Gefüge. Während sich ein „spezifischer historischer Moment“ auf das Zusammenkommen bestimmter Elemente beruft, seien die implizierten Relationen bereits dabei, einen Schritt weiter bzw. woandershin zu gehen. Von daher begreifen Deleuze/Parnet die Zeit nicht als Abfolge synthetischer Einheiten, sondern als Überlagerung von prozessualen Relationen, in denen sich Neubildungen und Preisgaben parallel vollziehen. Aussagen, Sachverhalte und Territorien füllen also nicht nur einen bestimmten zeitlichen Moment ihres Bestehens aus, sondern folgen gleichzeitig einer gemeinsamen, wechselseitig induzierten Verlagerung. Sie sind von den Neigungen, dem Zug ihrer relationalen Anlage nicht zu trennen; in der Deleuze/Parnetschen Diktion formen sie einen bloc de devenir toujours asymétrique, einen „asymmetrischen Werdensblock“ (80): Das, worauf etwas in seinem Werden zielt, wird währenddessen etwas anderes.70 Abschließend tragen Deleuze/Parnet eine lose Sammlung von Formen zusammen, die diesem Werden Ausdruck verleihen. Nicht, dass die dabei aufgerufenen Kultursparten Literatur, Komposition, Malerei und Philosophie als Garantien schöpferischer Prozesse gelten könnten: Im Kontext der geschilderten Relationslogik stellt (Selbst-) Verwirklichung kein Kriterium dar. Vielmehr geht es Deleuze/Parnet um die Überantwortung an die Relationen selbst, die Neuverkopplung bestehender wie die Freilegung und Verfolgung ungebundener Bezüge: „Alles ist eine Frage der Linie.“ (80)
69 | Stefan Hesper charakterisiert das Gefüge als „ein reines ‚Möglichkeits-Feld‘, eine virtuelle Allianz von Verschiedenem“. Diese starke Betonung des Potentials birgt die Gefahr, dem Gefüge-Begriff entweder zu viel Unbestimmtheit einzuräumen oder aus der Möglichkeit eine Zwangsläufigkeit zu machen. Denn stehen jenem Möglichkeitsfeld der Gefüge weniger reine ‚Felder‘ gegenüber? Bildete sich zwischen ihnen kein Gefüge? Vgl. Stefan Hesper: Schreiben ohne Text – Die prozessuale Ästhetik von Gilles Deleuze und Félix Guattari, Opladen 1994, S. 12 u. 70ff. 70 | In einer früheren Formulierung charakterisieren die Dialoge dieses Werden als „heterochron“ und gehen dabei explizit von der Konjunktion aus: „Selbst bei nur zwei Gliedern steht ein UND zwischen beiden, das keines der beiden ist, noch eines, das zum anderen wird. Das ist Vielheit. Dies ist auch der Grund, warum es stets möglich ist, die Dualismen von innen aufzulösen – indem man die Fluchtlinie zieht zwischen den zwei Gliedern oder Mengen, jenes kleine Rinnsal, das keinem der beiden gehört, sie vielmehr mitführt in einer nicht-parallelen Entwicklung, einem heterochronen Werden.“ (41)
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Linien verlaufen nicht allein zwischen den Dingen, von einer Sache zu anderen, um sie zu verbinden und gleichzeitig auch zu distanzieren. In jedem Stück, jedem Moment Zwischenraum sind zugleich abweichende Richtung angelegt und vorhanden, an denen es ist, Transformationen auf den Weg zu bringen.71 Die schöpferische Transversalität dieses Werdens würde sich nicht ereignen, wäre es nicht möglich, dagegen vorzugehen und sie zu unterdrücken. Wie auch sollte sich das Folgen von Relationen eigenhändig unanfechtbar machen und also absolut setzen? Vor diesem Hintergrund ist an die Formulierung zu erinnern, das und sei „keine besondere Relation oder Konjunktion“ (64). Indem die Verknüpfungen ihr Werk der Relationierung und Relativierung gegebenenfalls an sich selbst verrichten, geben sie sich der Möglichkeit preis, dass auch an ihrer statt ein Ort entsteht, an dem sich etwas ereignen kann, das zuvor noch nicht abzusehen war. Damit begründet sich die Anfälligkeit bezüglich reduktionistischer Eingriffe. Wenn diese vom konjunktionalen Hang zur Preisgabe der eigenen Stellung nicht verhindert, sondern beinahe schon provoziert werden, vertrauen Deleuze/Parnet frei nach Bob Dylan auf „Kraft und Beharrlichkeit“. Trotz allem gelte es, die Freilegung von Relationen und mit ihnen die Verfolgung offener Enden weiterzutreiben (81, sowie S. 158 im hiesigen Kontext). Die Lasten und Umstände geschehener wie kommender Wandlungen müssen ja gerade nicht im Korsett subjektiver Kohärenz gestemmt werden. Dass die notwendigen Beziehungen dabei nie bereits im Vorfeld zu bestimmen sind, gehört zu ihrem Potential.72 Die von Deleuze/Parnet beschworene Motivik der Verwandlung zum Tier,
71 | Das Motiv der Linie greift innerhalb der Dialoge dem vierten und letzten Teil des Buches voraus. Deleuze/Parnet führen dort dreierlei Linien-Typen an, die harte und die weiche Segmentaritätslinie, sowie die Fluchtlinie. Die unterscheidenden Merkmale können dabei durchaus als jeweiliger Anspruch an die implizierten Relationen gelesen werden: Die Härte plädiert auf Durchsetzung, das Weiche räumt Kompromisse ein, die Flucht strebt Alternativen an. Entsprechend birgt die Relationslogik ein Potential zum sozio-politischen Analyseinstrument, was Deleuze/Parnet an genannter Stelle auch explizieren. Vgl. 135ff. 72 | Das Stichwort der Involution, das in diesem Kontext fällt, führen Deleuze/Guattari in den Tausend Plateaus weiter aus. Die Unterscheidung vom gebräuchlichen Terminus der Evolution begründen sie wie folgt: „Wir würden diese Form der Evolution, die zwischen Heterogenen abläuft, lieber als ‚Involution‘ bezeichnen, vorausgesetzt, man verwechselt die Involution nicht mit einer Regression. Das Werden ist involutiv, die Involution ist schöpferisch. Regredieren bedeutet, sich zum weniger Differenzierten zu bewegen. Involution bedeutet dagegen, dass ein Block gebildet wird, der sich an seiner eigenen Linie entlang bewegt, ‚zwischen‘ vorhandenen Termen und unterhalb bestimmbarer Beziehungen.“ (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 325)
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der Verwandlung des Tiers selbst in Farbe und Ton, sowie der Kräfte des Windes und der Hexen verschreibt sich entsprechend nicht der Konstruktion literaturaffiner Metaphern, sondern dem „Ziehen einer gebrochenen, immer wieder ‚nebendran‘ ansetzenden Linie, einer Art aktiver, schöpferischer Fluchtlinie UND . . . UND . . . UND . . .“ (17) Schlussbetrachtungen Das Problem, das die Aufmerksamkeit auf die Konjunktion lenkt, besteht im fortlaufenden Fragen nach Voraussetzungen, wie es sich gleich zu Beginn des Textes von Deleuze/Parnet im Theorem der „kleinsten realen Einheit“ ausdrückt. Dasjenige, was vorausgesetzt wird, wirkt sich auf alles Folgende aus. Sein Einfluss ist konstitutiv. Diese Rolle der Voraussetzung, das heißt ihre Stellung als Ursache, legt es nahe, als Machtposition aufgefasst zu werden. Einer Voraussetzung nahezustehen, sie gar selbst zu verkörpern, darf als Privileg gelten. Umso verwunderlicher, in diesem Kontext auf das und zu stoßen. Die Reihe der Versuche, die Stelle der Voraussetzung theoretisch zu klären, ist lang. Deleuze/Parnet nennen – ohne näher auf die zugehörigen historischen Zusammenhänge einzugehen – einige Konzepte, die als Lösungen gehandelt wurden: die Idee, das Wort, den Begriff und den Signifikant. Neben diesen objektiven Größen ergänzt das Subjekt die Liste der Anwärter. Schon diese knappe Auswahl komplexer Termini wirft die Frage nach einem leitenden Kriterium auf, das dafür bürgen soll, die Voraussetzung als solche auszuzeichnen. Ein solches finden Deleuze/Parnet in der Produktion von Aussagen. Weder Form noch Inhalt der Aussage können in der Konsequenz als vorrangig gelten; sie fallen gemeinsam unter den Aspekt, einer Herstellung zu bedürfen. Mit ihnen existiert die Aussage nicht aus sich selbst heraus, sondern wird auf den Weg gebracht. Also richtet sich die Frage auf die Produktion und ihre Bedingungen. Deleuze/Parnet gehen davon aus, dass weder eine einzelne Größe noch eine ausgewählte Eigenschaft in der Lage wäre, sich als erste Voraussetzung mitzuteilen und auszuwirken. Wie sollten sie auch bewerkstelligen, dass ihr Ausweis keinerlei rückwirkende Effekte implizierte, indem er seine Quelle mitunter erst zu dem werden ließe, was sie zu sein vorgibt? Die Vorrangstellung des Ersten unterliegt, sobald sie angeführt wird, nicht minder einer Abhängigkeit. Der Ansatz von Deleuze/Parnet, von der Produktion der Aussage auszugehen, ist folglich dem Versuch geschuldet, die Frage der Voraussetzung „weder chronologisch noch im Sinne einer ewigen Allgemeinheit misszuverstehen.“ (147) Dieses Vorgehen kann relationslogisch genannt werden, insofern es – nochmals präzisiert – nicht allein von der Produktion der Aussage ausgeht, sondern nicht minder von der Produktivität der Aus-
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sage selbst. Der Größe der ersten Voraussetzung ergeht es dabei wie der Einheit: Sie wird nicht negiert, sondern ausgeweitet. Diesen Prozess nennen Deleuze/Parnet agencement, Gefüge: Das Eine und das Andere kommen zusammen und eine Aussage entsteht. Um bei diesem kurzen Satz zu bleiben: Die Konjunktion und, das Verbum kommen und das Adverb zusammen tragen nicht weniger zu einem Gefüge bei als die substantivischen Glieder des Einen und des Anderen. Die Relationslogik, die Deleuze/Parnet im Namen des Gefüges und an Konjunktionen mittels und vorstellen und erproben, kann anhand von vier bzw. sechs Momenten charakterisiert werden. Sie kamen allesamt bereits zur Sprache, werden – anders als der Begriff des Begehrens – von Deleuze/Parnet als solche jedoch nicht gesondert als analytisch-kritisches Instrumentarium expliziert, sondern stets und sogleich argumentativ eingebunden. Da wäre als erstes Moment die Pluralität zu nennen. Sie gründet nicht auf eine bestimmte Anzahl größer/gleich zwei, sondern den Raum dazwischen, insofern sich dieser weder etwaigen Elementen noch deren Menge zurechnen lässt. In dieser Form ist er nicht zu singularisieren; er ist unzählbar.73 Damit impliziert der Plural bereits das zweite Moment, die Heterogenität. Durch die Relevanz des Zwischen als Raum pluraler Verfasstheit unterscheiden sich nicht nur Elemente und Mengen voneinander, sondern auch deren jeweilige Beziehungen: „zahlreichen heterogenen Gliedern“ (beaucoup de termes hétérogènes) korrespondieren „Beziehungen unterschiedlicher Natur“ (relations des natures différentes) (76). Der Begriff der Struktur erweist sich für Deleuze/Parnet gegenüber dieser Heterogenität als defizitär.74 Die Vielfalt der Relationen gilt auch für ihren Richtungssinn. Hier begegnet als drittes Moment die Reziprozität. Jede Relation trägt demnach Bezüge in sich aus, die sich ihrer Richtung nach unterscheiden. Dieses Merkmal kennzeichnet auch eine einzelne Bezugnahme, indem sich jedes Verhältnis „wechselseitigen Voraussetzungen“
73 | In Tausend Plateaus heißt es entsprechend: „Das Unzählbare wird dadurch charakterisiert, dass es weder eine Menge noch Elemente hat; es ist eher die Konnexion, das ‚und‘, das sich zwischen den Elementen, zwischen den Mengen produziert und zu keinem von beiden gehört, sondern ihnen entgeht und eine Fluchtlinie bildet.“ (Ebd., S. 651) 74 | Dass Deleuze/Parnet aus der Abgrenzung vom Strukturbegriff keine explizite Kritik am Strukturalismus ableiten, erinnert an einen Passus am Ende des Aufsatzes Woran erkennt man den Strukturalismus?, den Deleuze 1973 veröffentlichte: „Die Bücher gegen den Strukturalismus [. . .] können nicht verhindern, dass der Strukturalismus eine Produktivität besitzt, welche die unserer Epoche ist. Kein Buch gegen etwas, was dies auch immer sei, hat jemals Bedeutung; es zählen allein die Bücher für etwas Neues, und die Bücher, die es zu produzieren wissen.“ (Gilles Deleuze: Woran erkennt man den Strukturalismus?, übers. v. Eva Brückner-Pfaffenberger u. Donald Watts Tuckwiller, Berlin 1992 [Paris 1973], S. 60)
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verdankt (124). Eindeutige Ableitungszusammenhänge, wie sie Reihenfolgen und Genealogien auszeichnen, gehen erst aus entsprechenden Reduktionen dieser Reziprozität hervor. Könnten die bisherigen drei Momente zusammengenommen in einen endlosen Regress münden und zirkulär funktionieren, weist das vierte Moment, die Variabilität, zuletzt auf abweichende Veränderungen hin. Wie eine Relation von sich aus jeder einseitigen Ausrichtung widerstrebt, liegen ihr auch einförmige Darstellungen fern. Sie lässt sich bekanntermaßen für die Bildung von Synthesen und Syllogismen einspannen, gehorcht dieser äußeren Einfriedung allerdings erst mittels Reduktion. Für sich betrachtet und von ihnen ausgehend sind Relationen dagegen „nicht Gegenstand einer Repräsentation, sondern Mittel einer Aktivität“.75 Diese vier Merkmale der Relationen in einem Gefüge – Plural und Heterogenität, Reziprozität und Variabilität – erfahren durch die Referenz auf die Konjunktion noch eine Spezifizierung. Insbesondere am und wird deutlich, wie es sich zuträgt, dass eine Relation keinen Zustand, sondern eine Prozessualität bezeichnet. Diese Präzisierung macht sich an zwei Stichworten fest, der Äußerlichkeit und der Transversalität. Die Äußerlichkeit der Relation grenzt sich von deren Gliedern ab. Sie besagt, dass sich die Voraussetzungen wie die Auswirkungen eines Verhältnisses nicht allein aus den versammelten Elementen erklären. Das und dient diesem Einwand gleichsam als physischer Beleg: Es steht zwischen seinen Bezugspunkten, ohne dem einen mehr verpflichtet zu sein als dem anderen. Diese ausgewogene Anlage ist nicht allein grammatikalisch-syntaktischer Natur, noch einfaches Unbeteiligtsein.76 Die Konjunk-
75 | Diesen Aspekt untersuchte Deleuze bereits in seiner ersten Veröffentlichung, vgl. ders.: David Hume, a.a.O., S. 152f. Dass sich jene Untersuchung mit Empirisme et Subjectivité nicht erschöpfte, sondern vielmehr durch das gesamte Deleuzesche Œuvre zog, nimmt Mirjam Schaub zum Anlass ihres Aufsatzes Das Wörtchen ‚und‘. Vgl. dazu im hiesigen Kontext das Kapitel zum und als philosophische Methode. Die Schärfe und Ausdauer, mit der Deleuze entsprechende, auf Repräsentation bedachte Verkürzungen aufdeckt, verdient jedoch nochmals eine gesonderte Hervorhebung. An diesen Einsätzen wird nämlich ersichtlich, dass der hier so bezeichneten Relationslogik Werkzeuge an die Hand gegeben sind, die Voraussetzungen besagter Verkürzungen – wie sie etwa von positivistischen oder neoliberalen Ansätzen gepflegt werden – ans Licht zu bringen. Vgl. dafür nochmals die Zitate in den Fußnoten 56, 61 und 64. 76 | In Tausend Plateaus greifen Deleuze/Guattari dafür auf den physikalisch-mathematischen Begriff des Tensors zurück. Dabei handelt es sich ursprünglich um eine „Erweiterung des Vektorbegriffs“, um bei gleichzeitiger Transformation mehrerer Vektoren nicht alle einzeln abhandeln zu müssen (Wolfgang Nolting: Grundkurs Theoretische Physik 1, Berlin/Heidelberg 2006, S. 263). Für den hiesigen Zusammenhang ist vor allem von Bedeutung, dass ein Tensor seine Bezugselemente gebündelt transformiert, ohne sie dabei einander anzugleichen. Auf diesen As-
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tion formiert eine Relation zur Aussage und fügt ihr einen Resonanzraum ein. Was darüber im Einzelnen in einer Aussage mitschwingt, ist Sache der Umstände und des Beliebens. Dass jedes Element solche innertextuellen Wirkungsräume braucht, erweist sich dagegen nicht weniger als notwendig. Die konkrete Gestalt der Konjunktion mag variieren oder durch ein Komma, einen Bindestrich oder eine bloße Lücke ersetzt werden, ihre Funktion bleibt für die Aussage konstitutiv. Insofern erweist sich noch an der Ersetzbarkeit des und, dass ein Relation nicht nur aus Relata besteht, sondern stets ein Zwischen impliziert. Die Transversalität bringt auf den Begriff, dass es sich bei der Wechselseitigkeit von Relationen nicht nur um ein lineares Hin und Her handelt. Die Offenheit der äußerlichen Zwischenstellung der Konjunktion wird von einem Zug durchquert, der stets auf Weiteres pocht. Der Zwischenraum, den das und freihält, steht also nicht nur den unmittelbaren Relata offen. Frühere wie kommende Elemente und Verknüpfungen können sich hier nochmals oder im Vorfeld abzeichnen. Immer schwingt noch etwas mit. Diese Einflüsse der Umgebung induzieren der Relation Variabilität. Die Äußerlichkeit der Konjunktion wird zum Einfallstor. Indem die Konjunktion jedoch auch gegenüber den Relata zweiten Grades keinerlei Präferenzen äußert, fungiert sie nicht nur als Einlass, sondern in gleicher Weise auch als Durchgangsstation. In jedem Fall finden Interferenzen zwischen den sich begegnenden Relata welchen Grades auch immer statt. Die Durchkreuzung einmal gesetzter Verbindungen kann dabei so leidvoll wie beglückend sein. Wenn Deleuze/Parnet trotz entsprechender Hinweise auf diese Ambivalenz des relationalen Geschehens am Begriff des Begehrens festhalten, dann wohl auch aus dem Grund, dass jenes Drängen beileibe nicht immer um seine genauen Wünsche und deren Konsequenzen weiß. Dieser relationalen Dynamik gibt die Transversalität einen Namen.77 In jedem Fall handelt es sich bei dem, was
pekt zielen Deleuze/Guattari ab: „Ein so einfacher Ausdruck wie UND . . . kann in jeder Sprache die Rolle eines Tensors spielen. In diesem Sinne ist UND weniger eine Konjunktion als der atypische Ausdruck aller möglichen Konjunktionen, die er kontinuierlich variiert. Auch der Tensor lässt sich weder auf eine Konstante noch auf eine Variable reduzieren, sondern er sichert die Variation der Variablen, indem er jedesmal den Wert der Konstanten abzieht (n − 1).“ (Gilles Deleuze u. Félix Guattari: Tausend Plateaus, a.a.O., S. 139) Die Subtraktion der Konstanten zeigt nochmals die Einbindung der Einheit als situative Größe. 77 | Entsprechend gibt es Interpreten, die in ihrer Lektüre hinsichtlich der Relationslogik nicht auf das Begehren rekurrieren, sondern stattdessen Zerfall wittern. Vgl. etwa Peter Bexte: ‚und‘ – Bruchstellen im Synthetischen, in: Gabriele Gramelsberger, Peter Bexte, Werner Kogge (Hg.): Synthesis – Zur Konjunktur eines philosophischen Begriffs in Wissenschaft und Technik, Bie-
204 | Konjunktion
sich vermittels der Transversalität der Relation ereignet, wieder um Relationen.78 Schaubild 4.1: Relationslogische Momente und reduktionistische Ableitungen Heterogenität
Pluralität
Einheit/Ganzheit
@
Homogenität
@ @ @
@ @ @
@ @ @
Reziprozität
Äußerlichkeit
@ @ Variabilität
Transversalität
Einseitigkeit
Konstanz
Subordination
Linearität
Quelle: Eigene Darstellung Mit dem Gefüge setzen Deleuze/Parnet auch die Konjunktion in den Stand einer Voraussetzung von Aussagen. Jedoch erheben sie das und nicht zum zentralen Gegenstand eines Grundsatzes, sondern folgen seinem rückhaltlosen Gang der Relationierung:
lefeld 2014, S. 25–40; sowie im hiesigen Zusammenhang das Kapitel zum und als kulturtheoretischer Parameter. 78 | Anstelle auf die Transversalität einzugehen, sieht Bruce Baugh in seinem ansonsten sehr erhellenden Essay zum Deleuzeschen Empirismus singuläre Größen als Voraussetzung der Äußerlichkeit der Relation: „Dennoch steht [. . .] die Logik der Äußerlichkeit nicht für sich allein, sondern fußt auf der empirischen Aktualität von Einzelfällen, welche Mannigfaltigkeit erst möglich macht; schließlich geschieht es durch die empirische Aktualität, dass eine begrifflose Differenz und damit die rein additive und äußerliche Beziehung des UND möglich wird.“ (Bruce Baugh: Deleuze und der Empirismus, a.a.O., S. 43) Zu seiner Verteidigung ist jedoch hinzuzufügen, dass sich im weiteren Verlauf seiner Ausführungen der Fokus von den genannten Aktualitäten auf deren Differenz (S. 44) und schließlich auf „Gegenstände in ihrer Pluralität“ verschiebt (S. 53). Revidierende Explikationen bleiben jedoch aus.
4. Das und als Funktion der Irritation und Wandlung (Deleuze/Parnet) | 205
„Le ET n’est même pas une relation ou une conjonction particulières, il est ce qui sous-tend toutes les relations, la route de toutes les relations“ (*71). „UND ist dabei keine besondere Relation oder Konjunktion, es ist, was in allen Relationen mitschwingt, die Straße aller Relationen“ (64). Die Prozessualität, die von Beginn an dem Gefüge innewohnt, macht auch an dessen Parametern nicht Halt.79 Die Erdung des und geschieht zum einen durch die Referenz auf „alle“ Relationen. Diese Generalisierung nimmt der Konjunktion ihre Spezifik, räumt ihr gleichzeitig jedoch eine ungeheure Komplexität ein: Das kleine Wort steht nicht über seinesgleichen, sondern ist mit ihnen allen, all ihren Fällen verwoben.80 Zum anderen kehrt das Motiv der Straße wieder. In ihm kommt zum Ausdruck, was in jüngeren Begriffen wohl Medialität zu nennen wäre. Die Straße dient der Fortbewegung, dem Transport. Sie liegt unter der Bewegung wie zwischen den Orten, die sie verbindet. Auf ihr an einer Stelle länger zu verweilen, deutet auf ein Problem hin; die unbestimmte, aber unweigerliche Beziehung, die im Fall der fortgesetzten Bewegung zu jenem Stück Weg bestanden hätte, erhält eine Bestimmung. Die ansonsten geltende, relationale Bestimmungslosigkeit einzelner Abschnitte und Punkte der Straße hängt eng mit der Funktionsweise der Konjunktion zusammen: Deleuze/
79 | Insofern dadurch Vorangehen und Bestimmungsanspruch entkoppelt werden – griechisch ἁρκειν = der erste sein, vorangehen, anfangen, herrschen – kann diese Relationslogik als an-
archisch bezeichnet werden: zügel-, aber alles andere als beziehungslos. (Ich danke Robert Bukowsky für den Hinweis.) 80 | In dem bereits zitierten Interview aus dem Jahre 1976 hob Deleuze die SelbstRelationierung der Konjunktion nicht minder deutlich hervor, um sie mit der Frage nach den herkömmlichen Urteilsformen in Beziehung zu setzen. Indem die Reziprozität die Einseitigkeit des Attributionsurteils untergräbt und die Variabilität dem Existenzurteil die Konstanz nimmt, macht sich der Anspruch eines eigenständigen Relationsurteils selbst relativ: „Wenn man allerdings aus dem Relationsurteil einen eigenständigen Urteilstyp macht, merkt man auf einmal, dass es sich überall einschleicht, dass es alles durchdringt und zersetzt: das UND ist nicht einmal mehr eine besondere Konjunktion oder Relation, es reißt alle Relationen mit sich fort, es gibt so viele Relationen wie UNDs, das UND bringt nicht nur alle Relationen ins Wanken, es bringt das Sein ins Wanken, das Verb . . . etc. Das UND, ‚und . . . und . . . und‘, ist genau das schöpferische Stottern, der fremde Sprachgebrauch, im Gegensatz zum konformen und herrschenden Sprachgebrauch, der sich auf das Verb ‚sein‘ stützt. Selbstverständlich, das UND ist die Mannigfaltigkeit, die Vielheit, die Zerstörung der Identitäten.“ (Gilles Deleuze: Drei Fragen zu six fois deux (Godard), a.a.O., S. 67f)
206 | Konjunktion
Parnet nähern sich ihr als Lauf ohne Senkungen, ohne Fundament, „obenauf dahinziehend“ (file à la surface), als ein unstillbarer „Bezug nach Draußen“ (rapport avec le Dehors) (66). In der Weise, wie das und weder Funktionen der Identifikation und Repräsentation noch der Subordination und Repression bedient, ist es dabei, aus dem Vollen unscheinbarer Zusammenhänge zu schöpfen. Der ihm zugewiesene Terminus der Voraussetzung, der Supposition, präzisiert sich in diesem Zusammenhang zu einer Setzung, die stets vorab geschehen ist und sich von dort auswirkt, die gleichsam aber auch vom Hier und Jetzt ausgeht und auf etwas kommendes vorausdeutet. Die Voraussetzung wird im Bezugsfeld von Gefüge und Konjunktion ihrer Mittel enthoben, eindeutige Reihenfolgen festzulegen. Diese Mittel werden jedoch nicht negiert, sondern ausgeweitet. An die Stelle reduktionistischer Eindeutigkeit treten reziproke und variable Verbindungen. Das und begleitet Dinge, die waren, wie solche, die kommen. Es hängt dazwischen, ohne anzuhalten. Die Vielfalt seiner Bezüge deckt sich gerade nicht mit Ideologien, die sich auf bezifferbaren Mehrwert – ein Höher, Schneller, Weiter – gründen. Die Logik der Relation geht ausnahmslos mit Transformation einher. Weder Hierarchien der Reihenfolge noch der Überbietung werden sich ihrer bedienen können, ohne von ihr eingeholt und verwandelt zu werden. Nach einem Diktum, das Deleuze von Bob Dylan ableitet, birgt das und eine Logik der „Straßenkehrer“, nicht der „Richter“ (16). Ihr zu folgen, sie in ihrem Sinn als Voraussetzung gelten zu lassen, heißt, sich ihr auszusetzen.
5. Das und zwischen Vermittlungsund Ursprungsprinzip Zu Karen Gloys Einheit und Mannigfaltigkeit
Die 1979 eingereichte und zwei Jahre später veröffentlichte Habilitationsschrift von Karen Gloy gibt im Untertitel an, eine „Strukturanalyse des ‚und‘“ vorzunehmen. Die Überschrift der Einleitung greift diesen Aspekt unmittelbar auf, indem sie „Auslegungsweisen des ‚und‘“ ankündigt. Beide Titel implizieren, dass das kleine Wörtchen mehr als nur eine Möglichkeit birgt, eingesetzt und rezipiert zu werden: Eine Struktur ergibt sich erst aus der Gliederung mehrerer Elemente und die genannten Auslegungsweisen sprechen ganz offen von einer Mehrzahl an Optionen, den spezifischen Beitrag des und zu verstehen. Der Genitiv, in dem die Konjunktion an Strukturanalyse und Auslegungsweisen anschließt, lässt dafür zwei unterschiedliche Lesarten zu: Die genannten Untersuchungen könnten demnach sowohl von der Konjunktion ausgehen (genitivus subjectivus) als auch auf dieselbe abzielen (genitivus objectivus). Einmal wäre das und das ausgewiesene Mittel von Analyse und Interpretation, das andere Mal deren eigentlicher Gegenstand. Ob es nun um den Gebrauch oder die Betrachtung der Konjunktion geht – gleich mit den ersten Gelegenheiten sieht sich dieselbe von Karen Gloy in den Rang eines Wortes erhoben, dessen Vorhandensein nicht selbstverständlich ist, sondern eine genauere Klärung verlangt.1
1 | Karen Gloy: Einheit und Mannigfaltigkeit – Eine Strukturanalyse des ‚und‘ – Systematische Untersuchungen zum Einheits- und Mannigfaltigkeitsbegriff bei Platon, Fichte, Hegel sowie in der Moderne, Berlin/New York 1981. Alle Zitate, die sich im Folgenden auf jene Ausgabe beziehen, werden lediglich durch die entsprechenden Seitenzahlen in Klammern angezeigt. – Kurze Hinweise auf die Arbeit von Gloy finden sich sowohl bei Mirjam Schaub als auch bei Peter Bexte. Eine Diskussion ihres Ansatzes findet aber in beiden Fällen nicht statt. Vgl. Mirjam
208 | Konjunktion
Allerdings verdeutlicht der zweite Untertitel von Gloys Untersuchung, „Systematische Untersuchungen zum Einheits- und Mannigfaltigkeitsbegriff bei Platon, Fichte, Hegel sowie in der Moderne“, dass das und nicht ganz frei zur Diskussion steht, sondern als fester Bestandteil in der Konstellation von Einheit und Mannigfaltigkeit fungiert. Zwischen den beiden Substantiven kennzeichnet die Konjunktion vorrangig Unscheinbarkeit, während Einheit auf der einen, Mannigfaltigkeit auf der anderen Seite als gewichtige Größen auftreten: Nicht am und, sondern den groß geschriebenen Worten ist es, Bedeutung zu tragen und mitzuteilen. Dennoch fällt die Konjunktion nicht aus der Reihe heraus, da sie verhindert, dass Einheit und Mannigfaltigkeit ein Kompositum bilden oder in einem unbestimmten, losen Nebeneinander stehen. Das und sitzt im Spatium zwischen den beiden Begriffen und teilt dieses in drei Teile: Lücke, Konjunktion, Lücke. Dergestalt vollzieht es zugleich die Trennung und Verbindung der umliegenden Begriffe; es fügt und bindet, wie sich am Namen der grammatikalischen Sparte der Füge- und Bindeworte ablesen lässt. Die Frage, ob die Konjunktion bei Gloy einen Parameter oder eine Observable darstellt, kehrt dabei in abgewandelter Form wieder: Ist sie schlicht ein Mittel zum Zweck, um der Konfrontation von Einheit und Mannigfaltigkeit entsprechenden Raum zur Entfaltung zu vermitteln, oder wird sie zwischen den beiden terminologischen Schwergewichten zu einem Gegenstand eigenen Rechts? Im Folgenden soll diesbezüglich zweierlei untersucht werden: Erstens, was das und in Karen Gloys Untersuchung allererst thematisch werden lässt, und zweitens, wie sich die folgende Thematisierung gestaltet. Insofern der Fokus in diesem Zusammenhang dezidiert der Frage nach der Konjunktion und nicht der Einheits- respektive Mannigfaltigkeitsthematik gilt, wird die Untersuchung Gloys nicht in alle Einzelheiten nachverfolgt. Während die Betrachtung ausgewiesener Einheits- und Mannigfaltigkeitsparadigmen bei ihr sehr präzise und kleinteilig ausfällt, wird das und nur in der Einleitung explizit und ausführlicher zum Thema. Hier soll also der Versuch unternommen werden, dieses Verhältnis – nicht dem Umfang, aber den Proportionen nach – umzukehren und alles so nah wie möglich an der Frage nach der Konjunktion zu halten bzw. an ihr auszurichten. Alle Aussagen, die einen Bezug auf die von Gloy behandelten Philosophen und deren Werke aufweisen, stehen folglich nicht in einem
Schaub: Das Wörtchen ‚und‘ – Zur Entdeckung der Konjunktion als philosophische Methode, in: Friedrich Balke u. Marc Rölli (Hg.): Philosophie und Nicht-Philosophie, Bielefeld 2011, S. 243f und Peter Bexte: Trennen und Verbinden – Oder: Was heißt und?, in: Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie, hrsg. v. Dieter Mersch u. Michael Mayer, Berlin/München/ Boston 2015, S. 63, Anm. 28.
5. Das und zwischen Vermittlungs- und Ursprungsprinzip (Gloy) | 209
exegetischen Zusammenhang, sondern sind – zumal in der gegebenen Knappheit – unter dem Vorzeichen der Fokussierung auf das und zu sehen. (I) Wie wird die Konjunktion zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit zu einer Frage? Das vorrangige Ziel der Untersuchung von Karen Gloy besteht darin, die „Struktur der Einheit“ zu klären (6). Damit steht erneut ein Genitiv-Verhältnis zur Diskussion. Da „Struktur“ jedoch mehr auf einen Zustand abhebt denn auf eine Handlung, wie dies zuvor Strukturanalyse und Auslegungsweisen taten, steht der neuere Ausdruck in klarerem Licht: Die Genitivattribution gilt der bleibenden Zusammengehörigkeit von Struktur und Einheit (genitivus partitivus). Diese Komposition ist nicht unproblematisch, insofern sich Struktur gemeinhin an etwas wendet, das nicht einheitlich verfasst ist und es im strengen Sinne auch nicht sein kann, soll es Gegenstand einer strukturierenden Gliederung werden können. Der Ausdruck „Struktur der Einheit“ droht, in einen Widerspruch zu münden. Aus zweierlei Gründen sieht sich Gloy dazu veranlasst, diese Gefahr nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern gerade zu forcieren: Zum einen belegt die historische Vielzahl von philosophischen Einheitskonzepten den Begriff der Einheit mit einer Relativität, die seinem Inhalt eklatant widerspricht. In einem kursorischen Abriss zeichnet Gloy eine Linie, die die Frage nach einer einheitlichen Fassung alles Gegebenen im abendländischen Traditionszusammenhang bis in die frühgriechische Kultur zurückverfolgt (vgl. 3ff).2 Selbst wenn die jüngste Einheitstheorie alle vorherigen in sich aufzunehmen wüsste, müsste sie sich die Frage gefallen lassen, ob eben dies zu einem späteren Zeitpunkt nicht in ähnlicher Weise mit ihr selbst möglich ist: „Muss sich nicht gegen jedes neu aufzustellende Prinzip derselbe Einwand erheben wie gegen alle früheren, eben doch nur eines unter anderen zu sein und zu einer beliebig erweiterbaren Reihe zu gehören?“ (5) Insofern sich in diesem Vorbehalt die Frage nach etwaigen auszeichnenden Kriterien ankündigt, teilt sich der zweite Grund mit, aus dem heraus Karen Gloy gerade auf die Spannung zwischen Struktur und Einheit abzielt. Demzufolge begegnen der Auswahl oder Aufstellung jedes Einheitsprinzips neben geschichtlichen auch systematische Schwierigkeiten. Erhebt ein auf
2 | Dabei gliedert sie die Prinzipien in objektiv-ontologische, für die exemplarisch die antiken Entwürfe von Parmenides und Platon genannt werden, und subjektiv-epistemologische, die sich nochmals dahingehend unterscheiden, ob sie ihren Schwerpunkt in der Ratio oder der Anschauung verorten. Als Vertreter der rationalen Ausprägung nennt Gloy die neuzeitlichen Positionen von Descartes, Leibniz und Kant, auf Seiten der Phänomenalität die Modernen Bergson, Heidegger und Sartre. Daneben bleibt Gloy den Hinweis auf außereuropäische Konzepte der Einheit nicht schuldig (vgl. 3, Fußnote 5).
210 | Konjunktion
Einheit angelegtes Prinzip einen universellen Gültigkeitsanspruch, wird es ein außenstehendes Kriterium nicht dulden können, auch wenn dieses gerade dem Zweck dient, die angesetzte Einheit gegenüber allen anderen nachhaltig auszuzeichnen. Schließt das Einheitstheorem ein solches Kriterium dagegen in sich ein, büßt jenes damit seine Funktion ein, denn es darf sich – unabhängig davon, ob es die Einheit spezifisch oder generell ausweist – nicht länger von dieser unterscheiden, da sonst abermals von Zweiheit zu reden wäre. Demzufolge verfügt die Selbstrechtfertigung innerhalb der Einheit über keine Mittel mehr, weil sich Kriterium und Referenz nicht mehr länger von einander unterscheiden (vgl. 5f). Aus diesen Gründen heraus führt Gloy hinsichtlich der Einheitsthematik die Differenzierung zwischen Inhalt und Struktur ein. Mit „Struktur“ steht also kein neues Einheitsprinzip zur Diskussion, das – seinem Inhalt nach – jeglichen zeitlichen wie systematischen Relativierungen auf neue Art gefeit zu sein vorgibt, sondern das Spektrum der prinzipiellen Mittel, auf die eine Begriffsbildung der Einheit zurückgreifen muss, um sich allererst zu behaupten. Anders als der Ausdruck „Struktur der Einheit“ für sich betrachtet vermuten ließe, hat sich nach dem Ansatz von Karen Gloy nicht die Struktur an der Einheit zu messen, sondern umgekehrt die Vielzahl der Einheitsprinzipien an einer Struktur, die es herauszufinden gilt. Dieses Vorgehen gründet auf die Einsicht, dass Einheit sowohl begriffsgeschichtlich als auch und vor allem begriffslogisch nicht ohne die Referenz auf etwas auskommt, das ihr äußerlich ist. Für diesen Bezug bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten. Gloy geht von den Extrema aus: (a) Auf der einen Seite kann sich der Einheitsbegriff von allem loslösen und abgrenzen, sich also ins Absolute steigern; (b) auf der anderen Seite bildet sich die Einheit gerade darüber aus, alle Formen und Erscheinungsweisen des Nichteinheitlichen in sich einzubegreifen. Gloy widmet beiden Fällen neben einer ersten Diskussion (42–63) ausgedehnte und kleinschrittige Analysen (83–177). Für die Frage nach dem und interessiert dabei vor allem, ob eine Fassung des Einheitsbegriffs möglich ist, die die Konjunktion vollständig integriert oder ob das einfache Schema, an jede noch so absolute oder komplexe Einheit ein und anzuhängen, das heißt äußerlich anzufügen, einen tieferen Grund besitzt. Die „Antinomien der Einheit“, von denen Gloy bereits in der Gliederung spricht, sind im Verlauf der ausführlichen Untersuchungen nicht auszuräumen – das ist vorwegzunehmen –, vielmehr bestätigen und vertiefen sie sich. Da mit Blick auf die Konjunktion vor allem ihr Vermögen von Relevanz ist, dem Einheitsbegriff zu opponieren, das heißt ihm etwas Außenstehendes entgegenzuhalten, seien im hiesigen Zusammenhang nur die jeweiligen Kernaspekte der Argumentation genannt: (a) Der absolute Einheitsbegriff setzt auf die rigorose Trennung und Loslösung von allem, was nicht er selbst ist. Verbindung gibt es in seinem Zusammenhang im Gegenzug streng genommen nicht, da das in sich vollkommen Einheitliche keinerlei Ver-
5. Das und zwischen Vermittlungs- und Ursprungsprinzip (Gloy) | 211
bindung bedarf. Eine so beschaffene Einheit vermag es allerdings nicht zu verhindern, dass der generelle Ausschluss von allem zuletzt als solcher als eine nichteinheitliche Komponente an ihr haften bleibt: Das Ausschließen kann sie nicht ausschließen. Diese Problematik diskutiert Gloy ausführlich anhand der Einheitsphilosophie von Fichte (86–130). (b) Die alles integrierende Auffassung des Einen gründet sich dagegen auf ihre totale Ausweitung. Sie treibt die Affirmation des Widerspruchs zu allem Nicht-Einheitlichen so weit, dass sie es letztlich in sich aufnimmt. These und Antithese heben sich dabei nicht auf, sondern werden zum Anlass für ein Drittes, das wiederum zur These für eine neue Antithese wird und immer so fort. Allerdings gibt jene Form der Einheit alle Mittel aus der Hand, sich jemals selbst als total begreifen zu können. Anfang und Ausgang ihrer selbst sind und bleiben konstitutiv offen. Diese Problemlage, in der die Einheit als Totalität zur Diskussion steht, bearbeitet Gloy anhand Hegels Wissenschaft der Logik (130–177).3 Ob sich die Einheit mittels Aus- oder Einschluss auf ihr Außen bezieht – jenes Außen vermag sie weder gänzlich abzuspalten noch sich vollkommen einzuverleiben. In der Bekundung ihrer selbst, so arbeitet es Gloy heraus, sind beide Einheitsbegriffe, der absolute wie der totale, auf etwas Äußeres angewiesen, das ihnen äußerlich bleibt. Aufgrund dieser Exteriorität ist der Vollzug eines Widerspruchs unausweichlich, wenn Einheit zum obersten und alleinigen Prinzip erhoben wird. Das Einheitliche vermag seinem Anspruch an dieser Stelle nicht gerecht zu werden. Im Hinblick auf die Relation, die die Einheit mit ihrem Außen unterhält, differenziert Gloy die Problematik weiter aus: „Sofern der Begriff ‚Einheit‘ auf eine Vielzahl von Auslegungsweisen Anzeige gibt, auf numerische Singularität ebenso wie auf qualitative Identität wie auch auf den relationalen Prinzipien- und Kausalitätscharakter, kehrt der Widerspruch in allen diesen Formen wieder. Er tritt hervor, sobald auf die im Ansatz stillschweigend mitgesetzten Bedingungen reflektiert wird. Denn basiert die im Ansatz implizierte Be-
3 | Als nicht zu lösendes Problem stellt sich damit abermals eine Figur des Selbstbezugs heraus. In sehr verdichteter Form macht Gloy dies anhand des Totalitätsbegriffs selbst deutlich: „Sofern besagter Begriff Begriff der T o t a l i t ä t ist, erfüllt er den durch die begriffliche Intentionalitätsstruktur entworfenen Rahmen möglichen Gehalts mit der Gesamtheit des nur Erdenkbaren, sich selber eingeschlossen, und sofern er B e g r i f f der Totalität ist, bewahrt er die jedem Begriff eigentümliche Intentionalitäts- und Relationsstruktur zwischen Wissendem und Gewusstem und entzieht sich damit als Wissendes dem von ihm Intendierten.“ (173f)
212 | Konjunktion
wusstseinsrelation auf wechselseitiger Bezogenheit, ist sie zudem eine Relation zwischen numerisch zwei und qualitativ verschiedenen Relata, involviert sie also Dualität, Differenz und Relationalität, so ist mit diesen Implikaten der angesetzten absoluten numerischen Einheit, Identität wie deren Prinzipienfunktion usw. widersprochen.“ (275) Gloy fächert die Problematik des Einheitsbegriff in vier Richtungen auf. Leitend sind dabei die Kategorien der Quantität und Qualität, sowie der Relationalität und der Erkennbarkeit.4 Demnach bringt jede der genannten Kategorien den Selbstwiderspruch der Einheit auf ihre Weise zum Ausdruck. Der numerischen Einzahl korrespondiert eine Mehrzahl, der Identität steht Differenz gegenüber, dem Grund hängen Formen der Folge an wie der Ursache Wirkungen und der Substanz Akzidenzien. Die je zuletzt genannten Größen geben gleichsam eine erste Antwort auf die Frage, welche Konsequenzen das Scheitern der Allein- bzw. Vorrangstellung der Einheit zeitigt. Allein für den Aspekt der Erkennbarkeit führt Gloy kein vergleichbar beschaffenes Begriffspaar an. Stattdessen tritt von vornherein eine Relation auf: die „Bewusstseinsrelation“. In ihr macht Gloy eine reziprok ausgerichtete Veranlagung aus. Demzufolge wirkt jedes Element auf ein anderes, wie dieses auf jenes zurückwirkt (reciprocus = zurückwirkend). Nachdem es sich bei den zuvor kategorisch ausdifferenzierten Relationen um Bewusstseinsinhalte handelt, gilt die Struktur der Wechselseitigkeit für sie im gleichen Sinne. Gloy spricht davon, dass alle versammelten Relationen auf Reziprozität „basieren“. Diese Ausdrucksweise deutet für die Stelle, welche der Einheitsbegriff zwar zu beanspruchen, aber nicht widerspruchsfrei einzunehmen vermag, auf eine Alternative hin. Der Reziprozität käme demnach eine fundamentalere Geltung zu als den explizierten Formen der Einheit. Bevor jene Reziprozität selbst zum Thema erhoben wird, ist auf die Gegenseite der Einheit, die Mannigfaltigkeit, zu blicken. So auch das Vorgehen von Gloy. Wenn sich nämlich der Begriff der Einheit – sei er auf Absolutheit oder Totalität hin angelegt – einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis mit dem Mannigfaltigen verdankt, besagt dies in gleicher Weise, dass jenes Mannigfaltige nicht minder ohne den Bezug
4 | Den augenfälligen Rückgriff auf das Kantische Kategoriensystem begründet Gloy zuerst mit dessen geistesgeschichtlicher Wirkmächtigkeit, führt dann jedoch länger aus, dass sich eben jene Gliederung nicht minder auf Platons Parmenides stützen kann: „Ohne die Übereinstimmung von Platonischem und Kantischem System übertreiben zu wollen und auch ohne die Berechtigung anderer Systeme in Abrede stellen zu wollen, dürfte das Auftreten gleichartiger Einteilungen in Altertum und Neuzeit Indiz für die Fundamentalität gewisser Bestimmungen und für die Kontinuität des abendländischen Denkens sein.“ (19f )
5. Das und zwischen Vermittlungs- und Ursprungsprinzip (Gloy) | 213
auf Einheit auskommt. Mannigfaltigkeit ist demnach umgekehrt auch auf Einheit angewiesen. Diesen Fall gliedert Gloy analog zur Terminologie der Einheit, indem sie erneut auf die Extrema vollständigen Ein- und Ausschlusses reflektiert – diesmal von der Mannigfaltigkeit ausgehend. (c) Dem einen Extrem zufolge trachtet Mannigfaltigkeit danach, sich von jeglicher Einheit loszulösen und zu sondern. Diese einseitige Fokussierung auf Differenz birgt wiederum ein systematisches Problem. Denn mit der Ablehnung alles Einheitlichen gibt die resultierende Mannigfaltigkeit auch sämtliche Anhaltspunktes preis, die für ihre eigene Auffassung notwendig sind. Auf diese Weise entzieht sie sich jeder Erkenn- und Begreifbarkeit. Abermals verstrickt sich die absolute Fassung des Begriffs in einen Widerspruch mit und zu sich selbst. Würde sie ihrem Anspruch gerecht, dürfte es sie nicht geben.5 (d) Auf der anderen Seite geht der letzte der vier Grenzfälle, Einheit und Mannigfaltigkeit aufeinander zu beziehen, von einer Mannigfaltigkeit aus, die Einheit nicht ausschließt, sondern dezidiert in sich aufnimmt. Schwierigkeiten begegnen hier dadurch, dass jede Form von Einheit, die integriert wird, eine relative Eigenständigkeit behält. Andernfalls ließe sich die aufnehmende Mannigfaltigkeit als Ganze nicht mehr von einer totalen Einheit unterscheiden. Mit diesem notwendigen Zugeständnis kennzeichnet die totale Mannigfaltigkeit allerdings ein nicht aufzuhebendes Moment der Unbestimmtheit: Wann und in welcher Form sich etwas als Einheit innerhalb der Mannigfaltigkeit behauptet, ist und bleibt relativ. Wäre dem nicht so, sähe sich die totale Mannigfaltigkeit einer nicht mehr relativen, sondern absoluten Einheit gegenüber, die sie als solche nicht mehr integrieren könnte. Mit der Relativität aller denkbaren Anknüpfungspunkte muss Relativität schließlich auch die Mannigfaltigkeit, die alles in sich einbegreift, zur Gänze kennzeichnen.6
5 | Das historisch vorherrschende Paradigma der Einheit hat Gloy zufolge die Ausbildung und Tradierung philosophischer Mannigfaltigkeitssysteme unterbunden (vgl. 11f). Einen systematischen Ansatz, der eigens von einer Absolutheit der Mannigfaltigkeit ausgeht, sucht sie von daher außerhalb der Philosophie und findet ihn in wissenschaftstheoretischen Bemühungen, die Basis der Mathematik und mit ihr der Naturwissenschaft als Ganzer ausfindig zu machen. Die Untersuchung der absoluten Mannigfaltigkeit nimmt sie diesbezüglich nicht an einem einzelnen Werk vor, sondern geht stattdessen von einem Diskurs zwischen mehreren Wortführern aus (182–237). 6 | Einen Diskurs, der Mannigfaltigkeit zum Thema macht, die jegliche Einheit einzuschließen bestrebt ist, findet Gloy in der Psychologie. Wie im Falle der absoluten Mannigfaltigkeit dient ihr wiederum kein Einzelwerk, sondern eine Forschungsfeld dazu, den totalen Mannigfaltigkeitsbegriff en détail zu beleuchten (237–271).
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Ob also die Mannigfaltigkeit Einheit gänzlich in- oder exkludiert, beide Extrema zeigen, dass die Vereinseitigung des Mannigfaltigen in den Selbstwiderspruch oder unausweichliche Relativität mündet. Diese Konsequenzen scheinen der Preis dafür zu sein, das reziproke Bedingt-Sein mit Einheit zu leugnen.7 Damit zu der Frage, die im hiesigen Zusammenhang vorrangig interessiert, der Frage nach der Relation. Im Aspekt der Reziprozität wurde sie bislang am deutlichsten explizit. Jene relationslogische Figur trat im Kontext der vierten Kategorie in Erscheinung, die Gloy der „Beziehung zum Erkenntnisvermögen“ zuschreibt (13). Folgt sie in den vorherigen Kategorien der Aufteilung bei Kant, weicht sie im letzten Fall von diesem ab. Kant stellt die vierte Kategorie unter das Stichwort der Modalität.8 Dafür ist Gloy wiederum ganz Kant verpflichtet, wenn sie in der Beziehung der Erkenntnisvermögen Verstand und Anschauung einander gegenüberstellt.9 Ausgehend von der Anschauung beschreibt Gloy dieses Verhältnis wie folgt: „Die Anschauung ist principium individuationis, Medium, das Vereinzelung und Besonderung auf unendlichfache Weise zulässt. Erfüllen kann sie diese Funktion nur, wenn sie die Form unendlicher Extension hat. Sie muss unbegrenzte Ausdehnung sein. Deren Korrelat und Gegensatz: Begrenzung, welche als Ermöglichungsgrund der begrifflichen Einheit
7 | Dass überhaupt und auf diese Weise auf das Mannigfaltigkeitsparadigma zurückgegriffen werden kann, verdankt sich Gloy zufolge dann doch vor allem der philosophischen Tradition. Anstelle von Mannigfaltigkeit spricht sie von Kontinuität, was im hiesigen Zusammenhang erst noch zu klären sein wird: „Es muss als Platons eigenste und großartige Leistung angesehen werden, mit den beiden letzten Positionen des Parmenides und den in ihnen thematischen Begriffen des Anderen, des unbezüglichen und des bezüglichen, die möglichen Kontinuumsformen, das äußerlich wie innerlich unbegrenzte und das begrenzte Kontinuum, als eigene begriffliche Instanzen neben den Einheitsformen etabliert und zugleich die spezifischen Schwierigkeiten dieser Konzepte aufgezeigt zu haben.“ (74) 8 | Die Modalität untergliedert er weiter in die Begriffspaare Möglichkeit – Unmöglichkeit, Dasein – Nichtsein und Notwendigkeit – Zufälligkeit. Vgl. Kritik der reinen Vernunft, Bd. 3 der Werkausgabe, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1990, S. 119. 9 | Neben ihrer Dissertation, die der Theorie der Naturwissenschaft bei Kant gewidmet ist, nimmt sich Gloy dem Verhältnis von Sinnlichkeit und Verstand in einem eigenen Aufsatz an. Vgl. dies.: Die Kantische Differenz von Begriff und Anschauung und ihre Begründung, in: KantStudien, hrsg. v. Manfred Baum, Bernd Dörflinger u. Heiner F. Klemme, Band 75, Heft 1–4 (Jan. 1984), S. 1–37; sowie dies.: Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft – Eine Strukturanalyse ihrer Möglichkeit, ihres Umfangs und ihrer Grenzen, Berlin/New York 1976.
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zu gelten hat, ist aber nur im Ausgang von der unendlichen Extension verstehbar, und zwar als deren Einschränkung.“ (21) Gloy reformuliert das Problem von Einheit und Mannigfaltigkeit als Frage von Ausdehnung und Begrenzung. Der logischen Fassung korrespondiert damit eine anschauliche. Diese Binnendifferenzierung der Erkenntnisvermögen hat entsprechende Konsequenzen auf die anderen Kategorien: Unter anschaulichem Vorzeichen stehen sich quantitativ Unendlichkeit und Endlichkeit gegenüber, begleitet – was Gloy im Anschluss ausführt – von den qualitativen Parametern Homogenität und Heterogenität, sowie von Kontinuität und Diskontinuität, die die Relationalität von Ausdehnung und Begrenzung entsprechend weiter ausdifferenzieren. Schließlich ist Gloy wieder ganz bei Kant, wenn sie zusammenfassend herausstellt, dass die Mannigfaltigkeit das Auffassungsvermögen in anderer Weise anspricht als die Formen der Einheit: „Das Begreifen ist nicht die einzige Erkenntnisart, eine andere, gleich fundamentale ist das Anschauen.“ (20) Dieser Ausweis, der der Anschauung und der Logik die gleiche basale Natur zuspricht, scheint allerdings in einen Widerspruch zu dem oben herausgestellten Zitat zu treten (21). Dort heißt es explizit, dass begriffliche Artikulation auf phänomenale Distinktionen zurückgeht, welche wiederum auf das ununterbrochene Kontinuum der Anschauung gründet. Wie verträgt sich das mit einer Gleichursprünglichkeit der Erkenntnisweisen? Zur Auflösung der geschilderten Diskrepanz muss die Beziehungsform der Reziprozität näher geklärt werden. Offensichtlich argumentieren die beiden Positionen nicht vom gleichen Standpunkt aus: Während die oben freigestellte Aussage von der Anschauung und der mit ihr gegebenen Mannigfaltigkeit ausgeht und erst in der Folge zur Möglichkeit begrifflicher Einheiten kommt, steht das zweite Zitat (20) in gewisser Weise ‚jenseits‘ des Verhältnisses von Verstand und Anschauung, wenn es die Relata als gleichursprünglich ausweist.10 Mit gleichem Recht ist es des Weiteren möglich, die Anschauung und alles, was mit ihr zusammenhängt, als Ableitung aus der Einheit des Verstandes zu begreifen. Wenn allerdings die Anschauung „im anschaulichen System“ der Logik als Grundlage dient und „im logischen System“ wiederum die Logik
10 | Diese Ausdrucksweise ist freilich nicht unproblematisch, denn wie sollte es jenseits von Verstand und Anschauung möglich sein, eine Aussage zu machen? Um die anvisierte Thematik der Konjunktion nicht aus dem Blick zu verlieren, folgt an dieser Stelle keine Vertiefung dieser Frage. Im Blick zu behalten ist sie dennoch, insofern ‚jenseits‘ mitunter auch den Raum meint, der zwischen den Gliedern einer Relation liegt. In dieser speziellen Hinsicht wird auf die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit, im Bezug auf Verstand und Anschauung von Gleichursprünglichkeit zu sprechen, zurückzukommen sein.
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der Anschauung die Basis gibt (20f), heißt das für die Beschaffenheit der Wechselseitigkeit, dass ihre Wechselwirkungen zwar beidseitig ausgerichtet sind, aber nicht auf gleiche Weise bzw. in gleicher Form vonstatten gehen. Auch wenn sich der Bezug auf die jeweilige Gegengröße als notwendig erweist, ist und bleibt es darüber möglich, Vorrangstellungen zu behaupten. Erst bei näherer Hinsicht zeigt sich, dass auch in diesen Fällen die Anteile, die jeder Strukturparameter seinem systematischen Gegenüber verdankt, von grundlegender Bedeutung sind: Ohne eine prinzipiell gleichberechtigte Stellung und Wirksamkeit des Anderen werden – wie bereits referiert – Selbstwiderspruch oder Unbestimmtheit unumgänglich. Die Konjunktion und – um auf den Ausgangspunkt zurückzukommen – rückt bei Gloy also deshalb in den Fokus, weil sich in der Untersuchung von Einheit und Mannigfaltigkeit im Einzelnen abzeichnet, dass die Beziehung zwischen beiden Größen von nicht minder fundamentaler Natur ist wie die Größen selbst. Gloy nähert sich dieser Frage mit den Ausdrücken der Reziprozität und der Gleichursprünglichkeit. Ihre einfachste Umsetzung finden beide Beziehungsmomente indessen in jenem und, das fortlaufend zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit wiederkehrt. Wenn sich erhärten sollte, dass die Gegebenheit von Beziehung bis in Ursprünglichkeit hineinreicht, wäre die einfache Praxis des und nicht minder komplex. So macht es sich Karen Gloy zur Aufgabe, an und vermittels der kleinen Konjunktion nicht nur jene Fälle zu erproben, die der Konjunktion eine Asymmetrie auferlegen (und dann, und in der Folge, und erst später), sondern auch und gerade die Möglichkeit zu untersuchen, das und zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit als und zugleich aufzufassen. Das und schickt sich an, einen paradigmatischen Dreh-, wenn nicht gar einen Angelpunkt zu verkörpern.
5. Das und zwischen Vermittlungs- und Ursprungsprinzip (Gloy) | 217
Schaubild 5.1: Logisches und anschauliches Kategoriensystem nach Karen Gloy quantitativ: Einzahl und Vielzahl
qualitativ:
Identität und Differenz
Einheit und Mannigfaltigkeit ````
Grund und Folge, Ursache und HH `` relational: Wirkung, Substanz und Akzidens H HH epistemisch: Generalisation und Spezifikation
H
Strukturfrage quantitativ: Unendlichkeit und Endlichkeit
@
qualitativ:
@ @
Homogenität und Heterogenität
Ausdehnung und Begrenzung ````
HH
`` relational: HH HH
epistemisch:
Kontinuität und Diskontinuität Anschauung und Gestaltwahrnehmung
Quelle: Eigene Darstellung (II) Die Analyse des und Der erste Teil der hiesigen Auseinandersetzung mit Karen Gloys „Strukturanalyse des ‚und‘“ rekapitulierte die wichtigsten argumentativen Stationen, die die Konjunktion allererst in das Blickfeld treten lassen. Demnach halten weder Einheits- noch Mannigfaltigkeitsbegriff mit eigenen Mitteln der Auffassung stand, eine konsistente Allein- oder Vorrangstellung zu behaupten; beide Begriffe bleiben in diesem Versuch vielmehr auf ihre jeweilige Gegengröße angewiesen und also von ihr abhängig. Gloy kommt wiederholt auf den Terminus der Wechselseitigkeit zurück, um auf die resultierende Lage nicht allein negativ zu schließen, sondern sie auch positiv zu charakterisieren. Im Rahmen eines Exkurses zum Verhältnis von Figur und Grund fügt sie dem Prädikat des Reziproken folgende Anmerkung bei: „Damit ist nicht der Selbstverständlichkeit Ausdruck verliehen, dass sich in jedem Verhältnis Zwei zueinander verhalten, vielmehr soll auf die gestalthafte Bindung von Figur und Grund hingewiesen werden, die es ausschließt, dass das Eine zum Anderen nur additiv hinzutritt.“ (254, Anm. 109)
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Reziprozität zielt neben der Fügung von mindestens zwei Elementen gesondert auf ein Moment der Verbindung selbst ab. Zwischen den zur Disposition stehenden Gliedern ereignet sich Gloy zufolge mehr als nur eine Bezugnahme. Ihre Formulierung legt es darüber nahe, dieses Mehr an Beziehung nicht allein quantitativ aufzufassen. Wenn das Hin und Her zwischen den Bezugspunkten eines Verhältnisses nicht auf eine einzelne Bewegung reduzierbar ist, sondern eher wie eine Berührung geschieht, die stets beidseitig stattfindet, ändert sich das Geschehen von vornherein auch in qualitativer Hinsicht. Entsprechend stehen sich in dem Hinweis von Gloy nicht allein die Verfahren von Konjunktion und Addition gegenüber, sondern genauer noch deren Trennung und Verbindung: In einer „gestalthaften Bindung“ verlaufen differenzierende und synthetisierende Prozesse parallel nebeneinander, während eine bloße Addition Synthesis allein in der Folge, nicht aber im Grund ansetzen zu können glaubt. Im einen Fall ist die Verbindung groß genug, um gegenläufige Tendenzen gleichzeitig in sich zu fassen, im anderen Fall behauptet sie als Reihenfolge ihre Ausschließlichkeit. Welche Rolle das und als Parameter innerhalb solcher Verknüpfungsmodi spielt, daraufhin gilt es die Gloysche Untersuchung im Folgenden näher zu befragen. Die Analyse des und steht bei Karen Gloy unter dem Vorzeichen der Struktur. Diese Bestimmung rekurriert auf eine Trennung von Form und Inhalt: Unter dem Vorzeichen der Struktur sind für sie „ausschließlich formale Unterschiede“ von Relevanz (7). Während sich die Semantik primär an den Relata einer Verknüpfung festmacht, wie sie sich ihnen gegebenenfalls auch einzeln annimmt, liegt bei einer Relation der Form nach ein Gebilde aus mindestens drei Bestandteilen vor, den Relata und einem Verknüpfungselement. An die formale Perspektive wendet sich schließlich der Strukturbegriff, indem er den Anspruch erhebt, einem Zusammenhang zu gelten, der sich durch alle formalen Unterschiede hindurch gleich bleibt. Dadurch wird im Kompositum der Strukturanalyse die formale Konstanz zur integralen Eigenschaft des Untersuchungsgegenstands erhoben. Ein gegenläufiges Moment, wie es ähnlich auch zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit besteht, trägt die Strukturanalyse allerdings bereits im Namen: Während die Struktur demnach einer synthetischen Logik verpflichtet ist – structum lautet das zweite Partizip des lateinischen Verbums struere = aufbauen, aneinanderfügen –, weist die Analyse genau in die entgegengesetzte Richtung, indem sie zergliedert, was ihr zum Objekt wird – griechisch analýein = auflösen. Durch die gemeinsame Referenz auf die Thematik des Verknüpfens sieht sich Gloy dazu veranlasst, die Fügung von Struktur und Analyse eigens zu hinterfragen: „Verknüpft werden kann nur, was ursprünglich getrennt ist und diesen Status, zumindest als gedanklich Trennbares, auch noch in und trotz der Verknüpfung behält. Synthesis s e t z t daher nicht allein Analysis v o r a u s, sondern i s t auch eine solche, wie umgekehrt Analysis nicht
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nur Synthesis v o r a u s s e t z t, weil getrennt werden nur kann, was verbunden ist, sondern selbst auch eine solche i s t, da Getrennthalten nur stattfindet bei gleichzeitigem gedanklichen Zusammenhalten.“ (7) Trennen und Verbinden bilden demnach nicht nur gegensätzliche Verfügungsfiguren, sondern treten auch als Relations- und sogar als Identifikationspartner auf. Gloy legt das Verhältnis beider Verfahren zuerst kausal aus. Die Konnexion stellt demzufolge eine Auswirkung dar, die in dem, was sie zusammenführt, ihre Ursache hat. Erst wenn etwas existiert, kann es mit anderem in Beziehung treten. Das Verbinden ist demnach auf das Vorhandensein einzelner Elemente, also deren Trennung angewiesen. Dieser Zusammenhang kann jedoch mit gleicher Plausibilität in umgekehrter Reihenfolge strukturiert werden: Wie sollte auch etwas beziehungslos existieren können? In dieser Richtung wird wiederum die Verknüpfung zur Bedingung dessen, was verknüpft wird. Die kausale Begründungslogik dreht sich im Kreis. Trennen und Verbinden nehmen abwechselnd die Rollen von Ursache und Wirkung ein. Daraus zieht Gloy den ontologischen Schluss, dass das eine Verfahren stets auch das andere ist. Ihre Worte sind präzise gesetzt: Sie behauptet nicht, dass Trennen und Verbinden identisch sind – Gloy sagt, sie sind es auch. In diesem adverbialen Zusatz teilt sich eine nicht zu vernachlässigende Implikation mit: Das auch räumt etwas ein, das sich neben dem bereits Genannten auf gleiche Relevanz berufen kann. Entsprechend – Gloy entfaltet es in extenso – ist die Relation, der das Adverb angehört, umkehrbar: Wie Synthesis auch Analysis ist, ist Analysis auch Synthesis. Je nach Ausgangspunkt erweitern sich die Gegebenheiten. Keiner Größe steht ein Anspruch auf alleinige Gültigkeit zu. Dergestalt haben die beiden Verfahrenstypen wechselseitig Anteil aneinander. Da sich Anteil und Ganzes unterscheiden, behalten Analysis und Synthesis ihre jeweilige Spezifik und sind nicht beliebig austauschbar. Aus demselben Grund bleibt es möglich und relevant, das Verhältnis von Trennen und Verbinden kausal zu begreifen. Die wechselseitige Teilhabe, die Analysis und Synthesis miteinander verschränkt, erübrigt es also nicht, über Ursachen und Wirkungen zu sprechen. Nicht die Kausalität als solche, sondern ihre Einseitigkeit, die Ausschließlichkeit in der Zuordnung ihrer Größen wird relativiert. Genaugenommen ist es der kausale Richtungssinn, der eine Modifikation erfährt: Ursache und Wirkung sind nicht mehr nur mono-direktional miteinander verbunden, wonach alles von einer Ursache ausginge und die Auswirkungen nichts zurückzumelden hätten. Unabhängig davon, ob Analysis oder Synthesis als Ursache angesetzt wird, wendet sich nun das Folgeglied an seinen Ausgangspunkt zurück. Es reklamiert, dass in gleicher Weise ihm zu verdanken ist, allererst zwischen Grund und Folge differenzieren zu können. Dieser Hinweis impliziert bereits eine alternative kausale Rollenverteilung. Die Zeitlichkeit eines Nacheinanders, die vor allem von den Ausdrücken Grund und Folge evoziert wird, weicht einem „gleichzeitig“,
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innerhalb dessen der Kausalität nicht mehr nur eine, sondern mehrere Möglichkeiten offenstehen, das Geschehen von Trennen und Verbinden zu ordnen. Beide, Analysis und Synthesis, kreisen um eine gemeinsame Mitte. In ihr haben die Konjunktionen ihren Ort, die als Scharniere, als notwendige Mittel der Reziprozität und Umkehrbarkeit fungieren. „Insofern Verbindung und Trennung sich wechselseitig fordern, drücken Konjunktionen generell ein Synthesis-Analysis-Verhältnis aus.“ (7) Mit diesem Satz kommt Karen Gloy nicht allein auf das und, sondern auf die Konjunktionen insgesamt zurück. Ihrem Namen nach erwecken diese den Eindruck, einem synthetisierenden Auftrag verpflichtet zu sein – coniungere = zusammenbinden. Wenn die Grammatik alternativ den Terminus der Füge- und Bindeworte anbietet, folgt sie der explizit auf Synthesis geeichten Ausrichtung. Angesichts dieser sich scheinbar selbst erklärenden Bezeichnungen zeigt Gloy auf, dass eine Verhältnis- und Zusammenhangsstruktur von den Konjunktionen nicht nur herbeigeführt wird, sondern auch in ihnen und ihrer Funktionalität selbst angelegt ist. Verbindung macht demnach nicht das Ganze der Konjunktionen aus, sie tragen auch eine trennende Komponente in sich. So naheliegend es wäre, diesen Anteil anhand der Physis von Konjunktionen aufzuzeigen, demzufolge sie – ob gesprochen oder geschrieben – einen Zwischenraum besetzen und dessen separierenden Effekt verkörpern, fokussiert Gloy auf die Logik des Verbindens, die sich ohne komplementäre Elemente gar nicht erst auszubilden vermag. Die Analysis stellt dabei keine notgedrungene, vorläufige oder nachrangige Ergänzung dar, sondern ein notwendig gleichrangiges Implikat: An ihr ist es, Synthesis zu bedingen, während sie selbst von dieser bedingt wird. Wie ist dann aber der unbestimmte Artikel zu verstehen, der die Konjunktionen nicht mit diesem, sondern einem Synthesis-Analysis-Verhältnis betraut? Offenbar ist die entfaltete Reziprozität nicht Grund genug, um das zugehörige Verhältnis als ein bestimmtes auszuweisen. Was räumt die formulierte Unbestimmtheit darüber hinaus ein? Mit den implizierten Optionen des unbestimmten Artikels zielt Gloy nicht auf die zahlreichen Rubriken, die die Grammatik für Konjunktionen bereithält. Diese Sparten – exemplarisch nennt sie „disjunktive, adversative, kausale, konditionale, instrumentale“ (7) – richten sich danach, wie die Relata im Einzelnen zueinander stehen respektive gestellt werden. Stattdessen bezieht sich Gloy auf die Unterscheidung zweier Klassen von Konjunktionen, die gemäß der einleitenden Differenzierung von Inhalt und Form respektive Struktur eher strukturellen Charakter besitzen: Die sogenannten koordinierenden Konjunktionen vermitteln ihre Relata demnach in der Weise zueinander, dass alle Verbindungsglieder eine hohe und untereinander vergleichbare Eigenständigkeit beibehalten, wohingegen die subordinierenden Konjunktionen darauf angelegt sind,
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ihre Bezugselemente einem verbindenden Aspekt einzugliedern und unterzuordnen. Im Fall der Koordination überwiegen die trennenden Aspekte einer Konjunktion, im Fall der Subordination die verbindenden (vgl. 7). Stets bleiben jedoch beide Verfahren – Trennung wie Verbindung – im konjunktionalen Geschehen miteinander verschränkt. Aus der Nicht-Isolierbarkeit eines einzelnen Moments leitet sich schließlich jenes Mehr an Optionen ab, das in der zitierten Formulierung berücksichtigt wird, wenn diese von einem Synthesis-Analysis-Verhältnis spricht. Nicht an, sondern zwischen den beiden Polen des reziproken Verweisungszusammenhangs von Synthesis und Analysis verortet Gloy das Spektrum der konjunktionalen Möglichkeiten. Präzisierung verspricht vor diesem Hintergrund weniger ein Ausloten der Grenzwerte, die aus logischen Gründen nicht zu Reinformen werden vordringen können, als vielmehr die Mitte zwischen ihnen, in der Synthesis und Analysis zueinander ausgewogen vorliegen. Diese Überlegung führt Gloy auf die Spezifik der Konjunktion und: Das und zeichne sich dadurch aus, dass in und mit ihm Koordination und Subordination parallel zur Anwendung kommen, ohne sich zu schmälern. Diese Verschränkung von Ausgewogenheit und Komplexität prädestiniert es, als Vertreter der Konjunktionen insgesamt gelten zu können. In der Konsequenz tritt die Ambivalenz von Trennen und Verbinden im Kontext des und besonders deutlich zu Tage. Gloy nennt es „Doppelnatur“, derzufolge sämtliche Konstellationen, die sich mittels der Konjunktion ausbilden, stets in zwei Richtungen zu lesen sind: a und b stellt mit gleicher Plausibilität eine lose Gruppierung wie einen straffen Zusammenhang dar (vgl. 8). Was hier eine mehr oder weniger temporäre Zusammenstellung ergibt, kann dort stringente Formation heißen. Einmal wird das und für seine großzügige und unkomplizierte Offenheit geschätzt, das andere Mal als kompaktes Bindemittel verbaut. Auf der einen Seite kommt es aus dem Lager der koordinierenden, auf der anderen Seite aus jenem der subordinierenden Konjunktionen. Bei beiden Auslegungen – Koordination wie Subordination – handelt es sich um Versuche, die zweiseitige Anlage der Konjunktion auf einen Nenner zu bringen. Dafür werden entweder trennende oder verbindende Aspekte hervorgehoben, was schließlich in der Qualifizierung des Zusammenhangs als lose oder straff – modallogisch formuliert: als kontingent oder notwendig – resultiert. Beide Herleitungen müssen sich gleichermaßen als Vereinseitigungen ansprechen lassen. Gloy sieht an dieser Stelle jedoch von einer Problematisierung der Einseitigkeit ab. Stattdessen fasst sie die Möglichkeit, Konjunktionen der Form a und b für lose oder fest zu halten, als allgemeine, also stets vorliegende Optionen auf. Dieses Vorgehen bedeutet keinen Rückschritt hinter die Reflexion auf die kausalen und ontologischen Zusammenhänge von Synthesis und Analysis. Vielmehr folgt es implizit jener Praxis, die unter dem Stichwort der Reziprozität bereits zur Sprache kam. Denn nicht weniger verkürzend wäre es, die
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Fälle eines ko- oder subordinativ verstandenen und im Namen der Reziprozität von vornherein auszuschließen. Wechselseitigkeit äußert sich darin, keinen einseitig gelagerten Fall herauszustellen und im Folgenden stärker zu berücksichtigen als andere, was impliziert, stets entsprechende Gegenfälle zu bedenken. Die reziproke Natur der Konjunktion äußert sich also auch darin, a-reziproke Auslegungen nicht aus-, sondern einzuschließen. Das und geht – nach welcher Deutung auch immer – mit einer Vielfalt einher, die sich nicht nur in ihren Relata, sondern auch in den Relationen selbst äußert. Im Bezug auf die spezifische Konjunktion von Einheit und Mannigfaltigkeit bestimmt diese doppelte formale Differenzierung von und zwischen Relata und Relationen die Gliederung der Gloyschen Untersuchung: Die Relata unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Anordnung, also Reihenfolge, die Relation hinsichtlich ihres Einsatzes, zu koordinieren oder zu subordinieren, also eher zu differenzieren oder zu vereinheitlichen. Allerdings scheint die Verknüpfung von Einheit und Mannigfaltigkeit einen Fall vorzustellen, der die Ausdifferenzierung zwischen Relata und Relation rückgängig macht: „Die Sonderung von Einheit und Mannigfaltigkeit ist selbst ein Fall von Mannigfaltigkeit, die Verbindung von Einheit und Mannigfaltigkeit selbst ein Fall von Einheit. Da beide Instanzen gleichursprüngliche Momente eines Beziehungsgefüges bilden, lässt sich die Schwierigkeit nur dadurch beheben, dass Trennung und Verbindung von beiden aus in Angriff genommen werden.“ (8) Die Auslegungsweisen des und, das zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit steht, führen je auf eines der beiden Relata zurück. Im Rahmen dieser Bewegung bezieht sich die jeweilige Größe jedoch nicht nur auf sich selbst, vielmehr erhebt sie den Anspruch, das Ganze der Relation in den Bezug mit aufzunehmen und sein gesamtes Gepräge zu charakterisieren. Die relationierenden Funktionsweisen von Analysis und Synthesis scheinen darüber ihre Eigenständigkeit einzubüßen.11 Diese Beobachtung legt es nahe, die Relation der beiden „Grundformen“, wie Gloy sie nennt, weniger als Miteinander denn als Alternative aufzufassen: Wenn nicht Einheit das Verhältnis auszeichnet, dann herrscht Mannigfaltigkeit; und umgekehrt, wenn nicht Mannigfaltigkeit die Beziehung prägt, muss es sich dabei um eine Einheit handeln. Die Kon-
11 | Gloy weist nicht eigens darauf hin, dass dieses Problem bereits in der Formulierung von Analysis und Synthesis vorliegt. Bereits dieser Ausdruck enthält ein und, das Relata zusammenführt, die das unmittelbare Funktionieren der Konjunktion selbst betreffen. Operative und reflexive Konnotationen scheinen in Konflikt zu geraten.
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junktion wird in dieser Lesart zum Anzeiger eines Scheidewegs. Anstelle von und könnte auch oder stehen – entweder Einheit oder Mannigfaltigkeit. Jedoch behält Gloy die zirkuläre Kausalität zwischen Analysis und Synthesis im Blick, die sie an dieser Stelle auf Einheit und Mannigfaltigkeit überträgt. Beide können jeweils mit gleicher Plausibilität nicht nur als Resultat, sondern auch als Ursprung des gemeinsamen Zusammenhangs angenommen werden. Dieser Aspekt relativiert den Ansatz, die Konjunktion von Einheit und Mannigfaltigkeit allein im Sinne eines entweder-oder auszulegen: So notgedrungen die Relation mit einem Relatum zu beginnen hat sowie – im Falle von Einheit und Mannigfaltigkeit – gemäß einem Relatum sein gesamtstrukturelles Gepräge erhält, so notwendig bleibt die Option bestehen, die Deutung des Zusammenhangs in umgedrehter Reihenfolge und unter entgegengesetztem strukturellen Vorzeichen vorzunehmen. Das Angebot der anfänglichen Alternative besteht auch dann, wenn eine Entscheidung bereits getroffen wurde. Problematisch wird eine Auslegung folglich erst, sobald sie von sich Alternativlosigkeit behauptet. Entsprechend gilt es in der Untersuchung der Konjunktion, sämtliche Wege auch in umgekehrter Richtung zu gehen. Bereits die Begründung dieses Ansatzes befördert eine integrale Eigenschaft des und ans Licht: Dass sich die Konjunktion nicht gegen den Einsatz als Marker einer Alternative sperrt, zeugt nicht zwingend von einer Reduktion ihrer Verbindungsfunktion, sondern legt vielmehr Zeugnis ihrer funktionalen Weite sowie deren Vielschichtigkeit ab. Konkret: Wird eine Konjunktion mittels und als Alternative begriffen, besitzt diese Alternativstellung die Eigenart, sich nicht abschließend auflösen zu lassen; immer bleibt es mit gleicher Relevanz möglich, der anderen Option zu folgen. In der Konsequenz bedeutet dies auch für die Verknüpfung von Einheit und Mannigfaltigkeit, sich nicht auf einen einfachen Dualismus zu reduzieren, der ausschließlich die Entscheidung für eines seiner Glieder kennen würde. Stattdessen führt die Konjunktion in jede Entscheidung ihre eigene Ambivalenz zwischen Trennen und Verbinden mit ein. Wenn es etwa an der Einheit ist, die Richtschnur abzugeben, ist damit noch nicht gesagt, ob sie die Mannigfaltigkeit in sich einbegreift oder von sich weist. Auf diese Weise geht das und mit der Implikation einher, dass dem Resultat einer Verknüpfung unabhängig von ihren Relata eine Optionalität eigen ist, die auch dann besteht, wenn sich die Verbindungsglieder auf das Verfahren selbst beziehen. Die im und strukturell implizierte Mehrteiligkeit veranlasst Gloy dazu, die Konjunktion von Einheit und Mannigfaltigkeit in vier Fälle aufzugliedern. Auf die Ausgangsposition der Einheit kann folgen, dass Mannigfaltigkeit als Bestandteil oder als äußerer Widerpart jener Einheit begriffen wird; ausgehend von der Mannigfaltigkeit stehen analog die Optionen offen, Einheit ein- oder auszuschließen. Die Ausdifferenzierung dieser vier Varianten geht erst im Zuge der jeweiligen Verbindung vonstatten.
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Einheit und Mannigfaltigkeit stehen demnach in einem Beziehungsgefüge zueinander, das sich als solches nicht ohne Weiteres einem einzelnen Begriff – entweder der Einheit oder der Mannigfaltigkeit – zuordnen und eingliedern lässt. Darauf zielt auch die folgende Anmerkung Gloys, mit der sie dem potentiellen Einwand entgegnet, die beiden Fälle gegenseitigen Einschlusses von Einheit und Mannigfaltigkeit würden sich nicht hinreichend voneinander unterscheiden: Dadurch, „dass sich das Strukturganze niemals direkt, sondern immer nur indirekt im Ausgang von dem einen oder anderen Glied und im Übergang zu seinem Pendant in den Griff bringen lässt“, bestehe auch die Differenz zwischen den beiden Inklusionsfällen „nicht kontingenter-, sondern notwendigerweise“ (9). Dieses Argument geht von der Frage aus, wie das jeweilige Ineinander von Einheit und Mannigfaltigkeit begriffen werden kann. Ob die resultierende Gesamtlage einheitlich oder mannigfaltig verfasst ist – sie verdankt sich einer Genealogie, die nach Gloy zwingend aus mindestens zwei Phasen besteht: einer Ausgangsposition sowie der Verknüpfung, welche die Art des Anschlusses des entsprechenden Gegenstücks koordiniert. Diese zweigliedrige Struktur zeichne darüber hinaus nicht nur die Entstehung der Sachlage, sondern auch deren Rezeption aus. Die strukturtheoretische Diskussion erweitert sich darüber um eine erkenntnistheoretische Komponente.12 Da beide Perspektiven – die struktur- wie die erkenntnisspezifische – auf einen „indirekten“, also nicht unmittelbaren, sondern schrittweisen Zugang angewiesen sind, treffen sie sich in der Einsicht, dass sich eine Einheit, die Mannigfaltigkeit birgt, und eine Mannigfaltigkeit, die Einheit in sich trägt, mindestens so deutlich unterscheiden, wie es die jeweiligen Ausgangspunkte voneinander tun. Was die Rolle der Konjunktion im engeren Sinn anbelangt, handelt es sich in beiden herausgestellten Fällen um Auslegungsweisen des Einschlusses, also eine stärkere Betonung der verbindenden denn der separierenden Effekte. Das und leitet eine Fokussierung ins Innere der zuvor gesetzten Größe ein, die als Rahmen fungiert. Die Differenz zwischen der Rahmung durch Einheit und jener durch Mannigfaltigkeit macht sich formal entsprechend an der Reihenfolge fest, in der die Glieder um das und angeordnet sind. Die buchstäbliche Erstnennung gibt jedoch nicht zwingend einen höheren Grad an Komplexität oder eine weitere Erstreckung des begrifflichen Umfangs an. Auszeichnungen dieser Art können im Zwischenraum der Konjunktion zwar widerhallen, generieren muss sie allerdings der Kontext. Nichtsdestotrotz bringt
12 | Gloy weist an dieser Stelle auf eine Leitdifferenz ihrer Untersuchung voraus. Demnach korrespondieren die Strukturbegriffe von Einheit und Mannigfaltigkeit mit den epistemologischen Begriffspaaren von Ratio und Anschauung bzw. Rationalität und Phänomenalität. Vgl. dazu im hiesigen Zusammenhang bereits S. 215.
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Gloy an dieser Stelle nochmals deutlich zum Ausdruck, was sie darunter versteht, die Konjunktion nicht inhaltlich, sondern nach strukturellen Kriterien zu untersuchen. Die Eingliederung des Folgegliedes in das zuerst genannte Rahmenelement bestimmt sich nämlich nicht über die beiden Verbindungsglieder als solche, sondern über das Zusammenspiel von Ausgang und Übergang – „im Ausgang von dem einen oder anderen Glied und im Übergang zu seinem Pendant“. Das An-sich der Relata steht dabei gar nicht zur Debatte; es ist eine Konsequenz, die sich zuallerletzt ergibt. Insofern dieser Ansatz also nicht der Semantik zweier Einzelelemente gilt – das Anfangsglied ist variabel bzw. kontextbedingt, das Folgeglied ergibt sich daraus als „Pendant“ –, verschiebt sich der Fokus auf die Modalitäten ihrer Verbindung. Aus der Konstellation von Ausgangselement und Konjunktion leiten sich alle weiteren notwendigen Bestimmungen ab. Während innerhalb der vier referierten Möglichkeiten, Einheit und Mannigfaltigkeit aufeinander zu beziehen, stets ein und steht, vermittelt zwischen den jeweiligen Varianten ein entweder-oder: So heißt es bei Gloy, „dass zu dem Strukturgefüge aus Einheit und Mannigfaltigkeit nur ein alternativer Zugang besteht, entweder von Seiten der Einheit oder von Seiten der Mannigfaltigkeit“. Und auch wenn Gloy fortfährt, dass hinsichtlich der Übergangsoptionen von Ein- und Ausschluss „die durch ‚und‘ indizierte Alternative von Trennung und Verbindung berücksichtigt werden muss“, liegt die Betonung auf Alternative (8f). Die Fügungen resultieren in einem jeweiligen Ganzen. Das Ganze der jeweiligen Fügungen stellt jedoch nicht weniger eine Form dar, Einheit und Mannigfaltigkeit aufeinander zu beziehen und also das und, das sie zueinander vermittelt, auf eine weitere spezifische Weise auszulegen: „Trotz der notwendig einseitigen Ansätze hat man sich die Möglichkeit eines strukturellen Z u g l e i c h von Einheit und Mannigfaltigkeit prinzipiell offenzuhalten. Dieses Zugleich dürfte dann aber nicht mehr ‚Einheit‘ genannt werden ebensowenig wie ‚Mannigfaltigkeit‘ [. . .].“ (9) Während alle zuvor von Gloy explizierten Herangehensweisen an die Konjunktion von Einheit und Mannigfaltigkeit sich über die Entscheidung zwischen gegenseitigem Ein- oder Ausschluss der Größen ausbilden, stellt die Variante des Zugleich den Fall zur Diskussion, dass zwischen beiden Seiten des und Gleichberechtigung und Ausgewogenheit herrscht. Im Ausdruck dieser Lage klingen sowohl zeitliche als auch modale Konnotationen an: Einheit und Mannigfaltigkeit kommen zur selben Zeit und auf gleiche Weise zusammen. Allerdings – darauf weist Gloy umgehend hin – ereignet sich nicht allein ein Miteinander der disparaten Begriffsgewichte, sondern im gleichen Sinne auch ein Auseinanderstreben. Andernfalls wäre die Ausgewogenheit der Konstellation hinfällig und es gäbe erneut Ansatzpunkte, einer Flanke
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mehr Bedeutung beizumessen. Stattdessen gilt die Parallelstruktur des Zugleich mit der Konjunktion von Einheit und Mannigfaltigkeit in unmittelbarer Weise auch den operativen Komponenten des Trennens und Verbindens. Erstmals kommt die bereits erwogene Auszeichnung des und explizit zum Ausdruck, derzufolge die gegenstrebigen Funktionen von Konnexion und Differenzierung in ihm parallel bestehen, ohne sich dabei auszugleichen.13 Die simultane Gegebenheit von Einheit und Mannigfaltigkeit verortet Gloy in den Möglichkeitsraum des Prinzipiellen. Dass sie darauf folgend im Konjunktiv fortfährt, zeigt eine gewisse Vorsicht an. Bei dem angesprochenen Prinzip handelt es sich offenbar nicht um eine klare Vorschrift, sondern eher um die tastende Verlängerung bereits bestehender Aussagen. Gloy stellt sich vor allem die Frage, ob und – wenn ja – wie die gleichzeitige Vorhandenheit der beiden Grundstrukturen zu begreifen ist und also Gegenstand von Erfahrung werden kann. Das und verbindet im Fall von Einheit und Mannigfaltigkeit zwei Begriffe, die einander widersprechen. Der Ansatz, die Konjunktion als und zugleich auszulegen, muss sich folglich dem Verdacht erwehren, einer Unmöglichkeit, zumindest einer Unstimmigkeit Ausdruck zu verleihen. Diese Problemstellung geht primär von den beiden Relata aus. Insofern sie als jeweilige Gegenteile auftreten, drohen sie in der kompakten Zusammenstellung, die das und auf den Weg bringt, einen Widerspruch zu erzeugen. Dabei ruft die Frage nach der formalen Möglichkeit widersprüchlicher Aussagen ein so altes wie komplexes Problem auf.14 Im Bezug auf die Bildung von Konjunktionen liefert William von Ockhams Summa logicae ein kanonisches Beispiel. Im Anschluss an die Kriterien der Wahrheit und der Notwendigkeit kommt er explizit auf die Frage konjunktionaler Möglichkeit und Unmöglichkeit zu sprechen: „Sed ad hoc quod [copulativa] sit impossibilis non requiritur quod utraque pars sit impossibilis, nam haec est impossibilis ‚Sortes sedet et non sedet‘, et tamen utraque pars est possibilis; sed ad hoc quod copula-
13 | Vgl. dazu S. 221 im hiesigen Zusammenhang. Die Figur sich nicht ausgleichender Ausgewogenheit prägt daneben bereits die Überlegungen Gloys zur Kausalität zwischen Synthesis und Analysis, vgl. S. 219. 14 | Bertrand Russel führt das sogenannte Lügner-Paradox auf Epimenides zurück: „Epimenides the Cretan said that all Cretans were liars, and all other statements made by Cretans were certainly lies. Was this a lie? The simplest form of this contradiction is afforded by the man who says ‚I am lying‘; if he is lying, he is speaking the truth, and vice versa.“ (Bertrand Russell: Mathematical logic as based on the theory of types, in: American Journal of Mathematics 30 (1908), S. 222)
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tiva sit impossibilis requiritur quod altera pars sit impossibilis vel quod una sit incompossibilis alteri, [. . .].“ 15 „Damit diese [eine Verknüpfung] jedoch unmöglich ist, ist es nicht notwendig, dass beide ihrer Teile unmöglich sind. Denn folgendes ist unmöglich: ‚Sokrates sitzt und sitzt nicht‘, und trotzdem ist jeder Bestandteil für sich genommen möglich. Damit also eine solche Verknüpfung unmöglich ist, ist es notwendig, dass entweder eines der Relata unmöglich ist oder mit dem anderen nicht zusammenpasst, [. . .].“ Die Aussage „Sokrates sitzt und sitzt nicht“ kann ohne Weiteres ausgesprochen und notiert werden. Dass ihr in toto eine Referenz zukommt, ist Ockham zufolge jedoch ausgeschlossen. Eine Trennung von Sprach- und Sachebene nimmt er im gegebenen Fall gar nicht erst vor. Entsprechend setzt er ein enges Korrespondenzverhältnis zwischen Satz und Gegenstand voraus. Auf die Konjunktion zurückbezogen, lässt sein Befund – die attestierte Unmöglichkeit – darauf schließen, dem und im Sinne eines und zugleich zu gelten. Dieser Form der Konjunktion, die ihre Relata sowohl zeitlich als auch modal zu parallelisieren vermag, ordnet Ockham die Problemfälle zu, dass entweder eines der Relata unmöglich ist, oder beide nicht miteinander vereinbar sind. Nachdem kein Relatum der Beispielsentenz für sich betrachtet eine Unmöglichkeit darstellt, bleibt nur die Komplikation, die Ockham incompossibilitas nennt. Die Verbindungsglieder können demnach weder gleichzeitig noch auf gleiche Weise eintreten, da nicht zusammenpasst, was sie zum Ausdruck bringen. Das eine Prädikate verneint das andere; beide schließen sich gegenseitig aus. Eine alternative Option scheint nicht vorgesehen zu sein. Dementgegen rückt Gloy das simultane Auftreten von Einheit und Mannigfaltigkeit in den Horizont des Möglichen. Auch wenn sich in diesem Fall die Relata nicht explizit verneinen, können sie doch als Gegensätze gelten. Wenn etwas als Einheit bezeichnet wird, geht in der Regel damit einher, dass die betreffende Referenz Mannigfaltigkeit nur insofern enthält, als diese eingeschlossen und untergeordnet, oder ausgeschlossen und abgesondert wird. Umgekehrt gilt gemeinhin, dass etwas, das seiner Natur nach als mannigfaltig ausgewiesen wird, gerade nicht einem einheitlichen Aspekt unterstellt und eingegliedert werden kann, sondern Einheit allenfalls in sich aufnimmt. Da die Variante des Einschlusses allerdings von beiden Seiten aus besteht, ist es – trotz der Differenz dieser beiden Fälle – zu einer gleichrangigen Verkopplung von Einheit und Mannigfaltigkeit nicht mehr so fern, wie wenn sich beide Größen
15 | William Ockham: Summa logicae 2/3, hrsg. v. Philotheus Boehner, St. Bonaventure/NY 1954, Buch II, Kap. 32
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allein über gegenseitigen Ausschluss aufeinander beziehen würden. Gloy lässt derlei Erwägungen, die Auslegung des und zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit als und zugleich zu begründen, vorerst beiseite und fasst sich in einem vom Konjunktiv getragenen, hypothetischen Ton kurz. Demzufolge könnte sich eine gleichrangige Parallelstellung der beiden Strukturgrößen in einer „Totalerfahrung“ wiederfinden, einer „Art intellektueller Anschauung“, in der sich rationale und phänomenale Komponenten miteinander verschränken (9). Insofern dieses Miteinander weder vorrangig verbindend noch trennend fungiert, stellt die Lesart im Zeichen des Zugleich eine eigenständige Auslegungsweise dar. Auf dieser Basis kann Gloy sie „ganzheitlich“ nennen und als solche sowohl als Ausgangs- wie auch als Zielpunkt der anderen Varianten, Einheit und Mannigfaltigkeit aufeinander zu beziehen, ausgeben (9).16 Damit berücksichtigt sie im Relationsgefüge von Einheit und Mannigfaltigkeit auch jenen Fall, der die reziproke Anlage des und nicht nur formal, sondern auch inhaltlich gelten lässt. Tertium datur: Neben bzw. zwischen dem, was in Beziehung steht, ist etwas Drittes gegeben. Dieses Dritte zeichnet sich allerdings weniger durch die Eigenständigkeit seiner selbst, als vielmehr durch jene seiner Relata aus, die dank ihm gleichzeitig und in gleichem Maße zur Geltung kommen können. Diese Ausführungen beenden die explizite Auseinandersetzung mit dem und bei Gloy. Implizit setzt sich die Thematik der Konjunktion im engeren Sinne allerdings fort. Vor allem der letzte Fall der geschilderten Varianten, Einheit und Mannigfaltigkeit aufeinander zu beziehen, verspricht bezüglich einer Logik des Verknüpfens, wie sie dem Füge- und Bindewort eingeschrieben ist, weiterzuführen. Denn allein in ihm, dem Fall des Zugleich, wird die Konjunktion nicht von der einseitigen Gewichtung zugunsten eines Relatums überformt.17 Erste Hinweise auf die weiterführende Ausdifferenzierung der und-Konnexion gibt Gloy noch im Rahmen der Einleitung. Indem sie vorwegnimmt, dass alle Varianten der Konjunktion von Einheit und Mannigfaltigkeit, die auf gegenseitigen Einoder Ausschluss der Größen setzen, in unüberwindbare Schwierigkeiten geraten, so-
16 | Am Rande ist zu vermerken, dass die Setzung von „Ausgang und Ziel“ keine eindeutige Verortung gegenüber den übrigen Fällen bedeutet. In dieser Doppelstellung schreibt sich die Ambivalenz des und zugleich fort. Die Konjunktion von Einheit und Mannigfaltigkeit wird nicht auf einen Nenner gebracht, sondern mittels einer weiteren Konjunktion charakterisiert. 17 | Dennoch ist nicht zu vergessen, dass auch die anderen Konstellationen, die Fälle der Übercodierung, etwas über das und aussagen, wenn sie die Konjunktion anführen und enthalten und es dennoch möglich ist, einen Ein- oder Ausschluss zu generieren. Diesbezüglich gilt es nicht minder nach weiteren Voraussetzungen und Konsequenzen Ausschau zu halten.
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bald sie sich als Lösung des Beziehungsganzen präsentieren, eröffnet Gloy die Perspektive einer „Pluralität gleichberechtigter Interpretationen“. Dem korrespondiere eine „Einsicht in die Vollständigkeit der Disjunktionen“, die bewusst macht, dass es sich bei den entsprechenden Auslegungen nicht um Generalschlüssel, sondern um jeweils spezifische Lesarten handelt (beide 10). Die verschiedenen Herangehensweisen haben jedoch mehr miteinander zu tun, als sie je für sich explizit machen. An das Stichwort ihrer Reziprozität knüpft sich nicht allein ein Neben-, sondern auch ein Miteinander: Über das Verhältnis von Analysis und Synthesis stehen sich die konjunktionalen Varianten nicht nur vis-à-vis, sondern finden sich auch in einem wechselseitigen Kausalzusammenhang wieder, denn diese ihre Mittel bedürfen einander gegenseitig als Grundlage. Soweit erfährt bereits Bedachtes eine wiederholende Zusammenfassung. Neu schlägt Gloy dagegen den Terminus der „zweigliedrigen Einheit“ vor, um den fünften Fall, das Zugleich von Einheit und Mannigfaltigkeit, näher zu charakterisieren (10). Offen räumt diese Bezeichnung die Widersprüchlichkeit des zugehörigen Ansatzes ein. Gemeinhin deutet der Name der Einheit auf etwas hin, das in sich eins und nicht zwei- oder mehrgliedrig ist. Allerdings könnte die Figur einer in sich gespaltenen Unität darauf abzielen, dass Unverbundenheit letztlich auch als eine Form der Verbindung angesehen werden kann. Dem würde etwa der Fall entsprechen, dass eine Mannigfaltigkeit, die sich in all ihren Teilen gegen Strukturmomente der Einheit durchzusetzen weiß, gerade darüber zu einer Einheit würde.18 Anstelle dieser begriffslogischen Überlegungen führt Gloy ein weiteres Motiv ein, um die innere Verfasstheit jener zweiteiligen Einheit präziser zu beschreiben: die Bewegung. Diese gilt ihr als „Übergang von einem Moment zum anderen“ (10). Insofern die Betonung dabei auf Übergang liegt, verspricht Bewegung eine explizi-
18 | Selbiges lässt sich umgedreht auch für eine Einheit zeigen, die sich in jeder Hinsicht gegen Bestrebungen des Mannigfaltigen behauptet. Mit eben dieser Konsequenz hat sie sich nämlich nicht weniger an die Bezeichnung und Mitteilung ihrer selbst zu wenden. Sobald die Vereinheitlichung an sich selbst rührt, bleibt kein Grund mehr bestehen, in ihrem Resultat eher eine Einheit denn eine Mannigfaltigkeit zu sehen. Karen Gloy differenziert diese Problematik im Ausgang von Platons Parmenides noch feiner: „Hatte der erste Argumentationsgang aufgrund einer Verabsolutierung des für sich genommenen Einen zu dem Ergebnis geführt, dass das Eine unter dieser Voraussetzung weder eines noch vieles, weder identisch noch verschieden, weder früher noch später noch gleichzeitig, weder seiend noch erkennbar ist, so hatte der zweite aufgrund einer Verabsolutierung des relativen, auf das Sein bezogenen Einen das gegenteilige Ergebnis gezeitigt, nämlich dass in diesem Fall das Eine sowohl eins wie vieles, sowohl identisch wie verschieden, sowohl früher wie später wie gleichzeitig, sowohl seiend wie erkennbar ist.“ (75)
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te Prozessgröße darzustellen. Damit würde sich der Zwischenraum wieder öffnen, der mit dem kompakten, quantitativ konnotierten Ausdruck der zweigliedrigen Einheit auf die bloße Lücke zwischen Adjektiv und Substantiv reduziert zu sein scheint. Der Anschein einer schlicht quantitativen Paradoxie erhält die Chance einer Revision. Entsprechend kommt Gloy umgehend auf den Status und die Anlage der gegebenen Widersprüchlichkeit zu sprechen. Ihr zufolge könne Bewegung nicht nur als eingeschlossene Komplikation, sondern „als paradoxieloses Interpretament“ gelten. Zur Begründung führt sie vorerst nur kurz aus, dass die Bewegung „selbst das Paradox ausmacht“ (10). Nicht ohne Kühnheit stellt Gloy für das Austragen des Widerspruchs nicht die Aporie, die Ausweglosigkeit in Aussicht, sondern eine differenzierbare und in sich schlüssige Auslegungsweise. Sie wird sich daran zu bemessen haben, inwieweit sie über das Eingeständnis der offensichtlichen Gegebenheit eines Oxymorons hinausgeht.19 Diesbezüglich kann das und, nachdem es bei der Reformulierung des Problems von Einheit und Mannigfaltigkeit als zweigliedrige Einheit seine explizite Stellung einbüßt, zum Ausgangspunkt einer kritischen Befragung der umgeformten Terminologie werden. Denn muss nicht gerade deshalb die Bewegung als zusätzliche Erläuterung herangezogen werden, weil die zweigliedrige Einheit an jenem Resonanzraum nicht mehr teilhat, den die Konjunktion eröffnet? Außerdem trägt das Prädikat der Zweigliedrigkeit dem Terminus der Einheit eine quantitative Tendenz ein, die die berechenbare Stellung und Verfasstheit der Verbindungsglieder vor die Qualitäten und Modi ihrer Beziehung treten lässt. Die Relation droht in eine einseitige Abhängigkeit von den Relata zu geraten. Weiß die Ergänzung durch das Motiv der Bewegung die quantitative Konnotation des Ausdrucks der zweigliedrigen Einheit angemessen auszugleichen? Wie also steht das ausgewiesene Moment des Übergangs zu der zweiteiligen Unität? Wird es von dieser umschlossen oder vermag es, auch auf Weiteres überzugehen? Meint der Gloysche Ausdruck „zweigliedrig“ entsprechend eine einfache oder eine potentiell vielfache Differenzierung? Nicht zuletzt muss sich Gloy die Frage gefallen lassen, wie sich die zweigliedrige Einheit zu einer eingliedrigen Man-
19 | Die Gloysche These besagt soweit, dass sich Bewegung in die widersprüchliche Konstellation von Einheit und Mannigfaltigkeit deshalb in besonderer Weise einfüge, weil sie bereits an sich selbst von widersprüchlicher Natur ist. Diese Aussage bedarf einer tieferen Begründung, zumal der Verdacht besteht, dass die Überblendung eines Widerspruchs mit einem zweiten den Zweifel am ursprünglichen Widerspruch alleine kaum zu entkräften wissen wird. Denn welches Kriterium sollte, nachdem der Satz vom Widerspruch ausgesetzt wird, verhindern, dass alle weiteren Ableitungen nicht zur Gänze beliebig sind, wie es der logische Grundsatz ex contradictione sequitur quodlibet besagt?
5. Das und zwischen Vermittlungs- und Ursprungsprinzip (Gloy) | 231
nigfaltigkeit verhält. Würde sich der Fall einer eingliedrigen Mannigfaltigkeit analog oder disparat verhalten? Speziell im Hinblick auf die Konjunktion zeichnet sich mit diesen Fragen Zweierlei ab: Auf der einen Seite tritt das und auf, um scheinbar Unvereinbares zusammenzuführen und den widerstreitenden Momenten Raum zu geben, sich zu begegnen und miteinander wechselzuwirken. Soweit dient die Konjunktion als Vermittlungsprinzip. Auf der anderen Seite wirft das und in unnachgiebiger Weise die Frage nach weiteren Zusammenhängen auf: Wird es – wie im Fall der zweigliedrigen Einheit – durch einen Begriff ausgesondert, kann es zu einem Mittel werden, jenen Begriff zu befragen: Eine zweigliedrige Einheit und? Nahe liegen an dieser Stelle die Anschlüsse einer vielgliedrigen Einheit oder einer eingliedrigen Mannigfaltigkeit. Handelt es sich dabei um Reformulierungen oder Erweiterungen? Fungiert die Konjunktion rekursiv, kumulativ oder adversativ? In der Konsequenz eignet sich die Konjunktion trefflich, um für eine Strukturlogik einzutreten, derzufolge kein Element je für sich alleine Bestand reklamieren kann. Erst vermittels der Beziehung zu Anderem kann etwas Bestimmung erhalten und so zu dem werden, was es je schon zu sein vorgibt. Die Konjunktion mischt sich zum Zweiten also als Vertreterin eines Erweiterungs- bzw. Ursprungsprinzips ein. Nach diesen beiden Funktionsweisen – zuerst dem Vermittlungs-, dann dem Erweiterungs- respektive Ursprungsprinzip – gliedert sich im hiesigen Zusammenhang das weitere Vorgehen.20 (II.I) Das und als Vermittlungsprinzip Zwei Besonderheiten kamen soweit zur Sprache, die die Verknüpfung mittels und auszeichnen. Zum einen ist die Art und Weise, in der die Konjunktion Analysis und Synthesis in sich zusammenführt und in ihr Umfeld einbringt, von besonderer Ausgewogenheit. Wie sie eine Zäsur verkörpert, die verhindert, dass aus einem Nachund Nebeneinander ein unmittelbarer Kontakt und aus zwei Worten ein Kompositum wird, überbrückt sie eben jene Spanne, ohne dass gesonderte Widerstände zu überwinden wären. Eher gilt das Gegenteil, insofern das und – einmal gesetzt – vorantreibt, selbst wenn noch nicht abschließend klar ist, wohin die Reise geht. Dieses inzen-
20 | Diese Einteilung weist eine strukturelle Ähnlichkeit zu den abschließenden Punkten aus Mirjam Schaubs Aufsatz Das Wörtchen ‚und‘ auf. Darin unterscheidet Schaub mit Blick auf die Konjunktion zwischen deren „Produktivität“ und ihrer „Distributivität“. Wie weit die Gemeinsamkeiten reichen und welche Unterschiede sich etwaig einstellen, bleibt abzusehen. Vgl. Mirjam Schaub: Das Wörtchen ‚und‘, a.a.O., S. 248f; sowie im hiesigen Zusammenhang „Das und als philosophische Methode“ S. 54f.
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tive Moment führt auf die zweite Besonderheit. Denn die Verknüpfungsfreude der Konjunktion macht nicht davor Halt, auch solche Elemente zusammenzubringen, deren Konnex unpassend oder gar unmöglich erscheint, wie im Ockhamschen Beispiel, demzufolge Sokrates sitzt und nicht sitzt. Es stellt sich die Frage, ob der formalen Möglichkeit, einander widersprechende Glieder zu verknüpfen, eine inhaltliche Referenz und also Gültigkeit zukommt. Karen Gloy stimmt dem vorsichtig, aber unmissverständlich zu, indem sie die Frage dahingehend verlängert, neben der inhaltlichen Spezifik solcher Verbindungen gesondert deren Beziehung zum Erkenntnisvermögen zu bedenken. Damit nochmals zur Besonderheit des vorliegenden Falls, der Konjunktion von Einheit und Mannigfaltigkeit. Die Art und Weise, in der beide Relata einander gegenüberstehen, ist nicht einfach, sondern komplex verfasst. Beide Termini benennen zwar strukturelle Grenzwerte, demzufolge kein Grund zur Annahme einer noch einheitlicheren Einheit oder einer mannigfaltigeren Mannigfaltigkeit besteht; doch gilt nicht zwingend, dass die Negation des einen Grenzwertes die Position des anderen zur Konsequenz hat. Wie bereits ausgeführt, können sich Einheit und Mannigfaltigkeit gegenseitig nicht nur aus-, sondern auch einschließen. Entsprechend kann die Differenz zwischen beiden, nach einer begrifflichen Unterscheidung von Gloy, sowohl durch eine Kontrarietät, das heißt „Setzung des bestimmten Gegensatzes“ (A und nicht-A), als auch durch Kontradiktion, das heißt „Setzung des unbestimmten [Gegensatzes], der restlichen, außer der negierten Bestimmung verbleibenden Sphäre“ (A und B) charakterisiert sein (34, Anm. 28). Auf der einen Seite geht es um das genaue Gegenteil (nicht-A), auf der anderen Seite um irgendetwas Anderes (B, wobei B 6= nicht-A). Letztere Option – nach Gloy die Kontradiktion – macht es möglich, auch den Fall zu berücksichtigen, demzufolge eines der beiden Relata das andere als etwas Anderes in sich einschließt. Die Abgrenzung der beiden Bezugselemente stellt dabei eine interne Differenzierung dar. Im Bezug auf die Möglichkeiten solcher Grenzziehungen spricht Gloy von einer „Sphäre“. Damit kommt zum Ausdruck, dass der Zusammenhang zwischen A und B nicht auf eine einzige Linie festgelegt ist, die vom einen zum anderen führt. So zeigt sich etwa an einer Einheit, die Mannigfaltigkeit in sich einschließt, dass sich stets eine neue Einheit zu bilden hat, die Einheit* aus Einheit und Mannigfaltigkeit bzw. die Einheit** aus Einheit* und Einheit und Mannigfaltigkeit und so fort. Die Konjunktion setzt einen endlosen Pro- bzw. Regress in Gang, je nachdem, ob sich die Rahmengröße in sich selbst vertieft oder fortlaufend ausweitet.21 Gloy
21 | In der Auseinandersetzung mit Platons Parmenides fasst Gloy diesen Aspekt allgemeiner, indem sie ihn nicht mehr auf den Einschluss eines Relatums durch das andere bezieht, sondern als Folge von grundlegender Relationalität aufzeigt: „Stellt das Eine ein relationales Gefüge
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betont, dass es sich unabhängig davon, wie das endlose Weiterstreben richtungsmäßig orientiert ist, um einen positiven Vorgang handelt. Die widerstreitenden Elemente heben sich dabei gegenseitig nicht auf: Was Ockham als unmöglich, da nicht zusammenpassend galt, kann Gloy zufolge den Prozess einer „permanenten Regeneration“ bergen (278). Damit stehen sich nunmehr drei Varianten der Vermittlung gegenüber, die anhand ihres Verhältnisses zur Zeit voneinander differieren. Die zuletzt genannte Form der Konjunktion lautete und so in infinitum (vgl. Fußnote 21). Sie richtet sich nicht an ein konkretes zweites Relatum, sondern bezieht sich auf ein rekursives Verfahren, das als bekannt vorausgesetzt werden kann und mit der Funktion fortlaufender Iteration betraut wird. Ob dieser Fortlauf mit einem Mal gegeben ist oder sich prozessual entwickelt, ist eine Frage, die die Unterscheidung der beiden anderen Vermittlungsmodi ins Spiel bringt. Auf der einen Seite käme das bereits angesprochene und zugleich zum Zug, dessen Artikulation zwar notgedrungen in der Zeit vonstatten geht, jedoch auf eine simultane Gegebenheit seiner Relata abzielt. Auf der anderen Seite könnte die endlose Reihe ihren Zusammenhalt auch aus einem und dann ableiten, das die Verbindungsglieder nicht gleichzeitig, sondern zeitlich gestaffelt und im Wechsel auftreten lässt. Diese letztere Verknüpfungsform nimmt in gewisser Weise eine Mittelstellung zwischen grenzenlos prozessualer und simultaner Konjunktion ein. Die Option, einander entgegengesetzte und sich ausschließende Terme zu verknüpfen, steht dem und dann nicht minder offen: „Die Zeit fungiert als Medium, Bestimmungen, die einander logisch widersprechen, durch ein Nacheinander, ein Früher und Später, auseinanderzuhalten und so miteinander in Bezug auf einen und denselben Gegenstand kompatibel zu machen.“ (76) Die Vermittlung besteht demnach in der Organisation einer Reihenfolge. Die formale Aufstellung der Konjunktion wird zur buchstäblichen Vorlage einander ablösender Einzelfälle. Während zwischen den Besetzungen der einzelnen Relata eine strenge zeitliche Separierung herrscht, die sämtliche Überschneidungen ausschließt, richten sich alle Kräfte der Verbindung an etwas Drittes, an das die Konjunktion als Ganze adressiert ist. Diese Form des Zusammenhangs birgt jedoch das Problem – das zeigen etwa die Fälle von Einheit und dann Mannigfaltigkeit bzw. Mannigfaltigkeit und dann
von der Art eines Ganzen aus Teilen dar, so gilt dies per definitionem auch für die Relata. Sind sie Bezogene einer Beziehung, ohne jemals aus dieser in ein reines Fürsichsein heraustreten zu können, so müssen sie selbst eine Beziehung aus Bezogenen sein und für ihre Bezogenen muss dasselbe gelten und so in infinitum [. . .].“ (54)
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Einheit –, dass mit den Relata auch deren Referenz – im gegebenen Fall das Strukturganze – in den Rhythmus der scharfen Abwandlungen mit einbezogen wird. Dadurch verlieren beide Größen, Einheit wie Mannigfaltigkeit, ihren Anspruch, im strengen Sinne Strukturgrößen darzustellen, insofern gilt, „dass die Struktur als dieselbe durch alle Ebenen hindurchgeht.“ (6) Als einzige Konstante bleibt das Vergehen der Zeit, die Zeitlichkeit übrig. An ihr machen sich letztlich alle und-dann-Relationen fest, die in der Konsequenz weniger durch Wechselseitigkeit denn durch schroffe Stellenwechsel charakterisiert sind. Die Reziprozität der Relata untereinander untersteht einer Linearität, durch die Wechselwirkungen eher unterdrückt als gefördert werden. Zwar können sich Bedeutungen mittels und dann aufschichten; ein gleichsinniges Wirken der Relata miteinander steht hinter der Bedeutung des je zuletzt genannten Gliedes jedoch stets zurück. Dadurch sind auch solche Strukturen ausgeschlossen, die sich auf Zeitlosigkeit, das heißt eine Unabhängigkeit von der Zeit stützen. Der Ansatz, mittels und dann über Gegensätze hinweg zu vermitteln, ist von diesen einschränkenden Bedingungen nicht zu lösen.22 Umso freier und wechselwirkungsfreudiger erscheint vor diesem Hintergrund die Vermittlung qua und zugleich. In Ergänzung zu Gloy dient es der Übersicht, vor der weiteren Vertiefung der Untersuchung die Besonderheiten des und zugleich kurz zu rekapitulieren. Diese Form, einander widersprechende Relata zu verknüpfen, setzt sich von den anderen beiden genannten Optionen ab. Demnach liegt dem und zugleich weder zwingend eine unendliche Iteration (und so in infinitum) noch eine eingleisige Zeitlichkeit zugrunde (und dann). Diese Einschränkungen stellen für das und zugleich Möglichkeiten, aber keine Bedingungen dar. Entsprechend kann das und zugleich sowohl temporal als auch modal aufgefasst werden: Im einen Fall intendiert die Konjunktion eine Gleichzeitigkeit seiner Relata (zugleich = gleichzeitig), im anderen Fall zielt sie auf eine gleiche Art und Weise, in der die Relata zusammengeführt werden (zugleich = in gleicher Weise). Die erste Option, die Simultaneität, eröffnet es, dass eine Verknüpfung auch nach verschiedenen Art und Weisen geschieht (nicht wie ein auf so getrimmtes und so weiter); die zweite Option, die Äqui-Modalität, erlaubt es, auch verschiedene Zeitlichkeiten, die Zeitlosigkeit eingeschlossen, in den Rahmen der Konjunktion mit einzubeziehen.23 Nach der kategorialen Differenzie-
22 | In ihrer Diskussion des und dann fokussiert Karen Gloy allein auf die Problematik, dass eine Teilhabe an der Zeit für alle Relata zur Voraussetzung erhoben wird. Die Taktung, als das Wie dieser Zeitlichkeit, wie auch die Reziprozität, die dagegen eine alternative, mehrsinnige Verfasstheit der Zeit impliziert, kommen dabei nicht eigens zur Sprache (vgl. 76). 23 | In welcher Zeit wollte man etwa die Konjunktion von Alles und Nichts plausibler unterbringen als in einer anderen?
5. Das und zwischen Vermittlungs- und Ursprungsprinzip (Gloy) | 235
rung bei Gloy stellt das und zugleich eine Form der Konjunktion dar, die anzeigt, dass sich ihre Relata auf einer Ebene begegnen – sei es bezüglich der Anzahl, der Beschaffenheit, des Ursprungs oder ihrer weiteren Orientierung. Für die weitere Klärung der gleichrangigen Zusammenführung der einander widersprechenden Relata von Einheit und Mannigfaltigkeit schlägt Karen Gloy das Motiv der Bewegung vor. Dabei handelt es sich nicht einfach um die Benennung des Vorgangs, dass auf ein Elemente via Konjunktion ein zweites, gegenteiliges folgt und dass deren inhaltliche Auffassung nicht mit einem Mal, sondern in einem Fortlauf geschieht. Vielmehr zielt der Terminus auf das Geschehen zwischen den Polen der Verbindung ab, die dortige Unruhe, welche entsteht, sobald sich die verknüpften Gegensätze nicht gegenseitig aufheben, sondern in einen andauernden Widerstreit verstrickt sind. Zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit tritt dieser Fall in Kraft, sobald eine der Strukturgrößen nicht nur als Bestandteil, sondern auch als Rahmen der Konjunktion zu fungieren trachtet. Je nach Ausgangspunkt erhält das Gefüge dadurch eine einseitige Gewichtung – die Einheit setzt vorrangig auf Verbindung, die Mannigfaltigkeit auf das Trennen. Die Konsequenzen fallen in beiden Fällen ähnlich aus und kamen bereits zur Sprache: Sowohl Einheit als auch Mannigfaltigkeit stoßen, sobald sie Anspruch auf einen Vorrang im Bezug auf das Strukturganze erheben, einen endlosen Pro- respektive Regress an.24 Gloy schlägt vor, in diesen Auswüchsen von Grenzenlosigkeit nicht nur unlösbare Probleme, sondern nicht minder ein Lösungspotential zu sehen. In beiden Fällen lasse sich unabhängig davon, ob sich der Widerspruch nach außen oder innen fortsetzt, auf ein „generatives Moment“ schließen, das dafür verantwortlich ist, einen finalen Abschluss aufzuschieben (279). Jene dynamische Komponente wisse stets neu anzusetzen und jedes vermeintlich abschließende Glied zum Relatum einer weiteren Relation zu machen. Wenn Gloy schließlich die Frage aufwirft, ob sich diese Bewegung als Vermittlungsprinzip begreifen lässt, geht es nicht zuletzt darum, das besagte antreibende Moment in den Kontext der Konjunktion von Einheit und zugleich Mannigfaltigkeit zu übertragen. Sollte dieser Transfer gelingen und sich als spezifisch erweisen, wäre der Nachweis erbracht, dass die gleichrangige Relation der beiden Strukturgrößen weder eine Unmöglichkeit darstellt noch ausschließlich Beliebigkeit birgt. Zur Prüfung dieser Übertragung und Verortung des Bewegungsmotivs in die gleichsinnige Beziehung von Einheit und Mannigfaltigkeit geht Gloy analog der kategorischen Ausdifferenzierung vor, die sie bereits gegenüber den anderen vier Fällen, Einheit und Mannigfaltigkeit aufeinander zu beziehen, anführte: Abschnitten, die der
24 | Vgl. S. 232, Fußnote 21 im hiesigen Zusammenhang.
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Logik bzw. dem Verstand gelten, stehen stets Abschnitte gegenüber, die der Anschauung gewidmet sind. In beiden Einstellungen differenziert sich das Feld anschließend weiter aus, je nachdem, ob es um Aspekte der Anzahl, des Zustandes, der Bedingtheit oder der Erkennbarkeit geht (vgl. die Darstellung S. 245). In allen Bereichen hat sich folglich eigens zu erweisen, ob – und wenn ja, wie – Bewegung als Vermittlungsprinzip gelten kann.25 Die Aufgliederung des Problems in die genannten Sparten impliziert darüber hinaus, dass die verschiedenen Perspektiven, Bewegung zu verstehen, getrennt voneinander zu behandeln sind, aber nichtsdestotrotz zusammengehören. Die Einführung und Gleichbehandlung des Bewegungsmotivs zielt damit nicht auf die Konvergenz bestimmter Fälle ab, derzufolge sich etwa die beiden Pro- bzw. Regressfälle – eine Einheit, die Mannigfaltigkeit einschließt, und eine Mannigfaltigkeit, die wiederum Einheit in sich einbegreift – stetig einander annähern würden. Der Kontext der Bewegung, das zur Diskussion stehende Zugleich, zeichnet sich vielmehr dadurch aus, im gleichen Sinne und also nicht minder eine Divergenz zwischen den
25 | Was die Rechtfertigung der kategorischen Aufgliederung an sich betrifft, schwankt Gloy auch im Kontext der Bewegungsdiskussion zwischen dem Eingeständnis von Kontingenz, demzufolge stets auch andere Rubrizierungen möglich wären (vgl. 286, Anm. 5), und dem Festhalten des Anspruchs, dass es sich bei der Bewegungskonzeption um ein „notwendiges und einziges Prinzip“ handle (279). Im Hintergrund steht dabei die Frage, wie sich das Vorhaben, Einheit und Mannigfaltigkeit gleichsinnig miteinander zu vermitteln, zu dem logischen Satz verhält, dass aus Widersprüchlichem Beliebiges folgt, ex contradictione sequitur quodlibet. Fügt sich das Bewegungsprinzip der logischen Weisung oder setzt es sich ihr entgegen?
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Strukturgrößen von Einheit und Mannigfaltigkeit auszutragen, wie auch immer diese verfasst sind.26 Um die Rolle des und im Kontext der Bewegungsdiskussion zu explizieren, ist es unerlässlich, die Betrachtung innerhalb der einzelnen Kategorien schrittweise zu rekapitulieren. Gloy beginnt mit der quantitativen Fassung. Unter diesem Vorzeichen leistet Bewegung die Vermittlung zweier räumlich getrennter Orte in einer bestimmten Zeit. Die Messgrößen von Ort und Zeit erlauben Rückschlüsse sowie Vorhersagen auf das kinetische Verhalten, die Ruhelage, Geschwindigkeit und Beschleunigung von Objekten. Dabei begegnen zwei systematische Schwierigkeiten: Auf der einen Seite erfährt die Bewegung als Raum-Zeit-Funktion zum Zwecke der Messung eine Zerlegung in eine bestimmte Anzahl von Punkten – prinzipiell in beliebig viele. Bei diesen Punkten handelt es sich allerdings definitionsgemäß um Ruhelagen, nicht um Bewegung. Es ist nicht ohne Weiteres klar, warum aus einer Ansammlung von Ruhepunkten eine Bewegung resultieren sollte. Eine ähnliche Schwierigkeit tut sich bezüglich des bewegten Objekts auf. Je schneller eine Bewegung vonstatten geht, desto schwieriger wird die Identifikation dessen, was sich in Bewegung befindet. Dass Gloy in diesem Zusammenhang auf den Phänomenbegriff zurückgreift, weist auf eine größere Nähe der Bewegung zum Erkenntnisvermögen der Anschauung denn zum Verstand hin:
26 | Über weite Strecken ihrer Untersuchung hält Gloy daran fest, dass Synthesis und Analysis im Falle eines strukturellen Zugleichs von Einheit und Mannigfaltigkeit auf gleiche Weise zur Anwendung kommen (mit explizitem Bezug auf das und vgl. zuletzt 243, Anm. 85). Unter Punkt 1 der „Anforderungen an das Vermittlungsprinzip“ extrapoliert sie dann allerdings aus dem Scheitern, die beiden Verfahren voneinander zu lösen oder zu hierarchisieren, deren „originäre Einheit“: „eine Verbindung, die in eins Trennung, und eine Trennung, die in eins Verbindung ist“ (279f ). Das differenzierende auch, das an früherer Stelle eine jeweilige Zusammengehörigkeit, aber nicht Identität von Analysis und Synthesis zum Ausdruck brachte, ist an dieser Stelle selbst implizit nicht mehr vorhanden (vgl. 7 sowie im hiesigen Zusammenhang S. 219). Aus welchem Grund sollte aus der Unmöglichkeit, die beiden Methoden gänzlich zu separieren oder in eine einseitige Abhängigkeit voneinander zu bringen, folgen, dass dieselben aus einem ursprünglichen Einssein resultierten? Zumal würde auf diese Weise erneut ein endloser Pro- bzw. Regress angestoßen werden: Damit aus einer Lage ursprünglichen Einsseins einander entgegengesetzte Verfahren entstehen können, bedarf es eines Grundes; dieser tritt mit dem Einssein in eine Beziehung, die die Einheit auflöst; aber zuvor bestanden Trennungsgrund und Einheit offenbar selbst in einer Einheit; für diese Einheit muss es wiederum einen Grund der Aufspaltung geben, und so fort.
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„Das reine Bewegungsphänomen [. . .] erschöpft sich in einem ‚Hinüber‘, dessen Wesen reines Expandieren ist, das jetzt hier und auch nicht mehr hier, sondern dort ist und die ganze Spanne zwischen hier und dort umfasst.“ (292) Die Mehrdeutigkeit von Einheit und Mannigfaltigkeit respektive von Ausdehnung und Begrenzung kehrt im Kontext der Ortsveränderung wieder. Sie kommt in den Wendungen „hier und auch nicht mehr hier“ sowie „hier und dort“ zum Ausdruck. Zum einen steht der Einheit des Bewegungsvollzugs die Mannigfaltigkeit von Raumund Zeitintervallen gegenüber, die in die Bewegung eingehen und sich stets erweitern lassen; zum anderen korrespondiert die Begrenzung der Bewegung durch jene Punkte, auf die sich deuten lässt und die wiedererkannt werden können – die Grenzfälle nennt Gloy „minima visibilia“ –, mit der potentiell unendlichen Ausdehnung der Grundlage, den Dimensionen von Raum und Zeit, in denen die Bewegung stattfindet. Kann in diesem Feld Vermittlung stattfinden? Gloy antwortet auf diese Frage, indem sie zuerst den „wechselseitigen Verweisungszusammenhang“ anführt, der zwischen den beiden Linien kategorischer Ausdifferenzierung bestehe: Die phänomenalen wie die ideellen Aspekte der Ortsveränderung seien sowohl in sich als auch untereinander irreduzibel verschränkt, um in Bewegung zu resultieren (300). Jene Verzweigungen, so die Antwort weiter, klären wiederum nicht nur ein bestimmtes Auftreten von Bewegung, letztere diene wiederum auch als Mittel des Zusammenhalts der einzelnen Aspekte. Mit diesem Rückschluss muss Gloy allerdings konzedieren, dass die Untersuchung der Ortsbewegung letztlich einer zirkulären Logik aufsitzt, derzufolge Bewegung nicht nur den Anlass der Frage, sondern auch den zentralen Bestandteil der Antwort darstellt. Das Gelingen einer Vermittlung wird dabei abermals vorausgesetzt, ohne dass das Funktionieren derselben näher einsichtig würde: „Zwar haben wir die Produkte des Grundes, die Glieder der Relation, nicht jedoch den Grund bzw. die Relation selbst.“ (301) Was Gloy nicht expliziert: In dem Hin und Her zwischen dem Überbegriff der Bewegung und den Subkategorien anschaulicher und logischer Ausrichtung, wie zwischen den Subkategorien selbst steht abermals das und. An ihm ist es zwar nicht, die Spezifik des Bewegungsablaufs aufzuschlüsseln und verfügbar zu machen, allerdings vermag es Bewegung offensichtlich zu praktizieren, indem es ihr in Wendungen wie „hier und auch nicht mehr hier“, sowie „hier und dort“ Ausdruck zu verleihen und damit in bestimmter Weise zu folgen weiß. Neben der Änderung des Ortes kann sich Bewegung gleichsam auch im Wechsel verschiedener Zustände äußern. Mag diese Form des Wandels auch an räumliche wie zeitliche Anhaltspunkte gebunden bleiben, es macht einen kategorischen Unterschied aus, nicht auf Fragen der Anzahl, sondern auf solche der Beschaffenheit zu achten. Dieser Perspektive geht es also um Qualitäten, um qualitative Zustände. Die zuge-
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hörige Referenzgröße des Zustandes ist allerdings abermals nicht unproblematisch: Je stärker etwas in Veränderung begriffen ist, desto schwieriger wird es, bestimmte Zustände zu isolieren. Ein ähnliches indirekt-proportionales Verhältnis der Geltungsbereiche von Bewegungsphänomen und Bewegungsdefinition begegnete bereits unter quantitativem Vorzeichen. Und wieder erweitert sich das Problem um die Frage, wie ein Träger der Bewegung zu identifizieren sei. Jegliche Rückschlüsse vom Auftritt eines Gegenstandes auf diesen selbst sehen sich von der Veränderung, dem zentralen Charakteristikum des Auftritts, fortlaufend relativiert. Karen Gloy schlussfolgert diesbezüglich erneut auf eine ambivalente Anlage des Geschehens, indem sie auf „den eigentlichen Wandel, der im Hinüber von Zustand zu Zustand besteht und ein Vergehen des einen und gleichzeitiges Entstehen des anderen ist“ hinweist. (303) Während auf der einen Seite die scharfen Konturen von Zuständen angeführt werden, entfalten sich auf der anderen Seite Prozesse des Wachstums und des Niedergangs. Insofern die Gleichzeitigkeit der transformierenden Abläufe in ein und demselben Zusammenhang spielt – so knüpft Gloy an die kategorische Ausdifferenzierung der Qualität an –, kann dieser als homogen bezeichnet werden. Als Inhomogenitäten treten dagegen die Grenzmarken auf, die Anzeige geben, von wo ab und bis wohin sich die Umwandlungen erstrecken. Wie geht nun aber der Übergang zwischen diesen beiden Qualitäten, zwischen den homogenen Veränderungen und den zäsurierenden Zustandsbestimmungen vonstatten? Und wie ist zwischen der Differenz von Zuständen und der Identität eines Bezugsgegenstandes zu vermitteln? Gloy führt erneut an, dass die kategorischen Unterscheidungen „wechselweise ineinandergreifen“; sowohl innerhalb der Bereiche von Anschauung und Verstand als auch zwischen ihnen herrsche deshalb „Entsprechung“ (309). Dennoch bleibt die Frage bestehen, was jenen Zusammenhängen den Zusammenhalt verleiht. Diese Schwierigkeit veranlasst Gloy, einen Schritt weiter zu gehen als noch unter quantitativem Vorzeichen, insofern sie nicht allein die Zirkularität offenlegt, die ein Rekurs auf das „Faktum ‚Veränderung‘“ als vermittelnde Instanz bedeutet, sondern den Grund jener Bewegung als Unverfügbarkeit auslegt: „Nur an seiner Wirkung ist er erkennbar, nicht in seinem Ansichsein.“ (310) Zwischen den erkennbaren Effekten steht allerdings abermals ein und: „und gleichzeitig“ heißt es im freigestellten Zitat. In Ergänzung zu Gloy ist diesbezüglich die Frage zu stellen, ob es sich beim und für sich genommen nicht weniger um eine Wirkung denn ein Wirkendes handelt. Mag die terminologische Abspaltung des substantivierten Partizips, die Differenzierung des Wirkenden von der Wirkung, seinerseits eine fragwürdige Wendung darstellen – das Partizip als Form zwischen Verb
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und Adjektiv kann als Zeichen auf eine andere Weise der Teilhabe an dem gelesen werden, was Gloy als Grund anspricht.27 Über Fragen der Zahl und Beschaffenheit hinaus betrachtet Karen Gloy das Motiv der Bewegung auch im Kontext der Relationalität. Dabei geht es um jene Form der Beziehung, in der der Aspekt der Bedingtheit den leitenden Parameter darstellt. Das Geschehen spielt folglich zwischen zwei Elementen, von denen eines die Voraussetzung des anderen ist. Die Problematik, dass der eigentlichen Bewegung mit der Festlegung von Zuständen begegnet wird – hier in der Besetzung von Ursache und Wirkung –, kehrt dabei wieder. Entsprechend stellt Gloy abermals eine indirekte Proportionalität fest, die zwischen der Wahrnehmung des Phänomens relationaler kinetischer Abläufe und ihrer rationalen Erfassung besteht. Daneben zeichnet sich eine zweite Schwierigkeit dahingehend ab, dass die Beziehung, die aus einer relationalen Bewegung hervorgeht, per definitionem einseitig orientiert ist: Das Verhältnis von Grund und Folge geht mit der Bekundung einer Abhängigkeit einher, der gemäß die Folge ihrem Grund wenn nicht etwas schuldet, so doch Grundlegendes zu verdanken hat. Diese Einbettung einseitiger Dependenz veranlasst Gloy dazu, die relationale Bewegungskomponente, das Werden, als „einsinnig orientierten Prozess“ aufzufassen (311).28 Anstelle dieser eingleisigen Ausrichtung problematisiert Gloy
27 | Ein Zusatz, der auf eine strukturelle Parallele der qualitativen Bewegungsdiskussion mit der von Gloy so genannten synthetischen Position des Parmenides-Dialogs von Platon hinweist, berührt die Frage, ob es sich beim vermittelnden Prinzip um eine gesonderte oder eine immanente Größe handelt. Laut Platon sei Veränderung „nicht ein Drittes“, sondern die gleichzeitige Gegebenheit unterschiedlicher Strukturmomente; wohingegen das ursprüngliche Vermittlungsprinzip nicht „ i n den Gegensätzen, sondern j e n s e i t s derselben“ liege (310). Demzufolge hängt es mit seiner Implizität zusammen, dass Veränderung als Modus von Bewegung keinen Anspruch auf den Status einer grundsätzlichen Vermittlungsfunktion erheben darf. Das letztgültige Vermittlungsprinzip stützt sich dagegen auf Exteriorität. An diesem Charakteristikum macht sich im Umkehrschluss fest, dass das ursächliche Verknüpfen als unverfügbar gilt. Dem ist vorsichtig, aber bestimmt entgegenzuhalten, dass ein scheinbar so simples Verknüpfungsmedium wie das und seinen Relata offensichtlich nicht minder äußerlich zu sein und zu bleiben vermag. Wie es dabei um seine Verfügbarkeit bestellt ist, wird noch zu diskutieren sein. 28 | Diese Ausrichtung, die eine offensichtliche Reduktion am Gedanken der Reziprozität betreibt – wie sollte eine Ursache ohne Wirkung Ursache sein können, also nicht auch von ihr abhängig sein? –, hat einen Vorläufer in Gloys Auseinandersetzung mit der Hegelschen Dialektik: „Der Grund, der Hegel zu seiner Wahl bestimmt haben dürfte [primär von einer ‚voraussetzungsfreien Setzung‘ auszugehen anstelle von einer Synthesis oder Antithese], liegt in dem Faktum einsinniger, irreversibler, temporaler Prozesse, wie sie sich z. B. in der Diskursivität des
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die rationale Konstruktion eines „Substrats des Werdens“, das mehr notgedrungen als phänomenal basiert den Raum zwischen dem Gewordenen und seinem Ursprung zu überbrücken hat (313). Neben dieser prinzipiell bereits bekannten Schwierigkeit weist Gloy gesondert darauf hin, dass einer der beiden abschließenden Pole des Werdens das Nicht-Sein ist, demzufolge ein potentielles Substrat an dieser Stelle auch der Möglichkeit nach gerade nicht mehr festzustellen wäre.29 Beide Problemstellungen, die Frage nach der prozessualen Natur des Werdens wie die nach einem konstanten Träger, bringen einmal mehr die Diskrepanz zwischen phänomenalem Bewegungsvollzug und der rationalen Angewiesenheit auf und Setzung von Anhaltspunkten zum Ausdruck. Im Kontext eines Abhängigkeitsverhältnisses, wie es zwischen Ursache und Wirkung herrscht, ergeht an die relationierende Bewegung über die vermittelnde Funktion hinaus die Aufgabe, dem zwischenliegenden Bereich ein entsprechendes Gefälle, eine Zu- oder Abnahme an Bestimmung zu geben. „Sowenig im allgemeinen die bloße Zusammenstellung von Relata schon eine Relation ergibt, sowenig ergibt im besonderen die Aneinanderreihung diskreter Zustände (Sein und Nicht-Sein) deren Zusammenhang.“ (316) Was die lose, kontingente Häufung von einem stichhaltigen, sich auf Notwendigkeit stützenden Konnex unterscheidet, liegt Gloy zufolge in ihrer Wandelbarkeit begründet: Kein Zwischenraum, der sich nicht weiter aufteilen, kein Grenzpunkt, der sich nicht fortlaufend aufschieben ließe. Beide, Teilbarkeit ebenso wie Ausweitung, referieren auf Kontinuität, eine Grundlage, der mittels Punkten bzw. Zuständen nicht beizukommen ist, da sie sich stets weiter erstreckt. Nichtsdestotrotz gehen mit dieser Erstreckung Formen von Diskontinuität einher, Grenzmarken, die verschoben, über-
Denkens oder in der Evolution der Natur finden und durch die Unüberholbarkeit des Anfangs ausgezeichnet sind.“ (142, Anm. 66) Problematisch erscheint dabei nicht allein die Reduktion von Linearität auf Monodirektivität, sondern nicht minder die Reduktion, die Linearität als solche bereits bedeutet. Woraus sollte sicher abzuleiten sein, dass alle Zwischensequenzen einer einzigen Richtung folgen und um nichts als die Bestimmung von Grenzwerten wüssten, wie Grund und Folge sie darstellen? 29 | Dabei rekurriert Gloy diesmal explizit auf Hegels Wissenschaft der Logik, in der das Werden als „Einheit des Seins und Nichts“ bestimmt wird. Gloy zitiert eine weitere, alternative Fassungen, die von einem „Übergang“ spricht, der sich „von Sein zu Nichts und umgekehrt“ erstrecke (312). Später räumt sie jedoch ein, dass sie die zuerst genannte Fassung als „Einheit des Seins und Nichts“ präferiere, da der Terminus des Übergangs in der anderen Version zu nah am Werden liege und also Gefahr laufe, mehr zu paraphrasieren denn zu definieren (vgl. 315).
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wunden und wiedererrichtet werden. Mit den Orientierungspunkten von Ursprung und Ziel liegen solche Begrenzungen vor. Um näher zu klären, was deren Vermittlung leistet und wie die beiden zugrundegelegten Strukturgrößen, Kontinuität und ihr Gegenteil, im Genaueren ineinander übergehen, greift Gloy nicht nur auf den wechselseitigen Verweis zurück, sondern erwägt eine Durchdringung, derzufolge „Diskontinuität die ganze Kontinuität durchzieht und Kontinuität in aller Diskontinuität präsent ist.“ (315) Während auf prinzipieller Ebene Ursache und Wirkung klar gesondert bleiben, praktizieren Kontinuität und Diskontinuität auf struktureller Ebene ein Höchstmaß an Reziprozität. Einmal mehr resultiert die Fokussierung auf die Vermittlung als solche in neuen Konstellationen, die abermaliger Vermittlung bedürfen bzw. diese voraussetzen. Gloy sieht in der bleibenden Differenz zwischen den phänomenalen und logischen Befunden zwei verschiedene Dimensionalitäten der Medialisierung gegeben: Einmal sei das Verknüpfende „im“ Prozess, das andere Mal „hinter“ den Zuständen aktiv (317). Wenn sie die sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten allerdings klar der logischen Sphäre zuordnet, indem sie – dem Schema von Träger und Akzidenzien folgend – zur Explikation von Werdensprozessen allein die Setzung eines Subjekts mit wandelnden Prädikatsnomen für möglich erklärt, scheint die Frage der Konjunktion zwischenzeitlich ganz aus dem Blick zu geraten (vgl. 316). Bereits angesichts des oben freigestellten Zitates, das die Verknüpfung von Sein und Nicht-Sein aufruft, deren Zusammenführung allerdings an externe Mittel delegiert, ist die Frage zu stellen, ob nicht gerade das kleine Wörtchen und jenen Dienst erweist, der andernfalls mittels der ringsum versammelten Begriffe fortlaufend aufgeschoben oder kompromissbehaftet substituiert werden muss. Gewiss wird es in der Verantwortung des näheren und ferneren Kontextes bleiben, das Wesen und die Bestimmung, das Wie einer Konjunktion zu spezifizieren; dass allerdings überhaupt eine Verknüpfung statthat und das heißt weder eine bloße Lücke klafft noch eine undifferenzierte Verschmelzung eintritt, kann die begriffsorientierte Kontextualisierung alleine offensichtlich nicht aufbringen, geschweige denn hinreichend klären. Bleibt zuletzt die epistemische Komponente von Bewegung als Vermittlungsprinzip zu beleuchten. Dabei steht die Realisierung von Übergängen „im und als Bewusstsein“ zur Diskussion (318). Mit dieser doppelten Verortung deutet Gloy bereits implizit darauf hin, dass die letzte kategorische Rubrik, die erkenntnistheoretische Betrachtung, alle anderen Bewegungsmodi in sich einbegreift: Das Bewusstsein kann nicht nur auf Formen der Bewegung abzielen und ihnen folgen, es ist bereits selbst wesentlich von Kinesis geprägt. Die Explikation dieser Strukturparallele kommt Gloy zufolge jedoch nicht um die Frage herum, wie es näherhin um das Verhältnis von Außen und Innen, von Natur- und Bewusstseinsbewegung bestellt ist, konkret, ob sich beide in ein- oder wechselseitiger Abhängigkeit zueinander befinden. Sobald diese
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Frage formuliert ist, bewegt sich ihre Intention jedoch in unausweichlicher Selbstbezüglichkeit: In welcher Form auch immer das Bewusstsein nach sich oder seinem Außen fragen mag – kaum einmal wird es sich auf einen externen, geschweige denn neutralen Standpunkt berufen können. Sowohl die Mittel der Beobachtung, als auch jene der Beschreibung des Bewusstseins stammen aus ihm selbst. Aus diesem Grund führt die Thematisierung des Bewusstseins unweigerlich dessen Spaltung herbei; genauer setzt sie diese bereits voraus: Das „Gesamtphänomen“ sieht sich geteilt in ein Segment, das betrachtet, und ein zweites, das betrachtet wird (319). Nichtsdestotrotz lässt Gloy es nicht unversucht, zwei Zugangsweisen anzusetzen, die sie zuvor im Kontext der Phänomenalität erprobt hat: Annäherungen mittels sprachlicher Bilder zum einen, zum anderen über das Ausschlussverfahren (vgl. 263). Metaphorisch gefasst begegnet das Bewusstsein als Strom, ein Bild, das auf eine zweifache Grundlage verweist: den Fluss der Zeit und ein extensives Flussbett. Mit der zweiten Möglichkeit, der Vorgehensweise via negationis, nimmt Gloy ebenfalls eine grenzenlose Ausdehnung zur Referenz. Demnach ist Bewusstsein in und mit der Zeit unermesslich. Zwar werden alle Zeitmodi prinzipiell gleichmäßig von dieser grenzenlosen Kontinuität betroffen, die temporale Binnendifferenzierung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stellt allerdings ein nicht zu übersehendes diskontinuierliches Moment dar. Beide Ansätze kommen also nicht ohne erneute Beziehungsfiguren aus, die strukturell auf die phänomenale Konjunktion von Ausdehnung und Begrenzung rekurrieren. Was aber bringt wiederum deren Zusammenhang auf den Weg? „Eine Vermittlung durch ein Drittes findet deshalb nicht statt, weil der Bewusstseinsstrom selbst das Dritte ist und sich aus diesen beiden Charakteren [Ausdehnung und Begrenzung] konstituiert.“ (323) Unter epistemischem Vorzeichen spitzt sich die Zirkularität des Begründungsversuchs von Bewegung zur Selbstbezüglichkeit zu. Einen weiteren, das heißt externen Vermittlungsgrund anzunehmen, ist und bleibt ein Akt des Bewusstseins. Der Unausweichlichkeit dieser Selbstapplikation unterliegt sowohl das explizit einbezogene Verhältnis der beiden phänomenalen Strukturgrößen von Ausdehnung und Begrenzung als auch die Relation von Einheit und Mannigfaltigkeit unter der Ägide des Verstandes und nicht zuletzt die Vermittlung des anschaulichen und logischen Ansatzes selbst. In der Konsequenz führt Gloy ein letztes Mal eine Figur der Reziprozität an, ein „interdependentes Fundierungsverhältnis“, um das Gros der Verknüpfungen zu charakterisieren (324). Diese Wendung vermag – entgegen dem Gloyschen Letztexplikat einer zweigliedrigen Einheit – dem Umstand Rechnung zu tragen, dass auch und nicht zuletzt die epistemische Relationierung nicht nur Wechselseitigkeiten einschließt und ihrer bedarf, sondern auch von einem „inter“, einem Zwischen abhängt,
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das der Bezugsbildung allererst den Raum öffnet. Jene buchstäbliche Interdependenz lässt sich auch am zuletzt freigestellten Satz ablesen, insofern „der Bewusstseinsstrom selbst das Dritte ist und sich aus [zweierlei] Charakteren konstituiert.“ Für sich alleine genommen, also ohne die Binnendifferenzierung und Einbindung von Kompartimenten, könnte der Bewusstseinsstrom vielleicht Strom, aber kaum Bewusstsein sein. Dass dem nicht so ist, scheint ihm offenbar so geläufig, dass ihm die Schaltund Gelenkstellen seines Fließens kaum mehr eigens bewusst sein müssen. Am Ende erweist sich das und – gewiss wären auch andere Konjunktionen denkbar – als ein Verwandter des Unbewussten: Ungemein behänd und selten offensichtlich, aber kaum einmal nicht präsent, verbinden und überschreiten sie beide, das Unbewusste wie die Konjunktion, was mitunter kaum oder gar nicht zusammenzupassen scheint. In jedem der vier explizierten Felder zeigt sich, dass Bewegung nicht nur Vermittlung betreibt, sondern auch selbst der Vermittlung bedarf. Unabhängig davon, ob das Prozedere unter Maßgabe der Anzahl, der Beschaffenheit, der Bedingtheit oder der Erkennbarkeit steht, kommen bei Gloy in der Folge strukturelle Parameter zum Tragen, die das Geschehen der Bewegung weniger definieren, als vielmehr erweitern. Auf logischer Seite folgen sie allesamt dem Schema von Substanz und Akzidenzien; auf anschaulicher Seite dem Muster von Prozess und Anhaltspunkten. Signifikant ist in beiderlei Hinsichten, dass alle kategorischen Verzweigungen auf Explikate führen, die nicht allein auf eine feste Grundstruktur verweisen, sondern samt dieser auf das und rekurrieren (vgl. die Darstellung auf S. 245). Gloy geht darauf weder zu Beginn noch am Ende ihrer Untersuchung ein. Die Figur der zweigliedrigen Einheit, die sie stattdessen für das Zugleich von logischer und anschaulicher Fassung des Strukturproblems der Vermittlung anführt, ersetzt die Konjunktion durch einen Adjektiv-Substantiv-Ausdruck, der offenkundig paradox angelegt ist. Dass das und nicht einfach und abschließend in diesem Ausdruck aufgeht, zeigt etwa die Frage, wie es um die Beziehung zwischen jener zweigliedrigen Einheit und einer eingliedrigen Mannigfaltigkeit bestellt ist. Wenn der explizite Widerspruch im Begriff der zweigliedrigen Einheit weder monistisch noch dualistisch beschaffen sein soll – wie Gloy am Ende nochmals betont –, muss ein entsprechendes Gewicht auf etwas Drittes fallen (vgl. 324f). Warum nicht auf die Konjunktion zurückkommen, das heißt auf ihre Eigenart, jenes Tertium zu verkörpern? In weiterer Ergänzung zu Gloy muss bemerkt werden, dass das Fazit, demzufolge sämtliche Bewegungsweisen ihrerseits der Vermittlung bedürfen, nicht zwingend einen Ausweis von Insuffizienz darstellt. Diese spezielle Form der Abhängigkeit kann mit selbem Recht als eine konstitutive Offenheit ausgelegt werden, die sich notwendig nach Außen orientiert, in der Bewegung selbst angelegt ist und stets von ihr weitergetrieben wird. Demnach trachtet Bewegung für sich genommen fortlaufend
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nach Mehr, nach einem Weiter. In diesem Treiben treffen sich Bewegung und Konjunktion. An ihm wird erkenntlich, dass das Vermittelnde zwar daraufhin angelegt ist, von weiteren Elementen umgeben zu sein, dass es von diesen allerdings weder fest noch abschließend eingeschlossen wird. Bewegung und Konjunktion teilen das Moment, innerhalb der jeweils rahmenden Umstände nicht nur verbindend zu wirken, sondern gleichsam auch für Entgrenzungen und Überschreitungen offen zu sein. Mit Nachdruck führt dies nicht zuletzt der Versuch vor Augen, den beiden Phänomenen abschließend habhaft werden zu wollen. Auch dann fahren Bewegung wie Konjunktion fort, weiterzustreben, wenn sie nicht mehr als Mittel, sondern als Zweck auserkoren werden. Schaubild 5.2: Logische und anschauliche Kategorisierung der Bewegung nach Karen Gloy quantitativ: Bewegungsträger und Durchgangspunkte qualitativ: zwischen Einheit und XXX Mannigfaltigkeit relational: @
Substrat und Zustände Subjekt und Prädikate
@ @ epistemisch: Selbsterkenntnis und Verstandesinhalte Bewegung quantitativ: Bewegungsgrundlage und minima visibilia
@ @ @
qualitativ: zwischen Ausdehnung XXX und Begrenzung relational: @
Veränderungsprozess und Zustände Werdensprozess und Grenzzustände
@ @ epistemisch: Selbstbewusstsein und Bewusstseinsinhalte Quelle: Eigene Darstellung (II.II) Das und als Ursprungsprinzip Die Frage nach den Charakteristika der Konjunktion erschöpft sich im Kontext von Vermittlung als einem Zusammenspiel von Trennen und Verbinden nicht. Wenn keines der beiden Verfahren – weder das Zäsurieren noch das Verknüpfen – eine legitime strukturelle Vorrangstellung zu behaupten vermag und in der Folge von einem
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Zugleich der Methoden auszugehen ist, bleibt zu klären, welche inhaltlichen Voraussetzungen in jene vorerst formale Schlussfolgerung eingehen. Dafür wendet sich Karen Gloy der Kausalität selbst zu: Unter die „Anforderungen an das Vermittlungsprinzip“ rechnet sie die „Funktion eines Ursprungsprinzips“. Diese Funktion ist damit betraut, über das reine Geschehen von Synthesis und Analysis hinauszugehen, indem sie es fundiert. Gloy argumentiert, dass die beiden Operationen zwar als grundlegend erscheinen mögen – was trennt vor einer Trennung, was verbindet vor einer Verbindung? –, allerdings nicht als gänzlich fundamental gelten können, da sie in dem, was sie bereitstellen, auf ihr methodisches Pendant angewiesen sind. Beide hängen „unabdingbar“ zusammen und sind doch „ebenso ursprünglich“ different (alle 280). Demnach geht die Beziehung zwischen Synthesis und Analysis in keiner der beiden Bezugsfiguren gänzlich auf. Wie gestaltet sich jene Relation allerdings genauer? Findet eine Aufteilung statt oder bleibt ein Rest bestehen? Was regelt den Vorgang? Zwischen Synthesis und Analysis steht abermals ein und. Dass Gloy stattdessen auf den Terminus des Ursprungs abhebt, rührt daher, herausfinden zu wollen, was hinter jenem und steckt. Unter der Maßgabe, „das interdependente, durch ‚und‘ indizierte Verhältnis der Glieder aufzuklären“, rückt Gloy die Konjunktion selbst in einen Verweisungszusammenhang, demzufolge das kleine Wörtchen für etwas Hintergründiges einsteht bzw. aus ihm resultiert (273). Wenn sich dieser angenommene Ursprung weniger an einem Punkt, denn in einer Beziehung zu verorten hat, stellt sich die Frage, wie diese Umstellung im zugehörigen Ursprungsbegriff ihren Ausdruck findet. Gemeinhin steht ein Ursprung unter dem Anspruch, einen letzten Grund, also die abschließende Grenze eines Zusammenhangs darzustellen, so dass sich im Bezug auf sein Bestehen und Wirken nichts Ursprünglicheres findet als das, was ihn selbst anbelangt. Nach den Kategorien von Quantität, Qualität und Relationalität, wie Gloy sie ausdifferenziert, heißt das, dass der Ursprung einheitlich verfasst und mit sich identisch ist, sowie in keiner Form die Folge von etwas anderem darstellt (vgl. 280f). Diese Merkmale eignen gleichsam dem absoluten Einheitsbegriff. Dessen strukturelle Untersuchung brachte jedoch eine problematische Diskrepanz zwischen Begriffsinhalt und Begriffsform zu Tage, die sich mit Blick auf das Ursprungsparadigma nicht minder einstellt: Durch die Explikation, ja schon die bloße Ansprache absoluter Einheit- und Ursprünglichkeit macht sich eine Bezugnahme geltend, die dieser Einheit äußerlich ist und auf den entsprechenden Ursprung zurückzielt. Der inhaltliche Anspruch beider Absoluta besteht allerdings gerade darin, solche Formen der Verbindung auszuschließen. Gloy betonte an früherer Stelle, „dass der l e t z t e Vermittlungsgrund, obwohl dem Vermittelten opponiert, seine Bestimmtheit gerade nicht aus einer Opposition gewinnen darf.“ (80) Eine Einheit ist nicht absolut, wenn es etwas gibt, das ihr anzuhängen vermag, ohne ihr gänzlich zuzugehören; ebenso ist
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ein Ursprung nicht letzt- und alleingültig, wenn sich etwas auf ihn zurückbeziehen kann und ihn damit erst zu dem macht, was er ist. Nachdem sich diese Auffassungen von Einheit wie von Ursprung letztlich selbst negieren und nivellieren müssen, um dem intendierten Begriffsinhalt Folge zu leisten, erwägt Karen Gloy stattdessen eine Erweiterung der betreffenden Semantik: „Die Besinnung darauf, dass das Ursprungsprinzip nicht nur allgemeinstes und abstraktestes, sondern auch umfassendstes und konkretestes Prinzip ist, welches alle Mannigfaltigkeit in sich begreift, zwingt dazu, es ebenfalls mit der letzteren bzw. deren Ermöglichungsgrund, der unendlichen, homogenen, kontinuierlichen Extension, zu identifizieren.“ (281) Das Postulat der Abstraktheit, demzufolge die Beschaffenheit und Wirksamkeit des letzten Grundes auf alles ausgerichtet, aber von allem losgelöst ist, bleibt nach dieser Aussage bestehen. Allein seine Gültigkeit setzt sich nicht mehr exklusiv durch. Hinzu tritt ein nicht minder prinzipielles Moment der Involviertheit und Unmittelbarkeit, ein Postulat der Konkretion. Letzteres tritt zu dem Verhältnis von Ursprungsprinzip und absoluter Einheit hinzu und löst deren Äquivalenz auf. Die unabsehbar zahlreichen Bezüge, wie sie dem Mannigfaltigen eignen, lassen sich vom Ursprung nicht mehr fern halten, sondern durchdringen diesen gleichsam und füllen ihn aus. Karen Gloy greift in dieser Abwandlung des Ursprungsbegriffs auf die Konjunktion nicht nur, sondern auch zurück, nach der keines der Relata, weder die abstrakt entzogene noch die konkret vorliegende Voraussetzung durch das gemeinsame Miteinander Spezifik einbüßt. Mit der einräumenden Geste des auch kommen die relationalen Grundzüge von Einheit und Mannigfaltigkeit zusammen. Jenes auch wird durch das Adverb ebenfalls kurz darauf bekräftigt und unterstützt. Die in dieser Form implementierte Erweiterung – das zeigt die Gloysche Wortwahl weiter an – ist nicht allein quantitativer Natur: Dass von Identifikation die Rede ist, weist auf eine Veränderung der Qualität des in Frage stehenden Ursprungsprinzips hin. Im qualitativen Sinne geht der Zusatz des extensiven Mannigfaltigen nicht in einer höheren Summe auf, noch zeigt er eine Alternative oder eine Überlagerung an. Vielmehr legt Gloy mit Hilfe der gewählten Konjunktion und der adverbialen Bekräftigung eine Reformulierung des und zugleich vor, wie es bereits in der Strukturanalyse des Verhältnisses von Einheit und Mannigfaltigkeit thematisch wurde. Die Qualität des erweiterten Ursprungsprinzips besteht folglich darin, in gleicher Weise von Identität wie von Differenz gekennzeichnet zu sein: Als Einheit ist es identisch mit sich selbst, als Mannigfaltigkeit birgt es Differenz und als Relation von beidem realisiert es deren simultane Gültigkeit (vgl. 281).
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Richten sich Bestimmungen an die Adresse des Ursprungs, setzen sie offenkundig bereits voraus, was sie zu bestimmen vorgeben. Karen Gloy nimmt jenen Einwand vorweg und gibt ihm bereitwillig statt. Indem sie auf die Natur der Sache verweist, nimmt sie das dabei angesprochene logische Problem, den Zirkelschluss, nicht nur einfach in Kauf, sondern wendet ihn im gegebenen Fall gerade in einen Ausweis von Ursprünglichkeit: Wenn Zirkularität unvermeidbar zu werden beginnt, könne damit gerechnet werden, dass ein Grund erreicht sei, der sich nicht tiefer fundieren lasse (vgl. 281). Auf diese Weise ermöglicht und veranlasst der in Frage stehende Ursprung offenbar auch die Readressierung von Aussagen an ihn selbst. Die Argumentation, die Gloy damit nicht nur im Hinblick auf den Ursprung, sondern genauer noch in seinem Namen entfaltet, erinnert an ein antikes Theorem, das sie an anderer Stelle aufruft, demzufolge „das, was keine Grenzen, also auch keinen Anfang hat, selbst der Anfang sein müsse“ (185). Im Kontext des erweiterten Ursprungsprinzips geht Gloy jedoch – ohne es gesondert herauszustellen – einen Schritt weiter, indem sie mittels seiner paradoxen Qualifizierung weder auf Negation und Ausschlussprinzip noch auf Metaphorik und übertragenen Sinn rekurriert. Anstelle von Grenzen- und Anfangslosigkeit stellt das Zugleich von Einheit und Mannigfaltigkeit einen Ausdruck der Positivität dar. Aufgefasst als Beziehung, als ausgehaltene und ausgetragene Spannung, führt jenes Zugleich nicht nur in die Aporie, die Ausweglosigkeit, sondern betreibt im gleichen Zug die Gründung neuer Wege. Letzterer Aspekt, das innovatorische und inzentive Moment des Ursprungsprinzips, wird von Gloy allerdings weder an- noch ausgeführt. Sie belässt es dabei, auf der Ebene der Ursprünglichkeit die Legitimität der Paradoxie zu unterstreichen. Mit der Konjunktion von Einheit und Mannigfaltigkeit steht jedoch nicht allein ein Widerspruch, sondern gleichsam und womöglich zuvorderst eine Relation in der Position des Ursprungsprinzips. So selbstredend der Ursprungsbegriff auch sein mag, sein hervorbringendes Wirken und also seine Ausrichtung auf Weiteres erweist sich nunmehr als integraler Bestandteil und vor allem als eine Konsequenz von Beziehungshaftigkeit.30 Daraus kann – in fortgesetzter Ergänzung zu Gloy – weiter abgeleitet werden, dass die Reziprozität, wie sie den Zusammenhang von Einheit und Mannigfaltigkeit kennzeichnet, nicht ausschließlich und einfach zirkulär angelegt ist, sondern auch und nicht minder als Ausgangspunkt für alles mögliche Andere fungiert: Sie ist in gewisser Weise über sich selbst hinaus offen und austreibend. Und gerade diese Komponente findet nicht zuletzt in der Konjunktion im engeren Sinn – im und – ihren strukturellen Rückhalt wie ihren Ausdruck.
30 | Den Terminus verdanke ich Michael Mayer.
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Nach der Revision der Abstraktheit des Ursprungsprinzips vermag sich die Ursprungsfunktion nicht mehr allein auf eine singuläre Ursache zu berufen, sondern basiert stattdessen auf einer Relation. Dem oben freigestellten Zitat zufolge (281) kommen in jener Fundamentalverbindung Abstraktion und Konkretion, Einheit und Mannigfaltigkeit bzw. Begrenzung und Extension zusammen. Auf die kausale Terminologie zurückgewendet, tritt eine Ursprungsfunktion erst in und mit der Relation zwischen Ursache und Wirkung in Kraft. An die Stelle einer zentralistischen, unitären Ursache tritt die wechselseitige Bezugnahme der kausalen Parameter aufeinander: Die Wirkung kann ebenso als Ursache der Ursache wie die Ursache als Wirkung der Wirkung gelten. Die Zirkularität des Zusammenhangs funktioniert demzufolge in beide Richtungen. Abschließend ist nochmals genauer danach zu fragen, wie sich in die Geschlossenheit jenes Kreisens das besagte Moment der Offenheit und Außenorientierung einfügt. Gloy kommt der Frage nach der Offenheit innerhalb kausaler Zirkularität in der Untersuchung von Platons Parmenides mitunter am nächsten. In einem Abschnitt, der dem Platonischen Vermittlungsbegriff gewidmet ist, reflektiert sie auf die Relation von Bewegung und Ruhezuständen. Zwischen beiden Relata herrsche eine qualitative Differenz, die für den Wechsel von einer Daseinsform in die andere einen „sprunghaften Umschlag“ erforderlich mache (77). Die Stelle dieses Übergangs heißt bei Platon ἐξαίφνες (exaiphnés), ein Adverb, das Gloy substantiviert und mit „das Plötzlich“ übersetzt. Da es dabei dezidiert um das Moment der Wandlung geht und nicht um das, was sich wandelt, heißt es nicht „das Plötzliche“. Das substantivierte Adverb deckt sich auch nicht mit der Kategorie der Plötzlichkeit noch mit der zeitlichen Gegenwart, wie Gloy im weiteren Rekurs auf Platon deutlich macht. Das ἐξαίφνες stehe vielmehr für einen Wandel ein, der vorerst – und abgesehen von dieser negativen Charakterisierung – nicht zu kategorisieren ist: „Begründet wird sein Herausfallen mit seiner absoluten Qualitätslosigkeit. Denn soll der Umschlag seine Aufgabe als Vermittlungsprinzip unterschiedlicher Qualitäten erfüllen, so darf er selbst durch keine derselben bestimmt sein, da er andernfalls in die Ebene zurückfiele, die zu vermitteln ihm obliegt.“ (77f) Die Möglichkeit der Verbindung hängt hier von der Gegebenheit einer strengen Trennung ab, die vor allem das Verbindungsmedium selbst betrifft. Das vermittelnde Element kann demzufolge erst dann seiner Aufgabe nachkommen, wenn es sich vollständig von dem separiert und unterscheidet, was es zu vermitteln gilt. Diese Betonung der Differenz entrückt das Zwischenelement ins Absolute, insofern es jenseits aller qualitativen Zuschreibungen seinen Ort hat. Weder in einem räumlichen, noch
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in einem zeitlichen Sinne stellt das Spatium des ἐξαίφνες eine greifbare Größe dar. Mit jedem Versuch der lokalen oder temporalen Zuordnung wird ein neues Zwischen wirksam, das den Zuordnungsversuch vermittelt und ihm dadurch gerade nicht mehr unterliegt. Das auf diese Weise verfasste „Herausfallen“ belegt das Verbindungsmedium mit einer rigorosen Äußerlichkeit.31 Gloy legt diese Exteriorität als Entzug aus, nachdem Platon von ἄτοπον, also von Stellenlosigkeit spricht (vgl. 77). Während die Charakterisierung als atopisch jedoch primär räumliche Konnotationen mit sich führt, betont Gloy die Geltung des Entzugs auch bezüglich der Zeit: „Da nun alle Qualitäten in der Zeit sind und es zwischen der Dauer der einen und der der anderen keine Zwischenzeit gibt, in der ein Übergangszustand in Form eines Zugleich beider herrschte, weil jede nur ganz in der Zeit ist oder überhaupt nicht, muss das Vermittelnde aus der Zeit herausfallen.“ (78) Auch wenn Gloy den Ausschluss von Vermischungen zwischen unterschiedlichen Qualitäten nochmals mit einem Nebensatz begründet, geht er als Voraussetzung, nicht als Folge in die Überlegung ein. Anlass dafür war die Relation von Bewegung und Ruhe, also die Konjunktion von zwei Größen, die sich gegenseitig widersprechen und insofern ein Zugleich ausschließen. Das verknüpfende Zwischen, das zuletzt noch als ein solches Zugleich begriffen werden kann, bezahlt diese Funktion folglich mit seiner Abspaltung und Aussonderung. Allerdings macht es darüber deutlich, dass die resultierende Ausgeschlossenheit nicht allein Unmöglichkeit und Nicht-Existenz bedeuten muss, sondern vielmehr eine „Denknotwendigkeit“ darstellt, deren Referenz zwar ungreifbar, aber nichtsdestotrotz als existent und wirksam vorauszusetzen ist (80). Auf diesem Weg gibt Gloy mit Platon zu bedenken, dass antinomische Relationen stets an ein Bezugssystem gekoppelt sind, das schon im Vorfeld jeder Entscheidung für Zusammenstellungen aller Art die Basis legt: Dem ἐξαίφνες sei es
31 | An dieser Stelle ist eine strukturelle Verwandtschaft mit dem Programm einer negativen Medientheorie zu verzeichnen, wie Dieter Mersch es projektiert: „‚Medien‘ büßen, indem sie etwas zur Erscheinung bringen, ihr eigenes Erscheinen ein. Ihre Anwesenheit hat das Format einer Abwesenheit. Statt von ‚Medien‘ wäre deshalb besser von ‚Medialität‘ im Sinne der Struktur des Medialen zu sprechen – jener Struktur, die sich in dem zeigt, was ‚Medien‘ hervorbringen, darstellen, übertragen oder vermitteln, so dass das ‚Medium‘ selbst kein adäquater Untersuchungsgegenstand wäre, sondern die ihm zugrunde liegenden Materialitäten, Dispositive oder Performanzen, die mediale Prozesse begleiten oder in sie eingehen, ohne sich mitzuteilen.“ (Vgl. ders.: Tertium datur – Einleitung in eine negative Medientheorie, in: Stefan Münker u. Alexander Roesler (Hg.): Was ist ein Medium?, Frankfurt a.M. 2008, S. 304)
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zu verdanken, den „Ermöglichungsgrund des Bewegungs- und Zeitzusammenhangs schlechthin“ bereitzustellen (78). Um auf die Frage der Offenheit innerhalb kausaler Zirkularität zurückzukommen, stellt sich ein zweifaches Problem: Die Kausalität, in die Gloy das stets entweichende Vermittlungsprinzip eingebunden sieht, ist nicht zirkulär, sondern linear angelegt und anstelle von Offenheit ist von einem „unausgesprochenen und unaussprechlichen“ Dahinter die Rede, das die Möglichkeit und Bereitstellung von Zusammenhängen verbürgt (80). Im Bezug auf den ersten Aspekt, die einseitige Orientierung an einer Ursache, ist an die Argumentation des erweiterten Ursprungsbegriffs zu erinnern. Ihr zufolge sieht sich das Ursprungsprinzip zu einer Ausweitung veranlasst und nimmt selbst relationale Gestalt an.32 Wenn verständlich werden soll, dass es möglich ist, dem SichEntziehenden einen Namen zu geben (ἐξαίφνες), und die Tatsache nicht vernachlässigt wird, dass auch die Negation, hier die Negation der Zeit, eine Bestimmung darstellt, die es nicht vermag, sich selbst ungeschehen zu machen, wird eine beziehungsorientierte Erweiterung des Ursprungsbegriffs auch an dieser Stelle erforderlich. Es mag danach weiterhin gelten, dass die zeitlose Vermittlung die zeitliche begründet, das ἐξαίφνες also jede Bewegung ermöglicht und fundiert, allerdings nicht mehr unter der einschränkenden Bedingung, dass es von dem, was es verursacht, nicht seinerseits abhängig ist und rückwirkend tangiert wird. Tritt Reziprozität in Kraft, nimmt sich das Vermittlungsprinzip über die Relation, der es angehört, auch seiner selbst an. Die anfängliche Annahme von Gloy, dass es „seine Ermöglichungsrolle nur wahrnehmen [kann], wenn die Bestimmungen und Verhältnisse, die es ermöglicht, nicht auf es selbst anwendbar sind“ (79f), verträgt sich mit der negativen Qualifizierung als ungreifbar nur auf den ersten Blick. Denn erst dann beweist das ursprüngliche Vermittlungsprinzip seine Unverfügbarkeit, wenn es die Mittel besitzt, innerhalb von Kausalität seine Rolle zu wechseln und über den kausalen Kontext hinausreichen. Die Einschränkung auf einseitige Wirksamkeit lässt es dann ebenso hinter sich, wie die einfache Umkehrung dieser Ausrichtung – beidesamt Formen prinzipieller Fixierung. An ihm selbst ist es, gegebenenfalls auch gegenüber sich selbst Äußerlichkeit herzustellen. In derselben Bewegung, mit der zirkuläre Strukturen Eingang finden, wächst das Vermittlungsprinzip über sich selbst hinaus. Diese Wendung berührt bereits das zweite Problem, das darin besteht, dass Gloy das stets entweichende Vermittlungsprinzip auf der einen Seite als „unerkennbar“ ausweist, auf der anderen Seite aber „hinter allem“ verortet (80). Diesem Dahinter gehört
32 | Vgl. dazu im hiesigen Zusammenhang S. 247.
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es Gloy zufolge an, weil ihm keinerlei Qualitäten zugeschrieben werden können (vgl. 77f). Diese Unmöglichkeit rühre daher, dass „der l e t z t e Vermittlungsgrund“ für die Vermittlung von „allem“ verantwortlich sei und deshalb nicht selbst vermittelt werden könne. Als „Titel für das an sich unerkennbare ‚von woher‘“ liege das ursprüngliche Vermittlungsprinzip also stets „hinter allem“ (beide 80). An diesem Ansatz ist zum einen die bestimmte Negation problematisch, mit der Gloy auf eine ursprüngliche Vermittlung rückschließt, zum anderen die ausschließliche Zuordnung in das Vorfeld aller Relata. Der Ansatz von etwas Letztem trägt – zumal, wenn gleichzeitig jegliche Erkennbarkeit ausgeschlossen ist – Züge eines dogmatischen Schlusses. Was macht die Annahme einer ursprünglichen Vermittlung zwingend und stellt ihre Gegebenheit als Letztes sicher? Offen bleibt wohl auch die Frage, wie es sich genauer mit der Zuordnung in ein jeweiliges Dahinter verhält. Wäre nicht auch ein Hindurch, eine Durchdringung von allem denkbar? Auch wenn Gloy metaphysische Anleihen für ihre Untersuchung an mehreren anderen Stellen explizit ablehnt und ausschließt (vgl. 275, 289, 318), sind die Charakteristika, auf die sie an dieser Stelle zurückgreift, dem Wortlaut nach metaphysisch.33 Die argumentativen Mittel, die Gloy verwendet, gehen in dieser begrifflichen Schließung jedoch nicht auf. Nur auf den ersten Blick folgt Gloy dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten: „hinter allem“ steht demnach für einen rigorosen räumlichen wie zeitlichen Ausschluss; es gebe „keine Zwischenzeit“ oder einen eigenen „Übergangszustand“ der ursprünglichen Vermittlung. Gerade in dieser Form kommt das basale Vermittlungsprinzip allerdings seiner Funktion nach, Vermittlung zu begründen und also jenen Zusammenhängen zu dienen, die in Zeit und Raum geschehen. Das vermittelnde Dahinter hat mit den Relationen, die es vermittelt, mehr zu tun, als die metaphysisch klingende Enthobenheit suggeriert. Ohne dass Gloy es expliziert, wandelt sie den logischen Grundsatz in einem entscheidenden Sinne ab. Gerade vor dem Hintergrund, dass das ursprünglich Vermittelnde aus allen Zusammenhängen herausfällt, kommt ihm seine Wirksamkeit zu. Folglich rekurriert Gloy nicht nur auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten, sondern erweitert ihn: Die Ausgeschlossenheit steht nicht mehr für Unmöglichkeit oder Unbedeutendheit ein, sondern birgt ein wirksames Positivum – auch wenn es nicht direkt zu fassen ist. Damit hatte Gloy das Werkzeug bereits in der Hand, die Vermitteltheit der Vermittlung nicht nur linear kausal und quasi-metaphysisch entrückt denken zu müssen. Mit dem abgewandelten Satz vom ausgeschlossenen Dritten kann an die Stelle der bestimm-
33 | Vgl. zur Annahme eines nicht-erkennbaren Dahinters etwa Zarathustras Rede „Von den Hinterweltlern“ (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra – Ein Buch für Alle und Keinen, Stuttgart 1994, S. 29ff).
5. Das und zwischen Vermittlungs- und Ursprungsprinzip (Gloy) | 253
ten Negation eine positive Unbestimmtheit treten, an die Stelle eines verschlossenen Dahinter ein offenes, nicht minder wirksames Wo-auch-immer.34 Zum Abschluss der Betrachtung des Vermittlungsprinzips in der Funktion eines Ursprungs ist danach zu fragen, ob und wenn ja, welche weiteren Schlüsse aus dem soweit Dargelegten zu ziehen sind. Die anfängliche Problemstellung lag in der Beziehung von Analysis und Synthesis. Sie nahm davon ihren Ausgang, dass keines der beiden Verfahren eine Vorrang- oder gar Alleinstellung legitimieren kann. Zwischen Trennen und Verbinden steht abermals ein und, was als Hinweis darauf verstanden werden kann, dass die Explikation von Vermittlung abermals der Vermittlung bedarf. Diese selbstbezügliche Wendung kreist, so die Vermutung bei Gloy, um mehr als nur um sich selbst; sie wird von etwas getragen, das hinter dem und steht. Gloy nimmt deshalb das Prinzip der Kausalität näher in den Blick, indem sie nach der Ursache dessen fragte, was als Vermittlungsgeschehen vor Augen steht. Dabei verhält es sich mit dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung nicht unähnlich wie mit dem von Analysis und Synthesis: Das Primat der Ursache hat der Wirkmächtigkeit der Relation nachzugeben, die für die jeweilige Verfasstheit und Stellung von Ursache und Wirkung unerlässlich ist und also ihre Voraussetzung darstellt. Anhand dieser relationslogischen Auffassung von Kausalität wird allerdings auch ersichtlich, dass sich das Problem eher verschoben, denn behoben hat: Im reziproken Verweis der Relationsglieder aufeinander stellt sich rings um das und ein Kreisen ein, das kaum mehr weiter zu führen scheint. Und richtet sich der Fokus auf die Vermittlung selbst, wird dafür ein neues Zwischen wirksam, das dem Fokus offensichtlich entgeht. Jenes fortlaufende Ausweichen des Mediums dokumentiert sich nicht zuletzt in den Ansätzen der Beschreibung, die Gloy selbst unternimmt: Zuerst charakterisiert sie die Vermittlung als den Umständen inhärent, dann als ihnen äußerlich.35 Die Figur des
34 | Für eine solche stärkere Berücksichtigung der Eingebundenheit von Vermittlung, vgl. Dieter Mersch: Meta/Dia – Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen, in: Medienphilosophie – Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung, hrsg. v. Lorenz Engell u. Bernhard Siegert, Hamburg 2010, Heft 2. 35 | Der Passus, in dem Gloy die Relation als innerliche ausweist, kam in diesem Zusammenhang noch nicht zur Sprache. Er gehört ebenfalls der Parmenides-Lektüre an und lautet wie folgt: „Mit der Beziehung zwischen verschiedenen Relata ist hier [Parmenides 142b–155e] nicht ein nachträgliches In-Beziehung-Setzen für sich existenzfähiger Instanzen gemeint, da sich deren reines Fürsichsein selbst widerlegt hat. Insofern steht die Herstellung der Beziehung nicht im Belieben des Subjekts, so dass sie erfolgen, aber auch unterbleiben kann. Nicht um eine bloße Addition, eine willkürliche Kombination von Momenten handelt es sich, sondern um ein ursprüngliches Angelegtsein derselben aufeinander, das zu ihrem Wesen gehört und
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Entzugs, wie Gloy sie herausstellt, baut auf den Satz vom ausgeschlossenen Dritten auf. Dabei wandelt der ausgelagerte Ursprung die Ausgeschlossenheit zu etwas Positivem, indem er ihr Wirksamkeit einträgt. Mit der Explikation dieses Sachverhaltes – was ergänzend zur Gloyschen Analyse vorgenommen werden muss – wird ersichtlich, dass der stets ausweichende Zug der Relationierung nicht nur innerhalb der kausalen Zirkularität stattfindet, sondern auch über diese hinausweist. Das und zwischen Ursache und Wirkung birgt neben dem Raum für alle denkbaren Binnenverbindungen auch das Potential, die Konjunktion als Ganze zu erweitern. Dafür steht die Konjunktion nicht von vornherein in der Mitte zwischen ihren Relata, sondern kehrt im Anschluss an das je letzte Verbindungsglied wieder: Auf Ursache und Wirkung folgt ein weiteres und. Neben der zirkulären und der linearen Rückkopplung – Ursache und Wirkung und Ursache und Wirkung . . . bzw. Ursache und Wirkung und Wirkung und Ursache . . . – kann die Konjunktion am Ende auch all dem gelten, was in den vorherigen Relationen noch nicht berührt wurde. Die Äußerlichkeit der Relationalität ist dann nicht allein vorgelagert, sondern offenbart gleichsam ein weitertreibendes, schöpferisches Moment. Wird dieser Antrieb als ein Grundimpuls zugelassen, kann prinzipiell jede Relation die Funktion eines Ursprungsprinzips übernehmen. Hinter dem und waltet dann nicht nur eine immer schon vorausgesetzte Ur-Relation. Genauer betrachtet, agiert die Konjunktion im Sinne einer Relationalität, die im gleichen Moment auch Weiteres hervorzubringen und zu entlassen vermag. Die Fälle von zirkulärer und linearer Rückkopplung zeigen zwar, dass die relationale Ursprungsfunktion diese Erweiterung nicht prinzipiell einlöst. Jedoch ist der Relationierung auch in diesen Fällen das Potential nicht zu nehmen, einer plötzlichen Abweichung nachzugeben. Eingedenk dieser Möglichkeit korrespondiert der rückwärtsgewandten Zentrierung aller Relationen auf einen „letzten Vermittlungsgrund“ (80) eine radial nach außen gerichtete Erweiterung, eine Ausweitung des Vermittlungsgrundes. Dem Entzug der Relation stehen zwei Grundrichtungen offen: einmal vertieft sich der relationale Grund, einmal weitet er sich aus. Damit kann auch im Fall des Entzugs, obwohl er sich stetig verflüchtigt, auf eine implizit-relationale Verfasstheit geschlossen werden. Bildlich gesprochen, wird das Geschehen jeder Vermittlung, der Konnex von
ohne das sie nicht sie selbst wären. Die Beziehung ist keine äußerliche, sondern innerliche.“ (53) Die Ortszuschreibungen von Innen und Außen sind hier an die Frage der Verfügbarkeit geknüpft. Um aufzuzeigen, dass sich die Relation den Direktiven des subjektiven Bewusstseins grundlegend zu entziehen weiß, verortet sie Gloy in das unzugängliche Innere ursprünglicher Zusammenhänge. Im gleichen Moment wird Beziehung allerdings erneut zu etwas, das sich vorrangig im Vorfeld ereignet. Die weitertreibende, offen ausgerichtete Komponente der Relationalität tritt in den Hintergrund und droht aus dem Blickfeld zu geraten.
5. Das und zwischen Vermittlungs- und Ursprungsprinzip (Gloy) | 255
Trennen und Verbinden, von einem Zug durchquert, der in zwei Richtungen unterwegs ist: Er zielt auf seine Ursächlichkeit zurück wie auf seine Wirksamkeit voraus. Wenn dieser Zug eigens zum Thema erhoben wird, zeigt sich, dass er stets einen Schritt weiter ist als das, was unter seinem Namen geltend gemacht wird. Sein Wesen liegt weder im Trennen noch im Verbinden, sondern vielmehr im Überschreiten. Darüber sieht sich der Begriff des Ursprungs in abschließender Verdichtung – wenn man so will – zum Und-sprung gewandelt. Schlussbetrachtungen Trennen und Verbinden, Verursachen und Überschreiten – ob die Konjunktion als Vermittlungs- oder als Ursprungsprinzip aufgefasst wird, im Bemühen, hinter das und zu kommen, weisen die resultierenden Explikate abermals konjunktionale Gestalt auf. Indem die Strukturanalyse des und die Konjunktion zum Gegenstand erhebt, bedarf sie ihrer gleichsam als Mittel. Die definitorischen Bestrebungen müssen auf das zurückgreifen, was zu definieren ihr eigentliches Ziel war. Das und findet erneut Eingang, ohne auf die Seite oder in die Richtung eines Relatums verortet werden zu können. Seine Wirksamkeit geht damit einher, sich unauffällig unnachgiebig zu verhalten. Auch zwischen Vermittlungs- und Ursprungsprinzip fungiert es auf diese Weise. Es trennt und verbindet und setzt dabei eine ursprüngliche Relationalität voraus, die gleichsam nach der Überschreitung dessen verlangt, was konkret vorliegt. Karen Gloy beschließt ihre Untersuchung mit dem nochmaligen Herausstellen der Legitimität, ja der Erforderlichkeit, das paradoxe Verhältnis zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit anzuerkennen. Die Optionen, das Problem sowohl mittels Anschauung als auch mittels Verstand aufzufassen und zu bearbeiten, bilden ihr zufolge eine „faktische Einheit“; die Grundlage, auf der sie dies tun, wird allerdings „für die Erkenntnis zum Abgrund“, da sich zwar erschließen lässt, dass etwas Fundierendes vorhanden sein muss, alles Weitere sich allerdings konstitutiv entzieht: Jede Referenz besteht einmal mehr aus Formen der Anschauung oder des Verstandes und führt also auf diese zurück. Das Interpretament eines „interdependenten Fundierungsverhältnisses“ der einander ausschließenden Relata von Einheit und Mannigfaltigkeit ist demzufolge nicht weiter bzw. tiefer zu begründen (alle 324). Gloy selbst kommt dafür auf ihren Terminus der „zweigliedrigen Einheit“ zurück, in dem sie sowohl die logischen als auch die phänomenalen Strukturrelationen sowie deren Beziehung als Ganze zueinander zusammengefasst sieht.36 Die Funktionsweise jener relativen
36 | Eine kritische Betrachtung dieser Begrifflichkeit, insbesondere, was ihre quantitative Anlage, die Verlegung der Konjunktion ins Implizite und die unklare Rolle des Mannigfaltigkeiten
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Letztgültigkeit des Prinzips der „zweigliedrigen Einheit“ beschreibt Gloy am Ende wie folgt: „Indem das Prinzip keinem der beiden Strukturbestände einen Primat konzediert, sondern beide im Gleichgewicht hält, stellt es ein Schweben zwischen beiden dar.“ (325) Gloy reformuliert die Vermittlungsweise, nach der zwischen den Relata weder eine Hierarchie eingeführt noch unterstützt wird, als das Aufrechterhalten einer Ausgeglichenheit. Diese Leistung wird dem Prinzip der „zweigliedrigen Einheit“ zugeschrieben, das, insofern es keinem der beiden Verbindungsglieder nähersteht, auch keinem von beiden angehört. Zwischen den Zeilen kehrt der Satz vom ausgeschlossenen Dritten wieder. Die nicht nur positive, sondern auch aktive Formulierung der Wirksamkeit, die dem außenstehenden Prinzip zukommt, macht dabei nochmals deutlich, dass die Ausgangslage der Ausgeschlossenheit sowohl existent als auch von Relevanz ist. Aus ihr heraus macht sich das Prinzip als Grundlage und Vermittlungsinstanz geltend. Die Gewährleistung des Gleichgewichts geht diesbezüglich nicht nur auf eine vorgelagerte Voraussetzung zurück, sondern verlängert sich in die Schwebeposition des Zwischen hinein. In der Zusammenführung der beiden Motive legt die Gloysche Ausdrucksweise eine labile, aber statische Anlage der Umstände nahe: Die Schwebe steht für die Konstanz der umliegenden Gegebenheiten ein. In dieser Form hält Gloy den Zug, den sie von der Ursächlichkeit ausgehend in die Mitte des konjunktionalen Gefüges einziehen lässt, gerade dort fest und behauptet seinen Stillstand. Warum soll er nicht weiterfahren? Das Motiv der Schwebe tritt in den Schlussworten bei Gloy nicht zum ersten Mal auf. An einer einzelnen Stelle zuvor steht es allerdings im Kontext des Bewegungsbegriffs, also derjenigen Vermittlungsweise, die sich in und mit der Zeit ereignet: „Ihrer Struktur nach ist Bewegung, die von einer Bestimmung zur anderen durch Festhalten an beiden übergeht*, ein Konvergenz- und Divergenzprinzip, dies insofern, als die zu verknüpfenden Seiten gleicherweise in ihr konvergieren wie aus ihr entspringen. Durch keine der zu vermittelnden Bestimmungen ausschließlich bestimmt, sondern durch beide gemeinsam, ist sie ein Schweben zwischen beiden.“ (79) * Anm. 98: Die Bestimmungen treten daher in diskreter Unterschiedenheit nur in den Extrempunkten auseinander.
betrifft, findet bei Gloy nicht statt. Nachdem der Begriff der zweigliedrigen Einheit also bis zuletzt mehr Instrument bleibt, als dass er seinerseits Observable würde, gilt das Augenmerk abschließend stärker seiner Einbindung und Auslegung als seiner Verfasstheit.
5. Das und zwischen Vermittlungs- und Ursprungsprinzip (Gloy) | 257
Das Spatium, das Bewegung überbrückt, ist demnach von Bestimmungen umgeben und durchdrungen. In semantischer Hinsicht geht Bewegung damit einher, keiner Bestimmung mehr zuzugestehen als der jeweils anderen. Vermittels beidseitig gleich verteilter Zugeständnisse kann sie als unparteiisch gelten. In modaler Hinsicht, das heißt in der Art, wie sie diesen ihren semantischen Part praktiziert, zeigt sich dabei nochmals Ambivalenz: Als Schwebe lässt Bewegung die umliegenden Pole in sich eingehen, wie es sie aus sich entlässt. Dem inversen Zusammenstreben der Relata korrespondiert ein extrovertiertes Hervorgehen derselben. Soweit die Explikation der Schwebe bei Gloy. Nun kann „entspringen“ allerdings auch und wohl mit gleichem Recht bedeuten, dass ein Resultat hervortritt, das sich vorab nicht ersehen ließ. Dieser Einwand macht deutlich, dass die Reflexion bei Gloy von einer fertig vorliegenden Relation ausgeht: Bewegung ist demnach immer schon wieder zur Ruhe gekommen; die ausgehaltene Spannung des Zwischen ist bereits ausgetragen. Wenn sich jedoch an die Eigenständigkeit einer intervenierenden Schwebe eine Ursprungsfunktion knüpft, die ihren gleichmäßigen Erfüllungsauftrag weder bereits vollständig erledigt hat noch von den Grenzen einer vorformulierten Zukunft eingefasst wird, agiert sie nicht nur als Ort wechselseitiger Durchdringung, sondern auch als Erweiterung der Gegebenheiten. Dieses Streben einer Weiterwirkung kann einen „Rückgang zu den letzten Gründen“ anführen, wie Gloy ihn untersucht und bis zuletzt als Zielsetzung formuliert (324). Es kann jedoch ebenso weiteren Gründen gelten: und . . . und . . . und . . . Aus diesem Grund lassen Deleuze/Parnet in ihrer Untersuchung der konjunktionalen Schwebe den Anspruch des Prinzipiellen fahren.37 Sobald sich das und erneut anhängt, kann das wachsende Gefüge weder bei einem ersten Anfang, einem principium, noch bei einem finalen Schlusspunkt bleiben. Es wird mehr. Dieses Potential der Konjunktion findet sich auch bei Gloy, vor allem im Kontext des Platonischen ἐξαίφνες, des plötzlichen, qualitativen Umschlags der Umstände. Wenn sie diesen Möglichkeitsraum mit den letzten Aussagen ihrer Untersuchung
37 | „Diese Äußerlichkeit der Relationen bildet nun wieder kein Prinzip – sie ist vielmehr vitaler Protest gegen Prinzipien. In der Tat, erblickt man darin etwas, das dem Denken sich sperrt, dann muss das Denken dazu gezwungen werden, es zu denken, dann muss es zum Halluzinationspunkt des Denkens gemacht werden, zu einem das Denken herausfordernden Experiment. [. . .] UND ist dabei keine besondere Relation oder Konjunktion, es ist, was in allen Relationen mitschwingt, die Straße aller Relationen, es ist, was die Relationen außerhalb ihrer Glieder wie deren Gesamtheiten, außerhalb auch all dessen davonziehen lässt, was als SEIN, EINES oder GANZES
bestimmt werden könnte.“ (Gilles Deleuze u. Claire Parnet: Dialoge, übers. v. Bernd
Schwibs, Frankfurt a.M. 1980 [Paris 1977], S. 62 u. 64) Vgl. dazu auch im hiesigen Zusammenhang „Das und als Funktion der Irritation und Wandlung“ S. 161 u. 163.
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„genau“ dahingehend wirken sieht, auf den ausbalancierten Zustand ihres Schwebebegriffs „vorzudeuten“ (325), blendet sie die grundlegend veränderungsfähige wie veränderungswütige Kraft der sich entziehenden Zwischengröße allerdings aus.38 Ein Einwand, den Gloy innerhalb einer ergänzenden Fußnote äußert, trifft sie deshalb schließlich selbst. Darin hält sie der These, dass „alles r e l a t i o und die r e l a t i o alles“ sei, entgegen, dass zwar „der Endzustand seinem B e d e u t u n g s g e h a l t nach in dieser Weise auftritt, nicht jedoch, dass er seinem S e i n nach nicht wiederum ein Relatum darstellt.“ (142, Anm. 65) 39 Die Konjunktion von Vermittlungsund Ursprungsprinzip, wie sich die von Gloy zum Prinzip erhobene Schwebe reformulieren lässt, mag ihrem Bedeutungsgehalt zufolge eine unhintergehbare Relation bzw. eine relationale Unhintergehbarkeit darstellen, ihrem Sein nach kostet es nicht mehr als ein weiteres und und sie wandelt sich zu einem Relatum für Weiteres. Eingedenk dieses Einwandes ist die Schwebe als das ausgeschlossene Dritte ihren Bezugspunkten nicht nur vor- und zwischengelagert – sie wird ihnen auch nachgelagert sein können. Dieses zukünftig ausgerichtete und sich in der Eigenartigkeit der Gegenwart einlösende Potential überschreitet mit dem Prinzipienstatus auch zugehörige Gleichgewichts- und Ausgeglichenheitskonzeptionen. In Becketts Der Namenlose heißt es: „Es scheint eine Tatsache zu sein, wenn man in meiner Lage noch von Tatsachen sprechen kann, dass ich nicht nur über Dinge zu sprechen habe, über die ich nicht sprechen kann, sondern auch, was noch interessanter ist, dass ich, was noch interessanter ist, dass ich, ich weiß nicht mehr, das macht nichts. Ich bin jedoch genötigt, zu sprechen. Ich werde nie schweigen. Nie.“ 40 Dieses Überschreiten ist komplexer, da relationaler Natur. Die Art und Weise, wie es sich im und mitteilt, drückt sich nicht allein in den Innovations- und Erhöhungsbemühungen eines jetzt aber – Vorsicht, etwas ganz Neues – aus. Vielmehr bringt sich jenes Überschreiten in der aufnehmenden Geste des auch zur Geltung, das für die Differenzierung von allem Weiteren der Absage an alles Vorherige nicht bedarf, sondern die Auseinandersetzung miteinander schätzt, die fortlaufend reicher wird.
38 | Im Bezug auf die relationslogischen Momente, wie sie im vorhergehenden Kapitel zum und als Funktion der Irritation und Wandlung expliziert wurden, bringt Gloy die Aspekte der Variabilität und der Transversalität nur eingeschränkt zum Ausdruck (vgl. S. 201ff). 39 | Die referierte Aussage zur Verfasstheit des „End- und Vollendungszustandes“ zitiert Karen Gloy aus Michael Theunissen: Sein und Schein – Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt a.M. 1978, S. 45. 40 | Samuel Beckett: Der Namenlose, übers. v. Elmar Tophoven, Frankfurt a.M. 1976, S. 397f.
Schluss: Konjunktionale Relationalität
Jedes der fünf zurückliegenden Kapitel nahm sich eines Textes an, der die Konjunktion und zum zentralen Thema erhebt. Nicht dieses und nicht jenes, weder Subjekt noch Objekt, sondern das, was so unscheinbar wie ausdauernd dazwischensteht, rückt versuchsweise in den Fokus. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze und Ausführungen ist das leitende Interesse der Autorinnen und Autoren dabei stets philosophischer Natur. Es gilt den Fragen, was die Konjunktion ausmacht, wie sie vorgeht und welche Wirkungen sie dabei zeitigt. Die Konjunktion veranlasst dazu, über Relationalität nachzudenken. Die genaueren Beweggründe für die Untersuchung der Konjunktion differieren. Zum einen werden jüngere Tendenzen wissenschaftlicher Praxis genannt, wie Interdisziplinarität und neue Subdisziplinen, die sich vorrangig auf synthetische Verfahren berufen. Zum anderen kann ein grundsätzliches Interesse für die Sprache dazu führen, eigens auf die Binde- und Fügewörter aufmerksam zu werden. Zuletzt und vor allem sind es jedoch Fragen wie nach der „kleinsten realen Einheit“ oder dem Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit, die das konjunktionale Zwischen zu einer weder trivialen noch unnötig speziellen, sondern grundsätzlich relevanten Frage werden lassen. Von besonderer Bedeutung erweist sich das Verhältnis von Relation und Relata. Mit den Konjunktionen erhält das Moment der Relation dabei einen eigenen Ausdruck. Der Zwischenraum, durch den die Dinge miteinander verbunden und gleichzeitig getrennt sind, ist nicht mehr nur Lücke und bloßer Abstand. Die Bewegungen, die im Zwischen stattfinden, nehmen Gestalt an und werden ein Stück weit sichtbar. An dieser Stelle finden Entscheidungen über Ein- und Ausschluss statt; Reihenfolgen und Rangordnungen, Mit- und Gegeneinander kommen hier zu ihrem Vollzug. Die unscheinbare Wendung des und führt dabei vor Augen, dass sämtliche Ausprägungen von Beziehung ausgesprochen relativ sind. Sie können auf unterschiedlichste Weise auftreten, kommen als solche jedoch zu etwas hinzu, das notwendigerweise als
260 | Konjunktion
Voraussetzung dient: Die Tatsache, dass die Dinge überhaupt miteinander in Beziehung stehen. Auf dieser Ebene überbrückt das und größte Differenzen unter Beibehaltung der Differenz. Kleinsten Unterschieden kommt das nicht minder zugute. In jedem Fall wird bei genauerer Betrachtung sichtbar, dass das Moment der Beziehung im Verhältnis zu dem, was in Beziehung zueinander steht, weder nachträglich noch optional hinzutritt. Es lässt sich keinem seiner Seiten eindeutig oder auch nur tendenziell stärker zuordnen. Keinem seiner Ufer gehört der Fluss mehr und im nächsten Augenblick – wie auch im Verhältnis zur Zeit selbst – ist er ein anderer. Auf dieser Grundlage wird es nun darum gehen, den Unterschied der Konjunktionen und und nicht nur, sondern auch auszudifferenzieren. Denn nicht nur, sondern auch eignet sich besser, dem Gedanken einer konjunktionalen Relationalität gebührende Weite und Komplexität zu verleihen. Zu diesem Zweck sind die zentralen Aussagen, wie sie sich bislang an das und knüpften, nochmals der Reihe nach zu rekapitulieren. Die folgende Zusammenfassung gilt also weniger den jeweiligen Quelltexten, als vielmehr den Früchten ihrer Bearbeitung. (I) Mirjam Schaub nähert sich dem und als einer philosophischen Methode bei Gilles Deleuze. Dem innovatorischen Potential gewagter, experimenteller Verknüpfungen korrespondiert dabei die Möglichkeit, dass eben jene Relationen auch fehlgehen können. Schaub führt an, dass solches Scheitern „fraglos auch geschieht“, nachdem die Konjunktion „Kohärenz bloß auf Zeit“ zu stiften vermag und sich die vom und getragenen Verbindungen durch „Fragilität und Prekarität“ auszeichnen. Genauer betrachtet steht das und der Bildung einer zeitlich konstanten Einheit und Identität entgegen und zwar insofern, als es seine Relata nicht nur miteinander verknüpft, sondern auch trennt und sämtliche Differenzen zwischen ihnen bestehen lässt. Was die Adressierung des Scheiterns an die Konjunktion anbelangt, ist allerdings ein Einwand zu erheben. Denn mit gleicher Plausibilität stellt der Sachverhalt ein Scheitern der Strukturgrößen von Einheit und Identität dar. Diese Gegenblende hat auch Deleuze im Sinn, wenn er darauf hinweist, dass sich die Konjunktion in seinen Worten gerade dadurch auszeichne, den Richtlinien von Existential- und Zuschreibungsurteil nicht gehorchen zu müssen: Dass etwas existiert und wie es existiert, ist dem und zufolge weder als abgeschlossen noch abschließbar zu betrachten. Und – so lässt sich dann weiterfragen – warum sollte das nicht auch für die Zeit und ihre Zeitlichkeit selbst gelten? Aus der Diskussion um Einheit und Identität resultiert des Weiteren die Frage, wie sich das und mit ein und demselben Relatum ins Benehmen setzt: Wie verhält es sich mit dem Fall a und a? Eher an dieser Stelle scheint sich die Konjunktion einmal mit etwas schwer zu tun, denn es bleibt kaum mehr eine Differenz, die gewahrt und auf die rekurriert werden könnte. Stattdessen droht eine endlose Redundanz: a
Schluss: Konjunktionale Relationalität | 261
und a und a und . . . Offensichtlich treten dabei quantitative Aspekte wie Stückzahl und Taktung in den Vordergrund. Qualitative Aspekte, nach denen sich die Variable a tatsächlich einmal verändert haben wird, haben das Nachsehen. Zwar handelt es sich auch in diesem Fall nicht um ein Scheitern der Konjunktion im strengen Sinne des Wortes, denn Verknüpfung findet nach wie vor statt. Die Beschränktheit auf quantitative Belange ist jedoch nicht von der Hand zu weisen. Dass es sich dabei um eine spezielle Einschränkung handelt, die nicht für Konjunktionen im Allgemeinen gilt, führt ein Vergleich mit der Konjunktion nicht nur, sondern auch vor Augen: Im Fall von nicht nur a, sondern auch a richtet sich die Konjunktion ebenso auf ein und dasselbe Element. Allerdings vermag sie es ungemindert, über das wiederkehrende Relatum hinauszuweisen – und zwar nicht nur in Fragen der Zahl und der Rhythmik. Soll die Konjunktion als nachdrückliches Mittel von Experiment und Erneuerung gelten können, wie Schaub es mit Deleuze anhand der Konjunktion und intendiert, sind solche Wege der Relationierung und Relativierung nicht nur am Rande von Relevanz. (II) Peter Bexte fasst das und vornehmlich als kulturtheoretischen Parameter auf. Demnach kann die verbindende Kraft der Konjunktion zu bestimmten Zeiten, etwa in politischen Krisen, hinter trennende Tendenzen zurückfallen.1 Oder, der umgedrehte Fall, Konjunktionen stehen stärker in einem Licht von Verbindung und heben sich gegen ihre separierenden Begleiterscheinungen ab, wie in naturwissenschaftlichen Zweigen, die sich vorrangig auf synthetische Verfahren stützen. Schließlich ist jedoch in beiden Fällen zu konstatieren, dass Trennen und Verbinden in der Konjunktion stets gemeinsam zum Ausdruck kommen. Dergestalt weist Bexte konjunktionale Relationierungen als fundamentale Kulturtechnik aus. Gegen diesen Befund ist ergänzend einzuwenden, dass er nicht ausreicht, um das und etwa von Plus und Komma zu unterscheiden. Entsprechend muss die Spezifik konjunktionaler Relationierung über die Gleichzeitigkeit von Trennen und Verbinden hinausreichen. Nicht zuletzt findet die Konjunktion in das Explikat von Trennen und Verbinden abermals Eingang; einmal mehr steht sie darin dazwischen und verbindet und trennt. So ist in Ergänzung zu Bexte die referenzielle Wechselseitigkeit anzuführen, die das und zwischen seinen Relata stiftet. Dieser Resonanzraum steht stets beiden Relata in gleichem Maße offen und er vermag es, alles Mögliche und nicht allein Aspekte der Zahl und der Reihenfolge in sich aufzunehmen und widerhallen zu lassen. Die Wechselseitigkeit der Bezüge hängt folglich mit einem Zugleich zusammen, das sowohl modale als auch temporale Implikationen birgt. In modaler Hinsicht steht das und für ein Verbinden
1 | Bexte zitiert diesbezüglich Franz Werfel, der unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges notiert, das und sei „rebellisch geworden“, so dass alles „unverbindbar“ umherliege. Vgl. im hiesigen Zusammenhang S. 72.
262 | Konjunktion
als solches ein, denn andere Referenten besitzt es für sich genommen nicht. In diesem Moment finden zurück- wie vorausliegende Aspekte Eingang in die gegenwärtige Relation. Dabei sind der Konjunktion keine denkbaren Grenzen gesetzt: Jede Relation hat stets mit mehr zu tun. In temporaler Hinsicht manifestiert sich das Zugleich als Gleichzeitigkeit. Auf diese Weise finden in der Konjunktion nicht nur Verbindung und Differenzierung im Einzelnen und anhand der je vorliegenden Relation statt. Im selben Moment gilt die Simultanität der Verbindung als solchen. So nahe es liegt, die Konjunktion als etwas Nachträgliches zu betrachten, das auf die Existenz von Einzeldingen folgt, so nachdrücklich hat sich diese Annahme der Gleichzeitigkeit weiterreichender Beziehungshaftigkeit zu beugen. Denn der Glaube an das Primat der Einzelexistenz verdankt sich weder sich selbst noch seinem Gegenstand, sondern fusst auf eben jener Relationalität. (III) Für William Gass ist das und vor allem in der Literatur und Poesie zu Hause. Dort findet es den Raum, bei aller Unscheinbarkeit seinen Variantenreichtum auszuspielen. In mehreren Analysen differenziert Gass knapp zwanzig verschiedene Formen der Konjunktion aus, die sich durch Konnotationen wie indem, schließlich, zusätzlich, dagegen oder plötzlich voneinander unterscheiden. Schließlich muss er jedoch eingestehen, dass dieses Vorgehen dem Schatz der Nuancen, aus dem das und schöpft, nicht gewachsen ist. In der Konsequenz widmet sich Gass dem Vermögen des kleinen Wortes, sich an beliebig große und komplexe Gegenstände zu heften, um sie mitunter zur Gänze aufzuwiegen und zu relativieren (Ja und?). Dieses Potential besitzt die Konjunktion auch dann, wenn noch nicht klar ist, was auf sie folgen wird, um als Gegengewicht zu dienen. Vor diesem Hintergrund legt Gass am Ende seiner Untersuchung alles Gesagte in eine Waagschale, um sie an einem weiteren und aufzuhängen. Dass seine Analysen es also nicht vermochten, mit ihrem Gegenstand fertig zu werden, rechnet er abschließend der Konjunktion an. In Ergänzung zu Gass ist allerdings darauf hinzuweisen, dass sein letztes und seine relativierende Kraft vor allem von der Zeit borgt. Auf den jeweils letzten Aspekt folgt das und bei Gass primär als und dann. Zieht man jedoch alle anderen Befunde in Betracht, zeigt sich, dass die Konjunktion nicht einseitig von einer linear ablaufenden und nicht anzuhaltenden Zeit abhängt. Der konjunktionale Möglichkeitsraum, der alles Erdenkliche samt dessen Relationen in sich einbegreift, enthält in und mit der Konjunktion ein stets weiterreichendes Moment. Dieser a-finale Zug der Konjunktion kann zeitlich basiert sein, muss es jedoch nicht. Denn Zeiten und Zeitlichkeiten stehen ihrerseits in Relation, wobei die Konjunktion sowohl temporale Staffelungen als auch Simultaneität oder ein zeitloses Zwischen zum Ausdruck bringen kann. In jedem Fall kommt in und mit der Konjunktion ein Moment der Vielfalt ins Spiel. Im Gegenzug werden alle erdenklichen Relata von Mehrdeutigkeit gezeichnet: Zum einen gehören sie ei-
Schluss: Konjunktionale Relationalität | 263
nem mehr oder weniger spezifischen, lokalen Zusammenhang an, zum anderen haben sie mit der Konjunktion Teil an einer Relationalität so kosmischer wie phantastischer Ausmaße. (IV) Gilles Deleuze und Claire Parnet kommen über den Begriff des Gefüges (agencement) auf die Konjunktion zu sprechen. Mit dem Gefüge antworten sie auf die Frage nach der Möglichkeit von Aussagen. Eine Aussage existiert demnach weder vor noch in oder erst nach den Dingen – so die Register des Universalienproblems – noch obliegt eine Aussage allein dem Vermögen des neuzeitlich-modernen Subjekts. Stattdessen gehen Aussagen nach Deleuze/Parnet aus Gefügen hervor, die in sich stets mehrere unterschiedliche Bestandteile bergen, welche miteinander wechselwirken und sich auf diese Weise wandeln. Ein Gefüge zeichnet sich also durch vier relationslogische Momente aus: Es bringt in sich Pluralität, Heterogenität, Reziprozität und Variabilität zusammen (vgl. die Darstellung auf S. 204). Der letzte Aspekt, die Variabilität, ist als gesonderter Punkt notwendig, da andernfalls nicht ausgeschlossen wäre, dass sich die Bestandteile eines Gefüges fortlaufend um sich selbst drehten. Die Referenz auf die Konjunktion und spezifiziert diesen Gedanken um zwei weitere Momente: Zum einen macht sie deutlich, dass sich die Voraussetzungen wie die Auswirkungen eines Verhältnisses nicht allein aus den verknüpften Elementen erklären. Stattdessen bringt das und zum Ausdruck, dass eine Relation nicht nur aus Relata besteht, sondern stets ein gesondertes Zwischen impliziert. Zum anderen führt das und vor Augen, dass der Aufbau einer Relation nicht nur aus einem linearen Hin und Her besteht. Im Zwischenraum der Konjunktion klingt ein Spektrum an Anderweitigem an, das von Aspekten, die bereits zur Sprache kamen, bis hin zu Dingen reicht, die ohne Namen sind. Diese beiden Momente bringen Deleuze/Parnet auf die Begriffe von Äußerlichkeit und Transversalität: Das und geht nicht in dem auf, was es jeweils zusammenführt, und es birgt einen Strom an Weiterem in sich, der – im Bild des gewählten Begriffs – zur jeweiligen Verbindungslinie quer verläuft. Insofern Deleuze/Parnet das Gefüge in den Stand einer Voraussetzung von Aussagen setzen, muss dasselbe auch für die Konjunktion gelten. Allerdings erheben sie weder das Gefüge noch das und zum zentralen Parameter eines neuen Grundsatzes. Denn es gilt zu berücksichtigen, dass sich die explizierte Relationslogik von sich selbst nicht ausnimmt: In ihrem rückhaltlosen Gang der Relationierung gelangt die Konjunktion auch bei sich selbst an und wird nun selbst zu einem Teil jenes Stromes, den sie ehedem noch einfasste. Das heißt – weniger bildlich formuliert –, dass sich unter dem Vorzeichen des und auch der Begriff der Voraussetzung wandelt: Eine Voraussetzung besteht demnach ebenso aus einer Setzung vorab wie aus einer Deutung voraus und ist in dieser Form Teil einer weiterreichenden Relationalität. Dergestalt wird die kausale Logik durch die Konjunktion ihrer Mittel enthoben, eindeutige Reihenfolgen und Rangordnungen
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festzulegen. Diese Mittel werden dabei jedoch nicht negiert, sondern ausgeweitet: Wenn eine Ursache gegenüber sich selbst Äußerlichkeit herzustellen vermag und auch in jener Relation von einem transversalen Zug durchquert wird, ist ihr Wirken nicht allein Sache ihrer selbst. Die so gewandelte Kausalität entwächst dadurch ihren zirkulären Bahnen, denn zwischen Ursache und Wirkung findet etwas statt, das beiden äußerlich ist: und. In und mit der Konjunktion kommt ein relationslogisches Moment ins Spiel, das weder in bezifferbarem Mehrwert aufgeht noch einer einfachen Überbietungslogik im Sinne von Höher-Schneller-Weiter folgt. Stattdessen verstehen es konjunktionale Gefüge, auch im Bezug auf sich selbst und ihr eigenes Verfahren Differenz geltend zu machen. Auf diesem Weg erwirbt sich konjunktionale Relationalität Weite und Komplexität, und erweist sich gegenüber sämtlichen Existenz- und Eigenschaftsurteilen nicht als nachrangig und abgeleitet, sondern nimmt diese in sich auf und reicht über sie hinaus. (V) Für Karen Gloy wird das und zum Thema, insofern es zwischen den Strukturgrößen von Einheit und Mannigfaltigkeit vermittelt. Die Untersuchung der Begriffe im Einzelnen bringt zu Tage, dass die Beziehung zur jeweiligen Gegengröße von nicht minder fundamentaler Natur ist als die Einzelgrößen ihrem Anspruch nach selbst. Mit Blick auf die Struktur der durch und angezeigten Beziehung unterscheidet Gloy zwischen drei Fällen: Erstens, dem Einschluss eines Relatums durch das andere, zweitens, dem gegenseitigen Ausschluss, sowie drittens, deren Bestehen zugleich. Die weitere terminologische Differenzierung gliedert das Verhältnis von Einheit und Mannigfaltigkeit zuerst nach logischen und anschaulichen Aspekten, dann jeweils in quantitativer, qualitativer, relationaler und epistemischer Hinsicht (vgl. die Darstellung auf S. 217). Im Rahmen dieser Strukturanalyse zeigt Gloy, dass die ersten beiden Fälle, der gegenseitige Ein- und Ausschluss von Einheit und Mannigfaltigkeit, in Kontingenz oder Selbstwiderspruch münden, weil dabei übergangen wird, dass beide Begriffe mit Notwendigkeit in gleichem Maße aufeinander angewiesen sind. Im Umkehrschluss bezeichnet Gloy die Beziehung zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit als reziprok, die beiden Größen als gleichursprünglich. Die Auslegung des und als und zugleich – der dritte Fall – ist demnach von zentraler Bedeutung: Entgegen den anderen Fällen können in ihm sowohl Reziprozität als auch Gleichursprünglichkeit zum Ausdruck kommen. Für das Zugleich von Einheit und Mannigfaltigkeit schlägt Gloy den Terminus einer „zweigliedrigen Einheit“ vor, der im Rahmen seiner offenen Widersprüchlichkeit durch verschiedene Formen von Bewegung gekennzeichnet sei. Diese Bewegungsformen, die Gloy abermals anhand des explizierten Kategorien-Schemas ausdifferenziert, basieren allesamt auf einer Zirkellogik: Jede der Bewegungsarten, sei es die quantitative oder die qualitative, die relationale oder die epistemische, setzt ihrerseits wiederum Bewegung voraus (vgl. die Darstellung
Schluss: Konjunktionale Relationalität | 265
auf S. 245). Was Gloy dabei nicht weiter verfolgt: Alle resultierenden Explikate enthalten – nach dem Muster von geteilter Zweiheit und verbundener Einheit – abermals ein und. Und entgegen den Gloyschen Bewegungsvarianten findet die Vermittlung von Trennen und Verbinden im und gleichzeitig statt, ohne dass der Widerspruch dadurch aufgehoben würde. Indem keines der beiden Momente, weder die verbindende Vermittlung noch der trennende Widerspruch, innerhalb der konjunktionalen Relationierung eine Vorrangstellung zu behaupten in der Lage ist, geht die Konjunktion in ihren Relata nicht auf. Die von Gloy ausgewiesene Reziprozität kann in der Folge – gegen die Tendenz ihrer Begriffsarbeit – weder auf die Gegebenheit noch das Herbeiführen stabiler Gleichgewichtslagen reduziert werden: In der Konjunktion ist ein Zug enthalten, der ihr ambivalentes Treiben nicht zur Ruhe kommen lässt. Im Bezug auf die Gleichursprünglichkeit – neben der Reziprozität das zweite zentrale Prädikat konjunktionaler Relationalität bei Gloy – zeitigt die Konjunktion ebenfalls weiterreichende Konsequenzen: Der Ursprungsbegriff büßt seine singuläre, einheitliche Verfasstheit ein und nimmt beziehungshafte Gestalt an. Als Beziehung wird er bei jeder Bezugnahme vorausgesetzt. Gilt die Bezugnahme schließlich ihm selbst, weiß er sich darüber fortlaufend zu entziehen. Das treibende Moment der Konjunktion kann folglich im Motiv eines solchen Ursprungs zum Ausdruck kommen. Mit gleicher Plausibilität lässt sich der vorantreibende Impuls des und allerdings auch mit dem anderen kausalen Parameter, der Wirkung, in Verbindung bringen, derzufolge die Konjunktion nicht auf einen Ursprung zurück-, sondern von diesem ausgehend fortstrebt. Vor diesem Hintergrund ist die Charakteristik der Konjunktion durch Trennen und Verbinden schließlich um eine zweite funktionale Achse zu ergänzen: Während das und verbindet und trennt, fundiert und überschreitet es seine Relata zugleich. Gloy behandelt diese Problemstellung nicht mehr ausdrücklich anhand der Konjunktion, sondern fasst die relationslogischen Erweiterungen als Prinzipien auf, als Vermittlungs- und als Ursprungsprinzip. Sowohl innerhalb als auch zwischen diesen Prinzipien kehrt die Konjunktion jedoch explizit wieder. Und bei näherer Betrachtung ist der Anspruch des Prinzipiellen von Seiten der Konjunktion nicht aufrechtzuerhalten: So sehr die Konjunktion zu einem ersten Anfang (principium) oder einem entsprechenden letzten Ende führen mag, so sehr wird sie dort nicht aufhören, mit einer weiterreichenden Beziehungshaftigkeit zu korrespondieren. Auf diese Weise bricht das und aus den linearen und zirkulären Rahmenbedingungen des Prinzipiellen aus. Bis zuletzt steht die Konjunktion auch jenen Zusammenhängen offen, die Grundsätze ab- oder ausblenden müssen, um als Grundsätze erscheinen zu können.
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Die soweit zusammengetragenen und erarbeiteten Charakteristika der Konjunktion und lassen sich weitgehend auf nicht nur, sondern auch übertragen. Gewiss weiß letztere Konjunktion nicht derart kompakt aufzutreten. Das Maß an Ausgewogenheit und Differenzerhaltung, das nicht nur, sondern auch zwischen seinen Relata stiftet, kann sich jedoch gleichwohl mit demjenigen des und messen. Trennende und verbindende Kräfte kommen gleichzeitig zur Anwendung, was zum Effekt hat, dass im Bezug auf die Relata keine unterschiedliche Zuordnung von Bedeutsamkeit vorgenommen oder unterstützt wird. Beide Konjunktionen, das und wie das nicht nur, sondern auch, sprechen sich für horizontale, a-hierarchische Strukturen aus. Die ausführlichere äußere Form von nicht nur, sondern auch gibt dazu einen genaueren Einblick in die inhaltliche Ausgestaltung des Konjunktionsgeschehens: Die Einleitung des ersten Relatums mittels nicht nur schließt die Möglichkeit, dass jenes Bezugselement alleine stehen und in dieser Form höhere Geltung beanspruchen könnte, explizit aus. Mit dem Einsatz der Negation spricht nicht nur, sondern auch eine deutlichere Sprache als das und: Unmissverständlich ergreift sie Partei gegen die Zentrierung und Verengung von Bedeutung und reklamiert die gleichsinnige Beteiligung von Anderweitigem. Der Übergang zum zweiten Relatum geschieht abermals mittels zweier Bestandteile. Zuerst setzt sondern eine klare Trennung, die – wie schon die Negation – der Alleinstellung des ersten Relatums gilt. Dergestalt erfährt das isolierende nur von zweierlei Seiten eine gegenläufige Bearbeitung und Abwandlung: Nachdem die Verneinung als unmissverständliches Vorzeichen auftritt, folgt das separierende sondern mit dem Verweis auf eine Alternative. Diese Alternative ist Sache des adverbialen auch: Es eröffnet ein Bezugsfeld, in dem sich alle Relata auf eine gleiche Relevanz berufen können. Der Verneinung von Einschränkung in Form von nicht nur folgt – durch sondern intoniert und vom auch getragen – die Ausweitung des jeweiligen Bedeutungszusammenhangs um einen weiteren gleichberechtigten Aspekt. Dabei eignet sich das ausstrahlende auch kaum, optional unterschiedliche Konnotationen wie und dann, und so fort oder und zugleich gesondert anzunehmen. Stattdessen stellt es als Adverb bereits selbst eine bestimmte inhaltliche Prägung dar, die mit dem zuletzt genannten zugleich eng verwandt ist. Auf der Basis dieser Gleichsinnigkeit ist die Konjunktion als Ganze umkehrbar, das heißt, die Reihenfolge der Relata kann – von der Konjunktion aus betrachtet – beliebig umgestellt werden. Dasjenige Relatum, das auf sondern auch folgt, steht demnach nicht weniger unter dem Vorzeichen von nicht nur wie jenes erste, das dort den Auftakt machte; und umgedreht gilt der Relevanzbereich, den das auch um das zweite Relatum erweitert, ungemindert für das erste fort. Die Möglichkeit, die Elemente innerhalb der Konjunktion auch anders anzuordnen, mündet jedoch nicht in eine Äquivalenz der resultierenden Fälle. Hinsichtlich der Semantik der jeweiligen Abfolge bedeutet es sehr wohl einen Unterschied, welcher Aspekt
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zuerst genannt wird, um unter dem Zeichen negierter Alleingültigkeit zu erscheinen, und welches Element die Rolle übernimmt, den vormals gegebenen Rahmen zu erweitern. Eingedenk dieser inhaltlichen Spezifik tritt vor Augen, dass jede Relation in sich verschiedene Ausrichtungen verhandelt. Dazu gehören lineare Abfolgen im Sinne von nicht nur (zuerst) a, sondern auch (darauf) b ebenso wie reziproke respektive zirkuläre Wendungen im Sinne von nicht nur (so) a–b, sondern auch (umgekehrt) b–a. Allerdings führen diese Fälle weniger die paradigmatischen als vielmehr die einfachsten und tendenziell reduktionistischen Varianten vor Augen. Denn in beiderlei Hinsicht wird das Differenzmoment unter- respektive nachgeordnet, obwohl die Konjunktion im gleichen Sinne dafür eintritt. Im ersten Fall dürfen sich die entsprechenden Relationen von einer kontinuierlichen Zeitlichkeit getragen sehen, im zweiten Fall garantiert ein ebenso übergeordnetes Verfahren, häufig die Kausalität, das Übergewicht von Verbindung gegenüber Kräften der Trennung. Dergestalt setzen lineare wie zirkuläre Relationen auf gezähmte Differenzen. Im Gegensatz dazu beginnt die Konjunktion gerade dann ihren Reichtum zu entfalten, wenn – wie im Falle von Widersprüchen – komplexere Formen der Differenz zu ihrem Recht kommen. Pluralität ist dann nicht allein und vorrangig von Reziprozität gekennzeichnet, sondern nicht minder mit Momenten der Heterogenität und Variabilität versehen. Die Konjunktion agiert dann im Sinne von nicht nur (so) a, sondern auch (anders) b bzw. nicht nur (so) a, sondern auch (anders) a bzw. nicht nur (so) a, sondern auch (so) a. Auf Wendungen dieser Art hat es die hiesige Untersuchung vor allem abgesehen. Entsprechend ist schließlich auf jene Spezifik des nicht nur, sondern auch zurückzukommen, die bereits im Kapitel zum und als philosophischer Methode bei Mirjam Schaub zur Sprache kam: Die Konjunktion nicht nur, sondern auch kann auch auf ein und dasselbe Element bezogen werden. Im Gegensatz zu a und a wird die resultierende Wendung – nicht nur a, sondern auch a – weder redundant noch muss sie sich auf einen vornehmlich quantitativen Gehalt beschränken. Wird das und zur Rekursion gezwungen, schmilzt die potentielle Fülle seiner semantischen Schattierungen auf die Erträge einer Summierung oder Taktung ein: und heißt schließlich „+“ oder und dann. Die Konjunktion untersteht dabei einem externen Verfahren, der Summation, oder einer linear ablaufenden Zeitlichkeit. Diesen Einschränkungen hat nicht nur,
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sondern auch in der Referenz auf ein und dasselbe Element nicht zu gehorchen. Ungemindert bezieht es Anderweitiges mit ein: In der wiederholten Bezugnahme kommt gleichsam zum Ausdruck, dass das betreffende Relatum nicht ohne Weiteres einhergeht, ohne dass jedoch etwas davon explizit genannt wird noch werden muss. Diese spezielle Form des impliziten Verweisens deutet auf mehr als nur weitere Möglichkeiten hin, die alternativ in Frage kommen könnten. Mit der Bestimmtheit der Negation, wie sie im nicht nur enthalten ist, ist das zweimal genannte Relatum weder allein noch allein bedeutsam; es wird stattdessen als Teil eines größeren Kontextes sichtbar, der nicht nur aus weiteren Teilen besteht, sondern einer weiterreichenden Beziehungshaftigkeit angehört. Die Gegebenheit dieser Relationalität kommt für den Moment in der Konjunktion selbst zum Ausdruck. Am nicht nur, sondern auch ist es, diese basale Form kontextueller Eingebundenheit, das heißt die Beziehungsnatur des wiederholt zitierten Elements thematisch werden zu lassen. Dabei muss die Konjunktion weder einem bestimmten, übergeordneten Verfahren noch einer ebensolchen Temporalität unterstehen. Sie kann stattdessen durchaus verschiedenen Verfahren und deren Ausrichtungen, das heißt nicht allein der Summation und ihrem linearen Anwachsen oder Abnehmen gelten, so wie sie auch unterschiedliche Formen und Abläufe der Zeit betreffen kann, die Zeitlosigkeit eingeschlossen. Dieser Begriff von Relationalität weicht von jenem ab, den Karen Gloy in ihrer Kategorientafel aufführt: Ist Relation dort stets prinzipiengebunden, indem sie als Kausalzusammenhang oder Attribution auftritt, reicht Relation im hiesigen Kontext über Bindungen an Prinzipien hinaus. Gerade der Fall relationaler Vereinseitigung, wie er mittels nicht nur, sondern auch möglich wird, führt vor Augen, dass Beziehung neben ihrem fundamentalen Charakter als relationale Ursache stets weiterreichende Momente enthält. Die Option, sich zweimal auf ein und dasselbe Relatum zu beziehen, eröffnet es der Konjunktion nicht nur, sondern auch in einem einzigen Beispiel alle soweit versammelten konjunktionalen Funktionsweisen in ihrer Verschränkung sichtbar zu machen: Indem das wiederholte Relatum formal zweimal als inhaltlich dasselbe auftritt, finden Verbindung und Trennung zugleich statt. In diesem Zugleich macht sich Beziehung als etwas geltend, das sowohl fundierenden als auch weiterreichenden Charakter besitzt. Trennen und Verbinden, Fundieren und Überschreiten – während sich das erste Funktionenpaar konkret auf das bezieht, was mit den Relata jeweils gegeben ist, referiert das zweite darüber hinaus. Außerdem führt die Konjunktion – neben allen soweit versammelten Explikaten – stets auch die Einbeziehung von Ungenanntem mit sich. Gegenüber all dem, was von der Konjunktion evoziert, aber nicht expliziert wird, findet eine Öffnung statt. Die Konjunktion signalisiert, dass eine Integration des Nicht-näher-Bezeichneten und also eine Weitung des Bestehenden mit ihren Mitteln auf dem Weg ist. Dergestalt agiert sie auf der Basis einer Beziehungshaftigkeit, die
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weniger aus einer stets noch größeren Anzahl von Bestandteilen, als vielmehr aus einem fortlaufenden, weiterreichenden Zwischen besteht. Jenes Zwischen ist als Beziehung nicht nur „unausgesprochen und unaussprechlich“, wie Gloy ihr letztes Prinzip adressiert. In der Konjunktion wird Beziehungshaftigkeit ein Stück weit aussprechbar – sofern sie als Konjunktion fungieren und nicht in substantivierter Form aus ihrer Praxis herausgegriffen wird. Beziehungshaftigkeit ist nicht nur unaussprechbar, sondern auch; wie sie nicht nur aussprechbar, sondern auch aussprechbar ist. Dem Prinzip sind seine Grenzen lieb und teuer. Mit der Weite, aus der jedes Prinzip schöpft, verhält es sich jedoch anders: Sie besteht nicht nur aus Subjekten, Objekten und Prädikaten, sondern auch aus Konjunktionen. Es mag alles Mögliche bereits zur Sprache gekommen sein, auf unterschiedlichsten Ebenen und in unterschiedlichster Hinsicht: Geht es nach der Konjunktion, reicht die Weite, in der dies alles stattfindet, weiter. Im Denken einer Konjunktion zu folgen, führt dazu, nicht primär auf die Dinge und ihre Eigenschaften, auf Substanzen und Akzidenzien oder auf Ursachen und Wirkungen zu achten, sondern die Spezifik der Beziehungen in den Blick zu nehmen. Damit ist nicht gesagt, dass das eine vom anderen, die jeweiligen Beziehungen von ihren Relata scharf zu trennen wären. Die Perspektive ist dennoch verschoben: Von den Konjunktionen aus sind ihre Bezugspunkte niemals nur so, wie sie gerade gegeben sind. Was den aktuellen Stand relativiert, ist dabei nicht allein die Zeit und der Wandel, den sie mit sich bringt. Auch nicht allein an Phantasie und Möglichkeitssinn wird damit appelliert. Hier und jetzt ist mehr gegeben und wirksam, als sich wie auch immer fassen lässt. „Als der Frühling kam, als jede Krähe, um ihn zu verkünden, ihren Schrei um einen halben Ton steigerte, nahm ich den grünen Zug der Yamanote Linie und ich stieg am Bahnhof von Tokyo in der Nähe der Hauptpost aus. Selbst wenn die Straße leer war, blieb ich bei rotem Verkehrslicht stehen, wie in Japan üblich, um den Platz für die Geister der Wagenwracks freizulassen. Selbst wenn ich keinerlei Brief erwartete, blieb ich vor dem Schalter der postlagernden Sendungen stehen, denn man muss die Geister der zerrissenen Briefe ehren, und vor dem Luftpostschalter stand ich, um die Geister der nicht abgeschickten Briefe zu grüßen. Ich ermaß die unerträgliche Eitelkeit der westlichen Welt, die nicht aufgehört hat, das Sein gegenüber dem Nicht-Sein und das Gesagte gegenüber dem Nicht-Gesagten zu privilegieren.“ 2
2 | Chris Marker: Sans Soleil – Unsichtbare Sonne, vollständiger Text zum gleichnamigen Film-Essay, übers. v. Elmar Tophoven, Hamburg 1983, S. 26.
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Die Haltung, die in diesem Passus zum Ausdruck kommt, ist mitnichten naiv. Ihr geht es nicht um das Nicht-Sein anstelle des Seins oder um Geister anstelle von Vernunft; ihr geht es stattdessen um die Weite, in der alles Gegebene mit mehr in Beziehung steht, als sich am Gegebenen alleine ablesen lässt. Während der positivistische Reduktionismus auf Privilegien setzt und ebensolche erhofft, pflegt das Denken, das einer Konjunktion folgt, auch dasjenige zu ehren und zu grüßen, was zwischen den Dingen nachhallt, sich allererst ankündigt und gerade nicht zur eigenen Verfügung bestimmt ist. Beziehungen zu diesem Zwischen sind niemals nicht vorhanden. Diese doppelte Verneinung, wie sie auch in der Konjunktion nicht nur, sondern auch anklingt, gilt der Weite einer Welt, die immer schon, immer noch und immer wieder mehr als ganz da ist und dabei an Weite stets gewinnt. Diese Weite bringt die Konjunktion auf besondere Weise dann zum Ausdruck, wenn sie sich auf sich selbst bezieht: Nicht nur nicht nur, sondern auch, sondern auch.
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Grenzobjekte und Medienforschung (hg. von Sebastian Gießmann und Nadine Taha) 2017, 536 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3126-5 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-3126-9 EPUB: ISBN 978-3-7328-3126-5
Geert Lovink
Im Bann der Plattformen Die nächste Runde der Netzkritik (übersetzt aus dem Englischen von Andreas Kallfelz) 2017, 268 S., kart. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3368-9 E-Book PDF: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3368-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3368-9
Gundolf S. Freyermuth
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Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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Kommunikationswissenschaftliche Gender Studies Zur Aktualität kritischer Gesellschaftsanalyse April 2018, 308 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3837-0 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3837-4
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Digital Culture & Society (DCS) Vol. 3, Issue 2/2017 – Mobile Digital Practices January 2018, 272 p., pb. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3821-9 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3821-3
Gesellschaft für Medienwissenschaft (Hg.)
Zeitschrift für Medienwissenschaft 17 Jg. 9, Heft 2/2017: Psychische Apparate 2017, 216 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4083-0 E-Book kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-4083-4 EPUB: ISBN 978-3-7328-4083-0
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