Deutschland - Polen: Eine kulturkomparatistische Untersuchung: Eine kulturkomparatistische Untersuchung 9783839432730

This volume transcends the philological viewpoint of comparative literature and paves the way for the cultural compariso

265 53 3MB

German Pages 240 [350] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Raum und Lautstärke als Ebenen musikalischer Narration
Musik als Paradigma ästhetischen Erzählens
ORPHEUS, TILL EULENSPIEGEL, MAJOR TOM
»Ich pendle zwischen Kapellmeister, Professor und hie und da Exzellenz«
»Quasi-Bilder«
Tod und Trauer als Narrative neuer Musik
Semiotische Grundlegung musikalischer Narration
Raum – Perspektive – Narration
Narrativität in der Musik
Kopfhören und Narration
Pseudomorphose, Konvergenz und Dramaturgie
Im Spannungsfeld von Musik, Erzählung, Biographie und Fiktion
Kann Musik erzählen?
Autorinnen und Autoren
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Deutschland - Polen: Eine kulturkomparatistische Untersuchung: Eine kulturkomparatistische Untersuchung
 9783839432730

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Frédéric Döhl, Daniel Martin Feige (Hg.) Musik und Narration

Musik und Klangkultur

Frédéric Döhl, Daniel Martin Feige (Hg.)

Musik und Narration Philosophische und musikästhetische Perspektiven

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des SFB 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste aus Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Frédéric Döhl: Torstraße (2014) Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2730-5 PDF-ISBN 978-3-8394-2730-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Frédéric Döhl, Daniel Martin Feige | 7 Raum und Lautstärke als Ebenen musikalischer Narration. Zu Ludwig van Beethovens W ELLINGTONS S IEG OP . 91 im Spiegel des Panoramas

Frédéric Döhl | 15 Musik als Paradigma ästhetischen Erzählens

Daniel Martin Feige | 59 O RPHEUS , TILL E ULENSPIEGEL, M AJOR T OM . Über die Möglichkeit musikalischer Narrative

Asmus Trautsch | 85 »Ich pendle zwischen Kapellmeister, Professor und hie und da Exzellenz«. Warum Siegfried Wagners Ouvertüre des B ÄRENHÄUTERS erzählen kann

Gesa zur Nieden | 111 »Quasi-Bilder«. Arnold Schönbergs Erzählen als »Abstraktum der Wirklichkeit«

Katrin Eggers | 135 Tod und Trauer als Narrative neuer Musik. Erinnerungsmusik von Charles Ives, Morton Feldmann und John Adams

Gregor Herzfeld | 163

Semiotische Grundlegung musikalischer Narration

Beate Kutschke | 193 Raum – Perspektive – Narration. Was Gustav Mahler zur intermedialen Narrationstheorie beitragen könnte

Florian Kraemer | 227 Narrativität in der Musik. Eine Skizze

Harry Lehmann | 245 Kopfhören und Narration. Ein Versuch über die narrativen Aspekte in der Erfahrung des ungeteilten mobilen Musikhörens

Stefan Niklas | 257 Pseudomorphose, Konvergenz und Dramaturgie. Eine Spurensuche bei Adorno zum Problem musikalischer Narration

Dirk Stederoth | 275 Im Spannungsfeld von Musik, Erzählung, Biographie und Fiktion. Erzählinstanzen in Alban Bergs L YRISCHER S UITE

Nicole Jost-Rösch | 291 Kann Musik erzählen? Musikphilosophische Kurzgeschichten

Georg Mohr | 321 Autorinnen und Autoren | 343

Einleitung F RÉDÉRIC D ÖHL , D ANIEL M ARTIN F EIGE

Die hier versammelten Beiträge gehen aus musikwissenschaftlicher und philosophischer Perspektive der Frage nach, ob und inwiefern man von Musik als einem Medium der Narration sprechen kann. Bereits die Redeweise von dem Medium der Musik muss man gleichwohl kritisch problematisieren – denn es ist gut denkbar, dass wir von einigen Arten von Musik sagen würden, dass sie erzählt, während wir das von anderen Arten von Musik vielleicht nicht sagen würden. So scheint es relativ unzweifelhaft, dass selbst musikästhetische Formalisten sagen würden, dass viele Werke von Gattungen wie der Oper oder dem Musical – zumindest auch – erzählende Werke sind.1 Allerdings würden sie erstens bestreiten, dass man das von absoluter Musik sagen kann und zweitens festhalten,2 dass sich die erzählerische Dimension entsprechender Werke den außermusikalischen Eigenschaften verdankt. Drittens würden sie zugleich offen oder verdeckt normativ geltend machen, dass narrative Musik nicht die Möglichkeiten, die Musik eigentlich offen stehen, nämlich eine autonome Gestaltung klanglicher Formen zu leisten, realisiert. Spätestens seit der Genese des Werkparadigmas ist im philosophischen Nachdenken über Musik immer wieder der schwierige Ort der Musik im Ganzen der Künste hervorgehoben worden.3 Die Schwierigkeiten hängen unter anderem damit zusammen, dass viele Arten von Musik in besonders markanter Weise ungegenständlich sind.4 Zwar in vielfältiger Weise auf Sprache bezogen,5 ist es dennoch fragwürdig, ob Musik etwas Vergleichbares zu Gehalten ausdrücken kann, wie sie etwa von Sätzen ausgedrückt werden können.6 Geht man weiter davon aus, dass die Möglichkeit des Erzählens derart auf das Ausdrücken von Gehalten angewiesen ist, dass die

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Ereignisse, von denen erzählt wird, auch in anderer Weise erzählt werden könnten;7 dass man also das Erzählte von der Art und Weise, wie es erzählt wird, unterscheiden kann,8 so scheint Musik von vorneherein nicht in der Lage zu sein, aus sich heraus narrative Strukturen zu etablieren. Vielmehr wären narrative Beschreibungen von Musik ›bloß‹ metaphorisch und würden die Musik als Musik gar nicht betreffen. Ist eine derartige Argumentation in der Philosophie zwar keineswegs unumstritten,9 so lässt sich dennoch festhalten, dass in der Musikphilosophie eine gewisse Skepsis gegenüber dem Gedanken vorherrscht, dass Musik erzählen kann. Spätestens mit, aber nicht erst seit der New Musicology ist mit Blick auf den Diskussionsstand in der Musikwissenschaft zu attestieren,10 dass das Verhältnis zu dieser Frage deutlich entspannter ist als in der Philosophie. Nicht zuletzt mit Blick auch auf die historische Dimension dieser Frage und dem faktischen Wandel dessen, was überhaupt unter Musik und Erzählen verstanden worden ist, zielt der Mainstream der musikwissenschaftlichen Diskussion weniger auf eine Entscheidung hinsichtlich der Frage ab, ob die Musik als ästhetisches Medium per se erzählen kann oder nicht. Vielmehr geht es darum, vor dem Hintergrund eines komplexen kulturgeschichtlichen Settings zu fragen, welche Sinnzuschreibung Musik hier erfährt. Im Sinne dieser – hier natürlich ebenso selektiv wie markant konturierten – disziplinären Unterschiede möchte der Band nicht zuletzt den interdisziplinären Austausch zwischen Musikwissenschaft und Philosophie befördern.11 Einem solchen regen Austausch zwischen den Herausgebern verdankt sich seine Entstehung. Die Beiträge des vorliegenden Bandes eint, dass sie aus unterschiedlichen Perspektiven und mit Blick auf verschiedene Gegenstände das Potential ausloten, der Redeweise von Musik als Medium der Erzählung einen verständlichen Sinn zu geben. Ist die Frage, inwieweit Musik als narratives Medium qualifiziert werden kann, eine Frage, auf die es keine unkontroversen Antworten gibt, so möchten folgende Beiträge dieses Bandes unter interdisziplinärer Perspektive die Auseinandersetzung um diese Frage erneut entzünden. Frédéric Döhl analysiert in seinem Beitrag Beethovens in der Forschung weithin diskreditiertes Werk WELLINGTONS SIEG und zeigt auf, dass Beethovens Nutzung des Raumes bei seinen Aufführungen in enger Verwandtschaft zur Kunstform des Panoramas zu denken ist. Hierin weist er darauf hin, dass sich dieses Werk gerade aufgrund seiner markanten räumlichen Organisation in Verbindung mit der Bedeutung von Laustärke für die

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Werkdisposition in Begriffen narrativer Strukturierungen beschreiben lässt. Deutlich wird, dass der narrative Clou von WELLINGTONS SIEG eben in diesen Gesichtspunkten zu finden ist, vielmehr als in dem konkreten historischen Ereignis der Napoleonischen Kriege, das vordergründig Ausgangsund Bezugspunkt der Komposition bildet. Ausgehend von einer kritischen Diskussion des musikphilosophischen Formalismus widmet sich Daniel Martin Feiges Beitrag dem Verhältnis von Musik und Erzählen in der Weise, dass er mit Blick auf erzählende Kunstwerke geltend macht, dass sie anhand des Paradigmas musikalischer Formen zu deuten sind. Auf der Grundlage einer Analyse des Begriffs des Kunstwerks schlägt er dabei vor, nicht die Musik in Begriffen der Diskussionen einer weitestgehend literaturwissenschaftlich geprägten Narratologie zu erläutern, sondern vielmehr noch Literatur als Kunst von ihrer strukturellen Affinität zur Musik her zu deuten. Ausgehend von dem Befund, dass Musik einerseits immer schon auch als narratives Medium verstanden worden ist, andererseits aber kein repräsentationales Medium ist, entwickelt Asmus Trautsch die These, dass wir Musik insgesamt sinnvoll als narratives Medium qualifizieren können. Vor dem Hintergrund weitergehender Überlegungen zum Verhältnis von Musik und Sprache argumentiert er dafür, die narrativen Valenzen von Musik als solche zu verstehen, die vor dem Hintergrund historisch-kultureller Bedingungen ein wesentliches Moment unserer rezeptiven Aneignung von Musik sein können. Unter kulturgeschichtlicher Perspektive lotet Gesa zur Nieden in ihrem Beitrag die narrativen Möglichkeiten von Musik anhand der Analyse von Siegfried Wagners Ouvertüre DER BÄRENHÄUTER aus. Im Rahmen einer Verbindung des Werks mit der Gattung der Märchenoper und unter Rückgriff auf die literaturwissenschaftliche Märchenforschung arbeitet sie exemplarisch anhand der Deutungen des Musikpädagogen Otto Daube zugleich die politische Positionierung der Rezeption dieses Werks heraus. Vor dem Hintergrund einer Skizze der sich historisch wandelnden Verständnisse von Musik und Erzählen widmet sich Katrin Eggers Beitrag einer Analyse von Arnold Schönbergs Schaffen. Schönberg wird dabei als Komponist verständlich, der Musik mit narrativem Anspruch komponiert und durchaus in einer maßgeblichen Tradition steht. Zugleich weist sie nach, dass gerade in der deutschen Rezeption aufgrund eines puristischen

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Verständnisses musikalischer Formen diese Dimension von Schönbergs Arbeit häufig ausgeblendet worden ist. Ausgehend von der Beobachtung, dass es sich bei der programmatischen Verabschiedung narrativer Momente aus der Musik im 20. Jahrhundert angesichts der Omnipräsenz narrativer Verfahren eher um einen Sonderfall des Musikalischen handelt, analysiert Gregor Herzfeld in seinem Beitrag drei mit der amerikanischen Moderne verbundene Komponisten. Dabei weist er anhand des Themas der Trauer nach, dass einige ihrer Kompositionen durchaus in Begriffen erzählerischer Potenzen der Musik zu erläutern sind. Beate Kutschke geht in ihrem von symboltheoretischen Überlegungen geprägten Beitrag von der Feststellung aus, dass wir, obwohl Musik als Zeichensystem nicht in der Lage sei, wie Literatur im engeren Sinne zu erzählen, dennoch viele Arten von Musik als erzählend hören. Beschreibt sie die Sinngenerierung in Sprache als konventional und die Sinngenerierung von Musik als auf Ähnlichkeitsrelationen basierend, so erläutert sie das narrative Potential der Musik unter symboltheoretischer Perspektive just aufgrund der Möglichkeit der Herstellung entsprechender Ähnlichkeiten. Diese Überlegungen spezifiziert sie mit Blick auf den Tanz als ein mit der Musik verwandtes Symbolsystem und konkretisiert sie mit Blick auf Gustav Mahler. Gleichfalls anhand der Musik Gustav Mahlers und ihrem Einbezug räumlicher Effekte widmet sich Florian Kraemers Beitrag einer kritischen Diskussion etablierter Konzepte des Narrativen und deren Möglichkeiten, für eine Beschreibung von Musik fruchtbar gemacht zu machen. Im Kontrast zu diesen Konzepten, die er systematisch in semantische und formale Begriffen des Erzählens einteilt, schlägt er einen Begriff des perspektivischen Erzählens vor, der wesentlich mit der räumlichen Organisation musikalischer Ereignisse verbunden ist und sich hierin mit Beobachtungen des ersten Beitrags von Frédéric Döhl trifft. Harry Lehmanns Beitrag expliziert Erzählen als Teil der Alltagskommunikation und weist auf formale Parallelen zwischen Literatur und Musik hin. Avantgardistische Literatur und Neue Musik vereint seiner These nach dabei, dass sie mit herkömmlichen – auch narrativen – Formen reflexiv brechen. Lehmanns These nach ändert sich diese Situation jedoch mit den Veränderungen der Musik aufgrund der digitalen Revolution; an dem Bei-

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spiel eines Werks der nun relationalen und nicht mehr absoluten Musik lotet er deren narrative Potentiale aus. Stefan Niklas widmet sich in seinem Beitrag der Praxis des mobilen Musikhörens und befragt dieses auf seine möglichen narrativen Strukturierungen hin. Ausgehend von einer unter Rückgriff auf Dewey geleisteten Explikation des Begriffs der ästhetischen Erfahrung begreift er mobiles Musikhören in seiner synästhetischen Leistung als wesentlich in Analogie zum Hören eines Film-Soundtracks. Auf der Grundlage dieser Analogie lotet Niklas die narrativen Potentiale des mobilen Musikhörens aus. Dirk Stederoth geht in seinem Beitrag einer Spannung in Adornos Bemerkungen zur Nähe und Distanz von Musik und Literatur nach: Einerseits scheint Adorno anhand des Schlagworts der Pseudomorphose narrative Strukturen als etwas der Musik Fremdes zu begreifen, andererseits schreibt er Musik mitunter durchaus narrative Potentiale zu. Stederoth unterscheidet auf den Spuren Adornos zwei Arten narrativer Potentiale der Musik: Einerseits als etwas, das auf einer Konvergenz von musikalischem Material mit wortsprachlichem Narrativ zustande kommt, andererseits als etwas, dass über den dramaturgischen Charakter bestimmter Arten von Musik zustande kommt. Nicole Jost-Rösch analysiert mit Blick auf die Frage des Verhältnisses von Musik und Narration exemplarisch Alban Bergs LYRISCHE SUITE. Dabei lässt sie sich vor allem von der Frage nach einem musikalischen Erzähler leiten und argumentiert dafür, dass das Werk in dieser Frage aus mehreren Instanzen zusammengesetzt ist. In diesem Sinne unterscheidet sie mit Blick auf die LYRISCHE SUITE zwischen Autor, Erzähler, narrativem Personal und Adressat.

Georg Mohr geht in seinem Beitrag von dem Befund aus, dass anders als der musikästhetische Formalismus behauptet, wir im Alltag der Musik häufig narrative Valenzen zuschreiben. Dabei weist er nach, dass die Versuche die erzählerische Potenz selbst von Instrumentalmusik durch eine Überblendung mit einem literaturwissenschaftlichen Erzählbegriff zu fassen, tendenziell unzureichend bleiben, wie auch Versuche einseitig bleiben, narrative Valenzen von Musik über bloße Strukturanalogien zu klassisch erzählenden Medien zu begründen. Ausgehend von Überlegungen zum Jazz zeigt er vielmehr, dass das Problem des Narrativität von Musik vor allem im formalistischen Musikverständnis dominanter Tradition musikästhetischer Theoriebildung zu sehen ist.

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A NMERKUNGEN 1 Der derzeit wohl einflussreichste Vertreter des Formalismus in der Musikphilosophie ist Peter Kivy. Vgl. zur vorliegenden Frage besonders Kivy, Peter: Antithetical Arts: On the Ancient Quarrel between Literature and Music, Oxford 2009. 2 Vgl. zum Paradigma der absoluten Musik auch Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978. 3 Vgl. zu dieser Genese aus philosophischer Sicht Goehr, Lydia: The Imaginary Museum of Musical Works. An Essay in the Philosophy of Music, New York 1992. 4 Exemplarisch hat sich an diesem Problem u.a. Hegel abgearbeitet. Vgl. Hegel, Georg W. F.: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. 3, Frankfurt am Main 1986, S. 131-222. 5 Vgl. zu diesem Problemkomplex Wellmer, Albrecht: Versuch über Musik und Sprache, Hamburg 2009. Vgl. auch die Beiträge in Grüny, Christian (Hrsg.): Musik und Sprache. Dimensionen eines schwierigen Verhältnisses, Weilerswist 2012. 6 Alexander Becker und Matthias Vogel haben ihren wichtigen Band zur Musikphilosophie genau an dieser Frage ausgerichtet. Vgl. die Beiträge in Becker, Alexander/Vogel, Matthias (Hrsg.): Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 2007. 7 Vgl. mit Blick auf das Verhältnis von Musik und Literatur – das ästhetische Medium, das narratologisch wohl am intensivsten untersucht worden ist – auch Lubkoll, Christine: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg i. Br. 1995. 8 Vgl. einführend auch Köppe, Tilmann/Kindt, Tom: Erzähltheorie: Eine Einführung, Ditzingen 2014, hier Kap. 2. 9 Einflussreiche Gegenstimmen stellen etwa Kendall Walton und vor allem Jerrold Levinson dar. Vgl. Walton, Kendall: »Listening with Imagination: Is Music Representational?«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 52 (1994), S. 47-61. Von Jerrold Levinson etwa die Beiträge in Levinson, Jerrold: Music, Art and Metaphysics, Oxford 2011. Schon Goodmans Ästhetik lässt sich so lesen, dass sie ausgehend von ihrem Begriff der metaphorischen Exemplifikation skeptisch gegenüber einer puristischen Rekonstruktion musikalischer Formen gewesen ist, auch wenn das mit Blick auf die Musik von ihm nicht genauer

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ausgearbeitet worden ist. Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst, Frankfurt am Main 1997, hier Kap. 2. 10 Die Literatur dazu ist immens, so dass sich an dieser Stelle nur eine selektive Auswahl angeben lässt. Vgl. stellv. Cook, Nicholas: Music, Imagination, and Culture, Oxford 1990; Kramer, Lawrence: »Musical Narratology. A Theoretical Outline«, in: Indiana Theory Review 12 (1991), S. 141-162; Subotnik, Rose R.: Deconstructive Variations: Music and Reason in Western Society, Minneapolis/MI 1995; Pasler, Jann: Writing Through Music, Oxford 2008; Almén, Byron: A Theory of Musical Narrative, Bloomington/IN 2008. Klein, Michael/Reyland, Nicholas (Hrsg.): Music and Narrative since 1900, Bloomington/IN 2013. 11 Auf die Notwendigkeit dieses Dialogs hat jüngst Richard Klein in seiner Einführung in die Musikphilosophie insistiert. Vgl. Klein, Richard: Musikphilosophie zur Einführung, Hamburg 2014, hier Einleitung.

Raum und Lautstärke als Ebenen musikalischer Narration Zu Ludwig van Beethovens WELLINGTONS SIEG op. 91 im Spiegel des Panoramas

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I. »Schreiber dieses bemerkte mit wahrer Lust ein Militair von höherem Range, der ganz in sich verloren dastand, und als nun Schlag auf Schlag der Sturm der Dissonanzen den höchsten Punkt, die Krisis der Schlacht bezeichnete, unwillkürlich nach dem Säbel griff, als wolle er sich an die Spitze des Bataillons setzen zum entscheidenden Angriff. Ein mildes Lächeln überflog sein Gesicht, als er in dem Augenblick die Täuschung des inneren Sinns gewahrte.«1

So notierte E.T.A. Hoffmann 1820 nach einer Aufführung von Ludwig van Beethovens Opus 91.2 Andere Zeitzeugen berichteten Ähnliches. Die Uraufführungskritik in der Allgemeinen musikalischen Zeitung kommentierte Anfang 1814 zum Beispiel: »Was sodann die Schlacht betrifft: will man nun einmal sie durch Töne der Musik auszudrücken versuchen, so wird man wenigstens es eben auf die Art machen müssen, wie es hier geschehen. Einmal in die Idee eingegangen, erstaunt man freudig über den Reichthum, und noch mehr über die genialische Verwendung der Kunstmittel zu jenem Zweck. Der Effect, ja selbst die recht eigentliche Täuschung ist ganz außerordentlich; [...]. Uebrigens brauchen wir wohl kaum hinzuzusetzen, dass der

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Laye in Absicht auf Musik dies Werk ganz allarmirt anstaunte und gar nicht wußte, wie ihm geschah; [...].«3

Rosalia Rzewuska, polnische Adlige und Schirmherrin musikalischer Salons,4 notierte in ihren Memoiren über die dritte Aufführung von Wellingtons Sieg in Wien am 2. Januar 1814: »Zu Beginn des Jahres 1814, als alle Herzen von Gedanken des Ruhmes bewegt waren, wurde im Kleinen Redoutensaal eine der Kompositionen Beethovens aufgeführt, die Schlacht bei Vittoria. Die Wirkung war bewundernswert. Die Nachahmung der Seufzer der Verwundeten ließ Mrs Cadogan, die ihren Schwager in dieser Schlacht verloren hatte, in Ohnmacht fallen.«5

Könnte es nicht sein, dass das, was solche musikalisch qualifizierten Ohrenzeugen zu Protokoll gaben, ein Indiz dafür ist, dass sie sich vor fast genau 200 Jahren mit etwas konfrontiert sahen, das ihnen vor dem Hintergrund dessen, was sie als Hörhorizont kannten und kennen konnten, ausnehmend besonders erschien? Diese Vermutung muss sich aufdrängen, wenn man solche Kommentare mit Peter Gülke als Erfahrungsberichte ernst nimmt: »Das ungebändigt Gedachte wurde im Nachhinein von der musikgeschichtlichen Erfahrung gebändigt. […] Besser sollten diese Zeugnisse als Dokument einer Erfahrung gewertet werden, die realer, authentischer und auch in der Ablehnung der Intention des Werkes nahe war, zumal diese Erfahrung heute nicht mehr nachvollzogen werden kann, es sei denn, man übte jahrelang Askese und ginge zunächst mit Gyrowetz, Hummel, Koželuch oder Pleyel um, um dann zu Haydn oder Mozart zurückzukehren.«6

Diese Annahme Gülkes wird im Folgenden aufgegriffen und auf die Reaktionen übertragen, die WELLINGTONS SIEG erfuhr: Was steckt hinter den Erfahrungen, die in solchen Zeitzeugenaussagen wie den eingangs zitierten bekundet werden und auf die wir nicht treffen, wenn es um andere Werke aus Beethovens Œuvre geht? Die Antwort, die hier zu geben versucht wird, führt über das Verhältnis von Musik und Narration. Das ist eine komplexe Beziehung. In den vergangenen gut 25 Jahren hat dies Verhältnis gerade in der Musikwissenschaft im Gefolge des Aufkom-

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mens der new musicology besondere Aufmerksamkeit erfahren.7 Letztlich ist es aber eine sehr alte Problemstellung. Nicht überraschend sehen wir sie schon in den Uraufführungskritiken zu Opus 91 angesprochen, wenn es z.B. heißt »[j]eder gestehen mußte, daß wenn Etwas der Art je zuläßig, es nur so und nicht anders zuläßig ist«8 oder, wie eben schon angeführt, resümiert wird: »Was sodann die Schlacht betrifft: will man nun einmal sie durch Töne der Musik auszudrücken versuchen, so wird man wenigstens es eben auf die Art machen müssen, wie es hier geschehen«9. Es wird sich zunächst zeigen, dass Beethoven in seiner Intention, das Erlebnis der Schlacht jenseits eines Schlachtfeldes erfahrbar zu machen, von einer zeitgenössischen Praxis der bildenden Kunst ausging, die außerordentlich populär war und der dieselbe ästhetische Agenda zugrunde lag: das Panorama.10 Hier wird, so die erste These des Beitrags, die Inspiration Beethovens dafür verortet, es zu unternehmen, eine solche Agenda nun ein Mal mit den musikalischen Mitteln zu realisieren, wie wir sie eben nicht nur in WELLINGTONS SIEG, sondern vorher schon prominent im Panorama etabliert finden: Unter Ausnutzung jener spezifischen narrativen Qualitäten, welche sich der Platzierung des Rezipienten in einer bestimmten räumlichen Situation verdanken – in der visuellen (im Fall des Panoramas) bzw. akustischen (im Fall von WELLINGTONS SIEG) Mitte des Geschehens.11 Auf dieser Ebene des Raums sowie der zweiten der Lautstärke, die Beethoven gleichfalls und im Zusammenspiel mit der von ihm gewählten Raumkonfiguration stark macht, liegt, so die zweite These des Beitrags, zugleich der eigentliche narrative Clou des Werks, was die Darstellung jener militärischen Schlacht von Vittoria betrifft, die dem Stück seinen Namen und deren Resultat ihm die Struktur gegeben hat: Wenn sich einige Beiträge in diesem Band dezidiert mit der Differenz zwischen »Story« und »Plot«/»Discourse« in der Erzähltheorie auseinandersetzen,12 d.h. dem, was erzählt wird, und dem, wie etwas erzählt wird, so lässt sich zugespitzt sagen, dass im Fall von Opus 91 an für das Werk entscheidender struktureller Stelle »Story« und »Plot«/»Discourse« gerade zusammenfallen. Denn wie die eingangs zitierten Zeitzeugenberichte illustrieren, ist es diese Gewalt einer Schlacht, die Beethoven interessiert. Und es ist die dreidimensionale Inszenierung von Lautstärke im Raum, die er als Weg gewählt hat, dieser Gewalt mit musikalischen Mitteln Ausdruck zu verleihen. Dadurch vermag er ein prägendes Charakteristikum derartiger militärischer Auseinandersetzungen zum zentralen musikalischen Moment seiner Erzählung zu machen:

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akustische Gewalt durch extreme Lautstärke, in deren räumlichem Mittelpunkt sich der Hörer wiederfindet – wenn denn eine Aufführung jenen Vorgaben Beethovens folgt, die er der Erstausgabe der Partitur voranstellte.

II. Beethovens Opus 91 trägt als vollen Titel bekanntlich den Namen WELLINGTONS SIEG ODER DIE SCHLACHT BEI VITTORIA. Vittoria war eine Schlacht in Spanien. Sie fand am 21. Juni 1813 statt. Hier führte der spätere Feldmarschall Duke of Wellington und Sieger von Waterloo die Gegner Napoleons zum entscheidenden Sieg auf der Iberischen Halbinsel.13 Nur noch ausgewiesene Spezialisten der Napoleonischen Kriege wissen heute von dieser Schlacht zu berichten. Die Völkerschlacht von Leipzig und dann der Wiener Kongress und Waterloo verdrängten sie im kollektiven Gedächtnis. Für Beethoven und seine Zeitgenossen war die Schlacht von Vittoria hingegen ein weithin beachtetes Ereignis.14 Nach dem Russlanddebakel markierte der Verlust Spaniens den zweiten Schritt in der Erosion von Napoleons militärischer Macht. Diese hatte für eine Generation unangreifbar gewirkt und Europas Politik bestimmt. Im Herbst 1813 auf dem Höhepunkt der Befreiungskriege komponiert, hatte WELLINGTONS SIEG zeitnah am 8. Dezember 1813 im Wiener Universitätssaal Premiere. Es war dasselbe Konzert, in dem auch die heute ungleich bekanntere SIEBTE SINFONIE uraufgeführt wurde.15 Das Konzert war eine Benefizveranstaltung zugunsten der »in der Schlacht bey Hanau invalid gewordenen kaiserlich-österreichischen und königlich bayrischen Krieger«16. Auch in dieser Hinsicht stand wie in Opus 91 alles im Zeichen des Krieges. Dieser hatte keineswegs zwei Monate zuvor mit der Völkerschlacht von Leipzig geendet. Vielmehr war er zu diesem Zeitpunkt noch in vollem Gange. Bei Beethovens Opus 91 handelt sich um eine zweitteilige Komposition für Sinfonieorchester von einer guten Viertelstunde Aufführungsdauer. »Erste Abtheilung: Schlacht. Zweyte Abtheilung: Sieges Sinfonie«, so lauten die Untertitel der beiden Werkteile. Auf die erste Abteilung Schlacht entfällt etwas mehr als die Hälfte von Umfang und Darbietungszeit. Beethoven beginnt in medias res17 mit dem Aufmarsch der feindlichen Truppen auf dem Schlachtfeld.18 Die Briten werden zunächst vorgestellt. Einleitende Trommel- und dann Trompetensignale verkünden das nahende Ereignis. Es

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folgen 30 Takte Marsch über RULE BRITANNIA.19 Dann die Franzosen. Die Prozedur wird wiederholt. Nach einleitenden Trommel- und dann Trompetensignalen schließen sich 43 Takte Marsch über MARLBOROUGH S’EN VA-TEN GUERRE an, einem französischen Spottlied auf einen britischen Heerführer des Spanischen Erbfolgekrieges.20 Sodann ergeht per Trompetensignal die Aufforderung zum Kampf. Das darauf folgende Allegro ist Schlacht betitelt. Neben den miteinander ringenden Marschmusiken werden Klänge, die für Waffen stehen, in Gestalt von großen Basstrommeln (für Kanonen) und Ratschen (für Gewehre) in die Partitur eingeführt. Der Kanonendonner tritt im Folgenden gefühlt unvorhersehbar auf, d.h. metrisch irregulär. Tatsächlich sind die Einsätze aber durch Sonderzeichen präzise in der Partitur vermerkt. Die akustischen Akzente verfehlen ihre Wirkung jedoch nicht, da der rhythmische, metrische und harmonische Hintergrund sich ausgesprochen stabil und wohlgeordnet vollzieht.21 Die musikalische Szenerie geht in einen Sturmmarsch über, der angetrieben von den Trommeln ins Presto des Schlachthöhepunktes führt. Das Getümmel währt kurz. Ein Abflauen mündet ins abschließende Andante. Das Obsiegen der britischen Truppen wird durch ein schrittweises Verstummen der französischen ›Gewehre‹ bei anhaltendem Beschuss durch die Briten veranschaulicht. Fetzen des MARLBOROUGH-Marsches, nun in Moll stehend und wie eine traurige Karikatur des ehemaligen Glanzes wirkend, mischen sich in das französische Ende. Jenes ahnte man schon unmittelbar vor dem Sturmmarsch kommen, als die beiden Trompetensignale im Kontext eines c-Moll-Abschnitts aufeinander trafen und das Es-Signal (Briten), eine kleine Terz über dem französischen Pendant auf C erklingend, dieses in einem Moment von großer Plastizität unverzüglich zu dominieren begann.22 Angesichts der in jener Zeit tatsächlich regelmäßig viele Stunden dauernden Schlachten, nimmt sich Beethovens Darstellung allein schon zeitlich gesehen ausgesprochen komprimiert aus, auf eine symbolische Repräsentation kondensiert. Der Bruch hiernach ist hart. Nach kurzer Generalpause folgt eine kurze Intrada in D-Dur, die in denkbar schroffem Gegensatz zum Ersterben der Musik zuvor steht. Sie führt zu einem vom ganzen Orchester in Fortissimo vorgetragenen Triumphmarsch, in dem als melodisches Thema GOD SAVE THE KING verarbeitet wird.23 Auffällig an der Ausgestaltung der Siegessinfonie ist, dass das triumphale Pathos gerade nicht mit GOD SAVE THE KING verbunden wird, dem eine primär leise, angesichts der lärmenden Umgebungsmusik bald nachdenklich wirkende Rolle zugewiesen wird, obwohl

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das Thema sich bekanntlich trefflich zur orchestralen Ausstaffierung mit großem Pomp eignet: Wenn in Takt 423 zu den Pizzicati der Streicher das GOD SAVE THE KING der Holzbläser anhebt, kehrt Andante grazioso, in BDur im 3/4-Takt stehend, Ruhe ein. In D-Dur folgt die zweite Variation über GOD SAVE THE KING in den Takten 493-515 (Tempo di minuetto, moderato, 3/4). Doch die leise Melodieführung der Holzbläser wird von Tuttieinwürfen des Orchesters seltsam aggressiv gebrochen. Eine Deutung bliebe notwendig Spekulation. Ungebrochenen Jubel an der Seite der Sieger scheint die Ausgestaltung des Sieges wider dem Titel des Werkteils aber offenkundig nicht verheißen zu wollen. Diese Passagen wie der fis-MollSchluss der Schlacht sind jedenfalls subtile Momente, die sich mit dem Vorwurf oberflächlichen patriotischen Bombastes schwerlich vertragen.24

III. Anders als in Beethovens sonstigem Schaffen handelt es sich bei Opus 91 um eine dezidiert für den Raum konzipierte Komposition. Die Musiker sind im Saal an verschiedenen Stellen platziert und befinden sich, soweit es die Aufführungsstätte erlaubt, teilweise sogar spielend in Bewegung, insoweit sie im ersten Werkteil die herankommenden Armeen symbolisieren – »[...] fängt man von der äußersten Entfernung an, und nähert sich mehr und mehr«25, wie es als Ausführungsanweisung zu Beginn der Partitur heißt. Laut Ohrenzeugenbericht Anton Schindlers wurde eben diese Vorgabe zumindest ab der dritten Aufführung von WELLINGTONS SIEG am 2. Januar 1814 im Großen Redoutensaal auch umgesetzt: »Schon im Laufe des Januars erfolgte die Wiederholung der A dur Sinfonie und der Schlacht bei Vittoria, und zwar im großen Redouten=Saale. Erst in diesem Raume bot sich Gelegenheit dar, die mancherlei Intentionen bei der Schlacht=Sinfonie in Ausführung zu bringen. Aus langen Corridoren und entgegengesetzten Gemächern konnte man die feindlichen Heere gegen einander anrücken lassen, wodurch die erforderliche Täuschung in ergreifender Weise bewerkstelligt wurde.«26

Die Aufführungen am 27. Februar, 29. November, 2. und 25. Dezember 1814 fanden ebenfalls im Großen Redoutensaal statt. Für die ersten beiden Aufführungen im Universitätssaal am 8. und 12. Dezember 1813 ist unklar,

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ob sich die Militärkapellen bewegt haben. Dies widerspräche Schindlers Angabe, wonach diese Idee erstmals am 2. Januar 1814 im Großen Redoutensaal realisiert werden konnte.27 Im Universitätssaal sollen die Militärkapellen auf den Galerien postiert gewesen sein, die Premierenkritik im Oesterreichischen Beobachter lässt freilich durch die Verwendung räumlicher Begriffe in der Beschreibung Bewegung zu Beginn der Darbietung wenigstens vermuten, wenn es heißt: »so viel ist gewiß, daß Beethoven’s Composition von wahrhaft herrlicher, siegender Wirkung war, daß sie sich durch die lebendigste Charakteristik aussprach und gewiß Jeder gestehen mußte, daß wenn Etwas der Art je zuläßig, es nur so und nicht anders zuläßig ist. Man hörte die französischen und englischen Heere anrücken; jene mit ihrem Marlborough s’en va-t-en guerre; diese mit ihrem herrlichen Britannia rule thy waves. Immer näher wälzt sich das Schlachtgewühl [...].«28

So oder so war das Publikum stets in der Mitte des Geschehens zu platzieren. Spätere Besprechungen wie jene in der Allgemeinen musikalischen Zeitung 1816 wiesen, hier das dann schon erschienene Vorwort der Erstausgabe aufgreifend, auf diese räumlich disponierte Verfasstheit als entscheidend für die Konzeption von Opus 91 hin: »[...] und auch mit geringern Mitteln an kleinern Orten ist die Production im verjüngten Maassstab möglich, wobey jedoch die Winke des Verfassers, vorzüglich auch über die Stellung der Instrumente, und über die Tempi, wohl zu beherzigen sind.«29

Anlässlich der Akademie am 27. Februar 1814 wurde der erste Teil »Schlacht« auf Publikumswunsch wiederholt, was sich kaum anders als unter Verweis auf die besondere Raumdisposition des dort angebotenen Hörerlebnisses erklären lässt.30 An Werkmomenten wie dem zeitversetzten Aufmarsch der virtuellen Truppen zu Beginn, dem bisweilen zeitversetzten ›Waffeneinsatz‹ oder dem Umstand, dass der letzte französische ›Kanonenschuss‹ in Takt 146 fällt, von der englischen Seite aber noch insgesamt 37 folgen, wird deutlich, dass auch akustische Asymmetrien zum Versuchsaufbau des Werks gehören, die den Raum als Raum nochmals anders betonen als Rundumbeschallung.31 Andere Beispiele hierfür sind »Aufforderung« und »Gegenruf« vor Schlachtbeginn, die unregelmäßige Abfolge der

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englischen und französischen ›Schüsse‹ oder die wechselnden Abschnitte auf Seiten der virtuellen Truppen, die mit »Tromba« überschrieben sind. Die hier anvisierte Klangregie ist den Mehrkanal-Surround-Bedingungen heutiger elektronischer Musik und Kinos offenkundig ungleich näher als der statischen Musikproduktion via Konzertpodium, wie man sie mit sinfonischer Musik wie Beethovens assoziiert. Der Verweis auf zwei Auszüge aus einem Vorwort macht dies deutlich. Beethoven stellte es der Erstausgabe der Partitur voran, die im Februar 1816 erschien. WELLINGTONS SIEG wurde hiermit die erste Komposition Beethovens, die vollständig zugleich als Partitur und in Einzelstimmen erschien, ergänzt um Bearbeitungen für Streichquintett, Klaviertrio, Klavier zu vier Händen, Klavier zu zwei Händen und große Militärmusikbesetzung (»türkische Musik«), welche von den Mitverlegern S. A. Steiner & Comp. (Wien), Breitkopf & Härtel, C. F. Peters und Fr. Hoffmeister (Leipzig), N. Simrock (Bonn), J. André (Offenbach), Nägeli & Comp. (Zürich), C. Zulehner (Ettwill) sowie einer Reihe lokaler Musikalienhandlungen in Augsburg, Berlin, Braunschweig, Frankfurt, Hamburg, Mailand, München, Neapel und Stuttgart systematisch vermarktet wurden. Beethovens Vorwort ist keine politische Schrift, wie man angesichts von Werk und Zeitumständen vermuten könnte. Es sind Aufführungsanweisungen. Sie reflektieren nicht zuletzt seine Erfahrungen als Leiter der ersten Aufführungen von WELLINGTONS SIEG in Wien, die zu seinen allerletzten Auftritten als Pianist oder Dirigent in öffentlichen Konzerten überhaupt gehören.32 In diesem Vorwort heißt es: »2. Zu den zwey großen Trommeln [...] wodurch die Kanonenschüsse bewirkt werden, gehören die größten Gattungen derselben [...] welche man gewöhnlich in den Theatern braucht, um einen Donnerschlag zu bewirken; [...] sie müssen entfernt von dem eigentlichen Orchester, jede auf entgegengesetzter Seite, wovon eine Seite die englische, die andere die französische Armee vorstellet, wie es der Saal erlaubt, stehen, ohne daß sie von den Zuhörern gesehen werden. – Voran darf wohl der Kapellmeister stehen, der beyden Seiten den Takt giebt. Diejenigen, welche die Kanonen Maschinen spielen, müssen durchaus nicht im Orchester, sondern an ziemlich entfernten Orten stehen, und müssen von sehr guten Musikern gespielt werden. (Hier in Wien wurden selbe von den erstern Kapellmeistern gespielt.) [...] 5. Auch müssen auf jeder Seite zwey gewöhnliche Militär-Trommeln seyn, welche vor jedem Marsch auf ihren Trommeln gleichsam die Entrade machen; nur ist zu bemerken,

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daß diese Entraden nicht zu lange dauern, jedoch länger als angezeigt, und wo möglich sich in einer Entfernung stellen, und sich immer mehr und mehr nähern, um das Anrücken der Truppen recht täuschend vorzustellen.«33

Ausgerechnet WELLINGTONS SIEG verdankte Beethoven bekanntermaßen zu Lebzeiten seine größten öffentlichen Erfolge. Die unmittelbare Rezeption war auf vielen Ebenen außerordentlich.34 Man denke zum Beleg stellvertretend nur an die ein Jahrzehnt später im Februar 1824 in Wien platzierten Zeitungsanzeigen. In diesen rief Wiener Prominenz öffentlich dazu auf, sich dafür einzusetzen, die anstehende Premiere der NEUNTEN SINFONIE in Wien zu halten. Es ist WELLINGTONS SIEG, das im Anzeigentext an vorderster Stelle als Beleg für Beethovens Bedeutung genannt wird.35 Gleiches finden wir in Franz Grillparzers Grabrede drei Jahre später vor.36 Gleichgültig, für wie belastbar man solche Zeitzeugnisse hält, eines ist klar: Man kannte WELLINGTONS SIEG. Und man identifizierte Beethoven mit diesem Werk. Hingegen haben Nichtfachleute heutzutage von Opus 91 meist noch nie gehört.37 Es wird seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert kaum mehr gegeben.38 Fachleuten ist WELLINGTONS SIEG allzu meist peinlich.39 Der Impuls, Beethoven vermeintlich vor seinem eigenen Tun nachträglich schützen zu müssen, ist in der Literatur allgegenwärtig.40 Dort bleibt Opus 91 stets ein Ausdruck menschlicher Schwäche. Diese spiegele sich dann in künstlerischer Schwäche. WELLINGTONS SIEG sei letztlich ein »Lärmstück«41, nichts mehr als eine Karikatur des eigenen heroischen Stils der Jahre seit der EROICA.42 Tod, zu einer nur noch der akademischen Vollständigkeit halber relevanten Information abgesunken, ist WELLINGTONS SIEG freilich nicht. Opus 91 hat auch in unserer Gegenwart seine Nische gefunden und zwar im Tonträgermarkt. Seit den 1930er Jahren sind mehr als fünf Dutzend Einspielungen erschienen.43 Viele Dirigenten und Orchester von Rang und Namen sind dabei: Von Karajan und Marriner bis Maazel und Ormandy, von Berlin und Leipzig bis London und Boston. Mitte der 1970er Jahre konstatierte in diesem Zusammenhang Harry Goldschmidt: »Erst Rundfunk und Schallplatte haben das Werk wenigstens indirekt [wieder] zugänglich gemacht, obwohl von seiner unersetzlichen raumakustischen Wirkung viel dabei verlorengeht.«44

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Es ist das, was in Goldschmidts Nachsatz angesprochen ist, was in diesem Beitrag interessiert, das, was er »raumakustische Wirkung« genannt hat. Im allgemeinen Bemühen um seine ästhetische Verurteilung bleibt das, was Goldschmidt als besondere Eigenart von Wellingtons Sieg erschien, in der Beethoven-Forschung zu Opus 91 trotz Zeitzeugenberichten wie den eingangs zitierten kaum beachtet. Eine verstreute Äußerung hier, dass »das ganze Schlachtgeschehen [...] auf eine räumliche Wirkung hin angelegt«45 sei, eine Bemerkung da, wonach Beethovens Stück »systematisch den Raum«46 erschließe, das Aufwerfen einer Frage dort nach dem »effect of this kind of surround-sound on listeners«47. Weiter wird die Sache gemeinhin nicht verfolgt.48 Dabei hat Beethoven 1816 der Erstausgabe ein ausführliches Vorwort vorangestellt, das sich eben diesem Gesichtspunkt widmet. Nicht nur dessen Inhalt, schon der Vorgang an sich ist für Beethoven ungewöhnlich, wie Sieghard Brandenburg erläuterte: »Beethoven war kein Literat, wie aus allen seinen Schriften zu erkennen ist, und er bediente sich eines außerordentlich lakonischen Stils. Alles Narrative und Ausschmückende, jede detailhafte Beschreibung ist ihm fremd.«49

Noch 1926 begründete Theodor Frimmel den Neuabdruck des ganzen Vorworts in seinem BEETHOVEN-HANDBUCH damit, dass es bislang kaum zur Kenntnis genommen worden sei.50 Dabei zeigt uns Opus 91 Beethoven von einer spezifischen Seite. Hier zielt er auf Raumerfahrung, Überwältigung, Lautstärke, tagespolitische Agenda und Publikumswirksamkeit. Die illusionistischen Mittel werden maximiert. Das gilt nicht nur für die skizzierte Disposition der Raumnutzung. Auch Lautstärke ist hier ein entscheidender ästhetischer Faktor. Oder wie der Komponist Carl Friedrich Zelter an seinen Freund Goethe schrieb: »Beethoven hat eine Schlachtsinfonie gemacht, wovon man so taub werden kann als er selbst.«51 Bedenken wir: Das Thema ist Krieg. Oft ist nun aber zu lesen, namentlich im Kontext Historischer Aufführungspraxis, dass Beethovens Musik heutzutage aufgrund der Größe der Orchester verfälscht dargeboten würde.52 Das Hauptargument ist der Verweis auf die Ensemblegrößen, mit denen Beethoven arbeitete. Vor allem aus Honorarabrechnungen weiß man von ihnen. Die Premiere der EROICA am 7. April 1805 wurde zum Beispiel mit nur 55 Musikern gegeben.53 Oder um nochmals Peter Gülke zu zitieren:

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»Beispielsweise hat die Entwicklung der letzten 150 Jahre Klangvolumina gebracht, die die dynamische Skala der klassischen Musik revidierten und, die Reizschwelle in beiden Extremen hinausschiebend, neue Begriffe der Stärkegrade schufen. Das fortissimo des Anfangs der FÜNFTEN SINFONIE, so wie es sich in Beethovens Instrumentation und einer seinerzeit üblichen Streicherbesetzung darstellen würde, läge heute im Mittelfeld.«54

WELLINGTONS SIEG widerspricht solchen Einschätzungen diametral. Wir wissen, dass an der Premiere über 100 Musiker, davon viele der berühmtesten Musiker ihrer Zeit,55 beteiligt waren.56 Das sind doppelt so viele wie damals üblich.57 Für die vierte Aufführung am 27. Februar 1814 sind alleine 69 Streicher dokumentiert.58 Das sind 21 mehr als bei der Uraufführung der NEUNTEN SINFONIE zehn Jahre später.59 Es geht jedoch nicht nur um eine Massierung der beteiligten Musiker. Der Akustiker Stefan Weinzierl hat in einer Rekonstruktion der Wiener Spielstätten Beethovens gezeigt, dass sich Beethoven in hohem Maße mit den akustischen Bedingungen der Wiener Säle beschäftigt haben muss, in denen er sich über mehrere Jahrzehnte hinweg mit seiner Musik bewegte. Und dass die dortigen Bedingungen signifikant andere waren als man vielleicht vermuten würde. Zum einen erklang die Musik signifikant lauter. Es stehen nur zwei der von Beethoven genutzten Säle bzw. sind nicht nachhaltig umgestaltet worden: der Festsaal der Universität und der sogenannte Eroicasaal im Palais Lobkovitz. Die anderen Säle rekonstruierte Weinzierl mit Computerprogrammen, die heutzutage beim Bau neuer Konzertsäle zur Simulation der Akustik genutzt werden. Er stützte seine Berechnungen auf die verfügbaren historischen Informationen zu Grundriss, Deckenhöhe, Dekor, Bestuhlung, Bodenbelag usw., für Einzelbetrachtungen ergänzt um Faktoren wie die Größe des Publikums, dessen Nähe zu den Musikern usw. Weinzierl zeigt, dass z.B. der Festsaal der Universität (Aufführungen Nr. 1 und 2 von WELLINGTONS SIEG) und der Große Redoutensaal (Aufführungen Nr. 3-4, 68) bei deutlich kleinerem Volumen als heutige moderne Vergleichskonzertsäle (Amsterdam, Berlin, Boston, London, München und Wien) sogar höhere Nachhallzeiten aufwiesen.60 Der Festsaal der Universität hatte ein Viertel des Volumens der Berliner Philharmonie, der Große Redoutensaal etwa die Hälfte. Zugleich klang die Musik spürbar basslastiger als in heutigen Konzertsälen. Daran sind Bestuhlung und Publikumsbesetzung Schuld:

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»Die Grafik zeigt, daß die Klangfarbe des Nachhalls in den historischen Räumen in weit stärkerem Maße von der Publikumsbesetzung abhängt als in modernen Sälen, in denen die Bestuhlung in der Regel so konzipiert ist, daß die Absorption im besetzten und unbesetzten Zustand ähnlich verläuft. Im besetzten Zustand weisen die historischen Säle im Mittel eine um 1 dB höhere Energiedichte im tiefen Frequenzbereich auf. Dies ist vor allem auf das unterschiedliche Absorptionsverhalten der Bestuhlung zurückzuführen: Ungepolsterte Stühle weisen im besetzten Zustand bei tiefen Frequenzen eine deutlich niedrigere Absorption auf als gepolsterte Stühle, während der Unterschied bei mittleren und hohen Frequenzen zunehmend geringer wird. Dies führt im besetzten Zustand zu einem ausgeprägten Anstieg der Nachhallzeit bei tiefen Frequenzen in den alten Sälen.«61

Im großen Universitätssaal, in dem WELLINGTONS SIEG Premiere feierte und in dem insgesamt 21 Aufführungen von Beethovens Orchestermusik zu seinen Lebzeiten stattfanden,62 hat Musik daher bei vollbesetzten Konzerten wie Beethovens Akademien Ende 1813 unter dem Strich etwa sieben Mal lauter geklungen als sie es zum Beispiel heute im Konzertsaal des Boston Symphony Orchestra tun würde, wie John Spitzer anmerkte.63 Oder wie Weinzierl in einer anderen Beispielrechnung summierte: »Um den Schallpegel der Liebhaber Concerte der Saison 1807/08 zu erreichen, müsste ein Orchester in der Berliner Philharmonie in der fünffachen Besetzungsstärke spielen, und um die Differenz an raumakustisch bedingter Verstärkung gegenüber einer Aufführung der 32-köpfigen fürstlichen Privatkapelle im Palais Lobkowitz auszugleichen, müsste ein Orchester in der Münchener Philharmonie mit annähernd 1000 Musikern besetzt sein.«64

Es ist klar, dass die Differenz im Fall der Aufführungen von WELLINGTONS SIEG 1813/14 ähnlich drastisch gewesen sein muss, da die Säle zwar deutlich größer waren als jener im Palais Lobkovitz, aber auch das Orchester signifikant stärker war und die Beschallung überdies von allen Seiten erfolgte. Man muss sich diese Aufführungen daher nicht wie einen Abend in der Berliner Philharmonie, sondern vielmehr wie ein heutiges Rockkonzert vorstellen. Insofern erscheinen Kommentare wie Zelters gegenüber Goethe auch nicht zuvorderst als ästhetische Verdikte, sondern als adäquate Beschreibungen des akustisch Erlebten.

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Dafür, dass Beethoven mit diesen Aufführungsbedingungen tatsächlich kalkulierte, spricht nicht zuletzt sein Verhalten als Dirigent. So griff er zum Beispiel bei Folgeaufführungen von WELLINGTONS SIEG in die Besetzung ein. Aus Abrechnungen für Musikhonorare der vierten Aufführung am 27. Februar 1814 im Großen Redoutensaal ist bekannt, dass die Holzbläser dort nicht doppelt besetzt waren, sondern z.B. fünf Klarinetten und vier Oboen spielten.65 Mehr noch besetzte Beethoven für die beiden Heeresgruppen zusätzlich Kontrafagotte zur Stärkung von Volumen und Bass. Diese finden sich nicht in der Partitur.66 Beethoven, der Dirigent, realisierte also die eigenen Forderungen, wie sie in seinem Vorwort zur Erstausgabe von 1816 niedergelegt sind. Dort heißt es gleich zu Beginn unmissverständlich: »je größer der Saal, desto stärker die Besetzung«67. (Wichtig ist hieran im Übrigen auch, sich klar zu machen, dass Opus 91 nicht für einen bestimmten Raum konzipiert wurde, sondern – wie das Vorwort zur Erstausgabe erläutert – die Realisierung der räumlichen Konzeption je nach Räumlichkeit zu erfolgen hat.) Auch war Beethoven in der Interpretation von Opus 91 als Dirigent gerade an extremen Dynamiken gelegen, wie wir z.B. von dem Komponisten und Geigenvirtuosen Louis Spohr wissen, der bei der Uraufführung von WELLINGTONS SIEG im Orchester mitwirkte: »Beethoven, um dieses pp nach seiner Weise auszudeuten, hatte sich ganz unter dem Pulte verkrochen. Bei dem nun folgenden Crescendo wurde er wieder sichtbar, hob sich immer mehr und sprang hoch in die Höhe, als der Moment eintrat, wo seiner Rechnung nach das Forte beginnen musste.«68

Andere zeitgenössische Kommentare bestätigen Spohrs Bericht. Ähnlich vermerkte z.B. Carl Bertruch in seinem Tagebuch nach der Aufführung von Wellingtons Sieg am 29. November 1814: »Beethv. Direction ist einzig. Die Außenwelt scheint ihm zu schmal er denkt [?] neues für sein Werk. Klein u. groß hebt und beugt er sich physisch.«69 Und Franz Wild notierte in seinen Memoiren: »Bei den Pianostellen sank er in die Kniee, bei den Forti schnellte er in die Höhe, so daß seine Gestalt bald zu der eines Zwerges einschrumpfend unter dem Pulte verschwand, bald zu der eines Riese sich aufreckend weit darüber hinausragte, dabei

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waren seine Arme und Hände in einer Bewegung, als wären mit dem Anheben der Musik in jedes Glied tausend Leben gefahren.«70

Diese Aussagen decken sich mit Einschätzungen weiterer Orchestermusiker, die mangelnde Präzision in Beethovens Dirigat rügten, was angesichts extrem ausladender körperlicher Gesten, wie sie Spohr, Bertruch und Wild beschreiben, naheliegt.71 Insofern Beethoven fast ausschließlich als Dirigent eigener Werke in Erscheinung trat, zeigen die verfügbaren Quellen also einen deutlichen Akzent auf Seiten von Dynamik und Expressivität in dem, was der Dirigent Beethoven zu vermitteln suchte. Und ein Eingehen auf die akustischen Bedingungen der Wiener Säle, in denen er so lange wirkte.

IV. Überwältigung, Lautstärke, tagespolitisch einschlägiges Thema und Publikumswirksamkeit: Für all diese Momente, die für Beethovens Konzeption von Opus 91 zentral sind und hier in besonders pointierter Weise hervortreten, finden wir auch an anderer Stelle in seinem Schaffen Belege dahingehend, dass sie für seine kompositorische Arbeit von grundsätzlicher Bedeutung waren. Opus 91 ist insoweit kein skurriler Sonderfall – oder Ausrutscher, wie Kritiker sagen würden. Man denke nur an die Massierung der Mittel in der CHORFANTASIE oder in der NEUNTEN SINFONIE. Anders jedoch verhält es sich mit dem Moment der Inszenierung von Raumerfahrung, in deren Dienst die anderen Momente in WELLINGTONS SIEG treten bzw. die umgekehrt in diesem Werk durch die Inszenierung von Raumerfahrung besonders betont werden. Hierfür fehlen unmittelbares Muster in seinem eigenen Instrumentalmusikschaffen oder jenem Dritter. Das gilt insbesondere auch für die heute vergessene Gattung der Schlachtenmusik, Battaglia genannt, der WELLINGTONS SIEG zugehört. Nur 15 Prozent dieser Werke waren überhaupt für Orchester komponiert.72 Das Verwenden von Instrumenten zur Simulation von Kanonen- und Gewehrschüssen erscheint zwar in anderen Battaglia-Partituren der Zeit. Ein Beispiel wäre die LA BATTAGLIA betitelte Coda von Johann Nepomuk Hummels 12 DEUTSCHE TÄNZE op. 25, welche dieser für die Karnevalssaison 1807 in Wien verfasste.73 Freilich, die Kalkulation auf Inszenierung von Instrumen-

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talmusik im Raum, die Opus 91 auszeichnet, finden wir nicht als Tradition vorgebildet. Mögliche Kandidaten wie Johann Friedrich Klöfflers BATAILLE FÜR ZWEI ORCHESTER op. 198 (1777) hatten entweder die Zeit ihrer Bekanntheit hinter sich oder wurden wie Peter von Winters SCHLACHTSINFONIE op. 209 (UA Ende 1813 in München) gleichzeitig oder später verfasst oder beschränkten sich auf kursorische Distanzeffekte wie in Johann Bernhard Logiers THE BATTLE OF TRAFALGAR op. 6 (1806).74 Nicholas Cook verweist stattdessen auf Freiluftfestivitäten in Wien: »[it refers to] an incorporation of a range of military and ceremonial genres within the apparatus of the orchestral tradition that the music annexes the discourse of outdoor music to those of the concert hall, evoking the ceremonial occasions and public celebrations that took place in the prater.«75

Mit gleichem Recht könnte man auch die Rolle von Oratorien und Chormusik bei der Etablierung des öffentlichen Konzertlebens in Wien zu Beginn des 19. Jahrhunderts hervorheben.76 Oder die öffentlichen Massensingen namentlich in Frankreich in den 1790er Jahren.77 Diesen Hinweisen soll gar nicht widersprochen werden. Sie scheinen evident, schon angesichts Beethovens anhaltender Begeisterung für die französische Musik der 1790er Jahre.78 Auch die Kategorie des Festlichen selbst hat bekanntlich signifikante Spuren in Beethovens Musik hinterlassen.79 Aber doch scheint eine kardinale Differenz zu bestehen zwischen den soeben skizzierten Bedingungen, mit denen Beethoven für Saalveranstaltungen arbeitete und dies ausschließlich mit instrumentalen Mitteln, und dem, was er an Vorbildern und Vorlagen vorfand. Die Idee der akustischen Illusion, die wir in den Reaktionen der Eingangszitate aufgerufen sahen, die den ersten Werkteil »Schlacht« bestimmt und die sich in akustisch dreidimensionaler Inszenierung von basslastig-laut vorgetragenem Schlachtengetümmel realisiert, ist doch ein spürbar anderes Anliegen, auch wenn es gewiss einige stilistische Momente mit den Militärkapellen, Prozessionen und Massensingen der Zeit teilt. Das Vorwort zur Erstausgabe enthält keine Antwort darauf, wie es zu dieser signifikanten Besonderheit in der Werkkonzeption kam. Gleiches gilt für Beethovens Briefe der Zeit, sein zwischen 1812 und 1818 geführtes Tagebuch oder den reichen Pool der Zeitzeugenberichte. Aber die spezifische konzeptuelle Konfiguration, die Opus 91 prägt, steht nicht einzig dar

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in der Kunst des beginnenden 19. Jahrhunderts. Man wird jenseits der Grenzen der Musik fündig: die Zeitgenossenschaft von Beethovens Konzeption in WELLINGTONS SIEG zu einem bedeutenden Trend jener Jahre, dem sogenannten Panorama, das sich als Format just zur selben Zeit in der bildenden Kunst entwickelte.80 Hier sehen wir dieselben ästhetischen Ziele als Agenda gesetzt.81 Und es spricht nicht weniges dafür, dass wir es nicht nur mit Koinzidenz und geteiltem Zeitgeist zu tun haben, sondern dass Beethoven mit WELLINGTONS SIEG tatsächlich ein akustisches Pendant zur visuellen Illusionskunst des Panoramas schaffen wollte.

V. Das Panorama wurde in den 1780er Jahren von verschiedenen Malern in Großbritannien entwickelt.82 Robert Barker gelang es 1789, das erste Patent für ein Panorama zugesprochen zu bekommen. Die Forschung tendiert dazu, anzunehmen, dass es auch Barker war, der wenig später den Begriff Panorama prägte.83 Panoramas sind ein Genre massiver, bis zu 360-Grad angelegter Gemälde. Sie werden kombiniert mit einer Installation, faux terrain genannt, die den Zwischenbereich zwischen Leinwand und Betrachter in einer Weise zu organisieren sucht, dass die Grenze zwischen Leinwand und Raum verschwindet. Entsprechend wurden von Anfang an eigene, zumindest temporär errichtete Gebäude für die Inszenierung von Panoramen gebaut. Ziel ist es, dass die Geschichte, die das Bild erzählt, nicht an den Grenzen des Mediums Malerei endet, sondern dass sie das faux terrain in einer Weise einschließt, das eine Gesamtwirkung eintritt.84 Die Idee ist, dass für den Betrachter das Gefühl entsteht, Teil eines dreidimensionalen Geschehens zu werden, sich mitten in einem Ort oder einem Ereignis zu befinden, obwohl die Basis des Ganzen ein zweidimensionales Gemälde ist: »to fool the spectator’s eye so he feels he is actually there«85, wie es der Kunsthistoriker Ralph Hyde ausdrückte. Wie WELLINGTONS SIEG auch,86 ist das Panorama dieser Zeit realistischen Themen verschrieben: Es geht um tagesaktuelle politische Ereignisse, insbesondere militärische, oder Alltagssituationen, insbesondere in Gestalt von Stadtpanoramen.87 Unglücklicherweise sind die frühen Panoramen und ihre Gebäude verloren.88 So muss eine Annäherung an die Frage, wie wohl ihre Ausführung und Wirkung war, genauso ›begründet spekulativ‹ bleiben wie eine Annäherung an die

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Bedingungen bei den ersten Aufführungen von WELLINGTONS SIEG. Aus jener Ära existiert nur noch ein einziges Anschauungsexemplar. Und dieses ist keinem militärischem Thema gewidmet, sondern zeigt eine Stadtansicht: das sogenannte Thun-Panorama in der Schweiz, das zwischen 1809 und 1814 entstand.89 Aber was wir aus den Quellen über die frühen Panoramen wissen, drängt die Parallele zu WELLINGTONS SIEG auf. Auch Panoramen waren ausgesprochen erfolgreich in einem kommerziellen Sinne.90 Wie die Gattung der Battaglia, namentlich in ihrer das Genre dominierenden Form der Klaviermusik, adressierte das Panorama dezidiert ein Mittelklassepublikum.91 Die Eintrittspreise waren gering. Das Genre sah sich zugleich denselben Verdikten der Kritiker ausgesetzt wie wir sie im Kontext von WELLINGTONS SIEG sehen: Die tatsächliche Limitiertheit von Realismus und Illusionismus in der praktischen Ausführung wird gerügt. Die grundsätzliche Vereinbarkeit dieser ästhetischen Ziele mit dem Kunstanspruch wird in Frage gestellt. Eine kategoriale Unvereinbarkeit von kommerziellem Erfolg und Kunstanspruch wird behauptet.92 Weiter stoßen wir auf Zeitzeugenberichte, die auffallend ähnlich klingen, verglichen mit den Reaktionen auf WELLINGTONS SIEG, die eingangs zitiert wurden. So schreibt zum Beispiel Johann August Eberhard 1807 in seinem HANDBUCH DER ÄSTHETIK FÜR GEBILDETE LESER AUS ALLEN STÄNDEN: »So bringt es, wie meine Freunde versichern, die täuschende Wirkung hervor, die aber, setzen beide hinzu, bald in hohem Grade peinlich, widerlich und endlich unerträglich wird. Sie versichern Beyde – und einer von ihnen ist nicht allein ein Kenner, sondern selbst ein Künstler –, daß sie bald eine gewisse Bangigkeit empfunden, die endlich in Schwindel und Uebelkeit übergegangen sei. Sind aber auch Beyde etwas nervenschwach.«93

Schließlich stoßen wir auf dieselben militärischen Sujets im Panorama und in der Battaglia: Schlachten der Napoleonischen Kriege. Insbesondere in Frankreich wurde diese Variante des Panoramas auch staatlicherseits finanziell unterstützt, mit Pierre Prévost als bekanntestem Panoramamaler.94 Die ersten britischen Panoramen erschienen auf Tourneen Robert Barkers um 1800 im deutschsprachigen Raum. In Wien wurde das erste 1801 gezeigt.95 Am 4. Mai 1800 berichtete zum Beispiel Goethe an Schiller von seinem Besuch von Barkers Panorama in Leipzig96: »Ein Portrait von einem Mahler, der sich jetzt in Hamburg aufhält, das bey Bausen steht, ist

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von einem unglaublichen Effect; aber auch gleichsam der letzte Schaum, den der scheidende Geist in den Kunststoffen erregt.«97 Einen Tag später heißt es in einem Brief Goethes an seine spätere Frau Christiane Vulpius: »Das sogenannte Panorama, worinn man die ganze Stadt London, als stünde man auf einem Thurm, übersieht, ist recht merkwürdig und wird euch in Verwunderung setzen.«98 Die erste Wiener Eigenproduktion von Laurenz Janscha und Carl Postl wurde dort 1804 gezeigt.99 Das erste, nicht nur temporär errichtete Panorama wurde 1805 im Prater gebaut.100 Es brannte während der französischen Besatzung 1809 nieder. Aber schon 1811 kam es zu einem Neubau, der bis 1871 stand.101 Im Vorwort zur Erstausgabe von WELLINGTONS SIEG wird kein Bezug auf das Panorama genommen. Auch Beethovens 1812 begonnenes Tagebuch enthält überhaupt nur zwei Bemerkungen zu WELLINGTONS SIEG, die ebenfalls nicht im Kontext des Panoramas stehen.102 Auch in den Briefen und Zeitzeugenberichten der Kompositions- und Uraufführungsphase gehen wir leer aus.103 Aber wir wissen aus einem Eintrag von 1819 im ersten Band der Konversationshefte, die Beethoven seiner Taubheit wegen begann zu führen, dass er Panoramen kannte. Hier benutzte er den Vergleich »wie ein Panorama«104, um die Aussicht von einem Turm, ganz wie es Goethe tat, zu beschreiben. Panoramen gehörten in dieser Zeit nicht nur zu europäischen Ereignissen, sondern konkret zu solchen in Wien. In den Zeitungen der Stadt wie (Österreichisch-kaiserlich privilegierte) Wiener Zeitung, Oesterreichischer Beobachter, Vaterländische Blätter für den österreichischen Kaiserstaat und Annalen der Literatur und Kunst des In- und Auslandes wurde insbesondere ab 1809 rege über Panoramen berichtet und für diese geworben.105 Das Panorama als Format war allgemein bekannt.106 Und Beethoven kannte es.

VI. Es gibt jedoch nicht nur diese allgemeine Beziehung zwischen WELLINGTONS SIEG und dem Panorama, das erstens Zeitgenossenschaft in der ästhetischen Agenda wie Rezeption belegt und zweitens eine Bezugnahme auf oder wenigstens konkrete Anregung Beethovens durch dieses Genre nahelegt. Beethoven schrieb den zuerst komponierten zweiten Teil von Opus 91, die Siegessinfonie, für das Panharmonikon107 des bereits erwähnten Johann

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Nepomuk Mälzel, wohl auf dessen Anregung hin.108 Mit diesem Gerät konnte ein Orchester mechanisch imitiert werden.109 Für Mälzels Original, das 259 Einzelinstrumente aufwies, wohl 1804 entwickelt wurde und später als Kriegsverlust verloren ging,110 erstellten auch Joseph Haydn und Antonio Salieri Bearbeitungen.111 Beethoven schuf eine dreiundzwanzigstimmige Partitur.112 Ob Mälzel aber diese Fassung jemals zur Gänze für seinen Musikautomaten umgesetzt hat, indem er die erforderlichen Walzen entsprechend bestiftete, ist unklar.113 Der Ursprungsplan stellte auf eine Werkerstellung zwecks Nutzung für eine gemeinsame Tournee nach Großbritannien ab.114 Mälzel nun hat 1807 und 1808 Paris besucht115 und dort unter anderem eine Frühform seines Panharmonikons am Hof vorgestellt.116 Mälzels Automaten- und Illusionsattraktionen wurden in den Pariser Zeitungen in einem Atemzug mit Panoramen besprochen.117 Es ist davon auszugehen, dass er die dortigen Panoramen, namentlich von Prévost, besuchte. 1812 entwarf Mälzel ein Miniaturpanorama mit dem Titel DER BRAND VON MOSKAU.118 Dies war eine Frühform des Dioramas, das heißt es enthielt Mechanik für die Produktion von Bewegung und Klang,119 womit Mälzels Arbeit auf die beiden Hauptkritikpunkte der Zeit am unvollkommenen Illusionismus des Panoramas reagierte.120 Schon mit DER BRAND VON MOSKAU begegnete Mälzel einem tagespolitischen militärischen Ereignis, hier aus Napoleons Russlandfeldzug. DER BRAND VON MOSKAU wurde ab März 1813 unter großem öffentlichem Interesse in Mäzels »Kunst-Kabinet« genannter Galerie in Wien ausgestellt.121 Liegt es nicht nahe, dass Mälzel und Beethoven über die omnipräsente Raumkunst des Panoramas diskutierten? Man muss bedenken, dass die Idee, sich vom Panharmonikon zu lösen und eine Orchesterfassung von WELLINGTONS SIEG zu konzipieren, nach Beethovens eigener Aussage auf Mälzel zurückging.122 Und sich Mälzel just in dieser Phase mit dem Panorama und der dahinter stehenden Ausdrucksidee beschäftigte. Gerade hatte er mit DER BRAND VON MOSKAU ein Experiment unternommen, welches im Miniaturmaßstab Musik und Bewegung in die Illusionsgleichung einzubringen suchte. Erscheint WELLINGTONS SIEG nicht geradezu wie eine Kombination aus diesem Ansatz und der Arbeit mit riesigen, dreidimensionalen Räumen, wie wir sie sowohl im Panorama als auch in den ersten Aufführungsstätten von Opus 91 erkundet sehen? Mutet WELLINGTONS SIEG nicht

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geradezu wie eine Umsetzung jener Klage an, die nicht allzu lang zuvor in der Allgemeinen musikalischen Zeitung erhoben worden war: »Man will nur wilde Modulationen, durch die Macht der Instrumente unterstützt, um einer schlaffen, abgestumpften, sanglosen Generation in die Ohren zu donnern und sie – die mit ganz andern Dingen beschäftigt in die Konzertsäle tritt – auf einen Moment zum Hören zu zwingen. Dazu braucht man freylich Musik, die wie die Theater- u. Panorama-Malerey – durch die Kraft der Massen würkt, und in der alle Zartheit und Lieblichkeit des Details untergeht.«123

Von dem Klaviervirtuosen und Komponisten Ignaz Moscheles, der im Sommer 1813 eng mit Beethoven zusammenarbeitete und auch an der Premiere von Opus 91 mitwirkte, wissen wir jedenfalls, dass Beethoven in der Kompositionsphase Mälzel häufig aufsuchte, um über WELLINGTONS SIEG zu sprechen.124 Bedenken wir ferner, dass die Idee war, ein Werk zu produzieren, mit dem man hinterher in London Kasse machen konnte, der wirtschaftlich potentesten Musikmetropole dieser Zeit und neben Paris zugleich Zentrum der Panoramakunst. Derselbe Zeitgeist und derselbe Markt werden dann jedenfalls unübersehbar: Anfang 1814, kurz nach der Uraufführung von WELLINGTONS SIEG, erschien in Barkers Panoramahaus, das seit 1793 als bekanntestes Panoramahaus der Stadt am Londoner Leicester Square stand, ein neues Panorama. Sein Titel, darauf hat bereits Anno Mungen hingewiesen, lautete: VIEW OF THE BATTLE OF VITTORIA, AND THE GREAT VICTORY GAINED BY THE MARQUIS OF WELLINGTON OVER THE FRENCH ARMY.125

VII. Beethoven ist den Weg nicht weitergegangen, in seinen Werken akustisch mit Räumen zu experimentieren. Opus 91 blieb insoweit ein Solitär. Man kann nur spekulieren, ob der Umstand, dass WELLINGTONS SIEG in dieser Hinsicht Einzelfall blieb, nicht nachdrücklich Beethovens bald vollständiger Ertaubung geschuldet war. Das Vorwort zur Erstausgabe enthält jedenfalls einige Anmerkungen, die darauf schließen lassen, wie heikel Beethoven aus eigener Erfahrung die Situation erschien, Klang im Raum zu

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disponieren und zugleich dahingehend zu kontrollieren, dass die richtige Mischung der Klanggruppen erreicht wird. So heißt es unter anderem: »2. [...] Voran darf wohl der Kapellmeister stehen, der beyden Seiten den Takt giebt. Diejenigen, welche die Kanonen Maschinen spielen, müssen durchaus nicht im Orchester, sondern an ziemlich entfernten Orten stehen, und müssen von sehr guten Musikern gespielt werden. (Hier in Wien wurden selbe von den erstern Kapellmeistern gespielt.) [...] 7. Es ist sehr nothwendig, daß bey der Aufführung im Orchester nebst dem Violin-Direkteur noch ein Kapellmeister den Takt für’s ganze schlägt, welchen beyden empfohlen wird, die Wirkung des Ganzen immer im Auge zu behalten, damit die Instrumental-Musik nicht von den Ratschen und Trommeln Maschinen etc. verdunkelt wird; überhaupt ist hiebey nach Maaßgabe und Verhältniß der Größe des Saales, der Besetzung des Orchesters sich zu richten.«126

Auch aus Schindlers Berichten ist bekannt, dass Beethoven, der Dirigent, auf die besonderen klangdramatischen Erfordernisse von Opus 91 reagierte, in dem er z.B. sein Dirigierpult weg vom Hauptorchester gen Raumzentrum verschob: »Die von Beethoven geleiteten Aufführungen am 8. und 12. Dec. 1813 in der Aula der Universität, ferner die Aufführungen in den Monaten Januar, Februar, November und December 1814 im großen Redouten=Saal, wo sein Directionspult weit vorgeschoben war und Niemand ihm aushelfend zur Seite gestanden, sind sprechende Beweise, daß er im Stande gewesen, Waffen, so wie ihre einzelnen Bestandtheile, gut zu überhören. Wer von den Schwierigkeiten bei Einübung und Leitung der Schlacht=Sinfonie einen Begriff hat, mag vielleicht an einem präcisen Ineinandergreifen der zuweilen getrennten Waffen zweifeln; als Mitwirkender darf ich jedoch versichern, daß an Praecision nichts gefehlt hat, [...].«127

Dass Beethoven diese Konzeption in WELLINGTONS SIEG nicht weiterverfolgte, lag jedenfalls nicht daran, dass er das Experiment mit der Nutzung des Raumes für misslungen erachtete. Das belegen nicht zuletzt das Vorwort zum Erstdruck sowie spätere Kommentare.128 E.T.A. Hoffmann nannte WELLINGTONS SIEG bekanntlich ein »in seiner Art ganz originelles Stück«129. Ein näherer Blick auf Raum- und Laustärkekonzept sowie Panoramabezug scheint deutlicher hervortreten zu lassen, warum eine solche Einschätzung immer noch angezeigt sein könnte – näm-

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lich hinsichtlich der spezifischen narrativen Qualitäten von Musik, die hier in der Ausnutzung der Möglichkeiten von Raum und Lautstärke ausgelotet werden. Mit Joachim Küpper wäre zwar zu argumentieren, dass es um Mimesis im strengen Sinne im Bereich der Musik nicht gehen kann: »In der Musik geht es nicht darum, vermittels bestimmter technischer Maßnahmen das ›vestigium‹ zu einer illusionistischen Reproduktion dessen zu gestalten, dem die ›Spur‹ abgenommen worden ist. Es geht vielmehr darum, die Spuren des real Gegebenen zu nutzen, um aus ihnen ein rationales System zu konstruieren, das der Töne, welches als System keine Entsprechung im Gegebenen hat, und sodann diese Töne zu Gebilden zu verknüpfen, die zumindest hinieden auf Erden nie zuvor zu hören. Mehr als alle andere Kunst ist Musik ›Schöpfung‹, insofern sie Artefakte kreiert, die es nicht nur als Artefakte zuvor nicht gab, sondern die auch nicht sinnvoll als Nachahmungen von etwas aufgefasst werden können, das es zuvor und außerhalb der Musik schon gab.«130

Eine Auseinandersetzung mit dem, was in WELLINGTONS SIEG passiert, zeigt aber, dass es Beethoven um ein solches – zum Scheitern verurteiltes – mimetisches Erzählen eines bestimmten Schlachtgeschehens nur sehr am Rande kennt. Denn dieses bleibt auf eine symbolische Repräsentation in extremer zeitlicher Kondensierung beschränkt. Tonmalerei ist schon deswegen nicht die narrative Herausforderung, die Opus 91 bereithält. Wovon WELLINGTONS SIEG eigentlich erzählt, ist von der Gewalt des Schlachtens im Allgemeinen und jener einer speziellen Schlacht im Besonderen. Extreme Lautstärke bei Positionierung des Hörers in der Mitte des akustischen Geschehens ist der Weg, den Beethoven gewählt hat, um dieser Gewalt einen musikalischen Ausdruck zu verleihen. Eben diese akustische Gewalt scheint dasjenige Charakteristikum des Werks gewesen zu sein, auf welches Beethovens Zeitgenossen so auffallend heftig reagierten. Mit diesem Ansatz ist Opus 91 im Übrigen auffallend aktuell: Wie wichtig nämlich das in diesem Werk erkundete Thema Surround Sound 200 Jahre später für die Musik unserer Gegenwart geworden ist, zeigt sich nicht zuletzt daran, dass es hierfür inzwischen seit 2005 bei den Grammys eine eigene Kategorie gibt, offen für Musik jeglicher Couleur, von Avantgarde bis Film, von Pop bis Jazz. Es ist einzig der Umgang mit der ästhetischen Dimension des musikalischen Raumes, der hier als Maßstab interessiert –

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so wie er im ersten Teil von WELLINGTONS SIEG in Verbindung mit der Kategorie der Lautstärke erkundet wird.

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Hoffmann, E. T. A.: Schriften zur Musik. Nachlese, hrsg. von Friedrich Schnapp, München 1963, S. 354-355, zitiert nach Albrecht Riethmüller, »Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria op. 91«, in: Beethoven. Interpretationen seiner Werke, hrsg. von Carl Dahlhaus/ Albrecht Riethmüller/Alexander Ringer, Laaber 1996, Bd. 2, S. 34-45, hier S. 44. Dieser Aufsatz ist eine ausgearbeitete Fassung meines Habilitationsvortrags vom 11. Februar 2015 an der Freien Universität Berlin. Er führt einen Gedanken durch, den ich in Döhl, Frédéric: »Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria op. 91«, in: Beethovens Orchestermusik und Konzerte. Das Handbuch, hrsg. von Oliver Korte/Albrecht Riethmüller, Laaber 2013, S. 256-278, hier S. 258f. als These umrissen habe. Ich danke meinem akademischen Lehrer Albrecht Riethmüller, der mich bereits als Student auf WELLINGTONS SIEG und seine erstaunliche Rezeptionsgeschichte aufmerksam machte, ferner Peter Geimer, dessen Vortrag zum Panorama des späten 19. Jahrhunderts im Rahmen des SFB 626 an der Freien Universität Berlin mich vor einigen Jahren mit dieser Kunstform bekannt machte, sowie Helga de la Motte-Haber, die mich während der laufenden Arbeit an diesem Beitrag auf die Studie von Anno Mungen hinwies. Weiter schulde ich Dank Gesa zur Nieden Dank, die mir mit französischen Quellen half sowie Rita Steblin und Rebecca Wolf, die mir ihre Texte zu Mälzel zur Verfügung stellten. Fruchtbare Kommentare verdanke ich schließlich den Teilnehmern der Third New Beethoven Research Conference im Rahmen des AMS-Jahrestagung 2013 in Pittsburgh, wo ich erste Überlegungen zu Wellingtons Sieg und dem Panorama zur Diskussion stellte, namentlich Theodore Albrecht, Nicholas J. Chong, John Deathridge, David Levy, Lewis Lockwood und Steven Moore Whiting, des Weiteren Lawrence Kramer, mit dem ich anlässlich einer Tagung in Berlin im März 2014 einschlägige Gesichtspunkte besprach, den Diskutanten meines Habilitationsvor-

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trags, namentlich Georg Bertram und Joachim Küpper, sowie meiner Frau Anke Myrrhe und meinen Kollegen an der TU Dortmund, Mario Dunkel, Alexander Gurdon und Klaus Oehl, der Testhörerschaft meines Vortrags. Anonymus, in: AmZ (26. Januar 1814), Sp. 70f., zitiert nach Kunze, Stefan (Hrsg.): Ludwig van Beethoven. Die Werke im Spiegel seiner Zeit, Laaber 1996, S. 270f., im Faksimile einsehbar unter https:// archive.org/stream/bub_gb_rdwqAAAAYAAJ#page/n47/mode/2up (8. Februar 2015). Vgl. für ein Portrait The British Museum: Portrait of the Countess Rozalie Rzewuska, http://www.britishmuseum.org/research/collection _online/collection_object_details.aspx?objectId=747299&partId=1&p eople=108964&peoA=108964-1-6&sortBy=&page=1 (Abruf am 8. Februar 2015). Vgl. für die Salontätigkeit Kopitz, Klaus Martin: »Katharina Cibbini«, in: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hrsg. von Beatrix Borchard, Hamburg 2011,http://mugi.hfmt-hamburg.de/Artikel/Katha rina_Cibbini (Abruf am 8. Februar 2015). Rosalia Rzewuska war zu Zeiten des Wiener Kongresses in den höchsten Gesellschaftskreisen aktiv, vgl. Zamoyski, Adam: 1815 – Napoleons Sturz und der Wiener Kongress, München 2014, S. 103, 398. Rosalia Rzewuska, zitiert nach Kopitz, Klaus Martin/Cadenbach, Rainer (Hrsg.), Beethoven aus der Sicht seiner Zeitgenossen in Tagebüchern, Briefen, Gedichten und Erinnerungen, München 2009, Bd. 2, S. 759 (Nr. 634). Rzewuska irrte im Übrigen über den Aufführungsort. Es war der Große Redoutensaal. Gülke, Peter: »Die Verjährung der Meisterwerke. Überlegungen zu einer Theorie der musikalischen Interpretation«, in: ders., Auftakte – Nachspiele. Studien zur musikalischen Interpretation, Kassel 2006, S. 181-192, hier S. 183f. Vgl. stellv. Newcomb, Anthony: »Schumann and Late EighteenthCentury Narrative Strategies«, in: 19th-Century Music 11/2 (1987), S. 164-174; Müller, Ruth E.: Erzählte Töne. Studien zur Musikästhetik des späten 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1989; Kramer, Lawrence: Music as Cultural Practice, 1800-1900, Berkeley/CA 1990; Nattiez, Jean-Jacques: »Can One Speak of Narrativity in Music?«, in: Journal of the Royal Musical Association 115 (1990), S. 240-257; Kramer,

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Lawrence: »Musical Narratology. A Theoretical Outline«, in: Indiana Theory Review 12 (1991), S. 141-162; Abbate, Carolyn: Unsung Voices: Opera and Musical Narrative in Nineteenth Century, Princeton/NJ 1991; Rabinowitz, Peter J.: »Music, Genre and Narrative Theory», in: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, hrsg. von Marie-Laure Ryan, Bloomington/IN 1992, S. 305-328; Kramer, Lawrence: Classical Music and Postmodern Knowledge, Berkeley/CA 1996, S. 98-121; Neubauer, John: »Tales of Hoffmann and Others: On Narrativizations of Instrumental Music«, in: Interart Poetics: Essays on the Interrelations of the Arts and Media, hrsg. von Ulla-Britta Lagerroth/Hans Lund/Erik Hedling, Amsterdam 1997, S. 117-136; Klassen, Janina: »Was die Musik erzählt«, in: Die erzählerische Dimension. Eine Gemeinsamkeit der Künste, hrsg. von Eberhard Lämmert, Berlin 1999, S. 89-107; Micznik, Vera: »Music and Narrative Revisited: Degrees of Narrativity in Beethoven and Mahler«, in: Journal of the Royal Musical Association 126/2 (2001), S. 193-249; Seaton, Douglass: »Narrative in Music: The Case of Beethoven’s ›Tempest‹ Sonata«, in: Narratology Beyond Literary Criticism, hrsg. von Jan Christoph Meister, Berlin 2005, S. 65-81; Melbeerg, Vincent: New Sounds, New Stories. Narrativity in Contemporary Music, Amsterdam 2006; Almén, Byron: A Theory of Musical Narrative, Bloomington/IN 2008; Pasler, Jann: »Narrative and Narrativity in Music« [1989], in: dies., Writing Through Music, Oxford 2008, S. 25-48; Wolf, Werner: »Erzählende Musik? Zum erzähltheoretischen Konzept der Narrativität und dessen Anwendbarkeit auf Instrumentalmusik«, in: Der Komponist als Erzähler. Narrativität in Dimitri Schostakowitschs Instrumentalmusik, hrsg. von Melanie Unseld/Stefan Weiss, Hildesheim 2008, S. 1744; Meelberg, Vincent: »Sounds like a Story: Narrative Travelling from Literature to Music and Beyond«, in: Narratology in the Age of Cross-Disciplinary Narrative Research, hrsg. von Sandra Heinen/Roy Sommer, Berlin 2009, S. 245-260; Rösch, Nicole: »Theorien und kein Ende? Grenzen, Möglichkeiten und Perspektiven musikalischer Narratologie«, in: Musiktheorie 27/1 (2012), S. 5-18; Sichardt, Martina: Entwurf einer narratologischen Beethoven-Analytik Stuttgart 2012; Lodes, Birgit: »Musik und Narrativität«, in: Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. von Michele Calella/ Nikolaus Urbanek, Stuttgart 2013, S. 367-382; Klein Michael/Reyland

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Nicholas (Hrsg.): Music and Narrative since 1900, Bloomington/IN 2013. Oesterreichischer Beobachter (11. Dezember 1813), S. 1784 (Abruf über ANNO – Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften). Anonymus, in: AmZ (26. Januar 1814), Sp. 70f., zitiert nach Kunze (wie Anm. 3), S. 270f., im Faksimile einsehbar unter https://archive. org/stream/bub_gb_rdwqAAAAYAAJ#page/n47/mode/2up (8. Februar 2015). Ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung meines in Anm. 2 genannten Textes bin ich dankenswerter Weise von Frau Helga de la Motte-Haber auf die Arbeit von Mungen, Anno: »BilderMusik«. Panoramen, Tableaux vivants und Lichtbilder als multimediale Darstellungsformen in Theater- und Musikaufführungen vom 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert, Remscheid 2006, hingewiesen worden. Soweit ich sehe, ist Mungen der einzige Autor, der der Raumfrage im Zusammenhang mit Opus 91 größere Aufmerksamkeit widmet, vgl. ebd., Bd. 1, S. 83-86. Auf abstrakter Ebene verweist Mungen auch bereits auf einen möglichen Bezug zwischen Opus 91 und dem Panorama, belässt es jedoch bei der Mutmaßung: »Ob und inwieweit sich aber Beethoven mit dem Medium des Panoramas auseinandergesetzt hat, entzieht sich der Kenntnis«, ebd., Bd. 1, S. 82. Insoweit lassen sich meine folgenden Ausführungen als ein Substantiierung dieser Vermutung lesen. Über eine mögliche Beziehung von Battaglia und Panorama unter Verweis auf Opus 91 war schon früher nachgedacht worden, allerdings wie im Fall Mungens ebenfalls in Literatur, welche die Beethoven-Forschung nicht so recht erreicht zu haben scheint. Vgl. z.B. Vagts, Alfred: »Battle-Scenes and PicturePolitics«, in: Military Affairs 5/2 (1942), S. 87-103, hier S. 93. Insofern verfolgt dieser Ansatz eine vergleichbare Stoßrichtung zu dem, was Florian Kraemer in diesem Band unter den Begriff einer intermedialen Narrationstheorie zu bringen sucht und hierfür ebenfalls den Akzent weg von Musik als Zeitkunst und hin zu Musik als Raumkunst verschiebt und anhand Mahlers exemplifiziert. Vgl. insb. die Beiträge von Daniel Martin Feige, Gregor Herzfeld und Florian Kraemer.

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Den Titel Duke, unter dem Wellington heute meist geführt wird, erhielt er freilich erst 1814, den Rang des Feldmarschalls erst 1813 und zwar als Lohn für eben jenen Sieg bei Vittoria. Zum Zeitpunkt der von Beethoven geschilderten Schlacht war der Titelheld Marquess of Wellington und kommandierender General der britischen Truppen auf der Iberischen Halbinsel. Vgl. Corrigan, Gordon: Wellington: A Military Life, London 2006, S. 277. Vgl. für das Faksimile des Berichts über die Schlacht in der Wiener Zeitung vom 29. Juli 1813 Röder, Thomas: Beethovens Sieg über die Schlachtenmusik. Opus 91 und die Tradition der Battaglia, in: Beethoven zwischen Revolution und Restauration, hrsg. von Helga Lühning/Sieghard Brandenburg, Bonn 1989, S. 229-258, hier S. 253. Vgl. zum Programm dieses Konzertes wie dem der weiteren Aufführungen von Wellingtons Sieg 1813/14 Döhl (wie Anm. 2), S. 261. Zitiert nach Raab, Claus: »Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria op. 91«, in: Das Beethoven-Lexikon, hrsg. von Heinz von Loesch/Claus Raab, Laaber 2008, S. 839-840, hier S. 839. Ohne Benefizcharakter bekam man in Wien seinerzeit keine Saalnutzungsgenehmigungen. In medias res zu beginnen ist unüblich für das Genre der Battaglia, welche durch ein Hang zu Präliminarien gekennzeichnet ist, vgl. Röder (wie Anm. 14), S. 246. Vgl. zur Genretypik insoweit ebd., S. 246. Beethoven hatte diese Melodie bereits 1803 in seinen 5 Variationen über das englische Volkslied Rule Britannia D-Dur für Klavier WoO 79 verwendet. In beiden Werken erscheint das Thema im Vergleich zur Vorlage um einige zusätzliche Tonwiederholungen, Punktierungen und Verzierungen ergänzt. Vgl. Raab, Armin: »5 Variationen über ›Rule Britannia‹ D-Dur für Klavier WoO 79«, in: Dahlhaus/Riethmüller/Ringer (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 477-480, hier S. 479. Vgl. Röder (wie Anm. 14), S. 247. Man fragt sich vielleicht, warum Beethoven nicht die Marseillaise nutze. Doch diese unterlag in Österreich als einzige Melodie überhaupt der Zensur. Vgl. Will, Richard: The Characteristic Symphony in the Age of Haydn and Beethoven, Cambridge 2002, S. 198. Vgl. Küster, Konrad: Beethoven, Stuttgart 1994, S. 325f.

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Die Wahl von God Save The King als Melodie für die Siegessinfonie hatte nicht nur dramaturgische Gründe. Beethoven schätze dieses Thema musikalisch außerordentlich: »Ich muß den Engländern ein Wenig zeigen was in dem God seave [sic] the King für ein Segen ist.« Solomon, Maynard: »Beethoven’s Tagebuch of 1812–1818«, in: Beethoven Studies 3, hrsg. von Alan Tyson, Cambridge 1982, S. 193288, hier S. 221. Schon eine Bearbeitungsnotiz in Folio 82 des Kafkaschen Skizzenkonvoluts (1786–1799) weist auf frühes Interesse an diese Hymne hin. 1803 folgten die 7 Variationen über God Save The King C-Dur für Klavier WoO 78. Vgl. für weitergehende analytische Anmerkungen und Literaturnachweise Döhl (wie Anm. 2), S. 265-267. Küthen, Hans-Werner (Hrsg.): Neue Beethoven-Gesamtausgabe. Volume 2/1: Ouvertüren und Wellingtons Sieg, München 1992, S. 125 (Anweisung »englische Truppen«), 127 (Anweisung »französische Truppen«). Schindler, Anton: Anton Schindler’s Beethoven=Biographie, Berlin/ Leipzig 1909, S. 240, im Faksimile einsehbar unter https://archive.org/ stream/antonschindlersb00schi#page/240/mode/2up (Abruf am 8. Februar 2015). Vgl. die Rezensionen der Konzerte am 8. und 12. Dezember 1813 in Anonymous, in: Wiener allgemeine musikalische Zeitung (15. Dezember 1813), Sp. 747-750, zitiert nach Kunze (wie Anm. 3), S. 269, im Faksimile einsehbar unter https://archive.org/stream/WienerAllgemei neMusikalischeZeitung1813#page/n395/mode/2up (Abruf am 8. Februar 2015); Anonymous, in: AmZ, 26. Januar 1814, Sp. 70f., zitiert nach Kunze (wie Anm. 3), S. 269-271, im Faksimile einsehbar unter https://archive.org/stream/bub_gb_rdwqAAAAYAAJ#page/n47/mode 2up (Abruf am 8. Februar 2015). Beide geben keine Auskunft über diesen Gesichtspunkt. Oesterreichischer Beobachter (11. Dezember 1813), S. 1784 (Abruf über ANNO – Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften). Bei der Uraufführung am 8. Dezember 1813 dirigierten laut Franz Glöggls Memoiren Salieri und Weigl die englischen und französischen ›Truppen‹ »bei der Schlacht auf den Galieren rechts und links«. Vgl. Franz Glöggl, zitiert nach Kopitz/Cadenbach (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 351-352, hier S. 352 (Nr. 326). Beide Angaben schließen

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sich freilich nicht aus, da die Galerien das Ziel der Bewegung gewesen sein können. Anonymous, in: AmZ (29. Mai 1816), Sp. 374, zitiert nach Kunze (wie Anm. 3), S. 279, im Faksimile einsehbar unter https://archive.org/stre am/bub_gb_Mt0qAAAAYAAJ#page/n223/mode/2up (Abruf am 8. Februar 2015). Vgl. Anonymous, in: AmZ (23. März 1814), https://archive.org/ stream/bub_gb_rdwqAAAAYAAJ#page/n119/mode/2up (Abruf am 8. Februar 2015), Sp. 202. Schon in der Rezension der Akademie am 2. Januar 1814 hatte es geheißen: »Viele Theile mußten wiederholt werden«, freilich ohne nähere Konkretisierung, vgl. Oesterreichischkaiserlich privilegierte Wiener Zeitung (9. Januar 1814), S. 33 (Abruf über ANNO – Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften). Die spätere Rezension der AmZ zu den Akademien am 29. November 1814 und 2. Dezember 1814 bespricht nicht, wie Wellingtons Sieg gegeben wurde, vgl. ebd., Sp. 867f. Es wird lediglich darauf verwiesen, dass das Werk schon besprochen worden sei und sich der Eindruck bestätigt habe. Schon die Besprechungen der ersten drei Aufführungen am 8. Dezember 1813, 12. Dezember 1813 und 2. Januar 1814 hatten zur Ausführung von Opus 91, etwa wie die Militärkapellen postiert waren, keine Angaben gemacht, vgl. ebd., Sp. 70-72, 132f. Alle Besprechungen enthalten im Übrigen keine Angaben, dass sich die Musiker in Uniform gekleidet oder sonstige visuelle Inszenierungsmittel genutzt hätten, die zum Thema des Werks und seiner Fortgangs passen. Das gilt auch für die in diesem Beitrag angeführten Zeitungsartikel in der Wiener allgemeinen musikalischen Zeitung, in der Oesterreichisch-kaiserlich privilegierten Wiener Zeitung und im Oesterreichischen Beobachter. Vgl. Cook, Nicholas: »The Other Beethoven. Heroism, the Canon, and the Works of 1813–14«, in: 19th-Century Music 27/1 (2003), S. 3-24, insb. S. 17; Bunderla, Darko: »Beethovens ›Wellingtons Sieg‹ – Versuch einer ästhetischen Diskussion«, in: Von Schlachtenhymnen und Protestsongs. Zur Kulturgeschichte des Verhältnisses von Musik und Krieg, hrsg. von Annemarie Firme/Ramona Hocker, Bielefeld 2006, S. 83-100, hier S. 94. Sein letzter öffentlicher Auftritt als Pianist war am 25. Januar 1815, als er zu Ehren der russischen Kaiserin die Klavierbegleitung bei einer

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Darbietung seines Liedes Adelaide op. 46 übernahm, vgl. Döhl, Frédéric: »Wiener Kongress«, in: von Loesch/Raab (wie Anm. 16), S. 852-853, hier S. 853. Küthen (wie Anm. 25), S. 124. Die Folgeaufführungen nach der Premiere in Wien wurden z.B. in der lokalen Presse entsprechend nachdrücklich angekündigt, vgl. Oesterreichischer Beobachter (11. Dezember 1813), S. 1784; Österreichischer Beobachter (31. Dezember 1813), S. 1898; Oesterreichischkaiserlich privilegierte Wiener Zeitung (31. Dezember 1813), S. 1317; Oesterreichisch-kaiserlich privilegierte Wiener Zeitung (2. Januar 1814), S. 5; Oesterreichischer Beobachter (24. Februar 1814), S. 314; Oesterreichisch-kaiserlich privilegierte Wiener Zeitung (24. Februar 1814), S. 301; Oesterreichisch-kaiserlich privilegierte Wiener Zeitung (2-6. Februar 1814), S. 313; Oesterreichischer Beobachter (18. November 1814), S. 1761; Oesterreichisch-kaiserlich privilegierte Wiener Zeitung (27. November 1814), S. 1322; Oesterreichischer Beobachter (29. November 1814), S. 1819; Oesterreichisch-kaiserlich privilegierte Wiener Zeitung (1. Dezember 1814), S. 1337; Oesterreichisch-kaiserlich privilegierte Wiener Zeitung (22. Dezember 1814), S. 1422 (Abruf über ANNO – Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften). Und als einziges Werk. Vgl. Rexroth, Dieter: Ludwig van Beethoven. Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125, München/Mainz ²1988, S. 43-44; Levy, David: The Ninth Symphony, Cambridge/MA 2003, S. 126-129. Vgl. Rexroth (wie Anm. 35), S. 43-44; Levy (wie Anm. 35), S. 126129; Beethoven-Haus Bonn (Hrsg.), Rede am Grabe Beethovens von Grillparzer, http://www.beethoven-haus-bonn.de/sixcms_upload/med ia/43/grillparzer.pdf (Abruf am 8. Februar 2015). Vgl. Rehding, Alexander: Music and Monumentality. Commemoration and Wonderment in Nineteenth-Century Germany, New York 2009, S. 35. Vgl. Maldonado, Gregory Matthew: Critical Reception of Beethoven’s Wellington’s Victory, Long Beach/CA 2005, S. 47. Vgl. für kritische Kommentare stellv. Dahlhaus, Carl: Ludwig van Beethoven und seine Zeit, Laaber 1987, S. 20-21, 45; Solomon, Maynard: Beethoven, New York ²2001, S. 287; Lockwood, Lewis: Beethoven. The Music and the Life, New York 2005, S. 337-339; Kinderman,

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William: Beethoven, Oxford ²2009, S. 197-198. Aufgeschlossene oder auch nur neutrale Kommentare fallen auf. Diese erscheinen fast ausschließlich in Texten, die sich speziell diesem Werk widmen. Vgl. insoweit für einen Überblick Döhl (wie Anm. 2), S. 273, Anm. 7. Vgl. für einen Überblick über die Argumente Cook (wie Anm. 31), S. 4-11; Döhl (wie Anm. 2), S. 256f. Caeyers, Jan: Beethoven. Der einsame Revolutionär, München 2012, S. 512. Vgl. Cooper, Barry: Beethoven and the Creative Process, Oxford 1995, S. 57; Dahlhaus (wie Anm. 39), S. 45; Solomon, Maynard: Late Beethoven: Music, Thought, Imagination, Berkeley/CA 2003, S. 2; Kinderman (wie Anm. 39), S. 197. Vgl. für die Zeit 1936–2003 Maldonado (wie Anm. 38), S. 69-75. Dabei handelt es sich allerdings zum Teil um spätere Mehrfachveröffentlichungen derselben Aufnahmen. Goldschmidt, Harry: »Das ominöse Opus 91«, in: ders., Um die Sache der Musik. Reden und Aufsätze, Leipzig 1976, S. 20-27, hier S. 21. Vgl. ebenso Cook (wie Anm. 31), S. 3: »[...] had long had a place in the record catalogs [...]«. Raab (wie Anm. 16), S. 839. Mungen (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 83-86. Cook (wie Anm. 31), S. 16. Das gilt selbst für Beethoven-Forschung, die sich explizit mit Aufführungsfragen beschäftigt, und solcher, die sich speziell mit Beethovens kreativen Prozessen beschäftigt. Vgl. Kinderman, William (Hrsg.), Beethoven’s Compositional Process, Lincoln/NB 1991; Lockwood, Lewis: Beethoven. Studies in the Creative Process, Cambridge 1992; Stowell, Robin (Hrsg.), Performing Beethoven, Cambridge 1994; Cooper (wie Anm. 42). Brandenburg, Sieghard: »Vorwort«, in: Maynard Solomon, Beethovens Tagebuch, hrsg. von Sieghard Brandenburg, Mainz 1990, S. VIII. Vgl. Frimmel, Theodor: Beethoven-Handbuch, Bd. 2, Leipzig 1926, S. 111-119, insb. S. 116-118. Frimmels Kapitel enthält auch zahlreiche Auszüge aus Zeitungsberichten zu Aufführungen der Jahre 1813/14. Brief von Carl Friedrich Zelter an Johann Wolfgang Goethe (8. Mai 1816), zitiert nach Goethe- und Schiller Archiv (Hrsg.), Brief an Goethe. Gesamtausgabe in Regestform. Verfügbarer Zeitraum 1764–

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1819, http://ora-web.swkk.de/swk-db/goeregest/index.html (Abruf am 8. Februar 2015), Regestnummer 7/245. Zelter hat mehrfach im Orchester bei Aufführungen von Opus 91 mitgewirkt, vgl. FischerDieskau, Dietrich: Carl Friedrich Zelter und das Berliner Musikleben seiner Zeit. Eine Biographie, Berlin 1997, S. 121. Hier auch das Zitat nochmals, ebenso wie bei Wendt, Matthias: »Die Zeit der großen äußeren Erfolge. Die Auseinandersetzung um Beethovens Opus 91, Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria«, in: Beethoven. Mensch seiner Zeit, hrsg. von Siegfried Kross, Bonn 1980, S. 73-95, hier S. 84. Die ersten Aufführungen in Berlin fanden am 1. und 8. Mai 1816, vgl. Loos, Helmut: »Beethoven zwischen Wien und Berlin, in: Wiener Musikgeschichte. Annäherungen – Analyse – Ausblicke. Festschrift für Hartmut Krones«, hrsg. von Julia Bungardt/Maria Helfgott/Eike Rathgeber/Nikolaus Urbanek, Wien 2009, S. 195-212, hier 206. Zelters Kommentar dürfte also in unmittelbarer Reaktion auf die zweite dieser Aufführungen niedergeschrieben worden sein, auf deren Tag der Brief nämlich datiert ist. Vgl. Gülke (wie Anm. 6), S. 189: »[...] zweifellos entsprechen die Streichkörper, welche heute die Spitzenorchester aufbieten, nicht seinen Intentionen [...]«. Vgl. Biba, Otto: »Concert Life in Beethoven’s Vienna«, in: Beethoven, Performers and Critics, hrsg. von Robert Winter/Bruce Carr, Detroit 1980, S. 77-93, hier S. 88-91; Brown, Clive: »The Orchestra in Beethoven’s Vienna«, in: Early Music 16/1 (1988), S. 4-20, hier S. 10. Gülke (wie Anm. 6), S. 189. Subdirigent französische Truppen: Antonio Salieri; Subdirigent englische Truppen: Joseph Weigl; Violine: Ignaz Schuppanzigh, Mauro Giuliani, Louis Spohr, Joseph Mayseder, Michael Umlauf; Violoncello: Johann Peter Pixis, Bernhard Romberg; Kontrabass: Domenico Dragonetti; Flöte: Alois Khayll, Anton Dreyssig; Fagott: Anton Romberg; Basstrommel: Johann Nepomuk Hummel; Becken: Ignaz Moscheles; Pauke: Giacomo Meyerbeer. Pixis nennt zusätzlich die Komponisten Ignaz von Seyfried und Adalbert Gyrowetz, vgl. Kopitz/ Cadenbach (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 639 (Nr. 551). Thayer nennt insgesamt »die Herren Belloni, Gebrüder v. Blumenthal, Bagner, Breymann, Dragonetti, Dreßler, Friedlowsky, Gebauer, Gering, Gottlieb, Hänsel, Hauschka, Hummel, Gebrüder Kail, Kraft Vater und Sohn,

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Sieber, Linke, Mayseder, Mayerbär [sic], Moscheles, Pechatschek, Pixis, Romberg, Salieri, Schlesinger, Siboni, Sina, Louis Spohr, Weiß [...]«, Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben, bearbeitet von Hermann Deiters, neu bearbeitet und ergänzt von Hugo Riemann, 5 Bde., Leipzig 1907-1923, Bd. 3, S. 394. Vgl. Anonymus, in: Wiener allgemeine musikalische Zeitung 1 (25. Dezember 1813), S. 747-750, zitiert nach Kunze (wie Anm. 3), S. 268, im Faksimile einsehbar unter https://archive.org/stream/WienerAllge meineMusikalischeZeitung1813#page/n395/mode/2up (Abruf am 8. Februar 2015). Vgl. Biba (wie Anm. 53), S. 88-91; Brown (wie Anm. 53), S. 10. »Bey meiner letzten Musik im großen Redoutensaal hatten sie 18 Violin prim[,] 18 [Violin] secund[,] 14 Violen[, 12 Violincelle[,] 7 Contrabässe[,] 2 Contrafagotte[.]« Zitiert nach Solomon (wie Anm. 49), S. 49; ders.: Beethovens Tagebuch 1812–1818, Bonn 2005, S. 38 (Nr. 18). Vgl. Kojima, Shin Augustinus: »Die Uraufführung der Neunten Sinfonie Beethovens. Einige neue Tatsachen«, in: Bericht über den internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress Bayreuth 1981, hrsg. von Christoph-Hellmut Mahling/Sigrid Wiesmann, Kassel 1984, S. 390-398, hier S. 394. »Dieser in der Raumakustik durch das sog. Stärkemaß angezeigte Verstärkung der Schallquelle durch den Raum verhält sich proportional zu Nachhallzeit und umgekehrt proportional zum Raumvolumen.« Weinzierl, Stefan: »Die Sinfonie als Ansprache an ein Massenpublikum. Konzertformate, Publikum und sinfonische Aufführungspraxis der Beethovenzeit«, in: Korte/Riethmüller (wie Anm. 2), S. 49-70, hier S. 66. Weinzierl, Stefan: Beethovens Konzerträume. Raumakustik und symphonische Aufführungspraxis an der Schwelle zum modernen Konzertwesen, Frankfurt am Main 2002, S. 189. Vgl. Spitzer, John: »Beethoven’s Acoustics«, in: Beethoven Forum 12/2 (2005), S. 212-219, hier S. 214 (Rezension von Weinzierl [wie Anm. 61]). Vgl. ebd. Weinzierl (wie Anm. 60), S. 66. In Weinzierl (wie Anm. 61), S. 183f., heißt es weiter: »Dies bedeutet, daß die zeitgenössischen Hörer einer

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Beethoven-Aufführung einem bis zu 12 dB höheren forte-Pegel ausgesetzt waren als das heutige Publikum. Um aber einen Verlust an Schallpegel von 12 dB durch die Orchesterbesetzung auszugleichen, müsste ein Orchester 16mal stärker besetzt sein, d.h. das Orchester der Berliner Philharmoniker müsste mit über 1000 Musikern spielen, um bei einer Aufführung der Eroica in der Berliner Philharmonie die gleiche Lautheit zu erzeugen wie die fürstliche Kapelle bei der Wiener Uraufführung im Palais Lobkovitz.« Vgl. Kopitz/Cadenbach (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 793 (Nr. 654). Vgl. auch Albrecht, Theodore (Hrsg.): Letters to Beethoven and Other Contemporaries, Lincoln/NB 1992, Bd. 2, Nr. 181. Vgl. ebd. Albrecht hat mich hierauf im Rahmen der Third New Beethoven Research Conference in Pittsburgh (5.-6. November 2013) aufmerksam gemacht. Küthen (wie Anm. 25), S. 124. Louis Spohr, zitiert nach Kopitz/Cadenbach (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 930-935, hier S. 932 (Nr. 709). Carl Bertruch, zitiert nach Kopitz/Cadenbach (wie Anm. 5), Bd. 1, S. 69-70, hier S. 69 (Nr. 53). Franz Wild, zitiert nach Kopitz/Cadenbach (wie Anm. 5), Bd. 2, S. 1101-1103, hier S. 1102 (Nr. 787). Vgl. Robbins Landon, H.C.: Beethoven. His Life, Work and World, London 1992, S. 173-176; Wißmann, Friedericke: »Dirigent«, in: von Loesch/Raab (wie Anm. 16), S. 201-202, hier S. 201; dies.: »Beethoven als Dirigent, seine Musiker und die Organisation seiner Akademien«, in: Korte/Riethmüller (wie Anm. 2), S. 95-106, hier S. 96f. Vgl. Schulin, Karin: Musikalische Schlachtengemälde in der Zeit von 1756 bis 1815, Tutzing 1986, S. 58. Vgl. http://imslp.org/wiki/12_Deutsche_Tänze,_Op.25_(Hummel,_Jo hann_Nepomuk) (Abruf am 8. Februar 2015); Kroll, Mark: Johann Nepomuk Hummel. A Musician’s Life and World, Lanham/MD 2007, S. 350. Vgl. Arnold, Ben: Music and War. A Research an Information Guide, New York 1993, S. 54 (zu Klöffler); Steiner, Stefanie: »Aus der Vorgeschichte der Grand Opéra – Giacomo Meyerbeers LES HUGUENOTS und die deutsche patriotische Musik der Napoleonischen Befreiungskriege«, in: Schweizer Jahrbuch für Musikwissenschaft 23

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(2003), S. 157-190, hier S. 162 (zu Winter); http://imslp.org/wiki/The _Battle_of_Trafalgar,_Op.6_(Logier,_Johann_Bernhard) (Abruf am 8. Februar 2015, zu Logier). Cook (wie Anm. 31), S. 18. Vgl. Ladenburger, Michael: »Der Wiener Kongreß im Spiegel der Musik«, in: Lühning/Brandenburg (wie Anm. 14), S. 275-306, insb. S. 288; Mathew, Nicholas: »Beethoven’s Political Music, the Handelian Sublime, and the Aesthetic of Prostration«, in: 19th-Century Music 33/2, 2009, S. 110-150. Vgl. Lissa, Zofia: »Musik und Revolution«, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 5/1 (1974), S. 113-123, hier S. 117; Stegemann, Michael: »Zehn Jahre für die Ewigkeit. Die Musik der Französischen Revolution«, in: Österreichische Musikzeitschrift 44 (1989), S. 512-519, hier S. 515; Ozouf, Mona: Festivals and the French Revolution, Cambridge/MA 1991; Johnson, James H.: Listening in Paris. A Cultural History, Berkeley/CA 1995, insb. S. 126-127; Mason, Laura: Singing the French Revolution: Popular Culture and Politics, 1787–1799, Ithaca/NY 1996; Mongrédien, Jean: French Music from the Enlightenment to Romanticism: 1789–1830, Portland/OR 1996. Vgl. Ringer, Alexander L.: »A French Symphonist at the Time of Beethoven: Etienne Nicolas Méhul«, in: The Musical Quarterly 37/4 (1951), S. 543-565; Pfrimmer, Albert: »Beethoven und Frankreich«, in: Beethoven-Jahrbuch 3 (1959), S. 7-31; Haag, John J.: »Beethoven, the Revolution of Music and the French Revolution: Music and Politics in Austria, 1790–1815«, in: Austria in the Age of the French Revolution. 1789–1815, hrsg. von Kinley Brauer/William E. Wright, Minneapolis/MI 1990, S. 107-124; Kraus, Beate Angelika: »Beethoven and the Revolution: the View of French Musical Press«, in: Music and the French Revolution, hrsg. von Malcolm Boyd, Cambridge/MA 1992, S. 302-314; Lockwood (wie Anm. 39), S. 151-156. Vgl. Hentschel, Frank: »Festlichkeit. Expressive Qualität und historische Semantik bei Beethoven«, in: Archiv für Musikwissenschaft 70/3 (2013), S. 161-190. Insoweit verfolgt mein Beitrag letztlich Überlegungen von Anno Mungen weiter, auf die ich während meiner Arbeit stieß und die mir

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im Schrifttum zu Beethoven, insbesondere zu Opus 91, bislang kaum rezipiert scheinen. Vgl. Mungen (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 83-86. Vgl. z.B. Morgenblatt für gebildete Stände (25. Mai 1807), S. 496: »Dann ist die Ausführung in den vornehmsten Erfordernissen eines guten Panorama, die Beleuchtung, und besonders das Perspektiv, äußerst mittelmäßig gerathen, und die fernen Feldparthien sind ganz vernachläßigt.« Zur Frühgeschichte des Panoramas vgl. Pragnell, Hubert J.: The London Panoramas of Robert Barker and Thomas Girtin circa 1800, London 1968; Altick, Richard D.: The Shows of London, Cambridge/ MA 1978; Oettermann, Stephan: Das Panorama. Die Geschichte eines Massenmediums, Frankfurt am Main 1980, S. 77-112; Comment, Bernard: The Panorama, London 1999, S. 23-28; Otto, Peter: »Between the Virtual and the Actual: Robert Barker’s Panorama of London and the Multiplication of the Real in Late Eighteenth-Century London«, in: Romanticism on the Net 46, 2007, http://www. erudit.org/revue/RON/2007/v/n46/016130arhtml?vue=integral (Abruf am 8. Februar 2015); Ellis, Markman: »›Spectacles within Doors‹: Panoramas of London in the 1790s«, in: Romanticism 14/2 (2008), S. 133-148. Vgl. Oettermann (wie Anm. 82), S. 7. Mit Blick auf die weitere Geschichte des Begriffs, vgl. Wilcox, Scott W.: »Unlimiting the Bounds of Painting«, in: Ralph Hyde: Panoramania! The Art and Entertainment of the »All-Embracing« View. An Exhibition at Barbican Art Gallery (3.11.1988–15.1.1989), London 1988, S. 13-44, hier S. 41-42. Mit Blick auf die weitere Geschichte des Panoramas vgl. weiter Pragnell (wie Anm. 82), 1968; Buddemeier, Heinz: Panorama, Diorama, Photographie. Entstehung und Wirkung neuer Medien im 19. Jahrhundert, München 1970, S. 15-24; Altick (wie Anm. 82), 1978; Solar, Gustav: Das Panorama und seine Vorentwicklung bis zu Hans Conrad Escher von der Linth, Zürich 1979; Schwartz, Vanessa R.: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris, Berkeley/CA 1998, S. 149-179; Hick, Ulrike: Geschichte der optischen Medien, München 1999, S. 235-250; Simon, Stefan: »›FernSehen‹ und ›Fern-Hören‹. Zur Wahrnehmung von musikbegleiteten Bilderreisen im 19. Jahrhundert«, in: Wahrnehmung und Medialität, hrsg. von Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Sandra Umathum/Matt-

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hias Warstat, Tübingen/Basel 2001, S. 255-269; Grau, Oliver: Virtuelle Kunst in Geschichte und Gegenwart. Visuelle Strategien, Berlin 2002, S. 52-65; Mungen (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 38-86; Otto (wie Anm. 82); Ellis (wie Anm. 82); Garrison, Laurie (Hrsg.): Panoramas, 1787–1900, London 2013; Huhtamo, Erkki: Illusions in Motion. Media Archaeology of the Moving Panorama and Related Spectacles, Cambridge/MA 2013. Clegg, Elizabeth: »Faux terrain: Discontinuous Space in the Early Work of Jarek Malczewski«, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 53/2 (1990), S. 198-208, hier S. 199: »The use of faux terrain – a threedimensional foreground to extend towards the viewers’ space the scene painted on the circular canvas surrounding them – had occurred in some early 19th-century panoramas on both England and Germany, but was first perfected by the French military painter, Jean-Charles Langlois (1789–1870) in his panoramas of the Battle of Navarino (1831) and the Battle of Algier (1834).« Vgl. auch Geimer, Peter: »Faux terrain. Ein Zwischenraum des 19. Jahrhunderts«, in: Arbeit am Bild. Ein Album für Micheal Diers, hrsg. von Stefan Haug, Köln 2010, S. 78-85. Hyde, Ralph: Panoramania! The Art and Entertainment of the »AllEmbracing« View. An Exhibition at Barbican Art Gallery (3.11.1988– 15.1.1989), London 1988, S. 109. Vgl. z.B. Cooper, Barry: Beethoven, Oxford 2000, S. 244: »The degree of realism he achieves, particularly with the cannons, far surpasses any previous attempts«; Kinderman (wie Anm. 39), S. 193: »The crude realism of Wellington’s Victory is well illustrated in its first main section, which is devoted to the battle.« Für Reproduktionen früher Panoramen vgl. Oettermann (wie Anm. 82); Hyde (wie Anm. 85); Plessen, Marie-Louise von (Hrsg.): Sehnsucht: Das Panorama als Massenunterhaltung des 19. Jahrhunderts. Ausstellung in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn (28.5.–10.10.1993), Basel 1993. Wilcox (wie Anm. 83), S. 33. Vgl. auch ebd., S. 40: »[...], critics upheld the distinction between the art-loving few and the vulgar masses.« Vgl. ferner Wilcox, Scott W.: »Panorama«, in: Grove Art Online, hrsg. von Nicola Courtright, Oxford 2007–2013 (Abruf am 8. Februar 2015).

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Vgl. Kunstmuseum Thun, http://www.kunstmuseumthun.ch/panorama /Panorama.html (Abruf am 8. Februar 2015). Vgl. Hyde (wie Anm. 85), S. 169; Comment (wie Anm. 82), S. 66-76, insb. S. 67, 75. Mit Blick auf das Panorama als Vorläufer des Kinos vgl. Miller, Angela: »The Panorama, the Cinema, and the Emergence of the Spectacular«, in: Wide Angle 18/2 (1996), S. 34-69; Griffiths, Alison: »›Shivers Down Your Spine‹: Panoramas and the Origins of the Cinematic Reenactment«, in: Screen 44/1 (2003), S. 1-37; Otto (wie Anm. 82), § 2. Arnold, Ben: Music and War. A Research an Information Guide, New York 1993, S. 52. Vgl. Wilcox (wie Anm. 83), S. 28-32; King, Ross: »Wordsworth, Panoramas, and the Prospect of London«, in: Studies in Romanticism 32/1 (1993), S. 57-73; Jones, J. Jennifer: »Absorbing Hesitation: Wordsworth and the Theory of the Panorama«, in: Studies in Romanticism 45/3 (2006), S. 357-375; Vagts, Alfred: »Battle-Scenes and Picture-Politics«, in: Military Affairs 5/2 (1942), S. 87-103, hier S. 93. Eberhard, Johann August: Handbuch der Ästhetik für gebildete Leser aus allen Ständen, Halle ²1807–1820, Bd. 3, S. 174, zitiert nach Steigerwald, Jörg: »Schwindelgefühle. Das literarische Paradigma der ›Darstellung‹ als Anthropologicum (Klopstock, Sulzer, Herz, Hoffmann)«, in: Kunst und Wissenschaft um 1800, hrsg. von Thomas Lange/Harald Neumeyer, Würzburg 2000, S. 109-131, hier S. 130. Vgl. Oettermann (wie Anm. 82), S. 120. Vgl. Oettermann (wie Anm. 82), S. 222; Comment (wie Anm. 82), S. 51. Vgl. Oettermann (wie Anm. 82), S. 143. Brief von Johann Wolfgang Goethe an Friedrich Schiller (4. Mai 1800), in: http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfga ng/Briefe/1800 (Bd. 15, Nr. 4241) (Abruf am 8. Februar 2015). Vgl. auch Goethe- und Schiller Archiv (Hrsg.), Johann Wolfgang Goethe. Repertorium sämtlicher Briefe 1764–1832, http://ora-web.swkk.de/ swk-db/goerep/index.html (Abruf am 8. Februar 2015). Brief von Johann Wolfgang Goethe an Christiane Vulpius (5. Mai 1800), in: http://www.zeno.org/Literatur/M/Goethe,+Johann+Wolfga ng/Briefe/1800 (Bd. 15, Nr. 4243) (Abruf am 8. Februar 2015). Vgl. auch Goethe- und Schiller Archiv (Hrsg.), Johann Wolfgang Goethe.

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Repertorium sämtlicher Briefe 1764–1832, http://ora-web.swkk.de/ swk-db/goerep/index.html (Abruf am 8. Februar 2015). Vgl. Oettermann (wie Anm. 82), S. 225; Comment (wie Anm. 82), S. 54, 134. Vgl. Der Freimüthige oder Ernst und Scherz (25. März 1805), S. 416: »Im Prater ist in einem eigens zu diesem Zwecke verfertigten Gebäude ein Panorama von Prag aufgestellt. Man muß gestehen, daß das Gemälde dieser großen Stadt von dem hiesigen Mahler Postl, mit einer imposanten Pracht und Schönheit gegeben ist.« Vgl. auch Zeitung für die elegante Welt (2. März 1805), S. 423-424. Vgl. Oettermann (wie Anm. 82), S. 223, 227; Comment (wie Anm. 82), S. 54, 151. Zitiert nach Solomon (wie Anm. 49), S. 49; Solomon (wie Anm. 58), S. 37-38, Nr. 16: »Ich muss den Engländern ein Wenig zeigen[,] was in der God s‹e›ave the King für ein Segen ist«; Nr. 18: »Bey meiner letzten Musik im großen Redoutensaal hatten sie 18 Violin prim[,] 18 [Violin] secund[,] 14 Violen[, 12 Violincelle[,] 7 Contrabässe[,] 2 Contrafagotte[.]« Vgl. Brandenburg, Sieghard (Hrsg.): Ludwig van Beethoven. Briefwechsel. Gesamtausgabe, Bd. 2 & 3, München 1996; Albrecht (wie Anm. 65), 1992; Kopitz/Cadenbach (wie Anm. 5). Gleiches gilt für ein Memorandum, welches Beethoven im Urheberrechtsstreit mit Mälzel verfasste, vgl. Beethoven an Karl Schwabel Edler von Adlersburg (Entwurf eines Memorandums), vor dem 25. Juli 1814, in: Brandenburg (ebd.), Bd. 3, S. 44-46 (Nr. 728). Karl-Heinz Köhler/Grita Herre (Hrsg.), Ludwig van Beethovens Konversationshefte, Leipzig 1972, Bd. 1, S. 91 (Nr. 17v): »Der ganze weite Hori-│zont von Wien liegt│wie ein Panorama│zu unsern Füßen. Der│Münster in Straßburg│ist um weniges höher.│Der Thurm in Köln ist│bey Weitem nicht so hoch│als der Stephansthurm.« Vgl. stellv. nur die über ANNO – Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften unschwer zugänglichen Nachweise. Vgl. Schmitt, Ulrich: Revolution im Konzertsaal. Zur BeethovenRezeption im 19. Jahrhundert, Mainz 1990, S. 106. Vgl. für weitere Informationen zum Panharmonikon Ord-Hume, Arthur: Barrel Organ. The Story of the Mechanical Organ and Its Re-

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pair, New York 1978, S. 179-180; Wendt (wie Anm. 51), S. 80. Es drängt sich darüber hinaus eine begriffliche Beziehung zwischen Panharmonikon, Panorama (in der bildenden Kunst von Robert Barker geprägt) und Panopticon (in der Architektur, vor allem im Gefängnisbaus, von Jeremy Bentham geprägt): Alle drei Ansätze verhandeln Fragen von räumlicher Perspektive und Wahrnehmung. Zu Mälzel, dessen Namen heute neben Beethovens op. 91 vor allem mit dem Metronom und Edgar Allen Poes Essay Maelzel’s Chess Player (1836) verbunden ist, vgl. weiter u.a. Leonhardt, Henrike: Der Taktmesser. Johann Nepomuk Mälzel – Ein lückenhafter Lebenslauf, Hamburg 1990; Sloan, Donald F.: »Beethoven and Mälzel: A Reevaluation of Mälzel’s Character and the History of ›Wellington’s Victory‹«, in: The Beethoven Journal 12 (1997), S. 54-64; Jerold, Beverly: »Mälzel’s Role in Beethoven’s Symphonic Metronome Marks«, in: The Beethoven Journal 24 (2009), S. 14-27; Wolf, Rebecca: »Musik und Mechanik bei Johann Nepomuk Mälzel«, in: Archiv für Musikwissenschaft 66/2 (2009), S. 110-126. Vgl. Misch, Ludwig: »The ›Battle‹ Symphony, Opus 91, in: The Beethoven Companion, hrsg. von Thomas K. Sherman/Louis Biancolli, New York 1972, S. 906. Vgl. für eine Photographie von Walzen für Mälzels Panharmonikon Wendt (wie Anm. 51), S. 80. Vgl. für Zeichnungen des Panharmonikons aus der Beethoven-Zeit Ord-Hume (wie Anm. 107), S. 179f. Vgl. auch die Abbildungen auf http://www.pianola.org/history/history_ orchestrions.cfm (Abruf am 8. Februar 2015). Vgl. Auhagen, Wolfgang: »Mälzel, Johann Nepomuk«, in: MGG² Personenteil, hrsg. von Ludwig Finscher, Kassel/Stuttgart 2004, Bd. 11, Sp. 936-938, hier Sp. 936. Vgl. Küthen, Hans-Werner: »›Wellingtons Sieg oder die Schlacht bei Vittoria.‹ Beethoven und das Epochenproblem Napoleon«, in: Lühning/Brandenburg (wie Anm. 14), S. 259-273, hier S. 260. Vgl. ebd. Vgl. Röder (wie Anm. 14), S. 244; Geck, Martin: Von Beethoven bis Mahler. Leben und Werk der grossen Komponisten des 19. Jahrhunderts, Reinbeck/Hamburg 2000, S. 63. Vgl. Leonhardt (wie Anm. 108), S. 76-83. Ebd., S. 80.

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117 Vgl. Journal de l’Empire (12. Oktober 1808), S. 1-3, zitiert nach Wolf, Rebecca: Die Musikmaschinen von Kaufmann, Mälzel und Robertson. Eine Quellenedition, München 2013, http://www.deut sches-museum.de/fileadmin/Content/data/020_Dokumente/050_Prepri nt/Preprint_005_2012.pdf (Abruf am 8. Februar 2014), S. 305-307: »Si la curiosité s’irrite et s’accroit comme les autres passions ambitieuses par le nombre et l’importance des objets à sa portée, quel temps pourroit être plus propice aux chefs d’oeuvre de M. Maelzel! A la merveille du Panorama vont succéder celles du Salon; et l’on peut assurer dès à présent, par ce que l’on connoit de la multitude et du mérite des ouvrages admis ou attendus à cette exposition, qu’elle l’emportera de beaucoup sur toutes celles qui ont précédé.« Robertson, Etienne Gaspard : Mémoires récréatifs scientifiques et anecdotiques, Bd. 2, Paris 1833, S. 263, zitiert nach ebd. S. 353: »Les Parisiens viennent de tirer parti de cet amusement. On trouve à présent dans le magasin si connu de M. Susse, au passage des Panoramas, des pantins très ingénieux, entre autres celui de M. Maëlzel, mécanicien de Vienne.« 118 Vgl. Leonhardt (wie Anm. 108), S. 104. 119 Vgl. Arrington, Joseph Earl: »John Maelzel, Master Showman of Automata und Panoramas«, in: The Pennsylvania Magazine of History and Biography 84/1 (1960), S. 56-93, hier S. 57-58; Wolf (wie Anm. 108), S. 113. 120 Comment (wie Anm. 82), S. 104; Mungen (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 65; Hyde (wie Anm. 85), S. 109. Vgl. auch Wilcox (wie Anm. 83), S. 32f. 121 Vgl. Steblin, Rita: »Mäzel’s Early Career to 1813. New Archival Research in Regensburg and Vienna«, in: colloquium collegarum. Festschrift für David Hiley zum 65. Geburtstag, hrsg. von Wolfgang Horn/Fabian Weber, Tutzing 2013, S. 161-210, hier S. 197. 122 Wie Beethoven selbst erklärt hat in Beethoven an Karl Schwabel Edler von Adlersburg (Entwurf eines Memorandums), vor dem 25. Juli 1814, in: Brandenburg (wie Anm. 103), Bd. 3, S. 44-46 (Nr. 728), hier S. 44: »[...] als er dieses ‹fertig› eine weile hatte brachte er mir die Partitur wornach er schon zu stechen angefangen und wünschte es ‹instrumentiert› Bearbeitet für ganzes Orchester«. Erst in diesem Stadium der Orchesterfassung entstanden der erste, »Schlacht« ge-

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nannte Werkteil sowie die Intrada zur anschließenden Siegensinfonie, vgl. Küthen (wie Anm. 112), S. 260. 123 Petiscus, J.C.W.: »Ueber die Vermischung verschiedener Gattungen in der Musik«, in: AmZ (23. Dezember 1807), https://archive.org/ stream/bub_gb_6d4qAAAAYAAJ#page/n117/mode/2up (Abruf am 8. Februar 2015), Sp. 193-200, hier Sp. 198. Dies ist nicht der einzige Vergleich in der AmZ jener Jahre, der deutlich macht, dass eben diese Fragen von Orchester und Raum im Fachdiskurs explizit im Verhältnis zum Panorama diskutiert wurden. Vgl. z.B. Petiscus, J.C.W.: »Ueber Quartettmusik«, in: AmZ (16. Mai 1810), https://archive.org/ stream/bub_gb_0t0qAAAAYAAJ#page/n297/mode/2up (Abruf am 8. Februar 2015), Sp. 514-523, hier Sp. 519: »Wenn man die Productionen des grossen Orchesters mit der Theater- und Panoramamalerey vergleich darf, bey der die massiv aufgetragenen Farbenklekse in einer bestimmten Entfernung vom Augen apprehendirt werden müssen, um sich zu etwas Schönen zu gestalten.« 124 »[...]; but I often saw him at Maelzel’s, where he used to discuss the different plans and models of a Metronome which the latter was going to manufacture, and to talk over the ›Battle of Vittoria‹, which he wrote at Maelzel’s suggestion.« Moscheles, Ignaz: »The Editor’s Preface«, in: The Life of Beethoven, hrsg. von ders., London 1841, Bd. 1, S. XIII. 125 Vgl. Mungen (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 82. Das Museum of London hat auf seiner Website eine Illustration dieses Panoramas veröffentlicht, vgl. http://archive.museumoflondon.org.uk/collections-research/ collections-online/object.aspx?objectID=object-496919&start=136&r ows=1 (Abruf am 8. Februar 2015). Als weitere Quelle dient Description of the view of the battle of Vittoria: and the great victory gained by the Marquis of Wellington over the French army under Joseph Bonaparte, now exhibiting in Henry Aston Barker's Panorama, Leicester Square, London 1814 (Verlag: J. Adlard), eine Veröffentlichung, die in verschiedenen Bibliotheken weltweit nachgewiesen ist und zwölf Seiten umfasst. Scott B. Wilcoxs Dissertation The Panorama and Related Exhibitions in London (University of Edinburgh 1976, wiederabgedruckt unter https://regencyredingote.wordpress.com/2012/08/17 /robert-barkers-leicester-square-panorama-the-regency-schedule/ [Abruf am 8. Februar 2015]) listet alle Panoramen auf, die Barkers Rotun-

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de am Leicester Square gezeigt wurden. DER VIEW OF THE BATTLE OF VITTORIA folgten u.a. BATTLE OF PARIS und VIEW OF THE BATTLE OF WATERLOO. Küthen (wie Anm. 25), S. 124. Schindler (wie Anm. 26), S. 246f. Noch 1826, kurz vor seinem Tod, notierte Beethoven bekanntlich eine Randglosse auf einer Kritik Gottfried Webers in der von diesem herausgegebenen Cäcilia, eine Zeitschrift für die musikalische Welt. Weber rügte hier die von Beethoven genutzten Klangeffekte. Beethoven vermerkt hierzu lakonisch: »Ach du erbärmlicher Schuft, was ich scheisse, ist besser als was Du je gedacht.« Faksimiliert bei Wendt (wie Anm. 51), S. 85. Auch bei Thayer findet sich eine Erinnerung Czernys, die nahelegt, dass Beethoven WELLINGTONS SIEG gegenüber zumindest eine gewisse Dankbarkeit und Sympathie hegte, vgl. Thayer (wie Anm. 55), Bd. 3, S. 415f. Vgl. auch den Brief Beethovens an die Wiener Zeitung, in dem er auf den Erfolg der ersten Aufführungen reagiert und der aufgrund des sich anbahnenden Streits mit Mälzel um die Urheberrechte an Opus 91 nicht abgesandt wurde, vgl. Schindler (wie Anm. 26), S. 246f. Das Faksimile ist abgedruckt als: Beethoven an einen Zeitungsredakteur in Wien, zwischen 12. und 20. Dezember 1813, in: Brandenburg (wie Anm. 103), Bd. 2, S. 379-384 (Nr. 680). Beethoven notierte schließlich anlässlich eines Urteils Webers über WELLINGTONS SIEG (»in einem Tonstück von grossen Ansprüchen«): »gar nicht, nichts als gelegenheitsstück, welches jedoch –«, faksimiliert in Röder (wie Anm. 14), S. 255. Es ist der bezeichnende, da im Vergleich zur vorausgehenden Aussage überraschende Nachsatz, in welchem eine wenigstens ambivalente Haltung des Komponisten seinem späterhin geschmähten Stück gegenüber zum Ausdruck kommt. »Gelegenheitsstück« hieß zu dieser Zeit im Übrigen keineswegs ein negatives Werturteil. Vielmehr drückte der Begriff lediglich aus, dass es einen konkreten Anlass für die Komposition gab. Vgl. Mathew, Nicholas: Political Beethoven, Cambridge 2013, S. 14, 28-30. Hoffmann, E. T. A.: Schriften zur Musik. Nachlese, hrsg. von Friedrich Schnapp, München 1963, S. 354-355, zitiert nach Riethmüller (wie Anm. 1), S. 44.

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130 Küpper, Joachim: »Mimesis und Fiktion in Literatur, Bildender Kunst und Musik«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 53/2 (2008), S. 169-190, hier S. 178.

Musik als Paradigma ästhetischen Erzählens D ANIEL M ARTIN F EIGE

In der Narratologie ist die Unterscheidung zwischen einem »Was« und einem »Wie« des Erzählens etabliert. Genettes Differenzierung zwischen histoire, récit und narration ist ebenso dieser Unterscheidung verpflichtet wie die Differenzierung von fabula und syuzhet im russischen Formalismus.1 Das Ziel der folgenden Überlegungen ist es, diese Unterscheidung mit Blick auf ästhetische Gegenstände fragwürdig werden zu lassen.2 Es geht mir darum zu zeigen, dass an der Unterscheidung zwischen einer Ausdrucksebene und einer Inhaltsebene mit Blick auf einen bestimmten Gegenstandsbereich,3 nämlich die Kunst, etwas kategorial verfehlt ist. Spricht man über Narration als ästhetische Form, so ist die Unterscheidung zwischen einem »Was« und einem »Wie« – so sinnvoll die hier natürlich nicht im einzelnen diskutierten narratologischen Theorien auch in anderer Hinsicht und das heißt: So sinnvoll sie auch mit Blick auf andere Gegenstände als Kunstwerke sein mögen – letztlich nicht verständlich. Mit Blick auf die Frage, ob Musik erzählen kann, möchte ich mich dabei in bestimmter Weise eines Urteils enthalten;4 vielmehr möchte ich ausgehend von einer Analyse dessen, was ästhetische Gegenstände sind, die Fragerichtung umdrehen und für die These argumentieren, dass Musik als Paradigma ästhetischer Narration begriffen werden kann. Als ästhetische Form lässt Narration keinen Unterschied zwischen einem »Was« und »Wie« zu und da mit Blick auf Musik anders als mit Blick auf die meisten Romane und Spielfilme ein solcher Unterschied schon auf den ersten Blick schwer verständlich ist, lässt sich Musik als markantester Fall dessen, was es heißt,

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dass etwas eine ästhetische Form ist, explizieren. Mit der These, dass alle Narration in bestimmter Hinsicht anhand des Paradigmas der Musik zu verstehen ist, verfolge ich also weder den Gedanken, dass alle ästhetischen Gegenstände am Ende des Tages der Kunst der Musik zuzurechnen sind, noch den Gedanken, dass etwa für alle Filme oder literarischen Werke klangliche Eigenschaften im engeren Sinne konstitutiv wären. Ich verfolge vielmehr den Gedanken, dass sich ausgehend von einer Beschreibung der Musik als ästhetischer Form etwas Grundsätzliches über ästhetische Narration überhaupt lernen lässt, was durch die etablierten narratologischen Unterscheidungen mitunter tendenziell eher verdeckt wird. Diesen Gedanken werde ich in vier Schritten entwickeln. Ich werde mit einer Diskussion der Frage beginnen (I.), ob Musik erzählen kann und werde anhand einer kritischen Diskussion des musikphilosophischen Formalismus zeigen, dass in dieser Diskussion ein bestimmter Begriff der Narration vorausgesetzt ist. Diesen Begriff der Narration, der mit der Unterscheidung zwischen einem »Was« und einem »Wie« des Erzählens operiert, werde ich in einem zweiten, eher destruktiven Schritt (II.) mit Blick auf ästhetische Gegenstände zurückweisen. Daraufhin soll in einem dritten, eher konstruktiven Schritt (III.) anhand der Kategorie der Form eine Analyse dessen, was ästhetische Gegenstände sind, vorgeschlagen werden. Schließlich (IV.) werde ich ausgehend von dieser Analyse die Grundthese, dass Musik das Paradigma ästhetischen Erzählens ist, erläutern.

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Selbst eingefleischte Vertreter des musikphilosophischen Formalismus bezweifeln gewöhnlich nicht,5 dass es musikalische Werke und Performances gibt, die narrative Valenzen aufweisen. Paradigmatisch kann man etwa an Opern denken, die häufig eine dramatische oder komische Folge von Ereignissen präsentieren. Wer bestreitet, dass es musikalische Werke und Performances gibt, die narrative Valenzen aufweisen, wird sich allein in verzeichneter Weise nicht allein auf die meisten Opern sondern auch auf viele Kunstlieder und Popsongs – allesamt keine Sonderfälle von Musik; und es würde nichts helfen, wenn sie Sonderfälle wären – beziehen können. Denn es wäre mehr als seltsam, sich angesichts dieser Arten von Musik so zu verhalten, dass man an ihren narrativen Valenzen zugunsten eines puris-

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tisch verzeichneten Begriffs der musikalischen Form vorbeihört. Dennoch wären die meisten Formalisten wohl geneigt festzuhalten – und das macht sie zu Formalisten –, dass solche narrativen Valenzen nicht aufgrund der im engeren Sinne musikalischen Aspekte der entsprechenden Werke und Performances zustande kommen. So scheint etwa eine dramatische Handlung einer Oper an den Text des Werks sowie die Gesten und Interaktionen der Sänger und Sängerinnen auf der Bühne während der Aufführung gebunden zu sein. Ebenso scheinen bei solchen Kunstliedern, die nicht bloß der atmosphärischen Erkundung einer Situation oder dem Ausmessen eines subjektiven Gemütszustands gelten, was selbst noch nichts mit Narration zu tun haben muss, die entsprechenden narrativen Valenzen auch durch den Text des Kunstliedes zustande zu kommen. Der Formalist erklärt absolute Musik – also »reine« Instrumentalmusik; Musik ohne Text und Inszenierung6 – zum Paradigma der Musik und würde von solcher Musik, angesichts derer wir nicht sinnvoll bestreiten können, dass sie narrativ ist, sagen, dass es hier gar nicht musikalische Eigenschaften im engeren Sinne sind, die den narrativen Charakter der entsprechenden Musik ausmachen. Verschiedenes lässt sich an dieser – natürlich sehr zugespitzt rekonstruierten – Position des musikphilosophischen Formalismus, der historisch bekanntermaßen auf Hanslicks Bestimmung des Inhalts der Musik als »tönend bewegte Formen« zurückgeht,7 bestreiten; so kann man etwa in Zweifel ziehen, ob die Grenze zwischen absoluter Musik und nicht-absoluter Musik tatsächlich so deutlich zu ziehen ist, wie es der Formalist gerne hätte. Zum einen weist auch die Aufführung eines Streicherquartetts oder einer Symphonie Aspekte auf, die nicht dem Reinheitsgebot des Formalismus gehorchen. Musik erklingt etwa immer in bestimmten Räumen und allgemeiner gesagt:8 Musik erklingt immer in bestimmten Kontexten. Der Formalismus bekommt nicht alle Aspekte dieser Kontexte derart in den Griff, dass sich die Musik tatsächlich seinem Reinheitsgebot fügen würde. Selbst wenn bei den meisten Arten von Musik natürlich keineswegs alle Aspekte des Kontexts einer Aufführung tatsächlich in die Bestimmung des Werks eingehen, so wird das entsprechende Werk doch auch durch bestimmte Aspekte der Kontexte neu- und weiterbestimmt.9 Mit anderen Worten: Gehen bestimmte Aspekte der Kontexte in die Bestimmung des Werks im Sinne einer Geschichte seiner Aufführungen, die einen Hintergrund für zukünftige Aufführungen darstellt und dem Werk als dem, was es ist, nicht äußerlich ist, ein, so ist auch nicht immer gleichgültig, wo ein

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Werk erklingt. Zum anderen scheint etwas an der Vorstellung schief zu sein, dass man bei einer Oper, einem Kunstlied oder einem Popsong die narrativen Aspekte derselben säuberlich auf solche Eigenschaften verrechnen könnte, die nicht als musikalische qualifizierbar sind. Denn damit zerschneidet man analytisch nicht allein die Einheit des Werks, sondern kann dadurch, dass man Musik und Sprache hier letztlich als additiv behandelt,10 nicht länger solche Eigenschaften in den Blick bekommen, die nur durch das Zusammenspiel beider zustande kommen. Mehr noch: Der musikphilosophische Formalismus ist einem puristisch verkürzten Begriff des musikalischen Materials verpflichtet.11 Selbst noch gesprochene Worte sind im Rahmen eines musikalischen Werks Ausdruck einer klingenden und erklingenden Sprache, so dass anders als im alltäglichen Sprechen die klangliche Seite der Worte hier im Regelfall ein wesentlicher Aspekt der Sprache wird; sie werden selbst Teil des musikalischen Materials.12 Es scheint mir für die formalistische Zurückweisung narrativer Valenzen der Musik im Sinne ihrer Explikation als genuin musikalischer Valenzen charakteristisch zu sein, dass sie einem bestimmten Verständnis von Narration verpflichtet ist. Diesem Verständnis sind dialektisch auch noch die Kritiker des Formalismus verpflichtet. Zu den einflussreichsten musikphilosophischen Aufsätzen, die kritisch mit dem Formalismus zu Gericht gehen, gehört eine Arbeit Kendall Waltons aus den 1990er Jahren, die die Frage diskutiert, ob Musik repräsentational sein könne.13 Er hat dort den Anfang des Adagios aus Mozarts A-Dur Klavierkonzert K488 gegen den Formalismus folgendermaßen beschrieben: »The upper voice is late coming to the A in bar 8. There are precedents for this tardiness earlier in the passage. The upper voice was late getting to the A (and F#) at the beginning of bar 3; in bar 4 it participates in a suspension; in bar 6 it is late getting to the C#. In the first two cases the bass waits ›patiently‹ for the soprano to arrive. But in the second phrase, the bass can't wait. It is locked into a (near) sequence, which allows no delay. In bar 6, as in bar 8, the bass has moved on, changing the harmony, by the time the soprano arrives.«14

In der Beschreibung schmückt er die analysierte Passage dann wie folgt aus:

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»One could tell a story to go with this: A character, call her Dalia, is going to catch a train. She has a habit of being late. And in bar 7 she dallies-she’s off chasing butterflies. She dallies so long that she misses the train (the bass), which is on a fixed schedule and can’t wait. But missing the train sets up a fortuitous meeting (D major), perhaps with a member of the opposite sex, which leads to unexpected new adventures (G major).«15

Walton selbst hält freilich fest, dass diese zweite Beschreibung letztlich problematisch ist: »The music certainly doesn’t tell this story. We aren’t supposed to think of the story as we listen. And it is likely to be distracting. But the lateness of the upper voice, and its dallying quality, the rigidity of the bass’s progression, the fortuitousness or accidentalness of the D-major triad, the movement to something new, are in the music.«16

Waltons These, dass das Hören von Musik keinesfalls so puristisch zu beschreiben ist, wie es der Formalismus gerne hätte, scheint mir vollkommen richtig zu sein. Ebenso scheint es mir richtig zu sein, dass etwas an der auf die Musik projizierten Geschichte, die Walton imaginiert, problematisch ist – und das nicht allein deshalb, weil sie im vorliegenden Fall sicherlich nichts anderes als eine subjektive Assoziation darstellt. Denn, so hält Walton selber fest, Musik bietet dem Zuhörer selten eine »plot line […] to follow« an, »even as brief as one as I managed to find in – or impose on – the Mozart Passage«.17 Mag der musikphilosophische Formalismus also in der einen oder anderen Weise defekt sein – er hat gleichwohl mit seiner These, dass Musik dem Zuhörer keine »plot line to follow« anbietet, recht. Aber haben sich damit bereits narrative Valenzen von Musik als solche schon erledigt? Man kann Waltons Aufsatz so lesen, dass er gerade dem Nachweis gilt, dass das selbst dann nicht der Fall ist, wenn Musik keine Plots aufweist. Meines Erachtens geht Kendall Walton aber gerade dadurch, dass er den Begriff des Plots verwendet, in problematischer Weise dem Gedanken narrativer Valenzen der Musik nach. Der Begriff des »plots« wird üblicherweise dem Begriff der »story« gegenübergestellt;18 während der erste Begriff das meint, was erzählt wird, meint der zweite die Art und Weise, wie es erzählt wird. Der Formalist investiert, wenn er sich gegen die Möglichkeit musikalischer Narration wendet, einen bestimmten

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Begriff der Narration – einen Begriff, den Walton ebenfalls zugrunde legt, wenn auch er zu anderen Schlussfolgerungen als der Formalist kommt. Für diesen Begriff der Narration ist charakteristisch, dass er auf die eine oder andere Weise zwischen einem »Wie« und einem »Was« der Narration unterscheidet; also etwa zwischen einer Chronologie von Ereignissen und der Art und Weise, wie diese erzählt werden, z.B. mit Blick auf die Frage, von wem und in welcher Reihenfolge.19 Konsequenz aus einer solchen Unterscheidung ist, dass man dasselbe in unterschiedlicher Weise erzählen kann, ohne dass es durch die Form seiner Erzählung selbst verändert würde. Die Veränderung beträfe hier nur dem »Was« äußerliche Eigenschaften. Es ist just dieses Verständnis von Erzählen, das ich mit Blick auf ästhetische Gegenstände fragwürdig werden lassen möchte.20 Dass diese Unterscheidung hinsichtlich einer Beschreibung von Kunstwerken mit Problemen konfrontiert ist bzw. genauer: dass diese Unterscheidung Ausdruck einer unzureichenden Analyse dessen ist, was ästhetische Gegenstände sind – das möchte ich jetzt zeigen. Um es ganz deutlich zu sagen: Ich beziehe mich hier auf eine zugespitzte Karikatur dessen, was unter einer allgemeinen Narratologie verstanden wird. Ich bin allerdings der Auffassung, dass Spielarten einer solchen Narratologie, die allgemein in einem abstrakten Sinne bleiben, am Ende des Tages auf genau das hinauslaufen, was ich hier kritisiere. Das gilt auch dann, wenn man etwa die Unterscheidung zwischen einem »Was« und einem »Wie« rein heuristisch versteht; denn es steht gerade die Form des Denkens zur Debatte, die sich in einem solchen Verständnis ausdrückt – wie immer deflationistisch man es erläutert.

II. A LLGEMEINE N ARRATOLOGIE

UND

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In ihrer ebenso einschlägigen wie lesenswerten »Einführung in die Erzähltheorie« behaupten Matias Martinez und Michael Scheffler gleich zu Beginn: »Eine Geschichte, die wir als dieselbe Geschichte wiedererkennen, kann auf unzählige verschiedene Weisen präsentiert werden.«21 Die Geschichte von Goethes Werther hätte in diesem Sinne, wie die Autoren festhalten, auch anders erzählten werden können. Goethe hätte andere literarische Verfahrensweisen wählen können, um sie zu erzählen – etwa aus einer anderen Erzählperspektive und nicht als Briefroman. Mehr noch: Offensichtlich erzählt auch Jules Massenets Oper dieselbe Geschichte, wie auch

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der Fernsehfilm von Uwe Janson aus dem Jahre 2008. Diese These von Martinez und Scheffel ist nicht allein eine These, der wohl die meisten Narratologen zustimmen würden. Vielmehr scheint sie auf den ersten Blick unkontrovers zu sein. Dafür scheinen mindestens drei Tatsachen zu sprechen: Es gibt offensichtlich erstens (1) Romane, Dramen und – seltener – Gedichte,22 die dieselbe Geschichte in unterschiedlicher Weise erzählen. Christopher Marlowes THE TRAGICAL HISTORY OF DR FAUSTUS und Goethes FAUST weichen zwar in vielen ästhetisch relevanten Hinsichten voneinander ab, erzählen aber im Kern dieselbe Geschichte. Zweitens (2) gibt es offensichtlich auch zwischen der Literatur und anderen Künsten die Möglichkeit, dass hier dieselben Geschichten erzählt werden. Ohne die Identität der Geschichte in Rechnung zu stellen, würden, so scheint es, Romanverfilmungen ebenso mysteriös wie das Erscheinen von Romanen zu Filmen, wofür gerade im Rahmen der Diskussionen um das Konzept der Intermedialität häufig der Begriff des »Medienwechsels« benutzt wird.23 Es gibt drittens schließlich (3) auf produktionsästhetischer Seite die verbreitete Praxis von Schriftstellern und Regisseuren, ein Repertoire verschiedener literarischer oder filmischer Verfahrensweisen zu erproben und zu verinnerlichen, die Fragen der Präsentation und Wirkung dessen betreffen, was erzählt wird, wenn es so oder so erzählt wird. Ohne hier davon auszugehen, dass ein und dieselbe Geschichte in unterschiedlicher Weise zu erzählen erprobt wird, scheint diese Praxis nicht länger verständlich gemacht werden können. Dass die drei Tatsachen wichtige Gesichtspunkte artikulieren muss man nicht bestreiten, um die Beschreibung, die ich just gegeben habe, problematisch zu finden; das nämlich in ästhetischer Hinsicht der Gedanke verständlich wäre, dass sich beim Erzählen zwischen einem »Was« und einem »Wie« unterscheiden lässt. Um es noch einmal ganz deutlich zu sagen: Wird eine solche Beschreibung von Gegenständen gegeben, die keine Kunstwerke sind, so ist überhaupt nichts problematisch an einer solchen Unterscheidung. Eine allgemeine Narratologie, die mit einer entsprechenden Unterscheidung operiert, ist aber dann im Irrtum, wenn sie glaubt, sie könnte Kunstwerke als einen Gegenstand unter anderen behandeln.24 Natürlich gibt es Narration innerhalb wie außerhalb der Kunst – von nicht wenigen Philosophen ist das Erzählen sogar zu einem Grundmoment des menschlichen Standes in der Welt überhaupt erhoben worden.25 Es macht aber einen Unterschied ums Ganze, wenn man meint, vor einer Analyse

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dessen, was Kunstwerke sind, ihre narrativen Aspekte ausgehend von einer Analyse dessen, was Narration im Allgemeinen ist, in den Griff bekommen zu wollen. Denn die allgemeine Narratologie setzt, wenn sie Kunstwerke als Sonderfälle des Erzählens behandelt, eine externe Beschreibungsperspektive voraus, die damit letztlich gar keine Beschreibung ästhetischer Gegenstande als ästhetischer Gegenstände mehr ist. Das möchte ich kurz anhand zweier Überlegungen zeigen: Erstens (i) mit Blick auf die im Rahmen einer Unterscheidung eines »Was« und eines »Wie« investierte eigentümliche Aufspaltung des ästhetischen Gegenstandes, zweitens (ii) mit Blick auf das Verständnis von Begriff und Gegenstand, das in dieser Unterscheidung investiert ist. Zum ersten Punkt (i). Unterscheidet die Narratologie zwischen einem »Was« und einem »Wie«, so ist sie sich natürlich der Tatsache bewusst, dass diese Unterscheidung eine analytische ist und der beschriebene Gegenstand nicht von sich aus derart unterschieden ist. Gleichwohl wird meines Erachtens mit dieser Unterscheidung der ästhetische Gegenstand grundsätzlich verzeichnet. Denn diese Unterscheidung impliziert den Gedanken, dass man die Geschichte gleichsam wie ein Gerippe des ästhetischen Gegenstands von seinem Fleisch trennen kann. Nun sollte man natürlich nicht bestreiten, dass wir häufig über Filme und Roman in privatem oder öffentlichem Diskurs derart sprechen, dass wir sie auch für ihre Handlung loben oder kritisieren. Daraus folgt aber noch nicht, dass unter Handlung so etwas wie eine abstrakte Struktur verstanden wird, die von unterschiedlichen Gegenständen instanziiert werden kann.26 Denn üblicherweise gehen wir zugleich davon aus, dass nichts die Erfahrung des Films oder Romans ersetzen kann, was keineswegs auf eine bloß rhetorisch oder affektiv verzeichnete Seite des »Wie« zu schlagen ist. Anders gesagt: In Einzelfällen kann zwar z.B. mit Blick auf bestimmte Filme und Romane etwas verloren gehen, wenn uns etwa jemand das Ende im Vorhinein verrät – nämlich bei solchen Filmen und Romanen, bei denen der ästhetische Witz in einem Vorhalten von Informationen und/oder überraschenden Wendungen besteht. Trotzdem wird wohl niemand behaupten, dass mit der Angabe der Handlung schon der ästhetische Witz des entsprechenden Romans oder Films tatsächlich erschöpft sei. Denn der ästhetische Witz eines Kunstwerks zeigt sich nur für den, der es erfährt.27 Ästhetische Gegenstände, die erzählen, sind nicht ein abstraktes Handlungsmuster, zu dem dann noch etwas anderes hinzukommt, sondern die Handlung besteht im Roman in

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nichts anderem als einer Choreographie des Gebrauchs von Worten, wie sie im Film in nichts anderem als einer Choreographie des Gebrauchs filmischer Mittel besteht. Die narratologische Unterscheidung zwischen einem »Wie« und einem »Was« überspringt damit gerade das Spezifische des ästhetischen Gegenstandes, denn das ästhetische Erzählen ist nichts anderes als ein jeweils spezifischer Gebrauch der entsprechenden künstlerischen Mittel. Natürlich würden das die meisten Narratologen gar nicht bestreiten, aber die analytische Unterscheidung zwischen einem »Was« und einem »Wie« bringt mit sich, dass der ästhetische Gegenstand von außen und damit in schiefer Weise beschrieben wird. Demgegenüber kann man sagen: Das Wie ist bereits der ganze Witz des ästhetischen Gegenstandes als eines ästhetischen Gegenstandes. Diese These ist nicht als Analogon der Verzeichnung der Musik durch den musikphilosophischen Formalismus zu verstehen – dass etwa die Handlung eines Romans bedeutungslos sei und man nur auf seine literarische Form und etwa den Stil und die Geste oder sogar den Klang seiner Sätze achten solle. Es ist vielmehr so gemeint, dass das, was die Handlung eines Romans ist, eben nicht abstrakt, sondern als irreduzibel verkörpert derart gedacht werden muss, dass sie in nichts anderem besteht als einem bestimmten Gebrauch literarischer Mittel. Es gibt hier nur eine Sache und nicht zwei und die Einseitigkeit solcher Positionen der allgemeinen Narratologie, die zwischen einem »Was« und einem »Wie« unterscheiden, besteht mit Blick auf ästhetische Gegenstände darin, dass ihnen der Witz des Ganzen entgeht, wenn sie meinen, diese eine Sache zumindest analytisch aufspalten zu können. Noch in einer anderen Hinsicht bleibt die Perspektive einer Narratologie, die zwischen einem »Was« und einem »Wie« unterscheidet, mit Blick auf ihren Gegenstand extern (ii): Die Unterscheidung bringt ein problematisches Verständnis des Verhältnisses der investierten Grundbegriffe zu den von ihnen beschriebenen Gegenständen mit sich. Die Unterscheidung zwischen einem »Was« und einem »Wie« setzt mit Blick auf ästhetische Gegenstände insofern eine externe Beschreibungsperspektive voraus, als sie ihre Gegenstände jeweils als bloße Fälle behandelt, die die von der Narratologie ausgewiesenen Strukturen exemplifizieren. Der Briefroman Goethes und ein Roman von Thomas Bernhard weisen natürlich vielfältige Unterschiede in Stil und Tonfall nicht allein aufgrund des historischen Abstandes auf. Die allgemeine Narratologie beansprucht aber dennoch, beide mit ein und demselben System von Kategorien in den Griff zu bekommen. Eine

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Narratologie, die das beansprucht, behandelt Goethes Briefroman und Bernhards Roman deshalb als bloße Fälle, weil sie – und so lautet die Alternative, die ich an dieser Stelle für das Verhältnis von Begriff und Gegenstand in der Ästhetik vorschlagen möchte28 – nicht als etwas verstanden werden, dass jeweils aus sich heraus, wenn sie denn gelungen sind,29 die ästhetischen Kategorien selbst neu- und weiterbestimmen. Nun ist es natürlich nicht so, dass man das Projekt der Narratologie so verstehen muss, dass es beanspruchen würde, mit seinen Grundbegriffen eine sakrosankte und ein für alle Mal gültige Beschreibung zu etablieren. Vielmehr können ihre Kategorien im Lichte etwa neuer literarischer oder filmischer Phänomene nachjustiert werden müssen, so dass sie offen bleibt für die Kontur und Entwicklung neuer Gegenstände – zudem der Diskurs der Narratologie wie jede Wissenschaft auch von internen Kontroversen darüber geprägt ist, welche Kategorien den entsprechenden Phänomenen am ehesten gerecht werden. Aber auch bei einem solchen Nachjustieren handelt es sich meines Erachtens weiterhin um etwas, das einer externen Perspektive auf ästhetische Phänomene verpflichtet ist. Denn das Neue taucht hier nur als Störung oder Unterbrechung auf, die es dann in den bestehenden Begriffshaushalt zu integrieren gilt.30 Eine immanente Beschreibung des Ästhetischen würde demgegenüber darin bestehen, dass man jeden neuen gelungenen ästhetischen Gegenstand als einen solchen begreift, der nicht etwa eine Herausforderung für ein etabliertes Begriffssystem darstellt, sondern dass man ästhetische Begriffe als immanent unabgeschlossen versteht und sie damit keine Logik des bloßen Falls kennen. Kurz gesagt: Jeder gelungene ästhetische Gegenstand handelt neu aus, was der Sinn der entsprechenden ästhetischen Begriffe ist. Dieser Kritikpunkt hängt also wesentlich mit dem expliziten und impliziten Verständnis einer allgemeinen Narratologie als einer (Teil-)Wissenschaft der Kunst zusammen. Sie formuliert einen problematischen Begriff des Begriffs, wenn sie ihre Taxonomien sozusagen abstrakt entwickelt und dabei davon ausgeht, dass Begriffe etwas sind, was von außen auf Gegenstände angewendet wird und dann – hoffentlich – möglichst viele von ihnen unter sich subsumiert und die davon ausgeht, dass beim Auftreten von Anomalien der Begriff halt nachjustiert werden muss. Wenn ich sage, dass jeder ästhetische Gegenstand neu aushandelt, was der Sinn der entsprechenden Begriffe ist, so zeigt das ein anderes Verständnis des Verhältnisses von Begriff und Gegenstand an. Begriffe sind nicht externe Kategorisierungen, sondern vielmehr sind Gegenstände nichts

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anderes als verkörperte Begriffe.31 Kunstwerke sind keineswegs jenseits des Begriffs, sondern, wenn man den Begriff des Begriffs richtig versteht, vielmehr selbst etwas, was sich in und durch den Begriff entwickelt. Das heißt zugleich, dass das, was ein ästhetischer Begriff ist, konstitutiv unabgeschlossen ist, da er sich, wenn man die Blickrichtung umkehrt, in und durch die einzelnen Gegenstände entwickelt bzw. nichts anderes ist als die bisherigen ästhetischen Gegenstände und seine Unbestimmtheit im Lichte zukünftiger Gegenstände. Man kann nicht vor zukünftigen Kunstwerken sagen, was Kunst sein wird, wenn man Kunst immanent zu denken versucht – denn der Begriff der Kunst und Unterbegriffe wie das Erzählen unter ästhetischer Perspektive sind nichts anderes als die Geschichte dessen, was in und durch einzelne Kunstwerke im Sinne der Tradition ästhetischen Gelingens geleistet worden ist.32 Damit sind bereits erste Charakterisierungen dessen, was ästhetische Gegenstände sind, angezeigt.

III. Z UM B EGRIFF

DES ÄSTHETISCHEN

G EGENSTANDS

Man kann sich einer Bestimmung des ästhetischen Gegenstandes annähern, indem man die besondere Form des Verstehens in den Blick nimmt, die für solche Gegenstände charakteristisch ist. Diese Form des Verstehens lässt sich von der Form des Verstehens unterscheiden, die für den philosophischen Diskurs charakteristisch ist. In diesem Sinne muss neben der theoretischen und praktischen Vernunft auch eine ästhetische Vernunft unterschieden werden – ein Unterschied, der nicht den Inhalt der Vernunft meint, sondern vielmehr die Form unserer Vernunftausübung.33 Philosophie und Kunst eint dabei, dass es sich bei ihnen um Praktiken der Selbstverständigung handelt.34 Es geht in beiden weder darum, dass wir Erkenntnisse gewinnen, noch darum, dass wir moralisch erzogen werden. Vielmehr thematisieren wir uns im Medium eines Kunstwerks oder eines philosophischen Gedankens selbst. Eine solche Selbstthematisierung ist nicht so zu verstehen, dass sie angesichts eines Kunstwerks oder eines philosophischen Gedankens zustande kommt; die entsprechende Selbstthematisierung ist vielmehr nichts anderes als der Nachvollzug eines Kunstwerks oder eines philosophischen Gedankens. Die Art des Nachvollzugs im Sinne einer Form des Verstehens unterscheidet sich in Kunst und Philosophie allerdings kategorial.35

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Einen philosophischen Gedanken – artikuliert in Texten oder Gesprächen – zu verstehen, heißt, ihn in eigenen Worten paraphrasieren zu können und in potentiell beliebig vielen Kontexten fruchtbar zu machen. Philosophisches Verstehen ist somit wesentlich eine Übersetzungsleistung derart, dass man sich von den Worten des Textes oder Gesprächspartners lösen kann, und dennoch den Gehalt dessen, was uns der Text oder Gesprächspartner sagt, erfasst. In dieser Weise sind philosophische Gedanken nicht an einzelne ihrer Verkörperungen – etwa an diese oder jene Formulierung – gebunden; es geht prinzipiell nichts verloren, wenn wir einen philosophischen Gedanken angemessen in die eigene Sprache übersetzen.36 Die These der Paraphrasierbarkeit philosophischer Gedanken ist natürlich nicht so zu verstehen, dass ein philosophischer Gedanke – gemäß einer Karikatur dessen, was bei Platon Idee heißt – unverkörpert existiert und dann noch in äußerliche Formen wie etwa Texte oder mündliche Rede gegossen würde. Denn es gibt keine unverkörperten Gedanken. Die These ist vielmehr so zu verstehen, dass für ein Verständnis eines philosophischen Gedankens gerade nicht die konkrete Formulierung eines Textes oder eines Gesprächs paraphrasiert werden muss; dass also für philosophisches Verstehen als philosophischem Verstehen Übersetzung in eigene Worte wesentlich ist. Mehr noch: Es ist nicht nur wesentlich, sondern unerlässlich. Wer nur genau in den Formulierungen des Textes, den er zu verstehen sucht, über diesen Text sprechen kann, hat ihn noch überhaupt nicht verstanden, sondern plappert ihn bloß nach. Ganz anders sieht die Lage mit Blick auf das Verstehen von Kunstwerken aus. Ein Kunstwerk zu verstehen heißt gerade nicht, es in dieser Weise paraphrasierend zu übersetzen. Es heißt vielmehr, es hinsichtlich seiner Form interpretativ zu erschließen. Natürlich machen wir uns auch ein Kunstwerk zu Eigen, wenn wir es nachvollziehen. Aber wir machen es uns nicht in der Weise zu eigen, dass wir so etwas wie seinen »Gehalt« in unsere Sprache im Sinne einer Paraphrasierung übersetzen. Vielmehr verbleiben wir auf der Ebene seiner Form, der wir im Verstehen nachfahren. Zu Eigen machen wir uns ein Kunstwerk derart, dass wir uns von ihm bestimmen lassen, wenn es denn gelungen ist und wir uns ihm nicht entziehen können. Nicht entziehen können wir uns einem gelungenen Kunstwerk, da gelungene Kunstwerke eine spezifische immanente Logizität aufweisen, die aber nicht in Begriffe der diskursiven Logik übersetzbar ist, wie ihre Elemente in einem schlüssigen Verhältnis zueinander stehen, ohne aber in Begriffen

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des diskursiven Schließens erläutert werden zu können.37 Gelungene Kunstwerke sind stimmig derart, dass hier – wie zerrissen, verstörend und fragmentiert sie auch sein mögen – alles zusammenpasst und Notwendigkeit hat. Überhaupt nur bei misslungen Kunstwerken, Privationen von Kunst, fangen wir an, der künstlerischen Form einen Inhalt gegenüberzustellen – wir halten dann etwa fest, dass eine bestimmte Art der Thematisierung in einem bestimmten Film oder Roman mit dem, was dieser Film oder der Roman thematisieren will, nicht zusammenpasst; bei der Beschreibung, dass Elemente eines Romans oder Films nicht zusammenpassen und wir das nicht als ästhetische Pointe des entsprechenden Romans und Films deuten können, sondern nur als das ästhetische Scheitern dieses Romans oder Films, bleiben wir dabei sogar wiederum im Regelfall nur auf der Ebene der Form. Eine derartige Logizität und Notwendigkeit ergibt sich daraus, dass jedes gelungene Kunstwerk aus sich heraus bestimmt, was seine Elemente sind.38 Elemente von Kunstwerken – Worte, Passagen, Kapitel, Klänge, Melodien, Kameraeinstellungen, Filmsequenzen usf. – sind nichts, was sich von einem Kunstwerk in ein anderes Kunstwerk übertragen lassen würde, ohne dass sich dadurch ihr Sinn ändern würde und das heißt eben: ohne dass sie dadurch ein anderes Element würden. Elemente eines Kunstwerks sind nicht so etwas wie unteilbare Atome, die verschieden kombiniert werden können. Vielmehr steht jedes Element in jedem Kunstwerk in vielfältigen Relationen zu anderen Elementen des entsprechenden Kunstwerks und wird dadurch erst das Element, das es ist, wie die anderen Elemente dadurch erst diejenigen werden, die sie sind. Dasselbe Voicing in einer Improvisation von Brad Mehldau und einer Nocturne von Chopin zu identifizieren, sagt somit noch nichts; im Gegenteil: Mag eine solche Feststellung produktionsästhetisch auch informativ sein und eventuell etwas über den Stil von Brad Mehldau sagen, so gilt es dennoch, das Voicing aus seinem Kontext heraus verständlich zu machen. In einem Wort: Elemente von Kunstwerken sind holistisch konstituiert.39 Aus dem Gedanken, dass jedes gelungene Kunstwerk etwas Irreduzibles dadurch leistet, dass es seine Elemente aus sich heraus konstituiert, folgt dabei natürlich nicht, dass es von der restlichen Welt und der Geschichte der Kunst abgeschnitten wäre. Legt ein Komponist der zeitgenössischen Neuen Musik ein Werk vor, das sich mit einer Fuge Bachs in jedem Ton gleicht, so hat er offensichtlich nicht einfach ein neues Werk komponiert – wie er auch nicht ein weiteres

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Exemplar von Bachs Fuge vorgelegt hat. Er hat wohl vielmehr ein Werk vorgelegt, dessen Thema die Geschichte der Musik und der Werkbegriff selbst sein könnte. Um einen weniger exotischen Fall zu nennen: Es ist natürlich so, dass Kunstwerke sich in Stile und Gattungen gruppieren. Zu sagen, dass jedes gelungene Werk aus sich heraus aushandelt, was seine Elemente sind, heißt mit Blick auf Stile und Gattungen festzuhalten, dass mit jedem gelungenen Gegenstand, der sich in einen solchen Stil oder eine solche Gattung einschreibt, zugleich die Grenzen derselben neu verhandelt werden. Gattungen und Stile sind in der Kunst nichts Statisches und nichts, dass anhand als notwendiger Bedingung missverstandener Eigenschaften identifiziert werden könnte – dadurch würden sie nämlich als ungeschichtlich verzeichnet.40 Auch dann, wenn gilt, dass »artworks come in categories«,41 stellt dennoch jedes gelungene Werk ein irreduzibel neues Aushandlungsgeschehen dar. Eine derartige Konstitution von Elementen in einem Kunstwerk ist nichts, was unter Absehung einer Interpretationsperspektive der Teilnehmer einer ästhetischen Praxis zu Stande käme. Ohne eine solche Praxis blieben die ästhetisch relevanten Aspekte der entsprechenden Objekte und Ereignisse epistemisch unzugänglich, wie Kunstwerke insgesamt stumm blieben. Ich benutze hier den Begriff der Interpretation in einem weiten Sinne, so wie Arthur C. Danto ihn eingeführt hat.42 Er meint noch die scheinbar unschuldige Wahrnehmung von Kunstwerken. Es ist also nicht so, dass es zunächst eine irgendwie als »roh« qualifizierbare Wahrnehmung gäbe, die dann noch in einem zweiten Schritt interpretiert würde.43 Es gibt hier vielmehr nur einen Schritt, insofern jede Kunstwahrnehmung interpretativ ist. Denn schon das vermeintlich bloße Wahrnehmen von Kunstwerken ist von Unterscheidungen bezüglich der Frage geprägt, was zum Kunstwerk dazugehört und was nicht. Interpretation meint also nicht das Herausarbeiten von so etwas wie einer tieferen Bedeutung des Kunstwerks. Der leitende Gedanke der hier vorgestellten Überlegungen lautet nämlich, dass es so etwas gar nicht gibt, da die Tiefe eines Kunstwerks sich nur für denjenigen zeigt, der konsequent an dessen Oberfläche verbleibt – was nicht dem Gedanken widerspricht, dass Kunstwerke dennoch als tief und bedeutungsvoll zu qualifizierende Erfahrungen ermöglichen. Im Sinne dieses Begriffs der Interpretation, der Antworten auf die Frage meint, aus welchen Elementen ein Kunstwerk tatsächlich besteht,44 kann sich immer die Frage stellen, ob eine Bewegung, eine Geste, ein Einatmen nicht selbst Teil einer künstleri-

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schen Performance sind, wie der Rahmen Teil eines Gemäldes sein kann und das Schriftbild oder sogar die Farbe der Schrift Teil eines Romans.45 Kunstwerke fordern in diesem Sinne einen interpretativen Nachvollzug auf Seiten des Rezipienten, der nicht bloß passiv ist. Er ist allerdings auch nicht bloß aktiv – vielmehr ist für den Nachvollzug von Kunstwerken eine aktive Passivität charakteristisch.46 Aktiv ist unser Nachvollzug von Kunstwerken nicht allein deshalb, weil wir im Regelfall Verschiedenes tun müssen, um uns von einem Kunstwerk bestimmen zu lassen – genau hinsehen, konzentriert zuhören und anderes. Aktiv ist sie auch insofern, insofern das Kunstwerk durch seine Interpretationen neu- und weiterbestimmt wird.47 Im Lichte zukünftiger Interpretationen können sich andere Elemente als solche, die heute für das entsprechende Kunstwerk als konstitutiv gelten, herausgestellt haben. Die geschichtliche Bewegtheit eines Kunstwerks und der konstitutive Bezug dieser Bewegtheit zur ästhetischen Praxis führt gleichwohl nicht dazu, dass es sich hier nur um ein bloßes Hineinlesen von Sinn in ein Kunstwerk handelt: Es handelt sich vielmehr um das immer wieder andere und neue Herausarbeiten des Sinns, dass vorangehende Interpretationen von Kunstwerken aufhebt. Eine derartige Analyse des ästhetischen Gegenstands ist natürlich eine Analyse von Kunstwerken überhaupt, die die Form des Verstehens und die damit einhergehende Bewegtheit von Kunstwerken adressiert. Begreift man ästhetische Narration als einen Sonderfall dieser Analyse, so macht man sich gleichwohl nicht des im zweiten Teil an die Adresse einer bestimmten Spielart der allgemeinen Narratologie gerichteten Einwandes, dass hier eine Logik von abstraktem Allgemeinen und Besonderem als bloßem Fall vorliegt, schuldig. Denn gemäß der These, dass jedes Kunstwerk seine Elemente aushandelt, gibt es hier in bestimmter Weise nur noch Sonderfälle vor dem Hintergrund einer Tradition ästhetischen Gelingens. Das Allgemeine ist gar nichts anderes als die Geschichte seiner Besonderungen und die Offenheit seiner Bestimmung im Lichte zukünftiger Besonderungen. Es ging mir mit diesen Überlegungen also nicht darum, einen Begriff ästhetischer Narration auszuarbeiten, sondern den sich aus der Analyse ästhetischer Gegenstände ergebenden Gedanken zu artikulieren, dass eine Unterscheidung zwischen einem »Was« und einem »Wie« mit Blick auf Kunst keine verständliche Unterscheidung ist. Mehr noch: Tendenziell passt eine solche Unterscheidung viel eher ins Register einer Analyse dessen, was philosophische Gedanken sind – denn hier macht es tatsächlich Sinn, den

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philosophischen Gehalt von der Form seiner Präsentation zu unterscheiden. Demgegenüber ist es mit Blick auf ästhetische Narration schief, von einem Gehalt zu sprechen, der in anderer Gestalt paraphrasierbar wäre. Goethes Briefroman und Bernhards Roman hätten – wenn sie denn gelungen sind – nicht anders geschrieben werden können, als sie geschrieben worden sind, ohne dass sie dadurch ein gänzlich anderes Werk auch dann geworden wären, wenn auf der Ebene des »Was« des Narratologen kein Unterschied feststellbar wäre. Ich möchte mit Blick auf den Anspruch dieser Kritik an abstrakten, d.h. der Kunst externen Theorien, festhalten, dass sie eine Theorie der Narration nahelegt, die ihren Gegenstand als einen solchen begreift, der stets in Bewegung ist. Sie legt kurz gesagt eine Narratologie nahe, die die These vertritt, dass jede ästhetische Narration die Kriterien, die sie als Narration bestimmen, neu aushandelt. In diesem Sinne galt meine Kritik nicht jeder Spielart einer allgemeinen Narratologie, sondern nur abstrakten Spielarten der allgemeinen Narratologie. Wie geht man aber mit den drei zu Beginn des letzten Kapitels genannten Tatsachen um, die für just die zurückgewiesene Unterscheidung zu sprechen schienen? Bevor ich zum vierten und letzten Teil meiner Überlegungen kommen werde, der dem Gedanken Sinn verleihen soll, dass alles Erzählen in bestimmter Hinsicht vom Paradigma der Musik aus verständlich zu machen ist, scheint es mir hilfreich, diese Frage kurz mit Blick auf die drei genannten Tatsachen zu beantworten; so kann das Bild ästhetischer Gegenstände, das ich hier gezeichnet habe, konkretisiert und geschärft werden. Mit Blick auf die erste Überlegung (1), dass nämlich verschiedene Romane dieselbe Geschichte erzählen können, besteht das Argument nicht so sehr darin, darauf zu verweisen, dass die nicht-narrativen Aspekte der entsprechenden Romane wichtiger sind als die Aspekte, die die allgemeine Narratologie entwickelt. Er besteht vielmehr darin, dass man festhält, dass sich die vermeintlich identische Geschichte im Lichte ihrer Formen jeweils neu- und weiterbestimmt. Es ist also nicht so, dass Marlowes FAUST dieselbe Geschichte erzählt wie Goethes FAUST; es ist vielmehr so, dass Goethes FAUST in gewisser Weise aus sich heraus eine Neuschreibung dieser Geschichte darstellt, die gleichwohl in einer Tradition zu Marlowes FAUST steht, der wiederum in einer Tradition zu anderen verkörperten Geschichten steht. Kurz gesagt: Keine zwei gelungenen Kunstwerke erzählen unter ästhetischer Perspektive jemals ein und dieselbe Geschichte, da die entsprechende Geschichte nichts anderes als diese oder jene Verkörperung ist. Mit

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Blick auf die zweite Überlegung (2), die Romanverfilmung oder das Verfassen von Romanen zu Spielfilmen, muss es letztlich darum gehen, das ganze logische Register von Begriffen wie dem des Medienwechsels hinter sich zu lassen. Das scheint mir insofern nicht eine Verzeichnung unserer ästhetischen Praxis zu sein, als es sich bei Begriffen wie dem Begriff des Medienwechsels und verwandten Begriffen um terminologischer Begriffe spezieller wissenschaftlicher Diskurse handelt, nicht aber um Begriffe, die in unserer eingespielten ästhetischen Praxis selbst einen festen und unverzichtbaren Ort hätten. Man sollte Begriffe wie den Begriff des Medienwechsels deshalb letztlich verabschieden, weil er fälschlicherweise suggeriert, dass hier etwas von der Literatur in den Film transportiert wird, was dennoch dasselbe bleiben würde. Einen Roman zu verfilmen heißt demgegenüber, auf der Grundlage dieses Romans ihn filmisch neu zu erfinden, wie einen Roman zu einem Film zu verfassen heißt, ihn ausgehend von diesem Film als Roman neu zu erfinden.48 Es gibt hier nicht ein Kunstwerk in zwei Gestalten, sondern zwei verschiedene Kunstwerke. Mit Blick auf die dritte Überlegung schließlich (3), dem Verweis auf produktionsästhetische Verfahren der Erprobung und Variierung des Erzählens einer Geschichte, gilt es nicht allein festzuhalten, das nicht ausgemacht ist, dass wir unter ästhetischer Perspektive hier von ein und derselben Geschichte sprechen würden, die unterschiedlich erzählt wird. Wir würden vielleicht eher davon sprechen, dass bestimmte verkörperte Geschichten auf ihre jeweilige Wirkung o.Ä. hin erprobt werden. Die entsprechenden Künstler sind sich zudem üblicherweise durchaus der Tatsache bewusst, dass es bei jeder Veränderung ums Ganze geht. Vielmehr und vor allem gilt es darauf zu verweisen, dass es sich hier um ein Moment des Erwerbs der Fähigkeiten zur künstlerischen Produktion handelt bzw. in einzelnen Fällen vielleicht auch um ein Moment des künstlerischen Produzierens, das selbst nicht schon den Sinn des Produkts bestimmt. Denn einen Roman oder Film deuten wir ja nicht im Lichte seiner möglichen Alternativen, sondern im Lichte der künstlerischen Entscheidungen, die tatsächlich gefallen sind. Was ich nun abschließend zeigen möchte, ist, dass die irreduzible Geformtheit des Inhalts ästhetischer Narration, oder besser: Die Tatsache, dass ästhetische Narration nichts anderes als Form ist, es möglich macht, Musik als Paradigma allen ästhetischen Erzählens zu verstehen.

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Wenn mein leitender Gedanke lautet, dass alles ästhetische Erzählen anhand des Paradigmas der Musik erläutert werden kann, so sollte aufgrund der bisherigen Darstellung klar geworden sein, wie dieser Gedanke nicht zu verstehen ist. Er ist erstens nicht so zu verstehen, dass für alle künstlerischen Formen »musikalische« Eigenschaften in einem traditionellen Sinne – Klang, Rhythmus usw. – konstitutiv wären. Denn offensichtlich lässt nicht jeder Roman seine Sprache musikalisch erklingen, wie offensichtlich nicht jedes Gemälde oder jede Skulptur metaphorisch musikalische Eigenschaften exemplifiziert.49 Natürlich können Kunstwerke aller Künste musikalische Eigenschaften manifest oder metaphorisch exemplifizieren und was eine musikalische Eigenschaft ist, steht gar nicht ein für alle Mal fest, sondern ist – das war die Lektion des letzten Teils dieser Überlegungen – bestimmt durch die einzelnen Aushandlungen gelungener Kunstwerke der Musik als Momente einer Tradition ästhetischen Gelingens, im Rahmen derer mit jedem Werk neue Aspekte des musikalischen Materials etabliert werden oder Aspekte neu etabliert werden, was am Ende des Tages auf dasselbe hinausläuft.50 Aber das Exemplifizieren musikalischer Eigenschaften ist eben nur eine Möglichkeit der Künste und mit Blick auf einige Gattungen der Künste wie etwa Romane oder gegenständliche Malerei auch eher selten der Fall. Der Gedanke ist zweitens nicht so zu verstehen, dass die Musik die höchste oder wichtigste Kunst wäre. Nicht allein ist solch eine These prinzipiell auch dann schief, wenn bestimmte Künste zu bestimmten Zeiten von größerer Relevanz und Aktualität sind als andere Künste – und Künste natürlich auch absterben können, wie die Grenzziehungen zwischen den Künsten in Veränderung begriffen sind. Denn damit wird etwas historisch Bewegtes in etwas systematisch Stabiles umgedeutet – und aus der Relevanz und Aktualität folgt nicht notwendig der Wert einer Kunst als solcher. Die These der Musik als höchster Kunstform übergeht insgesamt die Ausdifferenziertheit und historische Bewegtheit der Musik im Spannungsfeld anderer Künste. Wie ist die These, dass ästhetische Narration – d.h.: gelungene erzählende Kunstwerke – als solche anhand des Paradigmas der Musik verständlich gemacht werden kann, demgegenüber zu verstehen? Sie ist so zu verstehen, dass sich anhand von Musik als Paradigma etwas Grundsätzliches

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über Kunst und damit auch über solche Kunstwerke, die erzählend sind, verständlich machen lässt. Der musikphilosophische Formalismus, mit dem ich im zweiten Teil die Diskussion um das Verhältnis von Musik und Narration eröffnet habe, hat recht darin, dass Musik wesentlich Form ist. Wie aus der Analyse dessen, was ästhetische Gegenstände sind, aber deutlich geworden sein sollte, ist Musik – und alle Kunst – in einem anderen Sinne ästhetische Form als sie der musikphilosophische Formalist konturiert. Denn sie ist inhaltlich bestimmte ästhetische Form. Das Problem des musikphilosophischen Formalismus ist, dass er ästhetische Form formalistisch verzeichnet. Und noch Kendall Waltons produktive Überschreitung des musikphilosophischen Formalismus bleibt auf solch ein Verständnis ästhetischer Form bezogen, wenn er die narrativen Valenzen der Musik eben nicht als etwas begreift, was aus der musikalischen Form selbst verständlich gemacht werden kann, sondern sie als etwas versteht, was an die Musik von uns herangetragen wird. Demgegenüber lautet der leitende Gedanke einer nicht-formalistischen Explikation der ästhetischen Form der Musik, dass hier nichts herangetragen wird, sondern die ästhetische Form der Musik immer schon reicher ist als sie der musikphilosophische Formalismus und subkutan auch Waltons Alternative begreifen. Weit entfernt davon, ein selbstgenügsames Spiel von musikalischen Klängen zu sein, kann die Musik wie jede Kunst nicht allein die Materialien und Verfahrensweisen anderer Künste integrieren, ohne deshalb weniger Musik zu sein. Sie kann eben auch narrative Valenzen aufweisen, die nicht ein Anderes oder Fremdes der Musik selbst sind. Weist sie narrative Valenzen auf, so wird hier gleichwohl besonders deutlich, dass sie keine Unterscheidung zwischen einem »Wie« und einem »Was« gezogen werden kann, sondern dass solche Valenzen Aspekte der ästhetischen Form sind. Was sich somit anhand der Musik als ästhetischer Form insgesamt besonders deutlich ersehen lässt, ist, dass die Unterscheidung zwischen einem Inhalt und einer Form seiner Präsentation in der Kunst keinen Bestand haben kann. Musik macht hier ein Moment dessen explizit, was für Kunst überhaupt wesentlich ist: Kann man angesichts von Spielfilmen und Romanen zumindest auf den Gedanken kommen, dass hier ein »Gehalt« in jeweils unterschiedlicher Weise »verpackt« wird, so fällt es schwer, einen solchen Gedanken mit Blick auf die Musik selbst dann verständlich zu finden, wenn man der Auffassung ist, dass in der Musik so etwas musikalische Gedanken ausgedrückt würden und die Form der Musik insgesamt

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nicht formalistisch erläutert wird. Dass alles ästhetische Erzählen anhand des Paradigmas der Musik verständlich gemacht werden kann, besagt also folgendes: Mit Blick auf Musik ist der Unterschied zwischen einem Gehalt und der Art seiner Präsentation im Regelfall unverständlich. Musik stellt deshalb das Paradigma der Kunst überhaupt dar, weil in ihr etwas explizit zum Vorschein kommt, was in unserem Verständnis anderer Künste tendenziell verdeckt sein kann. Stellt sie das Paradigma der Kunst dar, so ist diese These nicht gleichbedeutend mit der These, dass sie die höchste, wichtigste oder wertvollste Kunst sei. Denn das ist eine falsche These. Es geht hier nur um ihre Leistung, dass in ihr etwas explizit wird. In der Musik kommt etwas explizit zum Vorschein, was für Kunst überhaupt wesentlich ist: Dass Kunst ästhetische Form ist, angesichts derer eine Unterscheidung zwischen einem »Was« und einem »Wie« keinen Sinn macht.51

A NMERKUNGEN 1 Vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung, München 1998. Vgl. Striedter, Jurij (Hrsg.): Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa, München 1994. David Bordwell hat diese Grundunterscheidung in einflussreicher Weise für eine allgemeine Narratologie des Films fruchtbar gemacht, vgl. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film, Madison/WI 1985. 2 Wenn ich in diesem Text von »ästhetischen Gegenständen« spreche, so meine ich damit ausschließlich Kunstwerke. 3 Diese Begriffe stammen von Hjelmslev, vgl. Hjelmslev, Louis: Aufsätze zur Sprachwissenschaft, Stuttgart 1974, S. 52. 4 Dazu gibt es gleichwohl eine Reihe von Versuchen seitens der Narratologie, vor allem im Kontext von Diskussionen zur Intermedialität. Vgl. etwa Wolf, Werner: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie«, in: Erzähltheorie. Transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, hrsg. von Ansgar Nünning/Vera Nünning, Trier: 2002, S. 23-104. 5 Der derzeit vielleicht einflussreichste Vertreter des musikphilosophischen Formalismus ist Peter Kivy. Vgl. exemplarisch Kivy, Peter: The Fine Art of Repetition, Cambridge 1993.

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6 Vgl. zur absoluten Musik auch Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik, Kassel 1978. 7 Hanslick, Eduard: Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Ästhetik der Tonkunst, Darmstadt 1991, S. 32. 8 Vgl. dazu auch die überzeugende historische Fallstudie von Gesa zur Nieden zum Théâtre du Châtelet: Zur Nieden, Gesa: Vom Grand Spectacle zur Great Season. Das Pariser Théâtre du Châtelet als Raum musikalischer Produktion und Rezeption (1862–1914), Wien 2010. 9 Ausgehend vom Jazz habe ich für diese These mit Blick auf künstlerische Musik insgesamt argumentiert. Vgl. Feige, Daniel Martin: Philosophie des Jazz, Berlin 2014, Kap. 3. 10 Vgl. zum Verhältnis von Musik und Sprache auch Wellmer, Albrecht: Versuch über Musik und Sprache, München 2009. 11 Vgl. zum Begriff des musikalischen Materials die insgesamt erhellende Analyse in Hindrichs, Gunnar: Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik, Berlin 2013, Kap. 2. 12 Christian Grüny hat in seinem Buch zur Musikphilosophie anhand einer Beschreibung der Tanzperformance »Both Sitting Duet« auf die Frage, was »an Material in einen musikalischen Zusammenhang eingespeist und integriert werden kann« zutreffend mit »alles« geantwortet. Vgl. Grüny, Christian: Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik, Weilerswist 2014, S. 32. 13 Walton, Kendall: »Listening with Imagination: Is Music Representational?«, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 52/1 (1994), S. 47-61. 14 Ebd., S. 51. 15 Ebd. 16 Ebd. 17 Ebd., S. 52. 18 Die Unterscheidung geht zurück auf Forster, Edward M.: Aspects of the Novel, London 2005. 19 Vgl. als Einführung in die Grundkategorien der Narratologie etwa Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006; Martinez, Matias/Scheffel, Michael (Hrsg.): Einführung in die Erzähltheorie, München 2007; Kindt, Tom/Köppe, Tilmann: Erzähltheorie. Eine Einführung, Ditzingen 2014.

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20 Man kann die folgenden Überlegungen insgesamt derart lesen, dass sie im Geiste folgender Bemerkung Hegels aus seiner Enzyklopädie stehen: »Ein Kunstwerk, welchem die rechte Form fehlt, ist eben darum kein rechtes, d.h. kein wahres Kunstwerk, und es ist für einen Künstler als solchen eine schlechte Entschuldigung, wenn gesagt wird, der Inhalt seiner Werke sei zwar gut (ja, wohl gar vortrefflich), aber es fehle denselben die rechte Form. Wahrhafte Kunstwerke sind eben nur solche, deren Inhalt und Form sich als durchaus identisch erweisen.« Hegel, Georg. W. F.: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse, Bd. 1, Frankfurt am Main 1986, S. 265f. 21 Martinez/Scheffel (wie Anm. 19), S. 21. 22 Ohne dass diese Charakterisierungen als Angabe eines statischen Wesens der Gattung verstanden werden dürfen, ist es wohl so, dass für die meisten Gedichte andere Arten von Eigenschaften wesentlich sind als die Geschichte, die sie erzählen. Mehr noch: Die meisten Gedichte erzählen überhaupt keine Geschichte; viele Erkunden und Gestalten unsere subjektiven Gemütszustände, wie andere musikalisch dadurch werden, dass sie die Sprache als eine klingende und erklingende gebrauchen; vor allem jüngere Gedichte erkunden freilich häufig auch die bildhaften und typografischen Aspekte ihres Materials. 23 Vgl. exemplarisch etwa Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen 2002, S. 16. 24 Dieser Fehler ist analog zu dem Fehler, den die philosophische Ästhetik begeht, wenn sie Kunstwerke als Sonderfall einer am Begriff der Aisthesis orientierten allgemeinen Ästhetik behandelt. Vgl. in diesem Sinne Feige, Daniel Martin: »Zum Verhältnis von Kunsttheorie und allgemeiner Ästhetik: Sinnlichkeit als konstitutive Dimension der Kunst?«, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 56/1 (2011), S. 123-142. 25 Vgl. in diesem Sinne Ricoeur, Paul: Zeit und Erzählung, Bd. 1-3, München 2007. 26 Darauf läuft diese Auffassung nämlich am Ende des Tages hinaus. Die Type-Token-Unterscheidung hat neben der Sprachphilosophie und Philosophie des Geistes auch in der analytischen Ästhetik und hier vor allem im Rahmen von Diskussionen zur Ontologie der Kunst eine respektable Karriere gemacht. Vgl. dazu etwa die Beiträge in Schmü-

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cker, Reinold (Hrsg.): Identität und Existenz. Studien zur Ontologie der Kunst, Paderborn 2009. Der hier investierte Begriff ästhetischer Erfahrung muss keineswegs subjektivistisch erläutert werden. Vgl. in diesem Sinne die überzeugenden Überlegungen von John McDowell. McDowell, John: »Ästhetischer Wert, Objektivität und das Gefüge der Welt«, in: ders., Wert und Wirklichkeit, Frankfurt am Main 2009, S. 179-203. Ich verstehe diese Alternative als eine bestimmte Ausdeutung dessen, was Hegel in seiner Logik entwickelt hat und was vor allem von HansGeorg Gadamers philosophischer Hermeneutik aufgegriffen worden ist. Hegel, Georg W. F.: Wissenschaft der Logik, Bd. 1-2, Frankfurt am Main 1986; Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990. Die Kunst kennt nur Gelingen und Privationen. Kunst ist ein normativer Begriff, was gleichwohl nicht bedeutet, dass man inhaltliche Kriterien dessen angeben könnte, was es heißt, dass Kunstwerke als solche gelingen. Wer bestreitet, dass der Kunstbegriff ein normativer Begriff ist, behandelt Kunstwerke erstens als etwas, dass zunächst vorhanden ist – so als würde man versuchen, den Begriff einer vorhandenen chemischen Substanz zu klären – und uns dann in einem zweiten Schritt noch etwas angeht, wie er zweitens, wenn er die Verwendung des Kunstbegriffs als soziologisch oder genealogisch für reduzierbar hält, nicht mehr verständlich machen kann, dass er bereits vorgängig einen Kunstbegriff zur Auswahl der Phänomene, die er analysieren und reduzieren möchte, vorausgesetzt hat. Vgl. als Position, die das erste Problem deutlich exemplifiziert, Dickie, Georg: Evaluating Art, Philadelphia 1988. Vgl. als Position, die das zweite Problem adressiert, Heidegger, Martin: »Der Ursprung des Kunstwerkes«, in: ders., Holzwege, Frankfurt am Main 2003, S. 1-74, hier S. 2. Analog zu einer derartigen Entwicklung ist in der Frage der Definition von Kunst die Entwicklung hin zu offenen Explikationen des Kunstbegriffs, die aber selbst auf eine klassische Definition im Sinne jeweils notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen dialektisch bezogen bleiben. Vgl. exemplarisch etwa die sehr einflussreiche Clustertheorie von Berys Gaut. Gaut, Berys: »Kunst als Clusterbegriff«, in: Kunst und Kunstbegriff. Der Streit um die Grund-

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lagen der Ästhetik, hrsg. von Roland Bluhm/Reinold Schmücker, Paderborn 2002, S. 140-165. Noch einmal folge ich hier offensichtlich Hegel und Gadamer. Ich habe diese Argumentation mit Blick auf die Ästhetik des Computerspiels in grundsätzlicher Weise entwickelt. Vgl. Feige, Daniel Martin: Computerspiele. Eine Ästhetik, Berlin 2015 (im Erscheinen), Kap. 2. Vgl. mit Blick auf die Unterscheidung zwischen theoretischer und praktischer Vernunft auch Börchers, Fabian: Handeln. Zum Formunterschied von theoretischer und praktischer Vernunftausübung, Münster 2013. Ich folge hier Hegels Unterscheidung verschiedener Gestalten des absoluten Geistes. Vgl. zum Begriff des absoluten Geistes Hegel (wie Anm. 20), S. 366ff. Vergleiche als systematische Entwicklung und Verteidigung der These, dass Kunst als eine Praxis der Selbstverständigung zu begreifen ist, auch Feige, Daniel Martin: Kunst als Selbstverständigung, Münster 2012. Vgl. dazu ausführlicher auch Feige (wie Anm. 32), Kap. 4.1. In diesem Sinne lese ich die performativen Züge der Philosophie Derridas und auch anderer performativ schreibender Philosophen wie Heidegger und Adorno nicht derart, dass sie die Philosophie zur Literatur öffnen würden. Das nicht deshalb, weil Derrida diese Lesart – zu Recht – gegenüber Habermas explizit zurückgewiesen hat (vgl. Derrida, Jacques: Limited Inc., Wien 2001, S. 256), sondern vielmehr, weil Derrida als Philosophen zu diskutieren heißt, seine Texte auf ihre systematischen Thesen und Argumente hin zu befragen. Ich folge hier offensichtlich Adornos Charakterisierung des Formgesetzes der Kunst. Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1973, etwa S. 133ff. Es ist wichtig festzuhalten, dass man Adornos Überlegungen kolossal missversteht, wenn man die Begriffe der Logizität oder Stimmigkeit im Sinne eines konservativen Verständnisses der künstlerischen Form versteht. Denn die hier vorgestellten Überlegungen gelten nicht allein für Romane und Spielfilme, sondern auch für Performancekunst, zeitgenössischen Tanz und Free Jazz. Ich folge hier in vielem den überzeugenden Überlegungen von Georg W. Bertram. Vgl. Bertram, Georg W.: Kunst als menschliche Praxis. Eine Ästhetik, Berlin 2014, Kap. 3.

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39 Vgl. zum Begriff des Holismus auch Bertram, Georg W./Lauer, David/ Liptow, Jasper/Seel, Martin: In der Welt der Sprache. Konsequenzen des semantischen Holismus, Frankfurt am Main 2008. 40 Vgl. als Durchdeklinierung dieses Gedankens mit Blick auf den Begriff des Genres Feige, Daniel Martin: »Alle Genres sind prekär und kein Genre ist prekär, oder: Die Logik des Genres im Genre der (hegelschen) Logik«, in: Prekäre Genres, hrsg. von Hanno Berger/Frédéric Döhl/ Thomas Morsch, Bielefeld 2015, S. 17-30. 41 Carroll, Noël: On Criticism, New York 2009, S. 93. 42 Am Prominentesten mit Danto, Arthur C.: Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frankfurt am Main 1991. 43 Dieses Bild von Wahrnehmung und des Zusammenhangs von Begriffen und Anschauungen ist grundsätzlich zum Scheitern verurteilt. Das hat auf den Spuren Kants und Hegels John McDowell überzeugend nachgewiesen. Vgl. McDowell, John: Mind and World, Cambridge/Mass. 1996, vor allem Lecture 1 und 2. 44 Vgl. dazu auch Dantos Interpretationen der Betten von Oldenburg und Rauschenberg: Danto, Arthur C.: »The Artworld«, in: The Journal of Philosophy 19 (1964), S. 571-584. 45 Dass Schriftbild und Farbe relevante Eigenschaften eines Romans sind ist – im Gegensatz etwa mit Blick auf das Schriftbild in der Lyrik – natürlich äußerst selten der Fall. 46 Ich greife hier auf eine schöne Formulierung von Martin Seel zurück, der sie von Adorno entlehnt hat. Vgl. Seel, Martin: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt am Main 2014. 47 Ich schließe hier offensichtlich an Gadamers Analyse der Wirkungsgeschichte an. Vgl. Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1990, S. 312ff. Ich habe mit Blick auf den Jazz diese Logik als eine Logik künstlerischen Produzierens überhaupt zu erläutern versucht; vgl. Feige (wie Anm. 9), Kap. 4 und 5. 48 Anstelle dieses schlichten Transportmodells könnte sich Freuds Begriff der Übertragung hier als weiterführend erweisen, da es nach Freud in jeder Übertragung zugleich zu einer Gegenübertragung kommt. Vgl. Freud, Siegmund: Zur Dynamik der Übertragung. Behandlungstechnische Schriften, Frankfurt am Main 2006.

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49 Den Begriff der Exemplifikation und den Begriff der metaphorischen Exemplifikation übernehme ich von Nelson Goodman. Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst. Entwurf einer allgemeinen Symboltheorie, Frankfurt am Main 1997, Kap. 2. 50 Vgl. systematisch dazu Feige (wie Anm. 34), Teil 3. 51 Für Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Textes danke ich Georg W. Bertram und Joachim Jakob.

ORPHEUS, TILL EULENSPIEGEL, MAJOR TOM Über die Möglichkeit musikalischer Narrative

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Blickt man auf die Geschichte der europäischen Musik seit der frühen Antike, scheint die Annahme, dass Musik erzählen kann, implizit oder explizit in der Regel gegolten zu haben: In der frühen griechischen Antike zogen die später so genannten Homeriden zwischen griechischen Siedlungen umher, Rhapsoden, die zum Spiel auf der Lyra Mythen und Epen in Versen vortrugen – sie erzählten, indem sie sangen. Musik und Poesie wie auch tänzerische Bewegung waren in der griechischen Antike untrennbar im Begriff der mousikē verbunden, in der erzählerischer Stoff und seine klingende und körperliche Darstellung zusammengeschlossen waren.1 Seit 1600, als in Italien die Oper mit dem Anspruch entstand, eine moderne Erneuerung der antiken Tragödie und ihrer engen Wort-Ton-Verbindung zu erschaffen,2 sind die mythischen Stoffe der Antike – allen voran in Monteverdis ORPHEUS – und neue Plots auf die musikalische Bühne gebracht worden. Oratorien, Chorwerke, Musicals, Lieder erzählen seitdem mehr oder weniger ausladende Geschichten, und die sogenannte Programmmusik des 19. Jahrhunderts hat, ausgehend von Beethovens Sinfonien und Berlioz SYMPHONIE FANTASTIQUE, die erzählerische Funktion der Musik auch für die Instrumentalmusik behauptet. Diese Funktion wurde auch auf neue Kunstmedien übertragen: Noch vor der Erfindung des Tonfilms setzte der Film Live-Musik in den Kinos als Begleitung, Spannungsmotor und Kommentar zur story ein. Jazz-Standards tragen Titel, die zur Imagination von Geschichten einladen, auch reine Instrumentalstücke kündigen schon in ihren Paratexten wie Titeln oder subscriptiones etwas Erzählerisches an.3 Ge-

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schichten in Balladenform, deren Rezeption von der Musik kaum zu trennen ist, gehören zum Repertoire wohl jeder Singer-Songwriterin. Und in David Bowies SPACE ODDITY wird von jenem legendären Major Tom erzählt, der in einem Raumschiff die Erde verlässt, bis der Kontakt zur Bodenkontrolle abbricht. Am Ende des Gesangs scheint die Musik allein die Geschichte seiner Entfernung weiterzuerzählen, bis auch sie sich entfernt und schließlich abbricht. Die Musik, so könnte man annehmen, erzählt selbst dann noch, wenn die körperlich-visuelle (Orpheus und Eurydike) und die sprachliche Kommunikation (Major Tom) schon nicht mehr möglich sind. Trotz dieser seit der Antike wiederkehrenden und heute – allein schon durch die Dominanz textbasierter Popmusik – vorherrschenden Tradition eines narrativen (Selbst-)Verständnisses der europäischen und nordamerikanischen Musik4 – der in einer komparativen Anstrengung die ebenfalls ausgeprägten narrativen Aspekte der Musiktraditionen Afrikas, Asiens oder etwa der Aborigines in Australien zur Seite gestellt werden müssten – ist es zugleich alles andere als selbstverständlich, Musik die Fähigkeit zu attestieren, erzählen zu können. Der Grund der Skepsis liegt in dem Sachverhalt, dass Musik keine repräsentierende Kunst ist. Ihre Einheiten – Töne, Klänge, Motive, Rhythmen, Melodien, Pattern, Perioden oder Formen – sind keine Zeichen, die denotativ auf etwas von ihnen Bezeichnetes verweisen, das unabhängig von ihnen existiert. Musik ist nicht wie natürliche Sprachen ein konventionalisiertes Kommunikationssystem von heteroreferentiellen Zeichen, mit denen sich Individuen gemeinsam und überprüfbar auf sich, auf einander und die gemeinsame Welt beziehen können. Wie sollte Musik dann aber etwas erzählen können? Sofern es eine notwendige Bedingung für Narrative darstellt, diegetisch zu sein, also eine (fiktive oder nichtfiktive) Welt von Figuren, ihren Handlungen und Ereignissen zu erschaffen – das Was des Erzählens –, dann kann Musik offenbar nicht erzählen. Jedenfalls gilt das, sofern sie nicht sekundär mit anderen erzählerischen Medien wie Texten oder bewegten Bildern verwoben ist, mit denen sie dann etwas erzählt. Aber auch dann wären die anderen Medien, nicht die Musik für die Narration konstitutiv, die Narrative der Musik wäre abgeleitet und abhängig von sprachlichen, szenisch-theatralen oder bildlichen Erzählformen. Die erzählerische Funktion der Musik erscheint also gleichermaßen selbstverständlich wie fragwürdig – ein zuverlässiges Kennzeichen für ein

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philosophisches Problem. Diese rätselhafte Ambivalenz der Musik in Bezug auf das Erzählen ist so erklärungsbedürftig wie ihr Verhältnis zur Sprache überhaupt. Man kann daher die Frage, ob und wie Musik erzählen kann, als eine Spezifizierung der philosophiehistorisch älteren Frage nach dem Verhältnis von Musik und Sprache und nach dem Sinn oder der Bedeutung von Musik überhaupt verstehen. Sie ist seit dem 18. Jahrhundert mit Blick auf die reine Instrumentalmusik, verstanden als Absolute Musik, reflektiert worden und hat nach einem differenzierten Diskurs in der neueren angelsächsischen Musikphilosophie seit kurzem auch in der deutschsprachigen Musikphilosophie eine große Aufmerksamkeit erfahren.5 Insbesondere seit den 1980er Jahren ist zudem ein Interesse der strukturalistischen Erzähltheorie an Formen transmedialen Erzählens und somit auch an anderen Medien als der Literatur zu verzeichnen.6 Zu ihnen gehört – neben dem Film, dem Theater, den Bildern und Comics – auch die Musik, die von Literaturwissenschaft, Musikwissenschaft und Narratologie einerseits in Bezug zu anderen künstlerischen narrativen Medien wie Film, Theater/Oper und Literatur,7 andererseits auch als reine Instrumentalmusik in den Blick genommen worden ist.8 In der spezielleren Frage, ob Musik narrativ ist oder sein kann, lassen sich logisch mindestens drei Positionen unterscheiden: (i) Musik kann als nicht-repräsentierende Kunst nicht erzählen, denn die für Narrative konstitutive Differenz von histoire und discours, von sujet und fabula,9 zwischen dem Was und dem Wie des Erzählens ist in ihr aufgrund des nicht- oder nur selbstreferentiellen Charakters musikalischer Zeichen nicht möglich,10 sie hat keine plots, die sich paraphrasieren ließen; und auch die für komplexe Erzählungen notwendigen Differenzierungen der Grammatiken natürlicher Sprachen sind ihr fremd, daher kann sie z.B. keine Differenz zwischen gegenwärtigem Erzählen und vergangenem Erzähltem durch das für narrative Texte typische Präteritum darstellen. Musik kann daher allenfalls bloße Illustration von Narrativen in anderen Medien sein.11 (ii) Musik kann insofern erzählen, als sie sich mit anderen Medien, in denen narrative Verfahren wie im erzählenden Text oder im Drama bereits etabliert sind, strukturell etwa in der Oper oder im Musical, verbindet und ihre narrative Struktur eigenständig begleitet, unterstützt oder auch konterkariert. In der schwachen Variante dieser These ist Musik ein für die eigentliche Narration nicht notwendiger, aber z.B. emotional verstärkender und ästhetisch erweiternder Zusatz wie einige Beispiele extradiegetischer Filmmusik;12 in der starken

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Variante dieser These vermag Musik in einem solchen Austauschverhältnis mit anderen erzählenden Medien stehen, dass sie narrative Strukturen aus ihnen übernimmt und damit – auch ohne konkrete Verzahnung mit anderen Medien wie in der reinen Instrumentalmusik – selbst zum narrativen Medium wird.13 (iii) Musik ist eine erzählende Kunst par excellence, weil sie zeitlich aufeinander folgende Ereignisse sinnhaft aufeinander bezieht und somit einer Minimaldefinition des Narrativen gerecht wird. Sie kann auch ohne Bezug zu anderen narrativen Medien erzählen.14 Anstatt nun jede dieser sehr schematisch skizzierten Thesen im Einzelnen anhand ihrer differenzierten Begründungen und Darstellungen bei verschiedenen Autoren zu prüfen und Einwände zu formulieren, möchte ich hier eine eigene Position entwickeln, die, erstens, der konstitutiven Sprachbezogenheit von Musik gerecht zu werden versucht und, zweitens, erlaubt, Musik als narrativ zu beschreiben. Mit ihr lassen sich, wie ich meine, die These (iii) und die starke Variante der These (ii) produktiv aufeinander beziehen. Beginnen wir mit einer Liste von Begriffen, die in der Narratologie eine wichtige Rolle für das Verständnis erzählender Medien spielen, aber für die Musik irrelevant zu sein scheinen oder nur in einem metaphorischen Sinne gelten: Was es in der Musik nicht gibt, ist das, was Gérard Genette Diegese genannt hat – also das Universum der Dinge, Personen, Ereignisse und Sachverhalte, die in der Welt der Erzählung eine Rolle spielen und die gleichsam wie in einem Glossar zu ihr gehörend dargestellt werden könnten. Daher ist auch nicht die Differenz von extra- und intradiegetischem Erzählen auszumachen, wie sie für narrative Texte, in denen es eine Rahmenhandlung und Erzählerreflexionen gibt, charakteristisch ist.15 Die unterschiedlichen Ebenen der Bezugnahme setzen ein grammatisches System voraus, in dem ein Wechsel zwischen ihnen, ebenso zwischen Perspektiven und zeitlichen Abfolgen identifizierbar ist. In der Musik fehlen aber klare Kriterien der Ebenen- oder Perspektiven-Identifikation: Es gibt keine Analogie zum System der Personalpronomina, keine zeitlich ordnenden Bezugnahmen durch Tempus, keine Differenzierung nach Modus oder Numerus, keine indexikalischen Ausdrücke, überhaupt keine den Wortarten entsprechenden Kategorien. Dementsprechend finden auch viele Differenzierungen der an oraler Narration und Erzähltexten orientierten Narratologie, die die Distinktion einer erzählten Welt (story, histoire) und der Darstellungsform der Erzählung (discourse, discours) voraussetzen, in der Instrumen-

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talmusik prima facie keine Anwendung, etwa die unterschiedlichen Erzählertypen oder Erzählsituationen, der Grad der Mittelbarkeit des Erzählens (etwa die Unterscheidung von direkter und indirekter Rede) oder die Unterscheidung von fiktiven und nicht-fiktiven Erzählungen.16 Mit solch einer Spurensuche nach grammatikalischen Strukturen sprachlichen Erzählens in der Musik kommt man vermutlich nicht sehr weit.17 Anders sieht es mit der Dimension sinnhafter Kohärenz zwischen mehreren Ereignissen in der Zeit aus, die in allen Bestimmungen von Narrativität unterstellt wird. Ohne Abfolge zwischen Ereignissen in der Zeit und ohne ihre sinnhafte Verknüpfung – in sprachlichen Erzählungen können diese Verknüpfungen z.B. funktional, kausal oder teleologisch sein –, ist es sinnlos, von Erzählung zu sprechen. Anders gesagt: Erzählungen müssen einen prinzipiell nachvollziehbaren Sinnzusammenhang in der Zeit darstellen. Das gilt sowohl für die kleinsten Einheiten des Erzählens, die sprachlich in einem einzigen Satz, der eine Veränderung eines Zustands beschreibt, Ausdruck finden können, als auch für die größeren funktionalen Sequenzen, die zusammen Plots bilden.18 Ob diese Beschreibung nur eine notwendige oder auch eine hinreichende Bedingung für Narrativität darstellt, ist dabei eine offene Frage, deren Antwort von der Art der Minimaldefinitionen des Narrativen abhängt. Nach Tilmann Köppe bspw. ist ein Text – erweitert müsste man sagen: ein künstlerisches Medium – »genau dann eine Erzählung, wenn er von mindestens zwei Ereignissen handelt, die temporal geordnet sowie in mindestens einer weiteren sinnhaften Weise miteinander verknüpft sind.«19 Freilich müsste sich hier das Prädikat »handeln von“ auch nicht-repräsentationalistisch als „vorführen“ oder „präsentieren« reformulieren lassen, ansonsten sind Gegenstand und Darstellungsform des Erzählens bereits so kategorial unterschieden, dass die Möglichkeit musikalisch-narrativer Zusammenhänge ausgeschlossen bleibt.20 Hilfreicher für eine komparative Untersuchung von medialen Erzählweisen ist es, statt von oft schon medial verengenden Definitionen eher von formalen Minimalbedingungen des Erzählens zu sprechen, wie Wolf Schmid es tut: »Die Minimalbedingung der Narrativität ist, dass mindestens eine Veränderung eines Zustands in einem gegebenen zeitlichen Moment dargestellt wird.«21 Dazu gehört, dass man die Veränderung als Differenz von Anfang und Ende der Zustandsveränderung wahrnehmen kann, die sich am selben Subjekt der Veränderung ereignet. Diese Minimalbedingung gilt ceteris paribus auch für die Musik, die, indem sie hörbare Veränderungen –

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Wechsel von Klängen mittels anderer Töne, Artikulationsweisen oder Lautstärken – in der Zeit vorführt, einen Prozess akustischer Zeitorganisation darstellt. Diese Bestimmung, die den alten Topos von der Musik als Zeitkunst zugleich präzisiert, besagt nicht nur, dass Musik trivialerweise in der Zeit zum Klingen kommt (wie ebenfalls Erzählungen, Filme, Theateraufführungen, aber auch Bilder oder Skulpturen in der Zeit erscheinen); sie besagt vielmehr, dass Musik in der von ihr wahrnehmbar gestalteten (organisierten) Zeit besteht.22 Jede Art von phänomenal erfahrbarer Musik konstituiert bestimmte hörbare Zeitverläufe und nimmt Zeit so in ihre Bestimmung auf, dass jene ihr nicht mehr äußerlich bleibt (wie etwa Bildern oder Gebäuden).23 Der ästhetische organisierte Zusammenhang von Veränderungen in der Zeit ist eine notwendige Bedingung von Musik. Einen als sinnvoll erfahrbaren Zusammenhang in der Zeit kann Musik nur so wahrnehmbar machen, dass sie Beziehungen zwischen ihren Einheiten – distinguierbaren und (re-)identifizierbaren Klängen (Tönen, Akkorden, Clustern, Geräuschen) und Pausen (Stille) – stiftet, die insgesamt eine gewisse interne Kohärenz aufweisen und an Musikpraxen und -traditionen anschließen, vor deren Hintergrund sie in einer bestimmten kulturell und sozial etablierten Hörsituation wahrgenommen werden. Anders als die über Figuren und ihre Handlungen erzählende Literatur kann Musik dabei nicht auf lebensweltlich bekannte Weisen der Verknüpfung ihrer Ereignisse – kausale oder teleologische – zurückgreifen. Töne, Pausen oder Geräusche verursachen sich nicht und Rhythmen verfolgen keine Ziele, ebenso verweisen sie nicht denotativ auf Dinge, Personen oder Prozesse, deren zeitliche Veränderungen sich kausal oder teleologisch erklären lassen. Denn sofern Musik als sinnvoll zusammenhängende Organisation von Klängen in der Zeit (auch) erzählt, referiert sie nicht Ereignisse, sondern bringt sie selbst zum Klingen. Musikalische Ereignisse sind die Erzählung und das Erzählte. Außerdem ergibt sich ein musikalischer Zusammenhang nicht zwingend wie ein logischer Schluss, der einen Klang etwa als Konklusion auf Prämissen (andere Klänge) folgen ließe. Musik ist kein Kalkül mit logischen Regeln.24 Gleichwohl ist in der Musiktheorie von einer »musikalischen Logik« die Rede gewesen, mit der musikalisch kohärente und somit verständliche Zusammenhänge über die Zeit konstituiert werden.25 Doch anders als in der Aussagenlogik als System der Schlussregeln des menschlichen Denkens müssen die syntaktischen Verbindungsregeln der historisch

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variablen Formen je bestimmter Musik erst durch diese selbst etabliert werden und sind immer nur innerhalb bestimmter Musikformen und nur so lange gültig, solange die Musikurheber keine ästhetisch plausiblen Gründe haben, sie zu brechen und neue zu stiften. Gunnar Hindrichs hat die Verknüpfungen der »musikalischen Logik« formal als funktionale Beziehung zwischen Klängen begriffen.26 Klänge sind laut Hindrichs funktional auf andere innerhalb eines Musikwerks bezogen und als in dieser Beziehung stehend verständlich. Musikalischen Sinn haben sie dann und nur dann, wenn sie sich – selbst als aus einem musikalischen Fluss losgelöste und für sich stehende Klänge – als auf andere bezogene hören lassen können. In der Tat lässt sich kaum behaupten, dass ein isolierter Klang bereits Musik darstellt, zumal in der Erweiterung des Materials in der Moderne auch alle möglichen Arten von Geräuschen und neuen Klängen prinzipiell Elemente von Musik darstellen können. Für sich ohne funktionalen Bezug innerhalb eines Werks oder einer Improvisation sind sie allerdings nicht als Musik identifizierbar, ihnen fehlt der sinnhafte Zusammenhang.27 Anders gesagt, ist ein Klang dann als Musik erkennbar, wenn er sich in der Rezeption funktional an andere Klänge anschließen lässt, z.B. indem man einen Einzelklang als Zitat eines anderen Stücks hört. Aber schon seine spürbare Veränderung – und sei es nur durch ein leichtes crescendo – erfüllt die oben für Narrativität aufgestellte Minimalbedingung der Veränderung eines Zustands. Man könnte dann etwa sagen, dass der Anfang des anschwellenden Klangs funktional auf den Prozess des Lauter-Werdens und auf sein Ende bezogen ist. Anders als Hindrichs meine ich daher, dass eine Selbstbeziehung eines gestalteten Klangs für musikalische Sinnhaftigkeit ausreicht, nicht notwendigerweise das »Sein in Anderem«28, das Hindrichs aufgrund seiner These des musikalischen Sinns durch ästhetische Folgerichtigkeit innerhalb eines syntaktisch-logischen Zusammenhangs unterstellen muss. Freilich ist eine Minimalbedingung eben nur das: eine Minimalbedingung. In der Regel sprechen wir erst von Musik, wenn es sich um eine längere syntaktisch-formal anspruchsvollere Zeitorganisation handelt, in der mehrere Klänge einen als solchen wahrnehmbaren Zusammenhang – z.B. eine Melodie, ein rhythmisches Pattern oder ein Blues-Schema – bilden. Man könnte sagen, dass die funktionale Bezogenheit von in der Zeit wechselnden Klängen aufeinander den soziomorphen Charakter von Musik ausstellt. Wie aber ist nun diese ästhetische Zusammenhänge erzeugende

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Funktionalität zu verstehen? Was stiftet den hörbaren Bezug eines Klangs zu anderen Klängen? Hindrich erläutert seine Antwort am Beispiel der Beziehung von Klängen innerhalb der für tonale Musik charakteristischen Kadenz, in der die Hauptfunktionen der Tonika (I. Stufe), der Dominante (V. Stufe) und der Subdominante (IV. Stufe) aufeinander bezogen sind. Dabei ist die Tonika am Anfang der Kadenz (I-IV-V-I) als Tonika zugleich wie eine Dominante auf die Subdominante bezogen und muss daher abschließend durch die Dominate als Tonika bestätigt werden, damit die Ambivalenz – Hindrichs spricht mit August Halm von »Widerspruch«29 – aufgelöst wird. Demnach konstituiert der funktionale Bezug der Kadenzklänge in der tonalen Musik eine Bewegung von der Mehrdeutigkeit zur Eindeutigkeit. Nun ist dieses Beispiel der Kadenz wie alle Beispiele musikalischer Zusammenhänge historisch und kulturell spezifisch.30 Auch wenn immer wieder vor allem in wissenschaftsjournalistischen Artikeln versucht wird, die Natürlichkeit und Notwendigkeit etwa der Progressionen der tonalen Musik (meist mit Bezug zu den Obertönen) ›nachzuweisen‹, so bleibt das doch ein aussichtsloses Geschäft.31 Denn jede Musik, nicht nur die sogenannte Kunstmusik der europäischen Tradition, schafft und exponiert immer auch die Bedingungen, unter denen ihre musikalischen Ereignisse identifizierbar und als kohärente Zusammenhänge erfahrbar werden. So werden die Klänge in der Zwölftonmusik als auf die Reihe bezogen gehört, nicht mehr auf die Tonleiter und die Hauptstufen der Funktionsharmonik. Daher kann z.B. das Intervall, das in der tonalen Musik für die größte Bestätigung (gerade als Wiederholung der Tonika) steht – nämlich die Oktave –, in der Musik Anton Weberns als falsches Intervall gehört werden, das den Sinnzusammenhang der aufeinander bezogenen Klänge stört.32 Die Kriterien für sinnvolle, kohärente oder sinnlose, inkohärente Zusammenhänge zwischen Klängen existieren nicht außerhalb von einer jeweiligen historisch und kulturell situierten Musik, ihre normative Kraft wird vielmehr von ihr selbst mit hergestellt. In Auseinandersetzung mit dem Material und der Geschichte der Musik bekräftigen, erweitern oder unterminieren die Komponisten oder Improvisierenden die jeweiligen normativen Ansprüche an ästhetische Kohärenz und Sinnkonstitution. Dabei kann z.B. auch eine bewusste Heterogenität von Material und Formen, die beim ersten Hören unzusammenhängend wirken mag, einen neuen kohärenten Zusammenhang stiften; man denke etwa an die wilden Modulationen in den

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Madrigalen von Gesualdo, an Bernd Alois Zimmermanns Collage MUSIQUE POUR LES SOUPERS DU ROI UBU (1966) oder an die unterschiedliche Formen verbindende BOHEMIAN RHAPSODY (1975) von Queen. Weil das Spektrum, in dem musikalischer Zusammenhang gestiftet werden kann, nicht durch Grammatik und Referenzen wie bei der Verbalsprache abgesteckt ist und damit einen viel größeren und heterogenen Spielraum bietet, sind für musikalischen Sinn ästhetisch spezifische – d.h. genuin musikalische – Formen der Kohärenzstiftung nötig, die eine bestimmte Musik nicht nur exponieren, sondern jeweils in dem Maße durch sich selbst einlösen muss, dass prinzipiell hörend einsichtig werden kann, warum bestimmte Ereignisse oder Passagen »so aufeinander folgen, wie sie es tun.«33 Die grundlegenden Funktionen, einen musikalischen Zusammenhang herzustellen, sind dabei Wiederholung und Differenz, durch sie können Periodizität, Variationen, Kontraste/Schnitte etc. als Eigenschaften der Form gebildet werden; rezeptionsästhetisch entsprechen ihnen Vertrautwerden bzw. -sein und Überraschtwerden bzw. Unvertrautsein. Im Wechselspiel dieser Erfahrungen vermag sich musikalische Wahrnehmung reflexiv zu schärfen. Doch freilich gibt es je nach Musikform, -stil, -genre und je nach individuellem Stück/individueller Improvisation und auch je nach Aufführung unterschiedliche Weisen, diachrone Kohärenz mit musikalischen Mitteln zu erzeugen, zu denen nicht nur die der notierenden Komponistinnen und Komponisten, sondern auch die eigenständigen der Aufführenden bzw. Improvisierenden zählen. Eine neue Performance kann etwa durch veränderte Klangbalancen, -farben oder Tempi – im Jazz auch durch andere bzw. erweiterte Harmonien, unterschiedliche Ausdehnungen von improvisierenden Teilen oder rhythmische Variationen – neue Bezüge und damit auch neue Kriterien für die hörbar nachzuvollziehende Konstitution sinnvoller Kontextualisierungen von Einzelklängen in der Gesamtform schaffen. Dabei ist zu bemerken, dass jede Abweichung von dem, was in einer Kultur zu einer bestimmten Zeit als phänomenal nachvollziehbarer Zusammenhang vernommen werden kann – z.B. innerhalb der Gruppe der Jazz-Hörerinnen und -Hörer – nur schrittweise vollzogen zu werden vermag. Auch »revolutionäre Musik« bedarf um der Differenzerfahrung gegenüber der Tradition willen einer gewissen Kontinuität mit ihr.34 Sie kann Inkohärenzen, Brüche, Dekonstruktionen und Irritationen der musikalischen Perzeption nur vor dem Hintergrund einer nicht in toto aufgegebenen Stiftung sinnvoll erfahrbarer Zusammenhänge zum Klingen bringen. Gera-

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de im Kontrast zur Erwartung vertrauter Sinnkonstitution wird die Wahrnehmung bewusster. Dafür spricht auch die hohe Reflektiertheit vieler musikalischer Experimentatoren und ›Neuerer‹ in Bezug auf lange Zeiträume der musikalischen Tradition, in der sie stehen (man denke an Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Pierre Boulez oder Helmut Lachenmann). Sind solche musikalischen Sinnzusammenhänge auch als erzählend zu begreifen? Die kohärente Verbindung von Veränderungen kann insofern als narrativ verstanden werden, als sie die entsprechend an narrativen Erfahrungen genährte Erwartung seitens der Hörerinnen und Hörer anspricht und erfüllt (oder auch punktuell enttäuscht), dass Ereignisse sich über die Zeit als aufeinander bezogen und sinnvoll nachvollziehbar erweisen und zusammen genommen gleichsam (eine) Geschichte(n) erzählen. Auf diese (für die Kontinuität praktischer Lebensführung unverzichtbare) Erwartung von diachroner Kohärenz erzählbarer Zusammenhänge antwortet schon die früheste Form des Erzählens, der Mythos, der lange Zeit durch mündliches Erzählen weitergegeben wurde.35 Es spricht viel dafür, die ursprüngliche Funktion des Erzählens, nämlich das Mitteilen von Geschichten zur Erweiterung des gemeinsamen Hintergrunds und der gemeinsamen Kommunikationsmöglichkeiten sowie zur sozialen Bindung und Anpassung aneinander,36 auch der Musik zu attestieren, die vermutlich schon in vorschriftlichen Kulturen die erzählende Rede begleitete oder rhythmisch formte. Der paradigmatische Fall des Musizierens ist jedenfalls eine der mündlichen Erzählung analoge Kommunikationssituation:37 Wie ein Erzähler (narrator) einem oder mehreren Hörern (narratees) akustisch eine Konfiguration aus sprachlichen Einheiten erzählt (narrative), die sie als mehr oder weniger sinnvoll zusammenhängend, d.h. als kohärente Geschichte, erfahren, so spielt oder singt eine Musikerin (oder mehrere) für einen oder mehrere Hörerinnen eine aus musikalischen Einheiten bestehende Konfiguration, die sie als mehr oder weniger sinnvoll zusammenhängend, d.h. als kohärente Form, erfahren. Die Eigenschaft, die sprachliche Narrative und Musik gemeinsam haben (können), ist der über die Zeit erschließbare, mehr oder weniger kohärente Zusammenhang von Ereignissen, bei dem die Anschlüsse musikalischer Ereignisse als gleichsam erzählend verstanden werden. Die Performanz des Erzählens, durch die der nachvollziehbar geordnete Zusammenhang vom ersten Wort an im Laufe der Zeit entsteht, kann dabei der Performanz des Musizierens entsprechen. Musik kann dann selbst wie eine komplexe Erzählerin wirken, die plausibel, aber auch überraschend

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gegen die Erwartungen, einen Zusammenhang erzeugt, in dem einzelne Klänge auf folgende und bereits präsentierte bezogen werden, sodass Entwicklungen, Kontraste und Wiederholungen erkennbar werden. Man kann diese Konstitution sinnvoller Bezüge sowohl mehrstufig von mikroskopischen Veränderungen unmittelbar zusammenhängender Ereignisse – etwa der Veränderung der Klangfarbe eines Tons – bis hin zur makroskopischen Gesamtform eines Musikstücks begreifen als auch im impliziten oder expliziten (zitierenden, anspielenden) Bezug zu anderer Musik oder früheren Aufführungen derselben Musik.38 Musikalischer Sinn wird dabei immer vor dem Hintergrund einer bestimmten musikalischen Tradition gestiftet, vor dem er erst verständlich werden kann. Dieser implizite Hintergrund jeder hier und jetzt zum Klingen kommenden Musik ist immer auch sozial, oft auch rituell und institutionell imprägniert. Musikalischer Sinn wird also nicht allein von den formalen Eigenschaften der jeweiligen Komposition oder Improvisation erzeugt, sondern auch von der Geschichte und den sozialen, institutionellen, architektonischen etc. Bedingungen des Musikhörens.39 Diesen Hintergrund, den Musik notwendigerweise auf Seiten der Hörerinnen und Hörer voraussetzen muss, soll ihr ein erfahrbarer Sinn zukommen, kann sie zugleich auch erneuern, bereichern, unterlaufen und dekonstruieren. In diesem Spannungsfeld von Bestätigung stereotyper Erwartungen bis zur radikalen Infragestellung vollzieht sich die Konstitution musikalischen Zusammenhangs, der, als Veränderung funktional aufeinander bezogener Klänge, Rhythmen, Formen etc., erzählenden Charakter haben kann. Und diese Modalität – dass Musik erzählerischen Charakter haben kann, nicht aber immer schon hat – ist hier entscheidend. Denn es liegt an den historisch und kulturell hoch variablen Erwartungen an ästhetische Sinnkonstitution seitens der Hörer, die dazu beiträgt, ob Musik als erzählend wahrgenommen wird.40 Sofern sie strukturell Analogien zu Erzählmustern – etwa wie in einigen Barockstücken zu den Abschnitten einer Rede –, zu Dialogsituationen oder breiten epischen Flüssen hörbar macht, können wir sie als erzählend hören. Das gilt umso mehr, wenn sie als Kommentar zu einem narrativen Opern- oder Filmplot erklingt, diesen stützt, allerdings ebenfalls eine distanzierende oder subversive, also reflexive Haltung zu ihm einnehmen kann.41 Aber auch in der reinen Instrumentalmusik können erzählerische Suggestionen überzeugend sein: So kann man musikalische Zusammenhänge als teleologisch hören – als strebten sie,

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etwa Beethovens Überleitungen, zu einem Ziel –, mitunter auch als kausal, als sei das Kontrasubjekt einer Fuge gleichsam mechanisch ausgelöst durch das Fugenthema. Man kann den Aufbau einer Spannung, einen dramatischen Höhepunkt, eine Täuschung der Erwartung, überraschende Wendungen, den Fragecharakter einer Phrase, affirmative Bekräftigung, Ambiguitäten oder die Wiederherstellung eines Gleichgewichts hören, kann den Kampf des Individuums (Soloinstrument) mit der Gruppe (Orchester) vernehmen, sofern die Musik dafür strukturell Angebote macht – mit anderen Worten: sofern sie, so meine These, selbst durch die spezifische Art ihres strukturellen Zusammenhangs ein Potential einer solchen Hörart erschließt. Diese These ist der von Nicholas Cook verwandt, dass musikalische Bedeutung nicht bereits in der Musik enthalten ist und nur noch freigelegt werden müsste, dass sie aber auch nicht arbiträr zugeschrieben wird, sondern dass musikalische Bedeutung emergent und sozial in der Rezeptionsgeschichte verhandelt wird, dass dazu aber Musik passende formale Eigenschaften aufweisen muss, aufgrund derer bestimmte Bedeutungen emergieren können.42 Es gibt also Adäquatheitskriterien für ein Verstehen von Musik als Erzählung, nur dass diese Kriterien nicht unabhängig von der interpretatorischen Anstrengung bereits aufgrund der Struktur des individuellen Musikstücks immer schon gelten und eine einzige Hörart als passende erfordern. Sie können vielmehr im Hören selbst mit erschlossen werden, an denen sich die Hörart dann dem Stück oder der Improvisation bzw. ihrer formalen Weise der Sinnbildung gegenüber als mehr oder weniger angemessen erweist.43 Denn nicht alle Musik lässt sich gleich gut narrativ verstehen. Für eine sinfonische Dichtung von Richard Strauss wie TILL EULENSPIEGELS LUSTIGE STREICHE op. 28 wird das Hören des Formverlaufs als dramatische und durch Episoden charakterisierte Geschichte mehr Plausibilität haben als ein Hören dieses Werks allein als Spiel von Klangfarben im Raum. Andersherum verhält es sich etwa mit Debussys PRELUDES, den meisten Werken Messiaens oder mit Ligetis Orchesterkompositionen der späten sechziger und siebziger Jahre, die eine Vielfalt subtiler, in unterschiedlichen Geschwindigkeiten gleitend oder abrupt wechselnder Klangfarben vorführen. Nicht zufällig hat die Tradition der symphonischen Programmmusik von Liszt und Wagner über Strauss und seine (vor dem Faschismus in die USA emigrierten) Schüler zu einem lange Zeit dominanten Orchesterstil im erzählenden Hollywood-Film geführt, während Musik, die eher als farben-

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reich, denn als erzählend gehört werden kann, selten zum Einsatz in plotorientierten Filmen gekommen ist.44 Manche Musik kann gut als Abfolge von theatralen Szenen gehört werden – z.B. Mendelssohns EIN SOMMERNACHTSTRAUM op. 61 –, manche – etwa Weberns SECHS BAGATELLEN FÜR STREICHQUARTETT op. 9 oder György Kurtágs OFFICIUM BREVE op. 28 – legt eher ein Hören als lyrisch dichte und komplex bezugsreiche Kleinform nahe. Einige Musik bietet gute Gründe, sie als verwobene Strukturen ähnlich persischen Teppichen zu hören (etwa die langen Stücke von Morton Feldman), andere wiederum lassen sich als Durchqueren einer großartig komplexen Architektur hören – Beispiele dafür finden sich in der niederländischen Vokalpolyphonie des 15. Jahrhunderts ebenso wie bei Iannis Xenakis, Karlheinz Stockhausen oder in langen Bebop-Improvisationen –, als Weg durch eine Stadt (man denke etwa an Steve Reichs CITY LIFE), als Bewegung durch eine Landschaft mit Naturgeräuschen (Mahlers Sinfonien bieten dafür einige Beispiele) oder als motorische Bewegung einer Maschine (etwa der III. Satz von Schostakowitschs ACHTER SINFONIE op. 65 oder John Adams SHORT RIDE IN A FAST MACHINE). Manche Musik kann sich aufgrund ihrer aufschwingenden Rhythmik als Aufforderung zum Tanz hören lassen, auch wenn sie nicht zum Genre Tanzmusik gehört wie Händels Oratorien oder Haydns Sinfonien, andere lädt eher dazu ein, sie als Anleitung zur äußeren und inneren Ruhe aufzufassen wie manche indische Ragas. Diese Beispiele, an die sich noch viele andere anschließen ließen, zeigen, auf welch vielfältige Weise Musik Strukturen, die denen anderer Kunstmedien (oder auch natürlichen bzw. artifiziellen Prozessen) in verschiedenen Eigenschaften hinreichend analog sind, produzieren kann, sodass sie sich auch als etwas anderes hören lässt. Dabei bleibt Musik immer zugleich unübersetzbar ausschließlich als Musik hörbar, ihr Sinn ist gegenüber dem anderer Kunstformen insofern autonom, als er nicht durch den intentionalen Bezug zu anderen Medien und ihrem je eigenständigen Sinn erst erschlossen werden müsste. Musik ist in vielfältiger Weise auch auf Sprache bezogen, ihr seit Adorno lebhaft diskutierter Sprachcharakter bedeutet aber nicht, dass jede Form von Musik einen intrinsichen Sprachbezug ausstellt bzw. jede Hörart auf Modellen sprachlicher Kommunikation gründet.45 Das gleiche gilt für die Bezogenheit von Musik auf andere Kunstmedien. Es ist nicht unbedingt nötig, (alpine) Landschaften zu sehen, um den musikalischen Sinn von Bruckners Sinfonien verstehen zu können,

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aber ihre weitreichenden Entwicklungsvorgänge und schroffen Wechsel können zu architektonischen und landschaftlichen Raumimaginationen begründeterweise Anlass geben. Musik auch als etwas anderes hören zu können, ist Ausdruck eines die musikalische Erfahrung bereichernden imaginativen Vermögens, zu dessen Aktivierung sie uns selbst anregt. Dabei spricht sie eine narrative Kompetenz an, die sich in unserer sozialen und kommunikativen Lebensgeschichte gebildet hat und stets weiter fortbilden kann. Menschen erzählen einander – auch diesseits literarischer Narration – Geschichten und entwickeln in je individuell unterschiedlichem Maße die Fähigkeit, Erlebtes narrativ zu transformieren und vice versa dargestellte sinnvolle Zusammenhänge erzählerisch zu interpretieren. Im Hören von Musik als Erzählerin wird diese Fähigkeit spielerisch und vermag auch da ihrer erzählenden Bewegung zu folgen, wo jeder Versuch, die erzählte story verbal zu paraphrasieren, keine begriffliche Übersetzung, sondern Ausdruck intermedialer Einbildungskraft ist. Diese gehört zu einer spezifisch ästhetischen Rationalität, die sich nicht allein an der Begrifflichkeit theoretischer Vernunft misst und deren Operationen nicht in jene übersetzt werden müssen. Demnach lässt Musik uns, je nach ihren strukturellen Eigenschaften und der Art ihrer Performance, Bilder, Dialogszenen, Bewegungstendenzen, Metaphern und Narrative in unserer Einbildungskraft produzieren. Erzählungen kommt dabei – jenseits ihrer bewussten Inanspruchnahme etwa seitens der Programmmusik, die schon aufgrund von Paratexten (Titel des Stücks und literarisches Programm) eine narrative Hörart nahelegt – aufgrund der Konstitution sinnvoll zusammenhängender Veränderungen über die Zeit eine sehr wichtige Rolle zu – aber es ist nicht die einzige. Ebenso lässt sich (auch ohne im biologischen Sinne synästhetische Veranlagung) über die Farbigkeit von Gérard Griseys Ensemblestücken oder die Räumlichkeit von Monteverdis MARIENVESPER mit Erkenntnisgewinn sprechen, insoweit sich die anderen nicht-sprachlichen Medien verbal reflektieren lassen. Die Vielfalt des intentionalen Hörens von Musik, sei es als sprachähnliches Narrativ, sei es als räumliche Skulptur, entsteht aus einem Zusammenspiel von Klängen und ihrer Wahrnehmung. Dabei muss man sich das Verhältnis zwischen produzierter Musik und der Rezeption durch ihre Hörer als individuell und historisch variabel, doch nicht als kriterienlos vorstellen. Die Weisen, wie wir Musik hören und im geteilten Raum der

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Öffentlichkeit über sie sprechen, beeinflussen auch die Modalität unseres Hörens, unabhängig davon, ob die Musik ursprünglich für solch ein bestimmtes Hören-als gedacht war. Die spätromantische Orchesterkultur, die insbesondere bei Berlioz, Schumann, Liszt, Wagner, Mahler und Strauss literarisch durchdrungen ist, hat etwa Leopold Stokowski dazu gebracht, Werke von Bach so zu orchestrieren und mit extremen Pathoswerten aufzuladen, dass sie sich entgegen ihrer barocken Intention fast wie erzählerische Programmmusik hören lassen. Aber auch in Aufführungen, die der Musikkultur des 18. Jahrhunderts gegenüber adäquater verfahren, lassen sich zum Teil große Unterschiede in den Weisen beschreiben, in denen sich dieselbe Partitur als je anderes Narrativ hören lässt. Erst recht verändern sich JazzStandards mit jeder neuen Improvisation bzw. Aufführung;46 was einmal als tänzerische Folge gehört werden kann, wird in einer anderen Interpretation des Standards als lyrischer Ausdruck plausibel. Dabei bieten unterschiedliche Beispiele von Musik zugleich Kriterien, die bestimmte Formen des Hörens-als angemessener erscheinen lassen können als andere.47 Peter Ablingers VOICES AND PIANO oder Tom Rojo Pollers DIE UNHEIMLICHKEIT DER ZEIT etwa lassen sich viel eher als erzählende Rede hören, denn als Bilder oder Tänze; d.h. in diesem Hören-alsErzählen erschließt sich viel mehr von ihnen (und dem, was sie wiederum von der Lautlichkeit gesprochener Sprache hörbar machen) als in einem synästhetischen Sehen (wobei das aufgrund der konstitutionellen, im Vergleich zur Verbalsprache und Bildern noch größeren Offenheit der Musik gegenüber intermedialer Perzeption nie ausgeschlossen ist). Beethovens FÜNFTE SINFONIE op. 67 eignet sich u.a. aufgrund ihrer Formanlage, ihres harmonischen Verlaufs, ihrer dynamischen Extreme, ihrer Dramaturgie, Instrumentation oder Rhythmik viel eher dafür, als Siegesgeschichte des Faschismus oder des Sozialismus vereinnahmt zu werden als etwa Mozarts durch den (ihr erst nachträglich verliehenen) Titel schon naheliegende JUPITER-SINFONIE (Nr. 41, KV 551). Daher lässt sich Musik im doppelten Sinne über die medialen Korrespondenzen, die sie in Hörern aufruft, diskutieren und auch kritisieren. Einerseits nämlich mag es sein, dass etwas für die jeweilige Musik Wesentliches erst über ein bestimmtes Hören-als erschlossen werden kann (bspw. durch farbsensitives Hören von Skrjabins Orchesterstücken); andererseits können musikologische Diskurse– sowohl musiktheoretische und philosophische als auch poetisch-metaphorische – über ein Hören-als-andere-

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Medien ein öffentlich diskutierbares Verständnis für bestimmte Arten von Musik und ihre Bedingungen, Strukturen, Funktionen und Effekte entwickeln und Musik wie auch ihre Sinnzuschreibungen und ihre performativen Interpretationen von diesem Verständnis aus reflexiv bewerten. Einer Philosophie der Musik muss es dabei nicht darauf ankommen, jeweilige (narrative) Bedeutungszuschreibungen in Bezug auf den Notentext oder die Aufführung als adäquat zu begründen, sondern die formal-strukturellen Voraussetzungen dafür – »die Bedingungen des Emergierens von Bedeutung«48 – im Zusammenspiel mit der narrativen Imaginationskraft als Teil der spezifisch ästhetischen Rationalität des Menschen zu erhellen. Die Antwort auf die Frage, ob Musik erzählen kann, muss also bejaht werden, zumal die generelle Einschränkung, dass aus der Musik als nichtrepräsentierender Kunst heraus nicht angegeben werden kann, wovon sie erzählt, selbst schon in gewissem Maße bei sprachlichen Erzählungen gilt, deren Gehalt zu erschließen ebenfalls Einbildungskraft erfordert.49 Zugleich aber gilt die spezifische Einschränkung, dass ein Hören-als-Narration weder für alle Musik noch für alle Aufführungen als narrativ konzipierter Werke angemessen ist.50 Wie bestimmte Musik und bestimmte Aufführungen jeweils erzählen, wie sie also syntaktisch und formal sinnvoll-kohärente Zusammenhänge von Veränderungen konstituieren (discours) und ob bzw. welche Geschichten (stories) man ihr zuschreiben kann, muss jeweils an Einzelfällen – bestimmten Stücken und bestimmten Aufführungen – untersucht werden und ist aufgrund der historisch offenen Rezeptionsgeschichte notwendigerweise nicht abgeschlossen.51 In jedem Fall bleibt für das Verstehen von Musik die Vielfalt der Hörebenen erforderlich. Musik kann, indem sie für die Ohren erklingt, zu sehen, zu imaginieren, zu denken und zu erzählen geben – zumal wenn wir sie als erzählend verstehen. Wie sie es jeweils in welcher Situation und Zeit macht, hängt sowohl vom jeweiligen Stück und seiner Struktur als auch von der jeweiligen Aufführung (samt ihrer Hintergrundbedingungen) und von der intermediale Bezüge erschließenden Einbildungskraft der Hörenden ab. Ob und wie und was Musik uns erzählt, ist also sowohl eine strukturellformale Frage an die Komposition oder Improvisation selbst als auch eine an die geschichtliche Situation des Erklingens, Hörens und Interpretierens. In jedem Fall wird Musik uns, wenn wir ihr als Erzählerin zuhören, dabei auch etwas über uns selbst aufschließen.

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A NMERKUNGEN 1 Vgl. Georgiades, Theodoros: Musik und Sprache, Berlin 1954, S. 4ff., siehe auch Murray, Penelope/Wilson, Peter (Hrsg.): Music and the Muses. The Culture of ›Mousikē‹ in the Classical Athenian City, Oxford 2004. 2 Siehe dazu Leopold, Silke: Die Oper im 17. Jahrhundert, Laaber 2006, Kap. I, insb. S. 46ff. 3 Das sind Titel, die entweder inhaltlich auf (literarische) Erzählungen – wie Paul Dukas’ L’APPRENTI SORCIER – oder die auf die Form des Erzählens verweisen – wie die MÄRCHENERZÄHLUNGEN für Klarinette, Viola und Klavier op. 132 von Robert Schumann oder der JazzStandard I HEAR A RHAPSODY (bspw. auf dem Album LUSH LIFE von John Coltrane). 4 Ich habe mehrere Musikerinnen und Musiker (und auch musikliebende Hörerinnen und Hörer) nach ihrer Einschätzung gefragt, ob Musik erzählen könne. Alle antworteten spontan mit Ja. Auch wenn es den meisten schwer fiel, ihre These zu begründen, zeigt sich daran exemplarisch (freilich ohne statistische Belastbarkeit), wie ungebrochen gültig die Idee musikalischen Erzählens gegenwärtig ist. 5 Zur romantischen Idee einer Absoluten Musik, die eine Sprache sui generis darstellt, vgl. Dahlhaus, Carl: Die Idee der absoluten Musik. Kassel 1978. Die angelsächsische Musikphilosophie hat sich ausführlich und differenziert mit der Fragen der Bedeutung und des Verstehens von Musik beschäftigt. Zum Überblick siehe Kania, Andrew/Gracyk, Theodore (Hrsg.): The Routledge Companion to Philosophy and Music, New York 2011; Kania, Andrew: »The Philosophy of Music«, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2014 Edition), hrsg. von Edward N. Zalta, http://plato.stanford.edu/archives/spr2014/entries/mu sic/ (Abruf am 5. Mai 2015). Zu den jüngeren deutschsprachigen Beiträgen zur Musikphilosophie, die das Thema Sinn und Bedeutung im Fokus haben, zählen vor allem Mahrenholz, Simone: Musik und Erkenntnis. Eine Studie im Ausgang von Nelson Goodmans Symboltheorie, Stuttgart/Weimar 1998; Becker, Alexander/Vogel, Matthias (Hrsg.): Musikalischer Sinn. Beiträge zu einer Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 2007; Wellmer, Albrecht: Versuch über Musik und Sprache, München 2009; Grüny, Christian (Hrsg.): Musik und Sprache.

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Dimensionen eines schwierigen Verhältnisses, Weilerswist 2012; Mohr, Georg/Kreuzer, Johann (Hrsg.): Vom Sinn des Hörens. Beiträge zur Philosophie der Musik, Würzburg 2012; Grüny, Christian: Kunst des Übergangs. Philosophische Konstellationen zur Musik. Weilerswist 2014; Hindrichs, Gunnar: Die Autonomie des Klangs. Eine Philosophie der Musik. Berlin 2014. 6 Vgl. etwa Nünning, Ansgar/Nünning, Vera (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002; Ryan, MarieLaure (Hrsg.): Narrative across Media: The Languages of Storytelling. Lincoln/NB 2004; Meister, Jan Christoph (Hrsg.): Narratology beyond Literary Criticism, Berlin 2005. Zum Überblick vgl. Ryan, MarieLaure: »Narration in Various Media«, in: Handbook of Narratology, hrsg. von Peter Hühn/Jan Christoph Meister/John Pier/Wolf Schmid, Bd. 1. Berlin/Boston 2014, S. 468-488. 7 Am Anfang der Debatte stand der von Steven Paul Scheer herausgegebene Band Literatur und Musik: ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes, Berlin 1984. Zum Überblick vgl. Maus, Fred Everett: »Narratology, narrativity«, in: The New Grove Dictionary of Music and Musicians, hrsg. von Stanley Sadie, Bd. 17. London 2001, S. 641-643; Wolf, Werner: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie«, in: Nünning/ Nünning (wie Anm. 6), S. 23-104; Ryan, Marie-Laure: »Music«, in: Narrative across Media: The Languages of Storytelling, hrsg. von Marie-Laure Ryan, Lincoln/NB 2004, S. 267-273, Kafalenos; Emma: »Overview of the Music and Narrative Field«, in: ebd., S. 275-282; Rabinowitz, Peter J.: »Music, Genre, and Narrative Theory«, in: ebd., S. 305-328; Maus, Fred Everett: »Classical Instrumental Music and Narrative«, in: A Companion to Narrative Theory, hrsg. von James Phelan/Peter J. Rabinowitz. Malden 2006, S. 466483. Insbesondere die Arbeiten zur Narrativität der Musik von Carolyn Abbate, Susan McClary, Lawrence Kramer, Fred Everett Maus, JeanJacques Nattiez, John Neubauer, Peter Rabinowitz und Eero Tarasti sind hier zu erwähnen (die erwähnten Arbeiten bieten eine hilfreiche Auswahlbibliograhie). 8 Zum Überblick inklusive Literaturverweisen vgl. Wolf (wie Anm. 7), S. 76ff.; Maus (2006, wie Anm. 7).

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9 In der Erzähltheorie haben sich ähnliche begriffliche Distinktionen herausgebildet, etwa die zwischen histoire und discours (Tzvetan Todorov), die die von sujet und fabula (Boris Tomaševskij) übersetzt und erweitert, siehe ebenso Seymour Chatmans Unterscheidung von story und discourse. 10 In der musikalischen Semiotik werden musikalische Zeichen als selbstreferentielle Zeichen verstanden. Es ist aber plausibel, den Sinn der Musik nicht an die Möglichkeit der Referenz zu binden, vgl. Becker, Alexander/Vogel, Matthias: »Einleitung«, in: Becker/Vogel (wie Anm. 5), S. 7-24, hier S. 10f. Die semantische Relation der Musik zu dem, was sie bedeutet (und ggf. erzählt), kann nicht (allein) in den Beziehungen der Repräsentation, der Exemplifikation, der Konvention, der Ähnlichkeit, der Kausalität, der psychologischen Assoziation, des psychologischen Verstehens oder der Übersetzung begriffen werden, vgl. ebd., S. 17-19. 11 Diese Position kann man der Tradition des Formalismus im Sinne Eduard Hanslicks zuordnen, der unter Musik »tönend bewegte Formen« verstand und ihre Bedeutung, anders als die Wagnerianer, nicht durch Bezug auf nicht-musikalische Strukturen erklärte, vgl. ders.: Vom Musikalisch-Schönen, Leipzig 1854, S. 32. Musik wird in der von Hanslick inspirierten Tradition primär oder ausschließlich als selbstreferentielle Kunst verstanden, d.h. musikalische Zeichen haben nur musikalische Bedeutung. Zum Überblick über die Geschichte und Aktualität dieser Richtung vgl. Cook, Nicholas: »Musikalische Bedeutung und Theorie«, in: Becker/Vogel (wie Anm. 5), S. 80-128, hier S. 88ff. Dass dementsprechend musikalische Narration allenfalls eine Ilustration eines narrativen Textes sei, meint z.B. Peter Kivy, vgl. ders.: Sound and Semblance. Reflections on Musical Representation, Princeton/NJ 1984, S. 195. Und Lawrence Kramer vertritt die These: »music can neither be nor perform a narrative. In the strictest sense, there can be no musical narratology«, vgl. ders.: »Musical Narratology: A Theoretical Outline«, in: Indiana Theory Review 12 (1991), S. 141162. Dass Musik die für Narrativik charakteristischen Tempusunterschiede und somit Vergangenheitsformen nicht ermöglicht, spricht laut Carolyn Abbate gegen ihre Erzählfähigkeit, vgl. dies.: Unsung Voices: Opera and Musical Narrative in the Nineteenth Century, Princeton/NJ 1991.

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12 Zur Filmmusik siehe etwa Brown, Royal S.: »Music and/as CineNarrative or: Ceci n’est pas un leitmotif«, in: Phelan/Rabinowitz (wie Anm. 7), S. 451-465. 13 Diese Position vertritt u.a. Albrecht Wellmer, der von einer »Intermedialität aller Kunstmedien« durch »ihre gemeinsame Teilhabe an der Sprache« spricht, vgl. Wellmer (wie Anm. 5), S. 24. Vgl. dazu die Beiträge in Grüny (2012, wie Anm. 5), und Mohr, Georg: »Eine neue Philosophie der Neuen Musik – mit und nach Adorno«, in: DZPhil 58/4 (2010), S. 647-668. 14 Vgl. etwa Tarasti, Eero: »Music as a Narrative Art«, in: Narrative across Media: The Languages of Storytelling, hrsg. von Marie-Laure Ryan, Lincoln/NB 2004, S. 283-304, hier S. 283, der von Musik als einer »fundamentally narrative art« spricht. Tarasti selbst bietet entsprechend eine Minimaldefinition von Narrativität als »transformation of an object or state of affairs into something else through a process that requires a certain amount of time« (ebd., S. 283) an. (Damit aber zieht er sich die Kritik an sehr allgemeinen Bestimmungen zu. Je unspezifischer sie sind, desto weniger gut sind sie geeignet, Phänomene zu identifizieren und gegenüber ähnlichen zu unterscheiden. Tarastis Definition zufolge wären auch Prozesse wie Proteinsynthesen, Handlungen und die Evolution Narrative. Dann aber bleibt unbestimmt, was überhaupt besonders an Erzählungen sein soll. Sie die weitere Diskussion unten.) 15 Dazu Genette, Gérard: Die Erzählung, München ²1998. Daher kann es auch keine narrativen Metalepsen oder einen mise en abyme – überraschende Wechsel zwischen den diegetischen Ebenen oder ihre Spiegelung ineinander – geben. Dieser Sachverhalt wird von einigen Erzähltheoretikern so beschrieben, dass Musik, anstatt diegetisch zu sein, mimetisch wie alle performativen Künste erzähle. Vgl. etwa Abbate, Carolyn: »What the Sorcerer Said«, in: 19th-Century Music, 12/3 (1989), S. 221-230, hier S. 228f. 16 Siehe aber auch Rabinowitz (wie Anm. 7), S. 305-328, der rhetorische Strategien der Musik gegenüber den in Opern erzählten Zusammenhängen untersucht und generell für die Möglichkeit einer erzählerischen Position gegenüber dem Erzählten in der Musik argumentiert. Und Douglass Seaton bekräftigt in einer narratologischen Interpretation von Beethovens KLAVIERSONATE D-MOLL OP. 31/2 »DER STURM« die Möglichkeit, eine Erzählstimme (voice) in ihrem Verhältnis zur Musik

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verstehen zu können, vgl. Seaton, Douglass: »Narrative in Music: The Case of Beethoven’s ›Tempest‹ Sonata«, in: Meister (wie Anm. 6), S. 65-81, insb. S. 74ff. Narratologische Begriffe im Einzelnen an Musik zu erproben, ist allerdings ein erst in Ansätzen realisiertes Projekt, über dessen Ausgang kein vorschnelles Urteil gesprochen werden sollte. Vgl. Gérard Genette zum »récit minimal« in einem Satz wie »The king died«, vgl. ders.: Narrative Discourse Revisited, Ithaca/NY 1983, S. 15ff. Zur strukturalistischen Analyse von Plots nach Vladimir Propp in Bezug zur Musik vgl. etwa Tarasti (wie Anm. 14), S. 284ff. Köppe, Tillmann: Erzähltheorie. Eine Einführung. Stuttgart 2014, S. 43. Siehe ebenfalls oben Anm. 14. Genau das fordert Werner Wolf von einer intermedialen Narratologie, vgl. Wolf (wie Anm. 7). Schmid, Wolf: Elemente der Narratologie. Berlin/New York 2008, S. 4. Vgl. zu andern Positionen und zur weiteren Verfeinerung dieser Bedingung auf narrative Texte ebd., S. 1-26. Vgl. dazu die Aufsätze in Musik in der Zeit – Zeit in der Musik, hrsg. von Richard Klein/Eckehard Kiem/Wolfram Ette, Weilerswist 2000; Grüny (2014, wie Anm. 5), S. 225-301; Hindrichs (wie Anm. 5), S. 108-146. Zum Überblick vgl. auch Klein, Richard: Musikphilosophie zur Einführung. Hamburg 2014, S. 115-143. Metaphysische oder konzeptuelle Ideen einer nicht hörbaren Musik – etwa der von Boethius so genannten Musica mundana, der nicht von Menschen vernehmbaren Sphärenmusik der Pythagoreer – fallen, ebenso wie bloße Partituren, nicht in die Ontologie ästhetischer Phänomene, weshalb sie hier nicht in Betracht gezogen werden. Solche meist platonischen Musikbegriffe sind abgeleitet von der wahrnehmbaren Musik und bleiben metaphorisch oder technisch bezogen auf sie. Interessanterweise stellt aber auch die Sphärenmusik, die von der Bewegung der Himmelsspähren selbst erzeugt wird, eine bestimmte Konstitution von Zeitverläufen dar, gleichsam eine kosmische Polyphonie für Engel. Eddy Zemach schlägt das in problematischer Weise vor: Ein musikalisches Werk sei »a sequence of proofs«, deren »moves in compliance with laws that seem universally valid« erfolgten, vgl. ders.: »The Role

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of Meaning in Music«, in: British Journal of Aesthetics 42 (2002), S. 169-178, hier S. 173f. Vgl. Hindrichs (wie Anm. 5), S. 193ff. Ebd., S. 185ff. Auch ein Einzelklang, der gleichsam die Nachbarschaft zu anderen Klängen negiert, ist freilich notwendigerweise auf andere Musik bezogen, sonst könnte er gar nicht als Klang identifiziert werden und verlöre jeden Sinn, vgl. ebd., S. 191f. Ebd., S. 190. Die notwendige Voraussetzung, auch einen Einzelklang als musikalisch hören zu können, liegt an seiner ästhetisch spezifischen Gestaltung. Das lässt sich an einem Beispiel verdeutlichen: Ein auf einem Klavier recht unartikuliert angeschlagenes c'' von knapp zwei Sekunde Länge klingt gleichsam abstrakt und ungesellig, es ließe sich auch nicht als Zitat, etwa einer Mozart-Sonate, erkennen; ein etwa ebenso lang ausgehaltenes, leise und zugleich minimal anschwellendes, gleichsam verhalten kantables c'' eines Fagotts lässt sich dagegen als prinzipiell an mögliche weitere Klänge anschlussfähig hören, weil es in sich gestaltet ist – gleichsam eine gesellschaftsfähige Individualität –, so dass man diesen Klang auch als Anfang von Stravinskys LE SACRE DU PRINTEMPS erkennen könnte. Verstärkt gilt diese Beobachtung für Akkorde und differenziert instrumentierte Klänge. Ebd., S. 206. Ich halte es für angemessener, von Ambivalenz zu sprechen, denn man kann den ersten Klang der Kadenz als Tonika und als eine zur Subdominante führende Dominante hören, also als mehrdeutigen Klang. Daher muss auch nicht der nächste folgen (vgl. ebd., S. 208ff.), eine ästhetische Notwendigkeit gibt es meiner Überzeugung nach nicht, nur Grade ästhetischer Plausibilitäten. Dass eine Kadenz etwa abbricht, klingt vor dem Hintergrund der Funktionsharmonik der Wiener Klassik unplausibel, aber es ist ästhetisch möglich, ohne den musikalischen Sinn eo ipso aufzugeben (punktuelle Inkohärenz mit dem Effekt ästhetischer ›Enttäuschung‹; fast gängig etwa ist ein sogenannter ›Trugschluss‹ am Ende der Kadenz: der Einsatz einer anderen Funktion, etwa der Tonikaparallele, statt der Tonika). In analoger Weise ließe sich für Rhythmen argumentieren, die die Ordnung des Akzentstufentaktes bekräftigen (z.B. punktierte Noten mit kleinem Notenwert und folgender Note auf einer schweren Zählzeit), die aber auch (etwa in Beethovens Sinfonien) abbrechen können, gerade

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weil diese unplausiblen Auslassung die Aufmerksamkeit auf sich zieht und einen neuen Sinn erzeugt. Das betont Hindrichs selbst (vgl. ebd., S. 212-214). Musikalische Schlussfolgerungen wie die der Kadenz seien »bereichsabhängig« (S. 195). Hindrichs formale Theorie der Sinnkonstitution kann man daher gegenüber historistischen oder ethnologischen Einwänden gegen die Idee der »musikalische Logik« verteidigen und konstatieren, dass es je historisch und kulturell besondere musikalische Logiken gibt, deren Regeln innerhalb historisch und kulturell je bestimmter Musik sinnvolle Zusammenhänge konstituieren. Damit wird die Frage, »[w]elches Ausmaß an Pluralisierung […] die Idee einer musikalischen Logik überhaupt« (Becker/Vogel [wie Anm. 10], S. 12) vertrage, eine rein empirische. Ein besonders groteskes Beispiel bietet der Bericht von Manfred Dworschak im SPIEGEL (32/2008) über die Theorie Norman Cooks, Dur und Moll aus Veränderungen des übermäßigen Dreiklangs nach stereotypischen Tierlauten ableiten zu können. Dieses Beispiel verdanke ich Friedrich Goldmann. Becker/Vogel (wie Anm. 10), S. 19. Vgl. Davies, Stephen: »Musikalisches Verstehen«, in: ebd., S. 25-79, hier S. 72f. Er bekräftigt im Modus des zusammenhängenden Erzählens von Schöpfungs-, Ursprungs-, Götter- oder Heldengeschichten die Antworten, die er auf Fragen menschlicher Welt- und Selbstverständigung gibt. Vgl. Hans Blumenbergs einflussreiche Studie Arbeit am Mythos. Frankfurt am Main 1979. Nach Blumenberg zeichnen sich mythische Erzählungen dadurch aus, »vor allem Antwort auf Fragen gegeben zu haben, und nicht, deren implikative Verweigerung durch Erzählen von Geschichten gewesen zu sein« (ebd., S. 184). Tomasello, Michael: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation. Frankfurt am Main 2009, S. 303-315. Musik mag ursprünglich mit der Sprache entstanden sein; wenn, dann ist sie aber erst mit dem Schritt zur Vokalisierung aufgetreten, die Mutalismus und Gebärdensprache durch ein komplexes und konventionalisiertes Kommunikationssystem über akustisch vernehmbare Sprache abgelöst und daher den Schritt zum Homo sapiens gemacht hat. Dafür, dass Musik und Sprache in der kulturellen Entwicklung einen gemeinsamen Ursprung haben, sprechen

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auch neurowissenschaftliche Befunde, dass sprachliches und musikalisches Verstehen ähnlich im Gehirn verarbeitet werden und musikalische Kompetenz zur sprachlichen nötig ist, vgl. Koelsch, Stefan/Fritz, Tom: »Musik verstehen – Eine neurowissenschaftliche Perspektive«, in: Becker/Vogel (wie Anm. 5), S. 237-264, hier S. 250f. Die mündliche Erzählsituation ist im performativen Akt der Musiziersituation analog, bei schriftlich vermittelten Erzählungen verhält es sich komplizierter, weil Autor und Erzähler – ggf. noch der Vortragende – unterschieden werden müssen. Diese Überlegungen zum musikalischen Sinn sprechen gegen Jerrold Levinsons unter dem Label »Concatenationism« vertretene These des Primats punktueller Erfahrung: Für das Musikverstehen genüge, so Levinson, das Hören von Moment zu Moment, alle Bezüge, die über unmittelbar benachbarte musikalische Passagen hinausgingen, seien nicht hörend wahrnehmbar und keinesfalls das primäre Objekt des Hörens, vgl. ders.: Music in the Moment. Ithaca/NY 1997. John Cages 4'33'' etwa kann diese Bedingungen thematisch werden lassen. Durch das Ausbleiben des Spiels der Aufführenden treten die konkreten Bedingungen der Aufführungen und ihr Beitrag zur Sinnkonstitution dafür mehr in Erscheinung, etwa das rituelle Zusammenkommen des Publikums, das still zuhört (aber in der Reaktion auf den ausbleibenden Klang der Musiker selbst zum akustischen Produzenten wird). Viele Arbeiten haben die Rolle der narrativen Kompetenz der Hörer betont, vgl. Wolf (wie Anm. 7), S. 83 (Fn 103). Vgl. besonders Nattiez, der Musik zwar abspricht, selbst narrativ zu sein, dafür aber »an incintiment to make a narrative« seitens der Hörer annimmt, Nattiez, Jean-Jacques: Music and Discourse: Toward a Semiology of Music. Princeton/NJ 1990, S. 128. Vgl. Rabinowitz (wie Anm. 7), S. 305-328; Wellmer (wie Anm. 5), S. 26ff. Cook (wie Anm. 11), insb. S. 86f., 98ff. Die Nähe zu Albrecht Wellmers Überlegungen (vgl. ders. [wie Anm. 5]) kann ich an dieser Stelle leider nicht ausführen. Leitend ist für mich seine These »der latenten Intermedialität aller Künste« (ders.: »Über Musik und Sprache: Variationen und Ergänzungen«, in: Grüny (2012, wie Anm. 5), S. 195226, hier S. 199f.).

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43 Bewusst wähle ich den Begriff Hörart analog zu Lesart. 44 Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Stanley Kubrick, in dessen Filmen es nicht (nur) auf das spannende Erzählen von Geschichten ankommt, Ligetis Musik – von 2001: A SPACE ODYSSEY (1968) bis EYES WIDE SHUT (1999) – für das Kino entdeckte. 45 Siehe Simone Mahrenholz Kritik an Wellmers These des intrinsischen Sprachbezugs von Musik in dies.: »Was macht (Neue) Musik zu einer ›Sprache‹?«, in: Grüny (2012, wie Anm. 5), S. 109-118, insb. S. 114ff. 46 Dazu erhellend Feige, Daniel Martin: Philosophie des Jazz. Berlin 2014. 47 Einen plausiblen Vorschlag für Kriterien, um Musik narrativ hören zu können, bietet Wolf (wie Anm. 7), S. 85f., dessen Überlegungen zum narrativen Charakter mancher Musik ich weitgehend zustimme. Die Kriterien halte ich aber nicht insgesamt für notwendig. Ähnlich bietet auch Seaton (wie Anm. 16), Gründe, bei bestimmter Musik – der an musikalischen Charakteren orientierten Musik des späten 18. und des 19. Jahrhunderts – narrative Strukturen zu erkennen. 48 Cook (wie Anm. 11), S. 118. 49 Denn schon bei der Frage nach dem Was einer Erzählung können die Ansichten trotz des referentiellen Charakters von Sprache extrem auseinandergehen. Beschreibungen des Inhalts einer Geschichte und ihre Lesarten bzw. Interpretationen sind nicht immer exakt zu trennen. Es gibt vielmehr schon mehrere begründbare Antworten, auf die Frage, wovon ein Roman handelt. Zudem erzeugt neue Prosa, etwa Ulrich Schlotmanns Roman DIE FREUDEN DER JAGD (Basel/Weil am Rhein 2009), narrative Zusammenhänge oft vielmehr rhythmisch-syntaktisch als semantisch. 50 Wie unterschiedlich dasselbe Stück je nach Interpretation erzählen kann, hat Maus (2006, wie Anm. 7) am Beispiel von Beethovens FÜNFTER SINFONIE vorgeführt. Vgl. auch ders.: »Musical Performance as Analytical Comunication«, in: Performance and Authenticity, hrsg. von Ivan Gaskell/Salim Kemal, Cambridge 1999, S. 129-153. 51 Die Arbeiten der New Musicology zu narrativer Musik bilden einen guten Ausgangspunkt für weitere Arbeiten. Vgl. in diesem Sinne auch Maus’ Plädoyer, den Begriff des Narrativen in der Analyse von Musik auszuprobieren in Maus (2006, wie Anm. 7), S. 480f.

»Ich pendle zwischen Kapellmeister, Professor und hie und da Exzellenz« Warum Siegfried Wagners Ouvertüre des BÄRENHÄUTERS erzählen kann

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Im Jahre 1899 bringt der Verlag Max Brockhaus aus Leipzig eine Auskoppelung der Ouvertüre von Siegfried Wagners Erstlingsoper DER BÄRENHÄUTER heraus, die am 22. Januar 1899 Premiere am Königlichen Hof- und Nationaltheater München gefeiert hatte. Direkt auf der zweiten Seite ist dem Nutzer dieser Partitur folgende »vom Schöpfer des Werks selbst herrührende[…] Erläuterung für den Konzertvortrag« beigegeben,1 die mit ihren Details einen klaren erzählerischen Duktus aufweist:2 »Die Ouvertüre gliedert sich in 5 Theile: I.

Charakteristik des Bärenhäuters. (Hans Kraft.) Voll muntern Trotzes zieht er in die Welt, keck Den herausfordernd, der ihm etwas anhaben möchte. (Hornruf.)

II. Seinen Ruf erwidert Einer, auf den Hans Kraft nicht gefasst war: der leibhaftige Teufel selbst. (›Monsieur Pferdefuss‹.) Zunächst schwirrt’s in der Luft. – Hans lauscht; er ruft nochmals; die Erscheinung wird deutlicher; schwächer erklingt der Hornruf und dreist schlängelt sich der Teufel an Hans heran. III. Da hält das ›Ewig-Weibliche‹ schützend die Hand über den Harmlosen. Es folgt das Thema der Frauengestalt. (Luise.) Wonniges Entzücken des beglückten Hans,

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IV. aus dem ihn nur zu bald der frech sich einschleichende Teufel stört. (HolzbläserFugato, Durchführungstheil.) Ein Kampf entspinnt sich zwischen Hans Kraft und dem Teufel. Hans droht zu erliegen, da greift als Schutzengel das Mädchen mit ein. Der Teufel, immer wüthender und drohender sich geberdend, wird schliesslich durch die Kraft der Liebe besiegt. V. Hans, von Dank und Freude erfüllt, geht geläutert und gestählt aus dem Kampfe hervor.«3

Etwa ein Jahr später kommt ein »Populärer Führer durch Poesie und Musik« des BÄRENHÄUTERS heraus, in dem die Nacherzählung der Handlung in Musik stark nach den Motiven geordnet ist, die im Verlauf der Oper wiederkehren und somit in der Ouvertüre die Handlung vorzeichnen:4 »Die Ouvertüre bietet uns ein Miniaturbild des ganzen Märchenspiels dar. Sie beginnt mit dem kräftigen Motiv des Haupthelden Hans Kraft [Notenbeispiel des Motivs]. Wir hören ferner das Motiv des Teufels, der ihn verlockt vom rechten Wege: [Notenbeispiel des Motivs] und das Motiv der Luise [Notenbeispiel des Motivs], derjenigen, welche den vom Teufel mit gräßlichem Fluche Beladenen durch ihre Treue vom Banne erlöst. Mit dem Freudenmotiv über seine glückliche Befreiung vom Fluche des Satans schließt das Vorspiel: [Notenbeispiel des Motivs].«5

Diese beiden unterschiedlich strukturierten, aber inhaltlich identischen Nacherzählungen der musikalischen Gehalte der Ouvertüre fügen sich nahtlos in die Ausprägung der dramatisch-programmatischen Ouvertüre ein, die während des 19. Jahrhunderts in Anlehnung an die Sonatenhauptsatzform vorangetrieben wurde.6 Zudem stehen sie klar in den programmmusikalischen Traditionen der Neudeutschen Schule um Franz Liszt bzw. den leitmotivischen Traditionen Bayreuths. Die Belegung der ausgekoppelten Ouvertüre mit einer Erzählung, die im Gegensatz zu den Präsentationen in zeitgenössischen Opernführern zum BÄRENHÄUTER eine stärkere erzählerische Anlage aufweist, kam in diesem Zusammenhang sicherlich der Vermarktung der Auskoppelung als Konzertouvertüre seitens des Verlags zugute.7 In ähnlicher Weise lässt sich die im Opernführer enthaltene leitmotivische Nacherzählung des »Vorspiels« aus der Namensgleichheit des Protagonisten Hans Kraft mit Hans von Wolzogen als letztendlichem Verbreiter der Wagnerschen Leitmotivik herleiten.8 In beiden Fällen scheint es

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also eher um die Festigung ästhetisch-kunsttheoretischer Strömungen beim musikalischen Publikum, aber vor allem auch Siegfried Wagners als direktem künstlerischen Nachfolger seines Vaters Richard Wagner innerhalb der Wagner-Rezeption um 1900 denn um einen vermeintlichen narrativen Wert der instrumentalen Teile des BÄRENHÄUTERS zu gehen. Dabei fällt auf, dass die inhaltlichen Erzählvarianten der Ouvertüre mit dem Anwachsen der Zahl biographischer und weiterer wissenschaftlicher Schriften zu Siegfried Wagner und seinen Werken immer stärker mit musikalisch-analytischen Vorgängen durchmischt werden, die auf eine musikalische Charakterisierung der Figuren abheben und die den dramatischen Charakter der Ouvertüren-Erzählung schärfen.9 Während die Erzählung zur Ouvertüre des BÄRENHÄUTERS ihm 1924 noch als roter Faden für seine Bearbeitung der Oper zu einem Märchenspiel »für die Jugend« gedient zu haben scheint,10 erläutert Otto Daube 1936 in seiner Abhandlung zu Siegfried Wagner als Komponist von Märchenopern den Inhalt der Ouvertüre anhand von »Themen«, die innerhalb der Sonatenhauptsatzform mit- oder gegeneinander agieren: »So wächst z.B. die ›Bärenhäuter‹-Ouvertüre zur Sonatenhauptsatzform an, da ihre Mitteilungsabsicht, den gemeinsamen Kampf des Heldischen (Kraft-Themen) und des Guten (Luise-Thema) mit dem Bösen (Teufel-Themen) darzustellen, am glücklichsten in der Kampfform des Sonatenhauptsatzes erfolgen kann.«11

Ob Musik überhaupt eine solche »Mitteilungsabsicht« haben oder erzählen kann und welchen Anteil musikalische Formen und Strukturen daran haben ist eine schon lang diskutierte Frage, die unterschiedliche Disziplinen beschäftigt hat. Besonders aus der transdisziplinären Forschung zwischen Literatur- und Musikwissenschaft gingen bereits unterschiedliche Sichtweisen auf das Verhältnis von kompositorischer Anlage, komponiertem Text, erzählerischem Gehalt und rezeptiver Wahrnehmung hervor. Während eine musikalische Narrativität im Sinne der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorien oft abgelehnt wird, da eine narrative Analyse ob der fehlenden Referentialität von Musik nur eine metaphorische Beschreibung rein musikalisch-zeitlicher Vorgänge und Formen hervorbringen könne,12 heben neuere Ansätze das narrative Potential und die Narrativisierung von Musik auf den Ebenen der Aufführung und der Rezeption heraus.13 In der Konfrontation dieser beiden widerstrebenden Einschätzungen zur narrativen Anlage von Musik und zu einer Vorliebe für den linearen Nachvollzug

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musikalischer Werke durch das Publikum14 scheint es darum zu gehen, den »funktionalen Ereignissen«, die Musik z.B. als Abfolge von »Ruhe/Jagd/ Ruhe« wiedergeben kann, ihren Platz zwischen musikalischem Text, musikalischem Nachvollzug und schließlich auch musikalischer Interpretation zuzuweisen.15 Ein gangbarer Weg für eine solche Verortung scheint mir die Rekonstruktion musikalischen Wissens innerhalb eines Musikbegriffs zu sein, in dem Text und Kontext nicht getrennt, sondern stetig verschmolzen sind.16 Dieser Musikbegriff soll im folgenden Fall im Sinne eines kulturgeschichtlichen Ansatzes Kontur gewinnen. Ein solch kulturgeschichtlicher Ansatz bietet sich dabei unter anderem vor dem Hintergrund an, dass die Narrativitätsforschung seit jeher eng mit dem Forschungsbereich der Erinnerungskultur verbunden ist17 und gerade diese bildet den Nimbus mit dem sich die Stilisierung Siegfried Wagners als Sohn von Richard Wagner und seiner Ästhetik auseinanderzusetzen hat.18 Anknüpfend an die oben beschriebene Entwicklung hin zu einer immer stärkeren musikanalytischen Aufbereitung der Erzählung soll es im Folgenden darum gehen, das musikalische Wissen um den erzählerischen Gehalt der Ouvertüre des BÄRENHÄUTERS rezeptionsgeschichtlich zu dokumentieren. Siegfried Wagners ausgekoppelte Komposition eignet sich insofern für eine narratologisch motivierte Analyse, da sich sein dichterisches und musikalisches Schaffen vornehmlich auf die Gattung des Märchens konzentriert. Während er die Gattung der Märchenoper im Anschluss an seine kompositorische Ausbildung bei Engelbert Humperdinck vorantrieb,19 galten auch seine stets selbst verfassten Textbücher in ihrer sprachlichen Einfachheit und eindimensionalen Figurencharakterisierungen unter seinen Zeitgenossen als sehr märchenaffin.20 Zweitens entstanden schon gegen Ende seines Lebens politisch höchst aufgeladene biographische und werkanalytische Abhandlungen zu Siegfried Wagner als vermeintlich verkanntem Nachfolger seines Vaters Richard Wagner und dessen enger Verknüpfung von Musik und Dichtung, bei denen ebenfalls das Märchen im Vordergrund stand.21 Die Autoren dieses nach den 1930er Jahren weitestgehend wieder versiegten Schrifttums stammten vornehmlich aus dem engeren Bayreuther Kreis.22 Neben dem zentralen Wagner-Biographen Carl Friedrich Glasenapp und Paul Pretzsch war der Musikpädagoge Otto Daube in dieser Hinsicht besonders aktiv.23 Daube publizierte 1925 SIEGFRIED WAGNER UND SEIN WERK. EIN HANDBUCH und 1936 die Monographie SIEGFRIED WAGNER UND DIE MÄRCHENOPER, die eine »Einführung in ›Der Bä-

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renhäuter‹ und ›An allem ist Hütchen schuld‹ und eine[n] Lebensbericht« enthält.24 Im Folgenden soll das narrative Potential von Siegfried Wagners Ouvertüre im Zusammenhang mit der Gattung der Märchenoper beleuchtet werden sowie deren politische und pädagogische Narrativisierung durch den Musikpädagogen Otto Daube (1900-1992) als einem der letzten Siegfried Wagner-Adepten des Bayreuther Kreises der 1920er und 1930er Jahre.25 Eine solche Analyse arbeitet den kulturhistorischen Erkenntniswert der Erzähltheorie für das Verständnis der politischen Positionierung der wagnerianischen ›letzten Romantiker‹ in der Musik und dem Musikleben des beginnenden 20. Jahrhunderts heraus, lässt aber rückwirkend auch Schlüsse im Hinblick auf die narrative Rezeption von Opernwerken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu.26

M ÄRCHEN

UND

M USIK

Die literaturwissenschaftliche Märchenforschung weist zentrale Ähnlichkeiten mit einer auf Musik angewandten Erzähltheorie auf. Dies ist sowohl in Bezug auf den oralen, »performativen« Anteil der Überlieferung von Märchen der Fall, als auch im Hinblick auf ihre strukturierte »Komposition« und »Form« mittels »Funktionen« (Vladimir Propp).27 Wenn es in narratologischer Hinsicht richtig ist, dass Musik zwar Entwicklungen anzeigen kann, aber offen bleibt, von was,28 dann scheint hier zugleich eine Parallele zu den zwar referentiell eindeutigen, aber gleichzeitig einfachen, gradlinigen und daher überzeitlichen und nicht-örtlichen Strukturen vorzuliegen, die das Grimmsche Volksmärchen auszeichnen: »Ihre Handlung ist (immer idealtypisch gesprochen) einsträngig, es gibt keine Nebenhandlungen. Das Geschehen ist ort- und zeitlos, alle entsprechenden Angaben sind so allgemein, dass man nicht rekonstruieren kann, wann und wo es sich zuträgt. Die Figuren sind eindimensional, flächig, also entweder gut oder böse, klug oder dumm. Eine Psychologisierung findet nicht statt. Bestimmte Figuren kehren immer wieder: Königinnen und Prinzessinnen, Könige und Prinzen als gesellschaftliche Rollenzuschreibungen, Schwester und Bruder, Mutter, Vater und Stiefmutter als familiäre Rollenzuschreibungen. Daneben dienen auch Handwerksberufe zur Figurencharakterisierung. Namen finden sich selten (außer, sie sind sprechend), eher

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schon Attribute, z.B. DAS TAPFERE SCHNEIDERLEIN. Die Heldin oder der Held des Volksmärchens wird gleich zu Beginn mit einer Mangelsituation oder einem Problem konfrontiert, die es abzustellen oder das es zu lösen gilt. Auf dem Weg zum guten Ende helfen wunderbare Requisiten oder Figuren. In Volksmärchen können Tiere sprechen und Menschen sich mit ihnen unterhalten, manchmal gilt dies auch für Pflanzen, Minerale, Metalle oder Gebrauchsgegenstände. Das Volksmärchen ist sprachlich einfach; es gibt hauptsächlich Hauptsätze, keine schwierigen Vokabeln und immer wiederkehrende Formeln. Auch die Symbolik und Metaphorik ist einfach und einprägsam. Die wichtigsten Symbolzahlen finden Verwendung: 3, 4, 7, 12 und 13.«29

Anhand von dieser Beschreibung lassen sich aber auch zentrale Unterschiede zwischen einer narrativen Musik und der Narrativität von Märchen ausmachen: Während musikalische Werke durchaus mehrsträngige Anlagen aufweisen können,30 scheint das Märchen gerade ob seiner relativen Einfachheit auf einer vermeintlich eindeutigen und unproblematischen referentiellen Basis der Sprache zu beruhen. Diese klare Referentialität scheint in der Märchenforschung durch die Katalogisierung und damit auch Kategorisierung von Motiven forciert, die als wiederkehrende, sinntragende Bauelemente Teil übergreifender Strukturen wie Erzähltypen sind.31 Es wäre nun sehr einfach anzunehmen, dass die von Siegfried Wagner selbst geschaffenen und dann vertonten Libretti, die zumeist Collagen verschiedener Märchenmotive darstellen,32 damit bewusst eine sprachlich-referentielle Ebene in seine Musiktheaterwerke einziehen, die durch die enge Verknüpfung von Referentialität, Konzept und Symbolik der Märchenmotive eben auch in musikalischer Hinsicht funktioniert – vor allem im Leitmotiv-gewöhnten Bayreuther Umfeld zu Lebzeiten Siegfried Wagners.33 Denn wo sich Figuren, Konzepte und Symbole die Klinke in die Hand geben und innerhalb eines typischen Handlungsstranges individuelle und ereignisgebundene Details in den Hintergrund drängen, scheint der Weg eher offen für nicht-referentielle, phantastische Sprachen und kommunikative Konstellationen.

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S PÄTE

FRÜHROMANTISCHE

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N ARRATIVISIERUNGEN

Dass es Siegfried Wagner genau um letztere ging, zeigen Überschneidungen des BÄRENHÄUTERS mit Wilhelm Heinrich Wackenroders und Ludwig Tiecks DAS MERKWÜRDIGE MUSIKALISCHE LEBEN DES TONKÜNSTLERS JOSEPH BERGLINGER aus den frühromantischen HERZENSERGIEßUNGEN EINES KUNSTLIEBENDEN KLOSTERBRUDERS von 1796. Erstens finden sich zentrale Topoi Berglingers auch im BÄRENHÄUTER wieder. Allein die religiösen Bezüge sprechen für sich: Der BÄRENHÄUTER vereint die beiden Grimmschen Märchen DES TEUFELS RUßIGER BRUDER und DER BÄRENHÄUTER mit der SPIELMANNSSAGE VOM HEILIGEN PETRUS; Goethe kritisierte an Wackenroders und Tiecks Entwurf nicht zuletzt die überbordende Religiosität.34 Diese äußert sich u.a. im Kapitel EIN WUNDERBARES MORGENLÄNDISCHES MÄRCHEN VON EINEM NACKTEN HEILIGEN, in dem auch das in Bezug auf die Ouvertüre erwähnte Horn vorkommt.35 Darüber hinaus finden sich auch der Schlaf und der Traum in beiden Vorlagen: Während sie im BÄRENHÄUTER die Lähmung des Hans Kraft durch den Teufel beschreiben,36 stellen sie bei Berglinger die Paralyse durch seinen Vater dar, der seine musikalischen Neigungen hemmt.37 Nicht zuletzt gibt es auffällige Parallelen zwischen den gegen Ende der Oper immer zahlreicher werdenden Volksszenen mit diegetischer Musik im BÄRENHÄUTER38 und den Volksmusik-ähnlichen Szenarien, die sich bei Berglinger bemerkenswerterweise beim Hören von Symphonien ergeben,39 aber die auch realiter eine große Wirkung auf ihn ausüben.40 In diesem Zusammenhang sei kurz erwähnt, dass auch Richard Wagners MEISTERSINGER anscheinend Bezüge zu Wackenroders und Tiecks Berglinger aufweisen.41 Zweitens scheint Siegfried Wagner ursprünglich eine rezeptionsgeschichtliche Reminiszenz an Wackenroder und Tieck im Libretto des BÄRENHÄUTERS vorgesehen zu haben, die er jedoch wieder aus dem Text strich. Die Zeilen »Teufel:

Hans:

Doch hätt ich eine Bitte, nach altmodischer Sitte, um ein Tröpfchen Blut! Ach! Laß mich aus! Bin doch nicht Doktor Faust –

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Daß Du mir nicht traust! Nichts da! Es geht auch so!«42 scheinen auf Goethes vehemente Ablehnung der erzählenden und kunsttheoretischen Schriften Wackenroders und Tiecks anzuspielen. Im BÄRENHÄUTER-Text scheint Siegfried Wagner diese Kritik zur Kenntnis zu nehmen, ihr aber jegliche praktische Relevanz für sein eigenes Schaffen abzusprechen. Vor dem Hintergrund, dass Goethe eine wichtige Rolle in der Rezeption Richard Wagners unmittelbar nach seinem Tod zukam,43 leitet dieser Befund zum dritten, biographisch-politischen Punkt über: Es bestehen nicht zuletzt klare Bezüge zwischen Berglinger als einem »phantasievollen, aber schöpfungs- und produktionsunfähigen Künstler«44 und Siegfried Wagner als Autor des Erstlingswerks DER BÄRENHÄUTER. In der Tat weist DAS MERKWÜRDIGE MUSIKALISCHE LEBEN DES TONKÜNSTLERS JOSEPH BERGLINGER mannigfache Anknüpfungspunkte zu Siegfried Wagners autobiographischen Darstellungen auf. Otto Daube referiert, dass Siegfried Wagner sich über seine fälschliche Betitelung als »Kapellmeister« amüsierte. Der Satz »Ich pendele zwischen Kapellmeister, Professor und hie und da Exzellenz«45 beschreibt dabei exakt die zentralen drei Lebensbereiche Berglingers als kirchenmusikalisch initiiertem und musiktheoretisch ausgebildetem Kapellmeister. Auf der kunsttheoretischen Ebene lassen sich »Kapellmeister, Professor und […] Exzellenz« als Situierung Siegfried Wagners innerhalb der musikalisch-religiösen Ausrichtung der Kunsttheorie Wackenroders und Tiecks im Gegensatz zum weltlichen »Doktor Faust« interpretieren.46 Weitere konkrete Verbindungen zwischen Siegfried Wagners Selbstzeugnissen und des »merkwürdigen musikalischen Lebens« Berglingers bestehen in der Bezugnahme auf die Medizin. Berglingers Zwiespalt zwischen den Berufen des Kapellmeisters und des Arztes lässt sich natürlich auch mit Siegfried Wagners langem Oszillieren zwischen der Architektur und der Musik als hauptsächliche berufliche Ausrichtung vergleichen. Beachtenswerterweise schlägt er sich bei Richard Wagners Sohn aber noch viel konkreter in der honorierenden Nennung des großen Interesses von Medizinern für Bayreuth im Gegensatz zu den vielen »Feinden« im Festspiel-Publikum nieder: »Von der Wissenschaft waren in erster Linie Mediziner stark vertreten, wie ich überhaupt bei all meinen Reisen als ausübender Künstler die Erfahrung gemacht

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habe, daß es fast immer die Ärzte waren, die am meisten das Bedürfnis nach künstlerischer Erhebung zeigten, besonders nach Musik. Es gibt wohl keinen unsrer berühmten Ärzte, der nicht in Bayreuth gewesen wäre. Dieser Drang zur Musik ist eine Naturnotwendigkeit. In keinem Beruf hat der Mann täglich so Schweres, Trauriges, Abstoßendes zu sehen, wie in dem ärztlichen. Leiden und immer wieder Leiden. Müßte die Psyche eines solchen Mannes nicht ganz in Pessimismus untergehen, wenn sie nicht Gegenmittel fände; dieses ist die befreiendste aller Künste: die Musik!«47

Diese Passage stellt eine deutliche Bezugnahme auf Berglingers inneren Konflikt zwischen der emotional-empfindsamen Kunst der Musik und der praktisch-helfenden Profession des Arztes dar, in die der Vater der romantischen Künstlerfigur ihn Zeit seines Lebens gedrängt hatte und die ihm auch am Ende seines Lebens mitunter als die eigentlich erstrebenswerte Tätigkeit erschien.48 Siegfried Wagner honoriert dagegen genau den Kompromiss zwischen dem realen, grausamen Alltag eines Mediziners und der befreienden, erhebenden Kraft der Musik. Aufgrund dieses Kompromisses lassen sich Rückschlüsse in Bezug auf die Referentialität ziehen, die Siegfried Wagner in Anlehnung an Wackenroders und Tiecks kunsttheoretische Überlegungen der Musik zuzusprechen bereit war. Wackenroders und Tiecks literarisch-darstellerische Kombination von Erzählung, Ereignis und Kommentar49 in Berglingers Lebenserzählung dient vor allem der Narrativisierung ihrer kunsttheoretischen Situierung,50 die letztendlich zwischen einem künstlerischen Ideal und einer daraus entstehenden künstlerischen Unproduktivität schwankt: In der Erzählung entspricht Berglinger trotz der vielen Zwiespalte dabei eigentlich nicht dem unproduktiven Künstler, sondern dem Künstler, dem zahlreiche, vor allem familiäre Hindernisse in den Weg gelegt werden.51 In ähnlicher Art sah auch Siegfried Wagner sein Dasein als Komponist und Leiter der Bayreuther Festspiele.52 Als künstlerisch unproduktiv wird er nur im Kommentar eingestuft, den der schreibende Mönch auf Berglingers Lebenserzählung folgen lässt, da »nur ein sich im Kunstwerk manifestierendes Künstlertum als wirklich ›ächt‹ gelten« kann.53 Im Anschluss an diesen Kommentar erkennt Tieck am Schluss der PHANTASIEN, schwankend »zwischen einer instrumentellen Charakteristik der Musik als Medium und dem Anerkennen ihrer substantiell eigenständigen Form, die keine Repräsentationsfunktion mehr übernehmen kann«, dass die Phantasie des Künstlers

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nicht ausreicht, um eine nicht-sprachliche, aber dennoch empfindsamreferentielle Ausdrucksweise in der Musik auszubilden. Wie sich auch im Rückgriff auf Siegfried Wagners Einordnung der Medizin als wichtigem Gegenpol des Phantastischen zeigen lässt, nimmt dieser ebenfalls die letztendliche Perspektive Tiecks an, der »sich der Sprache selbst und ihren musikalisch gefaßten poetischen Möglichkeiten zuwenden [muß]«.54 In diesem Licht erscheint die der Ouvertüre beigegebene Erzählung als Materialisierung einer künstlerischen Agenda, in der die Sprache die Funktion hat, der Phantasie eine echte künstlerische Form zu geben. Während die neuere Forschung Berglingers Lebenserzählung als literarisch-erzählerisches Motivareal und nicht als Darstellung eines gescheiterten Künstlers einstuft, galt er davor lange als Musiker, dessen »kompositorische[…] Möglichkeiten […] stets hinter seiner überbordenden Phantasie zurück[bleiben]«.55 Dies könnte der Grund sein, warum Otto Daube in seinen biographischen Abrissen über Siegfried Wagner die Lebensdarstellung Berglingers nur wie oben gezeigt übertragend und nicht explizit erwähnt, obwohl er in den meisten seiner Publikationen zu Vater und Sohn Wagner Kapitel über die romantische Musikauffassung mit eingehenden Verweisen auf die literarischen Ansätze um 1800 einbezieht. In seinen Schriften zur Erfolgsfigur Richard Wagner ist das anders: In »ICH SCHREIBE KEINE SYMPHONIEN MEHR«. RICHARD WAGNERS LEHRJAHRE NACH DEN ERHALTENEN DOKUMENTEN von 1960 veranschlagt Daube gar ein ganzes Kapitel zu PHANTASIEN ÜBER DIE KUNST – dem Titel, unter dem Ludwig Tieck 1799, ein Jahr nach Wackenroders Tod (und 100 Jahre vor der Uraufführung des BÄRENHÄUTERS), ihre gemeinsamen Aufsätze zur Musik zusammenfasste.56 Anhand von Daubes Rückgriffen auf Berglinger in Bezug auf Richard Wagner lässt sich zeigen, warum Siegfried Wagner, der Tieck nach eigenen Aussagen aus dem Schulunterricht kannte,57 so viele Bezüge zur Künstlerfigur der frühromantischen Dichter konstruierte. Die Schilderung des Inhaltes einer MACBETH-Symphonie voller »Gespenster«, »Unholde« und einem »Triumphgesang«, der »das Kunstwerk [beschließt]«, aus Berglingers Beitrag »Symphonien« steht am Beginn von Daubes Kapitel PHANTASIEN ÜBER DIE KUNST, gefolgt von weiteren Zitaten Wackenroders mit den Stichworten »Drama« und »Traum«.58 Anhand von Beispielen weiterer, systematisch aufgelisteter romantischer Dichter und Komponisten (darunter auch Wackenroders und Tiecks BERGLINGER)59 folgen die Nachweise, dass »Die Dichter der Romantik musizieren« und »Die Kompositionen der Rom-

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antiker selbst sind Dichtungen, sind Lyrik und Ballade, Novelle und Schilderung, Epos und Drama«.60 Das frühromantische und romantische Verständnis von Traum und Phantasie wird erklärt, bevor Daube in einer Art finalem Rückgriff auf die Wackenroderschen und Tieckschen Gespenster auf das Märchen zu sprechen kommt: »Man nehme die ganze romantische Dichtung, Musik, Malerei. Über Zeit und Raum hinweg, weitab vom Realen, führt sie in die phantastischen Welten des Unwirklichen, in die Welt der Märchen und Sagen, der Feenreiche Oberons und Undines, in die Welt jenseits der Welt, in die Welt der Zauber, des Spuks, unheimlich Gespensterhaften, der Wunder und Rätsel der Natur, der Schauer bis zum Grauenerregenden des Vampyrismus. ›Ein Märchen‹ – so Novalis – ›ist wie ein Traumbild, ohne Zusammenhang. Ein Ensemble wunderbarer Dinge und Begebenheiten, z.B. eine musikalische Phantasie… Das Märchen ist gleichsam der Kanon der Poesie. Alles Poetische muß märchenhaft sein.‹«61

In seinen Publikationen zu Siegfried Wagner erweitert Daube diesen schon im Hinblick auf Richard Wagners musikalische Ausbildung zwischen Phantasie und Kontrapunkt entwickelten Märchenbezug weiter. Vom »Traumbild, ohne Zusammenhang« entwickelt sich die »Märchenwelt« dabei weiter in Richtung einer bebilderten Dichtung: Bevor Daube Siegfried Wagner im Zuge einer überbordend deutsch-nationalistischen Argumentation als hauptsächlichen Wiedererwecker der Gattung der Märchenoper darstellt62 und ihn hiermit auch von seinem Vater als »Selberaner« statt »Wagnerianer« abgrenzt,63 qualifiziert er das »deutsche Volksmärchen« als »Dichtungen des Volkes, in denen seine Phantasie in wundersamer Weise bildhaft gestaltete, was es bewegte, urwüchsig, eindringlich, ein Spiegelbild seiner Gefühlsund Gedankenwelt, liebenswürdig zwar in seiner Form, um so bedeutungsvoller aber in seinem Gehalte«.64

Mit dieser Ausrichtung auf die mündliche Überlieferung schafft Daube eine nicht zu verachtende Grundlage für seine musikalische Interpretation der Märchenopern Siegfried Wagners. Siegfried Wagners künstlerische Leistung besteht für ihn darin, durch eine vollendete Verbindung von Volks-

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märchen und musikalischer Form im »tiefsten Gemütsleben der Menschen« widerzuhallen.65 Seine musikalische Entsprechung findet das »Volk« Daube zufolge in den melodisch perfekten Liedformen, die Siegfried Wagners Opern auszeichnen und die sich vom Volkston »ganz natürlich zu Themen in Volksliedformen« entwickeln.66 Die veranschlagte Natürlichkeit entstehe dabei durch die einfache, in Daubes Worten »schlichte Liedform (einteilige, aus vier Motivteilen)«, wobei Daube auch zwei- und dreiteilige Liedformen in Siegfried Wagners BÄRENHÄUTER nachweist.67 Genau diese Themen aus »schlichten Liedformen« zeichnen die Ouvertüre des BÄRENHÄUTERS aus, deren Motive kurz gehalten sind und die aus zahlreichen Sequenzen besteht.68 Übergreifend lässt sich sagen, dass Siegfried Wagner – wie es sich auch schon an seiner Bezugnahme auf die Mediziner als Phantasie-bedürftige Besucher der Bayreuther Festspiele zeigt – musikalisch ganz im formell-strukturhaften verbleibt.69 Dies sieht auch Otto Daube, der sich anhand grundlegender Topoi des dualistischen Tonsystems (Dur/Moll) und der Funktionsharmonik (Dominante vs. Auslassung der Dominante, Nonenakkorde, Modulationen) an den musikalischen Charakteristika der Themen und Motive abarbeitet.70 In puncto des erzählerischen Gehalts dieser musikalischen Motive greift Daube wiederum auf die Philosophie zurück: Siegfried Wagner löst für Daube mittels der Themen das Schopenhauerische Verständnis eines musikalischen Dramas ein, in dem die Musik »gleichsam die Seele des Dramas [ist], indem sie, in ihrer Verbindung mit den Vorgängen, Personen und Worten, zum Ausdruck der inneren Bedeutung und der auf dieser beruhenden, letzten und geheimen Notwendigkeit aller jener Vorgänge wird.«71

Mithilfe Schopenhauers überführt Daube die Komposition Siegfried Wagners von einer rein dramatischen oder auch bildhaften Musik, »deren bloße Hülle und Leib die Bühne darbietet« in eine Darstellungsweise, die »das eigentliche und wahre Wesen [der Opernhandlung] ausspricht und uns die innerste Seele der Vorgänge und Begebenheiten kennen lehrt«.72 In der Annahme einer solchen Perspektive ist Siegfried Wagners Musik für Daube erzählend, »nicht nur, wenn es Menschen darzustellen gibt, sondern auch in ihrer Anwendung auf Erscheinungen und Vorgänge (z.B. das Geheimnis des Zaubersacks, Höllenfeuer, Schwefeldämpfe der Hölle [Bärenhäu-

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ter])«.73 Es ist diese erzählerische Komponente, die Siegfried Wagners Kompositionen von weiteren zeitgenössischen Komponisten absetzt und ihn letztendlich auch zum Künstler macht. Es fällt auf, dass bei Daube über die Volkstradition die Überschneidung von oraler Überlieferung in der Märchenforschung und praktischer Aufführung in den musikwissenschaftlich ausformulierten Erzähltheorien genauso präsent ist, wie Überlagerungen von Märchenmotiven und musikalischen Motiven bzw. Themen. Insgesamt erhebt er die aus der Volkstradition heraus entwickelte Form zur Urzelle der literarischen und musikalischen Märchenüberlieferung und setzt somit einen hauptsächlichen Kristallisationspunkt zwischen phantastischen Einfällen und praktischer Umsetzung im Bereich der musikalischen (statt sprachlich-literarischen) Komposition ins Zentrum seiner Überlegungen. Dies kommt ihm im Zuge der nationalistischen Ausrichtung seiner 1925 und 1936 erschienenen Schriften zu Siegfried Wagner zugute. Daube verlegte sich u.a. auf eine Art Wagnersche Geschichte des musikalischen Verfalls am Beispiel der vermeintlich nicht immer zwingenden Verknüpfung von Musik und Dichtung in der italienischen, französischen und deutschen Oper, die natürlich im Schaffen Richard Wagners ein gutes Ende findet.74 In diesem Sinne sucht er auch nach einer Form, die das Wagnersche Schaffen zwar ausformuliert, aber nicht frühromantisch, sondern zeitgenössisch auslegt, hier eben entsprechend des nationalistischen Klimas der Zwischenkriegszeit. In Bezug auf die Liedform kann er dabei an eine nationalistische Einstufung Humperdincks anknüpfen, der als Komponist von Märchenopern bis in die 1940er Jahre hinein ebenfalls als Aufbereiter des Volkslieds galt.75 Dieser zeitgenössische Bezug läuft parallel zur aktiven Rolle des »Volkes«, das die phantastische Welt des Märchens »im künstlerischen Abbilde […] von sich selbst festhielt«.76 Indem Daube die mündliche Überlieferung der Märchen und Lieder durch das »Volk« zu einem echten Schöpfungsakt stilisiert, deutet er an, dass die Erschaffung einer wahren künstlerischen Form auf der Grundlage einer märchenhaften Phantasie möglich ist. Neben Richard Wagner stehen dafür E.T.A. Hoffmann, Beethoven, Eichendorff, Schubert, Weber, Schumann und vor allem Tieck und Wackenroder Pate.77 Ein Blick auf die Überlegung von Märchenmotiven und VolksliedThemen zeigt, wie sehr Daube danach bestrebt ist, Siegfried Wagner in die Folge dieser »Romantiker« einzureihen. Märchenmotive tauchen in Daubes Abhandlung nämlich viel mehr noch als in seinen eher locker überlagerten

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literarisch- und musikalisch-motivischen Interpretationen in Bezug auf die Person Siegfried Wagners auf. Der »Dichterkomponist« kennt Daube zufolge alle märchenhaften Orte und Figuren in dem Maße, dass er selbst Teil dieser Märchenwelt ist und diese auch realiter als Ideal vor sich herträgt.78 Mithilfe dieser sprachlich-literarischen Fundierung ist Siegfried Wagner nicht als unproduktiver Künstler zu betrachten, wie es Daube durch das Anbringen von Selbstzeugnissen des Komponisten in Berglingerscher Manier unterstreicht: »›Daß ich nicht faul bin, kann aus der Tatsache ersehen werden, daß ich jetzt bei meiner dreizehnten Oper bin und daß ich noch mehrere dichterische Entwürfe skizziert habe. Sollte ich dereinst wegen irgendeiner Sünde in die Hölle kommen, so möchte ich mir wenigstens vom Teufel die Gunst erbitten, daß ich nicht in die Abteilung der Faulpelze komme.‹ Schlichte und humorvolle Worte, die Siegfried Wagner 1923 schrieb, und mit denen er dasselbe andeutet, was wir in den Jahren von 1905 bis 1914 im schöpferischen Künstler bestätigt sehen. Dort die überaus vielseitige, einen ganzen Menschen und eine volle Arbeitskraft erfordernde Tätigkeit […]. Hier die Fortsetzung des eigenen künstlerischen Lebenswerkes, trotz immer neuer Anfeindungen und Enttäuschungen durch die Öffentlichkeit.«79

Während Berglinger für Siegfried Wagner den Grundstein einer Situierung im Dichterischen bildete, stellt er innerhalb Daubes politischem Narrativ den Abschluss seiner Ausführungen des Schaffens und Schaffenshintergrundes des Komponisten dar. Im nationalistisch aufgeheizten Schrifttum der 1930er und 1940er Jahre schließt sich somit der Bayreuther Kreis von post-wagnerscher, wagnerianischer Selbstbeschreibung und spätromantischem Künstlertum an den Rändern der Moderne, und die Erzählung der Ouvertüre ist ein maßgeblicher Teil davon.

N ARRATIVE P OTENTIALE Die Analyse der Narrativisierung von Siegfried Wagners Ouvertüre des BÄRENHÄUTERS zeigt, dass es eine konkrete, zwingend folgende Überlagerung von Musik und Erzählung bei Siegfried Wagner und Daube im Grunde nicht gibt. Immer wenn es um den genauen Bezug zwischen Märchenmotiv und Liedform geht, verlegt sich Daube auf philosophische und litera-

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risch-kunsttheoretische Zitate. Was es gibt, sind netzwerkartig verbundene Argumentationsmuster, die sich im Laufe der Rezeptionsgeschichte von Werken und ihrer »Schöpfer« überkreuzend befruchten und sich gegenseitig zu vervollständigen bzw. abzurunden scheinen. Bleibt an dieser Stelle nur noch, die narrativen Potentiale von Musik aus der Sichtweise Siegfried Wagners und Otto Daubes zusammenzufassen: Im Vergleich mit Siegfried Wagners eigener nationaler Situierung zeigt sich relativ klar, inwiefern die Musik bei Daube tatsächlich ein stärkeres narratives Potential besitzt, während sie beim Komponisten selbst rein strukturell in Motiven verharrt: »Unsre außerordentlichen Forscher, allen voran Jakob Grimm, haben sich ein hohes Verdienst um das Deutschtum errungen, indem sie all diese zersplitterten, zerstreuten, oft bis zur Unkenntlichkeit umgewandelten, ursprünglich der Götter- und Heldensage entnommenen Motive sammelten.«80

Insofern liegen hier zwei differierende Entwürfe zur Narrativität von Musik vor, deren Grundlagen überkreuzt sind: Daube spricht Siegfried Wagner eine musikalische Einfühlung in die Charakterzüge deutscher Figuren zu; Siegfried Wagner wähnt sie bereits in den Motiven der Gebrüder Grimm »verdichtet«.81 Folglich wäre der referentielle Bezug Siegfried Wagners zur Sprache stärker ausgeprägt als bei Daube, der sich die Formen der Volkslieder auch intensiv in seinen didaktischen Entwürfen zum »Singenden Musizieren« im Abgleich mit der Jugendmusikbewegung zunutze machte.82 Siegfried Wagner versuchte, mittels der Märchen einen zeitgenössischen Abschluss der Romantik zu bilden, und berief sich dabei als Person auf die frühromantischen Ränder der Epoche der Romantik. Otto Daube verfolgte das Ziel, Siegfried Wagner für die zukünftige politische und kulturelle Ausrichtung Deutschlands zu vereinnahmen, wobei ihm das abstrakte und referentiell letztendlich bei ihm nicht konsequent auf sprachliche Inhalte angewandte Vokabular der Musik entgegenkam. Sowohl Siegfried Wagner als auch Daube unternahmen den Versuch, anhand von Motiven eine literarische Erzählung zu einer musikalischen zu machen und bei beiden wird dieser Abgleich in erster Linie über die Person Siegfried Wagners konstruiert. Warum Siegfried Wagners Musik im kulturellen Musikleben erzählen kann, ist um 1900 also eine Frage der geschichtlichen Rück- oder Vor-

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wärtsgewandtheit ihrer kompositorischen, aber auch empfindenden Urheber.

A NMERKUNGEN 1 Pretzsch, Paul: Die Kunst Siegfried Wagners. Ein Führer durch seine Werke mit zahlreichen Notenbeispielen, Leipzig 1919, S. 83. 2 Tilmann Köppe und Tom Kindt stellen die folgende »minimalistische Definition« von Erzählung auf: »Ein Text ist genau dann eine Erzählung, wenn er von mindestens zwei Ereignissen handelt, die temporal geordnet sowie in mindestens einer weiteren sinnhaften Weise miteinander verknüpft sind.« Köppe, Tilmann/Kindt, Tom: Erzähltheorie. Eine Einführung, Stuttgart 2014, S. 43. 3 DER BÄRENHÄUTER in 3 Akten von Siegfried Wagner. Ouvertüre, Leipzig 1899, S. 2. Peter Pachl übernimmt diese Erzählung bei der Präsentation des Bärenhäuters in seiner Siegfried Wagner-Biographie: »Dem kühn in die Welt tretenden Hans Kraft antwortet Monsieur Pferdefuß, der Teufel, doch das ›Ewig-Weibliche‹ hält schützend die Hand über Hans. Im Durchführungsteil der Ouvertüre entspinnt sich ein Kampf zwischen Hans und dem sich immer wütender gebärdenden Teufel, aber die Kraft der Liebe siegt.« Pachl, Peter P.: Siegfried Wagner. Genie im Schatten. Mit Opernführer, Werkverzeichnis, Diskographie und 154 Abbildungen, München 1988, S. 149. 4 Bei der dramatischen Ausrichtung von Ouvertüren im 19. Jahrhundert und dem Versuch, in ihnen die Handlung der Oper bereits vorzuzeichnen ist zu beachten, dass der Rezipient die Gehalte des vorangestellten Instrumentalstücks erst nach dem Anhören der gesamten Oper und der damit einhergehenden Verbindung von Motiven mit konkreten Bühnenhandlungen erkennen kann. Vgl. Steinbeck, Susanne: Die Ouvertüre in der Zeit von Beethoven bis Wagner. Probleme und Lösungen, München 1973, S. 145. 5 Wagner, Siegfried: Der Bärenhäuter. Populärer Führer durch Poesie und Musik von Walther Wossidlo, Berlin ca. 1900, S. 3f. 6 Zur dramatisch-programmatischen Ouvertüre vgl. Steinbeck (wie Anm. 4), S. 144-148. Zur Situierung der Ouvertüren Siegfried Wagners im Kontext der Konzertouvertüren des ausgehenden 19. Jahrhunderts vgl.

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McCredie, Andrew: »Erkenntnisse zur Frage der Instrumentalmusik in den Opern Siegfried Wagners. Vor- und Zwischenspiele sowie szenographische Musiken«, in: Siegfried Wagner-Kompendium 1. Bericht über das erste internationale Symposion Siegfried Wagner Köln 2001, hrsg. von Peter P. Pachl, Herbholzheim 2003, S. 93-144. 7 Der Verlag Max Brockhaus koppelte insgesamt 7 Instrumentalstücke aus DER BÄRENHÄUTER für Orchester sowie für 2- bzw. 4-händiges Klavier aus, vgl. Pachl (wie Anm. 3), S. 450. Die Nutzung der Erzählung bei der konzertanten Aufführung der BÄRENREITER-Ouvertüre geht aus Überschneidungen in der Wortwahl in einigen Musikkritiken um 1900 hervor: »The ouverture is not a masterpiece, but it is a vast improvement on the symphonic poem which the young composer produced a year or two ago at Queen’s Hall. It is certainly tuneful, and one of the principal themes even beautiful. A clear-cut rhythmical melody like this third Hans Kraft theme would be welcome in the work of any living composer. It is simple and ›volksmässig‹ but that should be no objection in an opera based on fairy tales. The composer is less happy in the working-out portion of his ouverture, where he becomes intricate and diffuse and extremely difficult. Lovers of musical coincidences may be interested to learn that one of Herr Wagner’s love themes, representing the ›ever-womanly‹, is, up to a certain point, identical with a love theme in Mr. Edward German’s ›Romeo and Juliet‹ music!« »Philarmonic Concerts«, in: The Musical Times 40/677 (Juli 1899), S. 464. 8 Thorau, Christian: Semantisierte Sinnlichkeit. Studien zu Rezeption und Zeichenstruktur der Leitmotivtechnik Richard Wagners, Stuttgart 2003, S. 110-138. Der erste Leitfaden von Wolzogens fällt dabei genau in die Entstehungs- und Premierenzeit des BÄRENHÄUTERS. 9 Paul Pretzschs Werkanalysen zeichnen eine solche Entwicklung vor. Pretzsch behauptete einerseits: »Die Eigenschaft, einen gegebenen poetischen Vorwurf in freier symphonischer Gestaltung erschöpfend zu behandeln, kommt ihnen [den Ouvertüren, GzN] jedenfalls zu, und damit ist auch jede Bezeichnung innerlich berechtigt. Die großen abgeschlossenen Ouvertüren oder Vorspiele, die Siegfried Wagner fast allen Werken voranstellte, halten sich, wie nicht anders zu erwarten war, von der Sonatenform der alten Ouvertüre fern und sind symphonische Prologe mit zumeist fünf Abschnitten.« Andererseits nahm

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Pretzsch eine Analyse der Ouvertüre nach Motiven vor, vgl. Pretzsch (wie Anm. 1), S. 39, 80-85. Daube, Otto: »Die Musik zu dem Märchenspiel«, in: ders., DER BÄRENHÄUTER. Ein Märchenspiel nach dem gleichnamigen Werke von Siegfried Wagner für die deutsche Jugend bearbeitet von Otto Daube, Leipzig 1924, S. 57f. Daube, Otto: Siegfried Wagner und die Märchenoper. Mit einer Einführung in DER BÄRENHÄUTER und AN ALLEM IST HÜTCHEN SCHULD und einem Lebensbericht, Leipzig 1936, S. 41. Nattiez, Jean-Jacques: »Can One Speak of Narrativity in Music?«, in: Journal of the Royal Musical Association 115/2 (1990), S. 240-257, hier S. 257. Meelberg, Vincent: »Sounds Like a Story: Narrative Travelling from Literature to Music and Beyond«, in: Narratology in the Age of CrossDisciplinary Narrative Research, hrsg. von Sandra Heinen/Roy Sommer, Berlin 2009, S. 244-260. Eine Verankerung der perspektivischen Wandlung innerhalb der Disziplin Musicology/Musikwissenschaft auf der Grundlage von Carolyn Abbates Arbeiten zur musikalischen Narrativität nahm kürzlich Jonathan Hicks vor, vgl. Hicks, Jonathan: »Musicology for Art Historians«, in: The Routledge Companion to Music and Visual Culture, hrsg. von Tim Shephard/Anne Leonard, New York 2014, S. 35-42, hier S. 39. Der MGG-Artikel zu Siegfried Wagner schließt mit dem Satz »Die Zunahme konzertanter und szenischer Aufführungen in jüngerer Zeit läßt auf ein vertieftes Interesse an den narrativen Strukturen seiner Musik schließen.« Jost, Christina: »(Helferich) Siegfried (Richard) Wagner«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil Bd. 17, Kassel/Stuttgart 2007, Sp. 367369, hier Sp. 369. Nattiez (wie Anm. 12), S. 249. Zum musikalischen Wissen bzw. musikalischer Erfahrung vgl. Meelberg (wie Anm. 13), S. 245-247. Zu einem Musikbegriff, in dem musikalischer Text und Kontext nicht getrennt sind, vgl. Becker, Howard S.: Art Worlds, Berkeley/CA 1982; Hennion, Antoine: »Music and Mediation. Towards a New Sociology of Music«, in: The Cultural Study of Music, hrsg. Von Martin Clayton/Trevor Herbert/Richard Middleton, New York/London 2003, S. 80-91.

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17 Erll, Astrid: »Narratology and Cultural Memory Studies«, in: Narratology in the Age of Cross-Disciplinary Narrative Research, hrsg. von Sandra Heinen/Roy Sommer, Berlin 2009, S. 212-227. 18 Zur Erinnerungskultur in Bezug auf Richard Wagner und die Bayreuther Festspiele vgl. zur Nieden, Gesa: »›An Wagner kommt man nicht vorbei.‹ Eine Ethnographie zur erinnerungskulturellen Rolle des schulischen Musikunterrichts der Nachkriegszeit für Mitglieder zeitgenössischer Richard Wagner-Verbände“, in: Beiträge der Wagner-Ringvorlesung zu Richard Wagner an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz vom Wintersemester 2013/2014, hrsg. von Axel Beer/Ursula Kramer (im Druck). 19 Siegfried Wagner sah in Engelbert Humperdincks Persönlichkeit die Gattung des Märchens gleichsam personifiziert: »Er war der Deutsche, wie er im Märchen steht. Als er mich einmal fragte, ob ich nicht einen guten Operntext für ihn wüßte, sagte ich ihm, er solle sich nur selber komponieren, das gäbe das beste Märchenspiel.« Wagner, Siegfried: Erinnerungen, Stuttgart 1922, S. 51. 20 Vgl. dazu die Eingliederung des BÄRENHÄUTERS in die Gattung des Märchens in einem Opernführer von 1903: »Das Textbuch, dessen Inhalt eine Verschmelzung der beiden Grimmschen Märchen DES TEUFELS RUSSIGER BRUDER und DER BÄRENHÄUTER ist, hat sich Siegfried Wagner selbst gedichtet. Ein starkes theatralisches Talent und ein hoch entwickelter Sinn für bühnenwirksame Bilder sprechen daraus. Die Sprache weicht von der der modernen Operntextbücher durch ein klares, ungekünsteltes Deutsch ab. Die Figuren sind echt deutsche Märchenfiguren, gemüt- und humorvoll. Wenn der Teufel auch nicht ganz so schlimm, wie man ihn sich vorzustellen gewohnt ist, gezeichnet ist, und wenn auch »Der Fremde«, eine frei, aber nicht glücklich erfundene Figur des Dichterkomponisten, zu sehr an den »Wanderer« in seines Vaters SIEGFRIED erinnert, so geht doch durch das ganze Textbuch ein so sympathischer Zug, dass wir gerne, ohne auf weniger gelungene Kleinigkeiten zu achten, folgen.« Wagner, Siegfried: Der Bärenhäuter, Köln 1903, S. 4. 21 Burzawa-Wessel, Ewa: »Siegfried Wagner (1869-1930) als DichterKomponist«, in: Deutsche Oper zwischen Wagner und Strauss. Tagungsbericht Dresden 1993 mit einem Anhang von der DraesekeTagung Coburg 1996, hrsg. von Sieghart Döhring/Hans John/Helmut

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Loos, Chemnitz 1998, S. 211-217. Eine klare musikhistorische Einstufung Siegfried Wagners nimmt Jens Malte Fischer vor, vgl. Fischer, Jens Malte: »Im Schatten Wagners. Aporien und Auswege der nachwagnerschen Opernentwicklung«, in: Oper im 20. Jahrhundert. Entwicklungstendenzen und Komponisten, hrsg. von Udo Bermbach, Stuttgart 2000, S. 28-49, hier S. 42-43. Zur überschaubaren biographischen bzw. Gesamtwerk-bezogenen Literatur zu Siegfried Wagner vgl. exemplarisch das Literaturverzeichnis in Jost (wie Anm. 14), Sp. 369. Zum Kreis der Autoren zu Siegfried Wagner vgl. Kröplin, Eckart: »›Letzte Romantik‹. Siegfried Wagner und Richard Strauss als Komponisten von Märchenopern«, in: Märchenoper. Ein europäisches Phänomen, hrsg. von Matthias Herrmann/Vitus Froesch, Dresden 2007, S. 7885, hier S. 80. Daube (wie Anm. 11). Im Hinblick auf das Bayreuther Netzwerk vgl. z.B. die Bibliographie, die Otto Daube seinem Artikel zu Siegfried Wagner in der alten MGG beigibt: Daube, Otto: »Wagner, Siegfried Helferich Richard«, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine Enzyklopädie der Musik, hrsg. von Friedrich Blume, Bd. 14, Kassel 1968, Sp. 84-88, hier Sp. 86. Vgl. die Einstufung der Märchenoper als eine zentrale Gattung des post-wagnerschen Epigonentums. Fischer (wie Anm. 21), S. 36, 42-45. Pöge-Adler, Kathrin: Märchenforschung: Theorien, Methoden, Interpretationen, Tübingen 2011, S. 24-30, 186-193. »Viele Funktionen gruppierte Propp paarweise als Opponenten, z.B. Verbot – Verletzung des Verbots, Verhör – Verrat, Kampf – Sieg, Verfolgung – Rettung.« Ebd., S. 188. Abbate, Carolyn: Unsung Voices: Opera and Musical Narrative in the Nineteenth Century, Princeton/NJ 1991, Kap. 1, insb. S. 28f.; Nattiez (wie Anm. 12), S. 245. Neuhaus, Stefan: Märchen, Tübingen 2005, S. 5. Paradebeispiele hierfür wären Fugen mit Haupt- und Seitenthema, aber auch die schon weiter oben von Daube genannte Sonatenhauptsatzform, die ebenfalls auf zwei Themen basiert. Pöge-Adler (wie Anm. 27), insb. S. 55. Kröplin (wie Anm. 23), S. 80.

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33 Hans von Wolzogens Thematischer Leitfaden durch die Musik zu Richard Wagner‘s Festspiel DER RING DES NIBELUNGEN erschien 1876 in Leipzig. 34 Goethe, Johann Wolfgang: »Annalen 1802«, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche: vierzig Bände, Bd. 17, hrsg. von Irmtraut Schmid, Frankfurt am Main 1994, S. 107. 35 Wackenroder, Wilhelm Heinrich/Tieck Ludwig: Phantasien über die Kunst [1799], Stuttgart 1973, S. 59-63, hier S. 62f. 36 Zum Topos des Schlafes/des Traums vgl. Wagner (wie Anm. 5), S. 9, 11, 26f. und 29. 37 Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Berlin 1797, S. 236f., 269. 38 Zur diegetischen Musik vgl. Wagner (wie Anm. 5), S. 20f. 39 Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders, Berlin 1797, S. 239f. 40 Kap. Fragment aus einem Briefe Joseph Berglingers, in: Wackenroder, Wilhelm Heinrich/Tieck, Ludwig: Phantasien über die Kunst [1799], Stuttgart 1973, S. 75-77, hier S. 75. 41 Goehr, Lydia: The Quest for Voice: Music, Politics and the Limits of Philosophy, New York 1998, S. 83- 86. 42 Zitiert nach Pachl (wie Anm. 3), S. 142f. 43 Borchmeyer, Dieter: »Liszt und Wagner. Allianz in Goethes und Schillers Spuren«, in: Wagnerspectrum 7/1 (2011), S. 69-82. 44 Pontzen, Alexandra: Künstler ohne Werk. Modelle negativer Produktionsästhetik in der Künstlerliteratur von Wackenroder bis Heiner Müller, Berlin 2000, S. 45. 45 Daube (wie Anm. 11), S. 124. 46 Gunther Fleischer beschreibt die Verbindung von Musik und Religion in Siegfried Wagners »religiöser Biographie« folgendermaßen: »Sein kompositorisches Erweckungserlebnis ist ein musikalisches wie religiöses gleichermaßen. Zusammen mit seinem Freund Harris hört er den Bach’schen Passionschoral O HAUPT VOLL BLUT UND WUNDEN bei einem Aufenthalt in Singapur, also dort, wo er ihn am wenigsten erwartet hätte. Er soll das einzige musikalische Fremdzitat in Wagners Opern – einschließlich der heiligen Linde – werden.« Fleischer, Gunter: »Das religiöse Weltbild Siegfried Wagners«, in: Pachl (wie Anm. 6), S. 303329, hier S. 311.

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47 Wagner (wie Anm. 19), S. 172f. 48 In Bezug auf die Berufswahl besteht eine Parallele zu Siegfried Wagners langem Oszillieren zwischen Komposition und Architektur während seiner Ausbildung. 49 Pontzen (wie Anm. 44), S. 45. 50 Sasse, Günter: »Berlingers ›Kampf zwischen seinem ätherischen Enthusiasmus und dem niedrigen Elend dieser Erde‹. Die Funktion der Musik in Wackenroders Novelle DAS MERKWÜRDIGE MUSIKALISCHE LEBEN DES TONKÜNSTLERS JOSEPH BERGLINGER«, in: Ereignis und Exegese. Musikalische Interpretation. Interpretation der Musik. Festschrift für Hermann Danuser zum 65. Geburtstag, hrsg. von Camilla Bork/Tobias Robert Klein/Burkhard Meischein/Andreas Meyer/Tobias Plebuch, Schliengen 2011, S. 349-357, hier S. 352, 357. 51 Auch Günter Sasse deutet Berglingers Tod als Folge seiner »Depression mit seiner familialen Sozialisation« und nicht »um der Musik willen«. Sasse (wie Anm. 50), S. 355, 357. 52 Vgl. dazu Siegfried Wagners Abschlussplädoyer in Wagner (wie Anm. 19), S. 178-180. 53 Pontzen (wie Anm. 44), S. 81-82. Vgl. auch ebd., S. 67. 54 Naumann, Barbara, »Nachwort«, in: Die Sehnsucht der Sprache nach der Musik. Texte zur musikalischen Poetik um 1800, hrsg. von ders., Stuttgart/Weimar 1994, S. 245-274, hier S. 255. 55 Naumann, Barbara: Musikalisches Ideen-Instrument. Das Musikalische in Poetik und Sprachtheorie der Frühmoderne, Stuttgart 1990, S. 41. 56 Die meisten der Aufsätze aus PHANTASIEN ÜBER DIE KUNST stammen aus den HERZENSERGIEßUNGEN (»darum trifft der Leser hier den Namen Joseph Berglinger wieder an«), neu dazu kommen Aufsätze und Briefe Berglingers aus der Hand Tiecks. Wackenroder, Wilhelm Heinrich/ Tieck, Ludwig; Phantasien über die Kunst [1799], Stuttgart 1973, S. 5. Auch Arne Stollberg sieht, dass »Wagners Ästhetik in direkter Linie auf die Frühromantiker zurückzuführen sein [mag], auf Wackenroder, Tieck und Hoffmann […]«. Stollberg, Arne: Ohr und Auge – Klang und Form. Facetten einer musikästhetischen Dichotomie bei Johann Gottfried Herder, Richard Wagner und Franz Schreker, Stuttgart 2006, S. 116. 57 Wagner (wie Anm. 19), S. 48.

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58 Daube, Otto: »Ich schreibe keine Symphonien mehr«. Richard Wagners Lehrjahre nach den erhaltenen Dokumenten, Köln 1960, S. 39-41. 59 Ebd., S. 49. 60 Ebd., S. 45 und 54. Hervorhebungen im Original. 61 Ebd., S. 66. 62 »Die große Welt seines dramatischen Kunstwerks und die Ideen von erlösender Liebe und Wahnentsagung als die edelsten Motive menschlichen Handelns, dabei die geschlossene, meisterhafte dramatische Form der Dichtungen und nicht zuletzt das große Verdienst, unsere Volkssagen und Märchen nicht nur wiedererweckt, sondern uns auch innerlich nahe gebracht zu haben, all das erhebt den Meister zu einem echten deutschen Dichter und Führer seines Volkes. Denn deutsch ist sein Werk, wie das Bayreuth seines großen Vaters.« Daube, Otto: Siegfried Wagner und sein Werk. Ein Handbuch, Bayreuth 1925, S. 47. Hervorhebungen im Original. 63 Ebd., S. 35, 43. 64 Daube (wie Anm. 11), S. 19. 65 Daube (wie Anm. 62), S. 45f. 66 Daube (wie Anm. 11), S. 31. 67 Ebd., S. 31. 68 »Groß aufgebaute Sequenzreihen finden sich im ‚Bärenhäuter‘ stets im Dienste des Ausdrucks und der Darstellung.« Ebd., S. 28. 69 Dies bestätigen auch zeitgenössische Musikkritiken: »As in Humperdinck’s HÄNSEL UND GRETEL, so in Der Bärenhäuter we find simple rhythmical melodies. So far as one can watch from the vocal score, the composer shows considerable skill, but his father’s amour is, for the present, at any rate, too heavy for him, while his attempts at ordinary melody are not as characteristic and refined as one could wish. The music is interesting rather than strong; of real individuality we find but little, if any, trace.« The Musical Times 40/672 (Februar 1899), S. 93. 70 Daube (wie Anm. 11), S. 37-42. 71 Zitat von Daube aus Schopenhauers DIE WELT ALS WILLE UND VORSTELLUNG (1819) in Daube (wie Anm. 11), S. 37. 72 Ebd., S. 37. 73 Ebd., S. 41. 74 Daube (wie Anm. 62), S. 35-43.

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75 Veit, Joachim: »Der ›Deutsche, so wie er im Märchen steht‹. Zu Engelbert Humperdincks Position in der Wagner-Nachfolge«, in: Deutsche Frauen, deutscher Sang – Musik in der deutschen Kulturnation, hrsg. von Rebecca Grotjahn, München 2009, S. 54-78, hier S. 54. 76 Daube (wie Anm. 11), S. 20. Hervorhebungen im Original. 77 Daube (wie Anm. 62), S. 18; Daube (wie Anm. 11), S. 18. 78 »Hier ist die Heimat des künstlerischen Menschen in Siegfried Wagner. Hier kennt er jede Zauberblume, jeden Wunderquell, das verborgene Haus im Walde, in dem der Menschenfresser wohnt, den Eingang zur Hölle und zum Totenreich, den Weg über die Himmelswiese, wo man sich mit Sonne und Mond unterhalten kann, den Nixenteich und das düstere Reich der schwarzen Schwäne. Alle guten und bösen Wesen der Natur sind ihm bekannt; er sieht sie, lauscht ihnen ihre Sprache ab, er weiß, wer den Menschen gut und wer ihnen böse gesinnt ist, ja er fürchtet sich vor Tod und Teufel nicht. Der Pferdefuß, der Oberteufel, und seine kreuzbrave Ellermutter haben es ihm besonders angetan, Mit ihnen verkehrt er auf du und du, denn er weiß, daß man nur das Herz auf dem rechten Fleck haben muß, um sie für immer loszuwerden. Ist’s nur im Märchen so?« Daube (wie Anm. 11), S. 20. Zum Bezug Hans Kraft – Siegfried Wagner vgl. Pachl (wie Anm. 3), S. 152. 79 Daube (wie Anm. 11), S. 113. 80 Wagner (wie Anm. 19), S. 149f. 81 Zur Wichtigkeit der Dichtung für Siegfried Wagner und zur »Dichtung« als »Verdichtung« vgl. Braune, Isolde: »Siegfried Wagners Libretti. Textbücher oder Dichtungen?«, in: Pachl (wie Anm. 6), S. 168-182, insb. S. 170. 82 Vgl. u.a. seine Publikationen Singendes Musizieren. Aufgaben und Wege der Musikerziehung im 4. bis 6. Schuljahr, Dortmund 1959 und Was das Volkslied von der Musik erzählt, Dortmund 1953.

»Quasi-Bilder« Arnold Schönbergs Erzählen als »Abstraktum der Wirklichkeit«

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Keines der drei Elemente der Frage »kann Musik erzählen« kann sich auf eine verbindliche Basis berufen. Weder gibt es »das Erzählen« noch weniger »die Musik«, noch ist die Frage der Vermögen von Musik unabhängig von den ästhetischen Diskursen verschiedener Zeiten zu beurteilen, geschweige denn von Lebenswelt und Kenntnissen der Hörer. Und zu guter Letzt ist Musik kein handelndes Subjekt – sie selbst kann nicht erzählen.1 »Musik und Narratologie – dieses Thema hat mittlerweile eine 25-jährige Geschichte und kann heute nicht mehr als cutting edge gelten.«2 So schließt der jüngst erschienene Beitrag MUSIK UND NARRATIVITÄT von Birgit Lodes. Dass es um diese Frage dennoch nicht zur Ruhe kommt, liegt an der – oft durchaus produktiven – Reibung verschiedener historischer und kultureller Konzepte von Erzählen und von Musik. Nach einer kurzen historischen Hinführung soll für diese Behauptung ein Kronzeuge deutscher Musiktradition aufgerufen werden: Arnold Schönberg. Sein Schaffen zwischen spätromantischen und modernen Strömungen sowie die Rezeption seiner Musik im 20. Jahrhundert bilden den Diskurs über erzählende Musik – wie gezeigt werden soll – geradezu idealtypisch ab, weswegen beides hier als Beispiel herangezogen wird. Wenn Musik so erzählen könnte wie Literatur, wäre sie keine Musik mehr. Aber wie und ob wir dieses Erzählen wahrnehmen, unterliegt vielfältigen historischen Faktoren, die unter anderem mit Hilfe der Auslegungstraditionen von Schönbergs Streichsextett VERKLÄRTE NACHT op. 4 erhellt werden sollen.

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»To speak credibly of narratography in music we need to relate musical processes to specific, historically pertinent writing practices.«3 Diese Forderung Lawrence Kramers vor fast 20 Jahren führte bislang zu keiner systematischen Entsprechung in der Forschung. Auch in der Erzählforschung hat sich eine historische Narratologie, obwohl vielfach als Desiderat benannt,4 bislang nicht etabliert.5 Dabei liegt auf der Hand, dass sich die Erzählstrategien Musils nicht ohne weiteres mit denen Boccaccios vergleichen lassen. Und dass diese historischen Kontexte eine simple Übertragung narrativer Elemente auf ein anderes Feld wie die Musik, nicht gerade einfacher gestalten, sei an einem Beispiel kurz gezeigt. Johann Mattheson beschrieb im 18. Jahrhundert ein Notenblatt aus seiner Sammlung, auf dem eine zweistimmig Komposition des im Jahrhundert zuvor tätigen Komponisten Johann Jacob Froberger notiert war. Es handelte sich um die ALLEMANDE FAITE EN PASSANT LE RHIN DANS UNE BARQUE EN GRAND PÉRIL, LA QUELLE SE JOÜE LENTEMENT Â LA DISCRETION aus der SUITE XXVII e-Moll, wahrscheinlich von 1654.6 Das Besondere an dieser kurzen Komposition besteht in 26 Ziffern, die bestimmten musikalischen Motiven oder Klängen zugeordnet sind und in einem unter den Noten stehenden Text mit bestimmten Ereignissen einer Geschichte verknüpft werden. Froberger berichtet in diesem Text von einem vorgeblich persönlichen Erlebnis während einer Reise mit dem Grafen von Thurn, auch Datum und Mitreisende sind benannt. Nach einer ausgiebigen Feier in St. Goar bis in die frühen Morgenstunden, wollte sich die Festgesellschaft auf das Schiff zurückziehen, mit welchem man seit einiger Zeit den Rhein bereiste. Ein gewisser Monsieur Mitternacht betrat das Schiff als letzter und musste feststellen, das bereits alle Plätze mit Schlafenden belegt waren. In seiner Müdigkeit wollte er sich im Beiboot zur Ruhe begeben, und vorher, der Bequemlichkeit halber, seinen Degen einem Bootsmann reichen, wobei er unglücklicherweise ins Wasser fiel. Darauf kommt es unter den an Bord gebliebenen und durch den Lärm erwachten Mitreisenden zu turbulenten Szenen. Nach beträchtlichem Hin und Her entgeht Mitternacht knapp dem Ertrinken, als ihn ein wackerer Bootsmann mit einer langen, hakenbewehrten Stange aus dem Wasser fischt. Den Musikkritiker Mattheson bewegte die Durchsicht des Blattes, zusammen mit einigen Daten zu Frobergers Leben zu der Bemerkung:

Q UASI -B ILDER

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»Es hat der berühmte Joh. Jac. Froberger, Kaisers Ferdinand III. Hof-Organist, auf dem blossen Clavier gantze Geschichte, mit Abmahlung der dabey gegenwärtiggewesenen, und Theil daran nehmenden Personen, samt ihren GemüthsEigenschafften gar wol vorzustellen gewusst. Unter andern ist bey mir eine Allemande mit der Zubehör vorhanden, worin die Überfahrt des Grafens von Thurn, und die Gefahr so sie auf dem Rhein ausgestanden, in 26 Noten-Fällen ziemlich deutlich vor Augen und Ohren gelegt wird. Froberger ist selbst mit dabey gewesen.«7

Nebenbemerkung: Dem gattungstheoretischen Einwand, dass es sich hier um eine Beschreibung und nicht um eine »gantze Geschichte«, mithin nicht um Narrativität im eigentlichen Sinne handle, kann die neue Erzählforschung begegnen. Beschreibungen gehören nach Fludernik deswegen zentral zum Bereich der Erzählung, weil über diese »die fiktionale Welt erst kreiert wird, in der die Akteure dann auftreten. Auch Handlungen müssen de facto beschrieben werden, nämlich in ihrer Aufeinanderfolge und vor allem attributiv in ihrer Bedeutung«8. Mattheson war der Meinung, die »Noten-Fälle« würden die beschriebenen Ereignisse »deutlich vor Augen und Ohren« bringen, mithin narrative Funktion ausüben. Da die Existenz der ALLEMANDE durch seine Bemerkungen zwar bekannt war, aber das originale Manuskript mit den erzählerischen Verweisen erst 1999 wiederentdeckt wurde, gab es zwischen Mattheson und dieser Zeit keine Analysen oder Bemerkungen. Durch Matthesons Beschreibung war es aber denjenigen bekannt, die sich mit darstellender Musik beschäftigten. Der Verfasser des ersten Buches über Programmmusik beispielsweise, Otto Klauwell, geht auf verschiedene von Frobergers malerischen Kompositionen ein und kommt nach der Beschreibung eines anderen Beispiels (die ALLEMANDE war ja nicht aufzufinden) zu dem Schluss: »Es ist wohl überflüssig zu sagen, daß es auch der kühnsten und naivsten Phantasie nicht gelingen wird, Beziehungen des von Froberger gelieferten zweiteiligen Stückes […] zu dem geschilderten Vorgang aufzufinden, und wir müssen es dem Komponisten schon auf sein ehrliches Wort hin glauben, daß er die Dinge wirklich habe darstellen wollen.«9

Diese »Dinge« der ALLEMANDE wurden zwar teilweise intensiv gesucht, waren (und sind) jedoch ohne die minutiös notierten Erklärungen Frober-

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gers nicht zuzuordnen. Wäre das nicht ohnehin ein Gemeinplatz des Sprechens über erzählende Musik, wäre dies im Falle Froberger durch die erfolglose Suche nach der richtigen ALLEMANDE bestätigt: Unter den vielen infrage kommenden Stücken, die von dem Komponisten vorlagen (auch besagte ALLEMANDE in einer anderen, nicht beschrifteten Quelle) wurden allerhand Versuche der Identifizierung der durch Mattheson beschriebenen »Überfahrt« unternommen – keiner der Forscher tippte auf das richtige Stück.10 Die Beschreibung der Ereignisse ist jeweils mit Nummern versehen, die kleinen Läufen oder Verzierungen, also verschiedenen musikalischen Bewegungsformen, zugeordnet sind, deren eine oder andere Wendung augenfällig bildhaft ist. So z.B. der Fall ins Wasser, dessen aus Überbindungen und Motiven losgelöstem plötzlichem Klang ein paar Noten in die tieferen Register hinein nachklappen, oder das aufgeregte Gerenne der Personen auf dem Schiff mittels kleiner Laufpartien. Auch die lange Rettungsstange des Bootsmanns wird repräsentiert durch einen Zweiunddreißigstel-Lauf, deren drei Balken schon aussehen wie eine Stange und die nach oben laufenden Noten bilden den nach oben gehenden Rettungsversuch ab. Das »klägliche Schreien« des Verunglückten ist erwartungsgemäß via Seufzermotivik und einer verminderten Harmonik (die die Not untermalt) dargestellt, das letzte Aufbäumen des Schwimmers, dank dessen der Bootsmann ihn zu fassen bekommt, findet sich in dem Erreichen des bislang höchsten Tones wieder. Die musikalischen Mittel sind daher zwar »äußerst stilisiert« und vielleicht auch »emblematisch«, kaum aber »verschlüsselt«, »vielschichtig« und »geheim«11, wie Peter Wollny apologetisch bemerkt, offensichtlich um den nach wie vor als pejorativ empfundenen Sachverhalt des Programmatischen zu nobilitieren. Was eine »Abmahlung« sein kann, änderte sich schon zwischen Mattheson und Klauwell beträchtlich, vielmehr noch seit der Emanzipation der Filmmusik. Was dort unter dem Begriff des »Mickeymousing« geschieht, war zur Zeit Frobergers nicht nur musikalisch undenkbar, sondern die ALLEMANDE ist auch im Rahmen von Gattungskonventionen zu verstehen. Es handelt sich um eine zweiteilige Klaviersuite mit ausnotierter Ornamentation – nichts, was diese Musik von vergleichbaren, nicht mit einem Programm oder einem sprechenden Titel unterlegten Suitensätzen unterscheiden würde. Die »Abmahlung« ist in der Tat auch nicht recht hörbar, sondern vielmehr – unter der Voraussetzung der genau nummerierten Ereignis-

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se und dem Vorliegen der Geschichte – sichtbar. Insofern ist Wollny einerseits durchaus zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass es sich nicht um programmatische Musik im eigentlichen Sinne handele12 – vorausgesetzt jedoch, man nimmt Programmmusik des 19. und 20. Jahrhunderts zum Modell. Mattheson, Klauwell und Wollny interpretieren Frobergers ALLEMANDE nicht nur deshalb unterschiedlich, weil sie verschiedene, gleichsam technische Ansprüche und Erwartungen an eine Komposition haben, sondern auch, weil sie unterschiedlichen Erzählkulturen angehören. Der Inhalt des »Berichtes« lag Mattheson noch deutlich näher als Klauwell, weshalb die Wahrnehmung eines narrativen Potentials in Frobergers erzählenden Kompositionen stark in einen historischen Diskurs und dessen Literarizität und Ästhetik eingebunden ist und keinesfalls davon losgelöst beurteilt werden sollte. Und das liegt nicht nur an der Erzählart, sondern mindestens ebenso an dem anderen Publikum, welches Froberger im Blick hatte. Es handelt sich um eine ›ergötzliche‹ Unterhaltung aus höfischen Kreisen für ebendiese. Matthesons 18. Jahrhundert war noch voll von solchen Berichten über den Grafen X und die Hochzeit von Y oder das große Malheur des Barons von Z, auch bürgerliche Gesellschaftsschichten waren zunehmend an solchen Journalen und Almanachen beteiligt und interessiert.13 Sich wandelnde Erzählstrategien sind immer auch ein Zeichen der sich wandelnden Erwartungshaltungen der Leser und umgekehrt.14 Bei der Frage nach musikalischen Erzählungen sollte also immer zunächst die literarische Erzählkultur und nicht zuletzt die jeweils bevorzugte Art und Weise Musik zu narrativieren im Vordergrund stehen. »Produktion und Rezeption von […] Literatur unterliegen Bedingungen, die sich auf dem Weg in die Moderne mehrfach einschneidend ändern werden. Damit könnte aber auch infrage stehen, ob und wie narratologische Terminologie und Analyse auf sie anzuwenden sind.«15

Näher und leichter zugänglich als die Zeit Frobergers (und Matthesons) scheint die Rezeptionskultur des 19. Jahrhunderts.16 So untersucht beispielsweise Leon Botstein17 die Wechselwirkungen zwischen Lesekultur, musikalischem Hören und Komposition durch das Erstarken einer bestimmten bürgerlichen Literarizität in Zeitschriften, Konzertkritiken, musikalischen ›Baedekern‹ sowie der massenhaften Verbreitung des Klavieres mit

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zunehmender Nachfrage an leicht spielbarer ›lesbarer‹ Literatur und der sinkenden Fähigkeit einer ›rein musikalischen‹ Rezeption. In diesem Zusammenhang auch muss natürlich der sogenannte Parteienstreit genannt werden, der, so sieht es im Rückblick aus, die musikalische Kultur in zwei Lager spaltete: die Neudeutschen und die Verfechtern der absoluten Musik. Aber auch dieser stellt sich keinesfalls im gesamten 19. Jahrhundert auf die gleiche Weise dar. Hatte E.T.A. Hoffman das »malende« Genre abgewertet, waren doch seine Bemerkungen im Hinblick auf eine ästhetische Begründung von reiner Instrumentalmusik zu verstehen und noch lange nicht gleichzusetzen mit den Überlegungen Hanslicks zu einer absoluten Musik, wie sie den Diskurs des 20. Jahrhunderts prägen sollten. Für Hoffmann war es kein Widerspruch, Tonmalerei mit Spott zu begegnen und in Beethovens Sinfonien als »entzückte[r] Geisterseher« »Riesenschatten« oder »Glühende Strahlen«18 aufzufinden. Nachdem die Fraktion der »absoluten Musik« sich im späteren 19. Jahrhundert gegen die Neudeutschen zur Wehr setzte, geriet das assoziative Hören immer mehr in Verruf, es »hat an ästhetischsozialem Prestige eingebüßt«19 gibt Dahlhaus in seinen »Thesen über Programmmusik« zu bedenken. Und im 20. Jahrhundert, nachdem die Meinungsführer einer neuen Ästhetik auch Tondichtungen der Jahrhundertwende für radikal veraltet hielten, wurde assoziatives Hören schließlich gar zum Zeichen mangelnder Musikalität im Allgemeinen und sei, wie es Musikästhetiker wie Heinrich Schole ›untersuchten‹, allenfalls noch bei musikalisch Ungebildeten anzutreffen.20 Assoziatives Hören wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehr und mehr als Ersatz für die Fähigkeit zum formalen Hören verstanden und erstarkte parallel zu einer sich entwickelnden Formenlehre in der theoretischen Musikbetrachtung. Mithin wurden Kompositionen, deren Schwerpunkt weniger auf motivisch-thematischem Entwickeln lag als auf tonmalerischen oder programmatischen Elementen als ästhetisch immer fragwürdiger befunden. ›Formlosigkeit‹ gehört(e) zu den härtesten Urteilen für eine Komposition und narrativ ›verdächtiger‹ Musik, wie Beethovens PASTORALE wurde durch Analysen von August Halm oder Heinrich Schenker motivisch-thematische Entwicklung bestätigt, die ihre programmatischen Elemente erfolgreich verblassen ließ.21 Im beginnenden 20. Jahrhundert scheuten Interpreten sogar nicht davor zurück, die eindeutig programmatischen Werke Franz Liszts auf die rein technischen Aspekte der Komposition zu reduzieren, um sie dem Publikumsgeschmack überhaupt noch als annehm-

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bar zu empfehlen.22 Dahlhaus kritisiert zwar in seinen »Thesen über Programmusik«, solche Analysen behandelten die Sinfonischen Dichtungen als »Petrefakt«, da sie die Tatsache ausblendeten, »daß Liszts symphonische Dichtungen von einer Bildungstradition getragen wurden, deren Zerfall sie nicht ungebrochen überlebt«23 hätten. Dahlhaus eigene Meinung ist – auch wenn er sich bemüht, als Historiker eine neutrale Position zu reklamieren – verräterisch mindestens in seiner Wortwahl: Liszts Idee der Programmmusik erscheine heute als »hybrider Irrtum über den die Geschichte hinweg gegangen ist.«24 In dieser Situation findet sich Arnold Schönberg vor: Assoziatives Hören ist verpönt und Form und motivisch-thematische Entwicklung sind der Fetisch. Trotzdem schreibt der Komponist über verschiedene Schaffensperioden hinweg immer wieder Musik, die erzählt, malt, berichtet, Zeugnis geben will und biographische Auskunft vermittelt. Das führte zu der einigermaßen kuriosen Situation, dass seine Apologeten und Ausleger seitdem mit großem Eifer versuchen, diese Musik entweder als Jugendwerke25 stehen zu lassen, oder mittels motivisch-thematischer Analysen ihr ›eigentliches‹ Wesen als absolute Musik nachzuweisen. Die Werke, an denen sich diese Schönberg-Forscher von Anfang an rieben, waren vor allem das Streichsextett VERKLÄRTE NACHT op. 4 (1899) und die Symphonische Dichtung für Orchester op. 5, PELLEAS UND MELISANDE (1902/03). Schönbergs ergebener Schüler Anton von Webern fertigte 1912 eine Analyse von PELLEAS UND MELISANDE an und sprach über die Durchführung und Verarbeitung von thematischem Material ohne das zugrunde liegende literarische Programm auch nur zu erwähnen. In dieser Komposition, die »noch« symphonische Dichtung sei, so Theodor W. Adorno, sei nicht mehr der »literarischprogrammatische Lückenbüßer« zu finden wie noch bei Strauss und Wolf.26 Erst in seiner zweiten Periode, nach 1903, würde Schönberg indes wirklich zu sich selbst finden: »Literarisches Programm, üppige instrumentale und vokale Mittel, alles Fassadenhafte der Erscheinung verschwindet.«27 Erhellend ist auch Adornos Verwendung der Bezeichnung des »Neudeutschen« in Bezug auf dieses »Frühwerk«. Offenbar möchte er in Zusammenhang mit Schönberg den Begriff des Programmatischen weitgehend vermeiden und wenn er es nicht vermeiden kann, solches aufzufinden, dann soll diese Programmatik doch wenigstens im elaboriert ästhetischen Sinne eines Franz Liszts verstanden werden. Schreibt er noch 1930 in seiner »Stilgeschichte in Schönbergs

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Werken« von den »neudeutschen Anfängen«28 von Schönbergs Musik (die freilich »dialektisch« seien), ist 1957 in VERKLÄRTE NACHT, in PELLEAS UND MELISANDE sowie in den GURRELIEDERN das Material nur noch im »gröbsten Sinne« Wagnerisch, die »neudeutschen Sequenzen fehlen fast ganz.«29 Adorno scheint mithin im Laufe seines Lebens in seiner Beurteilung des PELLEAS durchaus zu schwanken. Seine Bemerkungen zur Form des Stückes implizieren beispielsweise eine gar nicht rein absolute Musik: VERKLÄRTE NACHT und PELLEAS UND MELISANDE würden »den Verlauf der Form dem der Dichtung anschmieg[en]«30, und in der erwähnten späteren Schrift heißt es gar, sie »sind nach Abschnitten komponiert, die denen des literarischen Vorwurfs entsprechen, und reihen eine Vielzahl von Themen aneinander.«31 Letztere Beobachtung ist eigentlich ein finales Urteil: außermusikalisch motivierte Reihung statt Sonatenform! – dem Carl Dahlhaus mit »Schönberg und die Programmusik« 1974 glaubt, entschieden entgegentreten zu müssen. Der »ästhetisch fragwürdige Text« (gemeint ist die der Komposition zugrunde liegende Dichtung) würde zwar den »formalen Umriß« der VERKLÄRTEN NACHT bestimmen, »ohne daß aber die Form der Musik von außen aufgezwungen wäre.«32 Adornos Vorwurf der »Aneinanderreihung« münzt er um in einen »Rondo-Grundriß, der dem Werk formalen Halt gibt«, zudem sei er »übersponnen von einem Netz thematischmotivischer Zusammenhänge«33. Und nach dieser (von Dahlhaus unbelegten) Setzung kommt nur eine Conclusio infrage: »Das Vorurteil, die Tendenz zur Programmatik sei nichts als ein Versuch, brüchige musikalische Formen zu rechtfertigen und durch einen literarischen Zusammenhang herzustellen oder vorzutäuschen, der musikalische nicht bestehe, erweist sich demnach als untriftig.«34

Auch hier verrät sich Dahlhaus durch die Wortwahl; das »Vorurteil« ist ganz offenbar das eigene, »brüchige musikalische Formen« müssen gerechtfertigt werden (gelten nicht brüchige literarische oder malerische Formen des frühen 20. Jahrhunderts als Avantgarde?), literarischer Zusammenhang dient offenbar per se der Täuschung – glücklicherweise erweist sich dies in Bezug auf Schönberg ja alles als »untriftig«. Diesen Nachweis auch für PELLEAS UND MELISANDE zu erbringen, erfordert von Dahlhaus nichts weniger denn eine »vierfache Determination« des Stückes: »als musikalische Szenenfolge, als eine durch wechselnde Konfiguration

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von Leitmotiven erzählte oder angedeutete Geschichte, als symphonischer Zyklus und als symphonischer Satz«35. Zwar kommt Dahlhaus nicht umhin zuzugeben, dass die musikalische Form »einer Erzählung gleicht«, über das eigentliche ausschlaggebende Moment der das ganze Werk umfassenden »Umrisse einer Sonatensatzfom«36 lässt er jedoch keinen Zweifel. Diese Ideen entlehnt Dahlhaus namentlich einer anderen Analyse des Werkes: derjenigen Alban Bergs. Auch dieser Schüler Schönbergs widmete sich 1920 in einer Schrift unter dem Titel »kurze thematische Analyse« PELLEAS UND MELISANDE. In einer umfassenden Untersuchung dieser Schrift beurteilt Derrick Puffett (nicht zufällig eben kein deutscher Akademiker) Bergs Schlussfolgerung die Form betreffend: »Such an idea which seeks to turn a piece of fin de siècle programme music into something ›pure‹ and ›abstract‹ (and thus more fitting for late twentieth-century consumption), is profoundly subversive aesthetically.«37

In wenigen Worten erklärt Berg die äußere Handlung der Komposition zur Idee, welche die Musik »nur in ganz großen Zügen« wiedergebe: »Nie ist sie rein beschreibend; immer wird die symphonische Form absoluter Musik gewahrt.«38 Sein »nie« und »immer« kontrastiert dabei mit der Fußnote, mit der er sein »nie rein beschreiben« versieht: Wenn er, Berg, in der folgenden Analyse den Motiven oder Themen Namen gäbe, dann habe das nur den Zweck der leichteren Vermittlung: »Es darf nicht daraus geschlossen werden, daß für das Auftreten eines so bezeichneten Themas tatsächlich dessen literarischer Inhalt allein maßgebend ist.«39 Seiner Frau Helene beschreibt Berg jedoch ohne Zögern von den literarisch geleiteten Stellen, deren Musik ihn so beeindruckt hat (Melisandes Tod, Golos Gewissensbisse, die weinende Dienerschaft am Bett Melisandes etc.)40 Die ›offizielle‹ Analyse des PELLEAS, eines Werkes mit »strong narrative elements« so Puffett »in terms of sonata form […] had a clear historicist agenda«41. Die Prinzipien der zweiten Wiener Schule sollten als natürliche Entwicklung von dunklem Romantizismus hin zu Klarheit und Modernität in jedem ihrer Werke aufzufinden sein. Auch Schönberg selbst hätte nach 1920 begonnen, seine eigene Entwicklung umzuschreiben und diese

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»›reconstructed‹ version of his early history is the one that has become generally accepted, not only by orthodox Schoenbergians such as Reich and Stuckenschmidt but also by the musical world at large.«42

So glich es lange Zeit geradezu akademischem Selbstmord, Schönberg der Programmmusik zu bezichtigen; die wenigen (nicht deutschen) Versuche bleiben vorsichtig und wirken in ihrer Argumentation nicht immer überzeugend. Der Verfasser einer Monographie zu »Programmatic Elements in the Works of Schoenberg«, Walter Bailey, beruft sich in einer Ausgangsbemerkung auf einen Aufsatz von Kurt List 1945, der bereits die relativ große Anzahl an Werken mit programmatischen Konnotationen festgestellt habe. Gerade List aber ist ein Zeuge für das Unbehagen an Schönbergs programmatischen Werken und dem daraus folgenden Rechtfertigungsdrang. Die von Bailey verwendete Stelle lautet im Zusammenhang: »Nevertheless, even Schoenberg did not escape the program completely. Of fortyseven original works, twenty-nine have some program connotations, but the program is restricted to a title, a motto, or the words of a song, and the absolute in the work is scarcely invalidated.«43

List war also der Meinung: Das »Absolute im Werk ist kaum entkräftet«44. Baileys eigene, eher kurze Besprechung des Werkes mündet in der recht vorsichtigen Feststellung: »Despite its programmatic subject, the work results from an intermingling of absolute and programmatic elements.«45 Dabei weist er explizit auf die Tatsache hin, dass nahezu alle Analysen der VERKLÄRTEN NACHT »tended to focus on its purely musical organization.«46 Es ist unbestritten, dass Schönbergs Musik jeder Untersuchung mit traditionellen Analysemethoden schier unerschöpfliche Nahrung liefert. Aber in der Zusammenstellung dieser Rezeptionslinie stellt sich durchaus die Frage, gegen was sich die Elite musikalischen Denkens im 20. Jahrhundert mit ihren geradezu beschwörenden Analysen so ausdrücklich wehrt. Neben den in der ersten Hälfte dieses Beitrags beschriebenen musikästhetischen Traditionen, zu denen man sich positionieren musste, wenden sich solche Bemerkungen nämlich auch gegen die latente Position des Komponisten selbst: Gegen Arnold Schönbergs immer wieder durchscheinenden Hang zur musikalischen Erzählung. Narrativität findet darin auf verschiedenen Ebenen statt. Mal ist es die tatsächliche Abfolge von Handlungen in Musik

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gesetzt wie in PELLEAS UND MELISANDE nach Maurice Maeterlinck, mal die Schilderung innerer Zustände nach Strindbergschem Vorbild in der ERWARTUNG oder der GLÜCKLICHEN HAND, mal die Erzählung (u.a.) als Selbstversicherung wie in EIN ÜBERLEBENDER AUS WARSCHAU oder als dramatisierte religiös-ästhetische Bilderfolge wie in der JAKOBSLEITER oder MOSES UND ARON. Dabei ist Schönbergs Terminologie genauso wenig einheitlich wie die Arten seiner Erzählungen. So wird es auch im Folgenden zunächst um den Begriff des Bildhaften gehen,47 den Schönberg vermittelnd als »QuasiBilder« auffasst, um dann schließlich aufzuzeigen, dass dahinter zumindest in der früheren Phase der klare Wunsch des Erzählens steht, der aufgrund der ästhetischen Debatten vom Komponisten möglicherweise nur zurückhaltend geäußert wurde. Zwar könne man, wie bereits Bailey festhält, von keiner einheitlichen Haltung in Bezug auf Programmmusik bei Schönberg sprechen,48 aber eine solche blitzt eben immer wieder hervor. Zahlreiche Bespiele wären hier zu nennen, wie Schönbergs kaum verhohlenes Bedauern, gewisse Elemente wie »private biographische Andeutungen […] Schilderung, Leitmotive Zusammengehen der Stimmung oder Handlung der Szene« sollten »jetzt nicht mehr vorkommen«49 Oder die Erinnerung einer Schülerin, Schönberg habe von seinem ersten Streichquartett gesagt, es hätte ein »very definite, but private« Programm, über das er jedoch nicht sprechen wolle, denn »one does not tell such things anymore«50. All dies wurde unter Schönbergs ›merkwürdige‹ Metaphysik subsummiert, die dann gelegentlich als programmatisches Element durchscheine, wie der erwähnte List anmerkt: »the strange metaphysics appeared in his works as programmatic features.«51 Auch jüngere Beiträge gehen in diese Richtung, wie jener von Peter Ackermann: »Vor dem eigenen ästhetischen Anspruch verblassen die [...] programmatischen Erläuterungen Schönbergs zum bloß Akzidentellen am musikalischen Kunstwerk, dessen Wesen in der absolut-musikalischen Formung, dem Ausbrechen aus den Grenzen des Programms liegt.«52

Zwei Gedanken sind in diesem Zitat bemerkenswert: Erstens entstammen Schönbergs »programmatische Erläuterungen« einem Text von 1949, in denen der Komponist Figuren, Ereignissen und Momenten der Handlung sehr präzise Motive und Stellen zuweist, die jene »darstellen« oder als diese

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»erscheinen«. Gleich der dritte Satz von Schönbergs Analyse lautet: »Abgesehen von nur wenigen Auslassungen und geringfügigen Veränderungen in der Reihenfolge der Szenen, versuchte ich jede Einzelheit widerzuspiegeln.«53 Diese ziemlich eindeutige Erläuterung soll nun, wie Ackermann zum Nachweis anführt, durch den 1912 im Blauen Reiter abgedruckten Beitrag »Das Verhältnis zum Text« »verblassen«. Wenig nachvollziehbar ist diese These auch insofern, als dass Schönberg nicht gezwungen war, derart klar Stellung zu beziehen, selbst wenn der Verleger ihn um Erläuterungen bat. Zumal diese Stellungnahme im kompositorischen Umfeld der Nachkriegszeit durchaus anachronistisch wirken musste, was Schönberg nicht unbekannt gewesen sein wird. Zweitens liegt der Bemerkung Ackermanns, der Text sei »bloß akzidentiell« ein Missverständnis bezüglich der von ihm unmittelbar zuvor festgestellten Übernahme Schönbergs von Schopenhauerschem Gedankengut zu Grunde.54 Vor dem Hintergrund von Schopenhauers Philosophie, mit welcher sich Schönberg (freilich auf seine eigene Art und Weise und nicht immer widerspruchsfrei) intensiv auseinandersetzte, stellt sich »Das Verhältnis zum Text« denn auch anders als »bloß akzidentiell« dar.55 Die Musik steht genaugenommen bei Schopenhauer »zum Text und zur Handlung im Verhältniß des Allgemeinen zum Einzelnen, der Regel zum Beispiele«56. Schönbergs gesamter Aufsatz wird von diesem Problem geleitet, ein Umstand, der bislang nicht deutlich genug dargelegt worden ist57: Wie verhält sich diese »Regel zum Beispiele« und was folgt daraus für das Musikverstehen? Schönberg wehrt sich zunächst gegen die Vorstellung, Text und Musik müssten auf einer oberflächlich sichtbaren bzw. hörbaren Ebene »parallelgehen«58. Dies müsse vielmehr auf einer »höheren Ebene«59 stattfinden, so wie ein wahres Portrait nicht dem Portraitierten, sondern dem Künstler, der sich ausgedrückt habe »in einer höheren Wirklichkeit«60 ähnlich sehe. Die Idee eines Parallelismus auf höherer Ebene entlehnt Schönberg Schopenhauer, der »durchaus keine unmittelbare Aehnlichkeit, aber doch ein[en] Parallelismus […] zwischen Musik und zwischen den Ideen«61 fordert. Schönberg zitiert Schopenhauer sogar explizit in seinem Aufsatz, und von dem Vielen, das er hätte anführen können, ist seine Wahl bezeichnend ›unmodern‹ – der »wundervolle Gedanke« Schopenhauers lautet:

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»Der Komponist offenbart das innerste Wesen der Welt und spricht die tiefste Weisheit aus, in einer Sprache, die seine Vernunft nicht versteht; wie eine magnetische Somnambule Aufschlüsse gibt über Dinge, von denen sie wachend keinen Begriff hat.«62

Der Komponist ist als Genie im romantischen (und insbesondere Schopenhauerschen) Sinne der Einzige, der das wahre Wesen der Welt schaut. Der Satz, der bei Schopenhauer dem zitierten unmittelbar vorausgeht, könnte denn auch das ästhetische Motto Schönberg sein: »Die Erfindung der Melodie, die Aufdeckung aller tiefsten Geheimnisse des menschlichen Wollens und Empfindens in ihr, ist das Werk des Genius, dessen Wirken hier augenscheinlicher, als irgendwo, fern von aller Reflexion und bewußter Absichtlichkeit liegt und eine Inspiration heißen könnte.«63

Selbstausdruck durch Inspiration wird zur tieferen Wahrheit, durch den Komponisten ausgesprochen. »Wie eine Somnambule«, so behauptet Schönberg weiter im Text, habe er selbst auch die Lieder Schuberts ganz ohne Text in ihrem wahren Sinne aufgefasst und seine eigenen ebenso komponiert (dass es sich hier um eine Stilisierung handelt ist evident, dazu sind Schönbergs Text-Musik-Bezüge in den Liedern zu ausdifferenziert.)64 Nun stellt sich aber das Problem, dass, sobald diese tiefere Wahrheit ausgesprochen, d.h. in Begriffe gefasst ist, missverständlich wird und sich das »beschränkte Auffassungsvermögen des geistigen Mittelstandes«65 dazu ermächtigt fühlt, nur noch »über Musik, die sich irgendwie auf Text bezieht: über Programmusik, Lieder, Opern etc.«66 zu schreiben und durch den angenommenen simplen Parallelismus gar »Genies« wie Wagner falsches Textverständnis unterstelle.67 Aber Schönberg verwirft das ›Nacherzählen‹ von Musik nicht, er unterscheidet nur, wer dies warum tut. Wagners Versuche beispielsweise, Beethovens Sinfonien Programme zu unterlegen weil »er dem Durchschnittsmenschen einen mittelbaren Begriff von dem geben wollte, was er als Musiker unmittelbar erschaut hatte«68 waren »recht«. Denn Wagner hatte die Fähigkeit des »reinen Schauens«: wie die »magnetische Somnambule« nämlich »empfing« Wagner den Eindruck vom »Wesen der Welt« und es war daher verständlich, dass er sich der Dichtkunst bediente, um uns daran teilhaben zu lassen. Interessanterweise gibt es in dem Schopenhauerschen Paragraphen ebenfalls eine Stelle zur

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Narrativierung der Beethoven-Sinfonien (die sich freilich nicht auf Wagner bezog, der Band erschien 1819, vielleicht jedoch auf E.T.A. Hoffmanns Rezension der FÜNFTEN SINFONIE von 1810, die eingangs kurz erwähnt wurde). Schopenhauer schwankt, genau wie Schönberg, wie mit dem starken »Hang, sie [die Sinfonien], beim Zuhören, zu realisiren, sie, in der Phantasie, mit Fleisch und Bein zu bekleiden und allerhand Scenen des Lebens und der Natur darin zu sehen« umzugehen ist. Und Schopenhauer schließt, wie Schönberg, es sei »besser, sie in ihrer Unmittelbarkeit und rein aufzufassen.«69 »Besser« bedeutet jedoch nicht, dass das andere generell zu unterbleiben habe. Denn aus diesen Sinfonien sprächen, so Schopenhauer, »alle menschlichen Leidenschaften und Affekte: die Freude, die Trauer, die Liebe, der Haß, der Schrecken, die Hoffnung u. s. w. in zahllosen Nüancen, jedoch alle gleichsam nur in abstracto und ohne alle Besonderung: es ist ihre bloße Form, ohne den Stoff, wie eine bloße Geisterwelt, ohne Materie.«70

Schönberg attestiert Schopenhauer denn auch prompt, dieser hätte sich eben nicht immer seiner Berufung als Philosoph entziehen können und habe »eine Übersetzung in die Begriffe« unternommen, wozu er allerdings auch wieder »berechtigt« gewesen sei.71 Auch Franz Liszt gehört für Schönberg in diese Reihe, durch den »fanatischen« »Glaube[n] seines Trieblebens«72, der ihn vom Normalmenschen unterscheide, so Schönberg in seinem Würdigungsaufsatz von 1911. Denn Schopenhauers Genieästhetik formt auch Schönbergs Bild von Liszt: »Das Werk, das vollendete Werk des großen Künstlers aber ist vor allem von seinen Trieben erzeugt, und je schärfer er in sie hineinzuhorchen, je unmittelbarer er sie auszudrücken vermag, desto größer ist sein Werk.«73

Diesem »dunklen, aber hochstrebenden Triebe«74 hätte Liszt nur mehr vertrauen sollen, denn, so Schönbergs ›Kritik‹: »Das war sein Irrtum, daß er den bewußten Verstand ein Werk vollenden ließ, das ohne diesen vollkommener gelungen wäre.«75 Der Begriff, den Schönberg für den wahren Künstler verwendet (und den Dahlhaus vehement abzuschwächen sucht76) ist der des Propheten. Die ›wahren Genies‹ wie Schopenhauer oder Wagner waren für Schönberg in der Lage, das wahre Wesen der Welt zu schauen und wollen davon erzäh-

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len. Wie dieses reine Schauen in die Anschauung transformiert werden soll, ist Schönbergs lebenslanges Thema. Liszt hat seine »Übersetzungsfehler«77, Schopenhauers Versuch, die Musik »in unsere Begriffe zu übersetzen« konnte nur die »Armut«78 darstellen und Wagner »würde diese Folgen seiner mißverstandenen Bestrebungen unbedingt desavouieren.«79 Wie kann reines Schauen in prophetisches Sprechen umgemünzt werden? Dieses Thema treibt Schönberg in der Zeit der VERKLÄRTEN NACHT um, wie ein Manuskript über das Erzählen im Folgenden zeigen wird, es beschäftigt ihn in den 1910er Jahren in praktisch allen Texten und in der zwölftönigen Periode gipfelt sie schließlich gar als eines der zentralen Themen in seiner einzige Oper: MOSES UND ARON. Moses sagt in seinen letzten, auskomponierten Worten (die Oper bricht dort ab und bleibt Fragment): »Darf Aron, mein Mund, dieses Bild machen?« Moses, der Prophet, braucht einen ›Übersetzer‹, der den rein geschauten Gedanken für das Volk formt. Nachdem dies jedoch misslingt, lässt der Prophet (im unvollendeten Teil, von dem nur noch das Libretto besteht und das Schönberg nicht vertont hat) Aron fesseln und klagt ihn an, er sei dem Zauber der Bilder verhaftet: »du weilst selbst in den Bildern, die du vorgibst, fürs Volk zu erzeugen. Dem Ursprung, dem Gedanken entfremdet, genügt dir dann weder das Wort noch das Bild«. Statt also den Gedanken rein aufzufassen und weiterzugeben, wirft er ihm vor: »Du sagst es schlechter, als du es verstehst, denn du weißt, daß der Felsen ein Bild, wie die Wüste und der Dornbusch«. Und er beschließt sein Urteil: »Hier beherrschen die Bilder bereits den Gedanken, statt ihn auszudrücken.«80 Dem »Übersetzungsfehler« Liszts, Wagners, Schopenhauers und Arons möchte Schönberg ausweichen, was zu einer nicht durchgehend konsistenten Verwendung seiner Terminologie führt.81 Ein Interview in einer Rundfunksendung des NBC von 1933 ist dazu aufschlussreich, vielleicht gerade weil er sich an ein amerikanisches Publikum wendet und nicht an deutsche Kritiker. Hier entwirft Schönberg für seine von ihm so empfundene Sonderstellung in der Vermittlung zwischen erzählender und absoluter Musik, zwischen der Vorherrschaft von Gedanken über Bilder und umgekehrt, den Terminus der »Quasi-Bilder«. Der Interviewer Alfred Lundell fragt dort den Komponisten, warum er nach VERKLÄRTE NACHT, welches man in der Sendung zuvor hörte, seinen Stil geändert habe. Und Schönberg ist es wichtig zu betonen, dass er im Grunde immer innere Bilder in Musik gebracht habe, gleich in welchem Stil:

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»My fance, my imagination. The musical pictures I had before me. I have always had musical visions before me, all the time I was writing still in the more classical mode, in the earlier days [deleted: I was haunted by pictures in my mind and by other musical designs.] Then finally, one day, I had courage to put on paper this pictures I had seen in music.«82

Da der Begriff des Bildes doch sehr in Richtung Programmmusik weist, möchte der Interviewer darauf offenbar gerne eine Positionierung Schönbergs zwischen absoluter und abbildender Musik erwirken, doch Schönbergs Antwort lässt den Hörer in der Schwebe: »LUNDELL: But, Mr. Schoenberg, these pictures you saw in your mind, and which you finally had the courage to put down in music on paper, they were not pictures of flowers and brooks and thunderstorms, or landscapes? SCHOENBERG: No, it was music and tones – It is not a transcription of natural scenery. Musical figures and themes and melodies I call pictures. It is my idea that it is a musical story with musical pictures. – Not a real story, and not real pictures – Quasi pictures. LUNDELL: Would you call it absolute – pure music? SCHOENBERG: No, I do not prefer to call it that. Fancy is the dominant forte which drives the artist, and it is not of great difference to me, whether it is a poetic idea or a musical idea. A musician can always only see music, and the cause is of no importance. I am not against what you call ›program music.‹«83

Schönberg will demnach weder ein musikalischer Landschaftsmaler sein, noch als Komponist absoluter Musik verstanden werden. Er spricht gemäß seiner Überzeugung des prophetischen Schauens in der Sprache des Künstlers aus, was er sieht. Der letzte Satz wird dabei nahezu immer ausgespart, wenn dieses Interview zitiert wird, denn er scheint dem Vorangehenden, das entgegen Schönbergs Abwehr doch nach absoluter Musik klingt, zu wiedersprechen. Als der Interviewer dann noch fragt, ob beschreibende Musik auch »thoroughly good music« sein könne, antwortet Schönberg: »Yes, if a composer can describe a skyscraper, a sunrise, or springtime in the country – that is all right, the cause and the source of is irrelevant [deleted: the inspiration is not important.]« Auch bei dieser Antwort kann man unterschiedlich gewichten. Vor dem Hintergrund des Komponisten als eines ›Übersetzers‹ ist die Art und Weise des Zustandekommens genau

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dann unwichtig, wenn der Komponist es »kann« – so wie der »Frühling auf dem Lande« (nach dem der Interviewer nicht gefragt hat) natürlich ein Verweis auf Beethovens SECHSTE SINFONIE darstellt. Und bei Beethoven ist es offenbar für Schönberg »in Ordnung«84. Dahlhaus möchte Schönbergs Werke unabhängig davon beurteilt wissen »ob man die These, daß die Musik den Text nicht illustriere, sondern das innerste, der Sprache unzulängliche Wesen der Dinge ausdrücke, akzeptiert oder aber als fragwürdige Metaphysik abtut, unabhängig also von dem Urteil über Schönbergs Ästhetik«85. Was er durch diese Haltung zu gewinnen glaubt, wurde gezeigt: Schönberg schuf absolute Musik und begründete eine reine Ästhetik der Neuen Musik frei von romantischen Schatten. Was Dahlhaus und seine Nachfolger jedoch durch diese Lesart verlieren, ist eine bestimme Art des Hörens, eine, die Schönberg selbst offenbar für wichtig befand. Unter zahlreichen vom Arnold Schönberg Center Wien in den letzten Jahren online publizierten, bislang wenig bekannten Dokumenten befindet sich auch ein Manuskript, eingeordnet unter »around or before 1900«, dass Schönberg als jemand zeigt, der nichts mehr wünscht, als in seiner Musik eine gute Erzählung zu schreiben. In dieser Hinsicht hat er sich zwar später nicht mehr öffentlich geäußert, es ist jedoch bemerkenswert, dass der Komponist sich in der Zeit seiner dezidiert programmatischen Kompositionen eindeutig von der Idee des Erzählens leiten lässt. Bereits hier bewegt Schönberg, wie eine Umsetzung dieser Erzählung zu ermöglichen sei und seine Antwort (um 1900) lautet: Stilisierung. Das ist nichts anderes als die »Quasi-Bilder« der Rundfunksendung von 1933 oder die »Nachdichtungen« Richard Wagners. Da dieses Fragment bislang, soweit ich sehe, keine weitere Beachtung gefunden hat (weil es nicht recht in die Deutungslinie der anerkannten Schönberg-Interpretation passt) sei es hier im Ganzen wiedergegeben: »EINIGE IDEEN ZUR BEGRÜNDUNG EINER MODERNEN KOMPOSITIONSLEHRE. Die Kompositionslehre nimmt als den alleinigen Anlass zum Entstehen einer musikalischen Komposition das Thema an, bestenfalls das Motiv. Es scheint mir dies mehr als zweifelhaft zu sein. Nach zwei Richtungen: ich vermute den Anlass anderswo, und erkenne den Zweck des Motivs in einer anderen Wirkung. Ich wünsche jemandem eine Geschichte zu erzählen, mit der ich mir seine Theilnahme, sein Mitgefühl zu verbinden hoffe. Zu diesem Zweck muss ich mich bemü-

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hen seine Aufmerksamkeit auf jene Punkte meiner Erzählung zu lenken, von denen ich mir besondere Wirkung verspreche. Angenommen, dass gewisse Ereignisse nahezu ohne künstlerische Zutat, wirken, so kann ich die Sorge um die rein stofflichen Effekte meiner Erzählung zunächst vernachlässigen. So genügt auch bei einfachen Vorgängen, freudigen oder traurigen Erlebnissen wie sie jeder erlebt die rein historische Aufzählung der Tatsachen, meist die bloße Anführung der Tatsache allein, wie bei Geburten, Verlobungen, Todesfällen und Ähnlichem. Andere Ansprüche an meine Darstellung zu richten komme ich erst in die Lage, wenn der zu berichtende Vorgang kompliciert, ungewöhnlich ist, oder, wenn es meine Absicht ist, mit meiner Erzählung noch andere, außerhalb des Stofflichen liegende Wirkungen zu erzielen. Zum Beispiel, Interesse für meine Person zu erwecken, ungewöhnliche oder befremdende Stimmungen auszulösen, Perspektiven didaktischen oder philosophischen Inhaltes zu offenbaren. Hier tritt die Frage nach der besten, wirkungsvollsten Anordnung, nach Aufbau in den Vordergrund, beansprucht Berücksichtigung neben dem Gegenständlichen, wo nicht gar Bevorzugung. Hier bin ich genöthigt bis zu einen gewissen Grade von der reinen Wahrheit abzugehen; ich kann mich nicht mehr damit begnügen die Dinge und Geschehnisse so darzustellen, wie sie sind, wie sie sich zugetragen haben; ich muss die Reihenfolge der Ereignisse ändern; muss Dinge die zu hell sind dunkler färben, dunkle heller tönen; ich muss Unwesentliches bescheidener darstellen, Wesentlichem breiteren Raume, bevorzugte Stellung und die äußeren Attribute eines bedeutenderen Auftretens zuerkennen. Ich muss oft auflösen, auseinanderfallen lassen, wo meine Geschichte in der Wirklichkeit zusammenzog; aber ich muss dort zu sammeln trachten wo ich es für meine specielle Wirkung nötig habe. Ich entferne mich also von der Thatsache, setze mich über sie hinweg, stelle mich, den Erzähler, über sie. Ich verzichte auf ihre Wirkungen und trachte besondere anders geartete zu erzielen. Dieser erste Schritt weg von der Naturnachahmung ist der erste Schritt in die Kunst und das ist: Stilisierung.«86

Schönbergs VERKLÄRTE NACHT ist auf ihre eigene – Schönberg nennt es hier »stilisierte« – Weise erzählende Musik. Schönberg übernimmt nicht nur die Form des zugrundeliegenden Gedichtes aus Richard Dehmels WEIB UND WELT von 1896, die Elemente der Handlung (nebeneinander durch die Nacht gehen, Monologe, Gefühle, Naturwahrnehmung) sondern er lässt seine Komposition mehr erzählen, als es das Gedicht kann. Gottfried Scholz hat das in seiner Analyse eindrücklich für bestimmte Stellen heraus-

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gearbeitet. Besonders in diesem Zusammenhang ist der Schlussteil der Komposition: Das Paar setzt seinen Gang durch die Nacht fort, nachdem die Frau ihre sie so sehr belastende Beichte abgelegt und der Mann ihr großmütig verziehen hat und »[n]och sind ihre Gedanken erfüllt von all dem Gesagten.«87 Den Elementen der Beichte, den Gefühlen der Frau, der Reaktion des Mannes, hatte Schönberg thematisches Material und harmonische Felder zugeordnet, die er jetzt, ohne das Formmodell einer Reprise zu bemühen, überlagert. Ihn interessierten hier mithin nicht die formalen Elemente »absoluter« Musik, sondern die narrativen. Die »intensiv nachhängenden Gedanken« kann der Hörer wahrnehmen und gleichzeitig der »objektiven Schilderung des Weiterschreitens«88 lauschen, untermalt von der Schönheit der Nacht. (Diese dichte Verwebung hatte den Komponisten sehr intensiv beschäftigt.89) Schönbergs eigener Kommentar von 1950 benennt diesen Teil fast lapidar: »Ein langer Coda-Abschnitt beschließt das Werk. Sein Material besteht aus Themen der vorausgehenden Teile. Alle sind von neuem verändert, wie um die Wunder der Natur zu verherrlichen, die diese Nacht der Tragödie in eine verklärte Nacht verwandelt haben.«90

Schönbergs »Verklärung« ist der Schluss einer Geschichte, den Dehmels Gedicht in Worten nur andeuten kann. Sie ist ein erzählendes »Quasi-Bild«. Die Frage »kann Musik erzählen« ist nicht unabhängig von historischen Kontexten zu beantworten. Keine systematische Theorie kann sowohl den Schwung, mit dem eine Zweiunddreißigstelkette bei Frohberger in einer hochstilisierten Suite einen armen Monsieur aus dem Wasser zu fischen sucht, als auch die sich in der nachklingenden inneren Erzählung findenden Liebenden im Mondlicht der komplexen Themenverdichtung in der VERKLÄRTEN NACHT adäquat erfassen. Das liegt zum einen an der Bekanntheit der musikalischen Mittel in der dazugehörenden Kultur zu einer bestimmten Zeit. Je geschlossener dieses System ist, desto besser können musikalische Chiffren semantischen Feldern zugeordnet werden. Auf der anderen Seite liegt es aber auch im jeweils vorherrschenden ästhetischen Wertungssystem. Wenn in der Nachfolge Hanslicks große Instrumentalmusik absolut zu sein hatte und die Form dieser von allem Äußerlichen befreiten Instrumentalmusik bestimmte Kriterien zu erfüllen hatte, wie möglichst eine Sonatenform und motivisch-thematisches Entwickeln91 müssen andere

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Formen zwangsläufig abgewertet und damit seltener werden und aus einer festen Hörgewohnheit zunehmend verschwinden. Eine Aneinanderreihung musikalischer Ereignisse, die womöglich lautmalerisch oder abbildend ohne erkennbare traditionelle Form auskommen, konnte lange auch wissenschaftlich nicht gleichwertig behandelt werden, weshalb man ihr möglicherweise erzählendes Potential nicht zur Kenntnis nahm – so z.B. der sehr umfangreiche Korpus an musikalischen Schlachtengemälden im 18. und 19. Jahrhundert.92 Musikalische Narrativität ist dann nicht »cutting edge«, wie eingangs zitiert, wenn sie nur aufgerufen wird, um gängige ästhetische Muster mit neuen Etiketten zu versehen. Wir können aber nicht beides haben: Eine Ästhetik der absoluten Musik und tatsächlich erzählende Elemente. Eine musikalische Erzählung ohne die dazugehörende Ästhetik – mag sie uns auch fremd sein, wie Frohbergers ›Ergötzlichkeiten‹ oder Schönbergs prophetisches Schauen – ergibt schlichtweg keinen Sinn. Musik kann dann erzählen, wenn wir sie – je vor ihrem eigenen Hintergrund mit einer angemessenen historischen Terminologie – erzählen lassen.

A NMERKUNGEN 1 An diesem klassischen Gegenargument ändern auch Vergleiche aus der Literaturwissenschaft zum unsicheren oder abwesenden Erzähler wenig, vgl. z.B. bei Almén, Byron: »Narrative Archetypes: A Critique, Theory, and Method of Narrative Analysis«, in: Journal of Music Theory 47/1 (2003), S. 1-39, insbes. S. 8-10. Sie betreffen nicht das logische Grundproblem: Musik ist kein Subjekt, eine schlichte Antropomorphisierung verstellt eine produktive Sicht auf die interessanten Fragen von Referenz und Ausdruck. Hier hilft auch die Einführung der »musical persona« durch Jerrold Levinson nicht weiter, vgl. ders., Contemplating Art, Oxford 2005. 2 Lodes, Birgit: »Musik und Narrativität«, in: Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. von Michele Calella/Nikolaus Urbanek, Stuttgart 2013, S. 367-382, hier S. 379. 3 Kramer, Lawrence: »Musical Narratology: A Theoretical Outline«, in: ders., Classical Music and Postmodern Knowledge, Berkeley 1996, S. 98-121, hier S. 101.

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4 Haferland, Harald/Meyer, Matthias (Hrsg.), Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven, Berlin /New York 2010. Vgl. auch Hühn, Peter/Pier, John/Schmid, Wolf/Schönert, Jörg (Hrsg.), Handbook of Narratology, Berlin 2009. 5 Die 1999 von Ansgar Nünning geforderte kontextabhängige und diachrone Narratologie scheint noch nicht auf einer breiten Basis der narratologischen Konzepte angekommen, vgl. ders.: »Towards a Cultural and Historical Narratology. A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects«, in: Anglistentag 1999 Mainz. Proceedings, hrsg. von Bernhard Reitz/Sigrid Rieuwerts Trier 2000, S. 345-373. 6 Zur Datierung und philologischen Einordnung vgl. Wollny, Peter: »›Allemande faite en passant le Rhin dans une barque en grand peril‹. Eine neue Quelle zum Leben und Schaffen von Johann Jacob Froberger«, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz (2003), S. 99-115, hier S. 112. 7 Mattheson, Johann: Der vollkommene Capellmeister, hrsg. von Friederike Ramm, Kassel 1999 [1739], Teil II, Kap. 4, § 72, S. 216. 8 Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006, S. 131. 9 Klauwell, Otto: Geschichte der Programmusik von ihren Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig 1910, S. 28. 10 Z.B. Siedentopf, Henning: Johann Jacob Froberger. Leben und Werk, Stuttgart 1977; Rampe, Siegbert: »26 + 5 + 26 = 57 = 2 x 26 + 5. Zur Zuschreibung neu entdeckter Clavierpartiten an Johann Jacob Froberger (1616-1667) Teil I«, in: Concerto. Das Magazin für alte Musik 174 (Juni 2002), S. 23; ders.: »26 + 5 + 26 = 57 = 2 x 26 + 5. Zur Zuschreibung neu entdeckter Clavierpartiten an Johann Jacob Froberger (1616-1667), Teil II und Schluss«, in: Concerto. Das Magazin für alte Musik 175 (Juli/August 2002), S. 28. Die 26 im Titel von Rampes Beitrag war auf Matthesons Erwähnung der »26 Noten-Fälle« bezogen und wurde von Rampe auf einen 26-Töne umfassenden abwärts führenden Lauf eines anderen Stückes bezogen. Vgl. dazu Wollny (wie Anm. 6). 11 Wollny (wie Anm. 6), S. 111. 12 »Allerdings wird man hier nur sehr bedingt von programmatischer Musik im eigentlichen Sinn sprechen können. Eher liegen äußerst stilisierte, gleichsam emblematisch verschlüsselte Anspielungen vor,

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die sie sich ohne die erläuternden Kommentare kaum aus der Musik selbst erschließen ließen. Die Vielschichtigkeit der Bedeutungsebenen offenbart eine – auch in einem der Briefe Frobergers an Athanasius Kircher anklingende – Vorliebe für geheime, nur Eingeweihten verständliche Botschaften«, Wollny (wie Anm. 6), S. 111. Für einen Überblick vergl. etwa Fauser, Markus: Das Gespräch im 18. Jahrhundert. Rhetorik und Geselligkeiten in Deutschland, Stuttgart 1991. Dieser These wird ausführlich nachgegangen in Fludernik, Monika: Towards a »Natural« Narratology, London/New York 1996. Haferland/Meyer (wie Anm. 4), S. 6. Dabei stehen für die Zeiten davor durchaus einzelne Untersuchungen zur Verfügung, die nur mit ›erzählender Musik‹ der Zeit rückgebunden werden müssten. Exemplarisch sei ein Beispiel genannt Moore, Cornelia Niekus: The Maidens’s Mirror. Reading Material for German Girls in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Wiesbaden 1987. Botstein, Leon: »Listening through Reading: Musical Literacy and the Concert Audience«, in: 19th-Century Music 16/2 (1992), S. 129-145. Hoffmann, E.T.A.: »Beethovens Instrumental=Musik«, in: ders., Werke in fünfzehn Teilen, hrsg. von Georg Ellinger, Berlin o.J., S. 49f. Dahlhaus, Carl: »Thesen zur Programmmusik«, in: ders, Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, S. 365-384, hier S. 373. Schole, Heinrich: Tonspychologie und Musik-Ästhetik. Art und Grenzen ihrer wissenschaftlichen Begriffsbildung, Göttingen 1930, S. 83. Vgl. dazu die Ausführungen in Cook, Nicholas: »The Other Beethoven. Heroism, the Canon, and the Works of 1813–14«, in: 19th Century Music 27/1 (2003), S. 3-24. Z.B. Heuß, Alfred: »Eine motivisch-thematische Studie über Lisztʼs sinfonische Dichtung ›Ce quʼon entend sur la montagne‹«, in: Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft 13 (1911/12), S. 10-21. Dahlhaus (wie Anm. 19), S. 367. Ebd. So z.B. Rudolf Stephan in seinem Festvortrag der Internationalen Schönberg Gesellschaft: »Sie [VERKLÄRTE NACHT, GURRELIEDER] sind noch nicht das, was seinen Rang als Komponist bestimmt«. Ders., »Arnold Schönberg – Ausdruck und Gedanke«, in: Bericht über den 3. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft »Arnold Schön-

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berg – Neuerer der Musik« Duisburg, 24. bis 27. Februar 1993, hrsg. von Rudolf Stephan/Sigrid Wiesmann, Wien 1996, S. 7-11, hier S. 7. Adorno, Theodor W.: »Arnold Schönberg (1874-1951)«, in: ders., Gesammelte Schriften in 20 Bänden: Band 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1977, S. 156. Adorno, Theodor W.: »Arnold Schönberg (I)«, in: ders., Gesammelte Schriften in 20 Bänden: Band 18: Musikalische Schriften V, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1984, S. 309. Adorno, Theodor W.: »Stilgeschichte in Schönbergs Werk«, in: ders., Gesammelte Schriften in 20 Bänden: Band 18: Musikalische Schriften V, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1984, S. 387. Adorno (wie Anm. 27), S. 307. Adorno, Theodor W.: »Zur Vorgeschichte der Reihenkomposition«, in: ders., Gesammelte Schriften in 20 Bänden: Band 16: Musikalische Schriften I-III, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1978, S. 72. Adorno (wie Anm. 27), S. 307. Dahlhaus, Carl: »Schönberg und die Programmusik«, in: ders., Schönberg und andere. Gesammelte Aufsätze zur Neuen Musik mit einer Einleitung von Hans Oesch, Mainz, 1978, S. 125-133, hier S. 127. Ebd. Ebd. Ebd., S. 128f. Ebd., S. 128. Puffett, Derrick: »›Music that Echoes within One‹ for a Lifetime: Berg’s Reception of Schoenberg’s ›Pelleas und Melisande‹«, in: Music & Letters 76/2 (1995), S. 209-264, hier S. 217. Puffett zeigt an dieser Stelle auch auf, wie ungebrochen Bergs terminologische Aneignung der Schönbergschen Form in wissenschaftlichen Untersuchungen wie Konzertprosa als Faktum hingenommen wird. Berg, Alban: Pelleas und Melisande. (Nach einem Drama von Maurice Maeterlinck.) Symphonische Dichtung für Orchester von Arnold Schönberg op. 5. Kurze thematische Analyse, Wien o.J., S. 3. Ebd. Vgl. Puffett (wie Anm. 37), S. 212. Ebd., S. 224.

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42 Ebd., S. 248. Ob Schönberg selbst wirklich seine Meinung grundlegend geändert hat, wie Puffett andeutet, scheint jedoch fraglich. 43 List, Kurt: »Schoenberg and Strauss«, in: The Kenyon Review 7/1 (1945), S. 57-68, hier S. 62. 44 Eine gänzlich auf formale Komponenten gehende Analyse liefert auch Frisch, Walter: »Form und Tonalität in Schönbergs frühen Instrumentalwerken«, in: Bericht über den 3. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft »Arnold Schönberg – Neuerer der Musik« Duisburg, 24. bis 27. Februar 1993, hrsg. von Rudolf Stefan/Sigrid Wiesmann, Wien 1996, S. 32-39. 45 Bailey, Walter B.: Programmatic Elements in the Works of Schoenberg, Ann Arbor/MI 1982, S. 38. 46 Bailey (wie Anm. 45), S. 37. Zu nennen sind hier u.a. Friedheim, Philip: Tonality and Structure in the Early Works of Schoenberg, Ann Arbor/MI 1963; Pfannkuch, Wilhelm: »Zu Thematik und Form in Schönbergs Streichsextett«, in: Festschrift Friedrich Blume zum 70. Geburtstag, hrsg. von Anna Amalie Abert/Wilhelm Pfannkuch, Kassel 1963, S. 258-271; Schmidt, Christian Martin: »Formprobleme in Schönbergs frühen Instrumentalwerken«, in: Bericht über den 1. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft, Wien 4. bis 9, Juni 1974, hrsg. von Rudolf Stephan, Wien 1978, S. 180-186; Swift, Richard: »Tonal Relations in Schönberg’s ›Verklärte Nacht‹«, in: 19thCentury Music 1/1 (1977), S. 3-14. Constantin Grun widmet der VERKLÄRTEN NACHT ein langes Kapitel in seinen sehr umfang- und detailreichen Untersuchungen zu Arnold Schönberg und Richard Wagner. Spuren einer außergewöhnlichen Beziehung, Band 1: Werke, Göttingen 2006. In der interessanten Auswahl der dort getroffenen Zitate wird indes deutlich, dass Gruns Interesse weniger Schönbergs Musik gilt, als vielmehr dem Nachweis dessen künstlerische Abstammung von Wagner. Seine Ausführungen münden in der Feststellung, Schönberg habe »als gelehriger Schüler Richard Wagners« die VERKLÄRTE NACHT im Grunde als »Miniatur-Tristan« konzipiert (ebd., S. 342). Auch Werner Breigs Artikel, obwohl in einem Sammelband zu »musiko-literarischen Gattungen« zu finden, gibt mit seinem Untertitel die Stoßrichtung vor: »…und das Problem der Programmusik«. Dieses »Problem« sei, dass Schönberg die »Überfremdung durch den anderen Dichter kaum weniger fürchtete, als er dessen Hilfe suchte«, was seine

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»sofortige Abwendung von der Programmmusik nach Vollendung der Verklärten Nacht« vermuten lasse. (Selbst wenn man die verborgenen Programme späterer Werke nicht in Betracht ziehen mag, folgte immerhin noch PELLEAS UND MELISANDE.) Breig, Werner: »Arnold Schönbergs ›Verklärte Nacht‹ und das Problem der Programmusik«, in: Die Semantik der musiko-literarischen Gattungen. Methodik und Analyse, hrsg. von Walter Bernhart, Tübingen 1994, S. 87-115, hier S. 112. Hermann Danuser gelingt eine vorsichtige Synthese, indem er Kompositionen wie VERKLÄRTE NACHT unter den Begriff der »Weltanschauungsmusik« bringt. Ders., »Lyrik und Weltanschauungsmusik beim frühen Schönberg. Bemerkungen zu Opus 4 und Opus 13«, in: Bericht über den 3. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft »Arnold Schönberg – Neuerer der Musik« Duisburg, 24. bis 27. Februar 1993, hrsg. von Rudolf Stefan/Sigrid Wiesmann, Wien 1996, S. 24-31. Dass Bilder auch jenseits von Heiligenlegenden oder Historiengemälden über narratives Potential verfügen, ist seit einiger Zeit Thema der Forschung, vergl. z.B. Busch, Werner: »Erscheinung statt Erzählung«, in: Das erzählende und das erzählte Bild, hrsg. von Alexander Honold/Ralf Simon, München 2010, S. 55-83. Bailey (wie Anm. 45), S. S. 20. Schönberg, Arnold: »Neue Musik, veraltete Musik, Stil und Gedanke« [Fassung von 1946], in: ders., Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtěch, Frankfurt am Main 1976, S. 25-34, hier S. 31. Newlin, Dika: Schoenberg Remembered: Diaries and Recollections 1938-76, New York 1980, S. 193. List (wie Anm. 43), S. 61. Ackermann, Peter: »Schönbergs ›Pelleas und Melisande‹ und die Tradition der Symphonischen Dichtung«, in: Archiv für Musikwissenschaft 49/2 (1992), S. 146-156, hier S. 148. Schönberg, Arnold: »Analyse von ›Pelleas und Melisande‹«, in: ders.: Stil und Gedanken. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtěch, Frankfurt am Main 1976, S. 437-439, hier S. 437. Dies gilt möglicherweise auch für die Beobachtungen von Carl Dahlhaus. Schönberg besaß eine Gesamtausgabe der Werke in der GrisebachAusgabe von 1891, zu den philologisch-historischen Details vgl. White,

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Pamela C.: »Schoenberg and Schopenhauer«, in: Journal of the Arnold Schoenberg Institute 8/1 (1984), S. 39-57. Schopenhauer, Arthur: »Zur Metaphysik der Musik«, in: ders., Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, Bd. 2, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, § 39, S. 522. Schönbergs Auseinandersetzung mit der Idee des Organismus (ebenfalls ein zutiefst romantisch ›unmodernes‹ Konzept), die er in dem Text ebenfalls entfaltet, passt zwar in die Argumentationslinie, soll hier aber aus Platzgründen ausgespart bleiben. Schönberg, Arnold: »Das Verhältnis zum Text«, in: Der Blaue Reiter [1912], hrsg. von Wassily Kandinsky/Franz Marc, dokumentarische Neuausgabe hrsg. von Klaus Lankheit, München/Zürich 2004, S. 60-75, hier S. 64. Ebd., S. 75. Ebd. Schopenhauer, Arthur: Die Welt als Wille und Vorstellung I, in: ders., Arthur Schopenhauers Werke in fünf Bänden, Bd. 1, hrsg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1988, Zürich 1988, § 52, S. 341. Schönberg (wie Anm. 58), S. 60f. Schopenhauer (wie Anm. 61), § 52, S. 344. Dem Hinweis auf den Somnambulismus wäre nachzugehen. Franz Michael Maier schlägt gar einen Seitenblick auf eine gewisse Linie der Schubert-Rezeption vor, der offenbar als unbewusst oder gar »hellsichtig« komponierender von seinem Umfeld wahrgenommen wurde. Vgl. Hilmar, Ernst: »Clairvoyance«, in: Schubert-Lexikon, hrsg. von Ernst Hilmar/Margret Jestremski, Graz 1997, S. 61-62; Maier, Franz Michael: Becketts Melodien: die Musik und die Idee des Zusammenhangs bei Schopenhauer, Proust und Beckett, Würzburg 2006, S. 28. Schönberg (wie Anm. 58), S. 60. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65. Ebd., S. 61f. Schopenhauer (wie Anm. 56), § 39, S. 524. Ebd., S. 523f. Schönberg (wie Anm. 58), S. 61.

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72 Schönberg, Arnold: »Franz Liszts Werk und Wesen«, in: ders, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtěch, Frankfurt am Main 1976, S. 169-173, hier S. 169. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 170. 76 Dahlhaus versucht über virtuose historische Darstellungen nachzuweisen, dass Schönbergs »Kunstreligion« säkular zu verstehen sein soll. Vgl. Dahlhaus, Carl: »Schönbergs Ästhetische Theologie«, in: Bericht über den 2. Kongreß der Internationalen Schönberg-Gesellschaft »Die Wiener Schule in der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts« Wien, 12. bis 15. Juni 1984, hrsg. von Rudolf Stephan/Sigrid Wiesmann, Wien 1986, S. 12-21. Vgl. weiter die Kritik von Covach, John: »The Sources of Schoenberg’s ›Aethetic Theology‹«, in: 19th-Century Music 19/3 (1996), S. 252-62, sowie die Erweiterung dieses Textes unter: http://www.ibiblio.org/johncovach/sources_of_schoenberg.htm, insb. S. 19 (Abruf am 18. Dezember 2014). 77 Schönberg (wie Anm. 72), S. 170. 78 Schönberg (wie Anm. 58), S. 61. 79 Ebd., S. 64. 80 Schönbergs Libretto ist auf der Seite des Schönberg-Instituts Wien einzusehen unter: http://www.schoenberg.at/index.php/de/schoenberg/ kompositionen (Abruf am 18. Dezember 2014). 81 Vgl. z.B. für die zentralen Begriff der »Idee« Cross, Charlotte M.: »Three Levels of ›Idea‹ in Schoenberg’s Thought and Writings«, in: Current Musicology 30 (1980), S. 24-36. 82 Schönberg, Arnold: Radio Interview (19. November 1933); einsehbar unter http://www.schoenberg.at/index.php/de/alfred-lundell-interviewwith-arnold-schoenberg (Abruf am 18. Dezember 2014). 83 Ebd. 84 Ebd. 85 Dahlhaus (wie Anm. 32), S. 127. 86 Schönberg, Arnold: T27.11, Manuskript Nr. 92A, eingeordnet unter »Seven Fragments Around or Before 1900«, online abrufbar in der Textdatenbank des Schönberg-Centers Wien, http://www.schoenberg. at/index.php/de/archiv/texte (Abruf am 18. Dezember 2014).

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87 Scholz, Gottfried: »Verklärte Nacht op. 4«, in: Arnold Schönberg. Interpretationen seiner Werke, Bd. 1, hrsg. von Gerold W. Gruber, Laaber 2002, S. 22-35, hier S. 30. 88 Ebd. 89 Vgl. ebd. 90 Schönberg, Arnold: »Programm-Anmerkungen zu ›Verklärte Nacht‹«, in: ders, Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtěch, Frankfurt am Main 1976, S. 453-457, hier 457. 91 Vgl. Lodes (wie Anm. 2); Eggers, Katrin: »Narration, que me veux-tu? Über Untiefen und Chancen einer Theorie des musikalischen Erzählens«, in: Musiktheorie 27/1 (2012), S. 69-79. 92 Vgl. z.B. Schulin, Karin: Musikalische Schlachtengemälde in der Zeit von 1756 bis 1815, Tutzing 1986.

Tod und Trauer als Narrative neuer Musik Erinnerungsmusik von Charles Ives, Morton Feldman und John Adams

G REGOR H ERZFELD »Those who are dead are not dead They’re just living in my head« Coldplay

Das Wissen darum, dass Musik erzählerische Qualitäten hat, ist keineswegs so neu, wie es die Thematisierung des Sachverhalts in jüngeren und jüngsten Publikationen erscheinen lässt.1 Die schildernde Kraft der Musik wurde seit jeher gerade von Epikern bemüht, nicht nur um den Vortrag ihrer Geschichten emotional zu unterfüttern, sondern durch musikalisch Geschildertes auch eine andere Qualität von Lebendigkeit und Suggestion zu erzielen. So kann von der musikalischen Schilderung der antiken Epen ausgegangen werden,2 die Mächtigkeit des Gesangs bei der Vermittlung religiöser und ritueller Inhalte zu jeder Zeit rund um den Globus ist evident und es gibt nicht wenige Beispiele rein instrumentaler Narrationen von programmatischen Inhalten. Doch gerade aufgrund dieses reichen Traditionsbestands an musikalischer Narrativität scheint es, als ob das Phänomen mit der bewussten Verabschiedung von Traditionen, mit der Kritik an den traditionellen Funktionen und Bindungen, die Musik erfüllen konnte, im 20. Jahrhundert in eine Krise geraten sei.3 Mit den »stories« geriet auch das »story-telling« selbst in Verruf, da avantgardistische und experimentell gesinnte Künstler sich oftmals auf geschichten- und geschichtslose Strukturen konzentrieren wollten. Teile der Neue Musik-Szene, Komponisten wie Kritiker, wollten

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sich insbesondere nach den Erfahrungen des Dritten Reichs fernhalten von den Geschichten und der Geschichte. Die Konzentration auf eine reine, abstrakte Struktur sollte Garant für die Unmöglichkeit einer ideologischen Vereinnahmung und eines propagandistischen Einsatzes sein. Geschichten sind nicht nur traditionsbildend, sondern auch ideologieanfällig, und wie könnte man den Zeugen extremer ideologischer Vereinnahmungen von Traditionen, wie sie im 20. Jahrhundert geschahen, ihre Verweigerung verübeln? Doch: Ist die Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts wirklich eine Geschichte der Kritik an und der Enthaltung von Narrativität, wie es auf den ersten Blick scheint? Und wenn dem so wäre, entspräche dann die gewollte Verabschiedung von Narrativität dem abstrakten, begriffslosen Charakter der Musik, oder ist Narrativität vielmehr eines der Elemente musikalischen Gestaltens, das sich auch bei raffinierter Umgehungstaktik nicht entfernen lässt? Die Fragen können hier keine ausführliche Antworten finden; es kommen stattdessen drei Beispiele zur Sprache, die aus dem Bereich der neuen, amerikanischen Musik stammen, und die es nahelegen, nicht nur von der Möglichkeit, sondern auch von einer gewissen Häufigkeit der Bekleidung neuer Musik mit einem narrativen Gewand auszugehen. Mit Charles Ives, Morton Feldman und John Adams sind immerhin keine Randfiguren, sondern ein »Wegbereiter«, ein radikaler Vertreter und ein überaus erfolgreicher aktueller Protagonist der »amerikanischen Moderne« gewählt; und zumindest Feldman hat sich lange Zeit gegen jede Form von musikalischem »story-telling« gewehrt. Er wird daher oft als Beispiel für einen nicht-narrativen Komponisten geführt.4 Seine Kehre vom absolut-autonomen zum geschichts- und geschichtenbewussten Komponisten ist ein reizvolles Beispiel für den Fall der nicht immer unkomplizierten Karriere von Narrativität in der Musik des 20. Jahrhunderts. Rituale und Zeremonien des Trauerns waren und sind Bestandteil menschlicher Kulturen zu jeder Zeit und an jedem Ort. Es soll daher nicht behauptet werden, Sterben und Trauern seien »spezifisch amerikanisch«. Doch jede Kultur findet ihre eigenen Formen im Umgang mit universalen und konstanten Themen: »Death is a cultural event and societies as well as individuals reveal themselves in their treatment of death«5. Deshalb können sowohl ein »American way of death«6 als auch ein »American way of mourning«7 unterstellt werden, die zwar direkt aus europäischen, angelsächsischen Traditionen des 18. Jahrhunderts hervorgingen, im 19. Jahrhundert aber ein deutlich eigenes Gepräge annahmen. Entscheidend für

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diese Ausprägung waren eigene, unverwechselbare Erfahrungen, welche die amerikanische Bevölkerung seit der Staatsgründung mit dem Tod, insbesondere mit dem Massensterben während des Bürgerkriegs von 1861 bis 1865, gemacht hatte, sowie die Veränderungen im politisch-philosophischen Klima dieses Zeitraums, welche den Umgang mit dem Tod bestimmten. Beides kann nicht mit der Lebenswelt in Europa gleichgesetzt werden; daher die Rede vom »American way«. Es scheint insofern auch gerechtfertigt, die in Frage stehenden Komponisten hinsichtlich ihrer musikalischen Trauerarbeit in eine, eben amerikanische, Linie zu stellen, welche natürlich in sich im selben Maße Veränderungen unterworfen ist, wie sie Überschneidungen, Parallelen mit Entwicklungen in Europa zeitigt. Neben dem gemeinsamen Kulturraum der USA verbindet die Beispiele der Gegenstand ihrer Narrationen, ihr Narrativ. Der Tod bzw. die Trauer angesichts des Todes erweist sich als ein Thema, das im hohen Maße Stimmungslagen, Gefühlszustände und Handlungen bzw. Ereignisse motiviert. Diese wiederum scheinen eine an abstrakten, nicht-erzählbaren Strukturen interessierte ästhetische Behandlung zu erschweren. Ihre gewissermaßen existenzielle Bedeutung für den Hinterbliebenen, der Grad der Betroffenheit, fordert eine Positionierung, eine Stellungnahme, geradezu heraus, weshalb sich u.a. narratives Gestalten anbietet. Das Trauern als melancholisches Erzählen von Leben und Tod wird somit zu einem narrativen Archetyp.8 Kein geringerer als Walter Benjamin hat den engen Zusammenhang zwischen dem Tod und dem Erzählen benannt: »Der Tod ist die Sanktion von allem, was der Erzähler berichten kann. Vom Tode hat er seine Autorität geliehen. Mit andern Worten: es ist die Naturgeschichte, auf welche seine Geschichten zurückverweisen.«9

Indem die Komponisten sich unter verschiedenen Umständen dazu entschieden, musikalisch vom Tod zu handeln, lag es daher nahe, vom Tod musikalisch zu erzählen, denn mit dem Tod ist wesentlich eine zeitliches Moment verknüpft. Der Tod bedeutet das zeitliche Ende der (irdischen) Existenz und wirft, gerade weil er einen Bruch mit der Kontinuität von Lebendigkeit darstellt, die Frage nach dem zeitlichen Ablauf dieses Lebens auf. Die Zeit wiederum bildet den Kern des Erzählens. Erzählen bedeutet in seiner allgemeinsten Form, die zeitliche Abfolge bestimmter Ereignisse in derselben oder einer abweichenden, wie auch immer kunstvoll gestalteten

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zeitlichen Abfolge wiederzugeben. Erzählen ist eine Zeitkunst. Dies verbindet es mit der Musik. Der Tod ist freilich nicht der einzige, aber sicherlich ein beispielhafter Gehalt, um die Verbindung von Musik und Narration im 20. Jahrhundert zu demonstrieren. Charles Ives stellt den meines Wissens einzigartigen Fall eines Komponisten dar, der den Tod und die trauernde Erinnerung zum zentralen Gegenstand seiner Werke – nicht bloß speziell für diesen Anlass abgestellter Genres – erhoben hat. Seine Tätigkeit als musikalischer Erzähler10 kreist daher um diesen einen neuralgischen Punkt.11 Das Beispiel Morton Feldmans hingegen führt die Konstellation vor, dass der Tod eines ihm nahestehenden Künstlers bzw. die Reflexion dieses Todes geradezu das auslösende Moment für die Bereitschaft war, sich nach langer Abstinenz dem musikalischen Erzählen nicht mehr zu verschließen. Hier kann also eine Peripetie verortet werden, die auch Konsequenzen für das gesamte Musikkonzept des Komponisten hatte. John Adams schließlich hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Hiatus zwischen kollektivem und persönlichem Trauern angesichts der welterschütternden Ereignisse vom 11. September 2001 zu überbrücken, um mit seinen Mitteln der Narration einen musikalischen, kollektiven Erinnerungsort zu schaffen. Indem hier keine theoretisch geschlossenen Aussagen über das Verhältnis von Musik und Narration, etwa eine systematische narratologische Theorie der musikalischen Trauerpoetik, angestrebt, sondern ein begrenzter Zeit- und Kulturraum anhand von drei ausgewählten Beispielen beleuchtet werden, folgt der Ansatz der Einsicht Lawrence Kramers, »that narrative elements in music represent, not forces of structure, but forces of meaning. That meaning may be read in terms principally social and cultural […], or in terms principally epistemic and self-reflective, […] or in terms that explicitly address the intersection of social, cultural, epistemic, and self-reflective formations.«12

Was Musik wie und wem erzählt, ist nicht Gegenstand strukturanalytisch entwickelter Definitionen, sondern fungiert als Aufzeigen eines Feldes von Möglichkeiten, welche die Betrachtung des kulturellen Kontexts bietet. Dies bedeutet allerdings nicht, dass allgemeine methodische Überlegungen ausgeklammert bleiben müssen. Die Betrachtung des Besonderen, Kontextualisierten, Unverwechselbaren geschieht schließlich vor dem Hintergrund

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des Allgemeinen und systematisch zu Erfragenden. Es stellen sich daher zunächst die Fragen: Was heißt Erzählen oder Erzählung? Und kann Musik erzählen?

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Eine Schwierigkeit des Themas liegt darin begründet, dass Erzählen im nicht-übertragenen Sinne zunächst eine sprachliche Angelegenheit ist und dass Bestimmungen, die für sprachliche Akte getroffen werden können, nicht immer und oft nur in sehr eingeschränktem Maße auch für die Musik gelten. In Systemen der Künste nimmt die Musik eine entweder privilegierte oder defizitäre Sonderstellung ein, da in ihr das Verhältnis von Form und Inhalt, Gestalt und Gehalt, Struktur und Gegenstand auf eine von der Sprache oder dem bildenden Gestalten grundverschiedene Weise gegeben ist. Denn es stellt sich zunächst sogar die Frage, ob Musik überhaupt einen Inhalt, einen Gegenstand hat und was eigentlich ihr Gehalt sei. Nun gibt es zwei Möglichkeiten, mit dieser Schwierigkeit narratologisch umzugehen: 1.) man unterstellt eine genuin musikalische und daher nicht-sprachlich grundierte Form der Narrativität und unternimmt den ehrgeizigen Versuch, diese zu finden und zu beschreiben, 2.) man orientiert sich an der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorie und klopft die Möglichkeiten einer Übertragung auf die Musik ab. Der Königsweg liegt vermutlich in der Mitte und besteht darin, durch die anfängliche Anlehnung an die literarische Narratologie spezifisch musikalische Eigenarten zu erarbeiten. Es existiert eine kaum überschaubare Menge an Erzähltheorien, beginnend bei der Poetik des Aristoteles, die eben nicht allein eine Theorie der Tragödie, sondern in bescheidenerem Maße auch des Epos enthält, und die ein zentrales Modell für Poetologen vom Mittelalter bis in hinein in den Klassizismus war. Vor allem im 20. Jahrhundert ist ein Schub an Erzähltheorien zu beobachten von Georg Lukács THEORIE DES ROMANS (1916) und den Russischen Formalisten der 1910er und 20er Jahre13 über den genannten Benjamin und Autoren des französischen Strukturalismus wie Roland Barthes und Gérard Genette14 hin zu medien- und disziplinenübergreifenden Ansätzen.15 Sie geben naturgemäß unterschiedliche Antworten auf die Frage, was Erzählen sei. Übereinstimmungen als gemeinsame Basis unterschiedlicher Theorien gibt es aber dennoch und werden in Handbü-

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chern oder Einführungen festgehalten. In der von Matias Martinez und Michael Scheffel verfassten EINFÜHRUNG IN DIE ERZÄHLTHEORIE16 wird Erzählen zunächst ganz basal bezeichnet als »mündliche oder schriftliche Rede, in der jemand jemandem etwas Besonderes mitteilt«17. Dieses Besondere mag ein Geschehnis, eine Begebenheit, ein Erlebnis, ein Traum, fiktiv oder real sein. Man kann Geschichte oder Geschichten erzählen, also entweder das, was wirklich geschehen ist, oder das, was sein könnte,18 es kann in alltäglicher oder dichterischer Sprache geschehen. Wichtig ist der Verlauf, der Hergang, der auch im mittelhochdeutschen »erzeln« oder »erzellen« mitschwingt, was soviel bedeutet wie der Zahl nach darlegen, mitteilen, aufzählen. Dies verweist auf die Bedeutung des zeitlichen Aspekts. Wichtig beim Erzählen ist die zeitliche Folge der Ereignisse, mehr als etwa beim Gedicht. Erzählung ist gestaltete Zeit, nämlich erzählte Zeit und Erzählzeit. Und da Musik eine Zeitkunst par excellence ist, scheint mir hier ein sehr großes Überschneidungsfeld von Erzählen und Musizieren zu liegen. Die Erzähltheorie beschreibt einen fundamentalen Gegensatz zwischen dem Wie und dem Was des Erzählens. Das Was sei der Inhalt, also die Handlung, die »story«, die in vier Elemente zerlegt werden kann: die Motive als die einzelnen Ereignisse, das Geschehen als die Folge von diesen Motiven, die Geschichte als eine Einheit des Geschehens und schließlich das Handlungsschema, das über einen Einzeltext hinausgehen kann und etwa als »Regeln« einer Gattung existiert. Nicht immer werden von den einschlägigen Theoretikern alle vier Elemente unterschieden oder berücksichtigt, sondern etwa nur zwei oder drei. Und es ist auch nicht immer ganz leicht, den Unterschied zwischen Geschehen und Geschichte stets klar vor Augen zu haben, doch im Einzelfall erweist sich dies als sinnvoll. Das Wie hingegen betrifft die Darstellung der Erzählung, worunter die Narration als Gestaltung der Zeit, das Erzähltempo, Rückblenden und Vorausgriffe, sowie das Erzählen als Akt, als »narrating«, als Sprache, als Gegebenheiten des Mediums und als Sprachstil fallen. In Anlehnung an die Erzähltheorie werden in den folgenden Musikbetrachtungen die Fragen nach dem Wie und dem Was der Erzählung beteiligt sein. Die komplexe Frage nach dem Erzähler (Wer erzählt die Geschichte? In der Literatur? In der Musik?) wäre einer eigenen Untersuchung wert und muss hier weitgehend ausgespart bleiben. Erste Voraussetzung dafür, Musik als Narration zu begreifen, ist, dass Musik als eine Art Sprache bzw.

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Rede angesehen wird. Es setzt weiter voraus, sie als einen Ablauf zu charakterisieren, und zwar einen Ablauf von Ereignissen oder Motiven (die auch rein musikalisch sein können, also ohne zugleich als Zeichen für eine nicht genuin musikalische Begebenheit verstanden zu werden), die in einem gewissen Verhältnis der Reihenfolge (Zahl) oder Ordnung zueinander stehen. Die Reihenfolge kann sich als ein Verlauf erweisen, der einem bestimmten syntaktischen System gehorcht, der also je nach Genre und geschichtlicher Zeit unterschiedliche Regeln für das Ablaufen befolgt (etwa die »Regeln« eines Sonatensatzes, die eine bestimmte Übereinkunft über die grundsätzliche Form des Ablaufs von Sonatensätzen dokumentieren). Oder sie kann von dem normierten Ablauf abweichen, wobei sie innerhalb des Systems bleibt, ja dieses erweitert, und zunächst als Deviation oder Überraschung an sie gestellten Erwartungen zuwiderlaufen.19 Sie kann aber auch Ergebnis eines eigenen syntaktischen Systems sein, das der Komponist nur für dieses eine Stück oder für eine Gruppe von Stücken erdacht hat. Und dies scheint mir für eine sehr große Zahl der Fälle im 20. Jahrhundert zu gelten, was natürlich auf die In-Frage-Stellung der Regelpoetiken, teilweise gar ihre Suspendierung seit dem Beginn des Jahrhunderts zurückzuführen ist. Diese Musik ist nicht minder narrativ, doch können wir die Ordnung der Ereignisse nicht mehr mit der Erfüllung von Erwartungen an Genres abgleichen, sondern sind dazu angehalten, sich in jeden Komponisten, in seine Poetik, oder gar in jedes Stück von Neuem hineinzudenken. Doch gilt es festzuhalten, dass jede Form von Musik, auch die neue, Motive in einer bestimmten Reihenfolge, als zeitlichen Ablauf präsentiert, das somit – der Form oder dem Wie nach – als Narration gefasst werden kann.

Musikalische Einbalsamierung bei Charles Ives Einer Unterscheidung in Was und Wie des musikalischen Erzählens kommt Charles Ives insofern entgegen, als er vor allem in seinem großen EmersonEssay der ESSAYS BEFORE A SONATA, welche die Musik der CONCORD SONATA verbal begleiten, selbst die Differenz von »substance« und »manner« einführt. Wie seine Beispiele zeigen, verbindet Ives mit »substance« (als dem Was) jene spirituellen Wahrheiten, die der Philosoph Ralph Waldo Emerson in seinen Offenbarungen mitteilt. Die »manner« als Art ihrer

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Darstellung betrifft die von Ives nachgeeiferte Form des Essays. Mit dem Essay ist weiter eine bestimmte Art der Zeitgestaltung berührt, die als Wechselspiel von mehr oder weniger kontinuierlich ablaufenden Prozessen und in sie zwar eingelassenen, doch diskontinuierlich herausstechenden Momenten beschrieben werden kann.20 In Anbetracht der Tatsache, dass Ives sehr emphatisch vom Wahrheitsgehalt des dadurch zur Darstellung Gebrachten ausgeht, können diese Momente als Epiphanien – als »moments of truth« – bezeichnet werden.21 Doch wäre es vielleicht verfrüht, bei der Betrachtung eines Stücks von Ives aus der Perspektive der Narrativität mit der Wahrheitstür gewissermaßen ins Haus zu fallen. Wir sind gut beraten, zunächst einmal die »substance«, das Was, also den Inhalt der Erzählung auf der Ebene des musikalischen Texts, nicht bereits seines Kontexts, zu suchen. Und hier begegnet uns die erste Eigenwilligkeit der Musik, die sie sehr stark von verbalen oder bildlichen Erzählungen unterscheidet, dass nämlich das Was und das Wie in rein musiktextlicher Hinsicht zusammenfallen, dass hier also bis zu einem gewissen Grad Eduard Hanslicks Überzeugung gilt, die Form sei der Inhalt der Musik. Dies wird erst dann relativiert, wenn der Musiktext deutliche Zeichen verwendet, also musikalische Gestalten, die auch auf etwas anderes als sich selbst verweisen, und wenn durch Musiker, mehr noch durch Hörer weitere Was-Qualitäten, also nicht allein Text-, sondern auch ein Kontextwissen hineingetragen werden. Ein Beispiel kann dies verdeutlichen. Gemeint ist eine kammerinstrumentale Komposition aus dem Jahre 1906, die Notenbeispiel 1 als Klavierauszug wiedergibt. Sie schildert folgende Ereignisse: Eine langsam und leise vorgetragene, kurze schrittweise abwärts geführte melodische Linie im Cornett wird eine Quinte höher wiederholt. Zeitgleich mit der Wiederholung setzt eine Imitation dieses Ereignisses hier in der rechten Hand des Klavierspielers, in der Orchesterpartitur in der Pikkoloflöte, kaum hörbar, um eine Oktav höher versetzt ein. In der zweiten Zeile wiederholt sich genau dieses Spiel, allerdings um eine Sekunde höher transponiert. Am Ende setzt das erste Melodieinstrument zu einem neuen Ereignis an – ein Auftakt in der Untersekunde zu einem dreifach repetierten Ton. Dies findet keine Imitation. Die Begleitung, hier die linke Hand des Klaviers, besteht aus einer regelmäßigen Auf- und Abbewegung in Quinten. Erst mit dem letzten Takt der ersten Zeile bricht die Bewegung auf dem höchsten Ton fis’ ab und springt über viereinhalb Oktaven zum C. Von dort aus wird die Bewegung in ihrer Regelmäßigkeit

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fortgeführt. Nun allerdings werden die Quinten durch Sexten und Quarten ergänzt. Mit dem letzten Ereignis der Melodie verändert sich die Begleitung komplett: Komplexe und spannungsreiche, arpeggierte Akkorde wechseln einander ab und kommen in einem d-Moll/G-Dur-Klang zum Stillstand. Ganz am Ende schwingt sich die linke Hand (wieder Pikkolo) noch einmal über die rechte hinübergreifend zu einem melodischen Partikel auf: eine im dreifachen Piano zu spielende Achtelquarte cis-fis in hoher Lage und unmittelbar auf eine längere, eben punktierte Achtel desselben cis’ folgend.

Notenbsp. 1: Charles Ives: THE POND (REMEMBRANCE), »Klavierauszug« [nach 114 Songs, Redding/CT 1922, Nachdruck New York 1975]

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Die Ereignisse erzählen somit folgende Geschichte: Ein in sich bereits als höher klingendes Echo angelegter melodischer Baustein findet sein abermaliges, leiseres und noch höheres Echo. Dies geschieht ein zweites Mal, wiederum in höherer Tonlage. Die Begleitung greift den Echogedanken auf bzw. greift ihm voraus und bildet den klanglichen Grund für das Echospiel, und präsentiert ihn in der Gestalt einer symmetrischen Spiegelungsfigur. Somit sind zwei Formen von Reflexionen angedeutet: eine eher räumliche Achsenspiegelung und das primär akustische Nachhallphänomen. Im vorletzten Takt wechselt die Szene. Das bisher erzählte Geschehnis wird abgebrochen. Der Kontinuitätsbruch materialisiert sich in schwer zugänglichen Akkorden, die Tritoni (zentral a-es) und übermäßige Quinten (peripher f-cis und es-h) enthalten und durch chromatisches Gleiten miteinander verbunden sind. Umso deutlicher tritt die letzte Gestalt, die reine Quarte in entsprechend delikater Höhe heraus. Somit wird eine anfangs sehr kontinuierliche, fließende Bewegung, die von Reflexion in doppelter Gestalt kündet, jäh unterbrochen und von einem isolierten, in aller Zartheit förmlich nochmals eine Stufe über den Echos schwebenden Signal abgelöst – eine aufsteigende Quarte zumal mit einem punktiert repetierten Grundton erinnert freilich an ein Fanfarenmotiv. Spätestens hier mit diesem musikalischen Zeichen ist der Punkt erreicht, an dem die textuell gerechtfertigte Narration in eine kontextuell sich verortende Geschichte umschlägt. Und es ist zugleich der Punkt, an dem sich die Perspektive des Erzählers ändert. Denn wenn zuvor eine Geschichte nacherzählt wurde, die sich potenziell einem jeden Hörer mitteilt, dann kommt mit dem Kontext ein anderer Verstehenshorizont ins Spiel. Viele Hörer werden mit dem Quartereignis am Schluss eine Fanfare verbinden, aber wer andere Werke von Ives kennt, wer also auch intertextuell bewandert ist und daraus die musikalische Narration mitkonstruiert, der weiß, dass dieses musikalische Signal zu den beliebtesten Vokabeln des Komponisten gehört und zwar vorgetragen von Trompeten und mit einer melodischen Fortführung, die es als den Beginn des Zapfenstreichs, »taps«, auszeichnet. Damit gilt das semantische Spiel als eröffnet, welches das Was der Erzählung mitbestimmt. Es ist ein den Tönen und Rhythmen gegenüber gleichrangiger Teil der Musik. Taps steht am Schluss der Komposition, da es als Militärsignal den Tag und häufig auch das Leben eines Soldaten beschließt, indem es zur Beerdigung gespielt wird. Es steht somit in Verbindung zum Militär, zum Tod, zum Gedenken. Der Kenner von Ives Bio-

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grafie weiß erstens, dass sein Vater George Musiksoldat im amerikanischen Bürgerkrieg, und zweitens, dass dessen Instrument die Trompete war. Im Kontext dieses Wissens erzählt die Geschichte davon, dass am Ende des Stücks des Vaters, der offenbar tot ist, gedacht wird. Wie kommt es nun aber zu dieser Erinnerung? In welchem Verhältnis steht das finale Gedenken zu den Geschehnissen davor? Das Echo kann, auch wenn es hier artifiziell gestaltet wird, dem Bereich der akustischen Naturerscheinungen, der musica naturalis zugeordnet werden. Es entstammt somit genau jener Sphäre, in welcher George Ives sich gern betätigte. Von ihm ist überliefert, dass er mit dem Klang zweier aufeinander zu laufender Marching Bands experimentierte, dass ihn der unkoordinierte Klang mehrerer simultan erklingender Kirchenglocken interessierte etc. Für Ives war sein Vater ein musikalischer Experimentator, der Experimentator im Bereich der Akustik, der ihn zu seinen eigenen Experimenten anspornte. In der Ives-Welt ist der Vater deshalb mit einer weiteren Identifikationsfigur verbunden: Henry David Thoreau. Auch er befasste sich mit der allerdings literarischen Verarbeitung von Natur- und Umgebungsklängen, z.B. die Echos über dem See, an dem er lebte, und dem Wald, der diesen umgab. Sie hielt er etwa im Kapitel SOUNDS seines Hauptwerks WALDEN, OR A LIFE IN THE WOODS dichterisch fest. Von Thoreau aus, von dem die Echostruktur neben George Ives auch erzählt, wird das Begleitungsgeschehen neu beleuchtet. Denn neben den akustischen Signalen waren auch die optischen Phänomene wie etwa die Spiegelungen auf der Wasseroberfläche des Walden Ponds, die Versenkung in das Wechselspiel von unten und oben, Himmel und Erde Gegenstand von Thoreaus Gedanken, die für ihn wiederum Spiegelungen dieser Beobachtungen in der Seele, im Geist waren. So verstanden erzählt die Musik von einer Szene am See, über dessen glatter und spiegelnder Oberfläche ein Trompetenmotiv – ein Instrument, das der Vater spielte und womit er den Sohn zur Musik inspirierte – und dessen mehrfaches Echo zu hören sind. Dann passiert etwas, dass diese Szene stört oder zumindest sie aus dem Fokus der Aufmerksamkeit reißt: Das bisher Gehörte löst eine Erinnerung aus, nämlich an den Vater, seine Bedeutung für das eigene Leben, an sein ideelles Vermächtnis (etwa die Möglichkeit, solche Akkorde zu schreiben), an seine Musik, schließlich an seinen Tod. Deshalb ereignet sich diese epiphane Erinnerung als Bruch der musikalischen Kontinuität. Das kurze Instrumentalstück von 1906, das den Titel THE POND (REMEMBRANCE) trägt, ist bei Weitem nicht das einzige Erinnerungsstück für Geor-

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ge Ives. Mit Stuart Feder, der eine psychoanalytische Studie der Person und des Werks Charles Ives mit dem Titel MY FATHER’S SONG verfasst hat22, kann fast jede Komposition mit dem Gedenken an den zu früh verstorbenen und daher schmerzlich vermissten Vater verbunden werden. Ives markiert mit seiner musikalischen Trauerarbeit eine entscheidende Station im »American way of death and mourning«. Der Bürgerkrieg, als dessen Repräsentant hier der Marching Band Leader George Ives fungiert, hatte einschneidende Veränderungen im Umgang der amerikanischen Bevölkerung mit ihren Toten bewirkt. Dieser Krieg der »Brüder gegen Brüder« auf eigenem Terrain muss als der verlustreichste der amerikanischen Geschichte verbucht werden. Mit über 600.000 Gefallenen sticht er deutlich vor der Revolution mit über 25.000, dem Vietnam-Krieg mit knapp 60.000 und sogar dem Zweiten Weltkrieg mit über 400.000 Toten hervor. Er stellte die gesamte Gesellschaft vor eine Herausforderung hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den Toten und zum Tod: »the brutal demographic facts of the Civil War tell a tale of blood and dismemberment, grief and suffering«23. Zwei einander entgegen gesetzte Trends sind im darauffolgenden »Gilded Age« zu beobachten: Erstens erhöhte sich die Bedeutung des leblosen Körpers für die Trauernden, wofür die Praxis des Einbalsamierens wiederbelebt und im Bestattungsritual fest verankert wurde. Sie mochte einen Sieg der Physis über die Vergänglichkeit symbolisieren, bildete aber auch die Grundlage der aufstrebenden medizinischen Anatomie, Pathologie und Physiologie. Zweitens hingegen setzte der aufkommende Spiritualismus, der neben Religion und Theologie auch viele andere Lebensbereiche gerade in den Nordstaaten erfasste, den Akzent immer stärker auf das Überleben des Geistes, das geistige Nachleben des Toten, und eben nicht auf den Körper: »Between 1865 and 1900, religious language in the North placed decreasing emphasis on the potential symbolic value of the corpse and increasing weight on the spirit in the afterlife […] Spiritualists allowed the living to keep the spirits of the dead close by and within reach […] the Protestant imagination would be increasingly uninterested in the lifeless body and chiefly preoccupied with the spiritualization of the dead person.«24

Die Spiritualisierung der Toten diente der Erzeugung eines Gefühls von Nähe, indem auf das »greifbare« geistige Vermächtnis verwiesen wurde.

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Beide Trends können anlässlich des gewaltsamen Todes von Abraham Lincoln beobachtet werden. Die ausführlichen Bestattungs- und Begräbniszeremonien25 beinhalteten u.a. auch seine Einbalsamierung, um den toten Präsidenten vor dem Volk aufzubahren und in einer zwölf Tage dauernden Prozession von Washington D.C. nach Springfield, Illinois, zu überführen.26 Gleichzeitig hob einer der Wortführer der Nation, der von Ives so geschätzte R.W. Emerson, in seinem Nachruf auf die unvergängliche ideelle Hinterlassenschaft der Identifikationsfigur ab: »Yes, but that first despair was brief: the man was not so to be mourned. He was the active and hopeful of men; and his work has not perished: but acclamations of praise for the task he had accomplished burst into a song of triumph, which even tears for his death cannot keep down […]. There [in the Civil War], by his courage, his justice, his even temper, his fertile counsel, his humanity, he stood a heroic figure in the center of a heroic epoch. He is the true history of American people of his time.«27

Angesichts des Ausmaßes von Rekursen auf seinen Vater in Charles Ives Schaffen, wovon THE POND (REMEMBRANCE) einen kleinen, aber äußerst kondensierten Ausschnitt bildet, mag durchaus von einer musikalischen Einbalsamierung des geistigen Vermächtnisses, das der »Held« George seinem Sohn hinterlassen hat, gesprochen werden. Es dient sowohl der Linderung des Trauerschmerzes als auch der Erinnerung, dem Gedenken, wodurch das Œuvre zu einem Gutteil zum musikalischen Erinnerungshort28 des Komponisten wird – die Musik erzählt von dieser Erinnerung und führt uns zugleich den Prozess des Erinnerns vor als zeitliche Folge von Ereignissen. Da sich der Erzähler an Musik oder zumindest durch Musik erinnert, ist diese Musik die Erinnerung selbst; sie kann weiter das, was nicht musikalisch ist an der Erinnerung, miterzählen, da sie zeichenhaft darauf verweist. Ives Liedersammlung, die 114 SONGS, enthält ebenfalls THE POND (REMEMBRANCE) nun zum Song mit der Nummer 12 bearbeitet. Dort treffen wir auf allerlei Texte, die das benennen, auf den Begriff bringen, was wir durch unsere narrative Analyse bereits herausgefunden haben: Das Motto von William Wordsworth: »The music in my heart I bore/ Long after it was heard no more« spricht das zentrale Motiv aus, dass Musik lange, nachdem sie verklungen ist, noch im Herzen, also als Erinnerung und geistiges Vermächtnis, weitergetragen wird und – so darf man sicherlich ergänzen – dort

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einen besonderen Ort, eine spezielle Bedeutung annimmt. Der Liedtext selbst, vermutlich von Ives verfasst, entspricht exakt der musikalischen Narration: »A sound of a distant horn/ o’er shadowed lake is borne, / my father’s song«.29 Ives stark autobiografische Kunst, die in der Kulturgeschichte Nordamerikas keinen Einzelfall darstellt,30 gibt seinen Hörern die Aufgabe, permanent auf dem feinen Grat zwischen realgeschichtlichem und fiktivem Erzählen zu wandern. Die Tatsache, dass Ives seine eigene Vergangenheit ästhetisch überformt und möglicherweise auch stilisiert, sollte ebenso wenig über die tatsächlich erlebten Anteile seiner Erzählung hinweg täuschen, wie umgekehrt jede Note, jedes Zeichen, jede Textierung unmittelbar als authentisches Zeugnis des »echten« Lebens genommen werden kann. Medio tutissimus ibis.

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Mit Morton Feldman hat man weniger leichtes Spiel, wenn es um die Narrativität seiner Musik geht. Bis kurz vor das Jahr 1970 hielt Feldman an einer Ästhetik fest, die nicht nur gegen Narrativität gerichtet war, sondern bereits auch gegen Narrativität konstituierende musikalische Elemente wie Horizontalität, Kontinuität, Konstruktion, ja Struktur überhaupt. An die Stelle dieser prozessualen Zeitfaktoren wollte Feldman eine reine Vertikalität setzen, die jeden Klang für sich und als bloßen Klang oder klingenden Augenblick aufscheinen ließe. Dieser Ansatz war zutiefst a-historisch, antitraditionell und nicht-narrativ. Erst um das Jahr 1970 herum und im Zusammenhang mit seiner Lehrtätigkeit als Professor für Komposition an der New York State University at Buffalo, die ihm eine historische Betrachtung der Musik gewissermaßen abnötigte, begann Feldman seine Extremposition zu relativieren.31 Feldman begann sich einzugestehen, was zuvor bereits latent deutlich wurde, dass Musik nämlich immer Horizontalität, Konstruktion und Geschichte mit sich bringt. Die frühere Entscheidung, diese Dimensionen zumindest ideell oder virtuell soweit als möglich zurückzudrängen (man könnte auch sagen zu verdrängen), nahm er zurück und zog »Kompromisse« in Betracht. Einen solchen haben wir mit der Komposition ROTHKO CHAPEL von 1971 vor uns.

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Das Stück für Viola, Celesta, Schlagzeug, Chor, Sopran und Alt entstand im Auftrag des Ehepaars John und Dominique de Menil, das 1966 den New Yorker Maler Mark Rothko damit betraut hatte, Gemälde für eine neu entstehende katholische Kapelle in Houston zu schaffen. Kurz vor der Fertigstellung dieser ausgesprochen düster gestalteten, überwiegend schwarz und dunkel violett gehaltenen Gemälde nahm sich Rothko 1970 das Leben. Als Hommage an den verstorbenen und befreundeten Künstler erfüllt das Stück auch die Funktion einer Trauermusik zudem mit religiösem Anstrich, da es den Bezug zu dem gottesdienstlichen Gebäude im Titel trägt. Mit der Kapelle ist ein klassischer Erinnerungsort benannt, der hier neben einer symbolischen auch eine handfeste geografische Bestimmung an sich trägt. Feldmans Komposition benennt den Ort, erzählt von ihm, leistet den Transfer von der architektonischen und malerischen Umgebung zur musikalischen Atmosphäre.32 Insofern hat sie den Ort in sich aufgenommen und gibt ihn nun mit ihren eigenen Mitteln wieder. Sie wird zum musikalischen Erinnerungsort für den toten Maler. Um 1970 herum hatte die amerikanische Gesellschaft damit begonnen, sich auf eine offene, tabubrechende Weise mit dem Tod auseinanderzusetzen. Es ging nun nicht mehr primär darum, dem Tod durch physische und ideelle Einbalsamierung den Stachel zu nehmen, sondern den Tatsachen des Sterbens und der Vergänglichkeit ins Auge zu blicken. Verglichen mit anderen Tabuthemen wie Sexualität und Diskriminierung von Minderheiten wurde das Sterben recht spät zum offenen Diskussionsgegenstand. Hier mag der Schock des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust zum langen, verdrängenden Schweigen beigetragen haben. Doch im Jahr 1969 hatte der Vorhang des Schweigens mit der Publikation der Patienten-Studie ON DEATH AND DYING von Elisabeth Kübler-Ross deutliche Risse bekommen und zog eine Welle der Auseinandersetzung mit dem Thema und seiner Tabuisierung nach sich, die auch Züge des gegenkulturellen Aufbegehrens (bis hin zu Experimenten mit LSD bei Sterbenden) trug. Dies führte zu einem neuen Bewusstsein für den Tod, einem »Death-Awareness-Movement«, zu einer Kultur der Todesakzeptanz statt -verdrängung: »By the end of the 1970s, there was little doubt that death and dying had become an integral and passionate part of the national zeitgeist.«33 Es mag Zufall sein, dass Feldman just in dieser Zeit jenes die verlaufende Zeitlichkeit verdrängende, also »zeitlose« Ideal von Komposition relativierte und das Verlaufen und damit das Geschichtliche an seiner Musik akzeptierte. Es mag weiter

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Zufall sein, dass am Beginn dieser Entwicklung mit ROTHKO CHAPEL ein Stück stand, das zudem den Tod und die eigene (Lebens-)Geschichte mit musikalischen Mitteln thematisierte, die den horizontalen Verlauf hervorkehrten.34 Doch anstatt eine bemerkenswerte Kette von Zufällen anzunehmen, erscheint es auch plausibel zu vermuten, dass mit der beruflichen Veränderung zum Kompositionslehrer, mit dem Tod des hochgeschätzten Künstlerfreundes und mit dem »Zeitgeist« der neuen »Death Awareness« Geschichte, Zeit und Vergänglichkeit einen anderen Stellenwert in der Ästhetik des Komponisten bekamen bzw. dass es für ihn notwendig wurde, seine frühere, radikal avantgardistische Sichtweise zu modifizieren. Auch in diesem Fall bedingte der Tod die Hinwendung zu erzählendem Komponieren. Der Tod – um es nochmals mit Benjamin zu sagen – war die Sanktion für das, was der Erzähler berichten konnte. In der Partitur gibt es eine Art Scharnierstelle für den beschriebenen Positionswechsel, der gerade keinen Kontinuitätsbruch wie bei Ives, sondern umgekehrt die Einführung von Kontinuität darstellt. Der zweite Teil des vierteiligen Stücks zeichnet sich zunächst durch Charakteristika älterer Feldman-Kompositionen aus: Eine extrem zurückgenommene Dynamik bestimmt das Geschehen, welche die einzelnen, ja vereinzelten Ereignisse im vierstimmigen Chor und Viola kaum eigens hervortreten lässt. Von einer Progression, einer Entwicklung kann kaum die Rede sein, eher herrscht Stillstand. Dies ändert sich erst in Takt 171 (siehe Beispiel 2), wo die Viola beginnt, eine »echte« Melodie – also etwas, das es bei Feldman zuvor eigentlich nicht gab – zu intonieren. Mit ihr wird die Dynamik über acht Takte hinweg vom dreifachen Piano zum Fortissimo gesteigert. Gegenüber den amorphen Ereignissen zuvor wirkt dies nun wie ein gestalthafter Befreiungsschlag. Dies geschieht in Teil 2 der Komposition nicht noch einmal, im Gegenteil: Er endet mit einer jener Klangfarbenkompositionen Feldmans, die extrem undurchsichtig, ungestalthaft, in sich bewegt und statisch zugleich, und wie die Spielanweisung sagt »barely audibale« ist. Doch was hat es nun mit der Viola-Melodie auf sich? Dass sie kein »Ausrutscher«, sondern vielmehr eine unter narratologischen Geschichtspunkten geschickt eingeführt Prolepsis35 war, macht das Ende des Stücks deutlich. Teil 4 wird wieder von der Viola bestimmt, und zwar hat nun die Melodie, oder das Melodische, ganz zu sich gefunden (siehe Beispiel 3).

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Notenbsp. 2: Morton Feldman: ROTHKO CHAPEL, T. 167-178, Universal Edition, New York 1973

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Notenbsp. 3: Morton Feldman, ROTHKO CHAPEL, T. 320-339, Universal Edition, New York 1973

Feldman setzt hier zur Spielanweisung »very, very simple« eine Melodie, der er selbst als 15jähriger, also 1941 oder 1942, geschrieben hat. Feldman selbst hat sie als »personal reference« bezeichnet, dem er einen »quasiHebraic« Ton zuspricht.36 Feldman war wie Rothko Jude und es spricht vieles dafür, dass auch hier wiederum ein persönlicher Erinnerungsprozess geschildert und insofern autobiografisches Komponieren betrieben wird. Die grenzwertig gestaltlose Textur, die vielen selbstreferenziellen Musikereignisse, welche einen Großteil der Partitur prägen und die dem FeldmanHörer sehr vertraut sind, werden durchbrochen von Melodien oder Melodienfetzen, welche immer wieder und dann gegen Ende des Stücks vollends die Oberhand gewinnen. Eine behutsam sich anbahnende Gewalt der Erinnerung lässt sich nicht mehr verdrängen und singt sich als Melodie aus

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Jugendtagen aus. Nicht zuletzt dies macht das Stück zu einer Gedächtniskomposition. Dafür spricht auch eine weitere Referenz, diesmal im SoloSopran: Er singt eine Melodie, die Feldman eigenen Angaben zufolge am Tage von Strawinskys Begräbnis in New York 1971 komponierte. Die Komposition steht somit in der Tradition der künstlerischen Totenklage, des Tombeaus, der Nänie, und thematisiert das Erinnern an Rothko, also jenen Künstler, der Feldman wesentlich zu seinen abstrakten, »zeitlosen« oder besser »verlaufslosen« musikalischen Texturen inspiriert hat. Dies geschieht ausgerechnet über die Einführung von Verläufen und Kontinuitäten, die zudem als expressiv, lyrisch oder gesanglich charakterisiert werden können, als mache das Erinnern, also ein zeitlicher Prozess, der eine reine Augenblicklichkeit ausschließt, der die Ekstasen der Zeit mit einander verbindet, dem früheren Konzept einen Strich durch die Rechnung. Und nicht umsonst hat Feldman die besagte Melodie der Bratsche anvertraut. Einige Kompositionen aus den Jahren nach 1970, darunter der Zyklus VIOLA IN MY LIFE und VIOLA AND ORCHESTRA präsentieren dieses Instrument mit seinem warmen und möglicherweise klagenden Ton in ausgesprochen melodischer Weise, was Feldman selbst mit Erinnerung in Verbindung bringt: »The recurrent melody serves no structural function. It comes back more as a ›memory‹ than something that moves the work along […] As in a dream, there is no release until we wake up, and not because the dream has ended.«37

Mit der ästhetischen Anerkennung von Erinnerung, bedingt durch den Tod, geht auch die Rehabilitation von Kontinuität, Verlauf, Geschichte, zunächst als persönliche Geschichte, als Biografie, aber auch als Kulturgeschichte (mit ihren Elementen Tod, Rothko, Jüdische Musik, Feldman, Strawinsky) einher.

J OHN A DAMS UND DIE N AHTODERFAHRUNG

KOLLEKTIVE

In den zuvor betrachteten Kompositionen errichteten Ives und Feldmans musikalische Narrationen subjektive, sehr persönliche (H-)Orte der Erinnerung an die Verstorbenen. Mit ON THE TRANSMIGRATION OF SOULS (2002)

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schuf John Adams hingegen einen Raum der kollektiven Erinnerung an den gewaltsamen Tod von 2.977 Menschen bei den Terroranschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001. Trotz des zeitlichen Abstand von nunmehr 13 Jahren und der umfangreichen Rezeption in Kunst und Literatur,38 ist es schwierig die Konsequenzen abzuschätzen, welche 9/11 für das Verhältnis der Bevölkerung der USA (oder auch anderswo) zu Tod, Streben und Trauer haben wird. Es herrschen immer noch Verstörung und offene Fragen bezüglich dieses von Millionen von Menschen am Bildschirm, quasi Live verfolgten Ereignisses, das Lawrence L. Samuel nicht unpassend als »kollektive Nahtoderfahrung« bezeichnet: »The event of 9/11 shifted the narrative of death in America, the collective ›neardeath experience‹, as some referred to it, making us all feel more vulnerable. Besides the sheer number of people who died […] it was the way they died […] that was so disturbing.«39

Während Ives und Feldman eine persönliche Erfahrung anbieten, die ihrer Grundthematik nach auch intersubjektiv teilbar ist, zeigt Adams umgekehrt die Herausforderung an die Gemeinschaft im Umgang mit einer kollektiven Verwundung, worin das Persönliche aufgehoben ist. Kollektives und persönliches Trauern durchmischen sich in allen Beispielen, wobei die Ausgangspunkte jeweils unterschiedlich sind. Um einen gemeinsamen Erinnerungsort zu kreieren,40 musste Adams die Trauer bis zu einem gewissen Grad depersonalisieren. Etwas Vergleichbares hatte Ives bereits in seinem Stück FROM HANOVER SQUARE NORTH, AT THE END OF A TRAGIC DAY, THE VOICE OF THE PEOPLE AGAIN AROSE (1915), dem dritten Satz des Orchestral Sets Nr. 2, getan, das die Reaktionen der Bevölkerung New Yorks auf die Nachricht vom Untergang der RMS Lusitania thematisiert.41 Das britische Passagierschiff war am 7. Mai 1915 bei seiner Überfahrt von New York nach Liverpool von einem deutschen U-Boot in der Irischen See versenkt worden, wobei über die Hälfte der knapp 2.000 Menschen an Bord ums Leben kam. Ives verwendet in seiner Collage u.a. Kirchenlieder und Teile des anglikanischen Te Deums, um in der Trauer die »Stimme des Volkes«, wie es im Titel heißt, hervortreten zu lassen, um also eine kollektive, demokratische Trauererfahrung zu formulieren. Adams nimmt sich Ives zum Vorbild. Auch seine Tätigkeit als Dirigent ist im Jahrzehnt vor der Jahrtausendwende stark von Ives Musik geprägt, allem voran der FOURTH SYM-

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PHONY und den THREE PLACES IN NEW ENGLAND. Die Nähe zu ihm schlägt kompositorisch nicht nur in der dreisätzigen Orchesterkomposition MY FATHER KNEW CHARLES IVES von 2003 nieder, sondern auch in ON THE TRANSMIGRATION, indem hier Ives THE UNANSWERED QUESTION »a kind of ghost in the background«42 bildet. Diese Komposition bot sich erstens deshalb an, weil ihr Titel als Verweis auf den verstörenden Charakter der Anschläge und die Offenheit der Frage des Umgangs damit verwendet werden kann, und zweitens weil ihre Zeitgestaltung als prominentes Beispiel für ein musikalisches Zeitlupentempo fungiert,43 welches Adams sich für seine Komposition vorstellte (siehe weiter unten). Doch mochte Adams kein musikalisches Sprachrohr der von ihm selbst als problematisch empfundenen öffentlichen Repräsentation von 9/11 sein. Am musikalischen Erinnerungsort der kollektiven Trauer sucht er daher – soweit es geht – eher das Persönliche, Zivile, nicht das ideologisch aufgeladene Politische auf.44 »Im Stück vermischt sich die nationale mit der persönlichen Katastrophe. Der Angriff auf die Nation wird als Angriff auf die Familie dargestellt.«45 Wenn Adams bestreitet, ein erzählendes Stück verfasst zu haben (»I had no desire to create a musical ‚narrative‘ or description. Nothing could be more distasteful and banal«46), so meint er damit, dass er darauf verzichtet habe, eine Art sinfonische Dichtung über den Anschlag und seine Folgen zu schreiben; dies wäre in der Tat vermutlich eher zu einer Geschmacklosigkeit geraten.47 Doch auch wenn hier keine narrative Anlage im engeren Sinne vorliegt, dann kann der narrative Gehalt im oben genannten, erweiterten Sinne, als zeitliches Gefüge von musikalischen Gestalten, welche nicht bloß selbstreferentiell wären, sondern sich zeichenhaft auf etwas Extra-Musikalisches beziehen und von diesem insofern erzählen, nicht übersehen werden. Adams selbst benennt den narrativen Ansatzpunkt:

»[S]omething I had seen on an amateur video taken minutes after the first plane had hit the first tower stuck in my mind: it was an image of millions and millions of pieces of paper floating out of the windows of the burning skyscraper and creating a virtual blizzard of white paper slowly drifting down to earth. The thought of so many lives lost in an instant–thousands–and also the thought of all these documents and memos and letters, faxes, spreadsheets and God knows what, all human record of one kind or another–all of this suggested a kind of density of texture that I wanted to capture in the music, but in an almost freeze-frame slow motion.«48

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Das Bild der Millionen von umher und langsam zu Boden flatternden Zettel wird zum Symbol der Sterbenden und der Erinnerung an sie (»all human record«), die darin enthaltene Dichte und die spezielle Form der Bewegung zum Analogon der musikalischen Struktur. Insofern erzählt die Musik von den Ereignissen dieses Tages. Zur instrumentalmusikalischen Schicht treten die aufgezeichneten Geräusche einer Citysoundscape (Schritte, Hupen, Sirenen etc.) und zwei Vokalschichten, nämlich der Chor (Erwachsene und Kinder) und ebenfalls zuvor aufgezeichnete gesprochene Worte. Die Texte beider Vokalschichten setzen sich zusammen aus den PORTRAITS OF GRIEF, also jenen Kurzbiografien von Opfern, welche die New York Times nach den Anschlägen veröffentlicht hatte, der Lesung einiger ihrer Namen sowie aus handgeschriebenen »Vermisstenanzeigen«, welche die Fotografin Barbara Hawes am Ground Zero dokumentiert hatte. Während dem Stück über weite Strecken ein ruhiger, kontemplativer Gestus im Sinne von Ives UNANSWERED QUESTION zugrunde liegt, der narrativ als Betreten und Verlassen eines geteilten Raums des Erinnerns und Gedenkens – Adams nennt gotische Kathedralen in Frankreich als Vorbild49 – verstanden werden kann, gerät die Narration dort besonders plastisch, wo sich der dynamische Höhepunkt des Stücks formiert. In der auf die erschütternden Sätze des Chors »I wanted to dig him out. I just know where he is« folgenden instrumentalen Passage (T. 343ff.) werden die musikalischen Gestaltungsebenen Lautstärke, Dichte, Ambitus des Orchesterapparats, Klangfarbe und Dissonanzgrad in die Extreme getrieben, die Bewegung beschreibt »dynamische Wellen«, »die mehrfach stufenloses, schnelles Heranbrausen suggerieren«50, wodurch die Übereinanderlagerung zweier Schreckensbilder in der Vorstellung des Hörers evoziert wird: »das Ausgraben der Leichen und der Anblick des von Trümmern zerstörten Körpers«51 einerseits, die vorangehende Brutalität des Anschlags beim Aufprall des Flugzeugs in die Gebäude und das Zusammenbrechen der Türme andererseits. Die Gewalt der Musik lässt den Hörer die Schreckensgewalt des Vorgangs geradezu körperlich nachspüren. An dieser Stelle trägt Adams musikalische Erzählung weniger die Züge des meist stillen, trauernden Gedenkens als vielmehr des expressiv dargebotenen Schocks im Sinne einer Ästhetik des Erhabenen. Hier findet eine direkte Konfrontation der Musik und ihrer Hörer mit dem Tod statt, vergleichsweise unverblümt und traumatisch; hier reflektiert Adams musikalisch, was 9/11 für viele Menschen bedeutete: eine kollektive Nahtoderfahrung.

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R ESÜMEE Die drei vorgestellten Narrative vom Tod und Trauern weisen an jeweils zentralen Stellen Brüche der zuvor etablierten Kontinuität oder Gestaltung auf. Darauf gründet sich ihre Narrativität. Der Tod materialisiert sich als Diskontinuität, als Abweichung, als einschneidende Veränderung, die klanglich und strukturell reflektiert wird, und greift somit als einbrechendes Wie auf das (ab-)laufende Was über. Dieser Befund deckt sich mit der grundlegenden Einsicht russischer Formlisten, nach welcher das Sujet (als narrativer Formungsakt, als Wie) vor allem eine Deformation, Verfremdung, Verletzung der Fabel (der »story«, des Was) bedeute52. Doch die musikalischen Geschichten entstehen nicht allein durch den bloßen Klang oder die formale Struktur der Musik. Sie müssen vielmehr hörend mitvollzogen, als Prozesse, Abläufe, Aufeinanderfolge und als Verhältnisse der Ereignisse zueinander erkannt werden. Ferner reichern sich die Geschichten immer weiter an, je tiefer der Hörer nicht nur beim aktuellen Zuhören, sondern bei der Beschäftigung mit dem Komponisten und der Musik- und Zeitgeschichte eindringt. Für das Verständnis einer musikalischen Narrativität gehört dieser Kontext vermutlich ebenso zur Musik wie ihr Klang, ihre Harmonik oder ihr Rhythmus. Wer erzählt eigentlich diese Geschichten? Der Komponist kommt als Erzähler in Frage, da er durch Musik erzählen lässt und das, was als Musik verläuft, gespielt und gehört wird, gewissermaßen meta-narrativ in die Wege leitet, initiiert. Das Erzählen ereignet sich aber vor allem als Akt des Mit- oder Nachvollzugs der Erzählung durch den Besuch eines Konzerts, das Hören einer Aufnahme oder das Vorstellen der Klangfolgen durch das Studium der Partitur. Einen wesentlichen Anteil am Erzählen hat sicherlich der Musiker als Interpret. Seine Art der Wiedergabe eines Stücks, seine Phrasierung, seine Betonung, Artikulation, sein Ton, seine Gesten, seine Mimik etc. machen die Musik nicht nur zuerst erlebbar, sondern sie »erzählen« sie auch, indem diesem oder jenem Detail eine »Bedeutung«, eine emotionale Anbindung, dem Ganzen eine spezifische Stimmung zugeordnet wird. Interpret der Musik ist aber auch der Hörer, nicht anders als es der Leser/Hörer einer sprachlich übermittelten Geschichte ist, aber in genau dem Maße mehr, in welchem die Musik offener gegenüber Interpretationen ist als sprachliche Gebilde. Es ist davon auszugehen, dass ein Hörer ein Stück Musik kontextualisiert und bis zu einem gewissen subjektiven Grad,

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je nach Art der Informiertheit über mögliche historische Kontexte und die Verwendung musikalischer Semata, Symbole oder Metaphern in unterschiedlichem Maße narrativisiert, wozu er durch die Gestalt der Musik selbst und ihre Wiedergabe motiviert wird. Eventuell gibt es außerdem so etwas wie einen musikinternen Erzähler, eine Art musikalische Kontinuität, die den Hörer oder Leser der Partitur durch die Geschichte führt. Dieser Erzähler scheint mir aber schwer zu fassen. Er wäre so etwas wie ein »musikalisches Subjekt«53, also eine Art Ich-Erzähler, der seine Geschichte, seine Entwicklung oder – dramatisch gewendet – sein Schicksal erzählt, indem er das ist, was er ist: Musik.

A NMERKUNGEN 1 Eine Auswahl: Müller, Ruth E.: Erzählte Töne. Studien zur Musikästhetik des späten 18. Jahrhunderts Stuttgart 1989; Kramer, Lawrence: Music as Cultural Practice, 1800-1900, Berkeley/CA 1990, Abbate, Carolyn: Unsung Voices: Opera and Musical Narrative in Nineteenth Century, Princeton/NJ 1991; Almén, Byron: A Theory of Musical Narrative, Bloomington/IN 2008; Sichardt, Martina: Entwurf einer narratologischen Beethoven-Analytik, Stuttgart 2012. Speziell zum 20. Jahrhundert: Melbeerg, Vincent: New Sounds, New Stories. Narrativity in Contemporary Music, Amsterdam 2006; Klein, Michael/Reyland, Nicholas (Hrsg.), Music and Narrative since 1900, Bloomington/IN 2013. 2 Vgl. einführend dazu Danek, Georg/Hagel, Stefan: »Homer-Singen«, in: Wiener Humanistische Blätter (1995), S. 5-20. 3 Vgl. die kleine Zusammenstellung bei Reyland, Nicholas: »Negation and Negotiation: Plotting Narrative trough Literature and Music from Moderism to Postmodernism«, in: Klein/Reyland (wie Anm. 1), S. 2956, hier S. 29f. 4 Vgl. Klein, Michael L.: »Musical Story«, in: Klein/Reyland (wie Anm. 1), S. 3-28, hier S. 5. 5 Farrel, James J.: Inventing the American Way of Death, 1830-1920, Philadelphia 1980, S. 3. 6 Vgl. Jessica Mitford, die mit ihrer kritischen Studie The American Way of Death, New York 1963, diesen Ausdruck prägte.

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7 Siehe z.B. Schofield, Ann: »The Fashion of Mourning«, in: Representations of Death in Nineteenth-Century US Writing and Culture, hrsg. von Lucy E. Frank, Aldershot 2007, S. 158-171, die das Trauern als »key component of a sentimental culture that marked the American bourgoisie« beschreibt, welches sich um 1900 zu einer regelrechten und überwiegend femininen Modeerscheinung entwickelte. 8 Vgl. Frye, Northrop: »Archetypes of Literature« [1951], in: The Norton Anthology: Theory and Criticism, hrsg. von Vincent B. Leitch, New York 2001, S. 1445-1457, wo der Tod als Narrativ einer der vier archetypischen Phasen erscheint: »The sunset, autumn and death phase. […] The archetype of tragedy and elegy.« 9 Benjamin, Walter: »Der Erzähler« [1936], in: ders., Erzählen. Schriften zur Theorie der Narration und zur literarischen Prosa, hrsg. von Alexander Honold, Frankfurt am Main 2007, S. 114. 10 Die unter anderen Vorzeichen (des frühen Films) auch von McDonald, Matthew: »Ives and the Now«, in: Klein/Reyland (wie Anm. 1), S. 285307, thematisiert wird. 11 Ebd., S. 300: »Ives’s use of memory fragments might be understood as palliatives against mortality – his fellow citizens’, and his own.« 12 Kramer, Lawrence: »Musical Narratology. A Theoretical Outline«, in: Indiana Theory Review 12 (1991), S. 141-162, hier S. 161f. 13 Für eine gelungene Einführung siehe z.B. Schmid, Wolf: »Russische Literaturtheorie und internationale Narratologie«, in: Geisteswissenschaften in der Offensive. Hamburger Standortbestimmungen, hrsg. von Jörg Dierken/Andreas Stuhlmann, Hamburg 2009, S. 100-116. 14 Barthes, Roland: »Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen« [1966], in: ders., Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 2002, S. 102-143, Genette, Gérard: Die Erzählung [1972], München 1998. 15 Vgl. Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hrsg.), Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, Trier 2002; Mahne, Nicole: Transmediale Erzähltheorie, Göttingen 2007. 16 Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 2007. 17 Ebd., S. 9. 18 Vgl. auch Aristoteles, Poetik, 1451b, übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 30f.

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19 Anthony Newcomb und Lawrence Kramer sehen darin gerade das Spezifische des Narrativen und haben für unterschiedliche Sonatenfinali (Newcomb: Sonatenrondo in Robert Schumanns Streichquartett A-Dur op. 42, und Kramer: Sonatenhauptsatzform in Beethovens Streichquartett op. 135) narratologische Vorschläge gemacht, vgl. Newcomb, Anthony: »Schumann and Late Eighteenth-Century Narrative Strategies«, in: 19th-Century Music 11/2 (1987), S. 164-174; Kramer (wie Anm. 12). 20 Vgl. Herzfeld, Gregor: Zeit als Prozess und Epiphanie in der experimentellen amerikanischen Musik. Charles Ives bis La Monte Young, Stuttgart 2007, S. 26-47. 21 Ebd. 22 Feder, Stuart: Charles Ives: My Father’s Song. A Psychoanalytic Biography, New Haven/CT 1992. 23 Laderman, Gary: The Sacred Remains. American Attitudes Toward Death, 1799-1883, New Haven/CT 1996, S. 97, sowie die Zahlen auf S. 96. 24 Ebd., S. 169, 170, 173. 25 Vgl. ebd., S. 157-163. 26 Siehe Kunhardt, Dorothy Meserve/Kunhardt Jr., Philip B.: Twenty Days: A Narrative in Text and Pictures of the Assassination of Abraham Lincoln and the 20 Days and Nights that Followed; the Nation in Mourning, the Long Trip Home to Springfield, San Bernardino/CA 1986. 27 Emerson, Ralph Waldo: »Abraham Lincoln« [1865], in: Essential Writings, hrsg. von Brooks Atkinson, New York 2000, S. 829, 832. 28 Das Konzept des Erinnerungshorts hat Jürgen Osterhammel im Anschluss an Pierre Noras LES LIEUX DE MÉMOIR, Paris 1984-1992, als Sonderform des Erinnerungsorts entwickelt, siehe Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 31-44. Erinnerungshorte bezeichnen die Speicher und Potenziale eines möglichen Erinnerungsvorgangs, also nicht den Ort, an dem tatsächlich erinnert, sondern das Reservoir, aus dem geschöpft wird. Eine Übertragung auf die Musik leistet Herzfeld-Schild, Marie Louise: »Das ›Gotteslob‹ als emotional-musikalischer Erinnerungs(h)ort«, in: Lieder/ Songs als Medien des Erinnerns (= Lied und populäre Kultur/Song and Popular Culture 59) (2014), S. 75-94.

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29 Man beachte den Anklang des Reimworts zum Wordworth-Reim: »horn«, »borne« zu »bore«, »more«. 30 Sayre, Robert F.: »Autobiography and the Making of America«, in: Autobiography. Essays Theoretical and Critical, hrsg. von James Olney, Princeton/NJ 1980, S. 146-168; Eakin, Paul John (Hrsg.), American Autobiography: Retrospect and Prospect, Madison/WI 1991. 31 Vgl. Herzfeld, Gregor: »Historisches Bewusstsein in Morton Feldmans Unterrichtsskizzen«, in: Archiv für Musikwissenschaft 66/3 (2009), S. 218-233. 32 Für eine detaillierte Analyse und den Bezug zur »Komposition« Rothkos siehe Johnson, Steven: »›Rothko Chapel‹ and Rothko’s Chapel«, in: Perspectives of New Music 32/2 (1994), S. 6-53. 33 Samuel, Lawrence R.: Death, American Style. A Cultural History of Dying in America, Lanham/MD 2013, S. 101. 34 Ein weiteres, ein Jahr älteres Beispiel ist das Ensemblestück MADAME PRESS DIED LAST WEEK AT NINETY von 1970, das im Gedenken an Feldmans Klavierlehrerin Madame Maurina-Press geschrieben wurde. 35 Bei Genette bilden Analepse und Prolepse die beiden wichtigsten Anachronien und somit Gestaltungsmittel der Erzählzeit, vgl. Genette, Gérard: Die Erzählung [1972], München 1998, S. 25. 36 Feldman, Morton: »Rothko Chapel« [1976], in: Give my Regards to Eighth Street. Collected Writings of Morton Feldman, hrsg. von B. H. Friedman, Cambridge 2000, S. 125-126, hier S. 126. 37 Feldman, Morton: »The Viola in My Life« [1972], in: ebd., S. 90-91, hier S. 91. 38 Stellvertretend für die vermutlich in die Tausende gehenden Titel sei hier auf zwei Überblickswerke verwiesen: Atkins, Stephen E. (Hrsg.): The 9/11 Encyclopedia, Westport/CT 2011; Quay, Sara E. (Hrsg.): September 11 in Popular Culture: A Guide, Santa Barbara/CA 2010. 39 Samuel (wie Anm. 33), S. 146. 40 Adams spricht dezidiert von einem Erinnerungsort (»memory space«), um sich von anderen traditionsreichen Begriffen wie »Requiem« oder »Denkmal« (»memorial«) abzugrenzen, siehe das auf Adams Website publizierte Interview, das 2002 auf der Seite des New York Philharmonic Orchestra erschien: http://www.earbox.com/chorus/on-the-trans migration-of-souls (Abruf am 5. März 2015).

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41 Auf die Parallele zwischen Adams und Ives Stück macht David Schiff aufmerksam: »Memory Spaces (›On the Transformation of Souls‹) (2002)« [2003], in: The John Adams Reader. Essential Writings on an American Composer, hrsg. von Thomas May, Pompton Plains/NJ 2006, S. 189-195, hier S. 193. 42 »John Adams Discusses ›On the Transmigration of Souls‹. Interview by Daniel Colvard« [2004], in: ebd., S. 198. 43 Vgl. Almén, Byron/Hatten, Robert S.: »Narrative Engagement with Twentieth-Century Music: Possibilities and Limits«, in: Klein/Reyland (wie Anm. 1), S. 59-85, hier S. 69. 44 Es ergibt sich unweigerlich die Schwierigkeit, dass die Terroranschläge von der politischen Führung gerade als Angriff auf das Persönliche – die individuelle Freiheit, die Familie – auf genuin amerikanische oder westliche Werte eingeschätzt und propagiert wurden. Wenn Adams also die Trauer der Individuen in den Vordergrund rückt, stützt er, beabsichtigt oder nicht, diese politische Lesart. 45 Wolf, Rebecca/Cha, Kyung-Ho: »Terror und Therapie – Musikalische Form und die Poetik der Trauerarbeit nach 9/11 in John Adams ›On the Transmigration of Souls‹«, in: Limbus 4: Terror und Form, hrsg. von Franz-Josef Deiters u.a., Freiburg im Breigau 2011, S. 259-276, hier S. 266. 46 Interview mit Adams, http://www.earbox.com/chorus/on-the-transmigra tion-of-souls (Abruf am 5. März 2015). 47 Hier ist keine kritische Interpretation der kollektiven Trauerarbeit an den Ereignissen des 11. September angestrebt, sondern eine möglichst wertungsfreie Beschreibung bestimmter Teilaspekte. Für eine Kritik an der politischen Ideologisierung des Vorgangs – der »sanctification and personalization in the cause of upholding the image of a flourishing civil society and a providential national destiny«, die ihre Vorgänger in Lexington, Concord und Gettysburg habe und als Legitimation für weitere verlustreiche Kriege (Irak und Afghanistan) vereinnahmt wurde, siehe Simpson, David: 9/11. The Culture of Commemoration, Chicago 2006, hier S. 29. Adams selbst ist sich der heiklen Lage in der politischen und medialen Rezeption von 9/11 bewusst, die er in seiner autobiografischen Nachlese von 2008 mit dem Verweis auf die Worte des Romanciers Philip Roth als kollektives Zum-Oper-Machen und

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Orgie des Narzissmus beschreibt, vgl. Adams, John: Hallelujah Junction. Composing an American Life, New York 2008, S. 264. Interview mit Adams, http://www.earbox.com/chorus/on-the-transmigra tion-of-souls (Abruf am 5. März 2015). Ebd. Wolf/Cha (wie Anm. 45), S. 271. Ebd., S. 272. Vgl. etwa Victor Šklovskij nach Schmid (wie Anm. 13), S. 105f. Vgl. Massow, Albrecht von: Musikalisches Subjekt. Idee und Erscheinung in der Moderne, Freiburg im Breisgau 2001.

Semiotische Grundlegung musikalischer Narration BEATE KUTSCHKE

I. V ERBALSPRACHLICHE VS . MUSIKALISCHE N ARRATION – EIN SEMIOTISCHES P ROBLEM Spätestens mit der Entwicklung der sinfonischen Dichtung, d.h. seit etwa der Mitte der 1850er Jahre wird Musik – genauer: werden einzelne ihrer Gattungen oder Werke – als narrativ begriffen. Artikulierte sich diese Auffassung dabei überwiegend implizit, indem einzelnen Werken Programme beigefügt wurden oder eine Autorin die Geschichte, die ihrer Auffassung nach eine Komposition ›vorstellt‹, schriftlich dokumentierte – die Publikationen der Musikhermeneutiker sind hierfür paradigmatisch1 –, so wird seit den ausgehenden 1980er Jahren versucht, das Phänomen der musikalischen Narrativität theoretisch zu erfassen.2 Autorinnen3 gehen dabei meist so vor, dass sie zunächst erörtern, was wir unter Narrativität in Bezug auf verbalsprachliche Texte verstehen und durch welche Merkmale sich verbalsprachliche4 Narration gemäß der Resultate literaturwissenschaftlicher Forschung auszeichnet. Im Anschluss daran untersuchen sie in der Regel, inwiefern Musik, die wir als narrativ klassifizieren, gleiche Merkmale aufweist.5 (Die Autorinnen reden in der Regel allgemein von Musik, d.h. sie differenzieren zwischen verschiedenen musikalischen Stilen und Epochen und den gravierenden Veränderungen, die in der Musikgeschichte erfolgt sind, nicht; sie verdeutlichen ihre Auffassungen jedoch in der Regel anhand von Fallbeispielen. Mit dem Begriff ›Musik‹ beziehe ich mich in diesem Kontext auf die Musik des westlichen

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Abendlandes seit der Renaissance bis zur jüngsten Gegenwart; ich klammere folgende Epochen und Stile aus: die Musik der Antike, weil über sie zu wenig bekannt ist, um sicherstellen zu können, dass meine Ausführungen auf sie widerspruchsfrei beziehbar sind; die Musik des Mittelalters, weil sie teilweise mehr verbalsprachlich-rhetorischen als musikalischen Regeln (im engeren Sinn) folgt; sowie Stile der Avantgardemusik seit dem frühen 20. Jahrhundert, die die Gattungsgrenzen zur Poesie (wie z.B. Schwitters »Ursonate«6 oder Stockhausens AUS DEN SIEBEN TAGEN) und/oder zur gestaltenden Kunst (z.B. Klanginstallationen und verschiedene graphische Partituren wie Earle Browns DECEMBER 1952) überschreiten. Ich schließe Vokalmusik nicht aus, begreife hier jedoch nur die klangliche, nicht die verbalsprachliche Schicht als Musik im engeren Sinn. D.h. Vokalmusik ist diesem Verständnis nach Instrumentalmusik mit einer zusätzlichen verbalsprachlichen und somit gattungsfremden Bedeutungsschicht.) In allen Untersuchungen wird schnell sichtbar, dass sich der Begriff des Narrativen und dessen verschiedene Derivate, die im auf verbalsprachliche Mittel fokussierten literaturwissenschaftlichen Kontext geprägt wurden, nicht einfach auf Musik übertragen lassen. Denn gerade die zentralen Elemente von Narrativität, wie sie gegenwärtig von der Erzähltheorie insbesondere im Anschluss an Gérard Genette7 gelehrt werden, sind im musikalischen Bereich nicht nachweisbar. Es gibt erstens keine klar erkennbare Erzähler- oder Vermittlungsinstanz, die den geltenden Theorien nach für die verbalsprachliche Erzählung konstitutiv ist (eine Differenzierung hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Erzähler und Erzähltem – in verschiedene Modi der Fokalisierung sowie der Diegese (hetero-, homo- und autodiegetisch8) – erübrigt sich daher).9 Das Fehlen einer Vermittlungsinstanz in der Musik hat zur Folge, dass zweitens die für die verbalsprachliche Erzählung im Vergleich zum Drama charakteristische stärkere Mittelbarkeit fehlt (anders als auf der Theaterbühne oder im Film werden die Ereignisse in der verbalsprachlichen Erzählung nicht direkt gezeigt oder vorgeführt, sondern sie werden erzählt10 – wobei der Grad der Mittelbarkeit in Erzählungen variieren kann;11 eine solche Differenzierung in Grade der Mittelbarkeit sind in der Musik nicht evident).12 Drittens enthalten verbalsprachliche Erzählungen – anders als Kompositionen, die als narrativ begriffen werden – konkrete Geschichten mit anthropomorphen Akteuren, die in Zeit und Raum handeln. Alle diese Merkmale weist Musik, so Jean-Jacques Nattiez und Carolyn Abbate, nicht auf.13 Dennoch hält Abbate implizit daran fest, dass Musik Bedeutungen

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vermittelt, die Narration äquivalent sind,14 und Vincent Meelberg plädiert in seiner 2006 erschienenen Monographie zur musikalischen Narrativität dafür, dass Hörerinnen zahlreiche Kompositionen, insbesondere auch atonale Musik des 20. Jahrhunderts, als narrativ hören.15 (Meelberg oszilliert dabei zwischen der Auffassung, dass Musik an sich ›narrative Züge‹ [»narrative traits«] besitze,16 und derjenigen, dass es Werke oder Stile gibt, deren Eigenschaften uns besonders motivieren, sie als narrativ zu hören, d.h. ihnen diese Eigenschaften zuzuschreiben, ohne dass sie von der Komponistin intendiert angelegt wurden.17) Er hebt dabei darauf ab, dass Musik als Zeitkunst die Linearität und das Telos einer Erzählung evoziert: »Narratives suggest some sense of motion, a sense of going in some direction. Music elicits this sense perhaps even stronger than verbal narrative does. Therefore, in this chapter, I discuss the ways music can arouse this feeling of linearity and goaldirected motion within a narratological context.«18

Was ist der Grund für – zum einen – die Inkompatibilität der Musik bezüglich der Übertragbarkeit der Idee des Narrativen aus dem verbalsprachlichen Bereich? Was motiviert uns, trotz allem an der Idee musikalischer Narrativität festzuhalten? Ich werde beiden Fragen getrennt voneinander in diesem sowie in den nachfolgenden Abschnitten nachgehen. Dabei werde ich eine weitere Kunstform – narrativen Tanz – als Untersuchungsgegenstand hinzuziehen, die wie Musik auch auf der Basis des Bezugnahmemodus ›Ähnlichkeit‹ funktioniert, und ein Musikbeispiel, eine Passage aus Mahlers Zweiter Symphonie analysieren. Beide, Musik und Verbalsprache, teilen zwar miteinander die Eigenschaft, Zeichensysteme zu sein, (und die Übertragung eines Konzepts aus dem einen Bereich in den anderen bietet sich insofern an); beide Zeichensysteme funktionieren jedoch recht unterschiedlich (und von einer Übertragung ist insofern also eher abzuraten). Wir, die Zeicheninterpreten oder Zeichenverwender, schreiben verbalsprachlichen Zeichen – oder genauer: verbalsprachlichen Signifikanten (oder Bezeichnendem) als eines der beiden Elemente der zweistelligen Relation ›Zeichen‹ – zu, auf Dinge, Phänomene oder Personen, also Signifikate (oder Bezeichnetes) als das zweite der beiden Elemente der zweistelligen Relation ›Zeichen‹, Bezug zu nehmen.19 (Mit dem Begriffspaar ›Bezeichnendem – Bezeichnetem‹ führe ich hier zum Zwecke der besseren Vergleichbarkeit zwischen Musik und Ver-

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balsprache Termini ein, die bezüglich aller möglichen Zeichentypen – als zweistelligen Relationen – die beiden Elemente der zweistelligen Relation bezeichnen, wohingegen das Begriffspaar ›Signifikant – Signifikat‹ der diskursiven Praxis nach nur auf verbalsprachliche Zeichen angewendet wird.) Unsere Zuschreibungen erfolgen auf der Basis von Stipulation, d.h. erlernten Bezugnahmekonventionen, die wir als aktive Zeichenverwender im Kontext der aktuellen Zeichenpraxis erkennen und konsolidieren (sowie kontinuierlich auch modifizieren). Die Bezugnahme im Modus der Stipulation muss deshalb erlernt und durch Praxis konsolidiert werden, weil in diesem Bezugnahmemodus keine ›naturgegebene‹ Beziehung, kein ›geheimnisvolles Band‹ zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem besteht, das von den Zeichenverwenderinnen unabhängig von der Kenntnis der Vereinbarung erkannt werden könnte.20 Deren Verhältnis ist arbiträr. Paradigma für solche ›künstlichen‹ Zeichen ist sicherlich das Verhältnis zwischen einem Wort, d.h. einem verbalsprachlichen Signifikanten (oder Bezeichnendem) und seinem Signifikat (oder Bezeichnetem). Stipulation als Bezugnahmemodus von verbalsprachlichen Zeichen wird weiter ausdifferenziert durch grammatikalische Regeln zum Satzbau und zur Wortbildung (Konjugation und Deklination), die Propositionalbildungen – also Hierarchisierungen zwischen dem Inhalt von Gedanken und den diese äußernden (oder nur denkenden) realen und fiktiven Subjekten – zulassen, die als solche wiederum nur aufgrund von bestehenden Konventionen verstanden werden. Für die Erzählung, wie sie in den Literaturwissenschaften in Bezug auf verbalsprachliche Texte verstanden wird, ist historisch gewachsene und konsolidierte, der Sache nach jedoch arbiträre Stipulation somit konstitutiv. Sie stellt – dies wird in Abschnitt II noch genauer zu erörtern sein – die Grundlage für die Konstruktion einer Vermittlungsinstanz, einer Erzählerfigur, dar. Sie erzeugt die für die Erzählung charakteristische Mittelbarkeit – das Dargestellte und Bezeichnende ist mit dem Bezeichneten nicht identisch; die eigentliche Geschichte, die Ereignisse und Personen der Handlung werden nicht unmittelbar gezeigt, sondern über die Erzählerinstanz vermittelt – und erlaubt die Darstellung komplexer lebensweltlichen Ereignisabfolgen und deren anthropomorphen Akteure. Der Bezugnahmemodus von Musik ist demgegenüber ein grundsätzlich anderer: Bezugnahme basiert nicht auf der Sache nach historisch gewachsener und durch Praxis konsolidierter, jedoch bezüglich der Beziehung

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zwischen Bezeichnendem und Bezeichneten arbiträrer Stipulation, sondern auf Beobachtung – oder besser: Konstruktion – von Ähnlichkeiten zwischen musikalischen Konstellationen und deren einzelnen Eigenschaften (dem Bezeichnenden) auf der einen und anderen musikalischen Konstellationen oder außermusikalischen Phänomenen (dem Bezeichneten) auf der anderen Seite.21 Zwar sind die Hinsichten, in denen Ähnlichkeiten zwischen zwei beliebigen Dingen oder Phänomenen hergestellt werden können, sehr vielfältig;22 die Konstruktion von Ähnlichkeit als Voraussetzung dafür, dass eine Zeichenverwenderin einem Ding oder Phänomen zuschreibt, auf ein Bezeichnetes Bezug zu nehmen, geht letztlich jedoch immer darauf zurück, dass sie Eigenschaften beider fokussiert, die sie als relevant oder signifikant beurteilt.23 Die skalengebundene, wellenartige Melodiebewegung der beiden Flöten in den Takten 14-15 in Smetanas Moldau weist hinsichtlich ihrer melodischen Kontur z.B. Ähnlichkeiten zur Melodiebewegung der Takte 1-2 der gleichen Komposition auf und wird von Hörerinnen somit als Variante des Eingangsmotivs identifiziert; zugleich imitiert diese melodische Kontur – als Bewegungsgestus und onomatopoietisch – die Wasserbewegung und -geräusche einer ›murmelnden‹ Quelle und legt den Hörerinnen nahe, die melodische Kontur auf die Quelle der Moldau zu beziehen. Der Unterschied zwischen beiden Bezugnahmetypen – Bezugnahme mittels Stipulation und Bezugnahme mittels Ähnlichkeit – liegt dabei nicht in der Art und Weise ihrer Genese; bei Bezugnahmen beiden Typs muss die Bezugnahme von Zeichenverwenderinnen erst hergestellt werden. Der Unterschied liegt im Herstellungsprozess und im Freiheitsgrad, den die jeweilige Zeichenverwenderin bei der Bezugnahme hat: Bezugnahmen mittels Stipulation lassen der einzelnen Zeichenverwenderin vergleichsweise wenig Spielraum, auf welche Bezeichneten das Bezeichnende zu beziehen ist. Das Bezugnahmespektrum ist in der Diskursgemeinschaft beschränkt. Für das Bezugnahmespektrum beim Bezugnahmemodus Ähnlichkeit existiert kein durch Konvention vorgegebenes Bezugnahmespektrum. Die Zeichenverwenderin kann somit alle möglichen Bezüge herstellen – zumal alle Dinge und Phänomene sich in der einen oder anderen Hinsicht ähnlich sind.24 Selbstverständlich spielen – ähnlich wie bei der Verbalsprache – jedoch auch Konventionen und Kontexte in Bezug auf die Konstruktion von Ähnlichkeiten eine wichtige Rolle. Sie lenken unsere Zeichenpraxis, d.h. sie ›leiten‹ uns ›an‹, in Hinblick auf welche Eigenschaft oder welches Eigen-

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schaftsaggregat wir Ähnlichkeiten zu anderen musikalischen oder außermusikalischen Phänomenen konstruieren sollten und welche Ähnlichkeitsverhältnisse eher abwegig sind. Der Titel von Smetanas MOLDAU rät z.B. davon ab, die wellenartige Skalenbewegung des Eingangsmotivs zu Frisuren mit Haarlocken oder im Wind tanzenden Federn in Bezug zu setzen, obwohl letztere mit ersterem sicherlich Ähnlichkeit haben. Der Titel, ergänzt durch den Abschnittstitel »Die Quelle der Moldau«, legt stattdessen nahe, Ähnlichkeiten zu Bergquellen zu ›erkennen‹.25 Dennoch bestehen signifikante Unterschiede zur Rolle von Konventionen beim Gebrauch der Verbalsprache und bei demjenigen von Musik: Während bei der Verbalsprache Konventionen und Kontexte das Bezugsspektrum zwischen Bezeichnendem und Bezeichneten ›festlegen‹, weisen sie beim Verstehen von Musik die Konstruktion von Ähnlichkeitsverhältnissen lediglich in eine ungefähre Richtung. Dies hat wiederum für das – infrage stehende – Phänomen der musikalischen Narrativität signifikante Folgen. Mittels der Konstruktion von Ähnlichkeitsverhältnissen lässt sich Narrativität im literaturwissenschaftlichen Sinn offensichtlich nicht erzeugen, weil gemäß unserer musikalischen Praxis weder Bezugnahmekonventionen zu Erzählerinstanzen (Personalpronomen, Eigennamen für sprechende und handelnde Personen) noch grammatikalische Regeln der Hierarchisierungen zwischen dem Inhalt von Gedanken und den diese äußernden (oder nur denkenden) realen und fiktiven Subjekten existieren. Die für die Erzählung charakteristische Mittelbarkeit kann nicht realisiert werden und einen Erzähler in einem musikalischen Werk konstruieren zu wollen,26 ist genauso von vorneherein zum Scheitern verurteilt, wie zum Mond fliegen zu wollen, indem man in die Tiefsee hinabtaucht. (Dafür erlaubt Ähnlichkeit als Bezugnahmemodus zeichenhafte Referenzverhältnisse in Hinblick auf komplexe Eigenschaftsaggregate und Nuancierungen, die, wie Diana Raffman hervorgehoben hat, verbalsprachlich nicht einholbar sind und auf die insofern mit verbalsprachlichen Mitteln auch nicht Bezug genommen werden kann.27) Wenn eine Übertragung des Narrativitätsbegriffs aus dem verbalsprachlichen Anwendungsbereich auf Musik also prinzipiell nicht möglich ist, weil gemäß unserer musikalischen Praxis Musik als Zeichensystem gar nicht die Voraussetzungen für Narrativität im Sinne des literaturwissenschaftlichen Narrativitätsbegriffs besitzt, dann drängt sich die Frage auf, was Teilnehmerinnen am Musikdiskurs motivierte und weiterhin motiviert, ihn auf Musik anzuwenden. Zwei Antworten bieten sich an: Erstens ent-

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steht die Vorstellung, dass Musik narrativ ist, nicht erst vor dem Hintergrund der literaturwissenschaftlichen Erzähltheorien, die sich ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert entwickeln,28 sondern unabhängig von diesen und zwar deshalb, weil Musik – einige, nicht alle Musik29 – von Perzipientinnen auch ohne Kenntnis von auf verbalsprachliche Texte bezogenen Narrativitätstheorien als narrativ begriffen wird (die Gattungen ›Programmmusik‹, ›Symphonische Dichtung‹, ›Lied ohne Worte‹30 resultieren aus diesem Empfinden). Zweitens dürfte das große theoretische Interesse an der Narrativität von Musik seit den ausgehenden 1980er Jahren darauf zurückgehen, dass sich seit den 1950er Jahren in der Literaturwissenschaft die Narratologie als eine die Aufmerksamkeit auf sich ziehende Forschungsrichtung herausbildete und es sich auf der Grundlage der – freilich falschen – Annahme, dass Musik eine der Verbalsprache ›irgendwie‹ ähnliche ›Sprache‹31 sei, anbot, die Resultate der narratologischen Forschungen für das Verstehen der Musik heranzuziehen. Der literaturwissenschaftliche Narrativitätsdiskurs wurde so gesehen also nachträglich auf die Musik bezogen. Es wurde m.a.W. eine Theorie aus einem Bereich (hier: aus dem verbalsprachlichen Bereich) auf ein Phänomen aus einem anderen Bereich (hier: ›Musik‹ als Verallgemeinerung einzelner musikalischer Gattungen und Fallbeispiele) angewendet – und zwar deshalb, weil beide ähnliche Schlagworte – ›Narrativität‹, ›Erzählung‹ – verwenden. Dabei dürften zwei Fehler unterlaufen sein: Es blieb zum einen unberücksichtigt, dass aus der musikdiskursiven Zuschreibung von erzählenden Ebenen zu einzelnen musikalischen Werken nicht geschlussfolgert werden darf, dass ›Musik‹ (im Allgemeinen oder als solche – was immer dies heißen mag) narrativ ist – und zwar deshalb, weil a) ›Narrativität‹ als Bedeutungszuschreibung (ähnlich wie die Wertzuschreibungen ›gut‹ oder ›schlecht‹) keine intrinsische Eigenschaft darstellt (anders als die Wellenlänge von etwa 520 nm, die das von einem von uns als grün wahrgenommenem Gegenstand reflektierte Licht besitzt) und b) die Zuschreibung von Narrativität zu einzelnen Kompositionen nicht mit einschließt, dass sämtlichen Kompositionen und Improvisationen in der Musikgeschichte Narrativität mit den gleichen guten Gründen zugeschrieben werden kann. Zum anderen unterlief der Fehler, dass aus der Verwendung gleicher Worte in unterschiedlichen Kontexten nicht geschlussfolgert werden kann, dass die Worte (also die Bezeichnenden) auf identische Konzepte oder Sachverhalte (Bezeichnetes) bezogen werden. ›Erzählung‹ im Musikdiskurs des 18. und 19. Jahrhunderts kann

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etwas vollkommen anderes meinen als im literaturwissenschaftlichen Diskurs des 20. Jahrhunderts. Ich werde diesen Thesen nachgehen, indem ich eine weitere Kunstform, die wie Musik auch auf der Basis des Bezugnahmemodus ›Ähnlichkeit‹ funktioniert, sowie die Theorien, die hierzu entwickelt wurden, in die Untersuchung mit einbeziehe: nämlich den narrativen Tanz. Ich tue dies nicht, um diese Theorien auf die Musik zu beziehen, d.h. weil ich davon ausgehe, dass sie für das Verständnis musikalischer Narrativität gewinnbringend sind, sondern um eine neue Perspektive für die Bestimmung des Verhältnisses zwischen musikalischer und verbalsprachlicher Narrativität zu gewinnen (Sektion II), aus der sich dann weitere Schlussfolgerungen ableiten lassen.

II. E RZÄHLEN VS . A UFFÜHREN – N ARRATION VS . U NMITTELBARKEIT Narrativer Tanz (und narrative Pantomime)32 signifizieren, ähnlich wie Musik, mittels Ähnlichkeit – und zwar Ähnlichkeit, die die Zuschauer zwischen den vorgeführten Bewegungsmodi, Körperhaltungen und -gesten (dem Bezeichnenden) auf der einen und anderen Bewegungsmodi, Körperhaltungen und -gesten aus anderen Kontexten (dem Bezeichneten) konstruieren. Beide finden wie Musik – im Unterschied zu ebenfalls auf der Basis von Ähnlichkeit signifizierenden Bildern – in der Zeit statt. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich also zwischen auf Tanz bezogenen und auf Musik bezogenen Narrativitätstheorien – d.h. dem Diskurs über narrative Musik und narrativen Tanz, der darüber Auskunft gibt, wie Narrativität im jeweiligen Kontext konzipiert wird – erkennen? Während Narration mit musikalischen Mitteln von musikwissenschaftlicher und -philosophischer Seite in den vergangenen 25 Jahren in zahlreichen Abhandlungen ausführlich erörtert wurde33 und in diesem Zusammenhang etliche Probleme bezüglich der Idee der musikalischen Narration – insbesondere im Vergleich zu verbalsprachlicher Narration – festgestellt wurden, lässt sich eine Analyse und Problematisierung von tänzerischer Narration erstaunlicherweise nicht nachweisen. Es ist in der Tanzwissenschaft zwar unbestritten, dass ›narrative Ballette‹ (wie z.B. Tschaikowskis DORNRÖSCHEN) seit der Mitte des 18. Jahrhunderts bis weit in das

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20. Jahrhundert hinein eine zentrale Gattung innerhalb der Tanzgeschichte konstituieren;34 was und wie Narration im Tanz realisiert wird, scheint jedoch für Tanzwissenschaftlerinnen so selbstverständlich zu sein, dass es keiner eigenen Untersuchung oder Erläuterung bedarf. Für unseren Kontext von besonderem Interesse ist dabei, dass Tanzwissenschaftlerinnen ihre Beschreibung von als narrativ klassifizierten Choreographien im Großen und Ganzen durchgängig auf vorgängigen verbalsprachlichen Texten – einer Erzählung oder einem Drama – aufbauen, die den Rezipientinnen der jeweiligen Tanzaufführung entweder allgemein bekannt oder als verbalsprachliches Programm (im Programmheft z.B.) zugänglich sind. Dies ist in zweifacher Hinsicht besonders aufschlussreich. Erstens hat Narrativität im Tanzdiskurs offenbar einen anderen Status als im musikalischen Diskurs, wo immer noch der aus dem 19. Jahrhundert stammende Anspruch gilt: ›Musik solle aus sich selber heraus sprechen.‹ Ein beigefügtes verbalsprachliches Programm wird dementsprechend anders als beim Tanz nicht als Grundlage und Ausgangspunkt dafür begriffen, dass Musik die ihr eigene Narrativität ›zum Ausdruck bringt‹; auf Musik bezogene verbalsprachliche Narrativität gilt stattdessen als Konkurrentin der musikalischen Narrativität. Zweitens wird Narrativität stillschweigend offenbar mit der Eigenschaft gleichgesetzt, eine Geschichte zu erzählen; die Differenzierung zwischen der Erzählung auf der einen und dem Drama und Schauspiel auf der anderen Seite, die für verbalsprachliche Textsorten grundlegend ist, scheint für narrative Tanzstücke keine Bedeutung zu haben; Fragen der Erzählerinstanz und Mittelbarkeit spielen somit keine Rolle. Im narrativen Tanz fallen Drama und Narration zusammen, indem die Geschichte genauso wie in einem verbalsprachlichen Drama – freilich ohne verbalsprachliche Mittel – vor- und aufgeführt wird (wohingegen nicht-narrative Ballette gar keine Geschichte vor- oder aufführen). Narration bezeichnet im tanzwissenschaftlichen Kontext also gar nicht das Erzählen im Unterschied zum Aufführen, sondern ist synonym mit der Präsentation einer Geschichte (gleichgültig mit welchen Mitteln diese Präsentation erfolgt). Dass die Differenz zwischen Zeigen und Sagen, Aufführen und Erzählen, die Differenz zwischen Bezugnahme auf der Basis von konstruierten Ähnlichkeiten und derjenigen auf der Basis von verbalsprachlicher, arbiträrer Stipulation, die für den literaturwissenschaftlichen, auf die verbalsprachlichen Mittel fokussierten Diskurs konstitutiv ist, im tanzwissen-

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schaftlichen Diskurs keinerlei Bedeutung hat, geht natürlich darauf zurück, dass im Tanz als künstlerischer Gattung, in der Regel nur ›körpersprachliche‹35 Mittel Verwendung finden, die grundsätzlich ›zeigen‹ und nicht ›sagen‹. (Die Verwendung von Verbalsprache ist in der Regel ein Tabu, ohne dass deswegen der verbalsprachlich vermittelte, der tänzerischen Narration zugrunde liegende Plot wie das Märchen DORNRÖSCHEN deshalb als Fremdkörper des Tanzstücks begriffen werden würde.) Orientierte man sich an der literaturwissenschaftlichen Differenzierung zwischen Erzählung und Drama, so müsste man demgegenüber feststellen, dass Tanz (wie Pantomime) in jedem Fall nicht erzählt, also nicht narrativ ist, sondern Dramen mit tänzerischen Mitteln vor- und aufführt. Die gleichen in Bezug auf die tänzerische Narrativität im Vergleich zu literaturwissenschaftlicher Narrativität beobachteten Eigentümlichkeiten gelten auch für musikalische Narrativität (und auf sie wurde natürlich auch bereits von anderen Musikwissenschaftlerinnen hingewiesen; Abbate unterscheidet z.B. implizit an Platon anknüpfend zwischen zwei Dichtungssorten, mimetischer und diegetischer Dichtung, wobei sie das Attribut ›mimetic‹ zu Recht der Musik zuordnet36). Indem die sog. absolute, also die ›eigentliche‹ Musik (ohne Ergänzung von verbalsprachlichen Texten) vorrangig auf der Basis der Konstruktion von Ähnlichkeiten operiert und arbiträre Stipulation zwar auch, aber nur am Rande eine Rolle (in Form von Titeln, verbalsprachlichen Spielanweisungen und musikalisch-rhetorischen Figuren z.B.) spielt, d.h. Musik also in jedem Fall darstellt, zeigt und vorführt, ist narrative Musik – mit literaturwissenschaftlichen Kategorien klassifiziert – Drama, nicht Erzählung (wobei freilich geklärt werden muss, inwiefern das, was Musik dramatisch vorführt, als Geschichte im oben definierten Sinn begriffen werden kann). Wieso – und hiermit kehre ich zu den oben formulierten Fragen und Thesen zurück – war und ist weiterhin der Diskurs über musikalische Narrativität dann jedoch so erfolgreich, wenn es doch der Sache nach viel nahe liegender wäre, einen Diskurs über musikalische Dramatik auszubilden? Der Grund dafür, dass wir von narrativer und nicht von dramatischer Musik reden, liegt offenbar darin, dass der Begriff des ›Dramatischen‹ im musikalischen Kontext andere Denotationen hat als im literatur- und theaterwissenschaftlichen. Dramatische Musik ist nicht eine Musik, die wie das verbalsprachliche Drama – und im Unterschied zum narrativen Text – die Ereignisse zeigt, vor- und aufführt, sondern die als sehr expressiv – ein-

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drücklich und aufwühlend – begriffen wird (wohingegen der Begriff des Musikdramas – ähnlich wie bereits der Begriff des Dramas – eine Mischgattung aus orchesterbegleiteter Vokalmusik – also Verbalsprache und Musik – und Schauspiel bezeichnet). Mit anderen Worten: Der Diskurs über Kompositionen, denen Autorinnen zuschreiben, Geschichten darzustellen, zu zeigen oder vorzuführen, entwickelte sich unter dem Label ›musikalische Narrativität‹ deshalb, weil der Begriff ›musikalische Dramatik‹ bereits ›besetzt‹ war und insofern zur Abgrenzung des gemeinten Phänomens gegenüber anderen Kompositionen, bei denen sich der Impuls, ihnen zuzuschreiben, dass sie Geschichten darstellen, zeigen oder vorführen, weniger einstellt, nicht geeignet war. Die Initiatoren des Diskurses über musikalische Narrativität in den 1980er Jahren dürften sich daher mittels cross-domain mappings einen ›ähnlichen‹ Begriff (d.h. ein Wort, dem wir zuschreiben, auf ein ähnliches Konzept Bezug zu nehmen) aus einem anderen Bedeutungsbereich, der Literaturwissenschaft, geborgt haben, ohne zu berücksichtigen, dass er dort zur Differenzierung zwischen zwei ganz anderen Phänomenen diente. Macht man sich diese Zusammenhänge klar, dann wird erkennbar, dass die Probleme, die im bisherigen Diskurs über musikalische Narrativität seit den 1980er Jahren behandelt wurden, häufig gar keine Probleme von als narrativ bezeichneter Musik im engeren Sinn sind, sondern Probleme, die daraus hervorgegangen sind, dass der – vielleicht etwas unbedachten – Begriffsübertragung aus dem literaturwissenschaftlichen Bereich eine Theorieübertragung nachfolgte, weil offenbar aus dem Blick geraten war, dass das aus der Literaturwissenschaft entlehnte Wort im Musikdiskurs ein deutlich anderes Bezugnahmespektrum hat und die Anwendung literaturwissenschaftlicher Narrativitätstheorien somit bestenfalls mit äußerster Vorsicht und Zurückhaltung geschehen dürfe. Kehren wir also zur Beobachtung zurück, dass Musik, nicht narrativ, sondern dramatisch ist, wenn sie Geschichten vermittelt (die Worte ›erzählen‹ und ›narrativ‹ verwende ich fortan, wenn ich sie auf Musik und Tanz beziehe, nur noch in Anführungszeichen, um kenntlich zu machen, dass es sich bei musikalischer und tänzerischer ›Narrativität‹ nicht um eine Erzählung im literaturwissenschaftlichen Sinn handelt, der wiederum m.E. dem allgemeinsprachlichen Verständnis sehr nahe ist): Wenn ›narrative‹ Musik und ›narrativer‹ Tanz vornehmlich vor- und aufführend ›erzählen‹, wohingegen narrative Verbalsprache mit stipulativen Mitteln erzählt, dann wird

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die Mittelbarkeit, die für die verbalsprachliche Erzählung im Vergleich zum mit Verbalsprache und Schauspiel operierenden Drama charakteristisch ist, in musikalischen und tänzerischen ›Narrativen‹ jedoch durch Unmittelbarkeit ›ersetzt‹ – und zwar nicht aufgrund des Fehlens einer Erzähler-/ Vermittlungsinstanz, sondern bereits aufgrund des Bezugnahmemodus. Denn alle auf der Basis von Stipulation ausgeführten Zeichenprozesse verlangen vom Zeicheninterpreten eine perzeptive Distanzierung vom Bezeichnenden, hier: den Worten, weil die Zeicheninterpretin und -perzipientin, um ein Referenzverhältnis zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem herzustellen, in ihrer Wahrnehmung die Phänomenalität oder Materialität des Bezeichnenden ausblenden und das Bezeichnete mental fokussieren muss.37 Die Bedeutung oder das Bezeichnete – in der Erzählung die Geschichte, ihre Ereignisse und die Personen der Handlung – wird also nicht unmittelbar vorgeführt, sondern mittels verbalsprachlicher Zeichen vermittelt und ist insofern mittelbar. Die ›Rezipientin‹ einer verbalsprachlichen Narration muss somit in erster Linie als Zeicheninterpretin agieren; sie darf nur sehr nachgeordnet Perzipientin sein. Kulturformen wie Musik und Tanz (sowie auch Bilder und Lautgedichte, also verbalsprachliche Konfigurationen, bei denen die Klanglichkeit der Wort- oder Silbenfolgen, nicht deren ›Inhalt‹ im Zentrum der Perzeption stehen) verweisen demgegenüber auf sich selbst, sie zeigen sich oder performieren ihre Materialität – und zwar deshalb, weil, anders als bei stipulativen Zeichensystemen wie der Verbalsprache, bei den mit dem Bezugnahmemodus ›Ähnlichkeit‹ operierenden Zeichensystemen ›Musik‹ und ›Tanz‹ das Bezeichnende nicht ausgeblendet, sondern – ganz im Gegenteil – eine Fokussierung auf das Bezeichnende selber befördert wird.38 Denn, um beim Bezugnahmemodus ›Ähnlichkeit‹ die gemeinsamen Eigenschaften zwischen zwei Entitäten wie z.B. die Wellenförmigkeit zu erkennen, die für das Referenzverhältnis zwischen Bezeichnendem – der melodischen Bewegung in den Takten 1-2 – und Bezeichnetem – der ähnlichen Bewegung in den Takten 14-15 sowie der über Steine springenden Bergquelle – in Smetanas Moldau konstitutiv ist, ist es unverzichtbar, dass die Perzipientinnen das Bezeichnende hinsichtlich seiner Eigenschaften – hier die wellenförmige Kontur – nicht aus dem Blick (oder Ohr) verlieren. Das gleiche gilt natürlich auch für getanzte ›Narrative‹. Auch hier heißt ›etwas zeigen‹ auf die ›erzählte‹ Geschichte, das Bezeichnete, Bezug nehmen, indem das Bezeichnende, der vorführende Körper, im Zentrum der Aufmerksamkeit

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steht. Musikalische und körpergestische, also getanzte, ikonische Konstellationen, die als Bezeichnendes im Bezugnahmemodus ›Ähnlichkeit‹ operieren, verweisen also nur insofern von sich weg, als sie zugleich auch auf sich selbst verweisen; sie führen das Dargestellte vor. (Die bisherigen, sehr umfangreichen und tiefgehenden Studien zur musikalischen ›Narrativität‹ – eigentlich: zur musikalischen Dramatik – verzichten auf eine solche Grundlegung. Nattiez begreift Musik als eine Art Sprache oder äquivalent zur Verbalsprache, ohne die in Abschnitt I genannten gravierenden Unterschiede zwischen Musik und Verbalsprache hinsichtlich des Bezugnahmemodus zu berücksichtigen.39 Abbate unterscheidet zwar, wie oben erwähnt, zwischen mimetischem und diegetischem Modus;40 die semiotischen Differenzen als Ursache für die beiden verschiedenen Modi spielen für ihre Argumentation jedoch keine Rolle. Jann Pasler,41 Robert Samuels42 und Meelberg43 gehen alle davon aus, dass Musik ein Zeichensystem ist, und begreifen diese Tatsache als grundlegend, beschreiben die Funktionsweise dieses Zeichensystems jedoch nicht weiter.)

III. D IE K ONSTRUKTIONSPRINZIPIEN HEROISCHER M USIK ALS P ARADIGMA MUSIKALISCHER ›N ARRATIVITÄT ‹ ( EIGENTLICH : MUSIKALISCHER D RAMATIK ) Mahlers Zweite Symphonie ist deshalb für unsere Untersuchung der musikalischen Narrativität ein gut geeigneter Gegenstand, weil Paul Bekker das As-Dur-Thema der ersten Themengruppe des ersten Satzes in seinem Buch über GUSTAV MAHLERS SINFONIEN als »heroisches Seitenthema«44 beschrieben hat.45 Damit das Attribut des Heroischen Menschen (oder auch Halbgöttern46), also anthropomorphen Figuren zugeschrieben werden kann, genügt es in der Regel nicht, dass diese Personen heldenhafte Eigenschaften – Mut, Willensstärke, physische Kraft u.ä. – besitzen; Personen werden erst dadurch zu Heldinnen und Helden, dass sie Handlungen ausführen, die wir als heroisch klassifizieren. Das Heroische umfasst in verbalsprachlichten Narrationen (oder Dramen) somit zwei zentrale, miteinander verschränkte Komponenten: Ereignisabfolgen und darin involvierte anthropomorphe Akteure mit bestimmten Charaktereigenschaften. Wieweit spielen beide

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Komponenten auch bei Bekkers Zuschreibung eines heroischen Charakters zum As-Dur-Thema eine Rolle? Und allgemeiner gefragt: Was inspirierte Bekker dazu, mit einem musikalischen, der Sache nach nicht anthropomorphen Thema heroische, also anthropomorphe Eigenschaften und Handlungsmodi zu assoziieren? Die Konstruktion von Ähnlichkeit als Bezugnahmemodus musikalischer Konfigurationen legt nahe, die Aufwärtsorientierung und den energetischen punktierten Rhythmus des zweiten Teils des Themas in Bezug zu einem dynamischen, aufrechten Gang einer optimistisch lächelnden Person zu setzen – beide, die sich in der Bewegung manifestierende Körperspannung und die Mundwinkel, sind wie die melodische Bewegungsrichtung nach oben gerichtet. Ähnlichkeit zwischen musikalischen und menschlichen Eigenschaften (Emotionen und Stimmungen sowie deren körperliche Manifestationen in Mimik, Gestik, Körperhaltung und Stimme) ist dabei – so haben Musikwissenschaftlerinnen und -philosophinnen unter dem Stichwort ›Konturtheorie‹ erörtert – ein zentraler Faktor für unser Empfinden musikalischen Ausdrucks. (Grundlage für diese Zusammenhangsbildungen ist wiederum die Annahme, dass wir Emotionen nur anhand der körperlichen Manifestationen erkennen können.) Erlernte Referenzen zwischen der Mimik, Gestik, Haltung und Stimme von Personen auf der einen und deren psychischem Zustand auf der anderen Seite erlauben – mittels einer Bezugnahmekette – Ähnlichkeitsbeobachtungen zwischen musikalischen Konturen oder Gesten auf der einen und den körperlichen Manifestationen als ›Repräsentationen‹ von Emotionen auf der anderen Seite zu machen und daraus den Ausdruckscharakter einer musikalischen Passage zu konstruieren.47 Bezogen auf Mahlers Symphonie bedeuten diese kognitiven Mechanismen, dass aufgrund der Beobachtung von Ähnlichkeiten zwischen den beschriebenen Merkmalen des zweiten Teils des As-Dur-Themas wir eine selbstbewusste, optimistische Person assoziieren und daraus den Ausdruckscharakter ›selbstbewusst und optimistisch‹ herleiten. (Bei der Assoziation auf der einen Seite und der Herstellung von Bezügen mittels der Konstruktion von Ähnlichkeit als semiotischem Prozess auf der anderen Seite handelt es sich im Großen und Ganzen um die gleichen kognitiven Prozesse; beide unterscheiden sich nur darin, dass sie anderen sozialen Bewertungen – willkürlich und irrelevant vs. begründet und bedeutungstragend – unterliegen.48) Mehr noch, indem die Herstellung der Bezugnahme zwischen

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Musik und Außermusikalischem mittels der Konstruktion von Ähnlichkeit erfolgt, ist aufgrund der oben beschriebenen spezifischen Bezugnahmeprozesse – das Musikalisch-Bezeichnende kann auf das Bezeichnete nur Bezug nehmen, indem es auf sich selber, d.h. auf diejenigen seiner Eigenschaften verweist, die es mit dem Bezeichneten teilt – die Differenz zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem aufgehoben. D.h. die Eigenschaften, auf die die Musik gemäß unserer Ähnlichkeitskonstruktion verweist, werden auf oder in die Musik als ihre eigenen Eigenschaften (hinein-)projiziert. Und da es sich bei diesen Eigenschaften um menschliche handelt, wird die Musik selber animiert und anthropomorphisiert.49 Zwar sind die genannten musikalischen Charakteristika für sich betrachtet für das Heroische unspezifisch – nicht nur Heldinnen und Helden sind selbstbewusst und optimistisch –, sie stellen jedoch eine Komponente von mehreren Komponenten dar, aus deren Summe der heroische Charakter des Themas resultiert: Eine weitere Komponente ist der erste Thementeil, bestehend aus von den Blechbläsern vorgetragenen Dreiklängen. Wir begreifen diese Tonfolge – hier spielt denotative Stipulation in Ergänzung zur Konstruktion von Ähnlichkeit eine zentrale Rolle – als eine Fanfare, d.h. ein akustisches Signal, das die Aufmerksamkeit auf ein wichtiges Ereignis oder wichtige Personen lenkt, die in der Regel mit Macht – physischer Kraft und Herrschaftsmacht – assoziiert sind. Beide Thementeile zusammen artikulieren darüber hinaus eine Beschleunigung, die daraus hervorgeht, dass die Auftaktigkeit im ersten Thementeil durch Abtaktigkeit im zweiten Thementeil abgelöst wird und beide Teile sich somit als rhythmisch-metrische Gruppen überlappen und der zweite Thementeil außerdem rhythmisch diminuiert wird. Die musikalische Beschleunigung und die damit verbundene Erzeugung von Anspannung nimmt die Perzipientin als eine Akkumulation von Energie wahr – Anspannung, wie sie Menschen erfahren, liegt in der Regel Energie zugrunde, die zum Ausagieren drängt –, die als notwendiges Potenzial für eine zukünftige Tat begriffen wird. Sie artikuliert den Tatendrang, der Bedingung für die Ausführung von Heldentaten ist. Der Bezug, den die Perzipientin zwischen Tatendrang und Beschleunigung herstellt, dürfte dabei weniger auf der Wahrnehmung von Konturähnlichkeiten zwischen körperlichen und musikalischen Gesten beruhen als auf derjenigen von Ähnlichkeiten zwischen der eigenen Körpererfahrung in Situationen der Energieakkumulation und dem Höreindruck.50

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Mit diesen beiden Komponenten sind die Gründe dafür, dass Bekker das As-Dur-Thema als heroisch charakterisierte und damit implizit anthropomorphisierte, jedoch noch immer nicht vollständig rekonstruiert. Denn Bekker bezeichnete nicht die Exposition des Themas, sondern erst dessen variierte Wiederholung im zweiten Themendurchgang der ersten Themengruppe ab Takt 17551 als heroisch, wohingegen er die Exposition des Themas nüchtern-analytisch als »aufwärts schreitend«, »feierlich rhythmisiert« und »in fanfarenartiger Weiterführung«52 beschrieb. Dieses Detail ist entscheidend; denn die Wiederholung weist, auf den Ausdruckscharakter bezogen, andere Merkmale als die Exposition auf. Die ›Rekapitulation‹ im zweiten Themendurchgang ist in forte (statt in piano wie die Exposition) zu spielen; sie steht in D-Dur (statt in As-Dur) – D-Dur ist die klassische Pauken-und-Trompeten-Tonart zum Ausdruck von (heroischem) Triumph und Apotheose – und ist mit anderen Instrumenten und mit anderer Artikulation, nämlich mit martellato stakkatierenden Hörnern statt tenuto ausgeführten Tuben und Posaunen ergänzt durch Trompeten, vorzutragen; diese Merkmale im zweiten Themendurchgang lösen die Ambivalenz des expressiven Charakters der Exposition des Themas, ihr Schwanken zwischen Optimismus (aufgrund der beschriebenen rhythmischen Besonderheiten) auf der einen Seite und Bescheidenheit und Vorsicht (aufgrund der tenuto-Artikulation) auf der anderen Seite auf.53 Mit dieser dritten Komponente ist das Heroische am As-Dur-Thema immer noch nicht vollständig erklärt. Es ist die vierte und letzte Komponente, die das Bild vervollständigt und den Charakter des Heroischen entstehen lässt – und zwar mit ›musik-narrativen‹ Mitteln: Wir neigen dazu, Musik als ›narrativ‹ zu empfinden, wenn Gesten, Motive oder Passagen (wie z.B. das As-Dur-Thema) in modifizierter Form wiederholt werden;54 die Veränderungen der Wiederholung im Vergleich zum Original sind dabei so moderat zu halten, dass die Identität der musikalischen Konfiguration gewahrt bleibt.55 Eine solche Form der modifizierten Wiederholung kann – insbesondere dann, wenn wie im vorliegenden Fall die wiederholte Passage durch die eingesetzten kompositorischen Mittel bereits anthropomorphisiert wurde – als Wandel einer Person vom Zustand A (Exposition des As-Dur-Themas) zu Zustand B (Wiederholung in D-Dur) interpretiert werden. Dass diese Interpretation jedoch keineswegs selbstverständlich ist und eines geeigneten musikstilistischen Kontextes, also weiterer musiksprachlicher Mittel bedarf, zeigt ein Vergleich mit ei-

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nem zweistimmmigen spätbarocken, vorklassischen Menuett von Johann Mattheson aus der Suite Nr. 12 von 1714.56 Die charakteristische Eingangsfloskel in der Oberstimme – aufsteigende daktylische Sechszehnteldiade mit nachfolgender absteigender Achtelkette über Tonika (auf 1) und Dominante (auf 3)57 wird zu Beginn des B-Teils modifiziert wiederholt: die Tonikaparallele As-Dur ist neue Grundtonart, die Bewegungsrichtung ist umgekehrt (absteigende Sechszehnteldiade mit aufsteigender Achtelkette), der Einsatz der Dominante beschleunigt (auf 2 statt auf 3). Dass trotz der Duraufhellung, der Aufwärtsorientierung der Achtelkette und der Beschleunigung im Bass die modifizierte Wiederholung genauso wenig als Wandel des Charakters (von Traurigkeit zu Fröhlichkeit) begriffen wird wie die modifizierte Wiederholung der Floskel mit der Rückkehr zur Grundtonart in Takt 17 liegt erstens daran, dass die Passage in dem 23 Takte umfassenden Stück neunmal in jeweils leicht modifizierter Gestalt – transponiert, gespiegelt, mit ›diatonischen Verschiebungen‹ – erklingt (im A-Teil: in jedem ungeraden Takt) und die Modifizierung der Wiederholung zu Beginn des B-Teils ›erzähltechnisch‹ damit nicht signifikant ist. Zweitens ist die Floskel durch das Stück hindurch zwar wieder erkennbar; sie bildet jedoch nicht einen individuellen, dem Stück Unverwechselbarkeit verleihenden Charakter aus, sondern könnte in anderen Kontexten in identischer oder ähnlicher Form verwendet werden.) Das heroische As-Dur-Thema kommt demgegenüber in dieser Form nur in Mahlers Zweiter Symphonie vor; die Fanfare ist keine ›durchschnittliche‹, ›normale‹ Fanfare, sondern hat aufgrund der oben beschriebenen charakteristischen Züge gerade auch in ihrer D-Dur-Gestalt thematischen Charakter. Zusammengefasst bedeutet dies, dass die Floskel im Menuett anders als das As-Dur-Thema keine gestische, sondern vornehmlich eine satztechnische Funktion hat: sie ist eintaktiger Baustein, der zusammen mit dem zweiten ruhigeren Takt ein Modul aus ›Anspannung – Entspannung‹ bildet, das wiederum in den Takten 3 bis 4 variiert wiederholt wird (Takt 1 und 3: [T –] D; Takt 2 und 4: T). D.h. die Floskel erfüllt eine formale Funktion für den Aufbau des symmetrischen, aus Zweiertakten zusammengesetzten Tanzes. Sie ist an der Konstituierung der Gesamtform entscheidend beteiligt. (Für die Genese der epischen Form des ersten Satzes von Mahlers Zweiter Symphonie als Ganzem spielt das As-Dur-Thema demgegenüber keine konstitutive Rolle.) Dementsprechend wird im Menuett die modifizierte Wiederholung zu Beginn des B-Teils auch nicht als signifikante

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Charakteränderung wahrgenommen, sondern lediglich als Ausweichung in eine andere Tonart, die den Beginn des neuen Formteils markiert und bei den Hörerinnen und Hörern die Erwartungshaltung einer Bogenform, einer kleinen zwei-/dreiteiligen Liedform weckt, die das Stück anschließend einlöst. Die Dichte an Referenzen und Referenztakten ist in dem hierarchisch organisierten, ›geometrisch‹ oder ›quadratisch‹ angelegten Tonsatz Matthesons mit divisiver Syntax zwar zweifellos recht hoch; die Referentialität seines Menuetts unterscheidet sich von dem Kopfsatz von Mahlers Symphonie jedoch darin, dass in letzterer die Bezüge nicht räumlich, sondern linear und teleologisch organisiert sind – und auf diese Weise dazu anregen, den Satz als ›Narration‹ zu begreifen. Das zeigt eine vertiefende Auseinandersetzung mit der Harmonisierung des As-Dur-Themas und seinem Kontext: Während die Themenexposition im ersten Teil (Takte 74-76) sich auf die Hauptfunktionen von As-Dur – I, IV, I, vi, V, I – beschränkt, heben die korrespondierenden Takte der ›Rekapitulation‹ in D-Dur (Takte 175177) die Moll-Subdominante und dessen charakteristischen Ton B hervor (I, iv, I, I56, V, I). Mit dieser von den Bs in den Streichern und Fagotten unterstrichenen Tendenz zum Subdominantbereich, der in vielen spätromantischen Kompositionen das apotheotische Finale markiert, schließt die ›Rekapitulation‹ des As-Dur-Themas eine dramatische Passage ab, die durch eine Reihe von bedrohlichen Steigerungsfloskeln gekennzeichnet ist und auf deren Höhepunkt das As-Dur-Thema wie auf einer Flutwelle in den bestehenden musikalischen Kontext ›hineinkatapultiert‹ wird: die letzten zwei Takte der Exposition der zweiten, lyrischen Themengruppe erfahren eine Molleintrübung (von E-Dur zu e-Moll, Takte 145-146). Danach baut sich eine hinsichtlich des Effekts dem ›Mannheimer Crescendo‹ oder Rossinis ›Rakete‹ ähnelnde Steigerung über dreißig Takte auf: Bedrohlich punktierten, marschartigen Bässen (Takt 147ff.) folgen eine sich aufwärts bewegende Sequenz aus kurzen Motiven und Begleitfiguren von ein bis zwei Takten Länge (Takt 155ff.), ein subtiles Accelerando (Takt 163ff.) und eine Akkordfortschreitung, die, indem sie die eine logische harmonische Fortschreitung konstituierenden Akkorde – ›auflösende‹ Tonika und Zwischendominante – auslässt, vorwärts treibt (Takte 164-165); der Prozess wird begleitet durch eine Erhöhung der motivischen und klangfarblichen Komplexität von kontrapunktischen Figuren wie dem skalenartigen Crescendo der Streicher (Takt 171ff.).58

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Die beschriebene Passage lässt sich als eine aufs äußerste verknappte und verdichtete Version der heroischen Standardnarration ›Per aspera ad astra‹ begreifen: Der Bedrohung (und ihrer Überwindung) folgen Triumph und Apotheose. Welches sind – zusammengefasst – also die musikalischen Mittel und die für die Zuschreibung von Bedeutung maßgeblichen, von der Musik stimulierten kognitiven Mechanismen beim Verstehen dieser Mittel, mittels derer eine ›Narrativisierung‹ der Musik erfolgt? Mit der heroisierenden Gestaltung des As-Dur-Themas geht eine Anthropomorphisierung einher,59 die auf der Konstruktion von Ähnlichkeiten zwischen zwei verschiedenen Paaren an Bezugspunkten basiert: 1. zwischen Musik auf der einen und Gesten, Mimik und Bewegungsmodi auf der anderen Seite; letztere begreifen wir wiederum als Indizien für, d.h. äußere Manifestationen von Emotionen, Stimmungen, Befindlichkeiten und Einstellungen; 2. zwischen Musik und Körperenergie. Beide Formen der Ähnlichkeitskonstruktion werden durch denotative Stipulation (Fanfare) ergänzt. Aufgrund dieser Anthropomorphisierung ist das As-Dur-Thema nicht nur subject im Sinn der englischsprachigen Musikterminologie, also musikalisches Thema, sondern auch Subjekt im modernen philosophischen Sinn. Das charakteristische, gestisch prägnante und zu menschlichen Haltungen in Bezug setzbare Thema wird anschließend in einen größeren musikalischen Kontext, eine sorgfältig gestaltete Dramaturgie, eingebunden, in dessen Kontext seine modifizierte Wiederholung als Abschluss eines Wandlungsprozesses (von Bedrohung zu Triumph, von verhaltener Würde und Vorsicht zu entschlossenem Tatendrang) verstehbar ist.60 Orientiert man sich an diesen analytischen Befunden, so erweist sich musikalische ›Narrativität‹ als Effekt des für Musik spezifischen (von Verbalsprache verschiedenen) semiotischen Bezugnahmemodus ›Ähnlichkeit‹. Sie bewirkt die Anthropomorphisierung einzelner musikalischer Konfigurationen, die zusammen mit der perzeptiven Verschmelzung von Bezeichnendem und Bezeichneten die für musikalische ›Narration‹ (eigentlich: musikalische Dramatik) charakteristische Unmittelbarkeit erzeugt, mit der wiederum die Projektion einer persona in die Musik einhergeht. In eine musikalische, anti-symmetrische und insofern teleologische Dramaturgie eingebunden, erscheint diese musical persona als Akteur eines Wandlungsprozesses. Musikalische ›Narrationen‹ teilen dabei mit verbalsprachlichen Narrationen, dass sie die lebensweltlichen Ereignisfolgen und deren anthropomorphen Akteure nicht ›enthalten‹, sondern wir ihnen lediglich zuschrei-

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ben, auf diese Bezug zu nehmen. Das Spektrum der Bezugnahme ist allerdings aufgrund des für Musik spezifischen Bezugnahmemodus bei musikalischen ›Narrationen‹ deutlich größer als dasjenige bei verbalsprachlichen Narrationen.

A NMERKUNGEN 1 Vgl. z.B. die Beschreibungen von Oulibichefff, Alexandre: Beethoven: ses critiques et ses glossateurs, Leipzig/Paris 1857; Marx, Adolf Bernhard: Ludwig van Beethoven. Leben und Schaffen, Bd. 1, Berlin 1859. 2 Newcomb, Anthony: »Schumann and Late Eighteenth-Century Narrative Strategies«, in: 19th-Century Music 11 (1987), S. 164-174; Tarasti, Eera: »On the Modalities and Narrativity in Music«, in: Essays on the Philosophy of Music, hrsg. von Veiko Rantala/Lewis Rowell/Eero Tarasti, Helsinki 1988, S. 110-131; Abbate, Carolyn: »What the Sorcerer Said«, in: 19th-Century Music 12 (1989), S. 221-230; Pasler, Jann: »Narrative and Narrativity in Music« [1989], in: Writing Through Music, hrsg. von Michael Klein/Nicholas Reyland, Oxford 2008, S. 25-48. 3 Vgl. Meelberg, Vincent: New Sounds, New Stories: Narrativity in Contemporary Music, Leiden 2006, https://openaccess.leidenuniv.nl/handle/ 1887/27372 (Abruf am 8. Mai 2015) (einschließlich der von ihm genannten Literaturliste) sowie die Beiträge in Klein, Michael/Reyland, Nicholas (Hrsg.): Music and Narrative since 1900, Bloomington/IN 2013. 4 Ich rede von Verbalsprache anstatt von Sprache, weil der Sprachbegriff mehrdeutig ist: er kann sowohl dazu dienen, verschiedene Verbalsprachen voneinander abzugrenzen – die Sprache ›Englisch‹ von der Sprache ›Französisch‹ z.B. – als auch als Bezeichnung für Zeichensysteme verwendet werden, die keine Verbalsprachen sind, wie z.B. Taubstummensprache und Programmiersprachen. 5 Vgl. diesbezüglich u.a. die Studien von Abbate (wie Anm. 2); Pasler (wie Anm. 2); Nattiez, Jean-Jacques: »Can One Speak of Narrativity in Music?«, in: Journal of the Royal Musical Association 115/2 (1990), S. 240-257; Meelberg (wie Anm. 3).

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6 Freilich handelt es sich bei Schwitters »Ursonate« auch weniger um eine Komposition, die die Gattungsgrenze zur Poesie, als vielmehr um ein Gedicht, das die Gattungsgrenze zur Musik überschreitet. 7 Genette, Gérard: Narrative Discourse. An Essay in Method [1972], Ithaca/NY 1980. 8 Vgl. ebd. 9 Eine Erzählerinstanz muss sich nicht in einem im Inhalt der Erzählung direkt nachweisbaren Erzähler manifestieren. Es ist auch genauso gut möglich, dass der Erzähler vom Leser lediglich imaginiert wird. 10 Die Ableitung dessen, was eine Erzählung ist, aus dem Vergleich der Gattung mit derjenigen des Dramas ist für die literaturwissenschaftliche Diskussion grundlegend, auch wenn das Drama nur implizit den Vergleichsmaßstab darstellt (vgl. z.B. Bal, Mieke: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative [1985], Toronto 2009, S. 64). (Monika Fludernik macht demgegenüber deutlich, dass das Label ›Erzählung‹ auf weit mehr Textsorten anzuwenden ist, als die literarische Erzählung. Sie definiert ›Erzählung‹ als »gängige und oft unbewusste Aktivität in der mündlichen Sprache […] [, die] sich von dieser über mehrere Gebrauchstextsorten (Journalismus, Unterricht) bis zu dem, was wir prototypisch als Erzählen auffassen, nämlich das literarische Erzählen als Kunstgattung« erstreckt. Fludernik, Monika: Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006, S. 9. In ihrer Perspektive ergibt sich die Definition der Erzählung somit nicht aus ihrem Kontrast zum Drama.) 11 Die Klassifizierung von Mittelbarkeit als zentralem Merkmal des Erzählens geht auf Franz K. Stanzel zurück. Vgl. ebd., S. 175. 12 In Unsung Voices impliziert Abbate, dass für Erzählungen Mittelbarkeit ein unverzichtbares Merkmal darstellt: »[C]an music in fact possess narrativity without the distance engendered by discursive formulation? I would claim not, though not solely because I espouse a given position within complex literary-critical debates on what constitutes narrativity.« Abbate, Carolyn: Unsung Voices: Opera and Musical Narrative in the Nineteenth Century, Princeton/NJ 1991, S. 26. 13 Nattiez (wie Anm. 5), S. 242, 245f. (zu anthropomorphen Akteuren und Ereignissen). Abbate stellt fest: »[L]iterary theories of narrative suggest ways in which music cannot narrate, and how our metaphor of narration collapses and lies empty – in strange folds and curves […] Perhaps mu-

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sical works have no ability to narrate in the most basic literary sense; that is, to posit a narrating survivor of the tale who speaks of it in the past tense« (Abbate [wie Anm. 2], S. 228, 230). »This sense of the speaker’s detachment, a particular human and moral stance toward the referential object of one’s speech, is one defining mark of narration: does this stance have a musical cognate? […] Music’s distinction is fundamental and terrible; it is not chiefly diegetic but mimetic. […] When there is a framing narrator, as there is in ERLKÖNIG [in the verbal text or in the music?], his presence is kept to a minimum; often (as in the ZAUBERLEHRLING) there seems to be no outside voice« (Abbate [wie Anm. 12], S. 53). Ein weiterer Aspekt, der der Auffassung einiger Musikwissenschaftlerinnen gemäß die Übertragbarkeit des literaturwissenschaftlichen Narrativitätskonzepts auf die Musik infrage stellt, ist die Tatsache, dass – um Abbates vielzitierte Frage zu reformulieren – ›music does not have a past tense‹ (im verbalsprachlichen Sinn). Eine negative Antwort auf diese Frage ist jedoch keineswegs ein Indiz dafür, dass Musik nicht narrativ sein könne. Denn anders, als die Frage suggerieren mag, werden verbalsprachliche Erzählungen zwar häufig, jedoch keineswegs immer in einer grammatikalischen Vergangenheitsform verfasst. Präsenz und sogar Futur (in der Prolepse) finden in Erzählungen ebenfalls Anwendung, vgl. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 2009, S. 33. Ebenfalls unbedeutend ist die Tatsache, dass Musik – anders als Erzählungen – generell über keine temporalen Differenzierungsmöglichkeiten verfügt und somit erzählerische Modi der Analepse und Prolepse nicht möglich sind. Diese Modi stellen m.E. keine konstitutiven Merkmale von verbalsprachlichen Erzählungen vor. Sie können vorkommen, müssen jedoch nicht. 14 »We end where we might begin, with a question. Do the last ten measures pass over to the other world, speaking in the past tense of what has passed? Is this the orchestral he said? Then the slow epilogue is the voice of the third person, who in the poem is mute and leaves his mark, the quotation marks, only in the poem's final stanza. Perhaps this narrator, who in Dukas’s scherzo is not ›silent‹, even continues beyond the he said. If so, he tells us what happened after we have heard what the sorcerer said.« Abbate (wie Anm. 2), S. 230. Vgl. auch Abbate (wie Anm. 12), insb. S. 139ff.

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15 »[N]arrative listening is a return to structural listening, but with a difference as well. In narrative listening, a sense of comprehension can be established through musical structuring, but the activity of structuring, as is done in narrative listening, differs in important respects from structural listening.« Meelberg (wie Anm. 3), S. 3. Vgl. zur Musik des 20. Jahrhunderts insb. Kap. 6 in Meelbergs Monographie. 16 Er schreibt z.B.: »My contention is that music has more narrative traits than […] critics assume.« Ebd., S. 1. 17 »[T]he composer and his/her intentions do not play any role in my conception of narrative listening.« Ebd., S. 4. 18 Ebd., S. 11. 19 Die hier skizzierte Zeichentheorie rekurriert nicht auf die Theorie eines einzelnen Zeichentheoretikers, sondern ist eklektisch – und dabei zugleich wohl auch in einzelnen Hinsichten originär. Wer die Urheberinnen der jeweiligen Theoriefacetten sind, ist ohne umfangreiche Studien schwer zu rekonstruieren, weil erstens Uneinigkeit darüber besteht, wie einzelne Theoreme oder ganze Theorien von Autoren zu verstehen sind – d.h. es wäre eine komplexe Auslegungsgeschichte zu berücksichtigen – und zweitens diese im Laufe der Kultur- und Zeichentheoriegeschichte von nachfolgenden Autorinnen sowie in verschiedenste geisteswissenschaftliche, oftmals mündliche Diskurse übernommen und modifiziert wurden. Aufgrund dieser Schwierigkeit, Urheberinnen klar zu identifizieren – ist diese oder jene Theoriefacette auf diese oder jene Autorin zurückzuführen oder handelt es sich um eine unbeabsichtigte, also quasi originäre Umdeutung von meiner Seite? –, beschreibe ich Zeichenprozesse so, wie sie meiner Auffassung nach am plausibelsten vorzustellen sind, ohne die einzelnen Aspekte meiner Theorie explizit auf einzelne Autorinnen zurückzuführen. 20 Zeichenprozesse, die auf der Basis von Stipulation erfolgen, beruhen dabei keineswegs auf expliziter Absprache, Regelsetzung oder Normierung; es handelt sich vielmehr um implizite Vereinbarungen, die in der Form von semiotischer Praxis bestätigt und verfestigt werden und die jedoch insofern ›verbindlich‹ sind, als eine Zeichenverwenderin, die in eine Sprachgemeinschaft ›hineingeboren‹ und in ihr sozialisiert wird, im Sozialisierungsprozess lediglich die Rolle der Lernenden, nicht diejenige der die semiotische Praxis Aktiv-Mitgestaltenden übernimmt.

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21 Mein Konzept des semiotischen Bezugnahmemodus ›Ähnlichkeit‹ knüpft an Nelson Goodmans Konzept der Exemplifikation an. Es weicht von Goodman jedoch in zwei Hinsichten ab. 1) Während ich der Klasse der Zeichensysteme oder -prozesse, die ausschließlich auf Stipulation beruhen, weil die Beziehung zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem arbiträr ist (wie das Zeichensystem ›Verbalsprache‹), diejenige der Zeichensysteme oder -prozesse gegenüberstelle, die auf Ähnlichkeit beruhen, ist bei Goodman die zweite Klasse, die diejenige der Stipulation ergänzt, die Exemplifikation. Mit dem Exemplifikationskonzept entwickelte Goodman einen Bezugnahmemodus, der die essentielle Rolle, die die Beobachtung von Ähnlichkeiten zwischen Bezeichnendem und Bezeichnetem vonseiten der Zeichenverwenderinnen spielt, verdeckt, obwohl sie gerade für sein Konzept der Exemplifikation grundlegend ist. Das führt das von Goodman angeführte Paradigma für Exemplifikation ›Stoffprobe‹ deutlich vor Augen. Die exemplifizierende Funktion, die die Stoffprobe in Goodmans Beispiel besitzt, beruht darauf, dass sie Eigenschaften (properties) mit dem Stoffballen, auf den sie sich bezieht, teilt. Vgl. z.B. Goodman, Nelson: Ways of Worldmaking, Indianapolis/IN 1978, S. 37. Es sind diese Eigenschaften, auf deren Basis wir, die Zeichenverwenderinnen, der Stoffprobe zuschreiben, auf den Stoffballen Bezug zu nehmen. ›Teilen von Eigenschaften‹ ist jedoch eine Umschreibung dessen, was wir herkömmlich als ›Ähnlichkeit miteinander haben‹ beschreiben. Auf diese Zusammenhänge weist auch bereits der von Goodman verwendete Begriff ›exemplification‹ hin. Die beiden Begriffe ›Ähnlichkeit‹ und ›Exemplifikation‹ beziehen sich auf verwandte Sachverhalte. Ähnlichkeit besteht, wie gezeigt, wenn zwei Dinge oder Phänomene mindestens eine Eigenschaft miteinander teilen. Ein Ding oder Phänomen exemplifiziert eine Gruppe von Dingen oder Phänomenen, wenn ersteres die in einem bestimmten Kontext relevanten Merkmale von letzterer besitzt, d.h. mit ihr in diesen Hinsichten ähnlich ist. Dass Goodman trotz der grundlegenden Bedeutung, die Ähnlichkeit für sein Konzept der Exemplifikation hat, diesen Sachverhalt dennoch in Languages of Art und Ways of Worldmaking (Goodman, Nelson: Laguages of Art, Indianapolis/IN 1976; Goodman, Nelson: Ways of Worldmaking, Indianapolis/IN 1978) unterdrückte, dürfte einer etwa zeitgleichen philosophischen Diskussion über die Validität von Ähnlichkeitsbehauptungen

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geschuldet sein, in deren Zuge Goodman in seinem Aufsatz »Seven Strictures on Similarities« darauf abhob, dass Ähnlichkeit keine Beziehung zwischen zwei Phänomenen konstituiere, weil jede zwei Phänomene in irgendeiner Hinsicht zueinander ähnlich sind (und sei es nur hinsichtlich des Umstandes, dass beide Phänomene Phänomene sind) (vgl. Goodman, Nelson: »Seven Strictures on Similarity«, in: ders., Problems and Projects, Indianapolis/IN 1972, S. 437-446, hier S. 443). Wenn jedoch Ähnlichkeit zwischen jeden zwei Phänomenen ›festgestellt‹ werden könne, so ließe sich Goodman weiterführen, sei sie nicht dafür geeignet als Bezugnahmemodus für Zeichenprozesse zu dienen. Dieser Einwand ist meiner Auffassung nach zu vernachlässigen – und zwar deshalb, weil Goodman in dem gleichen Aufsatz, in dem er das radikale Argument vorbrachte, auch zeigte, dass der Kontext oder die Perspektive, in dem bzw. aus der zwei Gegenstände zueinander ins Verhältnis gesetzt werden, die Hinsichten, in denen etwas als ähnlich ›erkannt‹ wird, stark limitiert. Goodman führt hier das Beispiel an, dass auf einem Flughafen die Ähnlichkeit zwischen zwei Koffern am CheckIn in Hinblick auf deren Gewicht festgestellt wird – d.h. zwei Koffer sind ähnlich, wenn sie ein ähnliches Gewicht haben –, wohingegen bei der Gepäckabholung sich die Ähnlichkeit zwischen zwei Koffern an dessen Aussehen bemisst – zwei Koffer sind ähnlich, wenn sie eine ähnliche Farbe, Größe und Form haben. In Goodmans Worten: »circumstances alter similarities« (Goodman, Nelson: »Seven Strictures on Similarity«, in: ders., Problems and Projects, Indianapolis/IN 1972, S. 437-446, hier S. 445), oder genauer: ›circumstances, i.e. the perspective of the individual looking for similarities in a specific situation, determine which shared properties constitute similarity between two phenomena and which ones are irrelevant‹. 2) Anders als Goodman halte ich die Bezugnahmerichtung beim Bezugnahmemodus ›Exemplifikation‹, den ich hier durch den Modus ›Ähnlichkeit‹ ersetze, für irrelevant bzw. unbestimmt. (Goodman entwickelte seine Vorstellung, dass bei der Exemplifikation die Bezugnahmerichtung im Vergleich zu derjenigen bei der Denotation umgekehrt sei, offenbar vor dem Hintergrund des Denotationskonzepts.) Welches der zwei Phänomene, zwischen der eine Zeichenverwenderin eine Ähnlichkeitsbeziehung konstruiert, das Bezeichnende oder das Bezeichnete ist, ist nicht dem Phänomen, das im gegebenen Kontext als Bezeichnendes operiert, inhärent, sondern hängt

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alleine von der Perspektive der Zeichenverwenderin ab. Temporalität spielt hierbei eine zentrale Rolle, wie Christopher Reynolds anhand eines Beispiels gezeigt hat. Er beschreibt die Erfahrung, dass beim Hören einer Orgelkomposition von Buxtehude in seiner Wahrnehmung Buxtehudes Stück auf Beethovens FÜNFTE SYMPHONIE, die er lange vorher bereits kennengelernt hatte, Bezug zu nehmen schien, obwohl »Buxtehude was certainly not imitating nineteenth-century Beethoven.« Reynolds, Christopher A.: Motives for Allusion: Context and Content in Nineteenth-Century Music, Cambridge/MA 2003, S. x-xi. Vgl. Anm. 19. Zwar können zwischen dem Signifikanten ›kurz‹ und dessen Signifikat ebenfalls Ähnlichkeiten festgestellt oder konstruiert werden – beide teilen die Eigenschaft der Kürze miteinander –; dieser Ähnlichkeit wird von Zeichenverwenderinnen jedoch keine Bedeutung beigemessen, weil sie als zufällig, nicht ›naturgegeben‹ bewertet wird. Vgl. Anm. 23. Ähnlichkeitskonstruktionen vonseiten der Perzipientinnen erfolgen selbstverständlich auch beim Hören von sog. absoluter Musik. Denotierende, also verbalsprachliche Zeichen als Elemente des Notentextes oder im Kontext des Notentextes, die eine Limitierung des Spektrums konstruierbarer Ähnlichkeiten mit sich bringen, spielen weiterhin eine Rolle; diese ist allerdings schwächer. Absolute Kompositionen enthalten genauso wie andere musikalische Werke Passagen und Klangkonfigurationen, die durch charakteristische Eigenschaften gekennzeichnet sind, für die sich wiederum im Laufe der Musikgeschichte verbalsprachliche Labels wie ›Fanfare‹, ›Seufzermotiv‹, ›Anabasis‹ oder ›Katabasis‹ herausgebildet haben. Wir schreiben diesen verbalsprachlichen Labeln zu, auf der Basis von Stipulation auf spezifische Phänomene Bezug zu nehmen: auf ein Signal, das in diversen soziokulturellen und politischen Kontexten dazu verwendet wird, ein Ereignis von einiger Bedeutung (wie die Ankunft eines Herrschers oder das Ende einer Jagd) anzukündigen oder zu einer bestimmten Handlung (einem Angriff z.B.) aufzurufen; auf eine menschliche Lautäußerung als ›Ausdruck‹ von Trauer oder Kummer; bzw. auf eine Bewegung in eine vertikale Richtung (aufwärts bzw. abwärts). Die Grundlage für die Verwendung dieser Labels ist die Beobachtung von – der Auffassung der Hörerinnen oder Ausführenden nach – relevanten Ähnlichkeiten

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zwischen dem Denotationspektrum des Labels und den Eigenschaften der gelabelten musikalischen Passage: die intervallische Kontur, ein Spannungs-Entspannungs-Prozess, die Richtung der musikalischen Bewegung. Unsere Praxis des verbalsprachlichen Labelns von musikalischen Konfigurationen (im Rahmen des Musikdiskurses, der Musikausbildung und des Musizierens) bringt mit sich, dass das Denotationsspektrum des verbalsprachlichen Labels auf die musikalische Konfiguration ›abfärbt‹, d.h. die musikalische Konfiguration ein ähnliches Denotationsspektrum ›adaptiert‹. (Der Grund hierfür ist, dass Zeichenverwender kognitiv nicht zwischen einem Bezeichnenden (als Element der zweistelligen Relation ›Zeichen‹) und seiner Umgebung, hier dem der Tonkonfiguration zugeschriebenen verbalsprachlichen Label, unterscheiden.) Es ist evident, dass diese ›Kontamination‹ musikalischer Konfigurationen mit außermusikalischer Bedeutung, d.h. mit einem spezifischen Denotationsspektrum eines verbalsprachlichen Labels, auch eine Einengung des Spektrums bewirkt, das Musikhörerinnen und Ausführenden zur Konstruktion von Ähnlichkeiten zwischen der musikalischen Passage und anderen Phänomenen zur Verfügung steht. Indem wir z.B. die Zweitonkonstellationen zu Beginn von Brahms Klavierquartett (»Werther«) op. 60/3 als Seufzermotiv labeln, behaupten wir implizit eine Ähnlichkeit zwischen den Zweitonkonstellationen und Seufzern. Wir unterstellen darüber hinaus, dass die musikalische Passage ein emotionales Spektrum denotiert, das durch psychische Spannung gekennzeichnet ist und von Trauer, Verzweiflung und Kummer bis zu freudevoller Erwartung reicht (je nachdem, ob sie in einer getragenen oder lebhaften Weise vorgetragen wird). Wir unterstellen dies, weil wir dem Label ›Seufzermotiv‹ zuschreiben, nicht nur auf Seufzer, sondern auch auf ein spezifisches emotives Spektrum Bezug zu nehmen. Mit anderen Worten: Es erschiene widersprüchlich, wenn wir Zweitonkonstellationen als Seufzermotive labelten, zugleich jedoch behaupteten, dass die Zweitonkonstellationen auf einen Rollkoffer oder einen Gummiball Bezug nehmen, die eine Treppe hinunterplumpsen bzw. -hüpfen; eine solche Aussage wäre nur nachvollziehbar, wenn wir dem Label ›Seufzermotiv‹ zuschrieben, in ganz abstrakter Weise auf nichts weiter als einen Halbtonschritt abwärts sich bewegende Zweitonkonstellationen Bezug zu nehmen. Pointiert formuliert bedeutet dies: Indem wir über Musik reden, sie beschreiben, schreiben wir ihr außer-

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musikalische Bedeutungen zu, gleichgültig ob sie von anderen Musikhörerinnen und -ausführenden als ›absolut‹ klassifiziert wird oder nicht. Eine absolute Musik im strengen Sinn ließe sich nur erreichen, wenn wir es unterließen, uns über Musik auszutauschen und den bisherigen Musikdiskurs und seine Zuschreibungsresultate vergässen. Das scheint mir gegenwärtig jedoch alles andere als wahrscheinlich zu sein. Ein weiterer Faktor, der das Spektrum der zu konstruierenden Ähnlichkeit – auch bei so genannter absoluter Musik – einschränkt, ist unsere Gewohnheit, zwischen musikalischen Konfigurationen und anthropomorphen Zügen und Gesten Ähnlichkeiten zu konstruieren. Vgl. hierzu die Erörterungen im Rahmen der PersonaTheorie, der Konturtheorie und, damit im Zusammenhang stehend, Theorien zum musikalischen Ausdruck sowie zur musikalischen Narrativität von u.a Kivy, Peter: Sound Sentiment, Philadelphia/PA 1989, S. 71-83; Levinson, Jerrold: »Musical Expressiveness as Hearability-as-Expression«, in: Contemporary Debates in Aesthetics and the Philosophy of Art, hrsg. von Matthew Kieran, Malden/MA: 2006, S. 192-206; Rinderle, Peter: »Musik als expressive Geste einer imaginären Person«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 62 [2008], S. 53-72; und Trivedi, Saam: »Music and Imagination«, in: The Routledge Companion to Philosophy and Music, hrsg. von Theodore Gracyk and Andrew Kania, New York, 2011, S. 113-122. Vgl. Abbate (wie Anm. 2), S. 228. Raffman nennt sie »nuance ineffability«; vgl. Raffman, Diana: Language, Music, and Mind, Cambridge/MA 1993 (›nuance ineffability‹ ist einer der Kernbegriffe des Buches). Für einen historischen Überblick über die Entwicklung von Erzähltheorien und der Narratologie ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert vgl. Fludernik (wie Anm. 10), S. 19ff. In seiner Studie zur »narrativity in contemporary music« legt Meelberg demgegenüber nahe, dass die meiste Musik narrativ sei; er geht allerdings dabei davon aus, dass Narrativität nicht ein bestimmtes Set an kompositorischen Eigenschaften eines Werkes ist, sondern eine Perspektive und kognitive Leistung des Hörers: »A possible way to structure music is to narrativize it, i.e. to regard it as a narrative […] the narrative listening stance […] is not a reconstruction of a listening experience, nor is it a recipe in order to arrive at a ›correct‹ way of musical

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listening. Instead, I consider a narrative listening stance to be an alternative manner of musical listening, one that does not exclude other possibilities to experience the music […]. Narrativization is a fundamental human tendency in order to come to terms with temporal phenomena.« Meelberg (wie Anm. 3), S. 37, 6, 224. Meelberg knüpft damit offenbar an Newcomb an; vgl. ebd., S. 41. 30 Das Lied ohne Worte ist freilich nur unter Vorbehalt als Beispiel für ›narrative Musikgattungen‹ zu nennen. Denn dem insbesondere im 19. Jahrhundert praktizierten Diskurs über den musikalischen Charakter gemäß sind Lieder ohne Worte Charakterstücke und diese werden wiederum dem Diskurs gemäß von mehrsätzigen Kompositionen abgegrenzt, weil sich erstere im Unterschied zu letzteren durch einen einheitlichen Charakter auszeichnen – wohingegen ein narratives Musikstück einen Wechsel des musikalischen Charakters bedingt, um eine ›Geschichte erzählen‹ zu können. Zur Geschichte des Charakterbegriffs im Musikdiskurs: vgl. Ruiter, Jacob de: Der Charakterbegriff in der Musik, Stuttgart1989. 31 Der Sprachbegriff ist nicht nur, wie in Anm. 1 erwähnt, diffus. In Bezug auf Musik ist er äußerst problematisch, weil er suggeriert, dass Musik genauso wie Verbalsprache auf der Grundlage des Bezugnahmemodus ›Denotation‹ funktioniert. Musik ist zwar ein Zeichensystem; sie ist jedoch nicht mit Verbalsprache vergleichbar. Dies wurde in der Vergangenheit und wird heute noch immer von manchen Musikphilosophinnen übersehen – und zwar meiner Vermutung nach deshalb, weil erstens philosophisches Denken über Musik häufig nicht auf der Grundlage einer ausreichenden Reflektion über die ›Funktionsweise‹ von Musik als Zeichensystem erfolgt und zweitens gerade die philosophische Disziplin mit ihrem Primat der Verbalsprache dazu verleitet, Zeichenprozesse, die zum Erfahren, Erkennen und Verstehen der Welt unverzichtbar sind, auf verbalsprachliche Zeichenprozessen zu reduzieren (und alle weiteren Formen von Zeichenprozesse die mittels diverser Zeichensysteme und -konstellationen realisiert werden – Musik, Taubstummensprache, Verkehrszeichen, Tanz, Berührung, Gerüche, Morsezeichen, Kleidungsstile, Mimiken etc. – auszublenden oder als Ableitungen zu begreifen). Zwar bestehen zweifellos dahingehend Ähnlichkeiten zwischen Musik und Verbalsprache im Hinblick auf Phrasierung; diese sind jedoch m.E. von untergeordneter Bedeutung,

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weil anders als Verbalsprache das Zeichensystem ›Musik‹ keine logischen Operatoren (›und‹, ›oder‹, ›nicht‹) besitzt, d.h. strukturierende Phrasierungen in der Musik einen anderen Sinn sowie auch eine andere Bedeutung haben als in der Verbalsprache. Bei narrativem Tanz handelt es sich im Grunde um eine stilisierte, rhythmisierte und meist von Musik begleitete Variante der Pantomime. Vgl. Meelberg (wie Anm. 3). Vgl. Foster, Susan Leigh: Choreography and Narrative, Bloomington/IN 1996; Nye, Edward: »›Choreography‹ is Narrative: The Programmes of the Eighteenth-Century Ballet d’Action«, in: Dance Research 26/1 (2008), S. 42-59. Ich verwende den Begriff in Anführungszeichen, weil es sich bei Bewegungsmodi, Gesten und Mimik zwar um Zeichenprozesse, nicht jedoch um Sprache im eigentlichen Sinn handelt; Sprache zeichnet sich nicht nur durch Referenzialität (wie jedes Zeichensystem), sondern auch durch Grammatik aus. Vgl. Anm. 8. Vgl. u.a. Lacan, Jacques: »Fonction et champ de la parole et du langage en psychoanalyse«, in: ders., Écrits, Bd. 1, Paris 1966, S. 237-322, hier S. 276. Vgl. für bildende Kunst und Tanz Brandstetter, Gabriele: »Ausdruckstanz«, in: Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933, hrsg. von Diethart Kerbs/Jürgen Reulecke, Wuppertal 1998, S. 451-463; Mersch, Dieter: Was sich zeigt, München 2002, S. 49. Nattiez (wie Anm. 5), S. 251. Vgl. Abbate (wie Anm. 12). Pasler hebt darauf ab, dass Musik als signifier auf andere Kompositionen und »a wide range of extramusical and even musical ideas«, die signifieds wie eine »series of actions, a given character, or the flux of a character’s emotions« Bezug nimmt. Pasler (wie Anm. 2), S. 27. »[A] necessary assumption of musical narrativity [is] that music is textual, in the sense of defining relations and articulating codes in a genuinely semiotic fashion«, »[but that] a musical text […] is not a mere sequence of sounds any more than a literary text is a sequence of words«. Samuels, Robert: »Music as Text: Mahler, Schumann and Issues in Analysis«, in: Theory, Analysis and Meaning in Music, hrsg. von Anthony Pople, Cambridge 1994, S. 152-163, hier S. 152.

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43 Für Meelberg scheinen darüber hinaus musikalische Zeichenprozesse weniger auf die Generierung von Bedeutung als auf diejenige von Struktur hinauszulaufen: »[T]he listener may relate musical phrases to other musical works or practices, or to nonmusical ideas or phenomena. In short: the listener can structure music while listening to it. [….] Both with the aid of musical conventions and with the expectations aroused by the music that has already sounded, a listener tries to make sense of the music s/he is listening to. [...] [A] musical text can […] be regarded as a finite, structured whole composed of musical signs.« Meelberg (wie Anm. 3), S. 16, 44. Kursivierung durch Autorin. 44 Bekker, Paul: Gustav Mahlers Sinfonien, Berlin 1921, S. 79. 45 Vgl. Gustav Mahler: ZWEITE SYMPHONIE, hrsg. von der Internationalen Mahler Gesellschaft, Universal Edition, Wien 1971, S. 10, Takte 74ff. (Einzusehen über imslp.org). 46 Best, Otto F.: »Held, Heros«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hrsg. von Joachim Ritter, Basel 1974, Sp. 1043-1049, hier Sp. 1044. 47 Vgl. z.B. Kivy (wie Anm. 25), S. 71ff. Für einen Überblick über die Konturtheorie vgl. Rinderle, Peter: Die Expressivität der Musik, Paderborn 2010, S. 95ff. 48 Bezeichnen wir eine Zusammenhangsbildung als Assoziation, so kennzeichnen wir sie implizit als willkürlich, der Tendenz nach unkontrolliert und in jedem Fall unverbindlich, weil kein gesellschaftlicher Konsens für diese Form der Zusammenhangsbildung besteht. Bezeichnen wir demgegenüber eine Zusammenhangsbildung als Bedeutung eines Zeichens (d.h. also eigentlich des Bezeichnenden), so geben wir damit zu verstehen, dass wir davon ausgehen, dass unsere Zusammenhangsbildung als angemessen akzeptiert wird. Voraussetzung für diese Akzeptanz ist dabei, dass die Zusammenhangsbildung in Rückkopplung mit unserem Wissen über gesellschaftliche Konventionen u.ä. erfolgt ist, d.h. sie erfolgt sozial kontrolliert und reguliert. 49 Zur Animierung (als genereller Form der Anthropomorphisierung) von Musik vgl. u.a. Abbate (wie Anm. 12), S. 13; Trivedi (wie Anm. 25), S. 118. 50 Zum Zusammenhang zwischen Musikverstehen und Körpererfahrungen vgl. Cochrane, Tom: »A Simulation Theory of Musical Expressivity«, in: Australasian Journal of Philosophy 88 (2010), S. 191-207, insb. S.

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198. Er verarbeitet Forschungsergebnisse von u.a. Antonio Damasio, Stephen Davies, Vittorio Gallese, Alvin Goldman und Jenefer Robinson. Vgl. Gustav Mahler: ZWEITE SYMPHONIE, hrsg. von der Internationalen Mahler Gesellschaft, Universal Edition, Wien 1971, S. 21, Takte 175ff. (Einzusehen über imslp.org). Bekker (wie Anm. 44), S. 77. Trotz der klanglich weicheren Instrumentierung ›Trompeten und Hörner‹ statt ›Tuben, Posaunen und Trompeten‹ erzeugt die martellato Anweisung ein äußerst brillantes, scharfes Timbre, nicht unähnlich einer bedrohlichen, resolut schreienden Stimme, die den Anspruch auf Macht – Herrschermacht und Handlungsmacht – erhebt. Auf diese Zusammenhänge weist auch Pasler hin: »The ultimate reason narrative events are directed and connected is that they undergo or cause transformation, which is probably the narrative’s most important and most illusive characteristic.« Pasler (wie Anm. 2), S. 34. Ähnlich zweifeln wir nicht an der Identität eines Bekannten, auch wenn dieser im Laufe der vergangenen Jahre mehr Falten und graue Haare bekommen hat. Vgl. Johann Mattheson: SUITE DOUZIEME POUR LE CLAVECIN, hrsg. von Hermann Hinsch, http://imslp.nl/imglnks/usimg/d/dd/IMSLP04594-Ma ttsuite12.pdf (Abruf am 2. September 2015), S. 11. F-Moll (Tonika) und VII. Stufe (mit funktionstheoretischer Terminologie: ein verkürzter Dominantseptakkord). Vgl. Gustav Mahler: ZWEITE SYMPHONIE, hrsg. von der Internationalen Mahler Gesellschaft, Universal Edition, Wien 1971, S. 18-20, Takte 145-174 (Einzusehen über imslp.org). Ähnliche, an der Konstitution von ›Narrativität‹ beteiligte musikalische Prozesse beschreibt auch Meelberg: »[A] note E is interpreted differently when sounding together with an A major chord than when sounding together with a C minor chord. In this way, the simultaneous organization of sounds creates a frame, a specific context […]. The principle of continuity […] states that when a series of sounds consistently, or continuously, changes value in a particular direction in units of similar size, the sounds will tend to form events.« Meelberg (wie Anm. 3), S. 65, 75. Heroisierung und Anthropomorphisierung stehen dabei nicht in einem kausallogischen, temporalen Verhältnis; es gilt nicht ›erst A, dann B‹.

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Beide sind zwei Seiten derselben Sache. Die Vorstellung (und Interpretation beim Hören), dass Musik anthropomorph ist, d.h. menschliche Aspekte – Emotionen, Bewegungsmodi – besitze, ist Voraussetzung dafür, dass eine Heroisierung gelingt, d.h. die Hörerinnen bereit sind, die Musik als heroisch wahrzunehmen (wie dies Bekker im obigen Zitat tut, vgl. Bekker [wie Anm. 44], S. 79). 60 Wenn Meelberg zwar davon ausgeht, dass ›narrative Kompositionen‹ »actors« enthalten, zugleich jedoch die Theorie zurückweist, dass das Verstehen von Musiknarrationen mit der Animisierung oder Anthropomorphisierung von Musik aufs engste verknüpft ist (vgl. Meelberg [wie Anm. 3], S. 83f.), so berücksichtigt er m.E. nicht ausreichend, dass menschliche Assoziationen (sowie Denken generell) häufig nicht konsistent und kontinuierlich sind. Wir können z.B. einen Gegenstand, der heruntergefallen und zerbrochen ist, wie ein Kind ›ausschimpfen‹ (und ihn in diesem Moment anthropomorphisieren), gleichzeitig jedoch wissen, dass der Gegenstand sicherlich kein Mensch ist und unsere Rüge nicht zur Kenntnis genommen hat. Genauso können wir auch musikalischen Motiven oder Themen in einem Moment des Hörprozesses die Rolle von Akteuren, d.h. handlungsmächtigen menschlichen Subjekten, zuweisen, zugleich jedoch überzeugt davon sein, dass wir sie nicht anthropomorphisiert haben.

Raum – Perspektive – Narration Was Gustav Mahler zur intermedialen Narrationstheorie beitragen könnte

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»Daß Musik sich selber vortrage, sich selbst zum Inhalt habe, ohne Erzähltes erzähle, ist keine Tautologie, auch keine Metapher für den Habitus des Erzählenden, der vielem von Mahler fraglos zukommt. Das Verhältnis von Vortrag und Vorgetragenem ist das zwischen den partikularen Momenten und dem Zug. Das Vorgetragene sind die konkreten Einzelgestalten […]. Der Vortrag aber ist der Strom des Ganzen […]; die Reflexion der Details durch den Zusammenhang ist desselben Wesens wie die eines Erzählten durch die Erzählung.«1

Diese These aus Adornos Mahler-Monographie offenbart nicht nur die Faszinationskraft, sondern auch die Grenzen der Vorstellung, Musik könne »erzählen«. Adornos Unterscheidung von »Vortrag und Vorgetragenem« wird in der modernen Narratologie in Begriffe wie story und discourse gefasst, »Erzähltes« und »Erzählen«.2 Die Unterscheidung ist eine kontrafaktische: Der innere Zusammenhang der story existiert unabhängig vom discourse, unabhängig von der Weise, in der die story tatsächlich vorgetragen wird. Das heißt: Dieselbe story könnte – kontrafaktisch – auf verschiedene, ganz andere Weisen präsentiert werden3 und umgekehrt lassen sich auf dieselbe Weise verschiedene stories erzählen. In der Literatur zeigt sich die Unabhängigkeit der story vom discourse beispielsweise darin, dass die zeitliche Ordnung des Vortrags von der zeitlichen Ordnung des Vorgetragenen erheblich abweichen kann und eben diese Unabhängigkeit ist es zugleich, die einen wesentlichen Reiz der Erzählkunst ausmacht.

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In der Musik wird der »Strom des Ganzen« (Adorno), der tatsächliche Ablauf der Klänge, gewöhnlich mit der discourse-Ebene identifiziert. Schon der Erzähler in Thomas Manns Zauberberg benennt die Zeit der literarischen »Erzählung« (discourse) ausdrücklich als »musikalisch-reale« Zeit, um sie von der Zeit des erzählten »Inhalts« (story) abzugrenzen.4 Von dieser Prämisse ausgehend, ist die Frage, inwiefern Musik narrativ sein kann, übersetzbar in die Frage, worin genau die story hinter dem tönenden discourse besteht. In der Musikwissenschaft ist seit über zwei Jahrzehnten eine lebhafte Debatte zu diesem Problem im Gange. Die schiere Vielfalt an narratologischen Positionen und musikanalytischen Detailstudien, die im Laufe dieser Debatte diskutiert worden sind, lässt sich hier kaum im Ansatz umreißen.5 Aus systematischer Sicht sind jedenfalls prinzipiell zwei Strategien denkbar, um die story hinter dem musikalischen discourse zu identifizieren: Strategie 1: Die story existiert »jenseits« des Verlaufs der Klänge. Die Klänge »verweisen« auf die story, so wie auch die Sprache in der literarischen Erzählung auf die erzählte Geschichte verweist. Da diese Strategie auf der Relation zwischen Klangverlauf und bezeichneter story basiert, könnte man diesen Ansatz den semantischen nennen. Mit der musikalischen Semantik verbindet sich bereits die zentrale Schwierigkeit dieser Strategie. Das Problem besteht nicht so sehr in der Frage, ob Musik ohne Worte überhaupt auf eine reale oder fiktive Wirklichkeit verweisen kann – die lange historische Tradition der Tonmalerei bietet genügend Beispiele für Kompositionen, in denen die Musikhörer Naturlaute, Schlachtenszenen usw. erkannten.6 Das Problem besteht vielmehr darin, dass die musikalische Semantik spezifisch genug sein müsste, um einen story-Zusammenhang hervorzubringen, der auch in Form eines ganz anderen discourse immer noch als dieselbe story wiederzuerkennen wäre. Die simple Gleichung »musikalische Semantik + musikalischer Zeitverlauf = musikalische Narration« geht nicht auf, da sie die Kontrafaktizität, die im Herzen der Unterscheidung von story und discourse liegt, unterschlägt. Vera Micznik operiert daher mit einer sehr weit gefassten Relation zwischen Klang und bezeichneter Wirklichkeit:7 Im Kopfsatz von Mahlers Neunter Symphonie untersucht sie den semantischen, vom formalen Zusammenhang unabhängigen Gehalt einzelner Themen und identifiziert u.a. eine »old-fashioned Biedermeier world«, eine »modernistic, stormy, disturbed world« und eine »erring, ultimately confused and alienated world«,

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wobei sie im spannungsvollen Verhältnis dieser musikalisch dargestellten »Welten« anscheinend den Kern der story erblickt.8 Ohne hier näher auf Miczniks elaborierte Analyse der vermittelnden discourse-Techniken eingehen zu können, ist zu konstatieren, dass die bloße Gegenüberstellung kontrastierender »Welten« sich relativ weit von der »herkömmlichen« Vorstellung entfernt, einer story liege eine eigene zeitliche Ordnung zugrunde. Strategie 2: Die story existiert »innerhalb« des Verlaufs der Klänge. Sie ist selbst eine Teilmenge des Klangverlaufs, wird allerdings einer Reorgansiation unterworfen, die einen Unterschied zwischen »eigentlich« zugrundeliegendem (story) und »tatsächlichem« Klangverlauf (discourse) erzeugt und somit die spezifisch narrative Qualität der Musik ausmacht. Da sich dieser Unterschied auf der Ebene formaler Beziehungen konstituiert, könnte man diesen Ansatz den formalen nennen.9 Der formale Ansatz liegt z.B. Martina Sichardts Beethoven-Analyse zugrunde, die im neuen Kontrasubjekt der Schlussfuge der CELLOSONATE OP. 102/1 eine »eingeschobene Rückwendung« auf frühere Stationen der musikalischen Form entdeckt (Fugenthema; Thema aus dem 2. Satz), eine »Rückwendung«, in der eine übergeordnete Zeitebene die Formzeit der Fuge überlagert.10 Siegfried Oechsles Analyse von Schumanns VIERTER SYMPHONIE folgt einem ähnlichen Modell: Phänomene wie z.B. die Wiederkehr der Introduktion im zweiten und dritten Satz interpretiert er als »Einblendungen«, in denen »die formzeitliche Primärebene mit einer [zweiten] Zeitebene, an die Begriffe wie Vergangenheit, Geschichte oder Erinnerung geknüpft werden können«, interferieren, weshalb man die »Differenz zwischen der ›konventionslogisch‹ gestifteten Kausalität [!] von Formereignissen und dem Anschein einer Instanz, die ›hintergründig‹ Regie führt«, als »narrative Unterscheidung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit« hören könne.11 Wenn man die Überlagerung verschiedener Zeitebenen in der Musik mithilfe der Begriffe »Erzählzeit« und »erzählte Zeit« benennt – worin genau besteht dann die story dieser Fallbeispiele? Wenn sie das ist, was in der »Erzählzeit« des discourse präsentiert wird, dann müsste bei Sichardt und Oechsle konsequenterweise der »reguläre« Formverlauf (innerhalb eines Satzes oder auch satzübergreifend) die story sein, die durch die musikalischen Rückwendungen neu geordnet bzw. gewichtet wird.12 Während man also in der Erzählkunst davon sprechen kann, dass

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eine story eine Form hat (den sog. plot), läuft der formale Ansatz anscheinend darauf hinaus, dass die story in der Musik eine Form ist. Diese Darstellung des bisherigen Diskussionsstandes ist keinesfalls erschöpfend13 und deckt vermutlich auch nicht alle weiteren denkbaren Varianten des semantischen bzw. des formalen Ansatzes ab. Gemeinsam ist beiden Strategien jedenfalls, dass der Versuch, eine story »hinter« der ohnehin bereits relativ »abstrakten« Oberfläche des klanglichen Verlaufs aufzudecken, noch abstraktere stories hervorbringt, deren genauer Inhalt für den Rezipienten sehr viel weniger offensichtlich ist als im Roman oder im Film. Ursächlich hierfür ist der Umstand, dass literarische Konzepte wie »Charaktere«, »Erzählzeit« etc. sich nur um den Preis erhöhter Abstraktion in musikanalytisches Vokabular übersetzen lassen. Versteht man Narration als ein genuin literarisches Phänomen, dann ist Musik offenbar maximal in dem Maße narrativ, in dem sie mit der Literatur vergleichbar ist. Auch wenn das letzte Wort hierzu sicher noch nicht gesprochen ist, verdient eine andere Perspektive besondere Aufmerksamkeit, da sie nicht nur der Musikanalyse neue Erkenntnisse verspricht, sondern zudem der Musikwissenschaft ermöglicht, eigenständige Beiträge zu einem interdisziplinären Forschungsprojekt zu leisten. Dieses Projekt ist die intermediale Narrationstheorie, die versucht, den Narrationsbegriff unabhängig von rein-literarischen Modellen zu klären, ein Vorhaben, das bis in die jüngere Vergangenheit aber »noch ziemlich am Anfang« stand.14 Aus intermedialer Perspektive lautet die Fragestellung dann nicht nur: »(Inwiefern) ist Musik narrativ?«, sondern auch umgekehrt: »Inwiefern hilft das Beispiel ›Musik‹ dabei, zu klären, was ›Narration‹ überhaupt ist?« Musikwissenschaftliche Beiträge zu diesem Projekt werden folglich nicht so sehr dadurch relevant, dass sie versuchen, aus den in der Literatur bekannten Kriterien des Narrativen diejenigen auszuwählen, die möglichst genau auf ihr eigenes Gegenstandsgebiet passen, sondern im Gegenteil dadurch, dass sie gerade die Unterschiede zwischen Musik und der Literatur herausarbeiten – zumal die Literatur den Diskurs um das Narrative lange Zeit dominiert hat – und eben dadurch die Entwicklung einer intermedialen Perspektive auf das Narrative unterstützen. Grundsätzliche Gedanken zum Theorierahmen einer intermedialen Narratologie hat Werner Wolf vorgelegt.15 Medienunabhängig ist sein Ansatz insofern, als er das Narrative nicht als Eigenschaft eines Textes oder Mediums bestimmt, sondern als »kognitives Schema« auf der Seite des Rezipi-

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enten verortet, ein Schema allerdings, das durch bestimmte »Narreme«, d.h. durch gewisse Eigenschaften, die einem spezifischen Text / Medium / Kunstwerk etc. seine »Narrativität« verleihen, mehr oder weniger stark indiziert werden kann. Wolf konkretisiert diese Narreme am Prototyp der Märchenerzählung; dabei stößt er allerdings auf Merkmale, die der Musik als nicht eindeutig heteroreferenzieller Kunst nur bedingt zur Verfügung stehen (z.B. die Existenz einer fiktiven Welt, die Handlung anthropomorpher Figuren etc.), weshalb eine narrative Interpretation von Musik für ihn in besonderem Maße von der Phantasie der Hörer abhängt.16 Zugespitzt: Auch bei Wolf ist Musik maximal in dem Maße narrativ, in dem sie »literarisch« ist.17 Der Zusammenhang von Musik und Erzähltheorie kann jedoch auch in einem anderen Kontext interessant werden: Das Beispiel der Musik zeigt eine mögliche Unterscheidung zwischen story- und discourse-Ebene auf, die nicht auf zeitlichen Kategorien basiert – wie eben die Unterscheidung von »Erzählzeit« und »erzählter Zeit« in der Literatur –, sondern auf räumlichen: Wenn dieselbe Musik in unterschiedlichen Entfernungen klingt (bzw. zu klingen scheint) – und hierfür liefert die Musik Gustav Mahlers verschiedene eindrückliche Beispiele –, dann lässt sich das klangliche Geschehen selbst von seiner räumlichen Vermittlung unterscheiden. Musik weist dann gerade nicht als Zeitkunst, sondern vielmehr als Raumkunst narrative Qualitäten auf.18 Der musikalisch-räumliche Perspektivwechsel ist vergleichbar mit der Kamera im Film, die durch die Wahl einer spezifischen Distanz bzw. Perspektive ebenfalls eine Vermittlungsfunktion gegenüber der bloßen Vorführung des Geschehens (wie es etwa in der Theaterszene vorliegt) generieren kann.19 Anders als der semantische und der formale Ansatz fasst diese Strategie den musikalischen Klangverlauf also nicht als den discourse auf, »hinter« dem nun die story rekonstruiert werden müsste, sondern vielmehr selbst als die story, als ein zeitliches Geschehen, das durch den Wechsel der Perspektive aber zugleich als ein bereits (räumlich) vermitteltes Geschehen wahrzunehmen ist. Man könnte diesen Ansatz daher den perspektivischen nennen. Gleichwohl ist das narrative Potenzial des perspektivischen Ansatzes eng begrenzt. Dies betrifft nicht nur die Ebene der story, die als klangliches »Geschehen« zwar eine zeitlich-lineare Struktur besitzt und womöglich auch »Ereignisse« aufweist, über deren »kausalen« Zusammenhang man aber sehr geteilter Meinung sein kann.20 Begrenzt ist vor allem das Potenzi-

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al der discourse-Ebene. Denn auch wenn die Kamera im Film eine Vermittlungsinstanz impliziert, bleibt diese doch immer an das aktuelle Geschehen gebunden und unterscheidet sich insofern nur minimal vom »vorführenden« Modus des Theaters.21 Wie die Kamera, so kann auch der Wechsel der musikalischen Raumperspektive also nicht als Paradebeispiel, sondern eher als Grenzfall des Narrativen gelten. Allerdings haben Grenzfälle immerhin das Potenzial, zu einer schärferen Eingrenzung desjenigen Begriffs beizutragen, dessen Grenzfall sie sind. Der Wechsel der musikalischen Raumperspektive ist ein Grenzfall der story-discourse-Unterscheidung, gerade weil er auf praktisch alle anderen tradierten Merkmale dieser Unterscheidung (z.B. Fiktionalität, Unterschied der Zeitebenen, usw.) verzichten muss. Er präsentiert nur ein zeitliches Geschehen – aber eben als vermitteltes Geschehen. Damit thematisiert er in nuce ein wesentliches Merkmal von Subjektivität (und somit zugleich ein zentrales Thema der Geisteswissenschaften): das Vermögen, eine eigene Perspektive auf die Geschehnisse der Welt zu haben, eine Perspektive, die sich selbst zugleich immer als nur eine von vielen möglichen weiteren Perspektiven auf dasselbe Geschehen verstehen muss.22 Der musikalischräumliche Perspektivwechsel macht gewissermaßen transparent, was es heißt, als Subjekt ein Geschehen zu erleben. Insofern umfasst er einen eigenen Modus von »Erlebnisqualität« – eine Qualität, die Werner Wolf als eine der wesentlichen Funktionen des Narrativen bestimmt.23 Der Beitrag des perspektivischen Ansatzes zur intermedialen Narrationstheorie besteht folglich darin, dass er ein breiteres Verständnis von story und discourse anbahnt: Anhand des Grenzfalls Musik wirft er die Frage auf, ob nicht bereits die bloße Unterscheidbarkeit von zeitlichem Geschehen und seiner Vermittlung hinreichend sein könnte, um von Narrativität zu sprechen. Und dass die Vermittlung des Geschehens in diesem Fall nicht auf zeitlichen Verschiebungen basiert, wäre gerade derjenige Faktor, der das Konzept des Narrativen aus seiner Fixierung auf literarische Modelle zu lösen vermag. Wie groß (oder gering) der Ertrag ist, den dieses erweiterte Verständnis der story-discourse-Unterscheidung aus intermedialer Perspektive bringen könnte, lässt sich hier freilich nicht abschließend klären. Die folgenden drei Musikanalysen sollen jedoch zumindest den Spielraum des perspektivischen Ansatzes anhand einiger Fallbeispiele exemplarisch ausmessen und dabei den Erkenntnisfortschritt demonstrieren, den die Musikwissenschaft von diesem Ansatz erwarten kann.

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Gegenstand der Analysen ist die Musik Gustav Mahlers, für die der Einbezug räumlicher Effekte als charakteristisches Stilmittel gelten kann.24 Mahler scheint den Komponisten sogar als eine Art musikalisch-räumliche Vermittlungsinstanz zu beschreiben: »Gerade so, von ganz verschiedenen Seiten her, müssen die Themen kommen […]: nur daß sie der Künstler zu einem zusammenstimmenden und –klingenden Ganzen ordnet und vereint.«25 Und György Ligeti, in dessen Orchesterwerken das Arrangement des musikalischen Raums bekanntlich eine zentrale Bedeutung einnimmt, konnte in Mahlers Symphonien zahlreiche Beispiele für die »Verräumlichung der Musik, für die Einsetzung einer imaginären Perspektive mit rein kompositorischen Mitteln«26 aufweisen. Die erste Analyse untersucht das Verhältnis der räumlichen Perspektive zu einem zugrunde gelegten narrativen Text, die zweite einen Perspektivwechsel ohne Textbezug und die dritte unternimmt einen Rekonstruktionsversuch zu Adornos eingangs zitiertem Roman-Kapitel. Im HOCHZEITSSTÜCK, dem letzten Teil aus Mahlers Opus 1, DAS KLAGENDE LIED, bezieht ein besonders aufwändiges Stilmittel die räumliche Dimension in die Dramaturgie ein: das außerhalb des Konzertsaals aufgestellte »Fernorchester«, das die vorausgehende »wilde« Festmusik plötzlich in eine klangliche Distanz rückt.27 Die klangliche Darstellungsperspektive springt nach der zweiten Textstrophe quasi von der Nahaufname in die Totale; insofern ist das Fernorchester nicht nur als »imaginäres Theater« zu bezeichnen,28 sondern gewissermaßen auch als imaginärer Film. Der Hörer wird ruckartig aus dem akustischen Setting, dem »Schloß«, wo laut Text »die Pauken […] und die Zinken erschall’n«, herausgerissen und in eine räumliche Distanz versetzt, welche die zelebrierte »Freude« der ersten zwei Strophen aus der Außenperspektive wahrnimmt. Auf der Ebene des Textes (den Mahler selbst verfasste, u.a. in Anlehnung an Ludwig Bechstein und die Gebrüder Grimm) entspricht diesem musikalisch-räumlichen Perspektivwechsel der Umbruch vom beschreibenden – mithin (noch-)nicht-narrativen – Modus der ersten zwei Strophen, die eher eine Art statische Momentaufnahme vom Fest im »Königssaal« schildern, hin zu einem genuin erzählerischen Modus. Denn die dritte Strophe stellt in einem kurzen Moment der Reflexion – unterstützt durch den Wechsel zur zweiten Person (»Und weißt du’s nicht...«) – den Zusammenhang mit der bisherigen Handlung des KLAGENDEN LIEDS her: Der braune Rittersmann, der die Königin heiratet, hat im ersten Teil, WALDMÄR-

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seinen Konkurrenten beim Brautwerben, den eigenen Bruder, kaltblütig erschlagen. Vom hohen Felsen erglänzt das Schloss, die Pauken erschallen und Zinken erschall’n. Dort sitzt der muthigen Ritter Tross, die Frau’n mit goldenen Ketten. Was will wol der jubelnde fröhliche Schall, was leuchtet und glänzet im Königssaal?! O Freude, heia, Freude! Und weisst du’s nicht, warum die Freud‘? Hei! Dass ich dir’s sagen kann! Die Königin hält Hochzeit heut‘ mit dem braunen Rittersmann! Seht hin, die stolze Königin! Heut' bricht er doch, ihr stolzer Sinn! O Freude, heia, Freude!29

Die distanzierte Perspektive der dritte Strophe ermöglicht nicht nur einen Brückenschlag in die Vergangenheit der erzählten story, sondern auch in ihre Zukunft: Denn die räumliche Außenperspektive ist zugleich die des Spielmanns aus dem gleichnamigen zweiten Teil, der die Knochenflöte vom Tatort mit sich führt und das Schloss zunächst ebenfalls nur von außen, nur aus der Ferne wahrnehmen kann. Gleichwohl wird er die Szenerie bald betreten, an das vergangene Unrecht erinnern und so den unweigerlichen Untergang der Hochzeitsgesellschaft einläuten. Durch die schockartige Rückkehr in den »Lärm« der Hochzeitsszene (T. 122) eilt die räumliche Perspektive dem Spielmann sozusagen voraus. Mitten im bunten Treiben auf dem Schloss findet sich der Hörer mit einem unbehaglichen Wissen um die Vergangenheit und einer düsteren Vorahnung über die Zukunft wieder – »Heut’ bricht er doch, ihr stolzer Sinn!« –, zumal die Ankunft des Spielmanns, dessen Perspektive der Hörer eben eingenommen hatte, ja noch bevorsteht. Zuletzt wird die laut skandierte »Freude« von einem verminderten Septakkord im Fernorchester unterlaufen, einem schalen, verunsichern-

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den Nachklang. Erst das Wissen der Außenperspektive verleiht der anschließenden Pause (T. 140ff.), die laut Partitur »lang und schauerlich« wirken soll, ihren unheimlichen Unterton. Sowohl die Kontraktion weit auseinanderliegender Abschnitte der story-Zeit in einen kurzen Abschnitt der discourse-Zeit, als auch das unterschiedliche Wissen der Figuren sind genuin narrative Merkmale der Textvorlage. Auf musikalischer Seite korrespondiert eben diesen Merkmalen das Changieren der räumlichen Perspektive. Das Klanggeschehen, die geradezu aufdringliche Festmusik, wird zum Gegenstand eines Vermittlungsprozesses; sie ist nicht nur aus der unmittelbaren Nähe zu erleben, sondern auch aus einer gleichsam kritischen Distanz. Ähnliche Effekte können auch in den rein instrumentalen Sätzen von Mahlers Symphonien untersucht werden. Der perspektivische Ansatz ist allerdings nur in denjenigen Fällen ergiebig, in denen unterschiedliche Distanzen im Spiel sind. Denn nur dann kann man sinnvollerweise davon sprechen, dass ein klangliches Geschehen einer (erzählerischen) Vermittlung unterworfen ist. Das Posthornsolo aus der DRITTEN SYMPHONIE, das die räumliche Distanz nie wirklich überwindet, käme hier beispielsweise eher weniger in Betracht. Ein anderer Fall liegt in der Durchführung aus dem Kopfsatz von Mahlers NEUNTER SYMPHONIE vor. Der Einsatz gedämpfter Blechbläser und gestopfter Hörner erzeugt hier die klangliche Suggestion, die Musik bewege sich in die »Hörweite« des Publikums herein oder aus ihr hinaus.30 Nach dem unsicher vorwärtstastenden Beginn der Durchführung kehrt das Material des ersten Themenkomplexes vier Takte vor Ziffer 8 als ruhiges, »ausdrucksvoll« und »zart gesungenes« (T. 148ff.) Idyll in der Grundtonart D-Dur wieder. Auch die Drehfigur aus dem dritten Themenkomplex und der Tonartwechsel ab T. 160 können zunächst in den espressivo-Tonfall integriert werden. Das nach einiger Zeit leise hereintönende Trompetensignal in T. 168 dagegen kündigt einen radikalen Wechsel der Szenerie an, der sich allerdings viel eher als Überblendung, denn als Überleitung beschreiben lässt: Für sechs Takte erklingen die Musik der Idyll-Szene (Streicher, Holzbläser) und die Fanfarenmusik der Blechbläser gleichzeitig, sozusagen im selben Klangraum.

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Abb. 1: Gustav Mahler, 9. Symphonie, 1. Satz, Durchführung, T. 154ff.

Der espressivo-Abschnitt kommt nicht etwa zu einem »Schluss«. Vielmehr wird er von einer anderen, aus der räumlichen Distanz herannahenden Musik zunehmend überlagert und verdrängt. Die Idylle ist nicht zu Ende, sondern sie dauert anscheinend jenseits des fokussierten Hörbereichs immer noch an, auch wenn der Rezipient dieses klangliche Geschehen spätestens beim anschließenden, »Mit Wut« überschriebenen Abschnitt (T. 174ff.) nicht mehr hören kann. Anders ausgedrückt: Der musikalisch-räumliche Perspektivwechsel zielt nicht darauf ab, dass das Ende einer Idylle gehört wird, sondern gerade im Gegenteil darauf, dass eine in Wahrheit fortdauernde Idylle nicht mehr gehört werden kann. Folglich scheint der espressivo-Abschnitt unabhängig und unberührt von den überdimensionierten Steigerungen und katastrophalen Zusammenbrüchen des symphonischen Prozesses zu existieren – und eben dies macht seinen »zeitlosen«, mithin

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eben »idyllischen« Charakter aus. Die Tatsache, dass zwei unterschiedliche Klangschichten im Raum gegeneinander verschoben werden, deutet auf eine Art Vermittlungsinstanz hin, die unabhängig vom Klanggeschehen der Idylle und der martialischen Fanfarenmusik gleichsam im Hintergrund Regie führt. Man könnte diese Beobachtung auch in die Worte Arnold Schönbergs kleiden: »Seine ›Neunte‹ ist höchst merkwürdig. In ihr spricht der Autor kaum mehr als Subjekt. Fast sieht es so aus, als ob es für dieses noch einen verborgenen Autor gebe, der Mahler bloß als Sprachrohr benützt hat. Dieses Werk ist nicht mehr im Ich-Ton gehalten.«31

Wenn man den Klangverlauf nämlich – etwa im Sinn der tradierten Auffassung von Musik als »Sprache der Gefühle« – als »Sprechen eines Subjekts« versteht, dann deutet der Perspektivwechsel einen »verborgenen Autor« an, eine Erzählinstanz, die die vorgeführten Klangverläufe (story) in verschiedene räumliche Erlebnisperspektiven ordnet (discourse). Bei der Suche nach weiteren Beispielen erweist sich Adornos Analyse des Kopfsatzes der DRITTEN SYMPHONIE, die sein Roman-Kapitel beschließt, als besonders aufschlussreich. Im Unterschied zu den ersten zwei Teilen des Kapitels, die eher allgemein gehaltene Parallelen zwischen der Gattung Roman und Mahlers Musik verfolgen, vertritt der dritte Teil explizit die eingangs zitierte These einer Differenz zwischen »Vortrag« und »Vorgetragenem«.32 Die analytischen Befunde scheinen zunächst nur einen »inwendigen, ungebundenen Formverlauf«33 nachzuweisen, den Adorno zwar in Kontrast zur tradierten symphonischen Architektonik setzen kann, dessen Analogie zum balladenhaften »Formgesetz des Erzählten« aber noch nicht spezifisch auf die story-discourse-Unterscheidung zutrifft, die für das Narrative essenziell ist. Genau diesem Problem könnte der perspektivische Ansatz jedoch abhelfen. Denn die formalen Gelenkstellen, die Adorno zitiert, operieren vor allem mit der (virtuellen) Veränderung räumlicher Distanzen. Dies verraten bereits seine Formulierungen: Die Bezeichnung des Schlagwerkparts fünf Takte vor Ziffer 13 als »leere Hörkulisse jenseits der musikalischen Bewegung«34 erinnert zu Recht an die Unterscheidung zwischen dem Klangverlauf (»musikalische Bewegung«) und dessen räumlicher Inszenierung (»jenseits«). Der vorausgehende Teil mit seinem wiegenliedartigen Thema erstirbt in den tiefen Bässen, als das Schlagwerk

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übernimmt. Aus der (scheinbar) zunehmenden Entfernung bleiben hier also nur die tiefen Frequenzen und zuletzt nur noch Geräusche übrig. Der bei Ziffer 26 einsetzende Allegro-Teil andererseits, der die Rolle der Exposition einnimmt, klingt für Adorno so, »als ob das musikalische Subjekt mit einer Kapelle mitzöge, die allerhand Märsche nacheinander spielt. Impuls der Form ist die Vorstellung einer räumlich bewegten Musikquelle.«35 Und in der Reprise bemerkt er, dass der Marsch bei Ziffer 62 »nicht einfach eintritt, sondern, als wäre er latent immer weitergespielt worden, allmählich wieder hörbar wird.«36 In dieser Lesart existiert der Marsch also unabhängig vom fokussierten Hörbereich. Zu Ziffer 54 schließlich notiert Adorno: »Die Durchführung wird weggefegt, als wäre das kompositorische Subjekt des Eingriffs in seine Musik überdrüssig [...].«37 Mahlers Partitur lässt die kleinen Trommeln, die die Fanfare der folgenden Reprise ankündigen, »in der Entfernung« aufstellen und »[i]m alten Marschtempo, ohne Rücksicht auf Celli und Bässe«, die gleichzeitig noch die motivischen Nachklänge des letzten Durchführungsteils spielen, einsetzen. Trommeln und Bässe sind an dieser Stelle offensichtlich unterschiedliche Klanggeschehen, die im selben Raum interferieren; insofern wird die Durchführung in einem ähnlichen Sinn ausgeblendet (bzw. »weggefegt«) wie die Idylle im Kopfsatz der Neunten, wenn auch freilich in einem weniger drastischen Gestus. Von den Gelenkstellen her betrachtet, so wäre Adornos Analyse also zu präzisieren, entsteht die symphonische Form des Kopfsatzes aus der räumlichen Überblendung verschiedener Ebenen des Klanggeschehens (Fanfare, Marsch, Wiegenlied), nicht aus der motivisch-thematischen Entwicklung der Ebenen selbst. Zuletzt bliebe noch die Aufgabe, einige der hier eingeführten musikanalytischen Begriffe zumindest provisorisch zu erläutern. Der »fokussierte Hörbereich« ist der tatsächlich hörbare musikalische Raum. Ein aussagekräftiges Analysekriterium wird er dann, wenn weitere fiktive Klangräume neben dem aktualen Raum zu existieren scheinen. Sobald sich ein »Klanggeschehen« in diesen Raum herein, bzw. aus ihm hinaus bewegt, findet ein »Perspektivwechsel« statt, der einen narrativen Effekt (oder zumindest einen Grenzfall davon) erzeugt, da die Bewegung in den Hörbereich hinein suggeriert, das Klanggeschehen existiere unabhängig von seiner räumlichen Vermittlung. Anscheinend hat es vorher in einem (virtuellen) anderen Raum existiert, den der Hörer aber nicht wahrnehmen kann.38 Insofern weist der fokussierte Hörbereich Ähnlichkeiten zum »point of view« im

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Film bzw. zur »Perspektive« in der literarischen Erzählung auf. Eine genauere phänomenologische Untersuchung der Kategorie »fokussierter Hörbereich« verspricht daher nicht nur ein präziseres analytisches Beschreibungsvokabular für solche Musik, die in der Nachfolge Mahlers (aber auch vorher schon) mit räumlichen Perspektivwechseln operiert, sondern könnte zudem einen wesentlichen Beitrag zu einer intermedial ausgerichteten Erforschung von »Perspektivität« und »Narrativität« leisten.39

A NMERKUNGEN 1 Adorno, Theodor W.: Mahler. Eine musikalische Physiognomik, in: Die musikalischen Monographien (= Gesammelte Schriften Bd. 13), hrsg. von Gretel Adorno/Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1971, S. 225. 2 Vgl. z.B. Martinez, Matias/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 52003. 3 Anschauliche Beispiele hierfür liefern R. Queneaus Stilübungen, vgl. Martinez/Scheffel (wie Anm. 2), S. 27ff. 4 Zitiert nach Martinez/Scheffel (wie Anm. 2), S. 30f. 5 Ausgangspunkt der Debatte ist Anthony Newcombs Artikel »Schumann and Late Eighteenth-Century Narrative Strategies«, in: 19th-Century Music 11/2 (1987), S. 164-174. Zu Carolyn Abbates vielzitierte Kritik, Musik besitze kein »past tense«, kein episches Präteritum, problematisiert die Unterscheidung zwischen Erzählzeit (discourse) und erzählter Zeit (story), vgl. Abbate, Carolyn: Unsung Voices: Opera and Musical Narrative in Nineteenth Century, Princeton/NJ 1991, S. 54. Überblicksdarstellungen zur musikalischen Narrationsforschung geben z.B. Klassen, Janina: »Was die Musik erzählt«, in: Die erzählerische Dimension. Eine Gemeinsamkeit der Künste, hrsg. von Eberhard Lämmert, Berlin 1999, S. 89-107; Rösch, Nicole: »Theorien und kein Ende? Grenzen, Möglichkeiten und Perspektiven musikalischer Narratologie«, in: Musiktheorie 27/1 (2012), S. 5-18. 6 Vgl. hierzu z.B. Eggers, Katrin: »Narration, que me veux-tu? Über Untiefen und Chancen einer Theorie des musikalischen Erzählens«, in: Musiktheorie 27/1 (2012), S. 69-79.

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7 Vgl. Micznik, Vera: »Music and Narrative Revisited: Degrees of Narrativity in Beethoven and Mahler«, in: Journal of the Royal Musical Association 126/2 (2001), S. 193-249. 8 Ebd., S. 218f. 9 Dieser Ansatz unterscheidet sich insofern von Newcombs plot-Analyse, als Newcomb die Existenz einer konventionalisierten Ereignisabfolge (plot) bereits als »narratives« Moment der musikalischen Form versteht, von der dann weitere Stilmittel abweichen können, wie etwa die JeanPaulsche »Digression« in Schumanns Instrumentalmusik vgl. Newcomb (wie Anm. 5). Dagegen geht der formale Ansatz davon aus, dass die konventionelle Ereignisfolge lediglich eine story-Ebene zur Verfügung stellt, während die Umorganisation der Form die Narrativität des Werks überhaupt erst erzeugt. 10 Vgl. Sichardt, Martina: »Narrativität in der Musik? Überlegungen anhand von Beethovens Violoncello-Sonate op. 102 Nr. 2«, in: Die Musikforschung 58/4 (2005), S. 361-375. Vgl. auch dies., Entwurf einer narratologischen Beethoven-Analytik, Bonn 2012. Der Begriff »Rückwendung« aus der Erzähltheorie Eberhard Lämmerts entspricht im Wesentlichen der »Analepse« in der Terminologie Gérard Genettes, vgl. ders., Die Erzählung, München 21998. Da eine musikalische Passage nur dann dezidiert als »Rückgriff« dargestellt werden kann, wenn diese im vorherigen Formverlauf bereits tatsächlich aufgetreten ist, muss Sichardt die Divergenz von Erzählzeit und erzählter Zeit auf den Sonderfall der »repetitiven Analepse« begrenzen. 11 Oechsle, Siegfried: »Forminterne Eigenzeiten und narrative Strukturen. Zum Werkkonzept der d-Moll-Symphonie op. 120 von Robert Schumann«, in: Robert Schumann und die große Form, hrsg. von Bernd Sponheuer/Wolfram Steinbeck, Frankfurt am Main 2009, S. 29-51, hier S. 46f. 12 Dies legt z.B. Sichardts Formulierung nahe, durch die Rückwendung werde »an alle vorangegangenen Sätze erinnert und so das Ganze in den Blick genommen.« Sichardt (2012, wie Anm. 10), S. 74. 13 Weitere Ansatzpunkte der musikalischen Narratologie, die weniger unmittelbar auf die story-discourse-Unterscheidung abzielen, sind z.B. die Präsenz einer Erzählstimme (vgl. Abbate [wie Anm. 5]), deren Kombination mit musikalischen plots im Sinne Newcombs (vgl. Seaton, Douglass: »Narrative in Music: The Case of Beethoven’s ›Tempest‹

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Sonata«, in: Narratology Beyond Literary Criticism, hrsg. von Jan Christoph Meister, Berlin 2005, S. 65-81) oder die Frage nach der (historisch variablen) narrativen Rezeptionskultur bestimmter Musik (vgl. Eggers [wie Anm. 6]). Nünning, Ansgar/Nünning, Vera: »Produktive Grenzüberschreitungen: Transgenerische, intermediale und interdisziplinäre Ansätze in der Erzähltheorie«, in: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär, hrsg. von dens., Trier 2002, S. 1-22, hier S. 18. Wolf, Werner: »Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie«, in: Nünning/Nünning (wie Anm. 14), S. 23-104. Das Kernproblem erblickt Wolf also im semantischen Ansatz. Zu seinen Einwänden gegen den formalen Ansatz (vgl. Wolf [wie Anm. 15], S.78f.) hat Martina Sichardt bereits eine Replik vorgelegt, vgl. Sichardt (2012, wie Anm. 10), S. 201ff. Auf einen ähnlichen Befund laufen Marie-Laure Ryans Überlegungen zur intermedialen Narratologie hinaus, vgl. Ryan, Marie-Laure: »On the Theoretical Foundations of Transmedial Narratology«, in: Meister (wie Anm. 13), S. 1-23. Die Räumlichkeit der Musik ist sehr viel seltener als ihre Zeitlichkeit Gegenstand grundlegender Reflexionen geworden. Eine Einführung in dieses Thema bietet z.B. Kunze, Stefan: »Raumvorstellungen in der Musik. Zur Geschichte des Kompositionsbegriffs«, in: Archiv für Musikwissenschaft 31/1 (1974), S. 1-21. Vgl. Lohmeier, Anke-Marie: »Filmbedeutung«, in: Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte, hrsg. von Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matías Martínez/Simone Winko, Berlin 2003, S. 512-526. Falls der kausale Zusammenhang der story-Ereignisse nicht nur aus literaturwissenschaftlicher, sondern auch aus intermedialer Perspektive als Kriterium des Narrativen gelten sollte, beträfe dieses Problem allerdings ebenso den semantischen und den formalen Ansatz. Hierin besteht die Kritik Michael Scheffels an Lohmeiers Filmnarratologie (vgl. Lohmeier [wie Anm. 19]) in Scheffel, Michael: »Was heißt (Film-)Erzählen? Exemplarische Überlegungen mit einem Blick auf Schnitzlers ›Traumnovelle‹ und Stanley Kubricks ›Eyes Wide Shut‹«, in: Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik,

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hrsg. von Susanne Kaul, Bielefeld 2009, S. 15-31. Dietrich Webers Postulat »Erzählen gilt Nichtaktuellem« folgend, will Scheffel die Filme nicht mit Lohmeier als »erzählte Dramen« (Lohmeier, S. 514) begreifen, sondern höchstens als »vermittelte Dramen« (Scheffel, S. 20f.). Da dieses Postulat jedoch seinerseits wieder der Literatur entnommen ist – wie bereits Webers Buchtitel verrät (vgl. Weber, Dietrich: Erzählliteratur, Göttingen 1998), könnte eine intermedial ausgerichtete Narratologie gerade anhand der Grenzfälle »Kamera« und »musikalisch-räumlicher Perspektivwechsel« diskutieren, wie verbindlich dieses Postulat für den Narrationsbegriff überhaupt gelten soll. Insofern das Wissen um die eigene Perspektivität zugleich ein Wissen um die Relativität des eigenen Erlebens impliziert, realisiert der perspektivische Ansatz Lawrence Kramers Einsicht, die Kraft des Narrativen bestehe weniger in einer ordnenden Funktion, sondern vielmehr gerade darin, vorgegebene Ordnungen zu destablilisieren vgl. Kramer, Lawrence: Classical Music and Postmodern Knowledge, Berkeley/CA 1996, S. 98-121. Wolf (wie Anm. 15), S. 32ff. Jost, Peter: »Mahlers Orchesterklang«, in: Mahler-Handbuch, hrsg. von Bernd Sponheuer/Wolfram Steinbeck, Stuttgart/Kassel 2010, S. 114126, insb. S. 121ff. Kilian, Herbert (Hrsg.): Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, Hamburg 1984, S. 165. Hervorhebung im Original. Ligeti, György: »Raumwirkungen in der Musik Gustav Mahlers«, in: Gesammelte Schriften, hrsg. von Monika Lichtenfeld, Bd. 1, Mainz 2007, S. 279-284. Untersucht wird im Folgenden nur die umfangreiche Erstfassung von 1880, die Mahler aufgrund ihres mangelnden Erfolges später gekürzt und vereinfacht hat, um sie für die Aufführungspraxis tauglicher zu machen. Dass Mahler das aufwändige Stilmittel des Fernorchesters in der Erstausgabe von 1899 trotzdem wieder einführte (vgl. Kilian [wie Anm. 25], S. 124), sagt einiges über den Stellenwert dieses Distanzeffektes aus. So Pierre Boulez im Vorwort zur Partitur der Fassung von 1880, zitiert bei Klassen, Janina: »Das Klagende Lied. Gustav Mahlers Opus 1«, in: in: Die erzählerische Dimension. Eine Gemeinsamkeit der Künste, hrsg. von Eberhard Lämmert, Berlin 1999, S. 293-304, hier S. 296.

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29 Mahler, Gustav: Das Klagende Lied. Erstfassung in drei Sätzen (1880), hrsg. von der Internationalen Gustav Mahler Gesellschaft Wien, Mainz 1997, S. XV. 30 Vgl. Ligeti (wie Anm. 26). 31 Schönberg, Arnold: »Mahler«, in: Stil und Gedanke, hrsg. von Ivan Vojtech, Frankfurt am Main 1976, S. 7-24, hier S. 23. 32 Vgl. Adorno (wie Anm. 1). Der erste Teil (S. 209-216) untersucht den »nominalistischen Habitus« von Mahlers Musik, die sich der systematischen Entwicklungslogik Beethovenscher Provenienz ähnlich versperrt wie der zeitgenössische Roman. Der zweite Teil (S. 216-223) beschreibt durch den »Begriff des Epischen« symphonische Formstrategien wie z.B. das »Auskosten« von Zeit durch die schiere Dauer des Satzes, sowie Themen, die ähnlich wie Romanfiguren »spät« eingeführt werden und mit der Zeit gleichsam »altern« können. Die These des dritten Teils (S. 223-229) entwickelt Adorno zunächst aus der distanzierten Haltung des Mahlerschen Orchesterlieds, das als distanzierte, »epische Lyrik« nicht am »subjektiven Gefühlsausdruck« festhalte. 33 Ebd., S. 226. 34 Ebd., S. 227. 35 Ebd., S. 228. 36 Ebd., S. 227. Mahler notiert nur sechs Takte später in der Partitur: »(Wieder Alles aus weitester Ferne sich nähernd.)« 37 Ebd., S. 227. 38 In Adornos Analyse entspricht das »musikalische Subjekt« dabei offenbar dem Hörer, das »kompositorische Subjekt« dagegen der räumlichordnenden Erzählinstanz. 39 Zur literaturtheoretischen Einordnung vgl. Niederhoff, Burkhard: »Perspective/Point of View«, in: Handbook of Narratology, hrsg. von Peter Hühn/John Pier/Wolf Schmid/Jörg Schönert, Berlin 2009, S. 384-397. Zur intermedialen Theorie der perspektivischen Vermittlungsinstanz vgl. z.B. die Beiträge in Hühn, Peter/Schmid, Wolf/Schönert, Jörg (Hrsg.): Point of View, Perspective, and Focalization. Modeling Mediation in Narrative, Berlin 2009.

Narrativität in der Musik Eine Skizze

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Geschichten werden im Medium der Sprache erzählt; Musik ist höchstens in einem übertragenen Sinn narrativ, so wie man auch die Musik nur in einem metaphorischen Sinne eine ›Sprache‹ nennen kann. Doch selbst wenn man nur diesen metaphorischen Sinn von musikalischer Narrativität klären will, benötigt man eine Begriff oder besser noch, ein Modell davon, was in der Alltagssprache und in der Literatur ein Narrativ ist. Mit dieser Aufgabe beschäftigt sich der erste Abschnitt. Im zweiten soll mit Hilfe dieses Narrativmodells sowohl die Klassische als auch die Neue Musik auf ihren narrativen Charakter befragt werden. Kapitel drei diskutiert anhand eines Beispiels ein Paradox, mit dem sich heute das zeitgenössische Musiktheater bzw. die zeitgenössische Oper konfrontiert sehen – eine Art Grundwiderspruch der Narrativität, der sich sowohl beim Verwenden als auch beim Nichtverwenden von narrativen Elementen zeigt.

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Erzählen gehört zur Grundausstattung der Alltagskommunikation. Man erzählt jemandem, dass man einen Bekannten getroffen hat; man erzählt sich, wie es im Urlaub war. Auch die Frage: ›Wie geht es Dir?‹ beantworte man, wenn schon, mit einer kleinen Erzählung. Die Voraussetzung dafür, dass wir uns im Alltag etwas zu erzählen haben und uns nicht nur unterhalten ist ein gemeinsam geteilter Sinnhorizont zwischen Erzähler und Zuhö-

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rer. Nur so kann durch eine Mitteilung im Zuhörer eine Spannung aufgebaut werden, die durch den Fortgang der Erzählung aufgelöst wird. Ein Modell für eine Alltagsgeschichte wäre entsprechend, dass es erstens zwischen Erzähler und Zuhörer einen geteilten Sinnhorizont gibt. Dass zweitens ein narratives Ereignis in diesen Kontext eintritt und hier eine Unbestimmtheitsstelle generiert, womit die Erzählung ihren Lauf nimmt. Das Ereignis besitzt einen ›narrativen Charakter‹, weil es beunruhigt, weil es Spannung erzeugt, weil es eine Frage aufwirft und man seine Auswirkungen im vorgegebenen Sinnhorizont noch nicht abschätzen kann. Das narrative Ereignis könnte diese oder jene Bedeutung besitzen oder diese oder jene Implikationen haben. Drittens definiert ein narratives Ereignis nicht nur den Anfang einer Erzählung, sondern, in abstrakter Form, auch ihren Verlauf und ihr Ende. Es werden all jene Details und Wendungen aufgezählt, welche potentiell etwas zur Auflösung der hervorgerufenen Sinnambivalenz beitragen könnten. Die Geschichte findet schließlich ihr Ende, wenn alle relevanten Einzelheiten, die den Ausgang der Geschichte beeinflussen könnten, erzählt sind. Zumeist nehmen Erzähler und Zuhörer noch gemeinsam eine interpretative Bewertung des in eine Erzählform gebrachten Geschehens vor. Die Alltagsgeschichten, die man sich in der Familie oder unter Freunden erzählt, haben zumeist keine ›Moral der Geschichte‹, sondern sie werden erzählt, um eine Rückmeldung zu bekommen. Ein gravierender Unterschied zwischen dem alltäglichen und dem literarischen Geschichtenerzählen besteht darin, dass der gemeinsam geteilte Sinnhorizont nicht durch einen geteilten Alltag geschaffen wird, sondern dass die Erzählung diesen Kontext selbst erst schaffen muss, indem sie etwa das soziale Umfeld, die Lebensideale und Wertevorstellungen von Personen beschreibt. Zudem haben sich eine ganze Reihe von literarischen Genres herausgebildet, in denen sich – vor allem in ihren Trivialformen – das eben skizzierten Erzählmodell in Reinform manifestiert. Der Krimi folgt zum Beispiel dem Schema: Es gibt ein Ereignis (einen Mord), einen Gerechtigkeitskontext (die Polizei muss den Mörder suchen), daraufhin setzt die Erzählung ein (man verfolgt die Spuren, die zu einer Reihe von Verdächtigen führen, die aber unschuldig sind), schließlich wird der Fall aufgeklärt und die Erzählung im Krimiformat ist zu Ende. Ebenso funktioniert die Liebesgeschichte: Das Ereignis, das die Erzählung in Gang setzt heißt: zwei Menschen verlieben sich; es gibt einen Kontext, in dem es schwierig erscheint,

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dass die Verliebten wirklich zusammenfinden, die Erzählung handelt von den Hoffnungen, Ängsten und Widerfahrnissen der beiden, bis sich ihre Liebe am Ende erfüllt oder scheitert. Dieses allgemeine Narrativmodell findet sich auch in den anspruchsvollen literarischen Erzählungen wieder, etwa in Anton Tschechows IN DER SOMMERFRISCHE. Ein jungverheiratetes Pärchen verbringt den Sommerurlaub auf dem Land und spaziert abends am Bahnhof vorbei; sie sind so glücklich verliebt, dass selbst der Mond sein einsames Junggesellendasein zu beklagen scheint. Dieser Sinnhorizont wird durch ein unerwartetes narrative Ereignis durchbrochen: ein Zug fährt ein und der Onkel steigt mitsamt seiner Familie aus. Das Urlaubsglück ist dahin; der junge Mann wirft seiner Frau vor, seine Verwandten seien wegen ihr zu Besuch gekommen, die junge Frau wirft dem Mann vor, dass es sein Onkel sei. Und der Mond schien zu lächeln, weil er keine Verwandten hat. Im Unterschied zu den standardisierten Narrativen wie dem Krimi und der Liebesgeschichte, bei denen im Normalfall das Ende der Geschichte – die Lösung des Falls oder das Happy End – dem Genre eingeschrieben ist, ist bei der literarischen Erzählung der Schluss nicht vorherbestimmt. Tschechows Geschichte hätte in dem Moment, in dem sich das Liebespaar wegen des gestörten Urlaubs zu streiten beginnt, auch erst anfangen und den Beginn einer anderen, umfangreicheren Geschichte markieren können, in welcher beschrieben wird, wie es dem Paar zusammen mit den missliebigen Gästen in der Sommerfrische ergeht. In einer literarischen Erzählung kommt das Ende für den Leser sehr oft überraschend und es ist nicht sofort klar, weshalb und warum die Geschichte abbricht und nicht weitergeht. Das faktische Ende der Erzählung wird für die Erzählung selbst konstitutiv; der letzte Punkt im Text behauptet zugleich, dass etwas erzählt worden ist. In anspruchsvoller Literatur ist dieser Sinn des Erzählten nie offensichtlich, vielmehr ist der Leser aufgefordert, ihm lesend nachzusinnen. Anders als in einer Fabel oder in religiöser Erbauungsliteratur, wird die ›Moral der Geschichte‹ in literarischen Erzählungen nicht mitgeliefert. Dass sich in Tschechows Kurzgeschichte der Mond als stiller Beobachter des Liebespaares erst einsam fühlt und sich am Ende über seine Einsamkeit zu freuen scheint, ist eine Rahmenhandlung, die betont, wie brüchig die Liebesbeziehung oder gar die Liebe an sich ist – zumindest wäre dies eine naheliegende Interpretation dieser Erzählung.

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Wenn Anfang und Ende einer Geschichte wie in der Trivialliteratur standardisiert sind, wird automatisch ein Spannungsbogen zwischen diesen beiden Punkten aufgebaut. Die Frage ›wer ist der Täter‹ oder ›wie kommen sie zusammen‹ treibt die Erzählung in jedem Moment voran und garantiert eine je verschiedene Form von Unterhaltung, die durch das detektivische Rätselraten oder durch die romantische Einfühlung aufrechterhalten wird. Die Frage nach dem Sinn der Erzählung fällt weg oder tritt vollkommen in den Hintergrund, die Form der Erzählung erfüllt primär eine unterhaltende und keine reflexive Funktion.

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Musik ohne Bindung an einen Text ist eigentlich nicht zum Erzählen geschaffen. Man kann aber auch in der reinen Instrumentalmusik Werke finden, die zumindest im übertragenen Sinn einen narrativen Charakter besitzen, wobei sich insbesondere in der Klassischen Musik eine Strukturanalogie zur literarischen Erzählung erkennen lässt. Wie jede Erzählung hat auch eine musikalische Komposition einen Anfang, einen Verlauf und ein Ende. Entscheidend ist, dass sich in der Musik ebenfalls Erwartungen aufbauen lassen, die sich enttäuschen oder sich, auf vielen spielerischen Umwegen, erfüllen lassen. Dieses Vermögen besitzt vor allem die tonale Musik, die an einem Grundton ausgereichtet ist und in der es das Spannungsgefälle zwischen konsonanten und dissonanten Akkorden gibt. Man erwartet von Melodien, dass sie zu ihrem tonalen Zentrum zurückkehren und von Akkordfolgen, dass sie sich am Ende in der Tonika harmonisch auflösen. Am stärksten aber zeigt sich das Muster eines Narrativs in der Sonatenhauptsatzform, die sich in Exposition, Durchführung und Reprise gliedert. In der Exposition werden zwei Themen vorgestellt, die sich in ihrem Charakter und in ihrem Ausdruck widersprechen und als Gegensatz empfunden werden. Der Widerspruch wird hörbar gemacht, indem das erste Thema in der Grundtonart, der Tonika, und das zweite Thema in der Dominante bzw. in der Tonikaparallele erklingt. Dieser exponierte ›Widerspruch‹ in der Musik ist vergleichbar mit einem Ereignis, das am Anfang einer Erzählung steht. Dem geteilten Sinnhorizont, welcher in einer Erzählung verletzt wird, entspräche hier das tonale System, dem eine Präferenz für Harmonie – und

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infolgedessen auch für ›Widerspruchsfreiheit‹ – eingeschrieben ist. Das Medium der tonalen Musik impliziert immer schon die Erwartung, dass es zu einem Ausgleich von Gegensätzen kommt – und diese allgemeine Tonalitätserwartung wird von der Sonatenhauptsatzform noch einmal forciert. In der athematischen, ruhigen und unaufgeregten ›Einleitung‹, die in manchen Stücken der Exposition vorausgeht, artikuliert sich das unberührte harmonische Universum der tonalen Musik; es wird dem Hörer in seiner Reinform präsentiert, bevor der Widerstreit der beiden Themen beginnt. Nach der Exposition der gegensätzlichen Themen folgt die ›Durchführung‹, in welcher der Konflikt nach allen Richtungen hin durchgespielt wird. Diese thematische Arbeit in der Komposition ist vergleichbar mit dem eigentlichen Vorgang des Erzählens, bei dem alle nötigen Details, die zu einer Geschichte gehören, zusammengetragen und miteinander verwoben werden. In der Reprise kommt es zur Widerholung der Exposition, wobei das zweite Thema jetzt, so wie das erste, in der Tonika erklingt, was gewöhnlich als eine Auflösung des Konflikts und als eine Versöhnung der Gegensätze erfahren wird. Spätestens seit Beginn des 20. Jahrhunderts lassen sich in allen Zeitkünsten stark ausgeprägte antinarrative Werkformen finden, bei denen weder in einem direkten noch in einem übertragenen Sinne ›Geschichten‹ erzählt werden. James Joyce ULYSSES ist eine Niederschrift von Bewusstseinsströmen, in denen sich Wahrnehmungen, Gedanken, Assoziationen, Handlungen und Gespräche aneinander reihen, vermischen, unterbrechen, überlagern und verfransen. In dieser Art des inneren Monologes erfährt man etwas über den ungefilterten psychischen Zustand des Subjekts, bevor es sich auf eine Erzählsituation einlässt, bevor es seine Aufmerksamkeit auf einen geteilten Sinnhorizont mit einem Zuhörer einschränkt und bevor es aus diesem Bewusstseinstrom jene erzählenswerten Begebenheiten auswählt, welche die Form einer Story annehmen können. In der Klassischen Musik kommt es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zur Preisgabe des tonalen Systems, was zur Ausbildung einer atonalen Neuen Musik führt. Der Verzicht auf Tonalität bedeutet vor allem, dass sich in Bezug auf Melodik und Harmonik keine starken musikalischen Erwartungen mehr aufbauen lassen. Im großen und ganzen ist die Neue Musik aber auch athematisch, was zum einen darauf zurückzuführen ist, dass es außerhalb des tonalen Systems viel schwieriger wird, prägnante wiedererkennbare Motive und Themen auszubilden, zum anderen ist für einen Großteil der

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Neuen Musik ein ›Wiederholungsverbot‹ bindend, durch das jegliche motivisch thematische Arbeit von vornherein ausgeschlossen wird. Wenn hier von ›Neuer Musik‹ die Rede ist, dann ist damit immer ihr harter Kern gemeint, also jener Traditionsstrang, der sich von Schönberg über Stockhausen bis zu Lachenmann zieht. Es gab natürlich immer auch Gegenbewegungen, die man im weitesten Sinne ebenfalls noch zur Neuen Musik rechnen kann und bei denen sich tonale, narrative und thematische Elemente in der Komposition finden lassen. Neue Musik erfordert im Vergleich zur Klassischen Musik genauso ein ›anderes Hören‹, wie die moderne Literatur ein ›anderes Lesen‹ erfordert, wenn sie einen Bewusstseinsstrom artikuliert. Sie ist auch in dem Sinne ›neu‹, dass sich vom aktuellen Hörerlebnis nicht wie in der Klassischen Musik auf das nächstfolgende Hörerlebnis hypothetisch schließen lässt. Die Aufmerksamkeit des Hörers wird auf die Wahrnehmung des je einzelnen Moments fokussiert, ohne dass Übergangserwartungen zwischen den einzelnen musikalischen Elementen generiert werden. Das Hören ist auf den Moment konzentrierte ästhetische Wahrnehmung, die den musikalischen Verlauf nicht zu antizipieren versucht. Die musikalische Zeit wird formal und abstrakt, mit Hilfe von unterschiedlichen Musikkonzepten organisiert, welche einen Ismus wie die Zwölftonmusik, den Serialismus oder den Komplexismus definieren. Wohingegen die Klassische Musik noch narrative Formen ausbilden oder besser gesagt imitieren konnte, war die atonale und athematische Neue Musik des 20. Jahrhunderts von ihrer ganzen Verfassung her antinarrativ. Die Frage nach dem Erzählcharakter der Kunstmusik stellt sich heute neu, da sich infolge der digitalen Revolution sowohl die Praxis als auch der Begriff der Neuen Musik zu verändern beginnen. Neue Musik folgte wie die Klassischen Musik einer Idee der absoluten Musik, derzufolge der Begriff von Musik losgelöst von Texten, Bildern, Handlungen und allen anderen denkbaren Referenzen der Musik gedacht wurde.1 Musik war insofern per Definition reine Instrumentalmusik, alles andere wurde zum ›außermusikalischen Material‹ gerechnet. Wurde zum Beispiel Text in einer Komposition verwendet, dann wurde er, wie man es paradigmatisch bei Helmut Lachenmann beobachten kann, selbst wieder musikalisiert und in elementares Klangmaterial zerlegt. Damit verliert der Text seine Mitteilungsfunktion und wird selbst ein Moment absoluter Musik. Mit der Verbreitung leistungsfähiger Personalcomputer haben die Komponisten eine

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Universalschnittstelle für Instrumentalklänge, Alltagsgeräusche, Texte, Bilder, Grafiken und Filme gewonnen und beginnen diesen neuen technologischen Freiheitsgrad so zu nutzen, dass sie einen ganz anderen Typus von Kunstmusik komponieren. Im Gegensatz zur absoluten Musik könnte man hier von »relationaler Musik« sprechen.2 Wichtig ist, dass relationale Musik das Merkmal der Alterität besitzt, dass also die Relate, wie Texte, Bilder und Handlungen, auf die sich die Musik bezieht, ihre Andersheit gegenüber der Musik bewahren können. Das heißt konkret, dass Texte ihre Mitteilungsfunktion, Bilder ihren Symbolwert, Grafiken ihren Informationsgehalt und Handlungen auf der Bühne ihren Sinn behalten – und nicht durch die Komposition in musikalisches Material transformiert werden. Unter dieser Voraussetzung gewinnt die atonale Zeitgenössische Kunstmusik von heute viel größere Spielräume, narrativ zu sein. Ein prominentes Beispiel wäre hierfür FREMDARBEIT (2009) von Johannes Kreidler, der das Honorar für diesen Kompositionsauftrag von 1500 Euro dafür verwendet hat, um sich von einem chinesischen Komponisten und einem indischen Programmierer das Werk in seinem Personalstil komponieren zu lassen – für weniger als 100 Euro. In der Aufführung tritt Kreidler als Moderator auf und erzählt die Entstehungsgeschichte des Stücks: Das Ereignis, dass die Geschichte in Gang setzt, ist die Idee, das eigene Stück in Billiglohnländern produzieren zu lassen; und die Frage, welche die Geschichte vorantreibt, ist natürlich, zu welchen künstlerischen Resultaten das führt. Die Aufführung mit Ensemble und Moderator nimmt ihren Lauf, indem Kreidler einerseits den Email-Wechsel mit seinen ausländischen Subunternehmern schildert, in welchem er die Anforderungen an das Stück und die Verbesserungswünsche in Bezug auf die entstandenen Versionen formuliert, und zum anderen, indem er die entsprechenden Arbeitsversionen des Stücks der Reihe nach vom Ensemble vorspielen lässt und sie live kommentiert. Die Aufführung ist zu Ende, wenn die Entstehungsgeschichte des Stücks erzählt und die Endversion von FREMDARBEIT erklungen ist. Es gibt in der Neuen Musik inzwischen eine Vielzahl von Stücken, die der Logik einer relationalen Musik folgen und teilweise auch über Erzählschemata strukturiert sind. Noch deutlicher wird ein veränderter Umgang mit Narrativen sich vermutlich im Musiktheater zeigen.

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MAN FINDET , WAS MAN NICHT SUCHT

Vor etwa zwei Jahren habe ich für die Kurzoper von Leah Muir WIE MAN das Libretto geschrieben.3 Wenn ich mir jetzt die Konzeption des Stücks im Rückblick anschaue, dann erscheint sie mir wie eine Versuchsanordnung, die mit den narrativen Möglichkeiten des zeitgenössischen Musiktheaters experimentiert. Man kann anhand des Stückes gut zeigen, dass und wie sich wieder narrative Formen einsetzen lassen – was nicht selbstverständlich ist, da man in diesem Genre, wie in der Neuen Musik auch, fast immer offene, nichtnarrative Formen präferiert hat. Und man kann auch die Grenzen der Erzählform diskutieren, die es sowohl in der Kunstmusik als auch im Musiktheater zweifellos gibt. WIE MAN FINDET, WAS MAN NICHT SUCHT ist ein Stück über den glücklichen Zufall oder im weitesten Sinne über die Serendipität des Lebens. Das Stück besteht aus einer Abfolge von Kurzgeschichte und Aphorismen, die – vom Text her – allein durch dieses extrem allgemeine Thema miteinander verbunden sind. Der Text wird von einem Schauspieler gesprochen und dann zum Teil von den Sängern aufgegriffen, zum Teil ignoriert, zum Teil variiert und wiederholt, so dass man zusehen kann, wie der Gesangstext (das eigentliche Libretto) auf offener Bühne aus der Textvorlage entsteht. Am deutlichsten kommt das Leitmotiv des Stücks im folgenden Aphorismus zum Ausdruck: FINDET, WAS MAN NICHT SUCHT

Alles Glück, an das ich mich erinnere, kam mit einem Zufall. Seitdem suche ich den Zufall, hatte damit aber noch kein Glück.

Zum Libretto gehört auch ein Video, auf dem Kinderhände zu sehen sind, die Mikado spielen. Das Stück beginnt mit einem Mikadowurf und endet, wenn das letzte Stäbchen vom Tisch genommen wurde. Während der Aufführungen werden von Zeit zu Zeit Filmsequenzen eingeblendet, in denen einzelne Stäbchen herausgezogen, hochgeworfen und weggerollt werden, so dass während der Aufführung die Zahl der auf dem Tisch verbliebenen

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Holzstäbchen stetig abnimmt. Im Bühnenbild von Hanne Loosen und in der Inszenierung von Michael Höppner wurden die Sequenzen auf einen Würfel projiziert, welcher wie eine große abstrakte Uhr über der Handlung schwebt (vgl. Abb. 1). Damit ist der zeitliche Verlauf der Oper strukturiert, sie folgt der formalen Logik eines Spiels mit Anfang, Verlauf und Ende, ohne dass es sich hier um ein Erzählschema handelt. Die Spielregeln determinieren vollständig den Ablauf des Geschehens; ganz gleich wie das Spiel gespielt wird, es käme immer wieder zu demselben vorhersehbaren Ende. Die eigentlich spannende Frage beim Mikado, wer wackelt und wer gewinnt, ist neutralisiert, da hier ein Kind mit sich selbst spielt. Entsprechend erzählt das Mikadospiels nichts, sondern erfüllt viel mehr die Funktion, das Fehlen einer Rahmenerzählung zu kompensieren.

Abb. 1: WIE MAN FINDET, WAS MAN NICHT SUCHT Foto: Martin Christopher Welke, 2013.

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WIE MAN FINDET, WAS MAN NICHT SUCHT ist keine Erzählung über den glücklichen Zufall, sondern eine Konstellation von unverbundenen Kurzgeschichten und Aphorismen, in denen der glückliche Zufall die Hauptrolle spielt. Damit lässt das Libretto der Komponistin viele Freiräume, was aber ohne das Mikado-Konzept zu einem starken Spannungsverlust im Stück führen würde. Der Zuschauer nähme nur eine lose Abfolge von Storys wahr, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt abbrechen oder auch unendlich weiter gehen könnten. Erst die Zeitmaschine des Mikadospiels bringt jene Stringenz in das Stück, welche den Zuschauer darauf einstellt und einstimmt, die unverbundenen Geschichten auf ein absehbares Ende hin zu verstehen; zugleich verbinden die immer wiederkehrenden Filmsequenzen die autonomen Storys und Sentenzen. Schließlich gibt es auch noch eine inhaltliche Klammer zwischen der ersten und der letzten Geschichte: In der Eingangsgeschichte berichtet der Erzähler, wie ihm seine Großmutter das Mikadospielen als Kind beigebracht hat; die Schlussgeschichte erzählt davon, wie die Großmutter stirbt: »Meine Großmutter sprach langsam und leise, aber für jeden verständlich: ›da kommt ja mein Schierlingsbecher‹, als der Arzt ihr ein Glas auf den Nachttisch stellte. Durch die offenen Fenster ihres Hauses hörte man das Martinshorn eines Rettungswagens. ›Jetzt muss ich mich aber beeilen‹, sagte sie dann, ›ansonsten retten sie mich noch, bevor ich gestorben bin‹.«

Was anhand der kurzen Skizze des Stückes deutlich werden sollte, ist die gewollte Ambivalenz, mit der hier auf narrative Formen zurückgegriffen wird. Das Stück ist aus elementaren Geschichten zusammengesetzt, die sich aber selbst zu keiner übergreifenden Geschichte zusammenfügen. Für diese Vorsicht gibt es Gründe. Als sich antinarrative Formen sowohl in der Neuen Musik als auch in der Prosa vor gut einem Jahrhundert durchzusetzen begannen, gab es hierfür zwei plausible Gründe. Der kunstimmanente Grund war, dass die Künste, seitdem sie in den Modus der Moderne hinübergewechselt waren und sich explizit am Wert des Neuen zu orientieren begannen, in eine Überbietungslogik hineingerieten, wo Neuheit als Negation von Tradition verstanden wurde. Dass die Künste in diesem Sinne ›radikal modern‹ wurden, ist letztendlich nur das Sinnbild dafür, dass die Gesellschaft selbst modern geworden ist. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts waren in der westlichen Welt überall die sozialen Folgen der ersten indust-

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riellen Revolution evident und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichneten sich auch die großen sozialen Umbrüche einer sich anbahnenden zweiten industriellen Revolution ab. In diesem gesellschaftlichen Umfeld kommt es zur Ausbildung der sogenannten Klassischen Moderne in den Künsten und zu einer radikalen Infragestellung ihrer tradierten narrativen Formen. Der externe Grund, weshalb narrative Formate vor einem reichlichen Jahrhundert suspekt wurden, ist dementsprechend in der dynamischen und komplexen Verfassung der industrialisierten Welt zu sehen. Vielen Künstlern, Komponisten und Schriftstellern schien es unmöglich oder falsch, ihre Erfahrungen weiterhin in die Form eines Erzählschemas zu pressen. In dieser Interferenz von kunstimmanenten und kunstexternen Motiven, legitimierte sich ein weitverbreitetes Narrationstabu. Würde es sich hier um einen linearen Zusammenhang handeln, dann müsste das Unbehagen an den narrativen Formen eigentlich immer mehr um sich greifen, denn auch die Komplexität und Unübersichtlichkeit der Welt nimmt permanent zu. Wenn es heute dennoch ein verstärktes Interesse für das Narrative in den Künsten gibt, dann spielen hier mehrere Motive zusammen. Zum einen ist der immanente Grund, alle Erzählformen zu negieren, längst hinfällig geworden, insofern antinarrative Werke heute genauso wenig ›neu‹ sind wie narrative. Zum anderen bleibt das Erzählen selbst eine ganz basale Kommunikationsform, auf die auch im 21. Jahrhundert niemand verzichtet. Schließlich beginnt sich auch unsere Einstellung zur Lebensweltkomplexität zu verändern. Die kulturellen Anstrengungen richten sich heute mehr und mehr darauf, Komplexität zu bewältigen als den Nachweis zu erbringen, dass sich die Welt als Ganzes nicht abbilden oder repräsentieren lässt. Diese ›Geschichte‹ wurde in den letzten drei, vier postmodernen Dekaden oft genug erzählt. So hat sich das ›Unbehagen am Erzählen‹ in den Hochkulturkünsten längst zur Ideologie verfestigt, in einer weitverbreiteten Präferenz für dekonstruktive – und dementsprechend auch antinarrative – Kompositionsund Darstellungsformen. Selbstverständlich lassen sich heute auch Narrative zur Konstruktion von Sinn und Bedeutung nutzen; zu vermeiden wäre allerdings, dass eine Erzählung eine ontologische Gestalt annimmt, dass sie wie ein Mythos die Welt beschreibt, wie sie ist. Deshalb gibt es in WIE MAN FINDET, WAS MAN NICHT SUCHT auch kein Metanarrativ über den glücklichen Zufall.

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A NMERKUNGEN 1 In der Neuen Musik hat die Idee der absoluten Musik eine besondere ›negative‹ Form angenommen, sie transformiert sich in eine »invertierten Idee der absoluten Musik«, vgl. das Kapitel »Absolute Musik« in Harry Lehmann: Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie, Mainz 2012, S. 94ff. 2 Vgl. das Kapitel »Relationale Musik« in ebd., S. 115ff. 3 Musiktheater: WIE MAN FINDET, WAS MAN NICHT SUCHT, Premiere an den Neuen Szenen der Deutschen Oper Berlin am 8. April 2013. Komposition: Leah Muir, Text: Harry Lehmann, Regie: Michael Höppner: http://youtu.be/GUQGMNueWCc (Abruf am 4. Mai 2015).

Kopfhören und Narration Ein Versuch über die narrativen Aspekte in der Erfahrung des ungeteilten mobilen Musikhörens

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E INLEITUNG Eine Person, sagen wir eine junge Frau, steht an einer Haltestelle in einer größeren Stadt wie beispielsweise Köln und wartet auf die Straßenbahn, mit der sie zur Arbeit oder auch zum Sport fährt. Als entscheidendes Merkmal trägt diese Person Kopfhörer, die mit ihrem Smartphone verbunden sind. Mittels dieser portablen medientechnischen Koppelung hört sie nun ungeteilt Musik. Um das Beispiel weiter zu konkretisieren, können wir sagen, dass sie eine Playlist mit melancholischem Indie-Rock-Pop hört, etwa von Radiohead, The National oder Elbow. Die erwartete Straßenbahn erreicht währenddessen die Haltestelle, die Kopfhörerin – so will ich die Figur in diesem und den folgenden Beispielen nennen – schaut kurz auf die Anzeigetafel, es ist die richtige Linie, die Stimme des Sängers schnarrt sich durch ihr Ohr in ihren Kopf und durch diesen in die Umgebung; die Kopfhörerin wartet darauf, dass die automatischen Türen aufgleiten, sie besteigt die Straßenbahn, sie sucht nach einem Platz, Schlagzeug, Bass, Gitarre und Klavier begleiten ihren Blick, die Bahn fährt an, der Refrain des Songs erklingt, die Kopfhörerin denkt an die Arbeit, setzt sich und schaut aus dem Fenster. Das alles sind Elemente einer typischen Kopfhör-Situation, also einer Situation, in der jemand im Alltag unterwegs über Kopfhörer Musik hört. Es könnte sich auch um andere Musik als die genannte, um einen anderen Ort als diese Stadt und die Straßenbahn handeln, die Kopfhörerin

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müsste weder eine Frau, noch jung sein und überhaupt kann sich die Situation in ihren konkreten Erscheinungen und Momenten auch ganz anders darstellen als hier beschrieben. Worauf es ankommt, sind die Strukturmerkmale oder die Form der Erfahrung des mobilen Musikhörens. Wenn man sich dafür irgendeine Situation des Kopfhörens (verstanden als mobiles Musikhören mit portablen Abspielgeräten) im Alltag vorstellt, so reicht das erst einmal aus, um sich ein Bild des zugrundeliegenden Phänomens zu machen.1 Das Thema dieses Beitrags ist die Frage, inwiefern die Erfahrung des Kopfhörens narrative Momente enthält und, ob diese in oder durch die Musik bestehen, die hierbei ungeteilt (an-)gehört wird.2 Doch um danach fragen zu können, inwiefern sich davon sprechen lässt, dass die Erfahrung des Kopfhörens narrative Züge aufweist oder in einem bestimmten Sinn vielleicht sogar insgesamt die Form einer Erzählung annehmen kann, muss man zunächst verstehen, was es überhaupt bedeutet, dass es sich beim Kopfhören um eine Erfahrung – zumal um eine ästhetische – handelt oder zumindest um eine solche handeln kann. Dementsprechend werde ich im ersten Teil des Beitrags vorab klären, inwiefern die Praxis des Kopfhörens eine spezifische Form der ästhetischen Erfahrung bedeutet. Im zweiten Teil, dem ›Hauptteil‹ des Beitrags, werde ich mich dann der Frage widmen, welche narrativen Momente in einer solchen Erfahrung im Spiel sind oder sein können, wozu zunächst gefragt werden muss, was in diesem Zusammenhang überhaupt als ein narratives Moment gelten kann.

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ALS ÄSTHETISCHE

E RFAHRUNG

Die Praxis des mobilen Musikhörens mittels portabler Abspielgeräte und Kopfhörer ist eine bestens bekannte Sache aus dem alltäglichen Leben (auch wenn sie derart technisch ausdrückt erst einmal kompliziert klingt). Dass es sich um ein bekanntes Phänomen handelt, also um eines, mit dem man auf die eine oder andere Weise Erfahrungen gemacht hat, heißt allerdings nicht, dass es sich auch um ein erkanntes Phänomen handeln würde. Um es mit theoretischen Mitteln erkennen zu können, muss man sich jedoch wiederum auf die Erfahrung des Kopfhörens beziehen, allerdings nicht auf irgendwelche einzelnen, persönlichen Erfahrungen mit dem Kopfhören, sondern auf die spezifische Form der Erfahrung des Kopfhö-

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rens. Die Bedingungen dieser Erfahrungsform sind im Wesentlichen bestimmt durch die Entkoppelung des auditiven Sinneskreises aus dem synästhetischen Gesamtverbund der sinnlichen Wahrnehmung sowie durch die Induktion von Musik in eben diesen Sinneskreis, der damit sogleich wieder in den Gesamtzusammenhang der Wahrnehmung eingeführt wird und diese im Ganzen verändert. Das Ergebnis dieses Vorgangs (der im Vollzug natürlich nicht als ein sukzessiver, sondern ›auf einmal‹ erlebt wird) ist die auditiv individuierte, musikalisch angereicherte synthetische Synästhesie3, die die Wahrnehmung der Kopfhörerin in diesem Sinn zu einer individuellen macht: Sie ist nicht nur wie jede Wahrnehmung die Wahrnehmung eines Individuums und darin subjektiv, sondern auch im Wortsinn von ›individuus‹ eine objektiv ungeteilte Wahrnehmung, insofern der ansonsten überindividuelle Charakter des Hörens im kopfhörend modifizierten Wahrnehmungsvorgang unterlaufen wird.4 Doch auf der Ebene des Wahrnehmungsvorgangs im Allgemeinen treten zwar die Bedingungen der kopfhörenden Erfahrung hervor, doch diese sind noch nicht hinreichend, um zu bestimmen, was es bedeutet, kopfhörend eine Erfahrung im engeren Sinn einer Erfahrung zu machen. Die philosophische Erfahrungstheorie, die hierfür das nötige Instrumentarium bietet, ist die von John Dewey (der selbst natürlich noch nichts vom Kopfhören wusste). Dieser Theorie folgend verstehe ich unter einer Erfahrung eine aus dem Strom des Erlebens herausgehobene Einheit mit Ereignischarakter. Bestimmt wird die Erfahrung durch ihre jeweilige ›Qualität‹, das heißt durch die spezifische (klare, aber keineswegs deutliche) Weise, in der sich diese Erfahrung ›abrundet‹ und durch die sie für die Individuen, die diese Erfahrung machen, auch als eine Erfahrung sowie als diese oder jene Erfahrung adressierbar wird (zum Beispiel das Konzert von The National in Berlin, die Wanderung über den Monte Perone, der Tag, an dem Kennedy erschossen wurde usw.). In dieser Art kann man sich nun auch solche Erfahrungs-Episoden vorstellen, in denen Musik über Kopfhörer gehört wird: Das Landschaftserlebnis bei einer Wanderung kann auch kopfhörend genossen werden, vielleicht mit einem hymnisch-orchestralen ›Soundtrack‹, der mit dem potenziell erhabenen Charakter einer solchen Erfahrung korrespondiert. Hier muss man jedoch unterscheiden zwischen solchen Erfahrungen, bei denen das Kopfhören nur einen gleichsam zufälligen Umstand der Situation darstellt und solchen, in denen das Kopfhören selbst erfahrungswirksam ist, das heißt die Erfahrung in der ihr spezifischen Qualität in

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Gang setzt und im Ganzen durchformt. Entscheidend ist, dass nur die zweite Variante eine Form der spezifisch kopfhörenden Erfahrung darstellt. Zwar ist es durchaus denkbar, dass man eine praktische (und gegebenenfalls sogar eine theoretische) Erfahrung macht, während man nebenher Musik über Kopfhörer hört. Denn man kann diese Sinnestechnik auch nutzen, um (andere) akustische Reize zu minimieren und sich ganz auf ›die Sache‹, etwa einen Text oder eine handwerkliche Verrichtung, zu konzentrieren, die den eigentlichen Gegenstand der aktuellen Erfahrung darstellt. Doch diese Erfahrungen würden prinzipiell auch ohne das Kopfhören funktionieren, da ihre Form nicht durch es bestimmt wird. Eine Erfahrung des Kopfhörens ist entsprechend eine solche, die wesentlich von den sinnlichimaginativen Korrespondenzen lebt, die durch die synthetische Synästhesie des Kopfhörens erzeugt, genauer gesagt durch diese ermöglicht und in der individuellen Auffassung der Kopfhörerin verwirklicht werden. Doch warum sollte man überhaupt davon ausgehen, dass die Praxis des Kopfhörens bedeutet, Erfahrungen in diesem emphatischen Sinn zu machen? Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Der (allzu) vertraute Umgang mit dieser potenziell ästhetisierenden Medien- und Sinnestechnik ist so weit in die alltagspraktischen Vollzüge eingebettet, dass nicht damit zu rechnen ist, dass hier andauernd ästhetische Erfahrungen gemacht würden. Allerdings bedeuten Erfahrungen als besondere Momente im Erleben ohnehin immer Ausnahmen vom normalen alltagspraktischen Erleben – und ästhetische Erfahrungen sind zudem besonders intensive Ausnahmen dieser Art. Man würde es gar nicht aushalten, andauernd ästhetische Erfahrung zu machen, sei dies nun beim Kopfhören oder bei sonst einer Aktivität. Das bedeutet jedoch nicht, dass es nicht dennoch vorkommt und sogar ein starkes Motiv der Kopfhörerin ausmachen kann, sich dieser sie charakterisierenden Praxisform zu widmen. Wenn man nun wissen will, was es mit der spezifischen Wahrnehmungs- und Erlebnisweise des Kopfhörens auf sich hat, so muss man sich an deren intensivste Form halten, also an die kopfhörende Erfahrung im engen Sinn. Das ist schon aus methodischen Gründen ratsam, weil sie den besonderen Fall innerhalb des Kontinuums kopfhörenden Wahrnehmens und Erlebens bedeutet, der in verdichteter Weise alles enthält, was diese Form des Wahrnehmens und Erlebens überhaupt ausmacht.5 Schließlich bleibt die Frage, ob die kopfhörende Erfahrung immer auch eine ästhetische ist. Hier lautet die Antwort schlicht: Ja! Wenn es zu einer

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Erfahrung des Kopfhörens kommt, so bedeutet diese unweigerlich auch eine ästhetische Erfahrung! Man könnte das sogar für trivial halten, weil diese Erfahrung doch ganz klar etwas mit Musik und auch explizit mit Wahrnehmung (Stichwort: aisthesis) zu tun hat. Und doch sind die Voraussetzungen und die Implikationen dieser These klärungsbedürftig. Zunächst einmal ist der als ›ästhetisch‹ geltende Gegenstand – also die Musik – nicht allein und auch nicht einmal notwendigerweise für den dezidiert ästhetischen Charakter der Erfahrung verantwortlich. Denn für ästhetische Erfahrungen gilt ganz grundsätzlich, dass der Ausdruck ›ästhetisch‹ in diesem Zusammenhang nicht die Gegenstände und deren Eigenschaften bezeichnet, sondern die Form, in der sie erfahren werden, also den Modus, in dem sich die Erfahrung vollzieht.6 Natürlich kann der musikalische Erfahrungsgegenstand eine ästhetische Auffassung anregen, insofern er als Kunstwerk die ästhetische Erfahrung verkörpert, aus der er selbst hervorgegangen ist, und in diesem Sinn für neue ästhetische Erfahrungen gemacht ist. Doch dass einem eine ästhetische Erfahrung nahegelegt wird, bedeutet noch nicht, auch tatsächlich eine solche zu machen. Denn zur ästhetischen Erfahrung gehört immer auch die Unwägbarkeit, dass man diese Erfahrung nicht einfach willentlich ›machen‹ kann, sondern dass sie einem widerfahren muss – oder mit anderen Worten, dass man eine ästhetische Erfahrung zwar suchen und aktiv vorbereiten kann, sie sich aber letztlich ›wie von selbst‹ einstellen muss. Der ästhetische Gegenstand kann, aber er muss nicht der Anlass für eine ästhetische Erfahrung sein (und er ›ist‹ auch erst im vollen Sinn ästhetisch, sofern er in der Erfahrung als ein ästhetischer realisiert wird7). Doch abgesehen von diesen prinzipiellen Erwägungen ist es beim Kopfhören ohnehin nicht nur die Musik, die ästhetisch erfahren wird, sondern auch die besondere Weise, in der die Musik unter den sinnlichtechnischen Bedingen des Kopfhörens erscheint sowie die Art, in der die sonstige Auffassung der aktuellen Situation von der Musik wie von einem Film-Soundtrack durchzogen wird (etwa das Innere der sich bewegenden Straßenbahn, die Regentropfen an der Scheibe, die Gesichter der anderen Fahrgäste, die Sorge vor der anstehenden Prüfung usw.). Beim Kopfhören wird das Wie des Erscheinens der Musik durch die sinnlich modifizierte Weise bestimmt, in der der musikalische Gegenstand in das Ganze der Erfahrung eingespeist wird. Die daraus entstehenden Korrespondenzen von Musik und Umwelt sowie den Imaginationen, die Musik und Umwelt nun

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wechselweise imprägnieren, stellen den spezifischen ästhetisch wirksamen Effekt des Kopfhörens als Medium von Erfahrungen dar. Wenn also eine Erfahrung im Medium des Kopfhörens gemacht wird – wie häufig oder selten auch immer das der Fall sein mag – so hat diese Erfahrung eine ästhetische Form: Sie richtet sich auf die spezifisch musikalischsynästhetisch modifizierten Wahrnehmungsvollzüge und die imaginative Anreicherung dieser Wahrnehmung als ein herausgehobenes Ereignis8 ohne bestimmte äußere Zwecke. Der Ausdruck Medium hat im Zusammenhang mit dem Kopfhören einen mehrfachen Sinn: Zum einen bezeichnet er ein technisches Medium, genauer gesagt den medientechnischen Verbund aus portablem Abspielgerät und Kopfhörern, der zunächst ein Medium zur Übertragung von Geräuschen und speziell von Musik darstellt, und sodann auf der Grundlage digitaler Speicher- und Kommunikationstechnologie – zumal in Gestalt von Smartphones – vielfältige Erweiterungs- und Integrationsmöglichkeiten des Kopfhörens als eine Funktion unter anderen bereithält. Zum anderen bedeutet das Kopfhören als Praxis das besagte spezifische Medium ästhetischer Erfahrung (was den medientechnischen Verbund natürlich voraussetzt). Die Kategorien, in denen sich die Erfahrung des Kopfhörens als ein Ereignis in Wahrnehmung und Imagination vollzieht – und die wie gesagt nicht primär die Erfahrung von Musik, sondern die einer musikalisch-sinnlich modifizierten Situation ist –, findet sie wiederum im Vorbild der Kunsterfahrung (wobei hier ein möglichst weites Verständnis von Kunst vorausgesetzt wird). Die beim Kopfhören leitende Kunstform habe ich oben bereits angedeutet als ich vom ›Soundtrack‹ gesprochen habe: Es ist die Kunstform des Films, die die stärkste imaginative Ressource bildet, aus der sich die kopfhörende ästhetische Erfahrung versorgt. Denn aus der Erfahrung mit Filmen kennt die Kopfhörerin die eigentümliche ›Spaltung‹ von Bildgeschehen und musikalischem ›Off‹, die aber gerade nicht die sinnlichen Sphären auseinanderdriften lässt, sondern im Gegenteil die kompositorische Synthese der audiovisuellen Perspektive des (klassischen) Films bedeutet. Der Film ist zugleich eine künstlerische Form, die nicht nur narrative Aspekte enthält, sondern als Spielfilm in der Regel auch insgesamt eine mehr oder weniger geschlossene Erzählung darbietet, worauf ich im nächsten Abschnitt eingehen werde. Zuvor muss jedoch zumindest kurz noch das Verhältnis der ›filmischen‹ Wahrnehmung der Kopfhörerin zur tatsächlichen Erfahrung eines Films

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geklärt werden. Es handelt sich bei diesem Verhältnis nämlich keineswegs um eine Verwechslung auf Seiten der Kopfhörerin: Sofern sie nicht unter Wahnvorstellungen leidet, ist und bleibt sie sich stets bewusst, dass sie sich nicht in einem Film befindet. Dennoch lässt sie sich darauf ein, ihre Umwelt und ihre ganze momentane Situation wie einen Film wahrzunehmen, also so, als ob es sich um einen Film handeln würde. Diese Haltung der Kopfhörerin ist von einem doppelten Als-ob gezeichnet: Ist der Film – zumindest der Spielfilm – selbst schon eine fiktionale Darbietung, so wird die Wirkung dieser Kunstform auf die Wahrnehmung der Kopfhörerin noch zusätzlich fiktionalisiert, indem die Kopfhörerin auf lustvolle Weise so tut, als ob es sich bei ihrer aktuellen Situation um die Szene aus einem Film handeln würde. Sie kann dabei sogar an diesen oder jenen bestimmten Film erinnert werden, doch ist das für ihre quasi-filmische Wahrnehmung nicht unbedingt nötig. Ihre aktuelle Situation ist nicht wie eine Szene dieses oder jenes Films, sondern sie ist schlechthin wie eine Filmszene, was im hier relevanten Sinn bedeutet: wie ein musikalisch angereichertes Bewegungsbild. Zu sagen, dass es sich bei der wahrgenommenen Situation der Kopfhörerin um etwas handelt, das wie ein Film ist, bedeutet also, einen Vergleich vorzunehmen. Dieser Vergleich findet dabei auf zwei Ebenen statt, nämlich auf der Ebene der drittpersonalen Beobachtung sowie auf der Ebene des erstpersonalen Erlebens. Während es der beobachtenden Forschungsperspektive um einen expliziten Vergleich der Erfahrung des Kopfhörens mit dem Film geht, um diese objektivierend verständlich zu machen, betreibt das erstpersonale Erleben der Kopfhörerin vielmehr einen impliziten Vergleich, der letztlich eine Form von anschauender Angleichung bedeutet.9 Die beiden Perspektiven verhalten sich dabei so zueinander, dass die erstpersonale Perspektive die drittpersonale fundiert: Weil die Imagination filmischer Erfahrung die ästhetisch anschauende Auffassung der musikalisch angereicherten Situation der Kopfhörerin durchzieht, kann aus der beobachtenden Perspektive dieser Vergleich als eine begründete Analogie gezogen werden. Wie jeder Vergleich hat auch dieser seine Grenzen: Weder geht die kopfhörende Erfahrung einfach in der Analogie zum Film auf, noch werden in einer Situation des Kopfhörens ernsthaft die Kriterien eines konsistenten Films erfüllt. Darüber hinaus bleibt die kopfhörende Erfahrung der Kunstgattung und den Kategorien des Films nichts schuldig. Die Kopfhörerin kann ihre Situation wie einen (und sich darin wie in einem)

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Film wahrnehmen, ohne sich im Geringsten darum zu scheren, was – außer dem Soundtrack zur bewegten Welt – einen Film sonst noch ausmacht. Das Gefühl, dass es so ist als ob, reicht ihr völlig aus.

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E RFAHRUNG

Doch was sind nun die narrativen Komponenten in der quasi-filmischen Erfahrung der Kopfhörerin? Inwiefern erscheint der Kopfhörerin in ihrer auditiv individuierten und musikalisch angereicherten Wahrnehmungssituation etwas oder diese Situation im Ganzen als eine Erzählung (oder jedenfalls als etwas Erzähltes)? Und welche ›erzählerische‹ Rolle spielt die Musik dabei? Um diese Fragen in die Richtung einer Antwort zu bringen, will ich nun zunächst kurz auf die Bedeutung der Musik für die narrative Struktur von Filmen eingehen, insofern das auch für die kopfhörende Erfahrung von Bedeutung ist (a); ich will sodann einige kurze Überlegungen zur Grundfunktion der Narration als Kohärenzstiftung in Bezug auf die kopfhörende Erfahrung anstellen (b); und schließlich will ich noch einmal auf die Musik als auslösenden Generator des möglichen erzählerischen Charakters einer kopfhörenden Erfahrung zu sprechen kommen (c). (a) Die Bedeutung der Filmerzählung für die Erfahrung des Kopfhörens In Verbindung mit den vielfältigen anderen Mitteln des Films, kann auch speziell die Musik die Funktion übernehmen, die Erzählung des Films (mit) zu artikulieren. Diese Funktion tritt besonders deutlich bei Filmen hervor, die leitmotivische Musik verwenden, wie etwa bei den Filmen der STAR WARS-Reihe. Aber auch grundsätzlich gilt, dass Filmmusik (oder Musik im Film) immer ein tragendes Moment der jeweiligen Rhythmik des Films ist.10 Und insofern sie zum jeweiligen Rhythmus in der szenischen Abfolge des Films beiträgt, ist sie auch in die Narration des Films verwoben. Die dafür vorausgesetzte These lautet, dass jeder Film einen narrativen Grundzug aufweist. Ob aus diesem Grundzug nun ein filmisches Epos gemacht wird, also ein solcher Film, der einem auch mit Nachdruck als Erzählung

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entgegentritt, wie es besonders deutlich bei groß angelegten HollywoodFilmdramen (beispielsweise von George Lucas, Peter Jackson oder auch Martin Scorsese) der Fall ist, oder ob sich die Erzählung des Films eher über Umwege erschließt, ist für die narrative Grundfunktion zunächst unerheblich. Ebenso kann die Frage offen bleiben, ab wann sich aus der Rhythmik und dem basalen narrativen Charakter eines Films auch eine Erzählung im engeren Sinn bildet. Doch wenn ein Film, der mit einem musikalischen Soundtrack operiert, etwas erzählt, bedeutet die zu ihm gehörende Musik auch ein produktives Moment dieser Erzählung11 (wobei es sich im Einzelfall um ein bloß begleitendes oder aber um ein konstitutives Moment der Erzählweise des Films handeln kann). Die Kopfhörerin kennt das Prinzip der eingespielten Musik als produktives erzählerisches Moment jedenfalls aus der Filmerzählung – und das ist für den Moment alles, worauf es hier ankommt. Wenn hier vom Film als Erzählung die Rede ist, so ist damit natürlich nicht eine Erzählung im Film gemeint und ebenso wenig (nur) eine aus dem Off erklingende Erzählerstimme, sondern ein Erzählen mit filmischen Bildern, inklusive Dialogen, sonstigen Geräuschen und Musik. Was die Grundform einer Filmerzählung oder anders gesagt die narrative Grundstruktur der bewegungsbildlich-audiovisuellen Darstellung ausmacht, ist die Abfolge von Szenen, die dem hörend zuschauenden Publikum unterschiedliche imaginierte Orte und somit unterschiedliche Situationen vorführt. Die viel besprochene immersive Wirkung von Filmen bringt es mit sich, dass sich die Zuschauenden dabei in das Geschehen des Films hineinversetzt fühlen (können).12 Wenn diese (tendenziell) immersive Wahrnehmung von Filmen nun von der Kopfhörerin auf ihre Situation übertragen wird, so weil sie aufgrund des auditiven Abstands bereits eine partielle Dissoziierung vom Geschehen ihrer Umwelt erreicht hat, das sie nun als durch den von ihr induzierten Soundtrack wie eine Szene wahrnehmen kann, in die sie sich wiederum imaginativ hineinziehen lässt. Die aktuelle Situation wie eine Filmszene wahrzunehmen, impliziert sogleich die (Auto-)Suggestion, dass diese Szene eben in einem übergreifenden Zusammenhang der Abfolge von solchen Szenen steht, also Teil einer größeren Erzählung ist. Nun gehört es auch zu (Film-)Erzählungen, dass sie in der Regel von Figuren handeln, deren Geschichte erzählt wird. Dabei durchläuft mindestens eine ›Heldin‹ oder ein ›Held‹ oder auch eine ganze Gruppe von Figuren eine Serie von Ereignissen, die klassischerweise einen

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Plot, einen Wendepunkt hat, von dem aus die Spannung der dargestellten Ereignisserie eben als eine Erzählung organisiert wird. Weiter entlang der Analogie von Kopfhören und Filmerfahrung gedacht, versetzt sich die Kopfhörerin also in die Position der ›Heldin‹ einer Szene ihrer eigenen Erzählung. Wenn man kantianisch gesprochen vom schönen ästhetischen Schein als Medium eines affirmativen Weltverhältnisses ausgeht, so handelt es sich um die Erzählung einer Welt, in die die Kopfhörerin hineinpasst, weil es ihre Welt ist, die Welt ihrer individuellen und individuierten Wahrnehmung, die sich in diesem Moment zu einer ästhetischen Erfahrung rundet.13 Die die Erzählung konstituierenden Ereignisse müssen im Erzählen und zumal im Medium des Films zwar notwendigerweise in einem stetigen Nacheinander dargestellt werden, doch können auf diese Weise auch Ereignisse, die in ihrer Chronologie eigentlich nicht unmittelbar aufeinander folgen, in eine konsekutive und dadurch anachronistische Ordnung gebracht werden. Die Kunstform des Films hat mit anderen Worten am nachhaltigsten die Formen des Erzählens aufgebrochen und auf diese Weise die Gestaltungsmöglichkeiten der Erzählung auch im Bewusstsein des sogenannten Alltagsmenschen erweitert. Diese vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten der filmischen Erzählung spielen für die Kopfhörerin, die sich auf dieses Vorbild einlässt, eine wichtige Rolle. Besonders die non-lineare Erzählweise des Episodenspielfilms bietet sich als implizites ›Modell‹ ihrer situativen Selbstauffassung an (wobei dieses Genre aktuell weniger im Trend zu liegen scheint als noch vor ein paar Jahren). Denn die Aufmerksamkeit für eine einzelne Episode, die in gewisser Weise für sich steht und sich doch auf ihren Zusammenhang mit der Gesamterzählung verlassen kann, kommt der ästhetisierten Weise, in der die Kopfhörerin ihre momentane Alltagssituation auffasst, sehr entgegen: Sie kann diese Situation so betrachten, als würde sie in einem größeren erzählerischen Zusammenhang stehen, ohne sich diesen imaginativen Zusammenhang sogleich auch im Ganzen bewusst machen zu müssen (oder auch nur zu können). Ganz offensichtlich wird diese ›Erzählung‹, die von der Kopfhörerin in der/ihrer Welt handelt, gar nicht ausgeführt, das heißt sie wird gar nicht eigentlich erzählt. Doch auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als hätte sich die Frage damit erledigt, macht der Umstand, dass hier nicht eigentlich, sondern wieder nur in (doppelt) fiktionalisierter Weise ›erzählt‹ wird, die narrativen Aspekte der kopfhörenden Erfahrung nur umso kom-

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plexer. In dem Wissen, dass die Situation von sich aus keinen Plot hat, schaut die filmisch inspirierte Kopfhörerin sie so an, als ob sie dennoch einen hätte – also beispielsweise so, als ob sich im Medium des Songs FAKE EMPIRE (von The National) die Regentropfen auf der Fensterscheibe mit dem furchigen Gesicht einer mitfahrenden Person und der verklärten Erinnerung an frühere Erlebnisse mit Freunden (›damals während des Studiums…‹) zu einem korresponsiven Zusammenhang verbinden würden,14 der mit und in der Bewegung der Straßenbahn auf irgendetwas hinauslaufen würde (oder könnte), so, wie eben eine Erzählung (idealer Weise) auf etwas hinausläuft. (b) Narrative Kohärenzstiftung als Impromptu Man kann also zunächst festhalten, dass die Situation, die selbst keinen (fiktionalen) Plot hat, im Medium des filmisch inspirierten Kopfhörens dennoch von der Als-ob-Vorstellung eines Plots der Situation imprägniert werden kann. Was dieser ›Erzählung‹ im Vergleich zum Film neben einer durchgängigen und den Ereignissen übergeordneten Dramaturgie jedoch eindeutig fehlt, ist ein ›Skript‹, das heißt ein gewisser thematischer ›Inhalt‹ der Erzählung. An dieser Stelle wird es dann auch Zeit, sich von der Analogie zum Film etwas zu lösen und sich einer anderen Hinsicht auf die eigene alltägliche Situation zuzuwenden. Denn das alltägliche Erzählen ist besonders dort relevant, wo es um (plausible) biografische Zusammenhänge geht und somit um die Stiftung narrativer Kohärenz in Bezug auf die eigene Situation, die über das Hier und Jetzt hinausgreift. Abgesehen von Momenten, in denen man sich explizit zu einer biografischen Auskunft aufgefordert sieht, kommt die latente Arbeit an der biographischen Kohärenz in jedem Moment zum Einsatz, in dem ein Individuum auf sich selbst als Individuum reflektiert, wobei sich diese Reflexion nicht unbedingt in einer lupenreinen theoretischen Einstellung vollziehen muss, sondern sich auch im sinnierenden Gang durch mehr oder weniger spontane Erinnerungsbilder einstellt.15 Dieser (im Sinn der Alltagssprache) spontane Aspekt ist es, der für das Beispiel der Kopfhörerin relevant ist: Sie findet sich in einer Situation vor, nimmt diese als auditiv ungeteilte und deswegen in einem emphatischen Sinn als ihre individuelle Situation wahr, reichert diese ohnehin tendenziell ästhetisierte Auffassung dabei unweigerlich mit spon-

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tanen Imaginationen an und kommt dabei nicht umhin, Erinnerungen einfließen zu lassen, die sie in Geschichten oder Fragmente von Geschichten verstrickt. Die Musik erzählt ihr in dieser Situation plötzlich etwas von Früher, von damals, als sie zuerst auf Radiohead gestoßen ist, was ihr eine neue musikalische Welt aufgeschlossen hat, damals, als sie in jemand bestimmtes verliebt war, als sie noch solche Klamotten trug, oder auch daran wie sie später, während einer für sie ›schwierigen Zeit‹, sich in Melancholie gehüllt diesem Gefühl hingegeben hat, dem sie sich auch jetzt für den Augenblick wieder einmal hingibt – ein Gefühl, das also von Früher erzählt und das seinen stärksten Ausdruck eben in dieser Musik von Radiohead findet. Diese Imaginationen – gespeist aus Erinnerungen, die wiederum mit ›freien‹ Assoziationen verwoben sind – bringen die Situation in einen imaginativen Erzähl-Zusammenhang, das heißt sie verleihen ihr den schönen Schein eines solchen Zusammenhangs. Das spontane Bild eines scheinhaften, quasi-narrativen Zusammenhangs wird zwar in gewisser Weise von der Kopfhörerin erzeugt, insofern es eben ihre Imaginationen, ihr Soundtrack usw. sind, aus denen sich dieser Zusammenhang speist; andererseits aber muss die Kopfhörerin diesen Zusammenhang auch geschehen lassen, weil es nicht allein in ihrer Macht steht, dass er sich auch tatsächlich erfahrungswirksam ereignet. Wenn der sinnlich-imaginative Zusammenhang ihr etwas ›erzählen‹ soll, so muss er sich ›wie von selbst‹ einstellen.16 Doch auch dieses spontane Sich-Einstellen muss umgekehrt wieder von der Kopfhörerin realisiert werden, und zwar in dem doppelten Sinn von Bemerken und Umsetzen. Sie muss gewissermaßen den richtigen Moment ergreifen, um den imaginativen Kräften freien Lauf zu lassen, die ihre Situation – die ›Szene‹ vor ihren Augen, die Musik in ihren Ohren, die Erinnerungen in ihrem Kopf – scheinbar in das Fragment oder die Passage einer ›Erzählung‹ verwandeln. Worin also besteht das narrative Strukturmoment in einer solchen, ansonsten nicht-narrativen Situation und ihrer Erfahrung? Es besteht in der scheinhaften Bildung eines Zusammenhangs, der über das Hier und Jetzt hinausgreifend eine gewisse Kohärenz in Bezug auf die individuelle Situation – und damit letztlich in Bezug auf die Existenz als Individuum – stiftet. Diese musikalisch, dadurch quasi-filmisch und überhaupt imaginativ angereicherte, aber durchweg diffuse Vorstellung innerer Zusammenhänge und Übergänge hat dabei den Charakter eines Impromptu (um es mit einer mu-

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sikalischen und schon deswegen für das Beispiel des Kopfhörens angemessenen Metapher auszudrücken), also einer aktiv gestaltenden Reaktion auf die sich aufdrängende Gelegenheit des Augenblicks. In dem Moment, in dem sich der sinnlich-imaginative Zusammenhang prompt wie von selbst einstellt, spinnt die Kopfhörerin ihn aus dem Stehgreif als eine freie, nur für den Augenblick bestehende Erzählung (in jenem doppelt konjunktivischen Sinn) weiter und ist dabei keinen vorausgesetzten Kriterien der Form einer Erzählung verpflichtet. Der besagte Charakter des Impromptu wird genau genommen sogar invertiert. Denn während diese Form im engeren musikalischen Sinn eine Komposition bezeichnet, die so tut als ob sie ganz spontan erdacht wäre, ist der Bezug auf die eigene Situation beim Kopfhören in der Regel tatsächlich ein spontaner, der aber für sich selbst (also nur für die imaginative Innensicht der Kopfhörerin) so tun kann, als ob er Teil eines kohärenten Größeren sei. (c) Musik als Narrationsgenerator Dieser Beitrag handelt ganz offensichtlich nicht von der Narrativität der Musik selbst, also nicht von der Frage, inwiefern Musik als solche (mit oder ohne Text), das heißt mit ihren eigenen Mitteln, erzählt. Die Untersuchung des Kopfhörens hat zu dieser Frage wenig beizutragen, weil sie sich vornehmlich mit der spezifischen Auffassung der Situation als Ganzes befasst, in der Musik öffentlich und doch ungeteilt gehört wird. Musik spielt dabei zwar die entscheidende, konstitutive Rolle (da mit Kopfhören nun einmal mobiles Musikhören gemeint ist), doch nicht die musikalische Struktur, sondern die Struktur der Situation, deren Teil die Musik ist, bildet den Gegenstand einer solchen Untersuchung. Doch am Ende dieses Beitrags möchte ich noch einmal klar stellen, dass die Antwort auf die Frage, wie die Kopfhörerin überhaupt darauf kommt, sich vorzustellen, dass ihr das alles irgendetwas erzählen würde, letztlich doch in der Musik liegt, die sie hört. Das ungeteilte Erscheinen der Musik ist mit anderen Worten der situative Generator der narrativen Aspekte und der Orientierung der Imagination an (vor allem filmischen) Narrationen. Die über Kopfhörer gehörte Musik ist das intervenierende ›Objekt‹ in der Erfahrung, das die imaginierenden Prozesse und die spezifische Form der ästhetischen Erfahrung des Kopfhörens erst in Gang setzt und zugleich in

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einem materialen Sinn begründet. Sie stiftet erst das Motiv, die Situation als die einzelne ›Szene‹ eines Quasi-Films wahrzunehmen, die der Kopfhörerin etwas von sich selbst oder von dem ›äußeren‹ Geschehen vor ihren Sinnen erzählt. Dabei macht es natürlich einen Unterschied, welche Musik die Kopfhörerin hört, und zwar mindestens in zwei Hinsichten: Zum einen wird es von den musikalischen Werken aus gedacht einen Unterschied machen, ob die Kopfhörerin den Lacrimosa-Teil aus Mozarts REQUIEM hört, einen Song von den Decemberists oder von Lady Gaga. Dabei ist schon klar, dass jedes der Musikstücke die singuläre Situation ums Ganze verändert, doch haben sie eben auch eine unterschiedlich gestaltende Tendenz in Bezug auf die mögliche (quasi-)erzählerische Komponente dieser Erfahrung. Lassen die Klänge des REQUIEMS (von dessen Text sie kein Wort versteht) die Kopfhörerin beispielsweise an Tod, Beerdigung, religiösen Glauben und andere Aspekte aus diesem naheliegenden Assoziationsfeld denken, so zieht der Text des MARINER’S REVENGE SONG (von den Decemberists) die in der Straßenbahn sitzende Kopfhörerin in die Geschichte eines rachsüchtigen Sohns im Bauch eines Wals, während Lady Gagas POKER FACE ihr vielleicht am wenigsten ›erzählt‹, sondern einfach an die letzte oder nächste Party denken lässt. Zum anderen macht es einen Unterschied, wie vertraut die konkret gehörte Musik der Kopfhörerin bereits ist. So kann sie bewusst einen bestimmten Song auswählen, weil er zu der aktuellen Situation ›passt‹ und sie die Erfahrung dieser bestimmten Korrespondenz sucht. Die Kopfhörerin hört beispielsweise einigermaßen laut (doch wie immer nur für sich) den berühmten Lacrimosa-Teil, weil sie damit diesen dramatischen, unerfreulichen Tag nun auf der Fahrt nach Hause trotzig zu einem einigermaßen pompösen Abschluss für sich selbst bringt. Sie flüchtet sich dann geradezu in diese Musik und die imaginative Welt, die ihr die Musik eröffnet, und falls die Kopfhörerin ON BEAUTY von Zadie Smith gelesen hat, öffnet ihr diese Komposition, die darin eine Rolle spielt, auch zugleich noch einmal die fiktive Welt dieses Romans. Oder die Kopfhörerin hört – sagen wir auf einer längeren Zugfahrt – eine Playlist mit wohlvertrauten Songs, die ihr vielleicht sogar ein wohlvertrauter Mensch zusammengestellt hat und schon deswegen eine ganze Serie von Erinnerungen hervorruft, von denen die Musik der Kopfhörerin nun zwar nicht von sich aus (und in diesem Sinn objektiv), wohl aber für sie (in diesem Sinn subjektiv) erzählt. Wenn die Kopfhörerin – um ein letztes Beispiel zu nennen – nun die Play-

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list vertrauter Songs nutzt, um auf diese Weise mit und ganz bei sich zu sein und in dieser Stimmung die Landschaft betrachten zu können, sich also auf das (ja auch in Filmen häufig genutzte) Wechselspiel von sich in (Fahrt-)Bewegung befindlicher Landschaft und Musik einlässt,17 so ›erzählt‹ ihr die Musik nun von dieser Landschaft als einer traurigen oder heiteren und von den virtuellen Lebensmöglichkeiten in diesem sich darbietenden Teil der Welt.

ANMERKUNGEN 1 Für die ausführlichere Untersuchung des Phänomen des ›Kopfhörens‹, besonders auch in Hinblick auf die methodischen Voraussetzung einer solchen Untersuchung sowie deren Bedeutung für den Begriff der ästhetischen Erfahrung, siehe Niklas, Stefan: Die Kopfhörerin. Mobiles Musikhören als ästhetische Erfahrung, Paderborn 2014. 2 Um mich ganz meinem Beispiel widmen zu können, lasse ich in diesem Beitrag die Diskussion klassischer und aktueller Debatten zur Theorie der Erzählung – auch in Bezug auf die hier relevante Bereichen Film und Musik – gänzlich beiseite. 3 Vgl. Niklas (wie Anm. 1), S. 58-85, insb. 73ff. 4 Vgl. ebd., S. 61f. 5 Diese These orientiert sich erneut an John Dewey, der zum methodischen Wert ästhetischer Erfahrung im Allgemeinen sagt: »To esthetic experience, then, the philosopher must go to understand what experience is«. Dewey, John: Art as Experience, New York 1980, S. 274. Vgl. auch Niklas (wie Anm. 1), S. 168. 6 Wie nicht anders zu erwarten, herrscht über die von mir vertretende Auffassung von ästhetischer Erfahrung innerhalb der philosophischen Ästhetik keineswegs Konsens. Besonders dort, wo die analytische Ästhetik sich nicht mehr an den Pragmatismus zu erinnern scheint, wird die gegenteilige Auffassung vertreten, wie man beispielsweise bei Noël Carroll, Jerrold Levinson und anderen sehen kann, die sich bemühen, die ›formalen Eigenschaften‹ der Werke zu identifizieren, die deren Erfahrung zu einer ästhetischen machen sollen. 7 Dewey, der den Begriff der Erfahrung an den des Rhythmus knüpft, drückt das so aus: »Only as these rhythms, even if embodied in an outer

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object that is itself a product of art, become a rhythm in experience itself are they esthetic«. Dewey (wie Anm. 5), S. 162. Zur Definition von ästhetischer Erfahrung als ästhetische Wahrnehmung mit Ereignischarakter vgl. Seel, Martin: »Über die Reichweite ästhetischer Erfahrung«, in: ders.: Die Macht des Erscheinens, Frankfurt am Main 2007, S. 56-66. Vgl. dazu auch Niklas (wie Anm. 1), S. 226f. Das gilt auch für Filmszenen, in denen gerade keine Musik vorkommt, da die Pause von der Musik, genau wie die Pause in der Musik, selbst ein Mittel der musikalisch-rhythmischen Gestaltung ist. Natürlich gibt es Filme, die (nahezu) ohne Musik auskommen. In solchen Fällen bedeutet der Einsatz von Musik eben kein Gestaltungsmittel des filmischen Werks, doch ist die Abwesenheit von Musik bereits Ausdruck einer spezifischen gestalterischen Entscheidung: In einem Film keine Musik erklingen zu lassen, bedeutet einen negativen Bezug auf Musik, weil diese zum typischen Normalfall von Filmen gehört (deswegen wird ihre Abwesenheit auch häufig bewusster bemerkt als das Durchlaufen einer musikalischen ›Untermalung‹). Das ›Wenn‹ kann hier sowohl im stärkeren als auch im schwächeren Sinn gelesen werden, je nachdem ob man die These bevorzugt, dass alle Filme Erzählungen sind oder die These, dass zwar alle Filme narrative Züge haben, aber nur einige Filme auch eine Erzählung darstellen. Natürlich ist auch die nochmals abgestufte These möglich, dass es Filme gebe, die keine narrative Struktur hätten, sodass überhaupt nur einige Filme im weiten wie im engen Sinn erzählerisch seien – mir ist allerdings kein Beispiel für einen radikal non-narrativen Film bekannt, das diese These stützen könnte. Wie oben bereits gesagt, vestehe ich Narrtivität vielmehr als einen allgemeinen Grundzug von Filmen, der in der Form des Films selbst begründet ist. Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex (ausgehend von der These der ›illusionären Grundstruktur der Kinoerfahrung‹) vgl. Voss, Christiane: Der Leihkörper. Erkenntnis und Ästhetik der Illusion, München 2013 (Zitat auf S. 109; vgl. speziell zur Immersion insb. S. 184ff.). Allerdings muss man nicht zwingend die starke illusionstheoretische These vertreten, um das affektive ›Hineingezogen-werden‹ und die entsprechende Bereitschaft, sich hinein ziehen zu lassen, verständlich zu machen. Vgl. zum Thema »Immersion« auch

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den entsprechenden Themenband montage AV – Zeitschrift für Theorie und Geschichte audiovisueller Kommunikation 17/2 (2008). Diese Form des ästhetisch-affirmativen Weltbezugs als existenzielles ›Vertrauen in die Welt‹ hat Josef Früchtl speziell für die Filmerfahrung herausgearbeitet. Vgl. Früchtl, Josef: Vertrauen in die Welt. Eine Philosophie des Films, München 2013. Zum Begriff der korresponsiven Erfahrung, den ich von Martin Seel übernehme (wobei dieser in erster Linie von korresponsiver Wahrnehmung spricht), vgl. Kap. III: »Kopfhören und die Erfahrung von Korrespondenzen«, in: Niklas (wie Anm. 1), S. 171-247. Vgl. auch Seel (wie Anm. 8), insb. S. 154. Natürlich ist das alles wesentlich voraussetzungsreicher als ich es hier darstelle. Um nicht die Verdienste der Biographieforschung – besonders der (kultur-)soziologisch und dabei in methodischer Hinsicht qualitativ ausgerichteten Forschung – einfach unter den sprichwörtlichen Tisch fallen zu lassen, sei pauschal auf Charlotte Lindes wichtiges Buch Life Stories. The Creation of Coherence, Oxford Press 1993, verwiesen. Für den Zusammenhang und das latente Wechselspiel von (expliziter) ›Biographie‹ und (implizitem) ›Lebens(ver)lauf‹ und das Theorem der ›Biographiegeneratoren‹ verweise ich außerdem exemplarisch auf Hahn, Alois: »Biographie und Lebenslauf«, in: ders.: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte, Frankfurt am Main 2000, S. 97115. Martin Seel hat für dieses Doppelverhältnis in ähnlichen (ästhetischen) Vorgängen die treffende Formel der »aktiven Passivität« verwendet, vgl. Seel, Martin: Aktive Passivität. Über den Spielraum des Denkens, Handelns und anderer Künste, Frankfurt am Main 2014. Zur Landschaftserfahrung der zugfahrenden Kopfhörerin vgl. das entsprechende Kapitel in Niklas (wie Anm. 1), S. 205-231.

Pseudomorphose, Konvergenz und Dramaturgie Eine Spurensuche bei Adorno zum Problem musikalischer Narration

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»Nicht Musik zwar will etwas erzählen, aber der Komponist will Musik machen, wie sonst einer erzählt«1, schreibt Adorno in seinem Mahler-Buch und scheint damit eine eindeutige Position zur Frage zu beziehen, ob Musik narrative Strukturen aufweise. Mahlers Symphonien, die Adorno hier im Blick hat, seien in der Konfiguration von Stoff und Vortrag dem Roman verwandt, wobei er nicht nur die äußere Form in den Vordergrund stellt, sondern es auch exemplarisch am Material erläutert: »Daß er [Mahler – D.S.] manchmal ›Vortrag ohne alle Parodie‹ und manchmal ›mit Parodie‹ verlangt, ohne daß die Themen selbst die Entscheidung übers eine oder andere erlaubten, verrät ihre Spannung zum Hochfliegenden mit Worten.«2

Einerseits scheint sich in dieser Kritik das anzukündigen, was Adorno an anderer Stelle wiederholt als »Pseudomorphose« bezeichnet, insofern Musik hier in den Dienst eines ihrer Form und ihres Materials fremden Interesses gestellt wird, so dass hier Musik als ein der Literatur angewandeltes Medium gebraucht wird, obgleich deren Struktur dem Musikalischen selbst doch fern sei. Andererseits jedoch verweist gerade diese materialbezogenen Passage in ihrem Hinweis darauf, dass im geschilderten Falle die Themen nicht selbst die Entscheidung über »Parodie« oder »ohne Parodie« erlau-

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ben, dass zumindest das Parodistische als narratives Element im Musikalischen selbst durchaus darstellbar wäre, wenngleich dies in der musikalischthematischen Entwicklung selbst verortet sein müsste. Dieser Spannung in Adornos verstreuten Andeutungen zur Frage eines musikalischen Narrativs soll im Folgenden nachgegangen werden, wobei sich zuerst dem kritischen Moment der Aufdeckung musikalischer Pseudomorphosen zugewandt werden soll, um dann mit dem Begriff der »Konvergenz« die Möglichkeit einer Umsetzung von außermusikalischen Strukturen im Felde des musikalischen Materials selbst zu fokussieren, was dann in einem dritten Schritt an Adornos Auseinandersetzung mit Oper und Filmmusik exemplarisch erläutert sei.

I. P SEUDOMORPHOSE Wer die Frage nach narrativen Strukturen in der Musik stellt, tut auf den ersten Blick etwas gänzlich Merkwürdiges, insofern er nach dem Vorkommen von etwas in einem Zusammenhang fragt, was diesem Zusammenhang gar nicht zugehören kann, da es einem ganz anderen Bereich angehört. Eine solche Frage scheint ähnlich grotesk zu sein wie die Fragen: »In welcher Zeit beschleunigt eine Bratpfanne von 0 auf 100 km/h?«, oder: »Welche Offroad-Qualitäten hat eine Segelyacht?« Schließlich ist das Narrative an die Struktur der Sprache gebunden, in der es sich vollzieht, während Musik sich in tonalen und rhythmischen Strukturen entfaltet. Einen manifesten Sinn kann jene Frage also scheinbar nur bekommen, wenn man einen der beiden Bereiche in den anderen überführt, also die Bratpfanne mit Rädern und einem Motor versieht bzw. die Segelyacht mit einem geländegängigen Fahrgestell mit Allradantrieb, was dann allerdings die ureigene Bedeutung und Funktion des in den anderen Bereich Überführten bzw. Angeglichenen beeinträchtigt. Adorno verdeutlicht die Problematik einer solchen Überführung in einen anderen Bereich recht klar am Beispiel von Musik und Malerei: »Malende Musik, die stets fast an Kraft der zeitlichen Organisation nachläßt, begibt sich dadurch des synthetisierenden Prinzips, das allein dem Raum sie anbildet; und Malerei, welche dynamisch sich gebärdet, als finge sie zeitliche Vorgänge ein, wie die Futuristen es wollten und wie auch manche Abstrakte durch kreisende Figuren es

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anstreben, erschöpft sich äußersten Falles in der Illusion von Zeit […] Sobald die eine Kunst die andere nachahmt, entfernt sie sich von ihr, indem sie den Zwang des eigenen Materials verleugnet, und verkommt zum Synkretismus in der vagen Vorstellung eines undialektischen Kontinuums von Künsten überhaupt.«3

Eine solche Verleugnung des eigenen Materialtypus durch Nachahmung eines anderen nennt Adorno wiederholt »Pseudomorphose«, wobei die kritische Funktion dieses Begriffs darauf ausgerichtet ist, den Künsten ihren je eigenen Materialcharakter vor Augen zu führen, also hier: dass Musik Zeitkunst und Malerei Raumkunst seien, und die Künste ihren eigenen Charakter verlieren, wenn sie die ihr eigene materiale Struktur verlassen. Nun ließe sich ein solcher kritischer Verweis auf eine Pseudomorphose auch an die Frage nach narrativen Strukturen in der Musik richten, insofern auch in dieser Frage zwei unterschiedliche Kunstbereiche (Musik und Literatur) in ihren Materialüberschneidungen (Tonalität und Sprache) in den Blick genommen werden. Und eine Passage aus der PHILOSOPHIE DER NEUEN MUSIK, die sich auf die Jugendwerke von Ernst Křenek bezieht, scheint dies zu stützen: »Der Zusammenhang in diesen Werken ist die Negation des Zusammenhangs, und ihr Triumph ist darin gelegen, daß Musik sich als Widerpart der Wortsprache erweist, indem sie gerade als sinnlose zu reden vermag, während alle geschlossenen musikalischen Kunstwerke im Zeichen der Pseudomorphose mit der Wortsprache stehen. Alle organische Musik ist aus dem stile recitativo hervorgegangen. Sie war von Anbeginn dem Sprechen nachgebildet. Die Emanzipation der Musik heute ist gleichbedeutend mit ihrer Emanzipation von der Wortsprache, und sie ist es, die in der Zerstörung des ›Sinnes‹ wetterleuchtet.«4

Aller sinnhafter Zusammenhang, alle über die tonalen und rhythmischen Strukturen hinausweisende Bedeutung von Musik wäre demnach im Verdacht, sich via Pseudomorphose an die Wortsprache von dem eigenen Materialcharakter der Musik zumindest partiell verabschiedet zu haben. Entsprechend wäre auch jedes narrativ Sinnhafte in diesem Zusammenhang gerade etwas, was den musikalischen Materialbereich transzendiert und von der Musik mehr wegführt als in ihr etwas aufklärt. Allerdings muss hier beachtet werden, dass sich die zitierte Passage auf die Position Křeneks bezieht, wobei Adorno mit dem Signum »Wortspra-

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che« darauf hinweisen will, dass dies nicht für Sprache überhaupt in Geltung gebracht werden muss. Im Unterschied nämlich zur skizzierten klaren Grenze zwischen Musik und Malerei, wird Musik von Adorno keineswegs als nicht-sprachlich, sondern vielmehr als »sprachähnlich«5 qualifiziert. Diese Ähnlichkeit zur Sprache zeige die Musik »als zeitliche Folge artikulierter Laute, die mehr sind als bloß Laut. Sie sagen etwas, oft ein Menschliches.«6 Einmal also hat die Musik mit der Sprache die zeitliche Sukzession gemeinsam, in der sie sich vollziehen, und zudem ist dasjenige, was sich hierbei vollzieht, der artikulierte Laut, etwas, das über seine bloße Sukzession hinaus eine Bedeutung trägt. Allerdings unterscheiden sich Musik und Wortsprache auch in Bezug auf die Art ihres Tragens von Bedeutung: »Gegenüber der meinenden Sprache ist Musik Sprache nur als eine von ganz anderem Typus. […] Musik zielt auf eine intentionslose Sprache. Aber sie scheidet sich nicht bündig von der meinenden wie ein Reich vom anderen. Es waltet eine Dialektik: allenthalben ist sie von Intentionen durchsetzt […] Musik ohne alles Meinen, der bloß phänomenale Zusammenhang der Klänge, gliche akustisch dem Kaleidoskop. Als absolutes Meinen dagegen hörte sie auf Musik zu sein und ginge falsch in Sprache über. Intentionen sind ihr wesentlich, aber nur als intermittierende.«7

Entgegen den unterschiedlichen Versuchen der Musik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das Subjektive und Intentionale aus der Musik zu entfernen, zu denen eben auch der besagte Ansatz des jungen Křeneks gehört, ist Adorno bestrebt, das gänzliche Tilgen von Intentionen aus der Musik als bloß abstrakte Negation zu erweisen, die dem Musikalischen keineswegs gerecht wird, sondern sie gleichsam ins Bedeutungslose aushöhlt.8 Weder also geht es darum, die Musik der Sprache anzuschmiegen, wie es für Adorno bei Wagner paradigmatisch vollzogen wurde,9 noch darum, das sprachliche Moment, das Intentionale aus der Musik abstrakt zu entfernen, sondern vielmehr, dass ein Bedeutendes sich aus der Entwicklung des musikalischen Material selbst, aus ihrem ureigenen Inhalt heraus generiert: »Sollen musikalische Struktur oder Form aber mehr sein als didaktische Schemata, so umfangen sie nicht äußerlich den Inhalt, sondern sind dessen eigene Bestimmung als die eines Geistigen. Sinnvoll heißt Musik, je vollkommener sie derart sich be-

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stimmt – nicht schon, wenn ihre Einzelmomente symbolisch etwas ausdrücken. Ihre Sprachähnlichkeit erfüllt sich, indem sie von der Sprache sich entfernt.«10

Doch was bedeutet dies für die hier gestellte Frage nach narrativen Strukturen in der Musik? Zunächst einmal das bereits in der Einleitung an Mahler Angedeutete, dass für Adorno eine Narration, die dem Musikalischen äußerlich aufgedrängt wird, die Pseudomorphose also, der Eigenbestimmtheit des musikalischen Materials nicht gerecht wird, sondern es gleichsam zu Zwecken instrumentalisiert wird, die ihm nicht angehören. Zugleich aber bedeutet dies nicht in vorschneller abstrakter Negation dem Musikalischen die Fähigkeit zum Narrativen gänzlich abzusprechen insofern ihm ja doch Intentionales und Bedeutendes zukommt. Inwiefern dies Bedeutende auch narrativen Charakter haben kann, wird gleich noch thematisch werden – eindeutig ist vor dem Hintergrund der dargelegten Analysen Adornos, dass ein solches Narratives nur dann dem Musikalischen angemessen ist, wenn es sich aus den eigenen materialen Gehalten der Musik heraus entfaltet, dass es also – um den oben zitierten Satz zu paraphrasieren – nur dort anzutreffen sein wird, wo es der wortsprachlichen Narration am Entferntesten scheint, denn nur in dieser Entfernung als Rückbesinnung auf den eigenen Gehalt des Musikalischen findet das statt, was Adorno als »Konvergenz« zwischen den Kunstformen bezeichnet.

II. K ONVERGENZ »Die Künste konvergieren nur, wo jede ihr immanentes Prinzip rein verfolgt«11, schreibt Adorno in seinem Aufsatz ÜBER EINIGE RELATIONEN ZWISCHEN MUSIK UND MALEREI, in dem er am klarsten und umfangreichsten mit der Möglichkeit eines solchen Konvergierens der Künste auseinandersetzt. In Abgrenzung von den verschiedenen Versuchen einer Annäherung von Musik und Malerei, von der Farbtonmusik bis hin zu Kandinsky,12 die die jeweiligen Kunstformen veräußern, liegt für Adorno die einzige Möglichkeit einer Zuneigung der Kunstformen untereinander im Verbleiben in ihrem eigenen Materialbereich. Bezogen auf die Relation von Musik und Malerei sieht Adorno den Konvergenzpunkt in ihrem jeweiligen Sprachcharakter, wobei er hiermit eben nicht, wie sich ja bereits oben andeutete, die

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Wortsprache meint, sondern das Sprachhafte an der Musik und Malerei im Rahmen ihres je eigenen materialen Bereiches: »Die Konvergenz der Medien wird offenbar durchs Hervortreten ihres Sprachcharakters. Das ist aber das Gegenteil von Sprachgestik, sprechenden Verhalten; von Musik oder Malerei, wofern sie etwas erzählen wollen. Sie sprechen durch ihre Beschaffenheit, nicht dadurch, daß sie sich vortragen; sie sprechen um so deutlicher, je tiefer sie in sich durchgebildet sind, und die Figuren ihres Durchgebildetseins sind ihre Schrift.«13

Doch wo ist dieser Sprachcharakter im Bereich des Musikalischen zu verorten? Wo findest sich ein solches »sprechen durch ihre Beschaffenheit«? Es lassen sich diese Fragen recht gut an Adornos Auseinandersetzung mit den Traditionen untersuchen, die das Sprachliche aus der Musik zu tilgen bestrebt waren. Wie bereits oben kurz angemerkt,14 stellt Adorno in seinen Kranichsteiner Vorlesungen VERS UNE MUSIQUE INFORMELLE die traditionelle Dimension des motivisch-thematischen den neueren Tendenzen in der seriellen Musik gegenüber, die bestrebt waren, die Musik von allem subjektiven Einfluss zu befreien und das Kompositorische aus dem einzelnen Ton als Urelement der Musik hervorgehen zu lassen.15 Nun ist es hierbei keineswegs Adornos Bestreben, in traditionalistischer Manier ein Zurück zum klassischen motivisch-thematischen Komponieren zu fordern, vielmehr klagt er das subjektive Moment gegen die vermeintliche Verobjektivierung der Musik durch die reine Materialbezogenheit der seriellen Musik ein bzw. verweist diese reduktionistische Tendenz darauf, dass ohne ein subjektives Moment kein Zusammenhang zwischen den Tönen sich herstellen könnte wie auch das sogenannte reine Material immer schon durch ein subjekthaftes geschichtliches Element vermittelt sei: »das subjektive Moment in der Kunst ist wahr nur so weit, wie es an den Eigenschaften des Materials sich mißt, die zu ihm als Sprache vermittelt sind. Andererseits ist aber auch das, was wir Material nennen, das Objekt, nicht Natur, sondern diese Natur, mit der wir im Kunstwerk zu tun haben, ist immer bereits so, wie wir sie vor uns haben, durch Subjektivität vermittelt, mit anderen Worten: Es ist Geschichte in ihr niedergeschlagen, und Geschichte ist ja sedimentierte Subjektivität.«16

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Das bedeutet also, dass zunächst in der abstrakten Gegenübersetzung von reinem, objektiven Material und dem subjektiven Moment es das letztere ist, das die Beziehungen in dieses Material setzt und die einzelnen Töne letztlich zum Sprechen bringt, wobei eben die Figuren und Konfigurationen dieser Beziehungen die Schrift sind, in der diese Sprache gesetzt ist. Allerdings ist diese abstrakte Gegenübersetzung insofern verkürzt, als das Material von jenem In-Beziehung-Setzen nicht unberührt bleibt, wie auch die Art der gesetzten Beziehungen von der Beschaffenheit des Materials beeinflusst sind.17 Also erst im beidseitigen Verwiesenseins des objektiven Materials und des subjektiv Kompositorischen, in ihrer konkreten Durchdringung in der Komposition bekommt jenes Sprachliche der Musik seinen manifesten Gehalt. Und in dieser Form erzählt dieses Sprachliche durch die Schrift der unterschiedlichen Figurationen hindurch etwas, das nicht von außen an die Musik herangetragen wurde, sondern sich aus dem Musikalischen selbst erst entfaltet. Allein hier wäre – Adorno folgend – der genuine Ort, um nach einem Narrativen in der Musik zu suchen, da allein hier sie ihre ureigene Sprache spricht. Das musikalische Narrativ entfaltet sich somit in der kompositorischen Durchbildung der musikalischen Figurationen und nur in dieser Weise kann es mit einem wortsprachlichen Sinn konvergieren, wobei ein Verständnis der musikalischen Narration letztlich wiederum auf das Musikalische verwiesen ist, das kein Verständnis im Sinne eines Textverständnisses liefern kann, ohne sich wiederum zu verlassen. Die Musik »teilt mit aller Kunst den Rätselcharakter, etwas zu sagen, das man versteht und doch nicht versteht. Bei keiner Kunst läßt sich festnageln, was sie sagt, und dennoch sagt sie.«18 Ein interpretierendes Verstehen, das sich im Felde der Literatur an den Text halten und dessen Sprache verstehen kann, ist – nach Adornos berühmten Satz – immer in die musikalische Praxis gestellt: »Sprache interpretieren heißt: Sprache verstehen; Musik interpretieren: Musik machen.«19 Der geschilderte Weg von der Behauptung einer reinen Materialhaftigkeit zur Durchdringung desselben mit dem subjektiv-kompositorischen Moment in der Komposition, in deren Sprachcharakter eine Konvergenz mit dem wortsprachlichen Narrativ sich vollziehen kann, ist aber nur ein Weg, sich positiv dem Problem der musikalischen Narration zuzuwenden. Ein zweiter Weg richtet sich auf den dramaturgischen Charakter von Musik im Felde von Oper und Film und geht von der Wortsprache aus und führt in die musikalische zurück, was nun im Folgenden exemplarisch an Adornos

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Auseinandersetzung mit Alban Bergs WOZZECK sowie an Adornos Reflexionen zur Filmmusik dargestellt werden soll.

III. D RAMATURGIE Das Verhältnis von Narration und Musik stellt sich ganz unmittelbar, wenn ein Komponist direkt mit einem dramatischen Stoff konfrontiert ist und ihm eine musikalische Sprache verleihen soll. Dies ist insbesondere bei Oper und Film der Fall, da in beiden Formen die Erzählung wortsprachlich vorliegt und der Komponist sich musikalisch zu dieser zu verhalten hat. Zentral ist für Adorno in diesem Zusammenhang, dass die Musik nicht nur auf eine bloße Funktion im Sinne der Produktion von Hintergrundstimmungen zum Erzählverlauf reduziert werden darf, sondern auch in diesem Zusammenhang ihre eigene Sprache finden muss. Das bedeutet, dass die Musik nicht lediglich zur Kulisse degradiert werden darf, sondern eine eigene Art von Erzählung, eine eigenständige Positionierung zum Stoff einnehmen muss, die dann in der musikalischen Sprache ausgeführt bzw. erzählt wird. Paradigmatisch für eine gelungene Umsetzung dieses Anspruches im Bereich der Oper war für Adorno offenbar Alban Bergs WOZZECK, wenn er über ihn schreibt: »Der WOZZECK ist, ausgehend von den Impulsen der Hauptfiguren, in welche die Musik sich einfühlt, ein Musikdrama; er weist aber zugleich über die Form, die er mit einer selbst bereits weit zurückliegenden Dichtung zum letzten Mal erglühen macht, hinaus, indem er den Worten treuer sich anschmiegt, als es je zuvor geschah. Die unbeschreibliche Konkretion, mit der die krausen Kurven der Dichtung von der Musik nachgezeichnet werden, verhilft zu jener Differenziertheit und Vielgestaltigkeit, die ihr dann wiederum eine autonome Kompositionsstruktur zueignet, wie sie dem früheren musikalischen Drama fremd war. Weil, grob gesprochen, nicht eine Wendung in der gesamten Partitur steht, die nicht ihren strikten literarischen Bezug hätte, gelingt, anstelle von veroperter Literatur, ein bis in die letzte Note befreites, durchartikuliertes und zugleich beredtes musikalisches Gebilde.«20

Was an dieser Passage überdeutlich wird, ist die dialektische Struktur, dass eine eigenständige, »befreite« musikalische Entwicklung nicht durch eine grundsätzliche Entfernung von der literarischen Vorlage erreicht werden

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kann, sondern die Emanzipation des Musikalischen gerade in der intensiven Hingabe an das dichterische Werk zum Tragen kommt, insofern es in der eigenen Sprache des Musikalischen nachgezeichnet wird und also eine echte Dramaturgie der Musik in ihrem eigenen Felde darstellt. In einer »veroperten Dichtung« hingegen würde die Musik lediglich ein Beiherklingendes sein, dem lediglich die Funktion zukommt, das Dichterische mit Stimmungen und Effekten zu umrahmen bzw. zu untermalen,21 womit der Musik jede Eigenständigkeit genommen wird, weil sie sich in heteronomer Weise dem Text andient. Zugleich ist der Wozzeck für Adorno nicht eine bloße Verdoppelung der Büchnerschen Dichtung im Felde musikalischer Sprache, sondern »eine Art Interlinearversion ihres Textes. Sie legt nicht die Gefühle der Menschen bloß aus, sondern trachtet, von sich aus einzuholen, was die hundert Jahre an den Büchnerschen Szenen vollbrachten, die Verwandlung eines realistischen Entwurfs in ein von Verborgenem Knisterndes, darin jegliches Ausgesparte des Wortes ein Mehr an Gehalt verbürgt. Dies Mehr an Gehalt, die Ausgesparte offenbar zu machen – dafür ist die Musik im Wozzeck da.«22

Dieses »Ausgesparte« der Dichtung, diesen »Hohlraum«23, wie es Adorno an anderer Stelle bezeichnet, zu erfüllen, führt die musikalische Dramaturgie über die szenische hinaus, was es vermeidet, die Musik auf ein bloßes Reproduktionsmedium zu beschränken. Sehr plastisch schildert Adorno diese Mehrdimensionalität der musikalischen Dramaturgie am Zwischenspiel zwischen der zweiten und dritten Szene des ersten Aktes des WOZZECKS: »Kraß sinnfällig ist die militärische Atmosphäre in dem Zwischenspiel nach der Feldszene, mit der fernen, von einer Klarinette entwirklichten Fanfare und dem anschließenden, absichtsvoll rüden Marsch. An diesen Stellen wird man am genauesten dessen sich versichern können, wie sehr das atmosphärische Moment bei Berg, wenn anders man bei Kunstwerken so simpel reden darf, mit einem sozialkritischen verschmolzen ist. Der Marsch ist gleichsam aus dem Gehörwinkel Wozzecks komponiert, irr verzerrt, drohender Ausdruck von Gewalt. Aufgeladen mit der schreckhaften subjektiven Erfahrung einer solchen Militärmusik, hat der Marsch etwas vom sehr konkreten Protest gegen die Unterdrückung, die im Marsch Klang wird.«24

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Dieses Zwischenspiel, das die Szene auf dem Feld, bei der sich Wozzeck mit seinem Kameraden Andres unterhält (wobei dieser ihm mit einem Jägerlied seine negative Sicht des Menschen austreiben möchte), mit der dritten Szene, die mit einem Militäraufmarsch beginnt, verbindet, hat somit mehrere Schichten: einmal (auf der Oberfläche) ist es eine Überleitung zum Militäraufmarsch der nächsten Szene; zugleich ist sie aufgrund der kompositorischen Gestaltung »aus dem Gehörwinkel Wozzecks« eine Erhaltung des Themas aus der zweiten Szene, insofern der verzerrte, kreischende Klang Wozzecks eigene Erfahrung sowie seine Gefühlssituation reflektiert; schließlich liegt in dieser Sicht auch eine sozial-historische Positionierung gegen Krieg und Unterdrückung, was vor dem Hintergrund der Entstehungszeit des Wozzecks (1915–1921) klare Züge annimmt, insofern der schmerzhafte Wahnsinn Wozzecks hier zum kritischen Sinnbild der historischen Erfahrung des ersten Weltkriegs aufscheint. Diese Mehrschichtigkeit ist nun allerdings durch rein kompositorische Mittel umgesetzt, spricht sich rein aus der musikalischen Sprache aus, wobei die Passung zum Text zugleich erhalten bleibt. Die Bezeichnung von Bergs WOZZECK als »paradigmatisch« für eine nach Adorno gelungene Form musikalischer Dramaturgie wurde deshalb gewählt, weil die Auseinandersetzung Adornos mit einer anderen dramaturgischen Funktion der Musik, nämlich der im Film, sich nach diesem Paradigma zu richten scheint, auch wenn eine grundlegende Differenz den Film von der Oper trennt, wie es Adorno in seinem gemeinsam mit Hans Eisler25 publizierten Buch KOMPOSITIONEN FÜR DEN FILM ausführt: »Den Primat des Ganzen in der Filmmusik realisieren, heißt also nicht – nach Analogie gewisser Tendenzen der zeitgenössischen Oper, bei Berg und bei Hindemith –, Formen der absoluten Musik übernehmen und auf Biegen und Brechen mit dem Bildstreifen zusammenbringen, sondern gerade umgekehrt, ganze Formstrukturen nach den besonderen Anforderungen der je zugrunde liegenden Sequenz konstruieren und dann ›erfüllen‹. Gute Filmmusik ist prinzipiell antiformalistisch.«26

Diese Differenz hängt selbstredend damit zusammen, dass im Film, und im Tonfilm zumal, kein durchgängiger musikalischer Verlauf gestaltet werden kann, sondern es besteht »die Notwendigkeit kurzer musikalischer Formen, die mit der Kürze der Bildsequenzen zusammenhängt.«27 Hinzu kommt, dass gemäß des besagten Paradigmas der geforderten Eigenständigkeit des

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Musikalischen dieses nicht zu einem bloßen Hintergrundgeräusch bzw. zur akustischen Kulisse verkommen darf. Wird die Musik jedoch in ihrer eigenständigen Sprache ernst genommen, dann stört sie notwendigerweise die gesprochenen Dialoge des Films, die dann besser mit einem entsprechenden Geräusch untermalt wären.28 Trotz dieser Differenzen zwischen Oper und Film bleibt für Adorno ein paradigmatischer Anspruch an die Musik auch im Film ungebrochen bestehen, dass die Musik dem Bild fest verbunden sein muss, und zwar in ihrem eigenen Materialbereich: »zwischen Bild und Musik muß eine Beziehung bestehen. Werden Schweigen, tote Momente, Spannungssekunden oder was immer es sei mit einer gleichgültigen oder ungebrochen heterogenen Musik ausgefüllt, so entsteht Unfug. Musik und Bild müssen, sei es auch noch so vermittelt und antithetisch, einschnappen. Die Grundforderung der musikalischen Konzeption im Film ist, daß die spezifische Beschaffenheit der Sequenz die spezifische Beschaffenheit der Musik – oder im umgekehrten, heute freilich meist hypothetischen Falle, die spezifische Musik das spezifische Bild – bestimme. Das präzise Hinzuerfinden von Musik ist der eigentliche ›Einfall‹ des Filmkomponisten; Beziehungslosigkeit die Kardinalsünde.«29

In dieser festen Beziehung zwischen Musik und Bild erzählt die Musik somit auf ihre Weise mit, auch wenn sich die musikalische Erzählung nur auf kurze Sequenzen beziehen kann, da sich die gesamte Erzählung des Films aus genannten Gründen musikalisch nicht einfangen lassen kann.30 Das musikalische Narrativ im Rahmen des Films bleibt deshalb auch immer nur eine erzählerische Miniatur.

IV. Abschließend sei noch angemerkt, dass eine Spurensuch bei Adorno fast selbstverständlich in der Hauptsache auf die ernste Musik beschränkt bleibt, auch wenn mit der Filmmusik die Unterhaltungsmusik zumindest berührt wurde. Trotzdem sei zum Schluss noch kurz bei der Popularmusik verweilt, da zumindest im Ansatz für Adorno auch hier das dramaturgische Paradigma einschlägig zu sein scheint, wenn er in seiner bekannten Joan-BaezKritik (auch wenn sie nicht explizit genannt wird) sagt:

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»wenn also dann irgendjemand sich hinstellt, und auf eine im Grunde doch schnulzenhafte Musik dann irgendwelche Dinge darüber singt, dass Vietnam nicht zu ertragen sei, dann finde ich, dass gerade dieser Song nicht zu ertragen ist, weil er, indem er das Entsetzliche noch irgendwie konsumierbar macht, schließlich auch daraus noch etwas wie Konsumqualitäten herauspresst.«31

Vergleicht man Protest-Songs der genannten Art etwa mit anderen musikalischen Umsetzungen des gleichen Themas, also etwa mit MACHINE GUN oder STAR SPANGLED BANNER von Jimi Hendrix, dann wird sehr schnell deutlich, inwieweit ein musikalisches Narrativ auch in der Popularmusik angemessen sein kann wie auch Adorno dahingehend recht gegeben werden kann, dass ein Song über Vietnam, in dem die Musik lediglich ein schnulziges Beiherspiel darstellt, der Eigenständigkeit des Musikalischen nicht gerecht wird. Dass jedoch nur im autonomen Bereich der Musik ein musikalisches Narrativ seine Sprache finden kann, sollte diese Spurensuch

zeigen.

A NMERKUNGEN 1 Adorno, Theodor W.: »Mahler. Eine musikalische Physiognomik«, in: ders., Die musikalischen Monographien, Gesammelte Schriften Bd. 13, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1986, S. 149-319, hier S. 209. 2 Ebd. 3 Adorno, Theodor W.: »Über einige Relationen zwischen Musik und Malerei«, in: ders., Musikalische Schriften I-III, Gesammelte Schriften Bd. 16, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1978, S. 628642, hier S. 629. 4 Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik, Gesammelte Schriften Bd. 16, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1975, S. 7-206, hier S. 121. 5 Adorno, Theodor W.: »Musik, Sprache und ihr Verhältnis im gegenwärtigen Komponieren«, in: ders., Musikalische Schriften I-III, Gesammelte Schriften Bd. 16, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1978, S. 649-664, hier S. 649. 6 Ebd.

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7 Ebd., S. 650. 8 Vgl. hierzu ebd., S. 657 ff. – Dies ist auch der zentrale Punkt, den Adorno den jungen Komponisten bei seinen Kranichsteiner Vorlesungen VERS UNE MUSIQUE INFORMELLE (1961) mit einem Rückverweis auf Schönberg nahelegen wollte: »Der Gedanke, daß die Töne an sich bereits etwas bedeuten oder daß die Töne an sich bereits Komposition sein könnten, der war Schönberg vollkommen fremd, und wenn es etwas gibt, worin Schönberg tatsächlich ganz und gar der traditionellen Musik angehört, dann in diesem Punkt.« Adorno, Theodor W.: »Vers une musique informelle« (1. Vorlesung), in: ders., Kranichsteiner Vorlesungen, Berlin 2014, S. 383-414, hier S. 398. 9 »Die Allergie gegen das sprachliche Element der Musik ist historisch nicht zu trennen von der Abkehr von Wagner. […] In der Tat hat Wagner nicht bloß durch die radikale Forderung nach sprachgerechter Deklamation des Gesangs die Vokalmusik unvergleichlich viel enger, und zwar auf mimetische Weise, an die Sprache angeschmiegt, als je zuvor der Fall war, sondern er hat die musikalische Faktur selber dem Sprachgestus bis zur Überdeutlichkeit angenähert.« Adorno (wie Anm. 5), S. 660. 10 Ebd., S. 654. 11 Adorno (wie Anm. 3), S. 629. 12 Vgl. ebd., S. 636 f. 13 Ebd., S. 634. 14 Vgl. Anm. 8. 15 Adorno (wie Anm. 8), insb. S. 397ff. 16 Ebd., S. 422. 17 »Nun, die Hauptkonsequenz aber aus diesem Materialbegriff, wie ich ihn Ihnen eben umrissen habe, wäre die, daß er nicht statisch ist, und das bedeutet, daß der Begriff des Materialgerechten, den ich zunächst positiv aufgenommen habe, keine bloß passive Anmessung ist, sondern das Material selber wird durch die Komposition verändert. Es gibt kein Material, das nicht aus der Komposition, aus der gelungenen Komposition, in die es eingegangen wäre, als ein verändertes wieder hervortreten würde, und das Geheimnis der Komposition ist eigentlich eben die Kraft, daß das Material im Prozeß der fortschreitenden Adäquanz verändert wird. Es wird das Material ebenso durch das Komponierte

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verändert, wie das Komponierte durch das Material verändert wird.« Ebd., S. 438f. Adorno (wie Anm. 5), S. 660. Ebd., S. 651. Adorno, Theodor W.: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Frankfurt am Main 1975, S. 95. – Vgl. zu Adornos Rezeption des WOZZECK Adorno, Theodor W.: »Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs«, in: ders., Die musikalischen Monographien, Gesammelte Schriften Bd. 14, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1986, S. 321-494, hier S. 428 ff.; ders.: »Alban Berg: Oper und Moderne«, in: ders., Musikalische Schriften V, Gesammelte Schriften Bd. 18, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1984, S. 650-672, insb. S. 659ff. »Denn im gegenwärtigen Theater für Opernhäuser tendiert Musik immer mehr zur Begleitmusik filmischen Wesens, zur Radiohörkulisse, zur bloßen Untermalung. Im Wozzeck dagegen, wo die Musik den Text gänzlich absorbiert, wird sie zur Hauptsache, und alle Konzentration, die der Aufführung wie die des Hörens, sollte ihr gelten.« Adorno, Theodor W.: »Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs«, in: ders., Die musikalischen Monographien, Gesammelte Schriften Bd. 14, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1986, S. 321-494, hier S. 433. Ebd., S. 429. »Das gleichsam mehrstöckige Drama destilliert aus der Sprache der klinischen Psychologie eines Verfolgungswahnsinnigen eine objektive Bilderwelt; wo die irren Phantasien umschlagen ins entronnene dichterische Wort, bergen sie in sich einen Hohlraum. Er harrt auf die Musik, welche die psychologische Schicht unter sich läßt. Berg hat ihn mit untrüglicher Sicherheit erkannt und besetzt.« Adorno (1975, wie Anm. 20), S. 95. Adorno (1984, wie Anm. 20), S. 661. Eisler schrieb allerdings lediglich das erste und einen Teil des siebten Kapitels des Buches, während der Rest Adornos Handschrift trägt. – Vgl. hierzu die »Editorische Nachbemerkung« in Adorno, Theodor W.: Kompositionen für den Film. Der getreue Korrepetitor, Gesammelte Schriften Bd. 15, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main, S. 406.

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26 Adorno, Theodor W./Eisler, Hans: »Kompositionen für den Film«, in: Adorno (wie Anm. 25), S. 93. 27 Ebd., S. 90. 28 »Bei verantwortlicher Planung wären in vielen Fällen gut disponierte Geräuschstreifen der Musik vorzuziehen. Das gilt insbesondere für Hintergrundwirkungen (background music) bei gleichzeitigem Dialog. Es widerstreitet dem Wesen artikulierter, aufgeführter und auf entsprechende Wahrnehmung angelegter Musik, als bloße Kulisse zu fungieren. Entweder sie bleibt Musik: dann lenkt sie ab. Oder sie nähert sich selber dem Geräusch an: dann wird der Schein des Musikalischen überflüssig sein.« Ebd., S. 98. 29 Ebd., S. 70. 30 »Die Existenz eines solchen ›Großrhythmus‹ [Kurt London – D.S.] des Films ist fraglos, obgleich die Rede davon leicht in dilettantisches Seelentum abgleitet. Der ›Großrhythmus‹ ergibt sich aus der Zusammensetzung und Proportion der Formelemente, nicht ganz unähnlich musikalischen Verhältnissen. […] Aber diese großrhythmische Struktur von Filmen ist weder komplementär zur musikalischen noch ihr parallel: sie läßt als solche sich überhaupt nicht in eine musikalische umsetzen.« Ebd., S. 69f. 31 Theodor W. Adorno in einem Interview, http://youtu.be/Xd7Fhaji8ow (Abruf am 9. Januar 2015).

Im Spannungsfeld von Musik, Erzählung, Biographie und Fiktion Erzählinstanzen in Alban Bergs LYRISCHER SUITE

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»Goldchen, wie soll ich das alles erzählen?«1 Beinahe floskelhaft klingt die Eingangsfrage, mit der Alban Berg einen Brief an seine Ehefrau Helene beginnt. Weit tiefgründiger erscheinen seine Worte, wenn der Kontext dieser Zeilen beachtet wird: Alban Berg schreibt sie 1925 aus Prag, wo er Unterkunft im Hause des Prager Industriellen Herbert Fuchs-Robettin gefunden hat. Wenige Stunden zuvor hat er dort Hanna Fuchs, die er später als »Unsterblich-Geliebte«2 bezeichnen und der er mit der LYRISCHEN SUITE FÜR STREICHQUARTETT ein »kleines Denkmal [...] einer großen Liebe«3 setzen wird, kennen gelernt. Bergs Frage erhält vor diesem Hintergrund eine andere Fokussierung: Ungleich schwerer wiegt nun das Unausgesprochene. Das Verschwiegene erhält zudem bei Berg, der, wie Adorno konstatierte, einen Hang zur »unendlichen Geheimniskrämerei«4 aufwies und dem sein Freund Soma Morgenstern eine große Freude am »Daigetzen«5, einer Art der Geschwätzigkeit, attestierte, eine weitere Komponente, die den Schwerpunkt auf den Komponisten, seine Art, sich auszudrücken, legt. Ein Mittel der Kommunikation, das Erzählen, wird in der Brieferöffnung sogleich manifestiert. Im Hinblick auf die LYRISCHE SUITE wird deutlich, dass dieser Wille zum Erzählen bei Berg über die Sprache hinaus in die Musik hineinreicht. Ohne die Frage nach musikalischer Narrativität in der Musik vorschnell oder gar abschließend beantworten zu wollen6, fällt dennoch auf, dass insbesondere im Falle Bergs eine besondere Disposition zum Erzählerischen gegeben ist,

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die durch seinen biographischen Hintergrund Unterstützung erfährt. So entstammt er einer literarisch, musikalisch und künstlerisch sehr gebildeten Familie, die sich im Besitz einer »ausgezeichneten Bibliothek«7 befand. Bergs große Liebe zur Literatur und zur Sprache zeigt sich schon früh und verbindet sich mit dem Wunsch, einmal Dichter zu werden. Aus seinen Jugendjahren finden sich Zeugnisse seiner eigenen literarischen Tätigkeit – so verfasst er Gedichte und kleine Dramen.8 Später zeigt sich sein erzählerisches Talent beispielsweise in unzähligen Briefen – etwa an seine Frau, an seine Familie und an seine Freunde – und in den Bearbeitungen der Opernlibretti von WOZZECK und LULU.9 Umso naheliegender scheint also die Annahme, dass diese Begabung auf Bergs kompositorische Aktivitäten Einfluss genommen haben könnte. Auch seine Neigung zur Selbstdarstellung und zur »Literarisierung seines Lebens«10 scheint für eine fruchtbare Diskussion des Narrativen in Bergs Musik prädestiniert. Dennoch sind diese Zuschreibungen kritisch zu hinterfragen und in puncto narrativer Analyse nur bedingt nutzbar. Vielmehr gilt hier der Grundsatz, nicht allein literaturwissenschaftliche und strukturalistisch geprägte Methoden – wie es häufig Usus ist11 – per Analogiebildung auf die Musik zu übertragen, sondern von der Musik selbst aus zu argumentieren. Auch die biographische Komponente, die in der Musikwissenschaft und der Narrativitätsforschung immer wieder in wechselndem Diskurs positioniert und bewertet wird, darf hier nicht außer Acht gelassen werden. An dieser Stelle soll die Person des (musikalischen) Erzählers in den Fokus rücken, ergeben sich doch gerade im Falle Bergs dadurch diverse gewinnbringende Ansätze, denen im Folgenden nachgegangen werden soll. Wer ist der Erzähler? Verschiedenste Antworten auf diese Frage sind denkbar: Der Komponist, der seine Musik als eine Art narratives »Sprachrohr« für seine Geschichten nutzt, könnte ebenso wie der Interpret oder sogar der Rezipient – der das Werk hörend oder lesend wahrnimmt – zum Erzähler einer musikalischen Geschichte werden, wobei jede Antwortmöglichkeit die nachfolgende musiko-narratologische Interpretation beeinflussen würde und müsste. Zentral in einem musikwissenschaftlichen Kontext ist auch die Darstellung des Erzählers: Ist er dem Notentext bzw. der Musik als »Figur« eingeschrieben, kann man von einem »impliziten Erzähler« ausgehen? Und schließlich: Findet sich in einem musikalischen Werk überhaupt narratives »Personal«, also in die Geschichte eingebundene Personen oder Figuren, und welche Erzählinstanzen weist eine musikalische Narration auf?

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Viel diskutiert in der (musikologisch-)narrativen Theoriebildung ist die Stellung sowie die Definition des Autors und der beteiligten Personen und Figuren im Erzählprozess.12 Ausgehend vom spezifischen Fall, der Untersuchung der LYRISCHEN SUITE von Alban Berg, soll postuliert werden, dass ein aus mehreren Instanzen zusammengesetztes Beziehungsgeflecht Narrativität generiert. Bei diesen Instanzen handelt es sich um den Autor (oder Komponisten), den Erzähler (der nicht zwingend mit dem Autor gleichzusetzen ist und bei dem es sich um eine fiktive Figur oder eine reale Person handeln kann), narratives »Personal« sowie mindestens ein (fiktiver oder realer) Adressat. Inwieweit die etablierten narrativen Instanzen auf musikalisches Erzählen übertragbar sind, wird im Folgenden diskutiert. Die 1925/26 entstandene LYRISCHE SUITE für Streichquartett wird hier also unter der besonderen Beachtung der Erzählinstanzen in den Fokus genommen, um neben einer Annäherung an Bergs meistrezipiertes Werk auch einen erweiterten Zugang zu musikalischer Narrativität zu gewinnen.

D ER A UTOR Der Autor oder Komponist ist der intellektuelle Schöpfer und Urheber eines (Noten-)Textes, der im Sinne eines übergreifenden anthropologischen Verständnisses als Mittel des persönlichen, kollektiven und kulturellen Ausdrucks einem kommunikativen Zweck dient.13 Er trägt die Verantwortung für seinen (Noten-)Text und seine Musik, er bestimmt die kommunikative Intention14 und schließlich auch die Form der Erzählung. Die Definition eines Autors oder auch Komponisten ist dabei noch weiter gefasst:15 Er ist im sozio-kulturellen Kontext ein Vermittler von Handlungen, durch ihn werden spezifische kulturell-relevante Konzepte von Autorschaft entwickelt. Er ist die verbindende Instanz innerhalb der Beziehungen eines Werkes (Œuvres), fungiert als Referenzwert bei Epochen- oder Kanonzuschreibungen und bildet nicht zuletzt auch eine Vergleichsgröße für die Wertung und Bedeutung, die einem Werk zugesprochen wird.16 In gängigen musikonarratologischen Theorien wird der Komponist als zentral wahrgenommen: Er ist der Ton-Schöpfer und Urheber möglicher Narrativität im untersuchten Werk. Eine entsprechend starke Gewichtung wird darum der historischen Kontextualisierung des Komponisten zugesprochen sowie dem »Programm«, das seiner Musik zugrunde liegen kann. Andererseits wird in eini-

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gen Theoriekonzepten jedoch die Funktion des Komponisten geschwächt, indem der Erzählvorgang beispielsweise an den Interpreten weitergegeben17 oder erst durch den Einbezug des Rezipienten als solcher gedeutet werden kann.18 Die Bedeutung des Komponisten und seines historischen Umfeldes beschränkt sich in der Betrachtung eines möglichen Zusammenhangs mit (musikalischer) Narrativität häufig darauf, die Beschäftigung mit ihr überhaupt zu rechtfertigen.19 Nimmt man den Autor jedoch als Erzählinstanz ernst, so müssen in einem ersten Schritt seine Voraussetzungen und Hintergründe beleuchtet werden. Die Frage nach musikalischer Narrativität in der Musik Alban Bergs ist eng mit den ästhetischen Überzeugungen der Zweiten Wiener Schule verbunden. Diese nimmt dabei einen Standpunkt ein, der von zwei Seiten, nämlich sowohl vom musikalischen Verständnis Hanslicks20 als auch Wagners beeinflusst ist, womit die Frage nach einer musikalischen Narrativität Berechtigung erhält: Die neue Musik der zweiten Wiener Schule entsteht durch einen »Traditionsbruch vorwärts«21, durch den Wunsch, »eine uneingeschränkte musikalische Sprache«22 zu entwickeln. In diesem »Vorwärts«Denken bleibt die musikalische Tradition dennoch gewahrt – worauf Schönberg immer wieder (beispielsweise durch die Erklärung, er sei ein »Schüler Mozarts«23) hinweist. Vielmehr wird das »der Moderne innewohnende Fortschrittsprinzip von einem kontinuierlichen zu einem diskontinuierlichen verschärft und durch Umwälzungen in den Bereichen Harmonik, Rhythmik, Klangfarbe und Form«24 in den jeweiligen Teilbereichen erneuert. Diese Rückbesinnung auf die musikalische Tradition bei gleichzeitiger Fortschrittsattitüde markiert das Spannungsfeld der beiden Pole des Musikverständnisses, das in den 1920er Jahren – in denen auch die LYRISCHE SUITE entstand – einen weiteren »Extrempunkt« durch »mannigfache Maßnahmen von Konstruktivität«25 erreicht. In Orientierung an klassischen Mustern und »in Nachfolge der Wiener Klassiker«26 wird nun innerhalb der klassizistischen Moderne und damit in enger Anlehnung an die von Hanslick vertretene Ästhetik nach neuen Wegen gesucht. Innerhalb der Wiener Schule nimmt gerade Berg mit seiner Literaturoper WOZZECK eine herausragende Stellung ein, die durch die Suche nach seinem ureigensten »Ton«27 und neuen Mitteln, welche die Tonalität ersetzen oder ausgleichen können, geprägt ist, und die er schließlich im Aufbau und der Symmetrie des Dramas und der Wiederentdeckung »alter« Formen findet. Zudem wird Berg spätestens mit der Drucklegung von WOZZECK 1925 als etablierter Komponist – und nicht nur als Schönberg-

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Schüler – betrachtet. Im selben Jahr entsteht auch seine erste rein dodekaphone Komposition, das Storm-Lied SCHLIEßE MIR DIE AUGEN BEIDE, das Berg Hertzka zum 25jährigen Bestehen der Universal Edition widmet.28 Diese Faktoren beeinflussen die LYRISCHE SUITE: In ihr bildet sich die Suche nach neuen musikalischen Mitteln und Formen – auch unter Verwendung der Dodekaphonie – ab. Zudem zeugt sie von Bergs durch WOZZECK erlangtem Selbstvertrauen, das ihn aus dem Schatten seines Lehrers heraustreten und ihn, auf der Suche nach seinem ureigensten »Ton«, immer neue Wege sowohl durch ein Vorausstreben als auch durch eine Rückwendung zur musikalischen »Tradition« beschreiten lässt.

D IE A DRESSATEN Mit den Adressaten – gemeint sind Leser, Hörer, das »Publikum« – einer (musikalischen) Narration ist eine weitere entscheidende Instanz benannt: Die Adressaten sind die vom Autor oder Komponisten intendierten »reader, [...] decoder, decipherer, interpreter of written (narrative) texts or, more generally, of any text in the broad sense of signifying matter«29, wie Gerald Prince ausführt. Unterschieden werden dabei reale und fiktive Adressaten wie auch intra- und extradiegetische Rezipienten.30 Prince differenziert zudem reale, konkrete Leser und eine eher abstrakte (fiktive) Leserschaft, die u.a. den »idealen« Leser eines Autors darstellt, der grundsätzlich die Texte des Autors billigt, zu schätzen weiß und vor allem: seine Intentionen versteht.31 Als aktive »Empfänger« und Rezipienten innerhalb eines Kommunikationsprozesses32 können etwa die von Michael Riffaterre33, Stanley Fish34 und Jonathan Culler35 beschriebenen Leser verstanden werden, die in einen kreativen Prozess, einen Akt der Kommunikation mit dem Autor36, der über den Text möglich wird, einsteigen. Die genannten Modelle könnten dabei in weiten Teilen durchaus auch auf die Musik und einen idealen Hörer übertragbar sein. Der fiktive Adressat (und damit auch der fiktive Leser oder Hörer) »ist nichts anderes als das Schema der Erwartungen und Vorannahmen des Erzählers [des Autors oder des Komponisten]«37 und kann explizit – durch deutliche Anrede innerhalb der Erzählung – oder implizit gestaltet werden. Wie in der literaturwissenschaftlichen Theorie38 wird auch in musiko-narratologischen Modellen grundsätzlich (sowohl der fiktive als auch der reale) Rezipient als »Gegenüber« des Erzählers (weni-

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ger des Komponisten) als immanenter Bestandteil des Erzählvorganges verstanden.39 Herausragend aufgrund des Einbezugs des Adressaten ist Peter J. Rabinowitz rezipientenabhängiges Modell der »rhetorical narrative theory«40, das darauf basiert, dass »[…] literary and musical conventions lie as much in readers and listeners as in texts«.41 Ähnliche Ausgangspunkte proklamieren beispielsweise auch Vincent Meelberg42, Werner Wolf43 und John Neubauer44. Sie gehen davon aus, dass letztlich erst der Adressat die Erzählung als solche interpretieren und der Musik einen narrativen Grad zusprechen kann. Welche Adressaten nun finden sich in der LYRISCHEN SUITE? Naheliegend sind zunächst zum einen der offizielle Widmungsträger des Werkes, also Alexander Zemlinsky, zum anderen die geheime Widmungsträgerin Hanna Fuchs. Beide, sowohl Zemlinsky als auch Fuchs, werden von Berg in der LYRISCHEN SUITE explizit benannt, mit beiden tritt er durch seine Musik in eine Form der Kommunikation ein. Diese erfolgt in beiden Fällen auf zweierlei Weise: zum einen in der Musik selbst, zum anderen durch quasi begleitende Briefe. Der Briefwechsel zwischen Zemlinsky und Berg soll an dieser Stelle nur flüchtig skizziert werden: Der erste Brief vom 8. November 1926 zeugt zunächst von der großen Freude Zemlinskys über die Widmung.45 Zwei Monate später schreibt Zemlinsky – noch bevor er das Werk gehört oder die Partitur vor Augen gehabt hat46 – über »eine gewisse Vorstellung«, die er sich von der LYRISCHEN SUITE bereits gemacht habe47, schließlich gibt er, ohne näher auf seine zuvor geäußerten Erwartungen einzugehen eine Rückmeldung48 nach dem ersten Höreindruck, und drückt seine Freude über ein aus seiner LYRISCHEN SYMPHONIE entnommenes Zitat im 4. Satz aus, um sich Ende August dann für die erhaltene Partitur zu bedanken.49 Die Briefe, insbesondere der vom 8. Januar 1920, der die Hörerwartung Zemlinskys – vor allem das »Lyrische«50 betreffend – dokumentiert, machen deutlich, wie schon vor dem ersten Hören oder einem Studium der Partitur die Musik mit (vorläufig nur vorgestelltem) Inhalt »gefüllt« wird, was den Theorien Rabinowitzs, Meelbergs, Wolfs oder auch Neubauers von einem (voraus-)wissenden, damit ideal zu nennenden Leser konform geht. Das reale Hören offenbart Zemlinsky schließlich mit dem Zitat ein inhaltliches Moment – ob dieses für ihn als Adressat narrativ war, kann nicht entschieden werden, der textliche Inhalt des Zitates »Du bist mein eigen, mein eigen«, legt es aber nahe. Ob jedoch und inwiefern seine Erwartungen erfüllt wurden, ob Zemlinsky auch andere Zitate und mögli-

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che narrative Spuren hörend erkannte51 oder später beim Studium der Partitur entdeckte, geht aus dem Briefwechsel nicht hervor. Die Kommunikation mit Hanna Fuchs ist hinsichtlich einer narrativen Deutung der LYRISCHEN SUITE zentral, so präsentiert Berg seiner Geliebten das Werk als Erzählung und erst dadurch wird eine eindeutige musikalischnarrative Zuschreibung überhaupt möglich. Sowohl zahlreiche Briefe als auch die annotierte Partitur zeugen von Bergs Bemühen, Hanna diese musikalische Narration evident zu machen, sie von ihr zu überzeugen. Der Inhalt der Briefe wurde in der Forschung bereits breit besprochen,52 so dass hier nur wenige Stellen beispielhaft knapp umrissen seien: Schon der erste Brief, in dem Alban Hanna über das geplante, noch titellose Werk unterrichtet, betont die kommunikative Absicht Bergs: »Das wären vier Sätze! Wenn mir Gott die Kraft gibt, sie zu schreiben, so ist das ja auch nichts anderes als ein Mittel, mich mit Dir in Verbindung zu setzen«.53 Auch das narrative Programm (»Im Rahmen dieser vier Sätze soll sich alles abspielen, was ich seit dem Moment, wo ich Euer Haus betrat, durchmachte«54) erläutert Berg schon hier. Ein weiterer Brief, den Berg in Hinblick auf die in Prag (ohne sein Beisein) stattfindende Uraufführung der LYRISCHEN SUITE verfasst, verleiht ebenfalls seinem Wunsch Ausdruck, die Musik für Hanna Fuchs mit Inhalt, mit Sprache, mit Erzählung zu füllen: »Wird die Musik [...] so stark sein, daß sie zu Dir dennoch spricht, und so stark und eindeutig, spricht als sie gedacht ist. Gedacht als ein Bekenntnis [...] unseres Liebe-Erlebens!«55 Berg führt in den folgenden Absätzen für seine Geliebte zudem das Programm seiner LYRISCHEN SUITE detaillierter aus: Er beschreibt Hanna Fuchs die verschiedenen Sätze und die von ihm intendierten Inhalte, verschriftlicht vieles, was er später auch in die annotierte Partitur eintragen wird, skizziert sogar einige Notenbeispiele und gibt ihr mit seinen Erläuterungen einen Leitfaden, der nicht nur seine Liebe erklären, sondern auch ihr Hören (bei der Uraufführung in Prag) lenken soll.56 Anhand dieser wenigen Beispiele wird deutlich, dass Hanna Fuchs für Berg zu einer »idealen« Leserin und Hörerin wird. Seine Briefe an sie, ebenso wie die annotierte Partitur, erhalten so eine Doppelfunktion: Sie sind nicht alleine Liebesbeweise, sondern zugleich Hilfsmittel, ein »ideales« Gegenüber, eine verstehende Adressatin zu garantieren.57 Mit Arnold Schönberg und dem Kolischquartett sind weitere, implizite Adressaten der LYRISCHEN SUITE genannt. Auch sie treten mit Berg in einen kommunikativen Prozess, der im Falle Schönbergs über Briefe,58 im Falle

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des Kolischquartetts59 über einen analytischen Entwurf60 erfolgt, sich dann aber in der Folge hörend, lesend, und – in der direkten musikalischen Umsetzung durch das Kolischquartett – spielend und interpretierend fortsetzte. Beispielhaft erwähnt – da hier durch eine Personifikation ein narratives Moment angedeutet wird – sei die Einleitung, die Berg den Neun Blättern vorausstellt und folgendermaßen überschreibt: »Die Reihe verändert sich im Verlauf der 4 Sätze durch Umstellung einiger Töne. (Diese Veränderung unwesentlich in Hinblick auf die Linie, wesentlich aber in Hinblick auf die Charaktere – ›Schicksal erleidend‹.)«.61 Was freilich genau Schicksal erleidet und ob Musik und welche »Charaktere« ein solches erdulden können, kann an dieser Stelle nicht geklärt werden. Deutlich wird hier aber die narrative Intention Bergs, spricht er doch explizit von »Charakteren« und damit von »narrativem Personal«. Zudem offenbart er an dieser Stelle auch seine »Erwartungen und Vorannahmen«,62 und lenkt damit ein mögliches narratives Verständnis auch der Interpreten. Ein weiterer Adressat schließlich ist Alban Berg persönlich – musikalische Zitate, die er seiner eigenen Musik entnimmt,63 rekurrieren auf ihn selber und belegen damit einen weiteren narrativen Strang. Dieses selbstreflexive Moment wiederum ist nach Paul Ricœur eines der zentralsten Momente einer Erzählung, in der verschiedenste »Charaktere« miteinander in Beziehung kommen, was ihr eine ethische und moralische Dimension verleiht:64 Anhand der narrativen (Re-)Konstruktion wird in einem weiteren Schritt die Übertragung in das eigene Leben und die Bildung des eigenen Charakters möglich. Zudem entsteht ein Bewusstsein für die eigene Lebensgeschichte, die stets mit der anderer Personen verbunden ist. Ricœur schlussfolgert, dass Erzählungen der Erkenntnis dienten, dass Selbstreflektion wichtiger sei, als von anderen bewertet zu werden.65 Bemerkenswert sind Ricœurs Aussagen hinsichtlich ihrer Adressaten, zielen sie doch sowohl auf den Rezipienten als auch auf den Autor ab, dem durch die narrative Selbstreflexion ein neues Rollenverständnis zugesprochen wird. Die ideale Leserschaft setzt sich bei Alban Berg also aus einem Konglomerat seiner bewusst intendierten Adressaten (nicht der allgemeinen Hörerschaft bzw. dieser erst, so scheint es zumindest, anhand des Materials zur LYRISCHEN SUITE, in zweitem Rang) zusammen.

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»N ARRATIVES P ERSONAL « – DER E RZÄHLER INTRADIEGETISCHE P ERSONEN /F IGUREN

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UND

Das »narrative Personal« stellt das personale oder figürliche Gefüge innerhalb einer Narration dar und inkludiert damit auch den expliziten oder impliziten Erzähler. Personen und Figuren unterscheiden sich dabei grundsätzlich durch ihre Kategorisierung in der Realität bzw. Fiktionalität. Während Autoren in fiktiven Erzählungen Figuren66 erfinden, schreiben sie in faktualen Geschichten über Personen, also Menschen aus Fleisch und Blut.67 Martinez stellt fest, dass es nur ein einziges »unerlässliches Merkmal für den Status einer Figur« gibt, nämlich »dass man ihr mentale Zustände (Wahrnehmungen, Gedanken, Gefühle, Wünsche, Absichten) zuschreiben können muss«.68 Zudem unterscheidet sich die Figur von der realen Person durch die Abgeschlossenheit, die Begrenztheit und das Fragmentarische ihrer Geschichte – alle Informationen über eine fiktionale Figur sind auf den Erzähltext beschränkt, während das Leben einer realen Person nicht auf die narrative Beschreibung reduziert ist. Auch musikalische Narrationen können sowohl fiktives als auch reales narratives Personal und damit sowohl fiktive als auch reale Erzähler beinhalten. Die Instanz des Erzählers wird dabei in literaturwissenschaftlichen wie in musikologischen Theoriemodellen als die zentralste bewertet. Er stößt den Erzählvorgang an, anhand seiner Darstellungen lassen sich verschiedene Erzählperspektiven unterscheiden.69 Wer ist nun der Erzähler in der LYRISCHEN SUITE? Gibt es außer ihm noch anderes narratives Personal? Eine kurze Beleuchtung der verschiedenen Sätze und ihrer Inhalte soll eine erste Annäherung an die narrativ-musikalische Darstellung der verschiedenen Personen/Figuren geben und die eigentliche Handlung skizzieren. Zentrales Material sind hier wiederum die Briefe an Hanna Fuchs sowie die annotierte Partitur, da sie an die »ideale Leserin« gerichtet sind und die Intentionen des Komponisten und den narrativen Inhalt der LYRISCHEN SUITE am konkretesten (nämlich: in diesem Spezialfall der Adressierung) wiedergeben. Der erste Satz bildet eine Art der Einleitung, seine »fast belanglose Stimmung [lässt] die folgende Tragödie nicht ahnen«70 und erzählt – wie Berg in einem Brief an Hanna schreibt – »vom Beginn meines [Bergs] nach Prag Kommens«71. Der Satztitel72 »Allegretto gioviale« charakterisiert den »fast unverbindlichen, freundlichen Einleitungscharakter«73 und suggeriert so die beschriebene »Belanglosigkeit«, die nur Hanna Fuchs (durch Bergs

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Angaben) als eine Art der »Ruhe vor dem Sturm«, als kontrastierender Auftakt zur kommenden Tragödie deuten kann.74 Personen oder Figuren lassen sich in diesem Satz nicht ohne weiteres zuordnen, vielmehr scheint es sich hier um eine zeitliche und örtliche Kontextualisierung zu handeln, die allerdings »voll von geheimen Beziehungen unserer Zahlen 10 und 23 und unserer Anfangsbuchstaben H F A B sind«.75 Diese geheimen Bezüge sind zugleich Indizien, die Rückschlüsse auf einen impliziten Erzähler und sein ideales Gegenüber zulassen. Zudem sorgen sie für einen Erzählfluss, sie wecken Erwartungen auf das Kommende. Der zweite Satz, das »Andante Amoroso« spricht laut Berg »eine andere Sprache«, er zeigt »Dich [Hanna] und Deine süßen Kinder in drei Themen, die rondoartig immer wiederkehren«.76 Damit benennt Berg in diesem Satz das narrative Personal explizit: Es handelt sich dabei um reale Personen, nämlich um Hanna, Dorothea (genannt Dodo) und Franz Edwin (genannt Munzo), denen hier musikalische Themen zugeordnet werden,77 und die, wie die annotierte Partitur verdeutlicht, in eine Handlung eingebunden sind. Geschildert wird wiederum eine Szene im Hause Fuchs-Robettin: Die Mutter ist im Gespräch mit ihren spielenden Kindern, »aus dem Spiel wird Ernst«,78 es kommt zu einem kleinen Disput zwischen Munzo und Dodo, Hanna tritt dazwischen und schlichtet den Streit.79 Diese kurze Auseinandersetzung dient also der Charakterisierung der handelnden Personen und malt eine Alltagsszene, aus der heraus sich die weitere Handlung entwickelt. Der dritte Satz wird zeitlich vom Erzähler (also Berg) genau eingeordnet: Er überschreibt ihn in der annotierten Partitur mit dem Datum des 20. Mais 1925. Nur die Adressatin Hanna Fuchs kennt allerdings die genauen Vorfälle dieses Tages. Berg füllt seine Musik hier also mit zusätzlichem Inhalt, der wahrscheinlich auch über das hinausgeht, was er in die annotierte Partitur einträgt. In einer dem Satz vorangestellten kurzen Erklärung deutet er den Inhalt dieses Satzes an und führt aus, dass »noch [...] alles Geheimnis [war] – uns selbst Geheimnis«.80 Dieser Satz schildert dabei »das Anfangs Ahnungslose, Geheimnisvolle, das Flüsternde unseres [Fuchs’ und Bergs] Beisammenseins«.81 Die musikalisch-motivische Zuordnung ist einerseits weniger eindeutig als noch im zweiten Satz und doch verraten alleine die Variationen82 der sich ständig wiederholenden, mit den Namensinitialen »A. B.« und »H. F.« spielenden Motive viel über den Inhalt und die zunehmende Zuneigung des Komponisten und seiner Geliebten, die in diesem Satz zu implizitem Protagonisten werden, die von einem

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impliziten Erzähler beschrieben werden. An dieser Stelle wird das autobiographische Geflecht deutlich, das die LYRISCHE SUITE prägt: Alban Berg ist hier zugleich der Komponist, der (implizite) Erzähler und als Protagonist zudem Teil des narrativen Personals, worauf an späterer Stelle nochmals eingegangen werden soll. Geprägt ist der dritte Satz zudem von einer (durch das Pianopianissimo, das das Geflüster andeutet) sehr verhaltenen, aber intensiven Steigerung ab Takt 46, die einerseits verdeutlicht, dass eine gewisse Entwicklung nicht mehr aufgehalten werden kann, andererseits »plötzlich«83 in ein Fortissimo ausbricht und in das »Trio estatico« übergeht, das den »ersten kurzen Liebesausbruch«84 darstellt. Mit diesem Trio wird nicht alleine ein erster Höhepunkt musikalisch beschrieben, er ist vor allem in Hinsicht auf das musikalische Erzählkonzept von großer Bedeutung, da Berg Hanna Fuchs in Takt 77 in der annotierten Partitur auf die Veränderung »ihres« Themas hinweist und sie auffordert, es mit ihrem Thema in Takt 13/14 des 2. Satzes zu vergleichen. Berg merkt die im Vergleich zum 2. Satz stattgefundene Veränderung der Form dieses Themas an:85 Während es dort in der ersten Violine (eingebettet in die Textur der anderen Streicher) erklingt, erhält es nun dadurch, dass es in allen vier Streichern unisono erklingt, durch die rhythmische Augmentation und die veränderte Dynamik eine ganz neue Intensität.

Notenbeispiel 1: T. 13/14, 2. Satz der LYRISCHEN SUITE, aus: Berg, Alban: Partitur der Lyrischen Suite für Streichquartett, Universal Edition, Wien/London o.J. [1927].

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Notenbeispiel 2: T. 77/78, 3. Satz der LYRISCHEN SUITE, »Trio estatico«, aus: Berg, Alban: Partitur der Lyrischen Suite für Streichquartett, Universal Edition, Wien/London o.J. [1927].

An dieser Stelle erhält auch die Bemerkung86 über die sich verändernden »Charaktere«, die Berg für das Kolischquartett in den NEUN BLÄTTERN notiert, und sofern man annimmt, dass Narrationen trotz wechselnder Adressaten unausgesprochen existent bleiben, eine deutlichere Kontur. Der vierte Satz, das »Adagio appassionato«87, basiert nach Berg auf dem »Trio estatico«. Berg schreibt an Hanna Fuchs, dass sich »Tags darauf«88 »das dort und wie ein Blitz einschlagende Liebesbewußtsein zur großen unendlichen Liebesleidenschaft«89 entfalte. In der annotierten Partitur markiert Berg die verschiedenen Themen, ordnet sie sich selbst und Hanna Fuchs zu, überschreibt sie mit »ich und Du«90, und zieht in Takt 30 ebenfalls wieder den Vergleich zu Hannas Thema im 2. Satz, das auch hier erneut in veränderter Form aufgenommen wird. Durch das Zitat aus Zemlinskys LYRISCHER SYMPHONIE wird aus der textlosen Instrumentalmusik nun tatsächlich narrativ-sprachliche Handlung, die Berg in einem Brief an Hanna wie folgt beschreibt: »Die zuerst von mir überschwänglich gesprochenen Worte: ›Du bist mein Eigen, mein Eigen‹ [...] wiederholst Du in süßer, ganz verhaltener Verträumtheit.«91 Nachdem dieser narrative Höhepunkt erreicht ist, schließt der Satz »verebbend ... ins ganz Vergeistigte, Seelenvolle, Überirdische«.92 Der 4. Satz liefert zudem durch die Chiffrierungen des Notentextes – anhand der Zahlsymbolik und durch die Initialen Bergs und Fuchs’ – weitere Indizien für das narrative Vorgehen des impliziten Erzählers. Der 5. Satz, das »Presto delirando« appelliert durch Bergs

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Annotationen an das wissende Gegenüber: »Dieses Presto delirando kann nur verstehen, wer eine Ahnung hat von den Schmerzen und Qualen, die nun folgten. – Von den Schrecken der Tage mit ihren jagenden Pulsen«.93 Mit diesem Appell an den Adressaten, in diesem Falle Hanna Fuchs, ist nach Wolf Schmid ein zentraler Indikator für den impliziten Erzähler erfüllt:94 Berg ruft seine Leserin indirekt auf, eine bestimmte Haltung zu seiner Musik und damit auch zu seiner musikalischen (Nach-)Erzählung einzunehmen. Mit den auskomponierten Pulsschlägen ab Takt 15 überträgt Berg den beschriebenen Inhalt in die Musik. Breite, lang ausgehaltene Akkorde im Flautando leiten von den Tagen zu den schmerzhaft lang empfundenen Nächten über und zeichnen das »qualvolle Tenebroso der Nächte, mit ihrem kaum Schlaf zu nennenden Dahindämmern«95 nach. Daran schließt sich ab Takt 121 wieder der unruhige Puls der Tage an. Bis zum Ende des Satzes wird der musikalische Herzschlag der Tage und die kaum auszuhaltende Dauer der Nächte zum Maß der Unruhe der Hauptperson. Auskomponierte Erinnerungen an glücklichere Zeiten, die hier durch musikalische Analepsen96 Eingang in den Notentext finden und die auf motivisches Material des vierten Satzes rekurrieren,97 versprechen eine kurzfristige Erleichterung der Qualen, was sich jedoch rasch als »Delirium... ohne Ende...«98 und damit als Illusion entpuppt. Der 6. Satz schließlich schildert den »Höhepunkt der Verzweiflung und Trostlosigkeit«.99 In ihn schreibt Berg das von Stefan George übersetzte Baudelaire-Gedicht DE PROFUNDIS CLAMAVI. Die textlose Instrumentalmusik wird nun zu einem Lied, einem Monolog, den die Hauptperson an die »einzig Teure« richtet. Das Gedicht ist dabei auf überaus geschickte Art und Weise in den Satz eingewoben, hiervon zeugt beispielsweise der Tristanakkord in Takt 26f., der einen Meta-Kontext der tragischen Liebe eröffnet. Folgerichtig erstirbt dieser Satz »bis zum völligen Erlöschen«100 »in Liebe, Sehnsucht und Trauer«.101 Vergleicht man die sechs Sätze der LYRISCHEN SUITE, so fällt ihre unterschiedliche narrative Gestaltung auf: Ein erstes sich änderndes Moment ergibt sich mit der erzählten Zeit. Während in den Sätzen 1 bis 4 kurze (maximal einen Tag dauernde) Szenen eingeblendet werden, wird im fünften und sechsten Satz über eine längere, nicht näher bestimmbare Zeitdauer berichtet. Ein weiterer Unterschied zu den ersten vier Sätzen und den beiden letzten ergibt sich durch die Beschränkung auf nur noch einen Protagonisten, auf den leidenden, liebeskranken Alban Berg, dessen Empfinden in

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einer Innensicht in die Musik übertragen wird. Die Erzählung an sich wird somit zweiteilig: Während die ersten vier Sätze auf den Höhepunkt zusteuern, folgt danach im 5. und 6. Satz der Abstieg hin zur Katastrophe. Dieser Aufbau erinnert stark an die Doctrine classique eines klassischen Dramas: Nach einer Einleitung (in den ersten beiden Sätzen der LYRISCHEN SUITE), in der die handelnden Personen eingeführt und kontextualisiert werden, kommt es zu einer Steigerung mit erregendem Moment (Katastase). Eine – noch schwache – Ankündigung des drohenden Konfliktes könnte man aus dem Geschwisterstreit des zweiten Satzes herauslesen. Die Situation verschärft sich im dritten Satz: Der verheiratete Berg verliebt sich in die Industriellen-Gattin Hanna Fuchs-Robettin. Ihr Empfinden gipfelt schließlich im Höhepunkt der Liebeserklärung »Du bist mein eigen, mein eigen« im 4. Satz, einer Liebeserklärung, die eigentlich nicht sein darf, da beide anderweitig gebunden sind. Das nachfolgende, retardierende Moment (nach Gustav Freitag102) und auch die Katastrophe verlaufen in Bergs musikalischer Erzählung in abgeschwächter Form, wird die Liebe doch schon am Ende des »Adagio appassionato« ins Religiöse überhöht. Verzögerung und Katastrophe beziehen sich in erster Linie auf das Aushalten dieser Liebe, die nicht sein darf, und die (musikalisch, aber auch im übertragenen Sinne) im völligen Erlöschen endet.103 Es ist notwendig, an dieser Stelle den Fokus nochmals auf Alban Berg selbst zu legen, der in der LYRISCHEN SUITE wie bereits beschrieben drei verschiedene Positionen einnimmt: Er ist der Komponist, der implizite Erzähler und zugleich ein Protagonist seiner eigenen Geschichte. Alle drei narrativen Instanzen zeichnen sich dabei durch ein Geflecht an Beziehungen und durch ihr Spiel mit der Biographik aus. Die Entscheidung, der Biographik im Zusammenhang mit Alban Berg auch entgegen kritischer musikologischer Tendenzen104 also einen größeren Raum einzuräumen, ist folgerichtig eine sehr bewusste. Wie äußert sich nun dieser Umgang mit der Autobiographik bei Berg? Woran lassen sich Bergs Hang zur Selbstinszenierung, zur »Literarisierung seines Lebens«105 und zur Mythisierung festmachen und wie wirken sie sich auf ein autobiographisches Komponieren aus? Ein Beispiel soll die genannten Tendenzen seiner Persönlichkeit knapp umreißen: Ein zentraler Punkt, der Berg immer wieder beschäftigt, ergibt sich mit seinem eigenen Schaffensprozess. Seine Reflexion hierzu erstreckt sich auf die Idee, dass der künstlerischen Arbeit immer ein äußerer Impuls vorausgehen müsse.106 Diese Meinung zeigt sich deutlich in einem Brief an

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seine Frau Helene vom 8. Juli 1914. Berg beschreibt für sie den Prozess vom Einfall bis zur tatsächlichen Entstehung einer Komposition aus seiner Sicht: »Heut hatt’ ich einen arbeitsreichen und erfolgreichen Tag. Mir ist viel Wichtiges und Schönes eingefallen, hoffentlich erlange ich dieser Tage die Kraft, es auch so niederzuschreiben, wie es mir vorschwebt. Das ist nämlich noch ein weiter Weg. Fast gerade so weit wie der Weg vom Erlebnis bis dorthin, wo es musikalische Gestalt annimmt. Und wie viele Erlebnisse nehmen die nie an, und wie oft leider bleibt’s wieder nur bei der leblosen Gestalt, der nie das Leben eingehaucht wird!«107

Gerade der letzte Satz zeigt – wenn auch nur in Umrissen –, dass Berg den Umkehrschluss in Erwägung gezogen haben könnte: nämlich das Erleben den musikalischen Einfällen anzupassen, um ihnen so »Leben einzuhauchen«, seinen Werken eine Berechtigung zu verschaffen. Berg versucht, die gelebte und erlebte Realität so zu gestalten, dass diese – seinen Absichten und Zielen gemäß – zu einer musikalischen Inspiration wird. An dieser Stelle nun zeichnet sich auch die Gelegenheit zur Selbstinszenierung bei Berg deutlich ab: Der Komponist versteht und nutzt die Möglichkeit, das Leben so zu leben, dass es zur Inspiration seines Schaffens wird. Dass dieses Bewusstsein zu einer Umkehrung des Erlebnis-Schaffens-Prozesses tatsächlich vorhanden ist, belegt ein weiterer Brief – diesmal an Schönberg – ebenfalls aus dem Jahr 1914, in dem er schildert, dass er trotz körperlicher Schwierigkeiten und Asthma, »endlich« zum Arbeiten gekommen sei. Berg fährt fort: »Also genug Vorbedingungen, um einmal etwas Lustiges zu schreiben. Aber vielleicht geht’s einmal verkehrt!: Wenn das, was ich schreibe, nicht das ist, was ich erlebt habe, richtet sich das Leben vielleicht einmal nach meinen Kompositionen, die ja dann die reinsten Prophezeiungen wären.«108

Auch wenn dieser Kommentar sicherlich ironisch gemeint ist und in erster Linie darauf abzielt, die schlechte gesundheitliche Lage Bergs und seiner Frau mit etwas Humor zu tragen, so zeigt sich an dieser Stelle doch, dass der Komponist reflektiert genug ist, die Möglichkeit einer ErlebnisSchaffens-Umkehrung in Betracht zu ziehen und die Realität als Muse für sein musikalisches Schaffen zu betrachten. Auf diesen Willen Bergs, sein Schaffen durch äußeres Erleben und inneres Empfinden zu bereichern, spielt

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auch Theodor W. Adorno an, wenn er feststellt, dass Bergs Liebesgeschichten von Anfang an ein Stück seines Produktionsapparates bildeten, daß sie, ganz im Sinne des österreichischen Witzes, »verzweifelt, aber nicht ernst waren«, weshalb »das unhappy end« »gewissermaßen mitkomponiert« war.109 Diese Einschätzung Adornos wiederum referiert auf eine Definition Paul de Mans, der von der Autobiographie als einem »Maskenspiel« spricht und davon ausgeht, »dass das Leben der Autobiographie nicht notwendigerweise vorangehe, sondern umgekehrt auch die Vorstellung der Autobiographie eine Rückwirkung auf das realiter gelebte Leben ihres Autors haben könnte«.110 Dieses Nebeneinander von Realität und Fiktion in der Autobiographie mag zunächst überraschen, in diese Lücke fügt sich jedoch das Konzept der von Serge Doubrosky geprägten Autofiktion ein, das seit den 1980er Jahren im Umfeld der Biographieforschung in den Literaturwissenschaften angewandt wird und das von einer Durchmischung von real erlebten, biographischen Fakten und fiktiven Elementen ausgeht. Autofiktionale Texte sind nach Doubrovsky »nicht Autobiographien, nicht ganz Romane, gefangen im Drehkreuz, im Zwischenraum der Gattungen, die gleichzeitig und somit widersprüchlich den autobiographischen und den romanesken Pakt geschlossen haben«.111 Seine Definition der Autofiktion lautet folgendermaßen: »Fiktion strikt realer Ereignisse und Fakten; wenn man so will, ist Autofiktion«.112 Martina Wagner-Egelhaaf führt aus, dass das »Arrangement der Fakten und ihre sprachliche Bearbeitung [...] den Einsatz der Fiktion auf den Plan rufen«.113 Sie schlägt zur Unterscheidung von Fiktion und Realität im Folgenden Lejeunes Entwurf des »autobiographischen Pakts«114 vor, auf den auch Doubrovsky Bezug nimmt. Lejeune statuiert, dass bestimmte Inhalte eines Textes (etwa eine ausdrückliche Gattungszuordnung durch den Titel als »Roman« oder »Autobiographie«) die Rezeption des Lesers lenken. Nach Lejeune wird eine Autobiographie dann als solche gelesen, wenn die Identität des Autors, des Erzählers und des Protagonisten übereinstimmen.115 Damit ließe sich die LYRISCHE SUITE klar als Autobiographie einordnen. Frank Zipfel macht jedoch deutlich, dass die Gebundenheit des autobiographischen Pakts nach Lejeune zu kurz greift, und unterscheidet in der Folge drei Arten der Autofiktion: 1) Die Konstruktion eines autobiographischen Werks führt zu fiktiven Momenten; 2) Autor und Protagonist sind identisch, das vermeintlich autobiographische Werk ist jedoch mit einer fiktiven Gattungsbezeichnung überschrieben und 3) der

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Text bietet dem Leser sowohl einen autobiographischen als auch einen romanesken Pakt an. Durch die daraus resultierende Unsicherheit des Lesers kommt es zu einem Oszillieren zwischen den beiden Lesarten.116 Alle drei Möglichkeiten der Autofiktion lassen sich auf die LYRISCHE SUITE übertragen: So handelt es sich bei Bergs Streichquartett um ein vielschichtiges, mehrdeutiges Konstrukt, das damit die Interpretation als Autofiktion rechtfertigt. Auch die zweite Variante der Autofiktion scheint im Hinblick auf Bergs Streichquartett Geltung zu erlangen, ist sie doch mit dem Titel »Lyrische Suite« überschrieben und verweist mit ihrer Betonung des »Lyrischen« auf einen fiktiven, vom faktualen Leben des Autors losgelösten Kontext. Durch die verschiedenen Verständnisebenen der Musik Bergs ist es zudem nicht möglich, deutlich zwischen Autobiographie und Fiktion zu unterscheiden. Auch in dem vermeintlich deutlich autobiographisch geprägten Erzählstrang in der annotierten Partitur für Hanna Fuchs finden sich Momente, die auf eine Selbstinszenierung hinweisen und damit das Autobiographische um (mehr oder minder bewusste) fiktive Spuren erweitern. So bietet beispielsweise schon der Annotationsvorgang selbst einen ersten Anknüpfungspunkt. Einerseits betont Berg seine besondere Liebe zu Hanna Fuchs, andererseits fällt das extreme Spannungsverhältnis zwischen der in Massenproduktion gedruckten Partitur und den handschriftlich festgehaltenen intimsten Eintragungen Bergs auf. Während die Annotationen im ersten und im zweiten Satz in Schönschrift eingetragen werden, wird das Schriftbild im Verlaufe der Partitur immer unregelmäßiger, die Eintragungen scheinen hastiger vorgenommen worden zu sein und werden auch seltener. Erst im letzten Satz, der durch den Einbezug des Baudelaire-Gedichts monologischen Charakter hat, kehrt Berg zum anfänglichen sorgfältigen Schriftbild zurück. Aus diesen Beobachtungen lassen sich zwei Interpretationsansätze entwickeln, die das »Hin und Her«117 zwischen den beiden Lese-Pakten nochmals verdeutlichen: Bergs Veränderung der Schrift könnte aus einer Müdigkeit resultieren, diese vielen Eintragungen vornehmen zu müssen, um Hanna Fuchs als »ideale« Leserin oder Hörerin zu garantieren. Diese Unlust stünde jedoch Bergs narrativer und expliziter Erklärung der »großen Liebe«118 zu Hanna Fuchs diametral entgegen: Die heimliche Liebesbeziehung würde durch ihre gewollte Überhöhung von einem (bewussten oder unbewussten) Moment der Fiktion durchdrungen. Eine zweite Möglichkeit, die Veränderung der Schrift zu deuten, ergibt sich mit der Inszenierung des Schriftbildes, das sich jeweils dem Inhalt und – spätestens

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ab dem vierten Satz – der Rastlosigkeit der Musik anpasst. Auch diese Interpretation würde den Eindruck einer bis ins Detail durchdachten, konstruierten musikalischen Erzählung und die Zuschreibung zur Autofiktion (definiert nach Zipfel) stützen. Ein zentrales Moment, das Konnotationen auslöst, soll abschließend als ein Verbindungsglied der Erzählinstanzen benannt werden: Es handelt sich hierbei um den Titel, den der Komponist seinem Werk verleiht. Mit der LYRISCHEN SUITE FÜR STREICHQUARTETT schafft Berg (bewusst oder unbewusst) mehrere Konnexe. So rekurriert der Titel einerseits auf Alexander Zemlinskys LYRISCHE SYMPHONIE. Durch seine Benennung beruft er sich auf den offiziellen Widmungsträger, einen Adressaten, und verweist auf dessen Werk, das durch Zitate in Bergs LYRISCHER SUITE einen zentralen Platz einnimmt. Damit präsentiert Berg eine Richtlinie, die nicht nur den Erwartungshorizont Zemlinskys, sondern auch den anderer »informierter« Hörer und Leser beeinflussen wird. Andererseits lässt das »Lyrische« im Titel der LYRISCHEN SUITE einen Interpretationsspielraum zu, der gerade im Zusammenhang mit einer narrativen Ausdeutung von großem Interesse ist. Berg sucht – jenseits jeder Gattungszuschreibung – einen lyrischen »Ton«, eine besondere, musikalische Qualität, die ihm eine hohe semantische Dichte erlaubt. Zentral ist die Perspektive des Lyrischen Ichs, das »als Gefühlsausdruck eines Individuums [...] die Zeitlichkeit transzendieren [kann]: Es zeigt sich als Simultaneität, in der die einzelnen Elemente nur als integraler Teil des Ganzen fungieren«119 und die so auch eine Veränderung der zeitlichen Wahrnehmung ermöglicht. In Bezug auf Alban Berg erwirkt diese veränderte Sichtweise auch eine veränderte Interpretation: Der Komponist Alban Berg ist in seiner LYRISCHEN SUITE nun nicht nur in Personalunion Erzähler und Protagonist seiner eigenen Geschichte, sondern zugleich ein vielschichtiges »Lyrisches Ich«, das nach Margarete Susman »kein Ich im real empirischen Sinne, sondern [...] Ausdruck, [...] Form eines Ich ist«.120 Dieses »Lyrische Ich« ist »die einzige Gestalt im Kunstwerk [...], deren Inhalte den ganzen Umfang des Kunstwerks ausfüllen und die allein seine Richtung, seine Welt festlegt.«121 Berg erweist sich in seiner LYRISCHEN SUITE damit als virtuoser Erzähler, der die in der Musik in besonderem Maße mögliche Simultaneität der Erzählstränge geschickt ausnutzt, um gleichzeitig und durchaus nicht eindimensional verschiedene Adressaten ebenso zu erreichen wie im Gesamten ein (mehr oder weniger informiertes) breiteres Publikum. »Alles« zu »erzählen«122

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bleibt dabei natürlich ein Desiderat, das dem Komponisten Berg ebenso zugeschrieben werden könnte wie Morgenstern seiner Person grundsätzlich Freude am »Daigetzen«123 attestiert hat – aber Narrativität ist, zumindest bezogen auf Alban Berg, in der Gleichzeitigkeit von Musik auf andere Weise, vielleicht sogar vielschichtiger möglich, als es in Briefen oder Gedichten der Fall wäre.

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Brief Alban Bergs an seine Frau Helene vom 15. Mai 1925, BergNachlass in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, F21.Berg.1581/1925,6. Floros, Constantin: Alban Berg und Hanna Fuchs. Die Geschichte einer Liebe in Briefen, Zürich/Hamburg 2001, S. 30. Vgl. annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek, F21.Berg. 3437 (A/Berg 6), S. VI. Zitiert nach Metzger, Heinz-Klaus/Riehn, Rainer: »Statt eines Nachworts zur Kontroverse«, in: Musik-Konzepte 9: Alban Berg. Kammermusik II, hrsg. von dies., München 1979, S. 8-11, hier S. 9. Wiener Jiddisch, Ausdruck für »tiefsinnig quatschen« und »übermäßig herumreden«. Vgl. Morgenstern, Soma: Alban Berg und seine Idole. Erinnerungen und Briefe, hrsg. von von Ingolf Schulte, Lüneburg 1995, S. 162. Zahlreiche Untersuchungen machen die Schwierigkeiten und Vorbehalte, aber auch die Chancen und Möglichkeiten musiko-narratologischer Herangehensweisen deutlich, wobei alleine die Menge der narrativen Studien die Reichweite dieses Themas belegt. Vgl. den Überblick über ›Musik und Erzählen‹ in Lodes, Birgit: »Musik und Narrativität«, in: Historische Musikwissenschaft. Grundlagen und Perspektiven, hrsg. von Michele Calella/Nikolaus Urbanek, Weimar 2013, S. 367-382. Vgl. auch die Beiträge in Musiktheorie 27 (2012), Themenheft MUSIK UND ERZÄHLEN. Scherliess, Volker: Alban Berg in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, hrsg. von Kurt Knusenberg, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 14.

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Aus dem Jahr 1907 hat sich das BERGWERKSDRAMA erhalten, des Weiteren existiert ein Manuskript einer Jugenddichtung mit dem Titel HANNA sowie einige Gedichte, die ebenfalls vor 1910 entstanden. Es ist nach Bergs eigener Aussage zudem davon auszugehen, dass während seiner Schulzeit, angeregt durch »die jeweilige Schullektüre«, noch weitere »Epen entstanden«. Vgl. den Brief Alban Bergs an Anton Webern vom 11. August 1924 in Redlich, Hans Ferdinand: Alban Berg. Versuch einer Würdigung, Wien 1987, S. 292. Bergs Affinität zur Literatur zeigt sich zudem auch bei den bewusst gegen den Zeitgeschmack gewählten Texten für die zwischen den Jahren 1905 und 1908 entstandenen SIEBEN FRÜHEN LIEDER ebenso wie bei der ungewöhnlichen Auswahl des WOYZECK-Stoffs. Vgl. Martin, Dieter: »Der doppelte Wozzeck. Georg Büchners Dramenfragment als moderne Oper bei Alban Berg und Manfred Gurlitt«, in: Wort und Ton, hrsg. von Günter Schnitzler/Achim Aurnhammer, Freiburg im Breisgau 2011, S. 423-446, hier S. 426f. Rode, Susanne: Alban Berg und Karl Kraus. Zur geistigen Biographie des Komponisten der LULU, Frankfurt am Main 1988, S. 71. Vgl. z.B. Micznik, Vera: »Music and Narrative Revisited: Degrees of Narrativity in Beethoven and Mahler«, in: Journal of the Royal Musical Association 126/2 (2001), S. 193-249. Vgl. auch Almén, Byron: A Theory of Musical Narrative, Bloomington/IN 2008. Vgl. z.B. Cone, Edward T.: The Composer’s Voice, Berkeley/CA 1974. Vgl. auch Newcomb, Anthony: »Narrative Archetypes in Mahler’s Ninth Symphony«, in: Music and Text: Critical Inquiries, hrsg. von Steven Paul Scher, Cambridge 1992, S. 118-136; Abbate, Carolyn : Unsung Voices. Opera and Musical Narrative in the Nineteenth Century, Princeton/NJ 1991. Erzählen gilt als eine grundlegende kognitive Fähigkeit des Menschen, die es ihm erlaubt, seine Umwelt zu fassen und zu vermitteln – gleichermaßen sein Wissen in Kommunikation, Welterfahrung in Bedeutungseinheiten zu übersetzen. Musik wird ebenso als »konstituierender Faktor zu einer humanen Lebenswelt« verstanden, als Mittel zur Sinnsuche, als eine lebensnotwendige Form menschlichen und kulturellen Ausdrucks und menschlicher Kommunikation. Vgl. Picht, Georg: »Wozu braucht die Gesellschaft Musik?«, in: Dt. Musikrat. Referate, Informationen 1972, Nr. 22, Bonn 1972, S. 35-39.

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Tatsächlich ist die kausale oder intentionale Rolle des Autors in der Kunsttheorie umstritten. Vgl. hierzu z.B. Wimsatt, William K./ Beardsley, Monroe C.: »The Intentional Fallacy«, in: dies., The Verbal Icon. Studies in the Meaning of Poetry, Lexington/KY 1954, S. 3-18. Im spezifischen Fall der Untersuchung der Narrativität am Beispiel von Bergs LYRISCHER SUITE soll jedoch die Autorintention mitein-

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Vgl. Schönert, Jörg: »Author«, in: Handbook of Narratology, hrsg. von Peter Hühn/John Pier/Wolf Schmid/Jörg Schönert Berlin/New York 2009, S. 1-13, hier S. 2. Vgl. ebd. Zur Problematik und »Doppelexistenz« des Interpreten, der Teil der Erzählung wird, vgl. z.B. Cone (wie Anm. 12), S. 57-80, 115-135. Vgl. z.B. Rabinowitz, Peter J.: »Music, Genre and Narrative Theory«, in: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory, hrsg. von Marie-Laure Ryan, Bloomington/IN 1992, S. 305-328. Vgl. auch Meelberg, Vincent: »Sounds like a Story: Narrative Travelling from Literature to Music and Beyond«, in: Narratology in the Age of Cross-Disciplinary Narrative Research, hrsg. von Sandra Heinen/Roy Sommer, Berlin 2009, S. 245-260. Ein frappantes Beispiel dieser Vorgehensweise ergibt sich dadurch, dass die Hochblüte des Romans als Maßstab für eine mögliche musikalische Narrativität angesetzt wird. Daraus resultieren enge zeitliche Grenzen (von Beethoven bis Mahler) und narrative Musik dürfte überhaupt nur in dieser Zeitspanne auftreten. Zur Problematik dieses Vorgehens vgl. Grabócz, Márta: »Paul Ricoeur’s Theories of Narrative and Their Relevance for Musical Narrativity«, in: Indiana Theory Review 20/2 (1999), S. 20-39. Eduard Hanslick konstatiert in VOM MUSIKALISCH-SCHÖNEN, grob gesagt, dass es sich bei Musik nur um »tönend bewegte Formen« handelt, denen zwar Gefühle inhärent sind, die aber niemals bewusst dargestellt werden können. Hanslicks Aussage lässt jede Frage nach musikalischer Narrativität scheinbar obsolet erscheinen, nichtsdestotrotz fällt auf, dass er nur der Darstellung von Gefühlen und Programmen, nicht aber der eigentlichen inhaltlichen Ebene von Musik kritisch gegenübersteht. Zudem muss seine Haltung in den zeitlichen Kontext eingeordnet werden: Hanslick reagiert bewusst auf die konträren

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Überzeugungen der Neudeutschen Schule, die eine »Zukunftsmusik« proklamiert, welche Liszt in seinen programmatischen Symphonien, Wagner in Musikdramen sucht, und die dem Streben nach einem Gesamtkunstwerk entspringt und einer Idee musikalischen Erzählens kompatibel ist. Vgl. hierzu Bartsch, Cornelia: »Erzählerische Momente in der zeitgenössischen Musik als Momente der Erinnerung«, in: Erzählen. Narrative Spuren in den Künsten, hrsg. von Ulrike Hentschel/Gundel Mattenklott, Berlin 2009, S. 121-139. Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts, Laaber 1984, S. 11. Schönberg, Arnold: »Brahms der Fortschrittliche«, in: ders., Stil und Gedanke. Aufsätze zur Musik, hrsg. von Ivan Vojtěch, Frankfurt am Main 1976, S. 35-71, hier S. 71. Ebd., S. 49. Danuser (wie Anm. 21), S. 11. Ebd. Ebd. Adorno, Theodor W.: Berg. Der Meister des kleinsten Übergangs, Wien 1968, S. 10. Die dodekaphone Fassung des Storm-Liedes wird als Vorarbeit zur LYRISCHEN SUITE angenommen. Vgl. Laubenthal, Annegrit: »Alban Berg, die Zeit und die Zwölftontechnik: zur Interpretation der beiden Vertonungen des Storm-Gedichts ›Schließe mir die Augen beide‹«, in: »Was du nicht hören kannst, Musik«: Zum Verhältnis von Musik und Philosophie im 20. Jahrhundert, hrsg. von Werner Keil/Jürgen Arndt, Hildesheim 1999, S. 172-187. Vgl. auch Dopheide, Bernhard: »Zu Alban Bergs Zweitvertonung von Theodor Storms Gedicht ›Schließe mir die Augen beide‹«, in: Musiktheorie 7/1 (1992), S. 33-46. Prince, Gerald: »Reader«, in: Handbook of Narratology, hrsg. von Peter Hühn/John Pier/Wolf Schmid/Jörg Schönert, Berlin/New York 2009, S. 398-410, hier S. 398. Vgl. hierzu Prince, Gerald: »Notes towards a Preliminary Categorization of Fictional ›Narratees‹« in: Genre 4 (1971), S. 100-106. Vgl. auch ders.: »Introduction to the Study of the Narratee«, in: ReaderResponse Criticism: From Formalism to Post-Structuralism, hrsg. von J. P. Tompkins, Baltimore/MD 1980, S. 7-25. Eine genauere Ausführung zum Adressaten (»narrataire«) findet sich auch bei Genette, Gérard: Die Erzählung, Paderborn 2010, insb. S. 169f., 255-257.

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Vgl. Prince (wie Anm. 29), S. 398. Die verschiedenen narrativen Instanzen können auch durch ein Kommunikationsmodell gefasst werden. Der Autor wird damit zum »Sender«, der Leser/Hörer zum »Empfänger«. Gängige Kommunikationsmodelle wurden z.B. von Paul Watzlawick und Roman Jacobsen entwickelt. Vgl. Watzlawick, Paul/Beavin, Janet H./Jackson, Don D.: Menschliche Kommunikation: Formen, Störungen, Paradoxien, Bern 1969; Jakobson, Roman: »Linguistik und Poetik«, in: Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven, hrsg. von Jens Ihwe, Frankfurt am Main 1971, S. 142-178. Vgl. Riffaterre, Michael: »Criteria for Style Analysis«, in: Word 15 (1959), S. 154-174; ders.: »Describing Poetic Structures. Two Approaches to Baudelaire’s LES CHATS«, in: Yale French Studies 36/37, (1966), S. 200-242. Riffaterre erklärt hier (S. 215f.) den bewussten Leser zum »superreader«. Vgl. Fish, Stanley: Surprised by Sin: The Reader in Paradise Lost, New York/London 1967; ders.: »Literature in the Reader: Affective Stylistics«, in: New Literary History 2/1 (1970), S. 123-162. Fish sieht den Leser ebenfalls als kompetentes Gegenüber des Autors, das durch seine Reaktion oder Antwort den Text vervollständigt. Er geht in seinem Einbezug des Lesers sogar noch weiter und erklärt mit seiner Idee der »Affective Sylistics«, dass Texte nicht nur Objekte, sondern Ereignisse seien, deren Wirkung auf den Leser erforscht werden müsse. Vgl. ders.: Is There a Text in This Class?: The Authority of Interpretative Communities, Cambridge/MA 1980. Vgl. Culler, Jonathan: »Beyond Interpretation: The Prospect of Contemporary Criticism«, in: Comparative Literature 28/3 (1976), S. 244256. Culler versucht in Anlehnung an Stanley Fish Kriterien für einen informierten und qualifizierten Leser aufzustellen. Vgl. hierzu die Überlegungen von Ravaux, Françoise: »The Return of the Reader«, in: The French Review 52/5 (1979), S. 708-713. Schmid, Wolf: »Erzählstimme«, in: Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. von Matías Martínez, Stuttgart/Weimar 2011, S. 131-138, hier S. 136. Vgl. z.B. Prince, Gerald: A Dictionary of Narratology, Lincoln 1987, S. 58. Princes Definition des Narrativen macht deutlich, wie zentral der Empfänger für die Erzählung ist: »narrative: The recounting […] of

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one or more real or fictious EVENTS communicated by one, two or several (more or less overt) NARRATORS to one, two, or several (more or less overt) NARRATEES.« [Großschreibung im Original.] Eine genauere Ausführung zum Adressaten (»narrataire«) findet sich auch bei Genette (wie Anm. 30), insb. S. 169f., 255-257. Vgl. z.B. Prince (wie Anm. 38), S. 58. Vgl. Rabinowitz (wie Anm. 18), insb. S. 316ff. Rabinowitz arbeitet verschiedene »Regeln« aus, nach denen sich eine Geschichte ihrem Adressaten erschließt. Dabei kann der Rezipient zwei verschiedene Standpunkte einnehmen: Er kann sich in die Geschichte einfühlen und so gewissermaßen Teil von ihr werden oder aber er nimmt die Geschichte objektiv und im Wissen darüber, dass es sich hierbei nur um eine Fiktion handelt, wahr. Etwaige Mischformen werden vernachlässigt. Ebd., S. 313. Vgl. Meelberg (wie Anm. 18). Vgl. Wolf, Werner: »Erzählende Musik? Zum erzähltheoretischen Konzept der Narrativität und dessen Anwendbarkeit auf Instrumentalmusik«, in: Der Komponist als Erzähler. Narrativität in Dimitri Schostakowitschs Instrumentalmusik, hrsg. von Melanie Unseld/Stefan Weiss, Hildesheim 2008, S. 17-44. Wolfs kognitives Modell fügt sich in eine Reihe mit anderen kognitiven Modellen ein, vgl. Herman, David : Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis, Columbus/OH 1999; ders.: Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative, Lincoln/NB 2002; Fludernik, Monika: Towards a ›Natural‹ Narratology, London 2005. Vgl. auch dies., Einführung in die Erzähltheorie, Darmstadt 2006. Vgl. Neubauer, John: »Tales of Hoffmann and Others: On Narrativizations of Instrumental Music«, in: Interart Poetics: Essays on the Interrelations of the Arts and Media, hrsg. von Ulla-Britta Lagerroth/Hans Lund/Erik Hedling, Amsterdam 1997, S. 117-136. Brief Zemlinskys an Berg vom 8. November 1926. Zitiert nach Weber, Horst (Hrsg.): Alexander Zemlinsky. Briefwechsel mit Arnold Schönberg, Anton Webern, Alban Berg und Franz Schreker, Darmstadt 1995, S. 318f. Die Gegenbriefe von Berg an Zemlinsky haben sich nicht erhalten bzw. sind nicht veröffentlicht.

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Berg übergab die Partitur der LYRISCHEN SUITE erst im Sommer 1927 an Zemlinsky, so dass sich dieser vorerst auf seinen Höreindruck stützen musste. Zemlinsky fasst sich betreffs dieser Vorstellungen sehr kurz und vage. Vgl. Brief Zemlinskys an Berg vom 8. Januar 1927, in: Weber (wie Anm. 45), S. 319. Brief Zemlinskys an Berg vom 17. Januar 1927. Zitiert nach ebd., S. 320ff. Brief Zemlinskys an Berg vom 30. August 1927. Zitiert nach ebd., S. 323. Brief Zemlinskys an Berg vom 8. Januar 1927. Zitiert nach ebd., S. 319. So erklingt beispielsweise in T. 85/86 im »Trio estatico« ein weiteres Zitat aus Zemlinskys LYRISCHER SYMPHONIE. Hierzu und zu weiteren Zitaten vgl. Floros (wie Anm. 2), S. 122-127. Vgl. z.B. Floros (wie Anm. 2); Perle, George: Style and Idea in the LYRIC SUITE of Alban Berg, Stuyvesant/NY 1995. Vgl. auch Fischer, Gerhard: Amour fou. Hanna Fuchs, Alban Berg und ein Streichquartett, genannt LYRISCHE SUITE, Wien 2009. Undatierter Brief von Alban Berg an Hanna Fuchs. Zitiert nach Floros (wie Anm. 2), S. 32. Zitiert nach ebd. Brief Alban Bergs an Hanna Fuchs vom 23. Oktober 1926. Zitiert nach ebd., S. 50-55, hier S. 53. Unklar bleibt indessen, ob Hanna Fuchs die Uraufführung der LYRISCHEN SUITE in Prag überhaupt besucht hat und ob sie auf einen der Liebesbriefe Bergs antwortete. George Perle berichtet von einem weiteren idealen Leser der LYRISCHEN SUITE: Julius Schloss, ein Berg-Schüler, unterstützte seinen Lehrer bei den Korrekturen am Streichquartett und erhielt von Berg zum Dank eine Partitur mit folgendem Eintrag: »Meinem lieben Schloss – Der in den Tagen der Korrekturen an diesem Quartett wahrhaft bewiesen hat, dass er auch den Schlüssel [Unterstreichungen im Original] zu meiner Musik hat.« Zitiert nach Perle (wie Anm. 52), S. 57. Vgl. z.B. den Brief Bergs an Schönberg vom 13. Juli, in dem Berg seinem Lehrer das verwendete dodekaphonische Material skizziert,

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da »nur Du«, also Schönberg, sich einen Begriff von den Schwierigkeiten und Möglichkeiten der dodekaphonischen Kompositionsweise machen könne. Vgl. Brand, Juliane/Hailey, Christopher/Meyer, Andreas (Hrsg.): Briefwechsel Arnold Schönberg – Alban Berg, Teilband II: 1918-1935, Mainz/London 2007, S. 267-271, hier S. 271. Eine Untersuchung der Interpreten als Sonderfall der Erzählinstanzen (sowohl Adressat als auch ausführender Erzähler) könnte sich im Falle von Bergs Werken als fruchtbar erweisen, muss hier aus Platzgründen aber ein Desiderat bleiben. Es handelt sich hier um NEUN BLÄTTER ZUR LYRISCHEN SUITE FÜR STREICHQUARTETT, in denen Berg sein Werk für das aufführende Streichquartett analytisch skizzierte, um den vier Musikern den Zugang zur LYRISCHEN SUITE und die Interpretation des Stückes zu erleichtern. Vgl. von Rauchhaupt, Ursula (Hrsg.): Schoenberg, Berg, Webern. Die Streichquartette der Wiener Schule. Eine Dokumentation, München 1971, S. 105-116. Ebd., S. 105. Schmid (wie Anm 37.), S. 136. So rekurriert beispielsweise die auf H heruntergestimmte C-Saite des Violoncellos im »Largo desolato« auf den Gebrauch dieses Tones in seiner Oper WOZZECK. Vgl. hierzu: Floros, Constantin: Alban Berg. Musik als Autobiographie, Wiesbaden 1992, S. 286f.; Perle (wie Anm. 52), S. 49-56. Ricœur unterscheidet zwischen »first-« und »second-order narratives«, also über- und untergeordneten Narrativen, wobei letztere durch die Verquickung und das In-Beziehung-Treten der in der Erzählung agierenden Personen entstehen können. Vgl. Ricœur, Paul: Oneself as Another, Chicago 1990, S. 147f. Vgl. ebd., S. 165-168. Figuren müssen dabei nicht zwingend »menschlich« oder »menschenähnlich« sein und weisen häufig phantastische Züge auf: Es kann sich hier also ebenso um ein »Ding« wie um ein Tier (z.B. in Tierfabeln) oder eine Maschine (z.B. in Science-Fiction-Romanen) handeln. Einen Sonderfall, auf den an dieser Stelle jedoch nicht weiter eingegangen werden soll, stellen historische Personen dar, die in einen fiktiven Roman eingebettet werden. Vgl. hierzu Martínez, Matías: »Figur«, in:

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Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte, hrsg. von Matías Martínez, Stuttgart/Weimar 2011, S. 145-150, hier S. 145. Ebd. Ebd. Gérard Genette führt mit dem Begriff der »Erzählstimme« oder auch »Stimme« eine neue Bezeichnung für den Autor und »[...] alle Subjekte [ein], die, sei es auch nur passiv, an dieser narrativen Aktivität [der Erzählhandlung] beteiligt sind.« Genette (wie Anm. 30), S. 137. Annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass (wie Anm. 3), S. VIII. Brief Alban Bergs an Hanna Fuchs vom 23. Oktober 1926. Zitiert nach Floros (wie Anm. 2), S. 53. Die so »sprechenden« Satzbezeichnungen bilden nach Werner Wolf in der eigentlich textlosen Instrumentalmusik erzählerische Stimuli zur Aktivierung kognitiver Rahmen und evozieren beim Leser somit eine Bereitschaft, narrative Inhalte in die Musik hinein zu interpretieren. Vgl. Wolf (wie Anm. 43), S. 34-38. Ebd. Hier lenkt Berg also die Hörerwartung in zwei Richtungen: Das Gros der Hörer versteht die suggerierte Freundlichkeit und Unverbindlichkeit, während Hanna als »ideale« Hörerin diesen Satz bereits mit der folgenden Katastrophe konnotiert. Zitiert nach Floros (wie Anm. 2), S. 53. Ebd. So wird beispielsweise Dodo, durch zwei im Sprechrhythmus des Namens erklingende »c« (in der Solmisation »do«) vertont (annotierte Partitur, S. 17, ab T. 56 in der Bratsche), während Munzo »nicht ohne Absicht« einen »leisen czechischen Einschlag« erhält (annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass [wie Anm. 3], S. 13, ab T. 16). Vgl. ebd., S. 23. Berg notiert den Moment des Eingreifens der Mutter mit »Da trittst Du dazwischen«. Vgl. ebd., S. 24, ab T. 131. Vgl. ebd., S. 26. Brief Alban Bergs an Hanna Fuchs vom 23. Oktober 1926. Zitiert nach Floros (wie Anm. 2), S. 54.

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Vgl. z.B. 3. Satz der LYRISCHEN SUITE, T. 1f.: Das Motiv (B-A-F-H) wandert von der Violine 1 in die Violine 2 (A-B-H-F), die Viola (AB-F-H) und schließlich wieder in die Violine 1 (B-A-F-H). Vgl. annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass (wie Anm. 3), S. 35, Übergang von T. 69 zu T. 70. Vgl. Floros (wie Anm. 2), S. 54. Berg notiert: »Vgl. Dein Thema in Takt 13/14 des II. Satzes! Aber welche [Unterstreichung im Original] Form hat es indessen angenommen!«. Vgl. annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass (wie Anm. 3), S. 36f. Vgl. von Rauchhaupt (wie Anm. 60), S. 105. In seinem Brief an Hanna Fuchs schreibt Berg, dieser 4. Satz heiße »Adagio affettuoso«. Vgl. Floros (wie Anm. 2), S. 54. Berg überschreibt den 4. Satz mit diesen Worten. Vgl. annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass (wie Anm. 3), S. 46. Floros (wie Anm. 2), S. 54. Vgl. annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass (wie Anm. 3), S. 46, T. 24f. Die Themen sind jeweils als Hauptthemen gekennzeichnet. Bergs Thema findet sich in der Bratsche, Hannas Thema beginnt auf der letzten Achtel in T. 24 in der ersten Violine. Floros (wie Anm. 2), S. 54. Annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass (wie Anm. 3), S. 55f. Ebd., S. 57. Vgl. Schmid, Wolf: Der Textaufbau in den Erzählungen Dostoevskijs, Amsterdam 21986, S. 28. Annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass (wie Anm. 3), S. 59, ab T. 51-121. Zu musikalischen Analepsen vgl. Abbate (wie Anm. 12). Berg verweist im 5. Satz ab Takt 356-371 auf die Takte 45/46 im 4. Satz. Durch das Tremolo der Streicher, die hohe Lage und das viel raschere Tempo erklingt im »Presto delirando« jedoch eine verzerrte Erinnerung, die dem »idealen« Leser und Hörer schon zum Zeitpunkt ihres Erklingens ihre Vergeblichkeit offenbart. Vgl. Annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass (wie Anm. 3), S. 71f. Annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass (wie Anm. 3), S. 74-76.

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99 Floros (wie Anm. 2), S. 54. 100 Spielanweisung für die Viola im letzten Takt des letzten Satzes der LYRISCHEN SUITE. 101 Beginn des Baudelaire-Gedichts: »Zu dir, Du einzig Teure, dringt mein Schrei [...]«. Vgl. auch annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass (wie Anm. 3), S. 78, T. 13 (Vla). 102 Vgl. Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas, Leipzig 1863. 103 Im Roman wäre sowohl ein Freitod aus unglücklicher Liebe als auch ein offenes, unglückliches Ende vergleichbar dem von Hans Castorp in Thomas Manns Roman DER ZAUBERBERG möglich, den der Leser auf einem Schlachtfeld des ersten Weltkrieges aus den Augen verliert und dessen Schicksal ungewiss endet. Vgl. Mann, Thomas: Der Zauberberg, Berlin 1991, S. 1008. 104 Die Haltung der Musikwissenschaft zur Biographik ist von einer anhaltenden Kontroverse um ihre Einordnung ins Fach gekennzeichnet. Einen Überblick hierzu bietet etwa Unseld, Melanie: Biographie und Musikgeschichte. Wandlungen biographischer Konzepte in Musikkultur und Musikhistoriographie, Köln 2014. Zudem kam es gerade im Falle Bergs zu einer Debatte über den Einbezug biographischer Daten in die Analyse seiner Musik, wie sie etwa durch Constantin Floros vorgenommen wurde. Vgl. z.B. Floros, Constantin: »Das esoterische Programm der LYRISCHEN SUITE von Alban Berg«, in: Musik-Konzepte 4: Alban Berg. Kammermusik I, hrsg. von Heinz Klaus Metzger/ Rainer Riehn, München 1978, S. 5-48. Eine Gegenposition nahm Dietmar Holland ein: Holland, Dietmar: »Musik als Autobiographie? Zur Entschlüsselungsmethode von Constantin Floros bei Werken von Gustav Mahler und Alban Berg«, in: Biographische Konstellationen und künstlerisches Handeln, hrsg. von Giselher Schubert (= Frankfurter Studien. Veröffentlichungen des Paul-Hindemith-Institutes, Bd. 6), Frankfurt am Main/Mainz 1997, S. 110–127. 105 Vgl. Rode (wie Anm. 10), S. 71. 106 Vgl. hierzu Floros (wie Anm. 63), S. 87ff. 107 Berg (wie Anm. 1), S. 252. 108 Brand/Hailey/Meyer (wie Anm. 58), S. 482. 109 Zitiert nach Metzger/Riehn (wie Anm. 4), S. 9. 110 Wagner-Egelhaaf, Martina (Hrsg.): Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, Bielefeld 2013, S. 10. Vgl. auch de

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Man, Paul: »Autobiographie als Maskenspiel« in: Die Ideologie des Ästhetischen, hrsg. von Christoph Menke, Frankfurt am Main 1993, S. 131-146, hier S. 133f. Doubrovsky, Serge: »Nah am Text«, in: Kultur & Gespenster: Autofiktion 7 (2008), S. 123-133, hier S. 126. Ebd., S. 123. Wagner-Egelhaaf (wie Anm. 110), S. 10. Vgl. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt, Frankfurt am Main 1994. Vgl. ebd., S. 30. Vgl. Zipfel, Frank: »Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?«, in: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, hrsg. von Simone Winko/ Fotis Jannidis/Gerhard Lauer, Berlin/New York 2009, S. 284-314. Ebd., S. 306. Annotierte Partitur der LYRISCHEN SUITE, Berg-Nachlass (wie Anm. 3), S. VI. Ebd. Susmann, Margarete: Das Wesen der modernen deutschen Lyrik, Stuttgart 1910, S. 18. Susman setzt 1910 mit ihrer Studie den Anfangspunkt der Debatte um das »Lyrische Ich«. Ebd., S. 19. Vgl. Berg (wie Anm. 1). Vgl. Morgenstern (wie Anm. 5), S. 162.

Kann Musik erzählen? Musikphilosophische Kurzgeschichten

G EORG M OHR

E INE

STARKE I NTUITION

Kann Musik erzählen? Das ist keine rein akademische, sondern eine sehr lebensnahe Frage, die einen konkreten Aspekt des Musikerlebens vieler Menschen betrifft, die ›bewusst‹ Musik hören, intentional und aus Interesse an Musik. Viele Menschen werden diese Frage unbefangen mit »Ja!« beantworten. Fragt man weiter, warum sie dies glauben und ob sie etwas darüber sagen können, was in einer Musik bei ihnen diesen Eindruck des Erzählerischen auslöst, wird man verschiedene Antworten erhalten. Einige dieser Antworten werden ungefähr so lauten:  Die Instrumente klingen wie ... Vogelstimmen, ein lachendes Kind, eine militärische Invasion ...  Das hört sich an wie das Spiel der Wellen im Wasser.  Es ist, als ob Personen vorkommen, die handeln.  Die Musik klingt wie die Gedanken einer Person.  Es ist, als ob jemand zu mir spricht.  Es ist, als ob jemand eine Geschichte erzählt.  Diese Musik löst bei mir Bilder aus. Ich assoziiere mit ihr ...  Musik erinnert mich oft an etwas, was ich erlebt habe.  Die Musik erzählt von der Zeit, in der sie komponiert wurde.  Der Komponist erzählt mit seiner Musik sein Leben.  Die Bewegung der Musik ist wie die einer Geschichte, die erzählt wird.

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 Es gibt Spannungen und Auflösungen in dieser Musik, Erwartungen werden erfüllt, Erwartungen werden enttäuscht. Der ›Eindruck‹, dass Musik erzählt, ist weder nur Merkmal eines bloß ›laienhaften‹, inkompetenten Umgangs mit Musik, der sich in Ermangelung genuin musikalischer Kompetenz mit poetischen Ersatz- oder Hilfskonstruktionen behilft, noch handelt es sich lediglich um das Resultat der unreflektierten Reproduktion einer vorgegeben Theoriesprache. Es scheint vielmehr eine sehr starke, quasi unmittelbare Intuition zu geben, dass Musik erzählt. Auch viele Komponisten, Musiker und Musikwissenschaftler teilen sie. Mehr noch: Dass Musik erzähle, war bis zum beginnenden 20. Jahrhundert sogar zu einem bürgerlichen Imperativ geworden, der als so selbstverständlich galt, dass die damalige Avantgarde, insbesondere Arnold Schönbergs 1918 gegründeter Verein für musikalische Privataufführungen,1 in Wien gegen den Vorwurf sich zu wehren hatte, dass ihrer Musik das Erzählerische fehle.2

I NSTRUMENTALMUSIK Auf die Frage, ob Musik erzählt, wäre die Antwort nicht befriedigend, dass man dies an Liedern, Opern, Musicals und Filmmusiken erkennen könne. Denn das könnte daran liegen, dass es dort Texte gibt, die erzählen, wozu die Musik nur den Kommentar gibt, die entsprechende Stimmung intensiviert, konterkariert, persifliert und dergleichen. Und es ist schwierig, mit einiger Sicherheit zu identifizieren, was an der Erzählung eines Liedes, einer Oper etc. auf den Text und was an ihr auf die Musik zurückzuführen ist.3 Die Erörterung der Frage, ob Musik erzählen könne, hat sich daher weitgehend – wenn auch nicht ausschließlich – auf die Untersuchung von Instrumentalmusik konzentriert. Die ›klassischen‹ Arbeiten zur Narrativität von Musik beziehen sich so gut wie ausschließlich auf Instrumentalmusik der europäischen Werktradition des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts – und dies setzt sich weitgehend bis in die aktuellste Literatur fort.4 Die Frage lautet, ob Musik allein, ohne jede wortsprachliche Verbindung, zu erzählen vermag. Was genau hat es mit dieser Redeweise von »erzählender Musik« auf sich?

K ANN M USIK

ERZÄHLEN ?

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S UCHE

NACH EINER T HEORIE , DIE DIE I NTUITION SACHHALTIG ERKLÄRT Wenn wir es nicht bei der bloßen Bestandsaufnahme faktischer Redeweisen belassen wollen, müssen wir versuchen zu klären, welche Gründe sich dafür anführen lassen, dass die Intuition, dass Musik erzählt, so wirksam ist. Und wir sollten uns nach theoretischen Erklärungen umsehen, die verständlich machen können, dass die Überzeugung, Musik könne erzählen, als eine sachlich fundierte Beschreibung eines Sachverhalts konzeptualisiert werden kann, der etwas Grundlegendes und Wesentliches über Musik und das Hören, das Wahrnehmen und das Verstehen von Musik aussagt. Das Angebot ist umfangreich. Versuchen wir, uns einen kurzen Überblick zu verschaffen. Dabei steht zunächst im Vordergrund die Frage, was denn eine Erzählung ist.

S TANDARDMODELL : O RIENTIERUNG AM LITERATURWISSENSCHAFTLICHEN B EGRIFF E RZÄHLENS

DES

Dass Musik erzählen kann, ließe sich damit begründen, dass Musik die Anforderungen an den Standardbegriff von Erzählung erfüllt. Das ›Standardmodell‹ einer Musik-Narratologie legt ihrem Erzählbegriff etablierte literaturtheoretische Bestimmungen zugrunde und wendet diese auf Musik an. Danach gehört zu einer Erzählung: 1. 2. 3. 4. 5.

ein Erzähler; ein Adressat der Erzählung; Ereignisse, die in der Zeit verlaufen, als Gegenstand der Erzählung; eine progressive Entwicklung der Geschehnisse; Darstellung kausaler Verknüpfung und teleologischer Ausrichtung der Geschehnisse; 6. Strukturierung des Ablaufs der erzählten Ereignisse; 7. Handlungsbeschreibungen; 8. Beschreibungen von Personen als Akteuren;

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9. erzählerisches Aufbauen von Erwartungen, die erfüllt oder enttäuscht werden; 10. Spannungsbogen von der Exposition über die Krise bis zur Auflösung. Die Punkte 3 bis 6 lassen sich als Merkmale von »eine Geschichte erzählen« zusammenfassen. Dieses Standardmodell versteht demnach unter einer Erzählung die Mitteilung einer Geschichte durch einen Erzähler. Zentral für eine Erzählung ist nach dieser Auffassung ein ›plot‹ und die Weise, diesen zu kommunizieren.

S CHWIERIGKEITEN Tatsächlich war die musikalische Narratologie lange damit befasst, Musik so zu interpretieren, dass in ihr eine Geschichte, ein ›plot‹ erkennbar, ›hörbar‹ wird. Eine solche Auffassung von musikalischer Narrativität birgt aber eine Reihe von Schwierigkeiten. Es ist nämlich leicht ersichtlich, dass reine Instrumentalmusik die meisten dieser Anforderungen nicht erfüllt. In Musik als solcher ist kein Erzähler zu hören (1). Musik verläuft zwar selbst in der Zeit, sie ist selbst eine Folge von Ereignissen in der Zeit (3, 4); aber Musik referiert nicht auf außermusikalische Ereignisse (8). Musik repräsentiert keine Kausalrelationen (5). Musik kann aufgrund bestimmter harmonietheoretischer Annahmen verstanden werden als eine geordnete Sequenz von musikalischen Ereignissen, deren jedes das jeweils nächste »vorbereitet« (10) und die insgesamt auf einen Schluss, ein Ziel (Rückkehr zur Tonika) hin ausgerichtet und organisiert sind (6, 11); aber Musik repräsentiert keine kausalen und teleologischen Relationen (5, 6). Und: Musik referiert nicht auf Gegenstände oder Personen (9). Wenn die Anforderungen des sprach-/textbezogenen Erzählbegriffs allesamt notwendige Bedingungen für die Anwendung auch eines musikalischen Erzählbegriffs sein sollten, dann könnte das Resultat nur lauten: Musik kann nicht erzählen. Im Wesentlichen lassen sich die ›Fehlanzeigen‹ der Musik in Bezug auf die Kriterien des sprach-/textbezogenen Erzählbegriffs zurückführen auf einen grundlegenden Befund, was die Eigenschaften von Musik betrifft: Töne, Klänge haben keine Semantik, sie referieren nicht auf Außermusikalisches. Es gibt daher auch keine musikalische Prä-

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ERZÄHLEN ?

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dikation. Und dies wiederum, so könnte man schlussfolgern, schließt aus, dass Musik erzählt. Dieses ›Defizit‹ kompensieren plot-zentrierte Musik-Interpretationen dadurch, dass sie umfangreiche Hilfshypothesen in Anspruch nehmen: Sie ziehen gegebenenfalls Aussagen des Komponisten sowie lebens- und werkgeschichtliche Informationen heran, die sie anhand von historischkulturellem Kontextwissen zu einem integrativen Interpretationszusammenhang verbinden. Dabei ist methodisch fraglich, inwiefern dies hinreichende Indizien für eine musikalische Interpretation sind. Ein weiteres Manko aber ist auch dieses: Die plot-fixierte Erzähltheorie der Musik ist auch – gewissermaßen in entgegengesetzter Richtung – unbefriedigend, weil sie dem Umstand nicht gerecht wird, dass wir, wenn wir bei Musik an »Erzählen« denken, nicht nur an eine imaginierte Story denken, die wir wie ›inneres Kino‹ vorgeführt bekommen. Wir meinen mehr damit. Es geht bei der Frage nach ›erzählender Musik‹ nicht – nicht primär – um eine Erklärung der Möglichkeit von Programmmusik, wir wollen vielmehr wissen, ob Musik als solche, ohne Programm, ohne unterliegenden Text, ohne poetische Satzüberschriften, also ›reine Instrumentalmusik‹ mit den nur ihr eigenen, rein musikalischen Mitteln erzählen kann.

›M INIMALDEFINITION ‹? Im Blick auf diese Schwierigkeiten sind verschiedentlich ›Minimaldefinitionen‹ des Erzählbegriffs vorgeschlagen worden, die im Übrigen auch auf eine transmediale Operationalisierbarkeit des Erzählbegriffs abheben; dieser soll nicht per definitionem medial und gattungstheoretisch präjudiziert sein. Das Interesse am Erzählbegriff beschränkt sich schon lange nicht mehr auf die Literaturwissenschaft, auch die Filmwissenschaft, die Comicwissenschaft und seit einiger Zeit eben auch die Musikwissenschaft suchen nach geeigneten Konzeptualisierungen. Schlankere Definitionen von »Erzählung« laufen im Wesentlichen auf die folgenden Merkmale bzw. Anforderungen hinaus. Bei einer »Erzählung« handle es sich um eine Darstellung (Repräsentation) von mindestens zwei Ereignissen oder Zuständen und den zeitlichen und kausalen Beziehungen (oder anderen ›sinnhaften Verknüpfungen‹) zwischen diesen Ereignissen oder Zuständen.5

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E BENEN

UND

O BJEKTE

DER

M USIKWAHRNEHMUNG

Wenn man klären will, ob und inwiefern eine solche schlankere Definition weiterführen und vor allem erst einmal aus den bisherigen Aporien hinausführen könnte, hat man zu überdenken, welche Objekte als narrative Objekte von Musik in musikalischen Erzählungen angenommen werden können. Zu diesem Zweck unterscheidet Levinson verschiedene Ebenen in der Musikwahrnehmung: 1. Tonhöhen, Tondauer, Klangfarbe (pitches, durations, timbres); 2. Rhythmen, Motive, Phrasen, Melodien, Harmonien (rhythms, motives, phrases, melodies, harmonies); 3. musikalische Gesten, Handlung; 4. »states of mind«.6 Auf der ersten Ebene werden im Zuge des Verlaufs wechselnder Tonhöhen, Tondauer und Klangfarben Sukzession und Veränderung gehört. Auf der zweiten Ebene hören wir darüber hinaus Bewegung in der Musik. Diese beiden ersten Ebenen ergeben zusammen die »konfigurative Ebene der Musikwahrnehmung« (»musical apprehension«). Auf der dritten Ebene, der »gestischen« Ebene, hört man die Musik etwas »tun«. Die vierte, »expressive« Ebene ist die der ›Bewusstseinszustände‹, die ›hinter‹ den Gesten und Handlungen gehört werden. Aus dem integrativen Komplex dieser Ebenen lassen sich nach Levinson vier mögliche narrative Objekte von Musik identifizieren: Gesten, Handlungen, Ausdruck (»expressions«), mentale Zustände. Der Inhalt eines musikalischen Narrativs ist eine Art von Sequenz dieser Objekte. Wenn eine Sequenz von z.B. mentalen Zuständen als der narrative Inhalt einer Musik verstanden wird, sieht das nach den eingeführten Voraussetzungen laut Levinson so aus: »Erst S1, dann S2, dann S3, ...« (S = mentaler Zustand), wobei die Beziehungen zwischen diesen von der Art sein können: »S1 entwickelt sich zu S2«, »S2 resultiert aus S1«, »S2 ist eine Reaktion auf S1« usw. Die Frage, ob expressiv entsprechend variierte Musik denn nun tatsächlich solch ein Narrativ erzählt, beantwortet Levinson negativ.7 Expressive Musik mag Hörern mit einem geeigneten Hintergrund von Musikerfahrun-

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gen »induzieren«, Gesten und Ausdruck in ihr zu hören, aber das ist sicher nicht hinreichend, um zu sagen, dass die Musik diese Dinge ›repräsentiere‹. Levinson trägt dann eine kurze Analyse des Kopfsatzes von Schuberts KLAVIERSONATE A-MOLL D 845 vor, aus der hervorgehen soll, dass die Musik nicht von Ereignissen an einem Ort und zu einer anderen Zeit berichtet, sondern dass sie ein Drama von Ereignissen hier und jetzt mit unbestimmten Personen (personae) und deren Emotionen und Handlungen ist.8

S TRUKTUREN

STATT › PLOT ‹ UND › CONTENT ‹

Es kann nicht verwundern, dass die Anwendung eines Erzählbegriffs, der trotz aller Schlankheit immer noch einen unverkennbaren Bezug auf sprachliche Texte und deren Repräsentationsweise aufweist, auf Musik, zu negativen Resultaten führt. Die Diskrepanz zwischen Musik und dem literaturwissenschaftlich orientierten Erzählbegriff ist so offenkundig, dass man gute Gründe hat, nach anderen Wegen zu suchen. Nahe liegt die Suche nach einem weiteren Erzählbegriff, der nicht auf einen referentialistischen Begriff von Darstellung (›plot‹) und von dargestellten Ereignissen (›content‹) fixiert ist. Offenbar ist der Versuch narratologischer Musikinterpretation nur unter der Voraussetzung eines in diesem Sinne weiteren Erzählbegriffs nicht von vornherein zum Scheitern verurteilt. In Interpretationen zu Beethoven, Schumann und Mahler vertritt Anthony Newcomb die These, dass wir beim Hören von Musik (insbesondere eben Beethovens, Schumanns und Mahlers) die in der Musik erfolgende Evokation von Handlungen, Spannungen und Dynamiken erkennen, analog dazu, wie wir dies auch bei literarischen Werken tun.9 Die Konzeption von Musik als komponiertem Roman ist nach Newcomb für das Verständnis vieler Musik zumindest des 19. Jahrhunderts der wesentliche Schlüssel.10 Diesem musiknarratologischen Interpretationsverfahren folgen bis heute zahlreiche Musikwissenschaftler und scheinen damit durchaus, wie eingangs festgestellt, eine Alltagsintuition von Musikhörerinnen zu treffen. Unser an literarischen Werken geübtes narratives Vokabular scheint sich für eine Anwendung auf Musik zu eignen. Diese Annahme scheint auch durch die Tatsache Unterstützung zu finden, dass Komponisten selbst, und insbesondere Komponisten des 19. Jahrhunderts von Berlioz bis Mahler (und auch noch darüber hinaus), ex-

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plizit von literarischen Werken sich haben inspirieren lassen. Viele von ihnen waren auch selbst poetisch kreativ, so dass die poetische und die musikalische Kreation zumindest werkgenetisch oft Hand in Hand gingen. Wichtig ist nun, dass es nicht – nicht primär und nicht als notwendige Bedingung – darum geht, bestimmte (vermeintlich) musikalisch dargestellte ›außermusikalische‹ Ereignisse als Erzählinhalte zu hören, sondern darum, bestimmte musikalische Strukturen als solche zu hören, die eine strukturelle Affinität zu dem aufweisen, was man allgemeine narrative Praxis nennen kann, wie sie sowohl in mündlicher Erzählung als auch in literarischen Kunstwerken wie Romanen zu finden ist. In der Instrumentalmusik des 19. Jahrhunderts bietet sich die Sonatenform als eine solche Struktur an. In der Tat arbeitet die Musiknarratologie mit der Hypothese, dass in Bezug auf Musik unter einem Narrativ ein »explanatorischer Modus für komplexe musikalische Strukturen«11 zu verstehen sei und dass sich dies an der Sonatenform exemplifizieren lasse.

M USIK

ALS

R OMAN

Die Sonatenform, so Robert Samuels, »encapsulates the adherence in nineteenth-century musical practice to the concepts of development through time and resolution through closure. Arguably, these concepts characterise all formal thinking in music of the period. Immediately, points of contact with narrative practice suggest themselves, since at this level of abstraction, much the same can be said of nineteenth-century literature; the depiction of development through time is particularly a distinguishing feature of the realist novel.«12 Adorno bringt diesen Sachverhalt in seinem MahlerBuch auf den Punkt: »Nicht Musik zwar will etwas erzählen, aber der Komponist will Musik machen, wie sonst einer erzählt.«13 Die im 19. Jahrhundert zunehmende Prominenz der narrativen Beschreibung und Kommentierung von musikalischen Prozessen ist demnach kein der Musik äußerlicher und von ihr unabhängiger Vorgang, sondern der kompositorischen Praxis dieser Zeit durchaus immanent. Es handelt sich dabei auch um einen intern musikhistorischen Prozess: »what starts as a tonal form becomes, in the course the [19th] century, a thematic form. A certain reification of the musical materials is inescapable; the ›main theme‹

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becomes an object which defines the ›first subject‹ of the work. Once conceived in this way, changes to this object when it occurs, which are necessitated by the ideological commitment to avoid literal repetition (an empty or meaningless gesture), become the opportunity for constructing a history of this ›musical idea‹. And any history implies a narrative.«14

Die Interpretation der Sonatenform, die eine Form der Bewegung, Veränderung musikalischer Themen ist, vollzieht sich unweigerlich in der Konstruktion einer »Geschichte« der sich im Verlauf der Sonatenform entwickelnden »musikalischen Idee« (des Hauptthemas). Auch diesbezüglich beobachtet Adorno bei Mahler eine Strukturaffinität seiner Symphonik mit dem Roman: »Dabei bleiben die Mahlerschen Themen insgesamt wie Romanfiguren kennbar, noch als sich entwickelnde mit sich selbst identischen Wesens.«15 Zwar bringe nicht, wie im »klassizistischen Musikideal«, »das Ganze virtuell die Themen selbst hervor [...]. Umgekehrt aber ist bei Mahler die thematische Gestalt auch so wenig gleichgültig gegen den symphonischen Verlauf wie Romanfiguren gegen die Zeit, in der sie agieren.«16 Damit kommt das Narrative in die musikalische Interpretation, ohne dass irgendetwas anderes als das musikalische Material und seine Veränderung und Entwicklung in der musikalischen Form des Sonatenhauptsatzes und dessen Weiterentwicklungen thematisiert würde.

N ICHT

DIE M USIK ERZÄHLT , SONDERN WIR NARRATIVIEREN DIE M USIK Bemerkenswerterweise ist gerade von einem Musik-Semiotiker, JeanJacques Nattiez, prominent verneint worden, Musik könne erzählen. Der Musik, insbesondere der Instrumentalmusik, die ja im Fokus der einschlägigen narratologischen Analysen steht, fehle die Referenzialität auf außermusikalische Objekte, die Möglichkeit der Repräsentation von Kausalität und die Erzählerperspektive einer Verbalsprache. Damit fehlen der Musik genau die Eigenschaften, die die Bedingungen für Narrativität sind. Daraus folgt laut Jean-Jacques Nattiez, dass Musik nicht narrativ sein kann. Die Rede von »erzählender Musik« ist demnach in einem streng begrifflichen Sinne sachlich falsch.17

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Die Rezipienten können sich aber, so Nattiez, durchaus gelegentlich aus dem Gehörten eine Art Erzählung konstruieren. Rezipienten ›narrativieren« ausgehend vom musikalischen Hören. Solche Narrativierungen sind in vielen Fällen gut an der Musik nachvollziehbar, in dem Sinne nämlich, dass narrativierende Musik-›Beschreibungen‹ häufig von signifikant mehreren Hörerinnen ›bestätigt‹ werden (können). Die Rede von der »erzählenden Musik« ist durchaus nicht willkürlich, sie ist eine erklärbare metaphorische Redeweise. Ihre Wirkung lässt sich von der Sache her motivieren. Denn: »music shares with literary narrative that fact that, within it, objects succeed one another: this linearity is thus an incitement to a narrative thread which narrativizes music. Since it possesses a certain capacity for imitative evocation, it is possible for it to imitate the semblance of a narration without our ever knowing the content of the discourse, and this influence of narrative modes can contribute to the transformation of musical forms.«18

Musik löst einen »narrativen Impuls«19 aus und veranlasst, ›stimuliert‹ uns aufgrund bestimmter struktureller Ähnlichkeitsbeziehungen zur verbalsprachlichen Narration zur Konstruktion von Narrativen, die wir wiederum auf die Musik projizieren. Schon aus Newcombs Analysen würde hervorgehen, dass »for the listener, any ›narrative‹ instrumental work is not in itself a narrative, but the structural analysis in music of an absent narrative«20. Gerät der Konstruktions- und Projektionscharakter der Narrativierung aus dem Blick, kann der intersubjektive ›Erfolg‹ der Narrativierung zu der »ontologischen Illusion« verleiten, die Narration sei etwas ›in‹ der Musik selbst und Narrativität sei eine Eigenschaft der Musik selbst. Dem ist aber nicht so: »The narrative, strictly speaking, is not in the music, but in the plot imagined and constructed by the listeners from functional objects«21. Musik, so Nattiez gegen Eero Tarasti,22 ist keine »narrative Kunst«.23 Die Beschreibung von formalen Strukturen von Musik als Narrativität ist nach Nattiez daher nichts als eine »überflüssige Metapher«.24

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N ARRATIVE A RCHETYPEN In Anbetracht der genannten Schwierigkeiten mit ›plot‹-orientierten Musiknarratologien, die im Wesentlichen auf den grundsätzlich nicht-referentiellen und insofern nicht-semantischen Charakter von Musik zurückzuführen sind, sind solche Versuche einer theoretischen Explikation der Vorstellung, Musik könne erzählen, von Interesse, die sich von inhaltlichen Analogien lösen und bei Struktur-Affinitäten ansetzen. Dass Musik erzählen kann, wird laut Anthony Newcomb anhand des Konzepts des »plot archetype« oder »narrative archetype « deutlich. Er versteht darunter »various standard configurations of actions or intentions, configurations that are a fundamental part of our vocabulary for interpreting the design and intention of human action and its simulacrum, narrative. These archetypes are not texts. They are by no means exclusively verbal. They are more generally conceptual«25.

Newcomb bezieht sich dabei insbesondere auf »paradigmatic temporal procedures, operations, or transformational sequences.«26 Diese sind aber nicht bloß Parameter einer spezialistisch-musikwissenschaftlichen Analyse, sondern: »The comprehension of these standard configurations is part of a person's narrative competence in a given culture. Mastery of this (culturespecific) typology of plots is part of any narrative understanding.«27

Es geht bei einer solchen Analyse nicht um eine Beschreibung von Ereignissen hinsichtlich der Frage ›Was folgt auf was?‹, sondern vielmehr darum, »how one thing becomes, leads to, interrupts, distorts, or replaces another; its solidity, its fate, once it has done so; and the relation of its actual formal function to that implied by its preparation and by the characteristic style to which it appeals. This focus of attention is the distinctive element that narrative analysis can bring to our understanding of (certain pieces of) music. Neither pitch analysis nor motivic analysis nor standard Formenlehre have anything to say about these matters, which are crucial to an understanding of Mahler's music as I hear it.«28

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Die von Nattiez identifizierte referenztheoretische Schwierigkeit ist in Newcombs Konzeption von vornherein gegenstandslos, da es gerade nicht um die Darstellung von Ereignissen anhand der Bezugnahme auf unterscheidbare und in Zeitfolgen auftretende ›außermusikalische‹ Objekte geht, sondern um Merkmale und Charaktere bestimmter Verläufe, die als musikalische Verläufe identifiziert werden und deren Charakter in nichtkontingenten Beziehungen zu den Grundmustern des Verstehens von Handlungen stehen, die Teil der narrativen Kompetenz von Personen in einer gegebenen Kultur sind. – Byron Almén unterscheidet daran anknüpfend zwischen den der narrativen Archetypen »romance narratives«, »tragic narratives«, »ironic narratives« und »comic narratives«29 und verbindet diese mit der Theorie der musikalischen Topoi.30

P ERFORMANCE - ORIENTIERTE P ARAMETER N ARRATIVEN

DES

Während die bisher betrachteten Konzeptionen doch – wie auch immer vermittelt – inhaltliche Bezüge als das anvisieren, was das Erzählte in musikalischen Erzählungen ausmacht, sieht Carolyn Abbate31, in kritischer Modifikation von Edward T. Cones Konzept einer »composer’s voice«32, das Narrative in der musikalischen Realisierung der »Idee der Stimme«. Damit ist nicht im wörtlichen Sinne die Verwendung einer Gesangsstimme gemeint, sondern die Idee der Stimme äußert sich im Auftreten bestimmter isolierter und nur gelegentlicher Gesten in der Musik, die vokal oder auch nichtvokal vorgetragen werden können. Abbate versteht »musical narration not as an omnipresent phenomenon, not as sonorous encoding of human events or psychological states, but rather as a rare and peculiar act, a unique moment of performing narration within a surrounding music.«33

Solche plötzlichen oder doch markanten, sich von der musikalischen Umgebung deutlich absetzenden musikalischen Ereignisse werden, so Abbate, wahrgenommen als Weisen des Aussagens durch Subjekte: »certain gestures experienced in music constitute a narrating voice«.34 Musik ist laut Abbate nicht diegetisch,35 sondern mimetisch, Musik »perform[s] the story, in the present tense.«36 Sie ist das Drama, nicht die Erzählung.37 Der narra-

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tive Effekt von Kontrasten, Brüchen, Verfremdungen etc. in einer rein instrumentalen Musik lässt sich, neben Gustav Mahler, auch extensiv an Dmitri Shostakovichs Symphonien studieren.38 Eine weitere Ergänzung des Spektrums von Explikationen des Erzählcharakters von Musik besteht in dem Hinweis auf die »Aufführungsförmigkeit« solcher Musik, die wir als erzählend erleben. Laut Silvan Moosmüller gilt dies für Mahlers Musik, da für sie die Position des Dirigenten von konstitutiver Bedeutung sei.39 In Mahlers Musik gleiche der Dirigent »einem Erzähler, der im Kosmos seiner klingenden Welt waltet – nicht weil er zum Träger einer Handlung wird, sondern indem er, für alle sichtbar, in Musik handelt. Sein narrartiver Ort entfaltet sich in Gestalt der stummen Pantomime, mit der er das raumzeitliche Kraftfeld orchestraler Energien strukturiert, von diesem klanglich eingeschlossen wird und darüber hinaus eine bestimmte Haltung zum Erklingenden einnimmt.«40

Dem »Ineinander der Pantomime des Dirigenten mit der erklingenden Musik« komme in Mahlers Musik eine »strukturbildende Funktion« zu.41

»T ELL

A

S TORY «

Die Musik-Narratologen legen großen Wert darauf, ihre Überlegungen auf Instrumentalmusik zu fokussieren. Und sie identifizieren das Repertoire der klassisch-romantischen Musik des west- und mitteleuropäischen 19. Jahrhunderts als das paradigmatische Material für eine Klärung der Frage, ob ›reine‹ Musik als solche, also Musik ohne Wort-Text-Bezug (wie Lieder und Opern), mit Hegel: »selbständige«, nicht »begleitende« Musik,42 ›erzähle‹. Gattungstheoretisch gesprochen werden vor allem (paradigmatisch und am häufigsten, nicht ausschließlich) Klaviersonaten, Streichquartette und Symphonien herangezogen. Es darf aber nicht übersehen werden, dass gerade die vermeintlich ›reine‹ Instrumentalmusik dieser Zeit (von Beethoven über Berlioz, Schubert, Schumann, Mendelssohn und Chopin bis zu Mahler und dem jungen Schönberg) in hohem Maße eine von poetischen Ideen und literarischen Vorlagen inspirierte Musik ist. Es ist daher gar nicht so überraschend, dass

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narrative Interpretationen an Beethovens 3. SYMPHONIE »Eroica«, seinem »ERZHERZOG-TRIO«, an Berlioz’ SYMPHONIE FANTASTIQUE, Chopins PRELUDES, Schumanns 2. SYMPHONIE und dem Klavierzyklus CARNAVAL, Mahlers 7. SYMPHONIE und 9. SYMPHONIE (um einige der in der hier zitierten Literatur am häufigsten herangezogenen Musikwerke zu nennen) vorgenommen werden – und dies in der Regel mit beeindruckend aufschlussreichen Resultaten. Es ist also gar nicht so klar, ob dieses Repertoire, das unter dem Titel ›reine Instrumentalmusik‹ charakterisiert wird, das Kriterium der Nicht-Worttext-Bezogenheit überhaupt im strengen Sinne erfüllt. Denn, so mag man einwenden, die explizite Verwendung von Wort-Text in einer Musik ist womöglich kein hinreichendes Kriterium für ihre spezifische Charakterisierung als ›reine Musik‹ in dem Sinne, in dem dadurch hier eine Präzisierung der Fragestellung erreicht werden soll. Da ist vielleicht ein noch aussagekräftigeres Beispiel-Material die JazzImprovisation. Sie vermag sich nicht nur von Texten zu lösen, sondern auch vom musikalischen Material, das womöglich noch eine, wenn auch nur vermittelte ›Tuchfühlung‹ zur Textbasis der Musik aufweist (wie das bei den sogenannten ›Standards‹, also Bearbeitungen von Broadway-Songs, und auch neueren Song-Bearbeitungen für rein-instrumentale Jazz-Ensembles der Fall ist). Bemerkenswerterweise ist diese ›Souveränität‹ des Jazz, die zweifellos eine musikgeschichtliche Errungenschaft ist, gelegentlich auch als Manko empfunden worden. So jedenfalls muss man annehmen, wenn man feststellt, dass Jazz-Improvisationen unter die Forderung gestellt wurden: »Tell a story«. Dies ist als die Forderung verstanden worden, in Jazz-Improvisationen etwas zu leisten, was als Äquivalent zu dem in komponierter Musik – grundsätzlich – gegebenen Sachverhalt des strukturell hergestellten Sinnzusammenhangs, der Einheitsstiftung, gelten kann. Als musikalisch unbefriedigend galt (und gilt) in der Regel ein »stringing together of unrelated ideas«43. Louis Armstrong, Coleman Hawkins und Charlie Parker hingegen »sometimes created solos that ›held together as perfect compositions‹«44. Auch andere (z.B. André Hodeir) »emphasize the well-crafted architecture of his [Armstrong’s] solos«45. Allerdings argumentiert etwa Ted Gioia genau in die Gegenrichtung, wenn er für den Jazz eine »aesthetics of imperfection« fordert, da diese dem Jazz angemessener sei.46

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Offenbar wird aber nicht verlangt, dass tatsächlich das Improvisieren durch Komponieren ersetzt werden soll. Aber es wird davon ausgegangen, dass etwas anderes als die formal-strukturelle Einheit von Kompositionen im Jazz als funktionales Äquivalent dienen könnte: so zu improvisieren, dass das Gespielte wie das Erzählen einer Geschichte aufgefasst werden kann: Tell a story! Das überrascht umso mehr und ist umso interessanter für den gegenwärtigen Kontext, als man gerade von dem von Geschichten denkbar weit entfernten Tonmaterial in Jazz-Improvisationen am wenigsten erwarten würde, dass mit ihm Geschichten erzählt werden können. Storytelling wird zu einer unter Jazz-Musikern allgemeinen Kurzformel für ein gutes Solo. Louis Armstrong forderte seine Schüler auf »try to tell a story with your horn ... Don’t just go up there and blow something, you know, that you’d – you don’t know what you’re doing, making a lot of noise … He said, make a little story out of it.«47

Roy Eldridge bestätigt, er habe Armstrongs Soli als »climactic narratives« wahrgenommen. Dabei war diese Idealvorstellung von einer Improvisation als Storytelling verknüpft mit Vorstellungen von syntaktischer Kontinuität und sich steigernder Entwicklung. An Armstrongs Soli beeindruckte Eldridge, wie er jede Phrase mit der nächsten verband, von jeder Phrase zu jeder nächsten musikalisch schlüssig ›hinführte‹, »in the way a storyteller leads you on to the next idea. Louis was developing his musical thoughts, moving in one direction. It was like a plot that finished with a climax.«48

Jazz-Musiker nennen diese Art der sequentiellen Entwicklung in einem Solo »storytelling«. Mit diesem Terminus beziehen sie sich auf ihre Intention, »Kontinuität und Kohäsion« herzustellen: »jazz musicians have traditionally characterized this sort of sequential unfolding in a solo as a kind of ›storytelling‹, a notion presupposing concern for ›matters of continuity‹ and ›cohesion‹«49. In seinen Soli gelang es Armstrong, eine »large-scale coherence« herzustellen.50 Neben diesen offenbar an europäisch-klassische Vorstellungen von formaler Kohärenz und stimmiger Konstruktion fanden in Armstrongs Improvisationen aber auch biographische Reflexionen musikalischen Nie-

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derschlag. Unbesorgt um die oben gesehen angesprochenen Schwierigkeiten mit plot-orientierten Vorstellungen von musikalischer Narration, teilt Armstrong über sich selbst mit: »When I blow I think of times and things from outa the past that gives me a image of the tune … A town, a chick somewhere back down the line, an old man with no name you seen once in a place you don’t remember. … What you hear coming from a man’s horn – that’s what he is.«51

Bis heute hat sich diese Konvention gehalten: Improvisieren im Jazz heißt eine Geschichte erzählen. Jazz-Musiker (und nicht nur Jazz-Musiker) beschreiben ihre musikalische Praxis als Praxis der Kommunikation, der Interaktion, der Konversation und des Geschichtenerzählens.52 Damit verbinden sie, wenn wir Louis Armstrong folgen, vor allem zweierlei: zum einen intern-musikalische Normen der Kontinuität und Kohäsion, der Entwicklung und Schlüssigkeit, zum anderen narrative plots von Erinnerungen, Hoffnungen, Enttäuschungen.

K OHÄRENZ

ODER

V ERKÖRPERUNG ?

Formale Konstruktivität und narrative plots erschöpfen aber noch nicht das spezifische ›narrative‹ Potential des Jazz. Vijay Iyer hat in seinem Beitrag Exploding the Narrative in Jazz Improvisation das Bild konstruktiv erweitert.53 Zwei Punkte seien exemplarisch für seine differenzierte Analyse hier herausgegriffen, die unser Verständnis von musikalischer Narrativität im Allgemeinen und der musikalischen Erfahrungsdimension des Jazz im Besonderen bereichern. Für den Jazz musikalisch signifikant ist der hohe Stellenwert von Improvisation.54 Die Erfahrung beim Hören von Musik, von der wir wissen, dass sie improvisiert wird, ist eine andere, als die beim Hören komponierter Musik. Bei improvisierter Musik teilen wir als Hörer mit den Musikern einen gemeinsamen Zeitsinn (»shared sense of time«) als Teilnehmer eines gleichzeitigen sich hier und jetzt ereignenden kreativen Prozesses, eines ›Dramas‹. Wir erfahren uns als mit den improvisierenden Musikern, während sie das musikalische Material generieren, »coperforming as listeners«. Dadurch wird Musikerfahrung zur »awareness of the physicality of the ›grain‹, and a kind of empathy for the performer, an un-

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derstanding of effort required to create music.«55 Dies wird nach Iyer besonders eindrucksvoll deutlich an John Coltranes Arbeit an Giant Steps: »Listening to Coltrane on GIANT STEPS, one [agrees] that the breathtaking reality of Coltrane improvising and creating his way through this maze tells quite an awesome story indeed, one that at the very least elicits our empathy.«56

Ein zweiter Punkt wird durch Iyers These markiert, dass in der Praxis der Jazz-Improvisation eine Erweiterung des Skopus des Begriffs musikalischer Bedeutung stattfindet. Im Jazz werde nämlich klar, dass musikalische Bedeutung nicht nur über Motiventwicklung, melodische Konturen und solche dem Repertoire traditioneller Musikwissenschaft entstammenden Parameter vermittelt wird, sondern vor allem auch »embodied in improvisatory techniques«. Auch dies ist nach Iyer ein Geschichtenerzählen. »Musicians tell their stories, but not the traditional linear narrative sense; an exploded narrative is conveyed through a holistic musical personality or attitude.« In der Jazz Improvisation bilden die ›rein‹ musikalische und die ›außermusikalische‹ Dimension des Tuns eine Einheit. Die ›musical attitude‹ artikuliert sich zum einen musikalisch »through the skillful, individualistic, improvisatory manipulation of expressive parameters in combination« und zum anderen außermusikalisch, insofern »these sonic symbols ›point‹ to a certain physical, social, and cultural comportment, a certain way of being embodied«57.

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Die Beobachtungen am Jazz haben ergeben, dass die Narrations-Metaphorik keineswegs nur in der poetisch inspirierten Instrumentalmusik des europäischen 19. Jahrhunderts ihren angestammten Ort hat, sondern auch in musikalischen Kontexten, die sowohl geographisch als auch historisch davon entfernt sind, wirksam war und bis heute geblieben ist. Die Performanz-, Konversations- und Interaktionsbezogenheit des improvisierten Jazz macht den Blick frei für ein erweitertes Verständnis musikalischer Narration. Die Frage der ontologischen Illusion stellt sich hier ebenso wenig wie der Referentialität. Das Reden über Musik auf die Analyse von TonVerlaufsformen und Harmoniefolgen zu beschränken, wäre ein deplatzier-

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ter Revisionismus, der Musik der Kommunikation über Sinn und Relevanz dieser genuin menschlichen Praxis entziehen würde. Verstehen wir den Begriff der Narration als Allgemein- oder Stellvertreter-Begriff für verschiedenste Formen eines um Verstehen bemühten Umgangs mit Musik, die ein Sprechen über Musik nicht auf formale Analyse reduzieren wollen, dann sind wir frei, alle Musik als narrativ zu hören. Für ein solches Hören ist Musik mehr als das Formale von Tonbeziehungen, sie ›spricht‹ die Menschen an.

A NMERKUNGEN 1 Die Statuten des Vereins für musikalische Privataufführungen, der bis 1921 existierte, können eingesehen werden unter http://www.schoen berg.at/index.php/de/100-standard/1128-verein-statuten (Abruf am 15. August 2015). 2 Vgl. Unseld, Melanie/Weiss, Stefan (Hrsg.): »Einleitung«, in: Der Komponist als Erzähler. Narrativität in Dmitri Schostakowitschs Instrumentalmusik, hrsg. von dies., Hildesheim 2008, S. 9. 3 Edward T. Cone hat in seinen Ernest Bloch Lectures The Composer’s Voice, Berkeley/CA 1974, genau dies sehr eindrucksvoll versucht. 4 Vgl. Nattiez, Jean-Jacques: »Y a-t-il une diégèse musicale?«, in: Musik und Verstehen. Aufsätze zur semiotischen Theorie, Ästhetik und Soziologie der musikalischen Reproduktion, hrsg. von Peter Faltin/HansPeter Reinecke, Köln 1973, S. 247-257; Nattiez, Jean-Jacques: Fondements d’une sémiologie de la musique, Paris 1975; Newcomb, Anthony: »Once More ›Between Absolute and Programme Music‹: Schumann’s Second Symphony«, in: 19th-Century Music 7 (1984), S. 233-250; Tarasti, Eero: »Pour une narratologie de Chopin«, in: International Review of the Aesthetics and Sociology of Music 15 (1984), S. 53-75; Newcomb, Anthony: »Schumann and Late Eighteenth-Century Narrative Strategies«, in: 19th-Century Music 11 (1987), S. 164-174; Maus, Fred Everett: »Music as Drama«, in: Music Theory Spectrum 10 (1988), S. 56-73; Abbate, Carolyn: »What the Sorcerer Said«, in: 19th-Century Music 12 (1989), S. 221-230; Nattiez, Jean-Jacques: »Can One Speak of Narrativity in Music?«, in: Journal of the Royal Musical Association 115/2 (1990), S. 240-257; Abbate, Carolyn: »Unsung Voices: Opera

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and Musical Narrative in the Nineteenth Century, Princeton/NJ 1991; Maus, Fred Everett: »Music as Narrative«, in: Indiana Theory Review 12 (1991), S. 1-34: Maus, Fred Everett: »Narrative, Drama, and Emotion in Instrumental Music«, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 55 (1997), S. 293-303; Almén, Byron: »Narrative Archetypes: A Critique, Theory, and Method of Narrative Analysis«, in: Journal of Music Theory 47 (2003), S. 1-39; Levinson, Jerrold: »Music as Narrative and Music as Drama«, in: Mind & Language 19/4 (2004), S. 428-441; Tarasti, Eero: »Music as Narrative Art«, in: Narrative across Media: The Languages of Storytelling, hrsg. von Marie-Laure Ryan, Lincoln/ NB 2004, S. 283-304; Maus, Fred Everett: »Classical Instrumental Music and Narrative«, in: A Companion to Narrative Theory, hrsg. von James Phelan/Peter L. Rabinowitz, Oxford 2005, S. 466-483; Almén, Byron: A Theory of Musical Narrative. Bloomington/IN 2008. Vgl. auch den Überblick bei Nicole Rösch: »Theorien ohne Ende? Grenzen, Möglichkeiten und Perspektiven musikalischer Narratologie«, in: MusikTheorie 27 (2012), S. 5-18. Vgl. Levinson 2004 (wie Anm. 4), S. 429; Köppe, Tilmann/Kindt, Tom: Erzähltheorie: Eine Einführung, Stuttgart 2014, S. 43, 51. Vgl. Levinson 2004 (wie Anm. 4), S. 430. Vgl. ebd. Vgl. Levinson 2004 (wie Anm. 4), S. 438-440. Vgl. auch S. 440: »personae who are the shifting loci of the emotions and actions encountered throughout«. Vgl. Newcomb 1984 (wie Anm. 4); Newcomb 1987 (wie Anm. 4); Newcomb, Anthony: »Stratégies narratives et perception de la musique du début du dix-neuvième siècle«, in: Contrechamps 10 (1989), S. 1224. Vgl. Newcomb 1984 (wie Anm. 4), S. 234. Samuels, Robert: »Music as Narrative’s Limit and Supplement«, in: The Dynamics of the Threshold, hrsg. von Ana Mazanas/Jesus Benito. Madrid 2007, S. 149-163, hier S. 156. Ebd. S. 155. Hervorhebung vom Autor. Adorno, Theodor W.: Mahler. Eine musikalische Physiognomie, Frankfurt am Main 1960, S. 86. Samuels (wie Anm. 11), S. 156. Adorno (wie Anm. 13), S. 100-101.

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16 Adorno (wie Anm. 13), S. 101. – Zu Mahler in diesem Zusammenhang vgl. auch Samuels, Robert: Mahler’s Sixth Symphony: A Study in Musical Semiotics, 1Berkeley/CA 1995, Cambridge ²2004; Mohr, Georg: »›Meine Zeit wird kommen‹. Gustav Mahler hundert Jahre nach seinem Tod«, in: Musik & Ästhetik 15/4 (2011), S. 76-94. 17 Vgl. Nattiez 1990 (wie Anm. 4). Vgl. auch Nattiez 1973 (wie Anm. 4). 18 Nattiez 1990 (wie Anm. 4), S. 257. Hervorhebung vom Autor. 19 Ebd., S. 243. 20 Ebd., S. 249. Vgl. Newcomb 1984 (wie Anm. 4); Newcomb 1987 (wie Anm. 4). 21 Nattiez 1990 (wie Anm. 4), 249. Vgl. auch die Ausführungen zu Nattiez’ Argumenten in Byron 2008 (wie Anm. 4), S. 28-37. 22 Vgl. Tarasti 2004 (wie Anm. 4). 23 Vgl. Nattiez, Jean-Jacques: »La Narrativisation de la musique. La musique: récit ou proto-récit?«, in: Cahiers de Narratologie 21 (2011), S. 35: »l’attitude de cette orientation de la musicologie contemporaine a l’inconvénient de confondre le fonctionnement sémiologique des configurations musicales avec le contenu des conduites esthésiques qui les narrativisent, nécessairement métalinguistiques. Céder alors à la tentation de parler de ›récit musical‹, c’est glisser d’une métaphore […] à une illusion ontologique selon laquelle, parce que la musique suggère le récit, elle serait elle-même ›un art narratif‹, comme Tarasti la qualifie (2007).« 24 Nattiez 1990 (wie Anm. 4), S. 257: »music is not a narrative and [...] any description of its formal structures in terms of narrativity is nothing but superfluous metaphor«. 25 Newcomb, Anthony: »Narrative Archetypes and Mahler’s Ninth Symphony«, in: Music and Text: Critical Inquiries, hrsg. von Steven Paul Scher, Cambridge 1992, S. 118- 136, hier S. 119. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 120-121. 29 Vgl. Almén 2008 (wie Anm. 4), S. 93-221. 30 Vgl. hierzu Hatten, Robert S.: Musical Meaning in Beethoven: Markedness, Correlation, and Interpretation, Bloomington/IN 1994; Hatten, Robert S.: Interpreting Musical Gestures, Topics, and Tropes: Mozart, Beethoven, Schubert, Bloomington/IN 2004.

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Vgl Abbate 1989 (wie Anm. 4); Abbate 1991 (wie Anm. 4). Vgl. Cone (wie Anm. 3). Abbate 1991 (wie Anm. 4), S. 19. Ebd. Vgl. auch Nattiez 1973 (wie Anm. 4), der die Titelfrage seines Aufsatzes »Y a-t-il une diégèse musicale?« ebenfalls negativ beantwortet. Abbate 1989 (wie Anm. 4), S. 228. Zur Konzeption von Musik als Drama vgl. auch Maus 1988 (wie Anm. 4), sowie Levinson (wie Anm. 4). Flechsig, Amrei: »Narrativität und Groteskes bei Schostakowitsch«, in: Der Komponist als Erzähler. Narrativität in Dmitri Schostakowitschs Instrumentalmusik, hrsg. von Melanie Unseld/Stefan Weiss, Hildesheim 2008, S. 83-99, z.B. S. 91. Vgl. Moosmüller, Silvan: »Gustav Mahler als Erzähler? Erneute Perspektiven auf eine umstrittene Rezeptionskonstante«, in: MahlerInterpretation heute. Perspektiven der Rezeption zu Beginn des 21. Jahrhunderts, hrsg. von Lena-Lisa Wüstendörfer, München 2015, S. 58-77. Ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 77. Vgl. Siep, Ludwig: »Hegel über begleitende und selbständige Musik«, in: Vom Sinn des Hörens. Beiträge zur Philosophie der Musik, hrsg. von Georg Mohr/Johann Kreuzer, Würzburg 2012, S. 97-107. Schuller, Gunther: »Sonny Rollins and the Challenge of Thematic Improvisation«, in: ders.: Musings: The Musical Worlds of Gunther Schuller. A Collection of His Writings, New York 1986, S. 86-97, hier 87 (orig. publ. in The Jazz Review [Nov. 1958]). Vgl. dazu und zum Folgenden Harker, Brian: »›Telling a Story‹: Louis Armstrong and Coherence in Early Jazz«, in: Current Musicology 63 (1999), S. 46-83; Harker, Brian: »Telling a Story: ›Big Butter and Egg Man‹ (16. November 1926)«, in: ders.: Louis Armstrong’s Hot Five and Hot Seven Recordings, New York 2011, S. 39-67. Schuller (wie Anm. 43), S. 87, zitiert nach Harker 1999 (wie Anm. 43), S. 46. Ebd., S. 46. Gioia, Ted: The Imperfect Art: Reflections on Jazz and Modern Culture New York 1988, S. 66.

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47 Zitiert nach Harker 1999 (wie Anm. 43), S. 40-41. 48 Zitiert nach ebd., S. 41. 49 Berliner, Paul F.: Thinking in Jazz: The Infinite Art of Improvisation, Chicago 1994, S. 202. 50 Harker 1999 (wie Anm. 43), S. 64. 51 Ebd., 66. 52 Vgl. Berliner (wie Anm. 49); Monson, Ingrid: Saying Something: Jazz Improvisation and Interaction, Chicago 1997. 53 Iyer, Vijay: »Exploding the Narrative in Jazz Improvisation«, in: Uptown Conversation: The New Jazz Studies, hrsg. von Robert G. O’Meally/Brent Hayes Edwards/Farah Jasmine Griffin, New York 2004, S. 393-403. 54 Dass es auch durchkomponierten Jazz gibt (man denke etwa an Duke Ellington), ändert an dem grundlegenden Sachverhalt nichts. 55 Iyer (wie Anm. 53), S. 401. Zum Ausdruck »grain« vgl. Barthes, Roland: »Le grain de la voix«, in: Œuvres Complètes, Bd. 2, hrsg. von Eric Marty, Paris 1994, S. 1436-1442. 56 Iyer (wie Anm. 53), S. 401. 57 Ebd., 402.

Autorinnen und Autoren

Döhl, Frédéric, Musikwissenschaftler und Jurist, derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musik und Musikwissenschaft der TU Dortmund, zuvor von 2007-2014 am SFB 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste an der FU Berlin. Promotion 2008 mit ...that old barbershop sound. Die Entstehung einer Tradition amerikanischer A-Cappella Musik (Stuttgart 2009), Habilitation 2015 mit Mashup. Fremdreferenzielles Komponieren und Urheberrecht (Dr.i.Vorb.). Weitere Publikationen u.a. André Previn Musikalische Vielseitigkeit und ästhetische Erfahrung (Stuttgart 2012) sowie die mitherausgegebenen Sammelbände Musik bei Ken Russell (Kiel 2011), http://www.filmmusik.uni-kiel.de/KB7/ KB7.pdf, Konturen des Kunstwerks. Zur Frage von Relevanz und Kontingenz (Paderborn 2013), Zitieren, Appropriieren, Samplen. Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten (Bielefeld 2014) und Prekäre Genres. Zur Ästhetik peripher, apokrypher und liminaler Gattungen (Bielefeld 2015). Eggers, Katrin, Musikwissenschaftlerin, studierte Schulmusik, Musikwissenschaft, Germanistik und Philosophie in Hannover, wo sie 2010 mit der Arbeit Wittgenstein als Musikphilosoph (Freiburg 2011) promoviert wurde. Anschließend war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover angestellt. Ihre Forschungsbereiche sind Musikphilosophie und Musikästhetik, insbesondere Wittgenstein und Musik, sowie u.a. musikalische Narrativität oder musikalischer Kitsch (Musik und Kitsch, Hildesheim 2014, gemeinsam mit Nina Noeske). Derzeit arbeitet sie am Nationalen Forschungsschwerpunkt eikones der Universität Basel mit einem Projekt zur musikalischen Gestik (u.a. Richard

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Wagner: Musikalische Gestik – gestische Musik, Würzburg 2015, gemeinsam mit Ruth Müller-Lindenberg). Feige, Daniel Martin, Philosoph, zunächst Jazzpiano-Studium in Amsterdam, dann Studium der Philosophie, Germanistik und Psychologie an den Universitäten Gießen und Frankfurt am Main. 2009 Promotion in Philosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2009-2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB 626 Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste. Seit 2015 Juniorprofessor für Philosophie und Ästhetik unter besonderer Berücksichtigung des Designs an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart. Monographien: Kunst als Selbstverständigung (Münster 2012), Philosophie des Jazz (Berlin 2014), Computerspiele. Eine Ästhetik (Berlin 2015). Herzfeld, Gregor, Musikwissenschaftler, Studium der Musikwissenschaft und Philosophie in Heidelberg und Cremona. Nach der Promotion (2006) und einem Forschungsaufenthalt an der Yale University war er 2007 bis 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Musikwissenschaft der Freien Universität Berlin und Redakteur der Zeitschrift Archiv für Musikwissenschaft. 2012 habilitierte er sich ebendort. Seit 2015 ist er Dramaturg des Freiburger Barockorchesters. Publikationen: Zeit als Prozess und Epiphanie in der experimentellen amerikanischen Musik. Charles Ives bis La Monte Young (Stuttgart 2007), Poe und Musik. Eine versatile Allianz (Münster 2013), (zus. mit Wolfgang Jansen) Bernstein: West Side Story (Kassel/Berlin 2015). Jost-Rösch, Nicole, zunächst Lehramtsstudium an der Pädagogischen Hochschule Freiburg im Breisgau, danach Studium der Musikwissenschaft und Literaturwissenschaft an der Albert Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau und an der Universität Basel. Ab 2010 Vertretung der Assistentur für Neuere Musik am Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Basel, ab 2012 wissenschaftliche Mitarbeiterin des SNF-Projektes »Alban Berg als (musikalischer) Erzähler«. Eine Dissertation zu eben diesem Thema ist derzeit im Entstehen begriffen. Kraemer, Florian, studierte Schulmusik und Musiktheorie in Weimar sowie Philosophie und Musikwissenschaft in Köln. 2008-2010 war er wis-

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senschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Projekt Musikalische Selbstreflexion. Musik über Musik im 19. Jahrhundert am Musikwissenschaftlichen Institut der Universität zu Köln, wo er von 2009-2011 außerdem Lehrbeauftragter war. 2011 wurde er mit einer Arbeit über romantische Ironie bei Beethoven und Schumann promoviert. Derzeit ist er im Schuldienst tätig. Kutschke, Beate, vertritt zurzeit den Lehrstuhl für Historische Musikwissenschaft an der TU Dresden. Zuvor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität der Künste in Berlin und der Universität Leipzig sowie Gastprofessorin an der University of Hong Kong. Ein langjähriges Forschungsgebiet war ›Musik und Protest um 1968‹. Gegenwärtig arbeitet sie zu »Musik und Heroismus«. Ihre Publikationen erscheinen in nationalen und international Verlagen wie Cambridge und Oxford University Press, Ashgate, Böhlau, Metzler, Bärenreiter und Olms, und in Fachzeitschriften wie The Musical Quarterly, Perspectives of New Music, Music Theory Online, Musik & Ästhetik, und dem Archiv für Musikwissenschaft. Der Sammelband Music and Protest in 1968 (zusammen mit Barley Norton) erhielt den Ruth Solie Award der American Musicological Society. Lehmann, Harry, studierte Physik und Philosophie und promovierte 2003 an der Universität Potsdam mit einer Arbeit an der Schnittstelle von Systemtheorie und Kunstphilosophie. Er publiziert seitdem Essays und Aufsätze über zeitgenössische Kunst, Literatur und Neue Musik unter anderem in Merkur, Lettre International, springerin, Neue Zeitschrift für Musik, Sinn & Form. Buchpublikationen: Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann (München 2006); Kreidler/Lehmann/Mahnkopf: Musik Ästhetik Digitalisierung – Eine Kontroverse (Hofheim 2010); Autonome Kunstkritik [Hrsg.] (Berlin 2012); Die digitale Revolution der Musik. Eine Musikphilosophie (Mainz 2012); Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie (Paderborn 2015). Website: www.harrylehmann.net. Mohr, Georg, Professor für Philosophie an der Universität Bremen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der Philosophie Immanuel Kants, in der Rechtsphilosophie (Rechtskultur, Menschenrechte, Strafrecht) und in der Musikphilosophie (Musik und Zeiterfahrung, Gustav Mahler, Jazz). Musikphilosophische Veröffentlichungen u.a.: Vom Sinn des Hörens. Beiträge zur Philosophie der Musik, hrsg. von Georg Mohr/Johann Kreuzer, Würzburg

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2012; »Musik als erlebte Zeit«, in: Philosophia naturalis 49 (2012), S. 319347. Niklas, Stefan, Philosoph und Kulturwissenschaftler, arbeitet als Postdoktorand an der a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities, Universität zu Köln. Er studierte Kulturwissenschaften und Philosophie an der Universität Leipzig und promovierte in Köln mit der Arbeit Die Kopfhörerin. Mobiles Musikhören als ästhetische Erfahrung (Paderborn 2014). Seine Forschungsschwerpunkte liegen insbesondere in den Bereichen Kulturphilosophie und Ästhetik. zur Nieden, Gesa, Juniorprofessorin für Musikwissenschaft an der JGU Mainz, studierte Musikwissenschaft, Theaterwissenschaft und Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft in Bochum, Venedig, Paris und Berlin. 2008 deutsch-französische Promotion mit einer Arbeit zum Pariser Théâtre du Châtelet als Raum musikalischer Produktion und Rezeption, 1862-1914 (Wien 2010), danach wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut Rom. Seit 2010 Teilleitungen eines ANR-DFGund eines HERA-Projekts zur frühneuzeitlichen Musikermigration und Mitherausgabe des Sammelbands Europäische Musiker in Venedig, Rom und Neapel 1650-1750 (Kassel 2015). Ihre weiteren Publikationen und Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich des europäischen Musiktheaters des »langen« 19. Jahrhunderts, der Intermedialität von Musik, Malerei und Literatur sowie der Ethnographie zeitgenössischer Musikpraxis. Stederoth, Dirk, Philosoph, Studium der Philosophie und Soziologie in Kassel, Promotion im Jahre 2000 über Hegels Philosophie des subjektiven Geistes; die Habilitationsschrift zum Thema »Freiheitsgrade« ist im Jahr 2015 erschienen; seit 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Kassel, Arbeitsschwerpunkte: Klassische Deutsche Philosophie, Philosophie des Geistes, Kritische Theorie und Musikphilosophie. Trautsch, Asmus, studierte Komposition/Musiktheorie sowie Philosophie, Mediävistik und neuere deutsche Literatur in Berlin und London. Nach seiner Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin zu einer philosophischen Theorie tragischer Erfahrung arbeitet er an einem Postdoc-Projekt

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und lehrt an der Technischen Universität Dresden. Herausgabe von und Mitarbeit an mehreren Sammelbänden, u. a. Klang und Musik bei Walter Benjamin (München 2013); Aufsätze zur Ethik und Ästhetik; zuletzt: Musik (Edition Poeticon, Berlin 2015).

Musik und Klangkultur Sebastian Bolz, Moritz Kelber, Ina Knoth, Anna Langenbruch (Hg.) Wissenskulturen der Musikwissenschaft Generationen – Netzwerke – Denkstrukturen Mai 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3257-6

Sylvia Mieszkowski, Sigrid Nieberle (Hg.) Unlaute Noise/Geräusch in Kultur, Medien und Wissenschaften seit 1900 Januar 2016, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2534-9

Martha Brech, Ralph Paland (Hg.|eds.) Kompositionen für hörbaren Raum/ Compositions for Audible Space Die frühe elektroakustische Musik und ihre Kontexte/ The Early Electroacoustic Music and its Contexts September 2015, 354 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3076-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Musik und Klangkultur Camille Hongler, Christoph Haffter, Silvan Moosmüller (Hg.) Geräusch – das Andere der Musik Untersuchungen an den Grenzen des Musikalischen 2014, 198 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2868-5

Jörn Peter Hiekel, Wolfgang Lessing (Hg.) Verkörperungen der Musik Interdisziplinäre Betrachtungen 2014, 234 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2753-4

Christian Utz Komponieren im Kontext der Globalisierung Perspektiven für eine Musikgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 2014, 438 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2403-8

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Musik und Klangkultur Reinhard Gagel, Matthias Schwabe (Hg.) Improvisation erforschen – improvisierend forschen / Researching Improvisation – Researching by Improvisation Beiträge zur Exploration musikalischer Improvisation/ Essays About the Exploration of Musical Improvisation Juni 2016, ca. 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3188-3

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Martha Brech Der hörbare Raum Entdeckung, Erforschung und musikalische Gestaltung mit analoger Technologie

Omar Ruiz Vega Musik – Kolonialismus – Identität José Figueroa Sanabia und die puerto-ricanische Gesellschaft 1925-1952 Februar 2015, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2900-2

Daniel Siebert Musik im Zeitalter der Globalisierung Prozesse – Perspektiven – Stile 2014, 228 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2905-7

Teresa Leonhardmair Bewegung in der Musik Eine transdisziplinäre Perspektive auf ein musikimmanentes Phänomen 2014, 326 Seiten, kart., 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2833-3

Christina Richter-Ibáñez Mauricio Kagels Buenos Aires (1946-1957) Kulturpolitik – Künstlernetzwerk – Kompositionen 2014, 342 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2662-9

Steffen Scholl Musik – Raum – Technik Zur Entwicklung und Anwendung der graphischen Programmierumgebung »Max« 2014, 236 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,99 €, ISBN 978-3-8376-2527-1

September 2015, 304 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3096-1

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