Nachhaltig Leben und Wirtschaften: Management Sozialer Innovationen als Gestaltung gesellschaftlicher Transformation [1. Aufl.] 9783658293789, 9783658293796

Der Titel des Buches geht auf das Thema der 20. Tagung für Angewandte Sozialwissenschaften des Berufsverbandes Deutscher

434 109 7MB

German Pages VIII, 379 [378] Year 2020

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Table of contents :
Front Matter ....Pages I-VIII
Einleitung (Hans-Werner Franz)....Pages 1-13
In Webers Schuhen und mit Dahrendorfs Geleit: Die Wirkung sozialer Innovationen durch soziologische Klassiker verstehen (Claudia Obermeier)....Pages 15-31
Das „Atlas-Subjekt“ und neue Formen von Subjektivierung im Zeitalter der Nachhaltigkeit (Diego Compagna)....Pages 33-52
Auf dem Weg zu nachhaltiger Arbeit? Zur Rolle von Arbeit in der Entwicklung nachhaltiger sozialer Innovationsprozesse (Georg Jochum, Thomas Barth)....Pages 53-74
Leitbildentwicklung in Organisationen (Peter Dürr)....Pages 75-100
Gemeinwohlbilanz und Balanced Scorecard – Überlegungen für eine Annäherung (Wolfgang Gehra, Julia Schmidt)....Pages 101-135
Open Space: Räumliche, zeitliche und soziale Flexibilisierung der Bürowelt als Antwort auf die Herausforderungen von Arbeit 4.0 – Empirische Befunde (Theresa Arnold)....Pages 137-156
Komplementärwährungen und monetäre Werkzeuge als soziale Innovation (Christian Gelleri)....Pages 157-177
Eine philosophische Annäherung an die Identität von Orten (Martina Wegner)....Pages 179-195
Gesellschaftliche Transformation durch Partizipation – eine kommunale Praxis mit Bevölkerung und Betroffenen (Ingegerd Schäuble, Oranna Erb)....Pages 197-214
Transformativer Wandel im Handwerk (Peter Biniok)....Pages 215-234
Transdisziplinäre Forschung am Beispiel des Projekts „Media Future Lab“ (Sevda Can Arslan)....Pages 235-257
Interaktive Formate zur gesellschaftlichen Teilhabe von Seniorinnen und Senioren am Beispiel sozialverantwortlicher Technikgestaltung (Tamar Beruchashvili, Elisabeth Wiesnet, Yves Jeanrenaud)....Pages 259-279
Die Kunst der sozialen Transformation (Christine Best, Kerstin Guhlemann)....Pages 281-299
Get Online Week 2019 – Eine Intervention zur Verbesserung der digitalen Teilhabe (Bastian Pelka, Studiengruppe Get Online Week)....Pages 301-319
A story about storytellers – Innovationspotenziale in Bürger*innenstiftungen und Freiwilligenagenturen (Janine Kuhnt)....Pages 321-345
RePair Democracy – Soziale Innovationen als Werkstätten für demokratische Gestaltung (Gerald Beck, Robert Jende)....Pages 347-364
Wenn viele Menschen etwas anders machen – Soziale Innovationen und Nachhaltigkeit im Phänomen des Flaschensammelns (Florian Engel)....Pages 365-379
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Nachhaltig Leben und Wirtschaften: Management Sozialer Innovationen als Gestaltung gesellschaftlicher Transformation [1. Aufl.]
 9783658293789, 9783658293796

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Sozialwissenschaften und Berufspraxis

Hans-Werner Franz · Gerald Beck Diego Compagna · Peter Dürr Wolfgang Gehra · Martina Wegner Hrsg.

Nachhaltig Leben und Wirtschaften Management Sozialer Innovationen als Gestaltung gesellschaftlicher Transformation

Sozialwissenschaften und Berufspraxis Reihe herausgegeben von Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen e.V., Recklinghausen, Nordrhein-Westfalen, Deutschland

Die Reihe Sozialwissenschaften und Berufspraxis wendet sich an Personen mit sozialwissenschaftlichem Hintergrund, die ihre Erkenntnisse im beruflichen Alltag nutzen bzw. selbst an der Genese sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse beteiligt sind. Darüber hinaus wendet sich die Reihe an Personen, die ihre sozialwissenschaftlichen Kenntnisse an Hochschulen oder auch in einem nicht akademischen beruflichen Umfeld erwerben, anwenden oder weitergeben. Veröffentlicht werden in den Sammelbänden, die in der Regel einmal im Jahr erscheinen, sozialwissenschaftlich reflektierte empirische und theoretische Beiträge aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Handlungsfeldern. Damit macht die Reihe Sozialwissenschaften und Berufspraxis da weiter, wo die renommierte wissenschaftliche Fachzeitschrift des BDS gleichen Namens, kurz SuB, Ende 2015 aufgehört hat. Herausgeber der Reihe Sozialwissenschaften und Berufspraxis ist der Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen (BDS). Der BDS vertritt die beruflichen und berufspolitischen Interessen von Absolventinnen und Absolventen soziologischer und sozialwissenschaftlicher Studiengänge. Der Verband arbeitet mit einem wissenschaftlichen Kreis von Herausgeberinnen und Herausgebern zusammen: Prof. Dr. Birgit Blättel-Mink, Goethe-Universität Frankfurt am Main (Sprecherin) M.A. Torsten Noack, Stuttgart Prof. Dr. Corinna Onnen, Universität Vechta Prof. Dr. Michael Opielka, ISÖ – Institut für Sozialökologie, Siegburg Dr. Katrin Späte, Universität Münster apl. Prof. Dr. Rita Stein-Redent, Universität Vechta

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15715

Hans-Werner Franz · Gerald Beck · Diego Compagna · Peter Dürr · Wolfgang Gehra · Martina Wegner (Hrsg.)

Nachhaltig Leben und Wirtschaften Management Sozialer Innovationen als Gestaltung gesellschaftlicher Transformation

Hrsg. Hans-Werner Franz Dortmund, Deutschland Diego Compagna Hochschule München München, Deutschland Wolfgang Gehra Hochschule München München, Deutschland

Gerald Beck Hochschule München München, Deutschland Peter Dürr Hochschule München München, Deutschland Martina Wegner Hochschule München München, Deutschland

ISSN 0724-3464 Sozialwissenschaften und Berufspraxis ISBN 978-3-658-29378-9 ISBN 978-3-658-29379-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Katrin Emmerich Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Hans-Werner Franz In Webers Schuhen und mit Dahrendorfs Geleit: Die Wirkung sozialer Innovationen durch soziologische Klassiker verstehen. . . . . . . . . 15 Claudia Obermeier Das „Atlas-Subjekt“ und neue Formen von Subjektivierung im Zeitalter der Nachhaltigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Diego Compagna Auf dem Weg zu nachhaltiger Arbeit? Zur Rolle von Arbeit in der Entwicklung nachhaltiger sozialer Innovationsprozesse. . . . . . . . . 53 Georg Jochum und Thomas Barth Leitbildentwicklung in Organisationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Peter Dürr Gemeinwohlbilanz und Balanced Scorecard – Überlegungen für eine Annäherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Wolfgang Gehra und Julia Schmidt Open Space: Räumliche, zeitliche und soziale Flexibilisierung der Bürowelt als Antwort auf die Herausforderungen von Arbeit 4.0 – Empirische Befunde. . . . . . . . . . . . . 137 Theresa Arnold Komplementärwährungen und monetäre Werkzeuge als soziale Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Christian Gelleri V

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Inhaltsverzeichnis

Eine philosophische Annäherung an die Identität von Orten. . . . . . . . . . . 179 Martina Wegner Gesellschaftliche Transformation durch Partizipation – eine kommunale Praxis mit Bevölkerung und Betroffenen. . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Ingegerd Schäuble und Oranna Erb Transformativer Wandel im Handwerk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Peter Biniok Transdisziplinäre Forschung am Beispiel des Projekts „Media Future Lab“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Sevda Can Arslan Interaktive Formate zur gesellschaftlichen Teilhabe von Seniorinnen und Senioren am Beispiel sozialverantwortlicher Technikgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Tamar Beruchashvili, Elisabeth Wiesnet und Yves Jeanrenaud Die Kunst der sozialen Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Christine Best und Kerstin Guhlemann Get Online Week 2019 – Eine Intervention zur Verbesserung der digitalen Teilhabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Bastian Pelka und Studiengruppe Get Online Week A story about storytellers – Innovationspotenziale in Bürger*innenstiftungen und Freiwilligenagenturen. . . . . . . . . . . . . . . . 321 Janine Kuhnt RePair Democracy – Soziale Innovationen als Werkstätten für demokratische Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 Gerald Beck und Robert Jende Wenn viele Menschen etwas anders machen – Soziale Innovationen und Nachhaltigkeit im Phänomen des Flaschensammelns. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 Florian Engel

Autorenverzeichnis

Arnold, Theresa M. A., Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt am Main, Deutschland Arslan, Sevda Can  Dr., Ludwig-Maximilians-Universität, München, Deutschland Barth, Thomas Dr. phil, Institut für Soziologie der Ludwig-Maximilians-­ Universität München, Deutschland Beck, Gerald  Prof. Dr., Hochschule für angewandte Wissenschaften München, Deutschland Beruchashvili, Tamar  M. A., Gender Studies in den Ingenieurwissenschaften an der TU München, Deutschland Best, Christine M. A., Sozialforschungsstelle Dortmund, TU Dortmund, Deutschland Biniok, Peter  Dr. phil., Innung SHK Berlin, Deutschland Compagna, Diego  Prof. Dr., Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München, Deutschland Dürr, Peter  Prof. Dr., Hochschule München, Deutschland Engel, Florian  M. A., Hochschule für angewandte Wissenschaft, Fulda, Hessen Erb, Oranna Dipl.-Ing.in freiberufliche Ortsplanerin, München, NetzwerkPartnerin im Schäuble Institut für Sozialforschung München, Deutschland Franz, Hans-Werner Dr. phil., Berufsverband Deutscher Soziologinnen und Soziologen, Dortmund, Deutschland

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Autorenverzeichnis

Gehra, Wolfgang  Prof. Dr., Hochschule München, Deutschland Gelleri, Christian  Julius-Maximilians-Universität Würzburg, Deutschland Guhlemann, Kerstin M. A., Sozialforschungsstelle Dortmund, TU Dortmund, Deutschland Jeanrenaud, Yves Dr. phil., Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-­ Universität München, Deutschland Jende, Robert  Hochschule für angewandte Wissenschaften München, Deutschland Jochum, Georg  Dr., Lehrstuhl Wissenschaftssoziologie, Technische Universität München, Deutschland Kuhnt, Janine  M. A., Institut für Erziehungswissenschaft, Lehrstuhl für Sozialpädagogik und außerschulische Bildung, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Deutschland Obermeier, Claudia Dr. phil., Institut für Sozialwissenschaften – Fach Soziologie, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Deutschland Pelka, Bastian Dr. phil, Sozialforschungsstelle Dortmund, TU Dortmund, Deutschland Schäuble, Ingegerd  Dipl.-Soziologin, Supervisorin DGSv, Schäuble Institut für Sozialforschung, München Schmidt, Julia  B. A., Hochschule München, Deutschland Studiengruppe Get Online Week Fakultät Rehabilitationswissenschaften, TU Dortmund, Deutschland Julia Heidegger, Hannah Klamroth, Friederike Kober, Hannah Leibig, Henrike Naß, Larissa Oliverio, Adina Pauksch, Nathalie Schmitte, Floriane Thies, Cynthia Victoria Seemann, Pia Wolff, Ina Zawadka Wegner, Martina Prof. Dr., Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München, Deutschland Wiesnet, Elisabeth M. A., Gender Studies in den Ingenieurwissenschaften an der TU München, Deutschland

Einleitung Hans-Werner Franz

1 Das Buch zur Tagung Es war die dritte Tagung des BDS in Reihenfolge, die sich mit sozialer Innovation beschäftigte. Mit jeder Tagung haben wir das Thema konkreter in Angriff genommen, zugleich jedoch ausgeweitet. Ging es in Frankfurt 2015 noch darum, das Phänomen „Soziale Innovation verstehen“ (vgl. BDS 2015) zu wollen, so hob die Tagung in Dortmund 2017 schon darauf ab, „Soziale Innovationen lokal gestalten“ zu wollen (Franz und Kaletka 2018). In München haben wir das Thema in den Zusammenhang gestellt, der den eigentlichen Grund für den Aufschwung der Beschäftigung mit dem Thema „soziale Innovation“ darstellt: die Notwendigkeit der Transformation unserer Gesellschaft(en), wenn wir den von uns selbst verursachten Klimawandel für uns alle lebbar gestalten wollen. Dazu gehören sowohl die mit unserer Lebensführung verbundenen Anstrengungen, ihn zu begrenzen, als auch alle Veränderungen und Neuerungen, die helfen, unsere Lebensweise an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen und sie selbst zu gestalten. Denn wenn unsere Gesellschaft sich in die Richtung nachhaltigen Lebens und Wirtschaftens bewegen soll, dann müssen „Viele etwas anders machen“. So lautete anfangs (in Frankfurt) unsere generische Definition sozialer Innovation. In Dortmund haben wir nachjustiert. Denn diese generische Definition, die auf soziale Praktiken abzielt, „könnte auch für sozialen Wandel gelten, der die Summe vieler Innovationen, darunter auch sozialer, ist.“ (Franz

H.-W. Franz (*)  Dortmund, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_1

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und Kaletka 2018, S. 1) Ebenso verhält es sich mit Transformation, dem Thema von München 2019, mit dem entscheidenden Unterschied, dass sozialer Wandel keine Richtung hat, Transformation hingegen „gerichteter und gestalteter sozialer Wandel“ ist, wie wir im Call for Papers für Tagung und Tagungsband geschrieben haben. Die als notwendig erachtete Transformation, von der wir in diesem Band sprechen, meint eine auf das Ziel Nachhaltigkeit gerichtete gesellschaftliche Entwicklung, die sowohl auf technische als auch auf soziale Innovationen angewiesen ist. Die Art und Weise, wie Menschen wirtschaften und konsumieren, an einem Ort leben und sich von Ort zu Ort bewegen, muss sich so ändern, dass menschenwürdiges Leben in der von Menschen gestalteten Welt auf dem Planeten Erde im Einklang steht mit den natürlichen Bedingungen, die dafür erforderlich sind. Zum Leben müssen wir die Luft atmen, das Wasser trinken, die Nahrung essen können, ohne dass es uns und dem Gesamt allen Lebens auf der Erde weder jetzt noch dauerhaft schadet. Denn, wie Charles Darwin sagte, hat „alles was gegen die Natur ist, (…) auf die Dauer keinen Bestand.“ Innovationen durch Wissenschaften aller Art sind ebenso gefragt wie das interessierte innovative Handeln vieler Menschen in allen gesellschaftlichen Bereichen mit dem Ziel der Veränderung individueller wie gesellschaftlicher Gewohnheiten und Verhaltensweisen, sozialer Praktiken und Praxis. Transformation heißt anders leben und wirtschaften. Für Viele. Eigentlich für Alle.

2 Das Buch Wie schon gesagt: Anders als sozialer Wandel, der sich allmählich und quasi hinterrücks vollzieht, bedarf Transformation der Gestaltung: einerseits der Gestaltung sozialer Innovation, die nur dann als solche gelten kann – daran sei erinnert – „wenn sie ein nicht zu leugnender Tatbestand, eine von Vielen geübte Praxis ist“ (Franz 2015, S. 155), andererseits eines geteilten Verständnisses von Nachhaltigkeit als Ziel und Richtung dieser Transformation. Beides ist keineswegs selbstverständlich, sondern bedarf unentwegt der Verständigung, damit möglichst Viele den Weg mitgehen und dabei nicht die Richtung verlieren getreu dem Mark Twain zugeschriebenen Satz: „Und als sie das Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sich ihre Anstrengungen.“

Einleitung

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3 Der eher theoretische Teil Vergewisserung der geforderten Art betreibt Claudia Obermeier, wenn sie „die Wirkung sozialer Innovationen durch soziologische Klassiker verstehen“ möchte und sich dafür in „Webers Schuhen“ „Dahrendorfs Geleit“ versichert. Ihre These: „Soziale Innovationen führen zu einem Mehr an Lebenschancen.“ „Dabei soll konzeptionell sowohl für die Mikro- als auch für die Makroebene durchdekliniert werden, welchen Einfluss soziale Innovationen, die nicht selten zu einem sozialen Wandel führen, auf die Lebenschancen der Individuen und der Gesamtgesellschaft haben.“ Im Allgemeinen verdeutlicht sie das an den Veränderungen, die mit der Digitalisierung einhergehen, konkret und auf individueller Ebene belegt sie das unter Nutzung des Lebenschancen-Konzepts von Dahrendorf anhand von empirischen Befunden aus dem Leben von Senior*innen. „Durch die Nutzung des Internets vervielfachen sich nicht nur die potenziellen Wahlmöglichkeiten, sondern vor allem die von den Senior*innen genutzten Möglichkeiten.“ Sie kommt im Rückgriff auf Befunde ihrer Dissertation zu beeindruckenden Feststellungen: „Durch die Möglichkeit, sich über das Internet Vorabinformationen beschaffen zu können, fühlen sich die Senior*innen selbstsicherer, mündiger, informierter und weniger abhängig von Anderen. Sie erweitern ihr Handlungsrepertoire, weil sie sich durch das Internet Lösungen für Problemstellungen gezielt erarbeiten können; sie fühlen sich selbstständiger und blicken auch den Zeiten, in denen sie durch nachlassende Mobilität eingeschränkt sind, gelassener entgegen. Das Internet eröffnet neue Gestaltungsmöglichkeiten, weiterführende Wahlmöglichkeiten und ein breites Portfolio an Partizipationsgelegenheiten. Noch weitreichender und bedeutsamer als der Zugewinn an Optionen ist die neuartige Gestaltung sozialer Bindungen. (…) Durch die Nutzung internetbasierter Kommunikationskanäle fühlen sich die Senior*innen deutlich stärker in das familiale Netzwerk eingebunden. Sie fühlen sich intensiver am Leben ihrer Kinder und deren Kinder beteiligt. Zudem empfinden sie den Kontakt mit den Enkelkindern als erleichtert. Insgesamt haben die Senior*innen das Gefühl, durch die Internetnutzung deutlich spürbarer ein Teil der Gesellschaft zu sein (Obermeier 2020, S. 412 ff.)“. Verungewisserung betreibt Diego Compagna mit einem Parforce-Ritt durch die Theorieangebote der Soziologie, um nachzuweisen, dass Nachhaltigkeit ein durchaus umkämpfter Begriff ist. „Eine Orientierung an Nachhaltigkeit sowie nachhaltige Innovationen scheinen die Essenz und das Ergebnis einer reflexiven Moderne zu sein, die ganz und gar zu sich gekommen ist und (…) das Problembewusstsein spätmoderner Gesellschaften ‚vom Elfenbeinturm‘ auf die Straßen gebracht hat. Dabei durchlaufen umstrittene und somit umkämpfte Deutungen komplexer Verweiszusammenhänge im Zuge der Übersetzung von

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einem akademischen zu einem lebensweltlichen Referenzrahmen einen nicht unerheblichen Trivialisierungs- und Entparadoxierungspfad.“ Im Gange sei „die Konstruktion der Nachhaltigkeit“, bei der gerade eine zentrale Anforderung an solche Verständigungsprozesse selbst zum großen Problem werde: „Die Beteiligung möglichst aller ‚Bürger*innen‘ bei der Identifizierung, Gestaltung und Lösung eines oder mehrerer (gemeinsamer) Probleme.“ Er zeichnet ein eher düsteres Bild und beschreibt den modernen Menschen als (tragisches, interpretiere ich) „Atlas-Subjekt“, das den Globus auf seinen Schultern tragen müsse, obwohl es die kapitalistischen Strukturen dieser Welt, die zugleich für ihren Zustand verantwortlich seien, gar nicht wirklich beeinflussen könne, sondern durch die Verfolgung seiner individuellen Interessen gerade reproduziere. Verbunden mit dem Begriff der Nachhaltigkeit entständen neue Formen der Subjektivierung, die, um im Bild des „Atlas-Subjekts“ zu bleiben, für die Einzelnen schwer erträglich und kaum aufzulösen seien. Wie soll man nicht irre werden angesichts der bestprognostizierten Katastrophe seit Menschheitsgedenken, bei der die Analysen der betreffenden scientific community den Bedrohungsgrad immer genauer schildern, die Ratschläge der Wissenschaftler*innen fürs Umsteuern von der Politik aber kaum zur Kenntnis genommen werden. – in der Regel aus Angst vor der Reaktion der Bürger*innen auf zwar als richtig erkannte, aber ihre Lebensführung massiv beeinträchtigende Maßnahmen. Zu Recht stellt Compagna am Ende seines Beitrags daher auch die Frage nach der Gesellschaft, in der wir leben wollen. Kann das, wenn Nachhaltigkeit gesucht wird, der Kapitalismus sein, der davon lebt, dass er die Ressourcen der Erde über Gebühr ausplündert und der vor allem, aber nicht nur, die Menschen und Regionen der weniger entwickelten Teile der Welt ausbeutet und ausraubt? Der Kapitalismus befindet sich in der „Zange“ (Dörre 2019) und wir mit ihm: Angewiesen auf Wachstum, besteht die Gefahr, dass er kollabiert, wenn er ohne es funktionieren soll, mit allen Konsequenzen, die sich daraus für die Strukturen und Prozesse unserer Wirtschaften und Gesellschaften ergeben. „So betrachtet müsste der Nachhaltigkeitsdiskurs sich zentral mit Fragen der sozialen Ungleichheit und unfairen Verteilung von Ressourcen und Wertschöpfung beschäftigen. Der Nachhaltigkeitsdiskurs müsste schwerpunktmäßig Machtverhältnisse thematisieren und diese in Frage stellen, die soziale Frage neu stellen. Stattdessen nimmt er die (ungleiche) soziale Ordnung hin und versucht erst gar nicht daran zu rütteln, indem immer wieder Handlungspraxen und Handlungsorientierungen eines jeden Einzelnen ins Zentrum gerückt werden.“ Man könnte Compagnas Atlas-Subjekt (ganz im Sinne des oben zitierten Satzes von Mark Twain) auch die Frage stellen lassen: Wie soll der in die

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­erantwortung genommene und sich verantwortlich fühlende Einzelne nicht V irre werden? Angesichts eines vom ihm selbst durch seine normale Lebensweise reproduzierten, auf Wachstum geeichten Systems, das die Überlebensfähigkeit der Gattung Mensch gefährdet, indem es die Natur an ihre Grenzen geführt hat und damit selbst an seine Grenzen gekommen ist. An diese Widersprüchlichkeit der Forderung nach Nachhaltigkeit knüpfen auch Georg Jochum und Thomas Barth an. Sie untersuchen „die Rolle von Arbeit in der Entwicklung nachhaltiger sozialer Innovationsprozesse“. In einer von Nachhaltigkeit geprägten Veränderung der Welt mahnen sie als eine der wichtigsten sozialen Innovationen die Redefinition von Arbeit unter Bezug auf das vom United Nations Development Programme (UNDP 2015) formulierte Leitbild der „Nachhaltigen Arbeit“ an. „Dieses in den letzten Jahren auch in Deutschland breiter rezipierte Leitbild (…) rückt im Gegensatz zu der bisherigen Fokussierung der Nachhaltigkeitsdebatte auf individuelle Konsummuster auf der einen und die Unternehmen auf der anderen Seite, die Arbeitenden ins Zentrum der Betrachtung. Dabei wird über eine auf Erwerbsarbeit beschränkte Perspektive hinausgegangen und auch Arbeit im Nichterwerbsbereich einbezogen (UNDP 2015, S. 3). Bezugspunkt ist ein durch den „Capability Approach“ (Sen 1979) inspirierter umfassender Entwicklungsbegriff. Übergeordnetes Ziel ist die Erweiterung der Wahlmöglichkeiten von Menschen. In diesem Zusammenhang wird der Arbeit eine besondere Bedeutung zugeschrieben, da durch Arbeit menschliche Potentiale entwickelt würden.“ Der UNDP-Bericht zu „Arbeit und menschliche Entwicklung“ (UNDP 2015) rekurriert zudem auf die in der ­UN-Agenda „Transforming Our World“ (UNO 2015) beschlossenen „Sustainable Development Goals“ und deren vielfältige Bedeutung für die Arbeitswelt und den „Weg zu nachhaltiger Arbeit“ (UNDP 2015: S. 153).

4 Innovation und Nachhaltigkeit in Organisationen und Arbeitorganisation Wie kommt die Nachhaltigkeit in Unternehmen und andere Organisationen? Mit dieser Frage beschäftigen sich Autoren der Hochschule München. Der eine, Peter Dürr, stellt Überlegungen an, wie beteiligungsbasierte Prozesse zur Entwicklung von Leitbildern dahinführen oder dahin führend genutzt werden können. Die anderen, Wolfgang Gehra und Julia Schmidt, haben sich sehr genau überlegt, wie man ein Modell der Gemeinwohl-Bilanz in die betriebliche ­Kennzahlen-Steuerung mit Balanced Score Card-Modellen einbauen kann.

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Dürr verspricht sich von Reflexionsprozessen in Unternehmen – sei es, unter der Überschrift Vision, Mission, Marke, Corporate Identity oder, etwas allgemeiner, zur Entwicklung von Leitbildern – dass „durch Zukunftsorientierung langfristige Folgen organisationalen Handelns mitberücksichtigt werden“, während „sich nicht-nachhaltige Verhaltensweisen von Organisationen wesentlich über die Vergesellschaftung sozialer und ökologischer Kosten“ definierten. Unternehmen würden sich durchaus in eigenem Interesse mit Nachhaltigkeit beschäftigen, zum einen, weil „nicht gelöste gesellschaftliche Probleme […] irgendwann in den Unternehmen Kosten [verursachen]“, zum anderen, weil “ökologische und soziale Investitionen […] langfristig einen Beitrag zur Motivation der Belegschaft, zum Imagegewinn bei Kunden und zur Akzeptanz in der Öffentlichkeit [leisten]” (Lombriser und Abplanalp 2015, S. 248). Im Mittelpunkt von Dürrs Beitrag steht dabei die „Entwicklung einer neuartigen Prozesslogik, die anerkannte pädagogische, ingenieurwissenschaftliche und designorientierte Gestaltungsschemata in einem sog. ‚Interaktiven Lernparcours‘ bündelt und als Planungshilfe eingesetzt wird. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Bedeutung von Prinzipien wie Partizipation, Perspektivwechsel und Konstruktivität gerichtet, um diese Prozesse erfolgreich zu gestalten. Im Rahmen eines konkreten Anwendungsbeispiels wird anschließend geprüft, wie die Implementierung dieses Planungsinstruments in der Praxis gestaltet werden kann und welche Auswirkungen sich daraus auf nachhaltiges Handeln in der Organisation ergeben“ können. Gehra und Schmidt wollen prüfen, ob das ziemlich aufwendige Konzept der Gemeinwohl-Bilanz, das als Instrument einer Nachhaltigkeitszertifizierung mittlerweile von über 400 Organisationen, vorwiegend im deutschsprachigen Raum, genutzt wird, verknüpft werden kann mit dem weit verbreiteten internationalen Konzept der Balanced Scorecard (BSC). Während die G ­emeinwohl-Bilanz praktisch eine Ergebnisevaluation von zwei (oder mehr) Jahren Geschäftstätigkeit darstellt, liefert die BSC als Teil der täglichen Steuerung einer Organisation mittels Kennzahlen im Unternehmensalltag laufend Kennzahlen. Meist werden die dazu notwendigen Daten im betrieblichen Rechnungswesen permanent und parallel zur operativen Leistungserstellung erhoben. Hieraus ergibt sich die Fragestellung, inwieweit eine Annäherung der beiden Konzepte den Arbeitsaufwand für die Gemeinwohl-Bilanz reduzieren kann, indem ihre Fragen in die parallel mitlaufende Buchhaltungssystematik des BSC-Ansatzes eingebaut werden. Eigentliches Ziel ist es, „die Verbreitung der Gemeinwohlorientierung mit Hilfe der GemeinwohlBilanz zu fördern“ und sie mithilfe der BSC in die alltägliche Unternehmenspolitik zu implantieren. Nach sehr eingehender Prüfung aller Fragekomplexe kommen sie zu einem vorsichtig positiven Schluss, machen jedoch deutlich, dass hier noch eine Menge Arbeit hineingesteckt werden müsste, um diese Innovation einer BSCgestützten Gemeinwohlorientierung in Unternehmen zu einem handhabbaren Tool zu entwickeln.

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Theresa Arnolds Beitrag hat mit Nachhaltigkeit nur sehr indirekt, umso mehr jedoch mit innovativer Arbeitsorganisation zu tun. Sie stellt die Ergebnisse einer empirischen Studie vor zu Open Space-Konzepten, bei denen Unternehmen die räumliche, zeitliche und soziale Flexibilisierung der Bürowelt als Antwort auf die Herausforderungen von Arbeit 4.0 betreiben. Indirekt mit Nachhaltigkeit zu tun hat das, weil hier den Beschäftigten die Entscheidung übertragen wird, ob sie zu Hause oder im offenen Büro arbeiten, wo sie jedoch nur noch einen, aber nicht mehr ihren Arbeitsplatz haben. So wird der Bedarf an Büroraum reduziert und der verfügbare Büroraum erheblich ökonomischer genutzt. Arnold untersucht diese offenen und flexiblen Arbeitslandschaften aus arbeitssoziologischer Perspektive. „Dabei geht es um die Praxis von Open Space: Welche Motive und Gründe sehen Unternehmen für die Einführung dieser Büros? Wie gestalten die Beschäftigten ihre Arbeit unter den arbeitsorganisatorischen Veränderungen? Welche Herausforderungen ergeben sich hier für die Beschäftigten und wie werden diese gelöst? Diese Fragen werden anhand der empirischen Datengrundlage (Interviews mit Beschäftigten und ChangebegleiterInnen) beantwortet. Im Umgang mit der veränderten Arbeitsumgebung lassen sich Spannungsfelder herausarbeiten, die abschließend unter Berücksichtigung arbeitssoziologischer Theorien und von Konzepten der Subjektivierung von Arbeit diskutiert werden.“

5 Innovation und Nachhaltigkeit in Regionen, Städten und Gemeinden Drei sehr unterschiedliche Sichtweisen auf Veränderungsprozesse in Regionen, Städten und Gemeinden stellt dieser Abschnitt vor. Christian Gelleri beschäftigt sich mit regionalen Komplementärwährungen, die bestimmte Ziele verfolgen. Bei seinem wichtigsten Referenzprojekt, dem Chiemgauer, geht es z. B. darum, in einer ersten Etappe „die Einsparung von 5000 Tonnen CO2 über drei Jahre in der Region Chiemgau“ zu erzielen. „Das Regelwerk der Komplementärwährung ‚Klimabonus‘ dient dazu, Menschen und Organisationen zur Reduktion von CO2 zu motivieren und den Rest-Fußabdruck zu kompensieren.“ Was exotisch klingt, erweist sich als ein recht weit verbreitetes Phänomen; es gibt Schätzungen zufolge über 10.000 Komplementärwährungen (darunter die ca. 2000 Kryptowährungen wie Bitcoin), die in der Regel mit bestimmten Zielen verbunden sind und sich nicht selten als stabiler Fördermechanismus für die regionale Wirtschaft erweisen. Gelleri analysiert Komplementärwährungen als soziale Innovation, die sehr wohl auch zur regionalen Steuerung von Nachhaltigkeitsstrategien verwendet werden können.

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Städte und Gemeinden sind wichtige politische Player, wenn es um Nachhaltigkeit geht. Sie sind die Politikebene, die den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Lebensbedingungen am nächsten ist. In vielen Kommunen werden mit großem Ernst und meist unter Einbezug der Bürgerinnen und Bürger Strategien des nachhaltigen Lebens und Wirtschaftens entwickelt, die immer auch mit dem Umbau der Stadt und ihrer Strukturen zu tun haben. Anlass und Hintergrund ist dabei nicht selten der demografische Wandel. Dabei kommen sie, so stellt Bettina Wegner anhand vieler Veränderungsprozesse in deutschen Kommunen fest, früher oder später an den Punkt, „an dem sie sich mit ihrer Identität auseinandersetzen müssen. Sie können ihre Zukunft nicht planen, ohne sich Gedanken über ihre Identität zu machen. … Daher stellt sich die Frage nach der Art dieser Identität und ob die Kommunen als Orte eine eigene Identität besitzen oder ihnen diese ausschließlich von Menschen zugeschrieben wird.“ Wegner stellt auf der Grundlage philosophischer Ansätze die These auf, Orte verfügten über eine eigene Identität unabhängig von der Wahrnehmung der jeweils zu einer bestimmten Zeit in ihnen lebenden Menschen. Sodann prüft sie diese These der „Eigenlogik der Städte“ anhand raum- und städteplanerischer sowie soziologischer Theorien und leitet davon Kriterien zur Zukunftsgestaltung von Städten und Gemeinden im Nachhaltigkeitsdiskurs ab. Ingegerd Schäuble und Oranna Erb sind an solchen Diskursen aktiv beteiligt und gestalten sie im Auftrag von Kommunen. Sie stellen fest, dass solche „ernst gemeinte, konsequent umgesetzte partizipative Prozesse im Gemeinwesen erhebliche Potentiale zur Gestaltung von gesellschaftlicher Transformation“ bergen. „Sie sind Transformationsprozesse an der Basis der Bevölkerung – und mit der Bevölkerung.“ Dabei gehe es nicht nur um die Beteiligung der einzelnen Bürgerinnen und Bürger, sondern gerade auch um die Mobilisierung von Kompetenz und vielfachen Perspektiven. „Nachhaltig wirksame Partizipationsnetzwerke spannen sich über verschiedene soziale Gruppen, Interessenlagen, Fachlichkeiten und Hierarchieebenen.“ Für das Gelingen solcher Prozesse breiten sie in ihrem Beitrag ein umfangreiches Set an Methoden und Werkzeugen aus, die jedoch immer höchst voraussetzungsreich sind, weshalb sie leider oft im Vagen bleiben.

6 Sozialwissenschaftliche Interventionen Die meisten Beiträge in diesem Band betrachten neben der sozialen Veränderung, über die sie berichten, auch die Rolle sozialwissenschaftlicher Akteure im Prozess der Veränderung. Das war genauso gewollt. Der Untertitel von Tagung und Band: „Management Sozialer Innovationen als Gestaltung gesellschaftlicher

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Transformation“ legt das nahe. Und in unserem Call for Papers hatten wir danach gefragt: • „Welche Bedingungen, welche Prozesse führen dazu, dass bestimmte soziale Innovationen aufgegriffen werden? Welche Akteurskonstellationen eignen sich am ehesten? Welche Kooperationen werden eingegangen, um innovative Projekte zu starten und zum Erfolg zu führen? Welche Faktoren erweisen sich eher als günstig oder nachweislich als hinderlich? • Wie können wir als Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler das Verstehen und die Entwicklung nachhaltiger sozialer Innovations- und Transformationsprozesse erleichtern? Welche Rollen spielen wir selbst im jeweiligen Kontext? Welcher theoretischen und methodischen Hilfsmittel bedienen wir uns dabei? • Welche sozialwissenschaftlich reflektierten Beispiele sozialer Transformationsprozesse in Städten, Gemeinden und Regionen können wir dazu vorstellen?“ Schon bis hierher hatten wir es mit einer Reihe von Beiträgen zu tun, in denen die Autorinnen und Autoren nicht nur als Wissenschaftler*innen, sondern als im weitesten Sinne sozialwissenschaftliche Berater*innen involviert waren oder zumindest auch aus dieser Perspektive formuliert haben. Das trifft auf jeden Fall zu für alle Autorinnen und Autoren des letzten Abschnitts: für Christian Gelleri, der den Chiemgauer mit aus der Taufe gehoben hat, für Bettina Wegner, die kommunale Identitätsfindungsprozesse begleitet, und ganz besonders für Ingegerd Schäuble und Oranna Erb, die in Moderations- und Mediationsprojekten unterwegs sind. Auch für zwei der drei Beiträge des vorherigen Abschnitts „Nachhaltigkeit in Organisationen und Arbeitsorganisation“ gilt das. Peter Dürr stellt sich auch als Berater Strategie/Kommunikation in Unternehmen vor; Wolfgang Gehra und Julia Schmidt kommen aus der Gemeinwohl-Ökonomie und wollen mit ihrem Fachbeitrag zu deren besserem Funktionieren beitragen. Die nachfolgenden Beiträge sind fast durchgängig bei anspruchsvoller theoretischer Einbettung von einem hohen Reflexionsgrad der eigenen Interventionen geprägt, nicht wenige durchaus selbstevaluativ und selbstkritisch. Am intensivsten hat sich Peter Biniok eingelassen. Bei seinem Modellprojekt mit der Berliner Innung der Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik hat er sich nicht nur besuchs- und phasenweise, wie es bei Forschungsprojekten üblich ist, mit der Branche eingelassen, sondern ist als Beschäftigter der Innung durch die Betriebe gezogen, um als „Soziologe an der Konzeption von Maßnahmen gegen Ausbildungsabbrüche [mitzuarbeiten] und bei der Bearbeitung ­empirisch-analytischer Fragestellungen [zu unterstützen).“ „Sozialwissenschaftler

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werden dabei selbst zum gestalterischen Akteur im Transformationsprozess.“ In seinem konkreten Fall beschreibt er seine Rolle zum einen als „Infiltration“ und zum anderen als „Arrangement“. Als „Infiltration“, weil er einen ethnografischen Zugang gewählt hat, der je nach Situation ebenso als beobachtende Teilnahme wie als teilnehmende Beobachtung untersucht werden kann und indem er Einfluss nehmen durfte auf „die Selbststeuerung der Akteure“. Als „Arrangement“ „durch die Initiierung von Dynamik“, will sagen, weil er in seiner Rolle geradezu beauftragt war, entgegen allen hinderlichen und beharrenden Kräften Veränderungen anzustoßen, die von den Praktikern getragen werden sollten. Sevda Can Arslan beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit dem Konzept der Transdiziplinarität. Vor dem Hintergrund von Vilsmaiers und Langs Analyse „Transdisziplinärer Forschung“ (2014) bürstet sie ihr eigenes Projekt „Media Future Lab“ gegen den Strich. Ihr Projekt „handelt von der Zukunft der Medien. Medien sind als öffentliche Kommunikationskanäle wesentlich für Demokratie. Doch sie befinden sich gerade in einer Krise: Reichweite, Akzeptanz und Deutungshoheit von traditionellen Angeboten sinken. Vor diesem Hintergrund fragt das Projekt, was wir, die Gesellschaft, von Medienangeboten erwarten, was wir unter gutem Journalismus verstehen und was wir uns das kosten lassen wollen.“ Um einer solch komplexen Fragestellung mit einem adäquaten Theorieund Methodenset gerecht zu werden, ist es wichtig, nicht nur die Grenzen zwischen Wissenschaftsdisziplinen überschreitend zu arbeiten, sondern etwa auch die Kooperation zwischen Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu suchen und das Projekt als lernendes anzulegen. Drei zentrale Momente von Transdisziplinarität untersucht Arslan: die Kontextabhängigkeit der Forschung, die Gesellschaftsorientierung und den Fokus auf den Lernprozess, und wendet sie analytisch und evaluativ auf ihr eigenes Projekt an. Tamar Beruchashvili, Elisabeth Wiesnet und Yves Jeanrenaud stellen in ihrem Beitrag „Interaktive Formate zur gesellschaftlichen Teilhabe von Seniorinnen und Senioren am Beispiel sozialverantwortlicher Technikgestaltung“ vor. Aufgabe des Teilprojekts im Rahmen des bayrischen Forschungsverbundes ForGenderCare war es, „geeignete Kommunikations- und Partizipationsmodelle zu entwickeln, um Senior_innen mit unterschiedlichen Anforderungen und Lebenswirklichkeiten an der Entwicklung gesellschaftlicher Veränderung teilhaben zu lassen.“ Konkret wurde ein Teilhabemodell für ältere Menschen an der sie mittelbar und unmittelbar betreffenden Technikentwicklung erarbeitet. Zugleich wurde ein Ansatz entwickelt, wie Unternehmen stärker auf eine an Gender und Diversity orientierte Kultur und Kundenorientierung ausgerichtet werden können. Christine Best und Kerstin Guhlemann widmen ihren Beitrag der „Kunst der sozialen Transformation“ oder, wie es im Untertitel heißt, dem „Empowerment

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durch soziale Kunst“. Langzeitarbeitlose werden durch soziale Kunst, vor allem durch die JobAct-Methode, zu einer selbstbewussteren Wahrnehmung von Arbeitsmarktchancen befähigt. Einschlägige Projekte, die mit Formen der Kombination aus Theaterarbeit und sozialer Arbeit arbeiten, erzielen dabei hohe Eingliederungs- und Vermittlungsquoten, die traditionellen Methoden der Integration benachteiligter Menschen in Arbeitsmarkt und Gesellschaft im Ergebnis stark überlegen sind. Die Autorinnen analysieren hier konkret die in Deutschland entwickelte Methode selbst sowie die unterschiedlichen Gegebenheiten und Probleme der Anwendung der Methode bei jeweils zwei Partnern in anderen europäischen Ländern, namentlich Italien, Frankreich, Ungarn. In vielen Bereichen sind inzwischen digitale Medien und Anwendungen so selbstverständlich, dass Personengruppen, die sich ihrer nicht bedienen können oder wollen, ins Abseits geraten und abgehängt zu werden drohen. Dieser Gefahr möchte die seit Jahren veranstaltete Get Online Week, initiiert von der ­EU-Kommission, entgegenwirken. Bastian Pelka und die Studiengruppe Get Online Week, Studierende der Rehabilitationspädagogik an der TU Dortmund, haben sich in Dortmund mit eigenen Angeboten an der Get Online Week 2019 beteiligt und ihre eigene „Intervention zur Verbesserung der digitalen Teilhabe“ evaluiert mit dem Ziel, „die Intervention selber, aber auch ihre Gelingensbedingungen für möglichen Transfer in andere lokale Kampagnen sowie für folgende Studierendenkohorten in Dortmund zur Nachahmung aufzubereiten.“ Im Grunde handelt es sich um eine Studie, bei der es darum geht festzustellen, wie nachhaltig der Lernerfolg bei den beteiligten Gruppen von Jugendlichen und Senior*innen gewesen ist, konkret: ob ihnen der Kurs bei der Bewältigung von digitalen Prozesse im Alltag dauerhaft behilflich war. Die Gruppe selbst hat sich inzwischen nach bestandenem Examen aufgelöst. Janine Kuhnt beschäftigt sich mit Innovationspotenzialen in einer inzwischen weit verbreiteten Gruppe von zivilgesellschaftlichen Organisationen: Bürger*innenstiftungen und Freiwilligenagenturen, deren Aufgabe darin besteht, Engagement zu mobilisieren und zu koordinieren. Sie fast ihre Ergebnisse in der knappen Überschrift zusammen: „A story about storytellers.“ Will sagen: Wer gute, d. h. Erfolgsgeschichten über sich erzählt und sich gut präsentiert, ist erfolgreicher. Beantworten will Kuhnt mit ihrem Beitrag die Frage: „Wie erfüllen Bürger*innenstiftungen und Freiwilligenagenturen, unter Berücksichtigung ihrer organisationalen Verfasstheit, die ihnen zugeschriebene Innovationsfunktion durch die Förderung von Engagement?“ Sie unterzieht diese Organisationen einer „sekundäranalytischen Betrachtung“ und berücksichtigt dabei „sowohl quantitative Angaben wie die Anzahl der Organisationen, ihre Finanzausstattung und Personalstruktur als auch qualitative Daten, die aus wissenschaftlichen Befunden zur Selbsteinschätzung der in den Organisationen agierenden Professionellen und ihrem organisationalen Umfeld generiert worden sind.“

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Gerald Beck und Robert Jende verfolgen in ihrem Beitrag über „RePair Democracy – Soziale Innovationen als Werkstätten für demokratische Gestaltung“ die Leitthese, „dass Bürgerinnen und Bürger sich als politisch wirksam erfahren müssen, um ein inklusives und befriedigendes politisches Gemeinwesen aufbauen zu können. Umgekehrt bedeutet das, dass eine entsprechende Entkopplung von Bürgerwille und politischen Entscheidungsträger*innen zu einer Erosion der Demokratie führt.“ Diese Erosion sehen sie weit fortgeschritten und suchen daher nach Reparaturpraktiken der Demokratisierung und verstehen darunter „offene Werkstätten, Repair Cafés, solidarische Landwirtschaften und andere soziale Innovationen als einen Beitrag zur Etablierung lokaler Demokratien.“ (Hervorhebung der Autoren) In ihnen „versammeln sich die Anliegen und Erfordernisse einer Stadt, eines Quartiers oder einer Nachbarschaft, und gleichsam finden hier die Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammen, um die Anliegen praktisch anzugehen.“ Ihr Interventionsziel ist es, „Demokratiecafés in der Stadtgesellschaft zu verankern, um damit die Wünsche und Bedürfnisse der Bürger*innen mit neuen Möglichkeiten der Gestaltung zu verbinden.“ Florian Engel schließlich sieht „soziale Innovationen und Nachhaltigkeit im Phänomen des Flaschensammelns“ und untersucht das Phänomen mit praxissoziologischer Detailgenauigkeit. Dabei kommt er u. a. zu einem Schluss, der durchaus auch für viele andere Veränderungsprozesse von Bedeutung ist: „Der nachhaltige Wandel städtischen Lebensraumes hängt also nicht nur von der intentionalen Kreativität seiner Bewohner_Innen ab. Fruchtbar erscheint ein Analyseansatz, der die sichtbaren wie unsichtbaren Handlungszusammenhänge in ihrer Verschränktheit miteinander versucht zu verstehen.“ Engel formuliert hier eine der Anforderungen an sozialwissenschaftliche Forschung, wie sie bei der Beobachtung und erst recht bei der Beförderung von sozialen Veränderungsprozessen über die traditionellen Methoden und Werkzeuge des Zählens, Messens und Prüfens hinaus von Vorteil sind: Empathie, Einfühlungsvermögen und soziale Verantwortung. Zwar ist gut gemeint längst nicht gut gemacht. Aber was gut gemacht ist, darf auch gut gemeint sein.

Literatur BDS. 2015. Soziale Innovation verstehen. Sozialwissenschaften und Berufspraxis (SuB) 38, Nr. 2/2015 Dörre, Klaus. 2019. Risiko Kapitalismus. Landnahme, Zangenkrise, Nachhaltigkeitsrevolution. In Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften. Sonderband des Berliner Journals für Soziologie, Hrsg. Klaus Dörre, H. Rosa, K. Becker, Sophie Bose und B. Seyd, 3–33. Wiesbaden: Springer VS.

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Franz, Hans-Werner, und C. Kaletka, Hrsg. 2018. Soziale Innovationen lokal gestalten. Wiesbaden: Springer VS Franz, Hans-Werner. 2015, Editorial. In: BDS. 2015. Soziale Innovation verstehen. Sozialwissenschaften und Berufspraxis (SuB) 38, Nr. 2/2015 Lombriser, R. und P. Abplanalp. 2015. Strategisches Management: Visionen entwickeln – Erfolgspotenziale aufbauen – Strategien umsetzen. 6., vollst. überarb. und aktual. Aufl. Zürich: Versus. Obermeier, Claudia. 2020. Seniorinnen und Senioren im Kontext der digitalen Revolution. Eine qualitative Untersuchung der Internetnutzung von Seniorinnen und Senioren. Weinheim: Beltz Juventa. Sen, Amartya. 1979. Utilitarianism and Welfarism, The Journal of Philosophy, LXXVI, 463–489. UN (United Nations). 2015. Transforming Our World. The 2030 Agenda for Sustainable Development. New York: United Nations. UNDP (United Nations Development Programme). 2015. Bericht über die menschliche Entwicklung 2015: Arbeit und menschliche Entwicklung. Berlin: Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Vilsmaier, Ulli, J. D. Lang. 2014. Transdisziplinäre Forschung. In: Harald Heinrichs und Gerd Michelsen (Hrsg.): Nachhaltigkeitswissenschaften, Bd. 104. Heidelberg: Springer, S. 87–113.

Franz, Hans-Werner, Dr. phil., Dipl.-Üb., Studium Angewandte Sprachen in Germersheim (Uni Mainz), Studium der Soziologie, Journalistik, Politikwissenschaften und Linguistik an der FU Berlin. Langjähriger Mitarbeiter und Mitglied der Geschäftsführung der Sozialforschungsstelle Dortmund (TU Dortmund), EFQM-Assessor, Mitglied des Geschäftsführenden Vorstandes des BDS, Permanent Advisor to ESSI (European School of Social Innovation, Wien). Letzte Veröffentlichungen: Franz, H.W.; C. Kaletka; B. Pelka; R. Sarcina. 2018. Building Leadership in Project and Network Management – A Facilitator’s Tool Set, 2nd ed. Berlin/Heidelberg: Springer. Franz, H.W.; C. Kaletka. Hrsg. 2018. Soziale Innovationen lokal gestalten, Wiesbaden: Springer VS. Dalluege, A.; H.W. Franz. 2015. IQM – Integriertes Qualitätsmanagement in der Ausund Weiterbildung. Selbstbewertung für EFQM, CAF, Q2E, DIN EN ISO 9001 und andere QM-Systeme, Bielefeld: wbv (4. überarbeitete und erweiterte Auflage). Franz, H.W.; J. Hochgerner; J. Howaldt. eds. 2012. Challenge Social Innovation, Berlin/ Heidelberg: Springer.

In Webers Schuhen und mit Dahrendorfs Geleit: Die Wirkung sozialer Innovationen durch soziologische Klassiker verstehen Claudia Obermeier Zusammenfassung

Das Wissen um nachhaltig veränderte Handlungspraxen und deren Einfluss auf sozialstrukturelle Mechanismen ist ein genuin soziologisches. Sozialwissenschaften besitzen qua ihren Methoden und Theorien die Möglichkeit, strukturell wirksame Gesellschaftstransformationen systematisch aufzuarbeiten, abzubilden und Erkenntnisse daraus abzuleiten. Ohne soziologische Theoriebildung wäre es undenkbar, den Einfluss veränderter Handlungsrepertoires auf die Lebensgestaltung der Individuen (Mikroebene) und auf die Gesamtgesellschaft (Makroebene) zu erkennen und abzubilden (ganz in der Tradition Max Webers). Die Betrachtung sozialer Innovationen entfaltet sowohl für die Mikro- als auch für die Makroebene Relevanz. Dieser Beitrag möchte sich dem Erklärungsgehalt soziologischer Theorien für die Betrachtung gesellschaftlich relevanter Mechanismen in Form von sozialen Innovationen widmen. Dabei soll konzeptionell sowohl für die Mikro- als auch für die Makroebene durchdekliniert werden, welchen Einfluss soziale Innovationen, die nicht selten zu einem sozialen Wandel führen, auf die Lebenschancen der Individuen und der Gesamtgesellschaft haben. Die grundlegende These dieser Betrachtung lautet: Soziale Innovationen führen zu einem Mehr an Lebenschancen. Als theoretischer Unterbau soll das L ­ ebenschancen-Konzept von Ralf Dahrendorf dienen, anhand dessen neben der grundlegenden Darstellung des Terminus der

C. Obermeier (*)  Kiel, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_2

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Lebenschancen eine Diskussion um soziale Innovationen entwickelt werden soll. Expliziert werden soll der Versuch, die Wirkung sozialer Innovationen anhand des Lebenschancen-Konzepts nach Dahrendorf zu erfassen, und zwar anhand der empirischen Befunde aus meiner Doktorarbeit zum Thema Internetnutzung von Seniorinnen und Senioren. Die gewonnenen Ergebnisse ermöglichen zum einen, die Motivationen, die hinter innovativem Handeln stehen, anhand dieses Beispiels aufzuzeigen, und vergegenwärtigen zum anderen, wie sich die Wirkungen einer sozialen Innovation für die Protagonistinnen und Protagonisten im Lichte des ­Lebenschancen-Konzeptes vergegenwärtigen. Der Beitrag möchte eine Perspektive auf die Erklärungskraft sozialwissenschaftlicher Theoriekonzepte im Hinblick auf die Wirkung sozialer Innovationen werfen und bedient sich dabei der Unterstützung empirischer Daten aus einer eigenen Erhebung.

1 Soziale Innovation: Grundverständnis und Referenzrahmen Tradierte Handlungsroutinen und -praxen stoßen in einer immer stärker ausdifferenzierten Umwelt auf Fragestellungen, die auf althergebrachte Art nicht zu bewältigen zu sein scheinen. Neue Fragen provozieren andersartige Antworten, sich verändernde Umstände stellen bisherige Lebensweisen von Individuen und ganzen Gesellschaftsgruppen auf den Prüfstand. Bisher als komfortabel oder zufriedenstellend empfundene Bewältigungsmechanismen für die kleineren und größeren Aufgaben des Alltags erscheinen nunmehr eher unzulänglich. In der Konfrontation mit eben diesen Aufgabenstellungen wird gewahr, dass die bisherige Handlungspraxis nicht mehr als zufriedenstellend bewertet werden kann. Die sich bietende Herausforderung provoziert die Ausrichtung auf neue Handlungsoptionen bzw. eine neue Bewältigungsstrategie, die diese Unzufriedenheit verringern oder beheben (sollen). Zapf formuliert dazu: „Soziale Innovationen sind neue Wege, Ziele zu erreichen, insbesondere neue Organisationsformen, neue Regelungen, neue Lebensstile, die die Richtung des sozialen Wandels verändern, Probleme besser lösen als frühere Praktiken, und die deshalb wert sind, nachgeahmt und institutionalisiert zu werden“ (Zapf 1989, S. 177).

Die Zielsetzungen der Handlungsanpassung sind dabei dispers. Was zählt, ist der mittelfristig und langfristig erkennbare gesellschaftliche Nutzen. Festzustellen ist,

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dass gesellschaftliche Wandelungsprozesse zu der Veranlassung führen, Handlungspraxen gemäß einem empfundenen Veränderungsdruck zu modifizieren: „Routine und Innovation gehören nicht zwei verschiedenen Welten an, sondern schieben sich ineinander“ (Waldenfels 1990, S. 96). Derartige Modifikationen können u. a. aus einem eher individuellen Motiv heraus entstehen. Eine veränderte Ausgestaltung reagiert damit auf eine als unzureichend empfundene Begebenheit. Mit gesellschaftlichen Wandelungsprozessen1, die durch sehr unterschiedliche Impulse angetrieben sein können, steigt auch die breitflächige Notwendigkeit, den sich bietenden Veränderungen auf der Handlungsebene Reaktionen entgegen zu stellen – soll heißen: umfassende gesellschaftliche Wandelungsprozesse führen dazu, dass veränderte Handlungspraxen in vielerlei Kontexten relevant sind (Howaldt und Schwarz 2010, S. 25). Als eine der prägnanten Einflussgrößen in der Postmoderne gilt die digitale Revolution (Hofstetter 2018, S. 91 ff.; Reutner 2012, S. 9; Stengel 2017, S. 63 ff.). Alle gesellschaftlichen Teilbereiche sind davon eingenommen, digitale Organisations-, Verwaltungs- und Gestaltungsprinzipien zu adaptieren. Doch damit ist nicht nur das bloße Eindringen neuartiger Apparate und Maschinen gemeint. „In zwanzig Jahren werden wir auf diese Zeit zu Beginn des 21. Jahrhunderts zurückblicken und einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte unserer Wirtschaft und Gesellschaft darin erkennen. Wir werden verstehen, dass wir in ein neues Zeitalter eingetreten sind, das auf neuen Prinzipien, Ansichten und Geschäftsmodellen beruht, wie die Spielregeln sich geändert haben.“ (Tapscott und Williams 2007: S. 19)

Die gegenwärtig geschehenden Umwälzungen halten durch neue Informationsund Kommunikationstechnologien Einzug. Der Mensch der Postmoderne sieht sich damit konfrontiert, auf eine veränderte Art und Weise Wissen zu generieren, Bildung zu realisieren und Kommunikation sowie zwischenmenschliche Bindungen

1Der

Terminus des gesellschaftlichen oder sozialen Wandels soll an dieser Stelle lediglich als Eckpfeiler für sich aufspannende Argumentation dienen. Die verkürzte Betrachtung und das selbstverständliche Operieren mit diesem vielgestaltigen Begriff geschieht nicht ohne das Bewusstsein für die Notwendigkeit der differenzierten Verwendung. Bezogen auf Zapf (1994), der wiederum grundlegende Gedanken von Comte, Marx, Pareto, Durkheim und anderen Größen der Sozialwissenschaften berücksichtigt (Zapf 1994, S. 11 f.), soll sozialer Wandel als ein solcher Terminus verstanden werden, der ausdifferenziert wird in ein Strukturverständnis mitsamt der Frage nach einer sozialen Ordnung und einer weiterführenden Differenzierung in die Dimensionen, die den sozialen Wandel versuchen zu charakterisieren (Zapf 1994, S. 14).

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zu organisieren. Digital bereitgestellte und medial ventilierte Informationen, digital encodierte und über technische Medien vermittelte Botschaften, orts- und zeitunabhängige Vernetzung über die Infrastruktur Internet – die quasi permanent zur Verfügung stehenden Potenziale schaffen eine neue Notwendigkeit des Umgangs mit diesen Verfügbarkeiten und Angeboten (Becker 2013, S. 29 f.; Floridi 2015, S. 45 ff.). Die Digitalität als Organisationsprinzip anzuerkennen bedeutet aber auch, seine Handlungen an die neuen technischen Begebenheiten und die mannigfaltigen digitalen Möglichkeiten anpassen zu müssen – das gilt gleichsam für das Individuum, für bestimmte Akteursgruppen und gesellschaftliche Teil- respektive Funktionsbereiche. Digitalisierung provoziert auch neue Fragen danach, wie das gesellschaftliche Miteinander auf der Mikroebene gestaltet werden soll, welche Begebenheiten nunmehr Änderungspotenzial erhalten oder welche Routinen neu gedacht werden müssen. Aus dem die Gesellschaft umspannenden Wandel, der mit der Digitalen Revolution seine Betitelung erhält, erwächst die Notwendigkeit, Handlungsweisen zu hinterfragen bzw. dieselben im Lichte neuer Optionen anzupassen. Soziale Wandelungsprozesse bilden folglich die Klammer für soziale Innovationen, können jedoch auch Resultat sozial innovativer Veränderungen sein, wodurch die Wandelungsprozesse selbst erst sichtbar werden (­Braun-Thürmann und John 2010, S. 53). Digitalisierung wird als das verstanden, was breitflächig neue Potenziale für die Ausgestaltung gesellschaftlicher Bezüge, Verbindungen und Beziehungen, aber auch gesellschaftlicher Organisation und Verwaltung schafft. Daraus hervorgehende neuartige Praktiken können selbst technisch und/ oder sozial innovativ sein und darüber hinaus weitere Innovationen anstoßen bzw. nach sich ziehen, weil sich Referenzpunkte verschieben, etablierte Routinen als nicht mehr praktikabel gelten. Dabei entzieht sich der Aspekt der Neuartigkeit im Hinblick auf soziale Innovationen einer klaren Konturierung2. Denn es drängt sich die Frage auf, wie bei einer Handlungspraktik das Neuartige identifiziert werden soll. Deutlich treffender scheint die These zu sein, dass eine soziale Innovation eher eine Modifikation einer bereits bekannten Handlungspraktik ist und der Versuch einer Identifikation eher auf das Andersartige zurückfällt, als sich eindeutig auf ein neuartiges Element zu beziehen. Bei allen Versuchen, diesen Umstand definitorisch einzufangen, trifft man doch wieder auf die von Schumpeter explizierte Charakterisierung, die so treffend den Gedanken der Neuartigkeit in

2Die Annahme darüber, dass in Bezug auf technische Innovationen eine überaus eindeutige Benennung des Neuartigen stattfinden kann, muss mit dem Verweis auf die Ausführungen von Bechmann und Grundwald (1998: 5) und die Auffassung von Luhmann (1990) ebenfalls kritisch beleuchtet werden.

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sozialen Innovationen abbildet: „the doing of new things or the doing of things that are already being done in a new way“ (Schumpeter 1947, S. 151). Die Neuartigkeit der in sozialen Innovationen realisierten Praktiken liegt quasi in der Andersartigkeit. Soziale Innovationen sind ohne das Element der Neuartigkeit nicht existent, jedoch braucht es eine andere Konnotation des Neuen, das in einer sozialen Innovation zum Ausdruck kommt (Gillwald 2000; Bechmann und Grunwald 1998). Hier verdeutlicht sich die Problematik der schwerlich fass- und messbaren Trennschärfe (Gillwald 2000, S. 41; Braun-Thürmann und John 2010, S. 54 f.). Denn, wenn jede Andersartigkeit des Verhaltens eine Innovation sein könnte, würde dies den Terminus und das Konzept ad absurdum führen. Neue Rahmenbedingungen provozieren neue Handlungspraktiken, und veränderte Praktiken können die Rahmenbedingungen einer Modifikationsnotwendigkeit unterwerfen. Was an dieser Stelle in der abstrakten Formulierung leicht nachvollziehbar erscheint, erscheint im Hinblick auf eine theoretische Fundierung und in der Auseinandersetzung mit ganz konkreten Momenten weitaus komplexer. Über die Frage, was per definitionem eine soziale Innovation ist und wann eine veränderte Handlungspraxis als sozial innovativ identifiziert werden kann, haben sich bereits Forscher*innen (bspw. Ogburn 1923; Kroeber 1924; Rammert 1993; Mensch 1972) verschiedener Disziplinen ausgelassen. Relevant erscheint in diesem Kontext vor allem der Aspekt: „Nicht alles, was wir innovativ finden, wird Innovation“ (Franz und Kaletka 2018, S. 2). Wenn also im weiteren Verlauf dieser Ausführungen das Adjektiv innovativ verwendet wird, wird damit eine Handlungspraxis beschrieben, die sich als tatsächliche Innovation vergegenwärtigt und folglich Einzug in das Handlungsrepertoire der Menschen gehalten hat. Der Claim ist hier also nicht gebräuchlich, um etwas Neuartiges zu beschreiben, sondern um auf Innovationen abzustellen, die tatsächlich veränderte Handlungspraxis bedeuten. Eingedenk der Tatsache, dass dieser Beitrag eine andere Agenda verfolgt, soll es bei dieser knappen und verdichteten Darlegung des Gegenstandes soziale Innovation bleiben. Folglich soll die Annahme gelten, dass sich soziale Innovationen dadurch kennzeichnen lassen, dass Handlungsweisen überindividuell und anders als bisher ausgestaltet werden – eben in der Form, dass Viele anders als bisher agieren.

2 Arbeitsthese und Intention Die These, dass soziale Innovationen zu einem Mehr an Zufriedenheit oder einem neuen Wohlgefühl führen können, ist mitnichten neu. Im Zuge dieser Lesart wird die Betrachtungsweise verschoben, was im Wesentlichen bedeutet, dass nicht mehr die Frage danach prominent ist, was eine soziale Innovation ist. Vielmehr liegt

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der Fokus auf den als verändert begriffenen Handlungsweisen, die Resultat bzw. Ergebnis der sozialen Innovation sind. Das Abzeichnen der aus dem innovativen Handeln entspringenden sozialen Begebenheiten erscheint als ebenso große Herausforderung wie das Finden des Dammbrucharguments, ab wann eine soziale Innovation als eine solche benannt werden kann. Diesem Umstand ist die zaghafte Frage danach immanent, wie soziale Innovationen abbildbar werden, wie sie in ihrer Ausgestaltung, Ausdehnung und Wirkung verstanden werden können. Soziale Innovationen können als soziale Phänomene begriffen werden, die es zu beschreiben, verstehen und erklären gilt (Braun-Thürmann und John 2010, S. 54 ff.). Möchte man eruieren, wie groß die Veränderung sein muss, damit selbige als innovativ gelten kann, kann es sinnvoll sein, das Veränderte zu betrachten, um darüber den innovativen Charakter einer neu implementierten Handlungspraxis freilegen zu können (Howaldt et al. 2008). Die nachfolgenden Ausführungen wollen den Versuch unternehmen, das Erklärungspotenzial eines sozialwissenschaftlichen Theorieansatzes für das Verstehen der Wirkungsweise sozialer Innovationen aufzuzeigen. Mit der vorgelagerten These, dass eine soziale Innovation eine Handlungspraxis verändert, soll eine soziale Innovation unter Zuhilfenahme des Lebenschancen-Ansatzes von Dahrendorf (1979) quasi a posteriori betrachtet werden. Die leitende Arbeitsthese liest sich daher folgendermaßen: Soziale Innovationen führen zu einem Mehr an Lebenschancen. Der Lebenschancen-Ansatz soll dazu dienen, dieses eher abstrakt anmutende Resultat der sozialen Innovationen theoriegeleitet zu systematisieren und zu operationalisieren. Als Referenzrahmen dient das Spannungsfeld der Digitalisierung, und betrachtet wird die Personengruppe der Senior*innen – das sind Personen, die sich bereits im Ruhestand befinden3. Digitalisierung ist ein Phänomen, das sich je nach gesellschaftlichem Funktionssystem in unterschiedlichen Formen vergegenwärtigt. An dieser Stelle soll es nicht um die verschiedentlichen Ausprägungen und Fortschritte in einzelnen Anwendungsfeldern gehen. Vielmehr forciert die Perspektive das, was für das Individuum als Voraussetzung dafür gilt, an digital

3Die

Betrachtungsgruppe erhält ihre Konturierung durch die theoretischen Vorüberlegungen, die für das Promotionsprojekt (finalisiert in 2018) angestrengt wurden. Die Bezeichnung Senior*innen bezieht sich nicht auf ein nummerisches Äquivalent in Form einer Altersangabe, sondern resultiert aus den gesetzlich geregelten Begrifflichkeiten, die dann Anwendung finden, wenn eine Person das Renteneintrittsalter erreicht hat und aus der Erwerbstätigkeit ausscheidet oder aber aus gesundheitlichen Erwägungen (früh)pensioniert wird. Aufgrund der benannten Aspekte wird in diesem Beitrag ausschließlich von Senior*innen und nicht etwa von Älteren die Rede sein, um die Trennschärfe im Hinblick auf das Ausscheiden aus der Erwerbstätigkeit zu markieren (Obermeier 2020, S. 63 ff.).

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gestalteten Prozessen, sei es der Informationsbeschaffung, der Alltagsorganisation oder der Kommunikation, partizipieren zu können. Voraussetzung für ein digitales Leben ist die Nutzung des Internets. In Bezug auf die Untersuchungsgruppe vergegenwärtigt sich daher zuvorderst die Internetnutzung als relevante Größe für die Partizipation an der zunehmend digitalisierten Gesellschaft. Die Personengruppe der Senior*innen ist die einzige, die in der gegenwärtigen Gesellschaft klar quantifizier- und differenzierbar in eine Gruppe der Internet-Nutzenden und in eine solche der I­nternet-Nichtnutzenden aufteilbar ist (Initiative D21 e. V. 2018, S. 40 f.). Onliner*innen haben den durch die Digitalisierung hervorgebrachten digital turn (Schramm 1988, S. 341) bereits vollzogen. Diejenigen Senior*innen, die ihren Alltag ohne das Internet gestalten und damit eine analoge Lebensführung praktizieren, haben diese Erfahrung bislang nicht gemacht. In Bezug auf die Gruppe der Senior*innen gilt der digital turn als spaltendes Element, das zu einer Heterogenität vor allem in Bezug auf die Faktoren der Informationsbeschaffung und der Kommunikation führt. Die Nutzung des Internets wird für die Personengruppe der Senior*innen aus verschiedenen Gründen als soziale Innovation gedeutet. Damit wird vergegenwärtigt, dass soziale Innovationen nicht für alle Bevölkerungsgruppen in einem gleichen zeitlichen Rahmen vollzogen werden und zudem eine Handlungspraxis nicht für alle Bevölkerungsgruppen als innovativ, sprich gegenüber bestehenden Routinen als neuartig und verändert, gelten müssen. Für die Jüngeren beispielsweise bildet die Internetnutzung keine neuartige Handlungspraxis – selbige ist vielmehr internalisierte Kulturpraxis. Anhand dieses Beispiels der Internetnutzung von Senior*innen soll unter Hinzunahme des L ­ ebenschancen-Konzeptes ein Vorschlag dafür unterbreitet werden, wie die Wirkung einer sozialen Innovation durch einen sozialwissenschaftlichen Theorieansatz abgebildet werden kann. Um der Arbeitsthese nachzugehen, wird zunächst in einer knappen Ausführung aufgezeigt, warum die Internetnutzung der Senior*innen als soziale Innovation begriffen werden soll. Daran anschließend werden die Grundzüge des Lebenschancen-Begriffes bei Weber und die Eckpfeiler des Lebenschancen-Konzeptes von Dahrendorf skizziert, woraufhin dann eine Zusammenführung der Erkenntnisse erfolgt.

3 Internetnutzung als soziale Innovation Der Arbeitsthese kann die Frage vorausgeschickt werden: Wie wirken soziale Innovationen und wodurch werden Sie initiiert? Die Intention liegt darin, durch die soziale Innovation eine solche Veränderung zu erwirken, die schließlich positiver bewertet wird und Lebensumstände in besser gestalteter Form zum

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Resultat hat (John 2013, S. 71). Jedoch soll diese Annahme dahin gehend geschärft werden, dass eine sozial innovative Handlungspraxis nicht per se bedeuten muss, dass es sich in der Konsequenz um genuin positive und bessere Bedingungen an sich handelt. Veränderte Praktiken können allerdings für andere, nur mittelbar Beteiligte, auch solche Resultate hervorbringen, die nicht positiv bewertet werden (Gillwald 2000, S. 19 f.). Dies soll in den Betrachtungskontext der Internetnutzung von Senior*innen überführt werden. Aus einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive heraus kann vor dem Hintergrund der immensen Verbreitung und der Implementierung in nahezu allen Gesellschaftsbereichen nicht mehr davon gesprochen werden, dass es sich bei der Internetnutzung um eine partiell wirkende soziale Innovation handelt. Wenngleich das Argument an sich für bestimmte Nutzungsintentionen oder spezifische Anwendungsprofile, veränderte Verwaltungs- und Organisationsprinzipien gelten kann, soll der Gebrauch des Internets an sich hier im Fokus stehen, und dieser Aspekt kann als ein breitflächiges, umfassendes Diffundieren und Übertragen in Handlungsrepertoires verstanden werden. Die internetbasierte und digital gestaltete Umwelt ist für Viele nunmehr integraler Bestandteil der eigenen Lebenswelt (Krotz 2008; S. 44 ff.). Aufbauend auf den digitalen Gestaltungsprinzipien lassen sich auf neuartige Weise innovativ wirkende Strategien ausmachen. Für all diejenigen, die das Internet nutzen, ergeben sich weiterführende Handlungsrepertoires und Anwendungsfelder, deren Voraussetzung durch die Internetnutzung geschaffen wurde. Dies bezieht sich makroperspektivisch bspw. auf die Organisation und die Ausgestaltung zwischenmenschlicher Kommunikation, neuartiger Lernstrategien, die Art der Informationsgenese und per se auf die Einbindung technischer Medien in den Alltag. Man kann davon sprechen, dass sich verschiedentliche soziale Innovationen verwoben haben und schließlich den Wandelungsprozess des digital turn abbilden. Dem digitalisierten Kommunikations-, Informations-, Organisations- und Verwaltungsprinzip stehen jedoch bis zu einem gewissen Grade exkludiert diejenigen gegenüber, die das Internet nicht nutzen und damit nicht an der Digitalisierung partizipieren können. Bei dieser Gruppe der offline Lebenden handelt es sich mehrheitlich um Senior*innen. Neben der Bildung und der Art der Berufstätigkeit handelt es bei dem Alter gegenwärtig um die prägendste Determinante im Hinblick auf die Internetnutzung. Im Zuge des im Jahre 2018 fertiggestellten Promotionsprojektes wurde eine Untersuchung zur Internetnutzung und -Nichtnutzung von Senior*innen durchgeführt (Obermeier 2020), die allerlei interessante Erkenntnisse für diesen Kontext der sozialen Innovationen und zu dem Erklärungspotenziale des sozialwissenschaftlichen Konzeptes der Lebenschancen von Dahrendorf liefert.

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Die Ergebnisse der quantitativen Untersuchungen der Initiative D21 zeigen, dass Personen eher dann das Internet nutzen, wenn durch ihre berufliche Tätigkeit eine Nutzungsnotwendigkeit besteht. Je eher Personen in ihrem beruflichen Umfeld mit den Themen der Digitalisierung konfrontiert sind, desto eher sind sie auch im Privaten aufgeschlossen und innovationsfreudig gegenüber dem Internet. Dieser Aspekt lässt sich auf die Gruppe der Senior*innen übertragen, wenn man den Eintritt in den Ruhestand und damit das Ende der Erwerbstätigkeit als eine Art Zäsur der Internetnutzung versteht. Es zeigt sich, dass Personen, die das Internet im Berufsleben mündig und souverän genutzt haben, diesen Umgang auch im Ruhestand fortführen. Für diejenigen, die in ihrer Berufstätigkeit das Internet nur rudimentär kennengelernt haben oder es gar nicht nutzen mussten, zeigen die Untersuchungen für die gegenwärtige Senior*innengeneration, dass die Internetnutzung im Ruhestand marginalisiert oder gänzlich eingestellt wird (Obermeier 2020, S. 280 ff.). Wenn die Senior*innen in der Phase der Erwerbstätigkeit keinen Umgang mit dem Internet etabliert haben, finden sie in nur geringem Maße den Zugang dazu. Ausschlaggebend für die Gruppe der Offliner*innen ist im Hinblick auf eine potenzielle Internetnutzung das Vorhandensein familialer Netzwerke. Hier schließlich liegt das entscheidende Moment: Offline lebende Senior*innen, die keine Kinder (und damit keine Enkelkinder)4 haben, empfinden sich in der zunehmend digitalisierten Umwelt nicht benachteiligt und nehmen sich nicht als exkludiert wahr – so zeigen es die Ergebnisse der qualitativen Untersuchung des Promotionsprojektes (Obermeier 2020, S. 339 ff.). Sie sehen aus der gegenwärtigen Lebenssituation heraus keine Veranlassung, sich mit dem Internet auseinanderzusetzen. Die Gründe, dem Internet gegenüber distanziert zu bleiben, sind vielfältig: a) Ihnen erscheint das Erlernen der Computertechnik und die Handhabung zu zeitintensiv und aufwendig, b) das Internet als Ganzes wird abgelehnt, c) sie befürchten Überforderungen, d) sie erkennen in der Internetnutzung keinen Mehrwert oder e) halten es für die Gestaltung ihres Alltages für nicht notwendig. Senior*innen, die Kinder haben bzw. über mehrgenerationale Netzwerke verfügen, schätzen die Notwendigkeit des Internets für die eigene Lebensführung anders ein: Sie gehören zu denjenigen, die sich intensiv mit den Computer- und Internetkenntnissen auseinandergesetzt haben und sich auch im Ruhestand, ohne bereits vorher etablierte Kenntnisse,

4Unter

eigenen Kindern werden nicht ausschließlich leibliche Kinder verstanden. Es geht im Wesentlichen um durch gegenseitige Fürsorge in einer übergenerationalen Beziehung geschaffene Verbindungen und Beziehungen, die einem (leiblichen) Eltern-Kind-Verhältnis entsprechen oder gleichen.

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den Weg ins World Wide Web gebahnt haben. Dabei ist es für diese Senior*innen nicht so, dass sie die Hemmnisse und Hürden der Offliner*innen nicht teilen würden Auch sie fürchten sich vor Risiken und Überforderung, auch sie scheuen den Zeitaufwand und sehen in der Internetnutzung eine vielgestaltige Herausforderung, die sich vor allem in einem erhöhten Respekt vor der Computertechnik vergegenwärtigt. Der entscheidende Grund dafür, dass sie sich die Nutzung des Internets erarbeitet haben, liegt in dem starken Bedürfnis begründet, die internetbasierten Kommunikationskanäle nutzen und somit an dem Austausch innerhalb der Familie teilnehmen zu können. Das Bewusstsein dafür, dass internetbasierte Kommunikationstechnologien die vordergründig genutzten Wege sind und vor allem Enkelkinder, und generell die jüngeren Generationen, darüber in höherem Maße erreichbar erscheinen, ist allen Senior*innen gemeinsam. Für diejenigen Senior*innen, die über keine familialen Netzwerke verfügen, erscheinen die neuen Kommunikations- und Informationstechnologien weniger bedeutsam, da sie in geringerem Maße regelmäßig in übergenerationalen Netzwerken aktiv sind, innerhalb derer digitalisierte Kommunikation etabliert ist. Sie teilen ihre Lebenslage mehrheitlich mit solchen Personen, die zuvorderst über analoge Kommunikationsstrategien sozialisiert sind und überdies über stabile soziale Beziehungen in ihrem Umfeld verfügen. In diesem Kontext stellt es sich für die Senior*innen als weniger relevant dar, sich über digitale Kanäle auszutauschen. Anders verhält es sich hinsichtlich der Senior*innen, die gleichsam Eltern und ggf. Groß/Urgroß-Eltern sind. Ihnen ist vor allem die Anbindung an die Familie wichtig – sie erkennen an, welche Vorteile internetbasierte Kommunikationsmedien wie E-Mail oder Messengerdienste bieten. Die Hinwendung zum Internet folgt damit einer klar benennbaren Intention: der Kontakt zu Kindern und Enkelkindern. Diese Intention wird nochmals intensiviert, wenn die Familien aufgrund geografischer Begebenheiten fragmentiert sind, d. h. (Enkel-)Kinder und (Groß-)Eltern eher weiter voneinander entfernt leben, sodass das persönliche, unmittelbare Zusammensein nur sehr begrenzt möglich ist. Für diese Personengruppe gilt, dass sie sich aufgrund einer deutlich wahrgenommenen Problemstellung und eines Leidensdrucks dazu entscheiden, ihr Handlungsrepertoire zu erweitern, damit das Ziel, der Kontakt zu der Familie, erreicht werden kann. Das bedeutet für diese Personengruppe dann nicht nur, dass sie den Weg in das Internet findet, sondern dass eine neue Art der Kommunikation praktiziert wird. Die Senior*innen erobern sich eine neue Art der Kommunikation, die in hohem Maße durch Schriftsprache geprägt ist und zudem über die Nutzung von Fotos als Trägermedium funktioniert. Damit erobern sich die Senior*innen ein multimediales Nutzungsverhalten, das sich auf die gängigen Momente wie den Gebrauch von WhatsApp, Videotelefonie usw. abstellt. Die Art der Plattform oder

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das Medienformat sind in diesem Kontext nicht die entscheidenden Momente: Die Tatsache der gänzlich neu gestalteten Kommunikation ist hier das für die Senior*innen herausragende Element. Sie lösen damit eine als nicht zufriedenstellend erlebte Begebenheit, indem sie sich aktiv um ein neues Handlungsrepertoire bemühen. Damit diffundiert die neue Art der Kommunikation in ihren Alltag. Per se folgen sie damit einer Transformation, die sich bereits für eine Vielzahl an Personengruppen der Gesellschaft vollzogen hat. Trotzdem handelt es sich für die offline lebenden Senior*innen um eine soziale Innovation, wenn sie sich der Nutzung des Internets zuwenden. Senior*innen, die den Großteil ihres Lebens mittels analoger Strategien bewältigt und sich erst spät mit dem Internet auseinandergesetzt haben, eröffnen im Zuge der qualitativen Auseinandersetzung weitreichende Einblicke in ihre Auseinandersetzung mit der neu erlernten und damit auch neu erlebten Digitalisierung. Sie können rekonstruktiv Auskunft darüber geben, wie sich die individuelle Lebensführung durch die Internetnutzung gestaltet und verändert. Das Abbilden dieser Veränderung soll unter Zuhilfenahme des Lebenschancen-Konzeptes von Ralf Dahrendorf geschehen.

4 Das Konzept der Lebenschancen Verortet werden kann der Terminus Lebenschancen im Kontext der Fragestellungen und Analysen sozialer Ungleichheit. Per se kann man sich dem Verständnis dieses Konzeptes auf der Mikroebene nähern und dahin gehend ausgestalten, dass die Chancen für eine individuelle Lebensgestaltung gemeint sind, die sich im Lichte der Determinanten und Dimensionen sozialer Ungleichheiten entfalten können. Das impliziert sogleich, dass sich nicht jedes Individuum einer Gesellschaft den gleichen Chancen gegenübergestellt sieht. Abhängig von den Ausprägungen, also der Merkmalskonstellation, der determinierenden (askriptiven und erworbenen) Faktoren soziale Herkunft, Alter, Bildung, Einkommen, Beruf und Geschlecht ergeben sich unterschiedliche Potenziale im Hinblick auf den Zugang zu (weiteren) gesellschaftlich relevanten Ressourcen. Was als relevante Ressource gilt (bspw. Einkommen, beruflicher Status und Prestige usw.), ist durch gesellschaftliche Wertund Normvorstellungen geprägt und wird strukturell verfestigt. „Denn so wie Lebenschancen einerseits auf den objektiven Lebensverhältnissen beruhen, so sind sie andererseits von der subjektiven Wahrnehmung und Bearbeitung dieser Verhältnisse durch handelnde Individuen beeinflusst. Soziale Strukturen fungieren als Bedingungen für Lebenschancen, die von menschlichen Akteuren produziert und reproduziert werden.“ (Meyer und Pöttker 2004, S. 11).

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Die benannten Determinanten beschränken oder öffnen die sich bietenden Chancen je nach ihrer Ausprägung. Zu den systematisierten Einflussgrößen kommen eingedenk gesellschaftlicher Wandelungsprozesse weitere hinzu und verschieben oder erweitern den Kanon gesellschaftlich relevanter Ressourcen. Die Internetnutzung respektive die Partizipation an Digitalisierung kann in diesen Kanon mit aufgenommen werden und als bedeutsame Dimension, die als Resultat determinierender Einflussgrößen verstanden werden kann, aber gleichsam Auswirkungen auf die Lebenschancen hat, angesehen werden. Lebenschancen adressieren in ihrer Betrachtung, wie Individuen basierend auf diesen Merkmalskonstellationen die Lebensführung ausgestalten. Damit ist diesem Terminus immanent, dass derselbe auf die Verwertung der sich bietenden Chancen abzielt und betrachtet, wie Individuen ihre Potenziale bewerten. Damit sind Lebenschancen etwas höchstindividuelles: Wenngleich sich qua der objektiv eruierbaren Merkmalskonstellationen Potenziale abbilden ließen, ist die Einschätzung der Individuen hinsichtlich der Freiheit, die Potenziale auszuschöpfen und die Chancen zu verwirklichen, die ausschlaggebende Bewertung dafür, wie sich die Lebenschancen darstellen (Sen 2002, S. 94 ff.; Leßmann 2006, S. 35). Damit entzieht sich das Konzept der Lebenschancen einer trennscharfen Skalierung und Quantifizierung. Seinen Ursprung hat der Begriff der Lebenschancen bei Max Weber, der die vorab skizzierten divergierenden Potenziale (aufgrund der Merkmalskonstellationen und der damit verbundenen Zugangschancen zu gesellschaftlich relevanten Ressourcen) auf die Spitze treibt, indem er von „Überlebenschancen“ (Weber 1999 [1922], S. 38) spricht. Die Kontextualisierung ist damit eine andere: Nicht die individuelle Lebensführung, die nach einem glücklichen und gelingenden Leben strebt, ist hier gemeint, sondern es geht um eine Konkurrenzsituation, die zwischen Individuen herrscht und die nichts weniger als das Überleben zum Ziel hat. „Der ohne sinnhafte Kampfabsicht gegeneinander stattfindende (latente) Existenzkampf menschlicher Individuen oder Typen um Lebens- und Überlebenschancen soll »Auslese« [sic!] heißen: »soziale Auslese«, sofern es sich um Chancen Lebender, »biologische Auslese«, sofern es sich um Überlebenschancen von Erbgut handelt.“ (Weber 1999 [1922], S. 38)

Es geht Weber um das Ausfechten der Positionen im Sozialgefüge – dabei stellt er darauf ab, dass es nur begrenzte Ressourcen gibt, die nicht jedes Individuum erreichen kann. Während Lebenschancen in der Grundlegung bei Weber eher als Begriff fungiert, um Marktmacht und Ressourcenverteilungen in seiner Klassenkonzeption zu konturieren, erhebt Ralf Dahrendorf denselben zu einem theoretischen Konzept.

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Kritiker*innen werfen Dahrendorf den fragmenthaften Charakter dieses Ansatzes vor, welcher als nicht abgeschlossen, großrahmig und wenig differenziert und konkretisiert gilt (Reichwein und Brandt 1980, S. 376). Allerdings kann man diese vermeintlichen Schwächen auch zu Stärken umdeuten: Die Offenheit und bisweilen abstrakte Auslegung von Lebenschancen bietet Raum für die persönlichen Ausgestaltungen der Individuen, die für sich die Bewertung ihrer Lebenschancen vornehmen. Das Konzept der Lebenschancen nach Dahrendorf changiert gleichsam auf der Mikro- und der Makroebene. Relevant sind für den Betrachtungskontext die Explikationen auf der Mikroebene. Skizziert wurde bereits, dass unter Lebenschancen die individuelle Lebensführung verstanden werden kann. Dahrendorf vergegenwärtigt dies in der griffigen Formulierung: „Lebenschancen sind die Backformen menschlichen Lebens in Gesellschaft; sie bestimmen, wie weit sich Menschen entfalten können“ (Dahrendorf 1979, S. 24). Makroperspektivisch bedeutet dies auch, dass sich aufgrund veränderter Rahmengebungen, wie bspw. einer geänderten Gesetzeslage im Hinblick auf das Wahlrecht der Frauen, die Lebenschancen einer ganzen Gesellschaft verändern und im Zuge dessen neue Lebenschancen hinzukommen, weil sich gänzlich neue Wahlmöglichkeiten auftun. Für das Beispiel des Wahlrechts der Frauen lässt sich leicht nachvollziehen, dass daraus nachhaltig gesamtgesellschaftliche Entwicklungen erwachsen und sich für die Gruppe der Frauen direkt neue Möglichkeiten ergeben. Diese Möglichkeiten gehen konzeptionell in dem Lebenschancen-Ansatz nach Dahrendorf auf. Lebenschancen konstituieren sich in zwei Elementen: Optionen und Ligaturen. „Ligaturen sind Zugehörigkeiten; man könnte sie auch Bindungen nennen. […] Vom Standpunkt des einzelnen stellen sich Ligaturen als Bezüge dar. Sie geben dem Ort, den er innehat, Bedeutung. Überhaupt kennzeichnen Ligaturen das Element des Sinns und der Verankerung, während Optionen das Ziel und den Horizont des Handelns betonen. Ligaturen stiften Bezüge und damit die Fundamente des Handelns; Optionen verlangen Wahlentscheidungen und sind damit offen in die [sic!] Zukunft.“ (Dahrendorf 1979, S. 51).

Die im Vorwege mehrfach benannten Potenziale fallen mit dem Element der Optionen zusammen: Dies sind die Wahlmöglichkeiten, die ein Individuum qua seiner vorhandenen Ressourcen treffen kann. Dieselben sind ganz unterschiedlich und beziehen sich auf Aspekte wie den Bildungsweg, die Berufswahl, die Ausgestaltung der Freizeitaktivitäten usw. Unter Ligaturen werden sinnstiftende Momente verstanden, die dem Individuum eine Verankerung geben und eine Anbindung an soziale Netzwerke bedeuten. Ligaturen sind die sozialen Bindungen eines Individuums. Lebenschancen sind nur dann vorhanden, wenn

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sowohl Optionen als auch Ligaturen ausgeprägt sind: „Ligaturen ohne Optionen bedeuten Unterdrückung, während Optionen ohne Bindungen sinnlos sind“ (Dahrendorf 1979, S. 51 f.). Beide Elemente bedingen die individuellen Lebenschancen, wobei die Ausprägungen sich einer Quantifizierung entziehen und sich nicht gegeneinander aufrechnen – die Qualität der Ausgestaltung der beiden Elemente obliegt der Bewertung durch das Individuum. Dieser Komplex wird von Dahrendorf selbst in dieser Grundlegung nicht weitergehend entschieden ausdifferenziert, sodass die Abstraktion keine Auflösung erhält (Geißler 1987, S. 3). Jedoch lässt sich dieses Konzept in einem offenen, qualitativen Design für die Ergründung dessen nutzen, wie sich die Lebenschancen der Senior*innen ausgestalten, wenn sie die Internetnutzung für sich entdecken.

5 Mehr Lebenschancen durch die Internetnutzung Offenkundig wurde, dass die Internetnutzung für Senior*innen eine innovative Handlungspraxis darstellt, die über das bloße Nutzen von internetfähigen Endgeräten hinausgeht. Es geht um ein Eintauchen in eine neue Art zu kommunizieren, indem Messengerdienste genutzt, E-Mails verschickt und Videoanrufe getätigt werden. Im Rahmen des Promotionsprojektes wurden qualitative Tiefeninterviews geführt, die unter Zuhilfenahme des Lebenschancen-Konzeptes interpretativ-sinnverstehend ausgewertet wurden. Der Frage danach, welche Aspekte die Senior*innen als Optionen und Ligaturen im Dahrendorf’schen Sinne ansehen, wurde induktiv aus dem Material herausgearbeitet (Obermeier 2020, S. 280 ff.). Die Ergebnisse sind deutlich: Durch die Nutzung des Internets vervielfachen sich nicht nur die potenziellen Wahlmöglichkeiten, sondern vor allem die von den Senior*innen genutzten Möglichkeiten. Dies vergegenwärtigt sich vor allem im Hinblick auf die Informationsbeschaffung und die Wissensgenese. Durch die Möglichkeit, sich über das Internet Vorabinformationen beschaffen zu können, fühlen sich die Senior*innen selbstsicherer, mündiger, informierter und weniger abhängig von Anderen. Sie erweitern ihr Handlungsrepertoire, weil sie sich durch das Internet Lösungen für Problemstellungen gezielt erarbeiten können; sie fühlen sich selbstständiger und blicken auch den Zeiten, in denen sie durch nachlassende Mobilität eingeschränkt sind, gelassener entgegen. Das Internet eröffnet neue Gestaltungsmöglichkeiten, weiterführende Wahlmöglichkeiten und ein breites Portfolio an Partizipationsgelegenheiten. Noch weitreichender und bedeutsamer als der Zugewinn an Optionen ist die neuartige Gestaltung sozialer Bindungen. So kann für die Senior*innen ein Mehr an Ligaturen verzeichnet werden. Durch die Nutzung internetbasierter Kommunikationskanäle fühlen sich die Senior*innen

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deutlich stärker in das familiale Netzwerk eingebunden. Sie fühlen sich intensiver am Leben ihrer Kinder und deren Kinder beteiligt. Zudem empfinden sie den Kontakt mit den Enkelkindern als erleichtert. Insgesamt haben die Senior*innen das Gefühl, durch die Internetnutzung deutlich spürbarer ein Teil der Gesellschaft zu sein (Obermeier 2020, S. 412 ff.). Damit vergegenwärtigt sich, dass eine soziale Innovation, in diesem Falle die Nutzung des Internets – mitsamt den neuen Kommunikations- und Informationstechnologien – zu einem Mehr an Lebenschancen beitragen kann. Die Zugewinne lassen sich sowohl für die Optionen als auch für die Ligaturen herausarbeiten. Durch sozial innovatives Handeln ist es den Senior*innen gelungen, eine als unzureichend empfundene Situation zu verbessern und eine neue Handlungspraktik zu etablieren. Anhand des Lebenschancen-Konzeptes von Dahrendorf konnte eine Möglichkeit aufgezeigt werden, wie die Resultate sozialer Innovationen ermittelt werden können.

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Obermeier, Claudia, Dr. phil., Promotion im Fach Soziologie an der ­ ChristianAlbrechts-Universität zu Kiel, Zweifach-Master in International vergleichender Soziologie und Philosophie, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Institut für Sozialwissenschaften der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Mitglied des Vorstandes des BDS. Letzte Veröffentlichungen: Obermeier, Claudia. 2020. Seniorinnen und Senioren im Kontext der digitalen Revolution: eine qualitative Untersuchung der Internetnutzung. Weinheim: Beltz Juventa. Obermeier, Claudia. 2018. Wege aus der Einsamkeit, soziale Interaktion innovativ denken. (Pflege)Roboter als Interaktionspartner älterer Menschen. In Soziale Innovationen lokal gestalten, Hrsg. H.-W. Franz und C. Kaletka, 149–164 Wiesbaden: Springer VS.

Das „Atlas-Subjekt“ und neue Formen von Subjektivierung im Zeitalter der Nachhaltigkeit Diego Compagna

Zusammenfassung

Bekanntermaßen muss in den Erzählungen der griechischen Mythologie der Titan Atlas (übrigens: Prometheus’ Bruder) zur Strafe das Himmelsgewölbe (also die Erdkugel) auf seinen Schultern tragen, da er sich auf die Seite von Kronos und damit gegen die ‚neuen Götter‘ des Olymps gestellt hat. In meinem Beitrag möchte ich eine besondere (neue) Form der Individualisierung der Spätmoderne thematisieren und die damit verbundenen negativen Folgen für gesellschaftliche Erneuerung. Ich möchte also auch – vor dem Hintergrund einer Unterscheidung der Dynamiken von Innovation versus Revolution – die Orientierung an Nachhaltigkeit als ein regimestabilisierendes Phänomen thematisieren, das den Spielraum für genuine gesellschaftliche Transformationen erheblich einschränkt. Ausgehend von alternativen Modellen der Wissensproduktion und Weltdeutung (Rhizom, Cyborg, Cthulhu) werde ich eine gesellschaftliche Gegenwartsdiagnose der „totalen Immanenz“ formulieren, die hinsichtlich klaustrophobischer Ohnmachtseffekte kaum zu übertreffen ist. Nicht nur erscheint uns die Welt „ohne Ausgang“ (Adornos und Horkheimers geradezu prophetisches Einläuten der zweiten Moderne), sie muss nun auch von jedem Einzelnen – und zwar um jeden Preis – gerettet werden.

D. Compagna (*)  München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_3

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1 Die Konstruktion der Nachhaltigkeit Die Orientierung an Nachhaltigkeit verspricht grundsätzlich Gutes und ist unlängst zu einem (oder gar dem) Leitbegriff sozialen Wandels geworden (Neckel et al. 2018; vgl. aber bspw. auch bereits 2010 Daschkeit und Dombrowsky), der jetzt schon mindestens genauso ubiquitär Verwendung findet wie einst der fortschrittsgläubig-zukunftsgewandte Begriff der „Innovation“ (Braun-Thür­ mann 2005). Eine Orientierung an Nachhaltigkeit sowie nachhaltige Innovationen scheinen die Essenz und das Ergebnis einer reflexiven Moderne zu sein, die ganz und gar zu sich gekommen ist und – im Sinne einer doppelten Hermeneutik (Giddens 1997) – das Problembewusstsein spätmoderner Gesellschaften „vom Elfenbeinturm“ auf die Straßen gebracht hat. Dabei durchlaufen umstrittene und somit umkämpfte Deutungen komplexer Verweiszusammenhänge im Zuge der Übersetzung von einem akademischen zu einem lebensweltlichen Referenzrahmen einen nicht unerheblichen Trivialisierungs- und Entparadoxierungspfad, der im Rahmen doppelter Hermeneutik nicht unüblich ist. Die so genannte partizipativtransformative Forschung legitimiert zudem die Nivellierung von Unschärfen und kritikwürdigen (absehbaren und nicht absehbaren) Nebenfolgen, indem sie diese kaum thematisiert. Besonders problematisch scheint mir jedoch insbesondere die Invisibilisierung durch die Nicht-Thematisierung von (teilweise) altbekannten Problemen und einer zentralen Schieflage (der hochselektiven Partizipation) transdisziplinär-transformativer Forschung, die letztlich der Praktikabilität und einem Imperativ des „Umsetzenwollens“ zum Opfer fallen. Gerade die (zu Recht) geforderte Dringlichkeit, die aus dem drohenden „Klimakollaps“ herrührt, stellt die Legitimation für den Verzicht und die Kapitulation der Aktivist*innen hinsichtlich dieser zentralen Forderung ­transdisziplinär-transformativer Vorhaben dar: die Beteiligung möglichst aller „Bürger*innen“ bei der Identifizierung, Gestaltung und Lösung eines oder mehrerer (gemeinsamer) Probleme. Die Sozialwissenschaften wiederum haben seit einigen Jahren das soziale Phänomen „Nachhaltigkeit“ neu entdeckt und deuten dieses zunehmend hinsichtlich der unerwünschten Nebenfolgen, die es zeitigt – und zwar auch hinsichtlich der Macht-, Hierarchie- und Ungleichheitseffekte sowohl auf der nationalen als auch supranationalen und globalen Ebene. Mein Beitrag versteht sich als ein genuin soziologischer, der auf das von Sighard Neckel und sein Hamburger Forscher*innen Team vor gut einem Jahr formulierte Desiderat reagiert: „Nachhaltigkeit sollte – mit anderen Worten – soziologisch nicht aus der gesellschaftlichen Teilnehmerperspektive heraus untersucht werden, sondern als eine Beobachtungskategorie dienen, die Aufschluss darüber geben kann, welcher

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sozialökonomische Wandel sich vollzieht, welche neuartigen Konfliktlinien entstehen und welche Ungleichheiten und Hierarchien sich herausbilden, wenn Gesellschaften der Gegenwart zunehmend Kriterien von Nachhaltigkeit in ihre Institutionen, Funktionsbereiche und kulturellen Wertmuster integrieren. Aufmerksamkeit in der sozialwissenschaftlichen Forschung sollte vor allem finden, wie sich Nachhaltigkeit mit gesellschaftlichen Machtrelationen verbindet. Denn wie Nachhaltigkeit definiert wird und wer über Nachhaltigkeit bestimmt, ist ebenso eine Frage sozialer Rangordnungen wie die Konsequenzen von Nachhaltigkeit Probleme sozialer Ungleichheiten aufwerfen können.“ (Neckel 2018a, S. 13 f.)

In meinem Beitrag soll es also einerseits um die – nach wie vor – dringend notwendige sozialwissenschaftliche Aufklärungsarbeit bezüglich der nicht beabsichtigten und teilweise unerwünschten Nebenfolgen einer (ubiquitären) Orientierung an Nachhaltigkeit gehen als auch um die Hybris von Wohlstandsgesellschaften, deren Welt zu retten ist (global), und bildungsbürgerlicher wohlsituierter Bevölkerungsschichten, deren Natur zu retten ist (lokal). Beide Dynamiken haben eine Verstärkung sozialer Ungleichheit zur Folge, global ganz im Sinne einer postkolonialen Weltordnung, lokal durch das Diktat derer, die etwas zu verlieren haben gegenüber allen anderen. Es kann weder im Sinne einer freiheitlich demokratischen Grundordnung noch einer „Klimawende“ sein, dieses Schisma weiter zu vertiefen. Eine Orientierung an Nachhaltigkeit bspw. durch die Verwirklichung eines dezidiert „nachhaltigen Lebensstils“ wird in Deutschland von einem ganz bestimmten, recht überschaubaren Segment betrieben. Dieses macht ca. 7 Prozent der Bevölkerung aus, ist in sich sehr homogen und kann als „aufstrebende Mittelschicht“ charakterisiert werden (Neckel 2018b). Halten wir zunächst also nüchtern fest: Die Vorreiter einer gelebten Nachhaltigkeit lassen sich beschreiben als 1) Akademiker, die 2) aus einem bildungsbürgerlichen Milieu hervorgegangen sind und sich 3) erfolgreich „nach oben hin“ (aufstrebend) orientieren. Diese kleine, sehr spezifische Personengruppe, deren Lebenswelt sich von der großen Mehrheit der Gesellschaft deutlich unterscheidet, ist der Nukleus für die vielleicht bedeutsamste soziale Innovation der Gegenwart. Die Dringlichkeit einer umfassenden Orientierung an Nachhaltigkeit ist unbestritten. So eindeutig die Einsicht in die Notwendigkeit einer weitreichenden Veränderung auf allen Ebenen auch sein mag, umso wichtiger wird die Auseinandersetzung mit unerwünschten Nebenfolgen und Effekten, die sich entweder ankündigen oder deren Vollzug bereits voll im Gange ist. Es scheint mir deshalb gerade im Sinne einer gesamtgesellschaftlichen (bestenfalls globalen) Orientierung an Nachhaltigkeit, die zu konkreten Formen einer erfolgreichen Umsetzung klimafreundlichen Handelns und Wirtschaftens führt, unabdingbar zu sein, sich mit den unerwünschten Nebenfolgen zu beschäftigen, zu denen freilich

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auch Effekte gehören, die die Dimension des Sozialen (Kohäsion, Integration, etc.) in einem engeren Sinne betreffen. Wobei ich hier unter Nachhaltigkeit bzw. einer Orientierung an Nachhaltigkeit die Bewertung von Handlungsoptionen verstehe, die sodann zu entsprechenden Entscheidungen führen – und zwar unter diesen zwei Gesichtspunkten: 1. „[Z]um einen in der Sicherung der Regenerativität ökologischer, ökonomischer, sozialer und subjektiver Ressourcen, die gesellschaftliche Institutionen und Funktionsbereiche für ihren Bestand benötigen und für ihre Weiterentwicklung verwenden müssen. Immer dringlicher werden Formen des Einsatzes von Ressourcen, die sich bei ihrer Verwendung nicht restlos verbrauchen, sondern erneuerbar sind, weshalb Vernutzung der Gegenbegriff des regenerativen Prinzips der Nachhaltigkeit ist.“ (Neckel 2018a, S. 16) 2. „Hier schließt als zweites gesellschaftliches Reproduktionsproblem von Nachhaltigkeit die Sicherung der Potentialität künftiger Entwicklungschancen an, die durch die Ressourcenprobleme der Gegenwart nicht zunichte gemacht oder erheblich eingeschränkt werden sollen. Nachhaltigkeit dient hier der Sicherung eines Vorrats an Handlungsmöglichkeiten, der in der Gegenwart nicht länger verknappt werden soll. Ihr Gegenbegriff ist Determination, die offene Zukünfte in geschlossene überführt.“ (Neckel 2018a, S. 16) Eine Begriffsklärung ist nötig, da das Konzept der Nachhaltigkeit gerade aufgrund seiner dominanten allgemein-gesellschaftlichen, richtungsweisenden Wirkung stark „umkämpft“ ist (auf analoge Weise hat vor Jahren Jutta Weber (2003) das soziologisch ebenfalls höchst voraussetzungsvolle Konzept der „Natur“ als umkämpft dargestellt). Die Definitionsmacht zu erlangen – oder zu behalten – verspricht unwahrscheinlich große Vorteile, denn je nach Festlegung kann bestimmten Interessen eher entsprochen werden als anderen. In dem vorliegenden Beitrag soll es in erster Linie um die Effekte des gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskurses auf der Individualebene gehen, wobei einige gesellschaftliche Effekte sich teilweise direkt daraus ableiten lassen. Die globale, postkoloniale Ebene bedarf einer ihr eigens gewidmeten Auseinandersetzung, die an anderer Stelle weiter ausgeführt werden muss. Trotz der nicht gerade kleinen Gefahr, missverstanden zu werden, möchte ich auf einen wichtigen Aspekt hinweisen. Herbert Blumers (2013) Beschreibung der Herstellung von gesellschaftlich als Problem identifizierten Sachverhalten lässt sich hervorragend auf den Nachhaltigkeitsdiskurs und die Forderung einer Orientierung an Nachhaltigkeit übertragen. Ein Sachverhalt muss eine ganze Reihe von kommunikativen Hürden meistern, bis er als gesellschaftlich mehr

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oder minder allgemein anerkanntes Problem gilt. Ganz im Sinne einer „Karriere“ sozial hergestellter und somit einerseits kontingenter, andererseits materiell nicht minder sich aufdrängender Deutungen der Wirklichkeit muss die Forderung der Nachhaltigkeitsorientierung dekonstruiert werden. Mit der Feststellung, dass niemand das CO2 unmittelbar als Problem im Alltag wahrnimmt, soll keinesfalls behauptet werden, das Problem sei erfunden. Nichtsdestotrotz, so sehr wissenschaftliche (objektive) Beobachtungen, Auswertungen und Einschätzungen von Expert*innen unmissverständlich und eindeutig eine Orientierung an Nachhaltigkeit nach sich ziehen, so wenig sagen sie etwas darüber aus, dass das „Problem“ einer „Klimakrise“, die auf einen zu CO2-intensiven Lebenswandel zurückzuführen ist, konstruiert werden muss, weil niemand das unmittelbar so wahrnimmt und demzufolge nachvollziehen kann. Das führt einerseits zu einer relativen Deutungsoffenheit und andererseits zu der daraus erwachsenden eminenten Schwierigkeit einer sehr breiten, intrinsischen Beteiligungsbereitschaft. Denn, bei aller medialen Sichtbarmachung der Folgen des Klimawandels, aus der unmittelbar zugänglichen Naherfahrung der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung fehlt sowohl ein direkter Zugang als auch die Möglichkeit der Einsichtnahme in die komplexen Zusammenhänge (Luhmann 1996, S. 10 f.). Der Zusammenhang zwischen dem Verzehr einer Currywurst in der Imbissbude und Ernteausfällen oder gar der (u. a. auch deshalb klimabedingten) Zunahme der Flüchtlingsströme mag für die Leser*innen dieses Beitrages auf der Hand zu liegen – nüchtern betrachtet beinhaltet dieser Zusammenhang aber viele Vermittlungsschritte, die über mehrere Ecken verlaufen und der unmittelbaren Lebenserfahrung schlicht und ergreifend nicht zugänglich sind. Der Nachhaltigkeitsdiskurs, die Klimakrise (so sehr sie wissenschaftlich auf der Hand liegt) sind – wie fast alles andere auch, woran wir uns im Alltag orientieren – das Ergebnis einer Narration (Hall 2004). In einer von Mittelbarkeit geprägten Lebenswelt (typisch für funktional ausdifferenzierte, moderne Gesellschaften und erst recht für solche, die sich im Rahmen eines globalisierten Gefüges befinden) sind eben nicht nur die „Storys“ der Kapitalisten oder Verkehrsminister*innen fiktiv, auch die der Klimaaktivist*innen. Sich darin zu täuschen, ist Wasser auf die Mühlen derer, die befürchten, ein Stück oder Großteil ihrer Privilegien abgeben zu müssen, wenn den Forderungen der Aktivist*innen Taten folgen würden. Sich auf das „Storytelling“ zu fokussieren ist also ganz im Sinne der Nach­ haltigkeit. Wie kann ein neues gesamtgesellschaftliches Narrativ aussehen, das keinen Nährboden für Ressentiments entstehen lässt? Wie diejenigen in die Geschichte als Protagonisten in den Vordergrund stellen, die nicht zu den „üblichen Verdächtigen“ (Urban Gardening Anleger*innen, Ökohaus

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Besitzer*innen, Regionalwährung Befürworter*innen, GemeinwohlökonomieUnternehmer*innen, etc.) gehören? Genauso wichtig aber ist es, das Narrativ des gegenwärtigen Nachhaltigkeitsdiskurses kritisch zu begleiten und sich dabei zu vergegenwärtigen, dass die Stimmen derer, die diese „neue“ Geschichte gerade dabei sind zu erzählen, unterschiedlich laut sind. Einige Stimmen werden von dominanten Deutungsmustern derart ‚abseitig‘ gerahmt, dass sie womöglich gar nicht zu vernehmen sind (vgl. Spivak 2008).

2 Die Zeitdimension der Nachhaltigkeit Giddens (1997) unterscheidet in seiner Strukturierungstheorie (zu Recht und folgenreich) zwischen der irreversiblen Zeit des Individuums und der reversiblen des Sozialen bzw. der Gesellschaft. Irreversibel ist die Zeit der Akteure einer Gesellschaft, weil ihre Lebensspanne endlich ist. Reversibel hingegen ist die gesellschaftliche Zeit insofern, als sie sich (gemessen am menschlichen Erfahrungshorizont) ins Unendliche erstreckt; eine Gesellschaft, kann – im Prinzip – die eigene Uhr immer wieder auf Null stellen. In Giddens’ Strukturierungstheorie ist diese Unterscheidung insofern wichtig, als sie ein wichtiges Merkmal der Dualität von Handlung und Struktur markiert: Die (in der Regel) nicht intendierte Reproduktion sozialer Strukturen findet auf der Grundlage einer Orientierung an persönlichen Bedürfnissen und Motiven statt. Diese sind selbstredend nicht nur kulturell überformt, sondern lassen sich auf einen gesellschaftlich gegebenen Referenzrahmen direkt zurückführen, in den jeder Mensch hineingeboren wird. Giddens schafft es in dem Rekurs auf die Wirkungsweise nicht beabsichtigter Handlungsfolgen, die Strukturreproduktion nicht als direkt motiviert zu beschreiben und zu erklären und somit das „funktionalistische Dilemma“ einer „Marionettenhaftigkeit“ von Menschen, die durch funktionale Beiträge als Erfüllungsgehilfen sozialer Ordnung fungieren, zu umgehen. Demgegenüber stellt Giddens immer wieder heraus, dass nur Menschen Bedürfnisse haben können, wohingegen soziale Systeme weder Bedürfnisse noch Motive aufweisen und insofern immer auf die Bedürfnisbefriedigung der Menschen, die sich in soziale Kontexte begeben, zurückgeführt werden müssen. Als vergesellschaftete Menschen (soziale Akteure) sind sie allerdings immer schon in soziale Strukturen und Rahmenbedingungen eingebettet, die bestimmte Bedürfnisdispositionen begünstigen und andere unwahrscheinlich, zuweilen sogar unmöglich machen. Soziale Akteure reproduzieren die Strukturen (das sind Regeln und allokative sowie autoritative Ressourcen) insofern nicht intendiert, als sie in den allermeisten Fällen bestimmte soziale Kontexte nicht

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a­ufsuchen mit der Absicht, die Strukturen zu reproduzieren, sondern vielmehr motivational orientiert handeln, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, Bedürfnis zu befriedigen, etc. Wer studiert schon, um die Strukturen des Bildungssystems zu reproduzieren? Wer besucht ein Konzert, eine Party mit der Absicht, die Strukturen entsprechender institutionalisierter Praktiken zu reproduzieren? Nein, Studierende möchten einen Abschluss erlangen, sich weiterbilden, einen bestimmten Beruf ergreifen, etc. Und genauso ergeht es den Konzert- und Partybesuchern, den Konsument*innen, der Unternehmensbelegschaft etc. Die Zeitdimension ist für Giddens (1997) Theorie unter anderem deshalb so wichtig, weil die Motivation der Individuen, sich in einen bestimmten Kontext zu begeben, ohne die Strukturen kritisch zu reflektieren, auch daher rührt, dass deren Zeit eben endlich ist (irreversibel). Giddens gelingt es auf diese Weise zumindest zum Teil, die Trägheit sozialer Strukturen zu erklären. Salopp ausgedrückt lässt sich dieser Umstand mit den sogenannten Opportunitätskosten beschreiben: Eine Studentin, die im vierten Semester ihres Bachelorstudiums merkt, dass ein anderer Studiengang vermutlich doch eher dem entsprochen hätte, was sie eigentlich studieren wollte, wird sich gut überlegen, den Studiengang zu wechseln. Für eine Beschäftigung mit Nachhaltigkeit bedeutet dies vor allem zweierlei: Zunächst handelt es sich um eine weitere Facette, die für die Trägheit einer strukturellen Änderung verantwortlich gemacht werden kann; andererseits – und um diesen Aspekt geht es mir hier vorrangig – hat sich die gesellschaftliche Zeit verändert mit kaum absehbaren Folgen für den Aufbau bzw. die Bestätigung gesellschaftlicher Wirklichkeit auf der Grundlage einer nicht beabsichtigten Strukturreproduktion: Was bedeutet es, wenn auch die gesellschaftliche Zeit irreversibel wird (geworden ist)? Welche Leistung muss von den Einzelnen erbracht werden, um sich im Zeitstrahl einer „auf einmal“ endlich gewordenen Gesellschaft motivational zurecht zu finden? Wenn jede/r Einzelne den Klimanotstand in ihr/sein Leben integriert, können Strukturen überhaupt noch auf der Grundlage nicht beabsichtigter Folgen reproduziert werden? Kann eine hochgradig ausdifferenzierte und spezialisierte Gesellschaft sich eine derart umfassende Irritation leisten? Kann ich meinem Job nachgehen, wenn ich pendeln muss? Kann ich weiter studieren, wenn die Jobaussichten der Nachhaltigkeit nicht in die Hände spielen? Kann ich die eingelegten Gurken kaufen, wenn sie nicht aus der Region stammen? Besser im Glas, in der Dose oder nur wenn sie gar nicht verpackt sind? In Giddens’ (1997, S. 65) „Stratifikationsmodell des Handelns“ wird die reflexive Steuerung des Handelns von der Handlungsrationalisierung und -motivation unterschieden. (Hoch-) Individualisierte Akteure spätmoderner Gesellschaften sind schon darin geübt, sich immer wieder neu positionieren und

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ausrichten zu müssen, indem sie auf der Ebene von Handlungsrationalisierung und -motivation ihre Lebenswelt immer wieder neu hinterfragen und bewerten müssen. Die von jedem Einzelnen zu tragende Last des spätmodernen (zweiten) Individualisierungsschubs (vgl. Beck und Beck-Gernsheim 2008) verblasst aber angesichts der Aufgaben, denen sich das Atlas-Subjekt gegenübersieht. Die irreversibel gewordene Zeit der Gesellschaft synchronisiert persönliche mit gesellschaftlichen Bedürfnissen derart, dass eine Strukturreproduktion massiv gefährdet wäre. Eine hochspezialisierte, hochgradig ausdifferenzierte Gesellschaft ist auf generische (bspw. mithilfe generalisierter Interaktionsmedien) Handlungsmuster und Orientierungen angewiesen. Eine immer wieder aufs Neue zu verhandelnde Struktur bedeutet eine vom Kollaps bedrohte Struktur. Wenn die Nachhaltigkeit den Referenzrahmen für die Logik aller Situationen abgibt und der Einzelne die Logik der Handlungsselektion entsprechend wählen müsste, wären die Akteure überfordert und die Strukturen in Gefahr. Die Zeitdimension in Giddens’ Theorie gibt uns einen Hinweis darauf, wie wenig moderne Gesellschaften es sich leisten können, Nachhaltigkeit auf der Individualebene anzusiedeln und auszutragen. Die Strukturreproduktion wird zu einer absichtlichen Unternehmung eines jeden Einzelnen. Das mag in einer Stammesgesellschaft – die nicht ohne Grund Durkheim (Durkheim 1999a; vgl. Luhmann 1999, S. 24) von einem Kollektivbewusstsein getragen gesehen hat – möglich sein, aber wohl kaum in einer ausdifferenzierten, modernen Gesellschaft. Von Max Webers Lebensführung (Weber 1994, S. 20 f.) über die Domestizierung der inneren Natur der Frankfurter Schule (Horkheimer/Adorno 1997, S. 61 ff.) bis hin zu Foucaults (2004, S. 39 f.) Diagnose einer von Subjektivierung geprägten Gegenwart und weiter zum „unternehmerischen Selbst“ Ulrich Bröcklings (2007) zieht sich in einer geraden Linie das Schicksal moderner Akteure fort und mündet auf einer weiteren (höchsten?) Stufe der Selbstthematisierung und -disziplinierung, für die es keinen treffenderen Ausdruck geben kann als die mythologische Vorlage von Atlas, der dazu verdammt ist, die Erde auf seinen Schultern zu tragen und, so fixiert, jede Chance auf Freiheit, Entfaltung und Gestaltung verliert. Atlas musste die Erde bis in alle Ewigkeit tragen, wir müssen sie fortwährend reparieren.

3 Die Subjektivierung der Nachhaltigkeit In den Erzählungen der griechischen Mythologie muss der Titan Atlas (übrigens: Prometheus’ Bruder) zur Strafe das Himmelsgewölbe (also die Erdkugel) auf seinen Schultern tragen, da er sich auf die Seite von Kronos und damit gegen

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die ‚neuen Götter‘ des Olymps gestellt hat. Das Atlas-Subjekt meint in erster Linie eine vom Nachhaltigkeitsdiskurs hervorgerufene weitere Verschärfung der Selbstdisziplinierung, insofern ein nachhaltiges Handeln bzw. eine Orientierung an Nachhaltigkeit im Handeln auf der Individualebene verhandelt wird und vielfach (medial) einem jeden Einzelnen zugerechnet wird. Die Zuschreibung von Mitverantwortung und damit implizit auch Mitschuld an der drohenden klimabedingten Katastrophe erfolgt unmissverständlich als Appell, der bereits als Subjektivierung der Nachhaltigkeit von Pritz (2018) plausibel beschrieben worden ist. Dass Menschen als soziale Akteure moderner Gesellschaften Meister der „Unter-werfung“ (sub-iactare) geworden sind, ist gemeinhin bekannt und in den Sozialwissenschaften ein Gemeinplatz. Deshalb werde ich nur kursorisch die Thematik aufgreifen, um sodann den Faden wieder aufzunehmen, der uns zum Atlas-Subjekt und dem Tod der Utopien führen wird. Auf das interdependente Verhältnis zwischen Individualisierung und Moderne hat vor dem Hintergrund funktionaler Ausdifferenzierung bereits Durkheim (1999a) hingewiesen. Funktionalistische Ansätze haben in Durkheims Fußstapfen tretend den Sachverhalt mit weiterführender theoretischer Schärfe ausbuchstabiert (vgl. Parsons 1994, S. 185 ff.; Luhmann 2008b). Aufseiten der Individuen konstituiert sich Identität hier einerseits als notwendige Bedingung des Managements verschiedenster Rollenerwartungen und unterschiedlichster Teilsysteme, an denen sie im Modus der Teilinklusion teilnehmen (vgl. Schneider 2002, S. 158 ff.; Parsons 1975). Auf der anderen Seite nötigt die Differenz von Selbst- und Fremdreferenz den Individuen eine fortwährende Reflexion auf, die sich schlicht aus dem Umstand der Verlegenheit ob der vielfältigen Wahlmöglichkeiten ergibt: „Die Gesellschaft zeichnet nicht mehr die Lösungsrichtung vor, sondern nur noch das Problem; sie tritt dem Menschen nicht mehr als Anspruch an moralische Lebensführung gegenüber, sondern nur als Komplexität, zu der man sich auf je individuelle Weise kontingent und selektiv zu verhalten hat.“ (Luhmann 2008a, S. 194)

Ist die Beschreibung des Individualisierungsprozesses von Anbeginn als ambivalent dargestellt worden – Durkheims Begriff der Moral ist der fehlenden Entsprechung zwischen gesellschaftlich geforderter organischer Solidarität und individueller Einsicht geschuldet (Müller 1992) –, so steht das Konzept der Subjektivierung dem Programm der Moderne insgesamt skeptisch gegenüber. So kann Subjektivierung einerseits als Effekt von Individualisierung qua funktionaler Ausdifferenzierung mehr oder weniger negativ konnotiert (vgl. Hahn 1986) oder aber als dessen notwendige Bedingung und Kehrseite wahrgenommen werden: Die mit Subjektivierung und Subjektivation umschriebene Perspektive fasst folglich das

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Subjekt vielmehr als Substantivierung eines Merkmals bestimmter Praxen, die erst zur Ausbildung eines als Subjekt sich herstellenden Individuums führen (vgl. bspw. Butler 2010, S. 35 ff.; Habermas 2008). Hier wird unter Subjektivierung einerseits „Subjektwerdung, wodurch in bestimmten sozialen Rollen Subjektstatus beansprucht werden kann“, verstanden, andererseits der „Vorgang der Unterwerfung unter die normativen diskursiven Regeln, die diesen Status konstituieren“ (Villa 2010, S. 203; vgl. Butler 2010, S. 8; Wetzel 2004, S. 252). Aus dieser letztgenannten Perspektive sind Individuum und Subjekt nicht identisch: „In ihren Schriften unterscheidet Butler klar zwischen Subjekten und Individuen, wobei die ersteren eine Art adrette und ordnungsgemäß intelligible diskursive Positionen darstellen, letztere hingegen gewissermaßen unordentliche Komplexitäten. Subjektpositionen werden in sozial anerkannten und gültigen sozialen Titeln wie Frau, Manager*in, Vater, Schwuler/ Lesbe, Soziolog*in usw. zum Ausdruck gebracht, die in hohem Maße von Normen konstituiert werden. Folgen wir Butler […], so verkörpern Personen Normen nicht unmittelbar. Normen regulieren vielmehr die Bedingungen, unter denen konkrete Handlungen von konkreten Personen intelligibel, d.h. anerkennbar sind […].“ (Villa 2010, S. 204; vgl. Butler 2010, S. 15 f.)

Foucault trennt in diesem Zusammenhang zwei Dynamiken analytisch voneinander: Einerseits die Genese des Subjektes als ‚individualisierten Akteur‘, andererseits die gesellschaftlichen Disziplinartechniken, die daran anknüpfend diesen Prozess verstärken und/oder umgekehrt (Foucault 2002, S. 258 ff.; Foucault 1997, S. 34 f., 88 f.; vgl. Lemke 2001, S. 85 ff.). Die zwei Momente sind als Klammer zu verstehen, die aufeinander verweisen, ohne dass es möglich wäre, ein ‚einseitiges‘ Bedingungsverhältnis angeben zu können: „Nur das durch die Subjektwerdung des Individuums entstehende Wissen über das eigene Selbst erlaubt es dem einzelnen, zu erkennen, was der disziplinierende Blick erfasst, wenn er sich auf das Individuum richtet. Die Foucaultsche Genealogie der Sexualität zeigt zudem, daß selbst die intimsten Bereiche des menschlichen Lebens in den Dienst der Disziplinargesellschaft gestellt sind […]. Allein die konstruktiven Wirkungen der modernen Kristallisationspunkte der Machtverhältnisse, also der Disziplinartechniken, die das moderne Individuum als Unterwerfungsprodukt erst hervorbringen, ermöglichen die irreversible Konstitution der Disziplinargesellschaft.“ (Hillebrandt 1999, S. 207)

Von den in seinen frühen Schriften dargestellten Wirkungen panoptischer Verfahren bis hin zu den Beichtpraktiken der späten, teilweise erst posthum erschienenen, Reihe zur „Sexualität und Wahrheit“ zieht sich die Genese des Subjektes als ein Leitmotiv durch Foucaults Arbeiten. Diese wird nicht nur als

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„Doppelbewegung von Befreiung und Versklavung“ (Foucault 2003, S. 480), sondern zugleich als ‚Doppelbindung von Individualisierung und Totalisierung‘ (Hillebrandt 1999, S. 207) vorgestellt: „Am Beispiel der Reformbestrebungen, aus denen die psychiatrische Anstalt und die klinische Psychologie hervorgehen, entwickelt Foucault schließlich jene innere Verwandtschaft von Humanismus und Terror, die seiner Modernitätskritik ihre Schärfe und Unbarmherzigkeit verleiht. An der Geburt der psychiatrischen Anstalt aus den humanitären Ideen der Aufklärung demonstriert Foucault zum ersten Mal jene ‚Doppelbewegung von Befreiung und Versklavung‘, die er später in den Reformen von Strafvollzug, Erziehungssystem, Gesundheitswesen, Sozialfürsorge usw. auf breiter Front wiedererkennt. Die humanitär begründete Befreiung der Irren aus der Verwahrlosung der Internierungslager. Die Schaffung von hygienischen Kliniken mit ärztlichen Zielsetzungen. Die psychiatrische Behandlung der Geisteskranken, das Anrecht, das diese auf psychologisches Verständnis und therapeutische Fürsorge erwerben. Dies alles wird durch eine Anstaltsordnung ermöglicht, die den Patienten zum Gegenstand von kontinuierlicher Überwachung, Manipulation, Vereinzelung und Reglementierung, vor allem zum Gegenstand der medizinischen Forschung zurichtet. Die Praktiken, die sich in der inneren Organisation des Anstaltslebens institutionell verfestigen, sind die Basis für eine Erkenntnis des Wahnsinns, die diesem erst die Objektivität einer auf den Begriff gebrachten Pathologie verleiht und damit dem Universum der Vernunft einordnet.” (Habermas 1996, S. 289 f.)

Für die von mir vorgeschlagene Thematisierung von Nachhaltigkeit und Subjektivität ist insbesondere Foucaults Darstellung einer Doppelbindung des Verhältnisses zwischen Subjekt und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Max Weber hatte diesen Gedankengang recht ähnlich mit dem Begriff der „Lebensführung“ entwickelt. Die Lebensführung wird von ihm als ein ‚Scharnier‘ der Vermittlung von Akteur und Sozialem charakterisiert, die als Emergenz eben dieser Vermittlungsleistung entsteht und zugleich das charakteristische Merkmal des modernen Akteurs ausmacht. Das moderne Subjekt verdankt seine Individualität also einer spezifischen Relationierung zu dem, was es nicht ist; Webers Rückzug ins ‚Pianissimo engster Beziehungen‘ (Weber 1994, S. 22 f.) entspricht im Rahmen einer solchen Gegenüberstellung Foucaults Aufforderung nach dem proaktiven Ausleben subversiver ‚Selbstpraktiken‘, die im zweiten Band von „Sexualität und Wahrheit“ vorsichtig als Bewegungsraum des Akteurs gegenüber der vom ‚Code‘ dar- und hergestellten Ordnung beschrieben wird (vgl. Foucault 2004, S. 39 f.). In einem Interview bringt Foucault unmissverständlich zum Ausdruck, dass in diesem ebenfalls zunächst sehr privaten ‚Raum‘ die Techniken des Selbst quer zu dem ‚Code‘ stehen können und somit die Beziehung „zwischen der Ethik und den sozialen, ökonomischen oder politischen Strukturen […] veränderlich“ (Foucault 1984a, S. 80) sind. Die Selbstpraktiken oder Selbsttechnologien sind

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zugleich sowohl Mittel der Unterwerfung als auch der Befreiung, der Modus von Veränderung bleibt also denselben Bedingungen unterworfen, die das moderne Subjekt hervorgebracht haben und an die seine ‚Individualität‘ verhaftet bleibt (vgl. Butler 2010, S. 89). Im Unterschied zu Weber gelangt Foucault somit zu der Frage: „[W]omit kann man spielen und wie ein Spiel erfinden?“ (Foucault 1984b, S. 93) Der Akteur kann allerdings nur aufgrund ‚neuer‘ Subjektivierungsleistungen Distanz zu sich selbst aufbauen und erfährt sich so als ‚Subjekt‘, das eine Unterscheidung in ‚sein‘ Leben einschreiben kann, Akteur und Subjekt treten jedoch nicht auseinander: Das Subjekt fällt mit dem Akteur zusammen, da es nur im Modus von Subjektivation einen Unterschied in sein Leben einschreiben kann; bei Foucault gibt es kein ‚Pianissimo‘ intimer Beziehungen, die bei Weber die Schwelle zum Außen markiert, das Subjekt ist das Ergebnis einer ‚Selbsttechnisierung‘ und als solcher verbleibt er als Akteur den Wirkmechanismen des sozialen Raums verhaftet und unterliegt denselben wirklichkeits-konstituierenden Techniken. Vor diesem Hintergrund steht die Vorstellung, dass die Episteme ‚Mensch‘ zeitlich befristet ist (Foucault 1995, S. 462). Vor dem Hintergrund der notwendigen Orientierung an Nachhaltigkeit hat es allerdings den Anschein, dass die Episteme Mensch sich einer glorreichen Zukunft gegenübersieht, denn um so stärker muss zwischen Selbst- und Fremdreferenz vermittelt werden, umso dringlicher das Austarieren von individuellen Bedürfnissen mit gesellschaftlich gebilligten Mitteln der Zielerreichung. Das Atlas Subjekt stellt eine historisch einmalige Situation dar. Im Mythos von Odysseus zeigen Adorno und Horkheimer (1997), wie der moderne Akteur in der Wiege abendländischer Kultur angelegt war, als listiger, vorausschauend planendes Individuum, das sich über die äußere Natur (die Sirenen) zu stellen vermag, indem es seine innere Natur bändigt (sich an den Mast binden lässt). Das herrschaftsförmige Verhältnis zwischen Mensch und Natur wird im Mythos fast schon karikiert nachgezeichnet, wobei deutlich das interdependente Verhältnis von Domestizierung der äußeren und inneren Natur kaum prägnanter zum Vorschein kommen kann als in dieser Episode aus Homers Odyssee. Odysseus bezwingt die Natur und zahlt dafür den Preis des Verlustes seiner Freiheit. Bis vor einiger Zeit konnten wir uns der (noch so unwahrscheinlichen) Hoffnung hingeben, dass dieses herrschaftsförmige Verhältnis irgendwie noch zu kippen, aufzulösen sei. Die Dialektik der Aufklärung beginnt mit der Feststellung: „Seit je hat Aufklärung im umfassenden Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“ (Horkheimer/Adorno 1997, S. 19) Mit dem Unheil ist in erster Linie die zivilisatorische Katastrophe,

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das unfassbare Verbrechen des Nationalsozialismus gemeint. Ein wesentliches Merkmal eben dieser „Dialektik“ der Aufklärung liegt in der Übertragung der Hierarchie auf das Soziale, unter anderem aufgrund der im Sozialen ebenso wirkenden Selbstdisziplinierung, die die Grundlage für die (bereitwillige) Unterwerfung unter soziale Strukturen, die als Imperative wahrgenommen werden, darstellt. Das Bemerkenswerte an dem Nachhaltigkeitsdiskurs ist, dass er eine Seite dieser Gleichung um 180 Grad dreht und die andere Seite potenziert. Das herrschaftsförmige Verhältnis gegenüber der Natur muss aufgegeben werden, im Gegenteil, wir müssen uns in den Dienst der Natur stellen. Dies gelingt innerhalb des derzeitigen Formates gesellschaftlicher Wirklichkeit aber (anscheinend) nur, indem die Selbstbindung, Unterwerfung und Disziplinierung umso absoluter gestaltet wird. Diese zwei Seiten neuzeitlicher Aufklärungshybris lassen sich mit den Konzepten des Baconismus (Wissen ist Macht bzw. Domestizierung der äußeren Natur) und der Subjektivierung (die Unterwerfung unter gesellschaftliche Imperative führt zu einem handlungsfähigen Selbst bzw. Domestizierung der inneren Natur) auflösen und auf diese Weise getrennt voneinander betrachten (vgl. Jochum 2017). Baconismus verweist auf Francis Bacon (vgl. Horkheimer/Adorno 1997, S. 19) und die ihm zugeschriebene Grundlegung des modernen neuzeitlichen Weltbildes vor allem hinsichtlich des Verhältnisses von (modernen) naturwissenschaftlichen Methoden respektive generierten Wissens im Dienste einer Beherrschung der Natur und der Welt. Die Unterscheidung von ­(modern-naturwissenschaftlicher Naturbeherrschung und Subjektivierung), die bis vor kurzem eine rein analytische, wissenschaftshistorisch relevante gewesen ist, erfährt im Nachhaltigkeitsdiskurs eine bedenkliche empirische „Verwirklichung“. Bei der Rettung der selbstverschuldeten Naturzerstörung unterwerfen wir uns endgültig der selbstverschuldeten Unmündigkeit dergestalt, dass wir die Hoffnung auf eine freie Gesellschaft, die von freien Individuen gestaltet wird, aufgeben (müssen, um die Welt zu retten). Die unbedingte, überlebensnotwendige Forderung einer nachhaltigen Lebensführung verunmöglicht diese Aussicht, insofern sich die für Odysseus freiwillige Entscheidung, sich für die Überlistung der Sirenen (Natur) und gegen seine Lust, sich diesen hinzugeben, nunmehr in eine nicht mehr verhandelbare und insofern zwingend notwendige darstellt: Die im Odysseus-Mythos erzählte Subjektivierung ist (im Prinzip) umkehrbar, die des Atlas-Subjektes hingegen nicht. Oder lässt sich ein anderes Narrativ finden, wie mit der Umweltzerstörung umzugehen ist? Und, wer profitiert von dieser soeben skizzierten Version, wer hat das Nachsehen in einer gesellschaftlichen Wirklichkeit, die von Atlas-Subjektivierung geprägt ist? Haben wir vielleicht noch eine Wahl? Sollten wir also doch noch (bei allen zwingenden und insofern verpflichtenden Argumenten) unruhig bleiben (Haraway 2018)?

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4 Der Tod der Utopie der Nachhaltigkeit Jason W. Moore (2019) hat vor kurzem erneut darauf aufmerksam gemacht, dass die Rede vom Anthropozän einen wesentlichen Aspekt der Verantwortlichkeiten verschleiert, da die Charakterisierung des gegenwärtigen Zeitalters als Anthropozän den Schluss nahelegt, es wären alle Menschen gleichermaßen dafür verantwortlich, dass bspw. das Klima des Planeten Erde vom Menschen beeinflusst wird. Vielmehr solle demnach vom Kapitalozän die Rede sein, denn damit ist die der Wirtschaftsform inhärente ungleiche Verteilung von Ressourcen, Wohlstand und damit einhergehender Umweltzerstörung (sowohl lokal als auch global) sogleich mitgedacht. Auf diese Weise ist es zumindest schwerer und damit unwahrscheinlicher, der mit der Bezeichnung „Anthropozän“ einhergehenden Verantwortungsdiffusion anheimzufallen. Einigen mag diese Schilderung und der damit verbundene Vorschlag altbacken marxistisch vorkommen. Allerdings ist damit ein wichtiger Aspekt angesprochen, nämlich der auf der Hand liegende Einfluss der Konnotationen der Bezeichnung eines für sich genommen plausiblen Sachverhalts, andererseits die Logik einer Verantwortungsverteilung, die dem simplen Kausalnexus „Verursacher für die Umweltzerstörung“ nicht gerecht wird. Ich wundere mich, wie wenig Anstrengungen unternommen werden, dieses Verhältnis scharf zu stellen und dementsprechend Forderungen zu stellen, genauso wie auch klare Schuldzuweisungen auszusprechen. Nichts wäre verwunderlicher, wenn die bestehenden Machtverhältnisse (sowohl lokal, nationalstaatlich, kontinental als auch global) sich in der Verteilung der nunmehr offensichtlich zu tragenden Last einer „Reparatur“ des geschädigten Ökosystems Erde nicht niederschlagen würden. Ich wundere mich, dass so wenig darüber debattiert wird, wer welchen Preis (welchen Verzicht) auf sich nehmen muss, wenn es darum gehen sollte, die Last der Reparatur gerecht (entsprechend den Verursachern) zu verteilen. So betrachtet müsste der Nachhaltigkeitsdiskurs sich zentral mit Fragen der sozialen Ungleichheit und unfairen Verteilung von Ressourcen und Wertschöpfung beschäftigen. Der Nachhaltigkeitsdiskurs müsste schwerpunktmäßig Machtverhältnisse thematisieren und diese infrage stellen, die soziale Frage neu stellen. Stattdessen nimmt er die (ungleiche) soziale Ordnung hin und versucht erst gar nicht daran zu rütteln, indem immer wieder Handlungspraxen und Handlungsorientierungen eines jeden Einzelnen ins Zentrum gerückt werden. Das Autor*innen Kollektiv Tiqqun hat diese Bestandsaufnahme in einer zurecht vielfach kritisierten, weil vereinfachenden Überspitzung, bereits 2007 ähnlich mit den Worten beschrieben:

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„Man hat unsere Väter angestellt, um diese Welt zu zerstören, jetzt will man uns an ihrem Wiederaufbau arbeiten lassen, und dass dieser noch dazu rentabel sei. […] Freiwillige Askese steht auf ihrem Banner, und unentgeltlich arbeiten sie [die „Avantgarde des Desasters“] daran, uns dem ‘kommenden ökologische Ausnahmezustand‘ anzupassen. […] ‘Jeder Einzelne hat die Aufgabe, sein Verhalten zu ändern‘, sagen sie, wenn wir unser schönes zivilisatorisches Modell retten wollen. Man muss weniger konsumieren, um noch konsumieren zu können. Bio produzieren, um noch produzieren zu können. Man muss sich selbst zwingen, um noch Zwang anwenden zu können. So gedenkt die Logik einer Welt, weiterzuleben, indem sie sich den Anschein einer historischen Wende gibt. […] Die neue ­Bio-Askese ist die Selbstkontrolle, die von allen verlangt wird, um die Rettungsaktion auszuhandeln, in die sich das System selbst getrieben hat. Man wird nunmehr im Namen der Ökologie den Gürtel enger schnallen müssen – wie gestern im Namen der Ökonomie. […] Das gegenwärtige Paradox der Ökologie besteht darin, dass sie unter dem Vorwand, die Erde zu retten, nur das Fundament dessen rettet, was sie zu diesem trostlosen Gestirn gemacht hat.“ (Tiqqun 2007, S. 56 f.)

Wenngleich die Wortwahl und Beschreibung mitunter kraftvoll und übertrieben sind, beinhaltet dieser Appell dennoch einen wichtigen Hinweis, nämlich die für den Nachhaltigkeitsdiskurs maßgebliche Unterscheidung, die weiter oben im Zusammenhang mit dem Auseinanderklaffen von Naturbeherrschung und Subjektivierung angesprochen worden ist. Sie lässt sich auch umschreiben als die Unterscheidung von Wirtschaftssystem und Epistemologie oder von Kapitalismus und Baconismus oder von Gesellschaftlicher Wirklichkeit und einer Akteurkonstitution, die sich im Wesentlichen durch Subjektivierung auszeichnet. Gleichgültig wie die Unterscheidung gefasst wird, sie sind alle auf ganz ähnliche Weise für den Nachhaltigkeitsdiskurs relevant: Sie spannen den Horizont auf, in dem über Nachhaltigkeit auf eine Art und Weise diskutiert und womöglich entschieden wird, die in der Reproduktion von Ungleichheit münden wird. Sowohl Fragen nach der Stabilität moderner Gesellschaften (siehe weiter oben den Punkt zur „Zeit der Nachhaltigkeit“) als auch nach globaler Gerechtigkeit und dem Fortkommen menschlicher Kultur und Zivilisation (siehe hierzu vor allem „Die Subjektivierung der Nachhaltigkeit“) profitieren von einer Vergegenwärtigung der Effekte, die eine Lösung der „Klimafrage“ auf der Individualebene zeitigen würde. Gerade weil es eine gesellschaftliche Dynamik gibt, die dieser Tendenz in die Hände spielt, die gemeinhin als Kopplung einer neoliberalen Orientierung mit Subjektivierung dargestellt werden kann und salopp ausgedrückt Max Webers Begriff der Lebensführung (vgl. Hennis 1987; Schluchter 1994) potenziert (Scharff 2016). So beängstigt und panisch einigen zumute sein mag (und das vermutlich zu Recht), so gefährlich wäre es jetzt, alles in Kauf zu nehmen, was der Rettung

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der Welt zu Gute kommt. Der Nachhaltigkeitsdiskurs lädt zum Ausverkauf der Utopien ein. Wer kann es sich noch leisten, einer Utopie anzuhängen, der Utopie einer Weltgesellschaft von freien Individuen, solange die Welt selbst auf dem Spiel steht? Wenn sich die Zukunft perspektivisch zuzieht, der Horizont der möglichen (besseren) Zukünfte auf nur noch einen Punkt hin sich verdichtet, nämlich dem drohenden „Klimakollaps“ zu entgehen, bleiben für Alternativen keine Zeit, keine Ressourcen, keine Legitimation. Diese Aussicht ist insofern gefährlich, als sie einen idealen Nährboden für die Verstetigung von gesellschaftlichen und globalen Strukturen bietet, die sich nicht wesentlich von den derzeitigen unterscheiden, womöglich hinsichtlich ungleicher Verteilung von Privilegien sogar eher verschlechtern wird. Sofern die Bereitschaft zur Selbstdisziplinierung wachsen und die Subjektivierung unausweichlicher wird, können davon die ungleichheitsfördernden Strukturen nur profitieren. Zugleich birgt die Forderung nach Nachhaltigkeit angesichts der „Klimakrise“ aber auch eine historische Chance einer grundsätzlichen Klarstellung und Neuaushandlung. Sie könnte den Raum des radikal Neuen und Ortlosen (utopischen) öffnen, anstatt ihn zu schließen. Einen besonders erwähnenswerten Vorschlag hat Donna Haraway (2018) jüngst vorgelegt. Sie schlägt vor, das herrschaftsförmige Verhältnis zwischen Mensch und Natur auf eine Art aufzuheben, das die Fixierung des Menschen auf der anderen Seite der Gleichung (Baconismus bzw. Subjektivierung bzw. Domestizierung der inneren Natur zur Rettung der Äußeren Natur) gleichermaßen aufhebt. Anders als die hier vertretene Befürchtung, die zu einer Forcierung des Subjektes führen würde, die somit den Nährboden für ein hierarchisches Verhältnis zwischen den Menschen weiter anreichern würde, schlägt Haraway vor, dass die Menschen sich mit Natur mischen sollen. Auf diese Weise wird die Fixierung auf ein bestimmtes Format des „Menschseins“ jeglicher materiellen und ideellen Grundlage beraubt. Neben dem Anthropozän und dem Kapitalozän fügt sie eine dritte Alternative (prospektiv) hinzu, die des „Chtuluzän“ (vgl. Flatschart 2017). Keine Frage, wenn wir zu einem Wesen würden, das zugleich Pflanze und Tier (inkl. Homo Sapiens-Anteilen) ist, das sowohl mit einem Bewusstsein als auch einer biografischen Erinnerung ausgestattet ist, würden wir genauso klimafreundlich leben, wie wir es vermeiden, uns beim Essen mit dem Messer die Finger abzuschneiden. Mit der Implosion der Mensch-Natur-Differenz würde zugleich eine neue Form von Sozialität entstehen, die sich der selbstverliebte Homo Sapiens nicht vorstellen mag, ihn aber (endlich) von ihm selbst befreien würde.

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5 Nachtrag aus dem Off… Letztens habe ich in einer Lehrveranstaltung in einem sozialwissenschaftlichen Masterstudiengang (mal wieder) überrascht festgestellt, dass Max Webers (1988) Protestantismusthese kaum noch zum Kanon einer grundständigen sozialwissenschaftlichen Ausbildung gehört. In der Diskussion, die sich meiner kurzen Schilderung von Max Webers „Die Ethik des Protestantismus und der Geist des Kapitalismus“ (1988) angeschlossen hat – die teilweise gekennzeichnet war von dem Staunen der Studierenden über Webers Versuch einer soziologischen Erklärung, wie persönlich, intrinsisch nachvollziehbar motivierte Handlungen vieler Menschen eine soziale Ordnung entstehen lassen, die so nun wirklich keiner wollte – habe ich mich in Gedanken verloren… über eine Zukunft, in der sich unsere Nachfahren ähnlich wundern werden, wie es sein kann, dass die Vielen sich damals in Verzicht geübt haben, indem sie ihr Subjektivierungshandeln weiter optimiert haben und die historisch günstige Gelegenheit einer Neuaushandlung gesellschaftlicher Wirklichkeit, die macht- und herrschaftsförmigen Verhältnisse auf beiden Seiten der Gleichung (Baconismus – Mensch vs. Natur – und Subjektivismus – Mensch vs. soziale Ordnung) in den Blick nimmt, vertan haben.

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Compagna, Diego  (Dr. phil.) ist Professor für Theorien gesellschaftlicher Transformation an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit den anthropologischen Grundlagen soziologischer Theorien sowie der Formulierung alternativer Akteursmodelle und deren Handlungsräumen (bspw. Cyborgs, Roboter, Avatare, Simulacra, hyper- und virtuelle Realität).

Auf dem Weg zu nachhaltiger Arbeit? Zur Rolle von Arbeit in der Entwicklung nachhaltiger sozialer Innovationsprozesse Georg Jochum und Thomas Barth Zusammenfassung

Der Artikel diskutiert die Rolle der Arbeit für die Entwicklung nachhaltiger sozialer Innovationsprozesse. Transformationspolitiken in Richtung Nachhaltigkeit zielen bisher oftmals einerseits auf nachhaltigen Konsum, andererseits auf möglichst nachhaltige Produktion durch die Übernahme einer unternehmerischen Gesellschaftsverantwortung. Dabei geraten jedoch die Beschäftigten und ihre konkreten Formen der Naturaneignung häufig aus dem Blick. Deren Arbeitstätigkeiten sind jedoch sowohl in ihren produktiven wie auch destruktiven Aspekten in sozial-ökologischer Hinsicht bedeutsam und bilden daher einen entscheidenden Ort der Entwicklung sozialer Innovationen für nachhaltiges Leben und Arbeiten. In dem Beitrag werden unter Bezug auf das von dem UNDP (Bericht über die menschliche Entwicklung 2015: Arbeit und menschliche Entwicklung, Deutsche Gesellschaft für die Vereinten Nationen, Berlin, 2015) formulierte Leitbild der „Nachhaltigen Arbeit“ diese Innovationspotentiale für den Übergang hin zu Nachhaltigkeit dargestellt. Dabei werden zunächst Innovationen in der Erwerbsarbeitssphäre diskutiert. Die Beschäftigten werden hierbei sowohl als Protagonisten wie auch als Betroffene von Konversionsprozessen eine Berücksichtigung finden. Eine sozial

G. Jochum (*) · T. Barth  München, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Barth E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_4

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v­ erträgliche und partizipative Gestaltung der Transformationsprozesse wird als eine unabdingbare Voraussetzung für deren Gelingen angesehen. Ausgehend vom erweiterten Arbeitsbegriff, der neben Erwerbsarbeit auch nicht bezahlte Arbeiten (z.  B. Sorge-, Eigen-, und Gemeinwesensarbeit) berücksichtigt, werden sodann die Potentiale einer Neubestimmung des Verhältnisses dieser verschiedenen Sphären zueinander für die Nachhaltigkeitstransformation aufgezeigt. Abschließend wird für eine die arbeitsökologischen Innovationen unterstützende politische Gestaltung der strukturellen Rahmenbedingungen plädiert.

1 Einleitung Im Rahmen der globalen Nachhaltigkeitspolitik wird die Annahme geteilt, dass die gegenwärtig dominanten Strukturmuster von Produktion und Konsum nicht-nachhaltig arrangiert sind. Um sie grundlegend zu verändern, sind „soziale Innovationen“ von entscheidender Bedeutung. Diese sind nach Howaldt (2019, S. 17) zu verstehen „im Sinne kreativer und zielgerichteter Veränderungen sozialer Praktiken [und] beziehen sich auf die Art und Weise, wie wir (zusammen-)leben, arbeiten und konsumieren“. Im Großen und Ganzen zielen Nachhaltigkeitspolitiken bisher jedoch, wenn sie konkret Verantwortlichkeit adressieren, einerseits auf die möglichst nachhaltig Konsumierenden, deren v. a. konsumbezogene Alltagspraktiken etwa in den Bereichen Energienutzung oder Mobilität fokussiert werden. Andererseits stehen die möglichst nachhaltig produzierenden Unternehmen und hier oftmals eher technologische Innovationen im Fokus. Arbeit ist immer noch allenfalls am Rande Thema. Damit geraten interessanterweise gerade diejenige Sphäre und jene Akteure aus dem Blick, die gewissermaßen beide Seiten miteinander verbinden: die Tätigkeiten der Arbeitenden als konkrete Form der Naturaneignung. Für nachhaltigere Lebens- und Wirtschaftsweisen ist aber – so unsere These – gerade die Arbeit entscheidend, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Arbeit ist der basale „Prozess zwischen Mensch und Natur […] worin der Mensch seinen Stoffwechsel mit der Natur durch seine eigene Tat vermittelt“ (Marx 1962, S. 193) – sowohl in ihren produktiven wie auch destruktiven Aspekten. Die Akzeptanz von ökologiepolitischen Maßnahmen ist auch abhängig von der spezifischen Betroffenheit der Beschäftigten, wie die aktuellen Auseinandersetzungen um den Kohleausstieg in Deutschland verdeutlichen. Die Art und Weise der Eingebundenheit in das Erwerbsarbeitssystem bestimmt das erzielte Einkommen und damit in hohem Maße über den Stoff- und Energieverbrauch von Haushalten sowie die verfügbare Zeit, um ökologische Alltagspraktiken zu leben. Generell ist die

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h­ istorisch-spezifische Form, in der Arbeit gesellschaftlich organisiert wird, entscheidend für die soziale und ökologische (Nicht-)Nachhaltigkeit von Gesellschaften. Die Arbeitswelt ist damit als eine zentrale Sphäre von möglichen sozialen Innovationen für den Übergang hin zu Nachhaltigkeit anzusehen. Im Folgenden werden wir unter Bezug auf das vom United Nations Development Programme formulierte Leitbild der „Nachhaltigen Arbeit“ (UNDP 2015) diese Innovationspotentiale näher darstellen. Nach einer Skizzierung dieses Leitbildes (Abschn. 2) werden zunächst Innovationen in der Erwerbsarbeitssphäre diskutiert. Die Beschäftigten erscheinen hierbei sowohl als Protagonisten wie auch als Betroffene von Konversionsprozessen (Abschn. 3). Ausgehend von einem erweiterten Arbeitsbegriff, der neben Erwerbsarbeit auch nicht bezahlte Arbeiten (z. B. Sorge-, Eigen- und Gemeinwesensarbeit) berücksichtigt, werden sodann die Potentiale einer Neubestimmung des Verhältnisses dieser verschiedenen Sphären zueinander für die Nachhaltigkeitstransformation aufgezeigt (Abschn. 4). Im resümierenden Ausblick werden schließlich Wege einer sozialökologisch positiven Vermittlung der beiden Sphären Erwerbsarbeit und Nichterwerbsarbeit skizziert (Abschn. 5).

2 Das Leitbild der nachhaltigen Arbeit Wir schließen mit dem Bezug auf „nachhaltige Arbeit“ zum einen an eine bereits länger geführte, aber erst in den letzten Jahren sich wieder ausweitende Debatte um den Zusammenhang von Ökologie und Arbeit an (vgl. u. a. Brandl und Hildebrandt 2002; Diefenbacher 2016; Barth et al. 2016). Zum anderen rekurrieren wir auf den UNDP-Bericht „Arbeit und menschliche Entwicklung“ (UNDP 2015). In diesem Bericht wird mit Referenz auf die in der UN-Agenda „Transforming Our World“ (UNO 2015) beschlossenen „Sustainable Development Goals“ und deren vielfältige Bedeutung für die Arbeitswelt1 die Beschreitung des „Weg(s) zu nachhaltiger Arbeit“ (UNDP 2015: 153) eingefordert. Diese wird „definiert als Arbeit, die der menschlichen Entwicklung förderlich ist und gleichzeitig negative Außenwirkungen, die in verschiedenen geographischen und zeitlichen Zusammenhängen erlebt werden können, verringert oder ausschaltet. Sie ist nicht

1Verwiesen

wird insbesondere auf Ziel 8 „nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle“; aber auch die Ziele 2, 3, 5 und 9 haben eine Relevanz für Arbeit (vgl. UNO 2015; UNDP 2015: 20).

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nur für die Erhaltung unseres Planeten entscheidend, sondern auch, um sicherzustellen, dass künftige Generationen weiterhin Arbeit haben.“ (ebd., S. 45). Dieses in den letzten Jahren auch in Deutschland breiter rezipierte Leitbild (vgl. Barth et al. 2016; AG Nachhaltige Arbeit 2019; Becke 2019) rückt im Gegensatz zu der bisherigen Fokussierung der Nachhaltigkeitsdebatte auf individuelle Konsummuster auf der einen und die Unternehmen auf der anderen Seite, die Arbeitenden ins Zentrum der Betrachtung. Dabei wird über eine auf Erwerbsarbeit beschränkte Perspektive hinausgegangen und auch Arbeit im Nichterwerbsbereich einbezogen (UNDP 2015, S. 3). Bezugspunkt ist ein durch den „Capability Approach“ (Sen 1979) inspirierter umfassender Entwicklungsbegriff. Übergeordnetes Ziel ist die Erweiterung der Wahlmöglichkeiten von Menschen. In diesem Zusammenhang wird der Arbeit eine besondere Bedeutung zugeschrieben, da durch Arbeit menschliche Potentiale entwickelt würden. Nicht-nachhaltige Arbeit ist dadurch gekennzeichnet, dass sie sowohl in der Gegenwart dem Ziel der guten, entwicklungsfördernden Arbeit widerspricht, wie auch zukünftige Arbeitsmöglichkeiten untergräbt. Nachhaltige Arbeit ermöglicht dahingegen die gegenwärtige Entfaltung von Arbeitspotenzialen und minimiert zugleich die ökologischen Nebenfolgen dieser Aktivitäten, um die zukünftige Verwirklichung der menschlichen Potenziale zu gewährleisten. In einer entlang den Achsen Nachhaltigkeit und Entwicklung aufgebauten Matrix (vgl. Abb. 1) wird die doppelte Zielsetzung dargestellt. Das Leitbild Nachhaltige Arbeit vereint so Entwicklungs- mit Umweltzielen. Es zielt auf Innovationen für eine sozial-ökologische Transformation der globalen Arbeitsgesellschaft, welche die natürlichen Grundlagen jetziger wie zukünftiger Arbeit bewahren und die Entwicklung des Menschen durch Arbeit befördern sollen. Im Folgenden wollen wir zentrale Felder der sozialen Innovation für nachhaltige Arbeit aufzeigen. Wir knüpfen dabei an Vorarbeiten der AG „Nachhaltige Arbeit – Die sozial-ökologische Transformation der Arbeitsgesellschaft“ im DKNFuture Earth an.2 Diese AG, der auch die AutorInnen dieses Beitrages angehörten, hatte sich zur Aufgabe gestellt, eine Exploration zentraler Forschungsfragen zu nachhaltiger Arbeit vorzunehmen. In ihrem 2019 fertiggestellten Abschlussbericht

2Zur

Arbeitsgruppe Nachhaltige Arbeit siehe http://www.dkn-future-earth.org/community/ arbeitsgruppen/ehemalige-arbeitsgruppen/nachhaltige-arbeit.html. Zugegriffen: 2. November 2019.

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Abb. 1   Die Matrix nachhaltiger Arbeit. (Quelle: Eigene Darstellung nach UNDP 2015, S. 17)

wurden folgende zentrale Leitthemen einer Forschungsagenda zu nachhaltiger Arbeit identifiziert: „1. Veränderungen im Verhältnis von bezahlten und unbezahlten Arbeiten 2. Innovationen und Transformationen in der Erwerbsarbeitssphäre 3. Globale Zusammenhänge der Arbeitsgesellschaft(en) 4. Digitalisierung von Arbeit und nachhaltige Arbeit 5. Governance der sozial-ökologischen Transformation.“ (AG Nachhaltige Arbeit 2019, S. 4)

Aufgrund der Fokussierung auf eine Forschungsagenda wird die Frage nach sozialen Innovationen in dem Bericht nicht explizit thematisiert. Implizite Grundannahme ist allerdings, dass die identifizierten Felder eine besondere Relevanz für soziale Innovationen für nachhaltige Arbeit haben und deshalb eine besondere Aufmerksamkeit in der begleitenden und unterstützenden wissenschaftlichen Forschung erfahren sollten. Die AG geht davon aus, dass

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G. Jochum und T. Barth „der Übergang zu nachhaltiger Arbeit als eine über technologische und ökonomische Innovationen weit hinausgehende, umfassende sozial-ökologische Transformation der Arbeitsgesellschaft zu konzipieren [ist]. Ziel der Forschung muss es zum einen sein, Analysen aktueller sozial-ökologischer Transformation vorzunehmen, zum anderen Bedingungen und Möglichkeiten von potenziellen Entwicklungspfaden hin zu nachhaltiger Arbeit zu untersuchen.“ (ebd., S. 8).

In den folgenden Ausführungen werden diese in dem Working Paper implizit unterstellten Potentiale für – um eine gelungene Wortschöpfung von Becke zu übernehmen – „arbeitsökologische Innovationen“ (Becke 2019, S. 37)3 hin zu nachhaltiger Arbeit explizit gemacht. Da in diesem Beitrag nicht alle Bereiche ausgeführt werden können, werden wir exemplarisch auf Innovationen in der Erwerbsarbeitssphäre sowie Veränderungen im Verhältnis von bezahlten und unbezahlten Arbeiten fokussieren.

3 Innovationen und Transformationen in der Erwerbsarbeitssphäre Die Erwerbsarbeitssphäre prägt die moderne Arbeitsgesellschaft und ist damit ein wesentliches Transformationsfeld des Übergangs zu nachhaltiger Arbeit. In diesem Bereich wurden auch bereits Innovationen angestoßen, die allerdings weitgehend technischer Art sind. Als die Trägergruppe von Nachhaltigkeitsinnovationen werden vor allem die Unternehmer und das Management adressiert. Wir erachten diese Ebene und die Einforderung einer unternehmerischen Gesellschaftsverantwortung vor dem Hintergrund der Machtverhältnisse in den Unternehmen durchaus für wichtig. Damit gerät aber, wie im Folgenden dargelegt wird, aus dem Blickfeld, welchen Beitrag die Lohnabhängigen und ihre Organisationen für eine soziale und ökologische Umgestaltung der Erwerbsarbeit leisten können. Deren Einbindung ist darüber hinaus notwendig, um die Interessen der unmittelbar von ökologischen Konversionsprozessen Betroffenen frühzeitig zu berücksichtigen.

3Im

Diskurs um soziale Innovationen wurden bisher ökologische Innovationen und Innovationen in der Arbeitswelt kaum aufeinander bezogen. Eine Ausnahme stellt die jüngste Publikation von Becke dar, in welcher das „Konzept der arbeitsökologischen Innovationen […] als ein Brückenkonzept“, welches auf „das Verhältnis zwischen der arbeitsbezogenen und der ökologischen Dimension nachhaltiger Arbeit fokussiert“, entwickelt wird (Becke 2019, S. 37).

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3.1 Erweiterte Subjektansprüche und nachhaltige Arbeit Becke und Warsewa (2017) vertreten die These, dass im Zuge eines allgemeinen Normbildungsprozesses, d. h. der Diffusion von ökologischen Nachhaltigkeitsanliegen in nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche und Milieus, die Beschäftigten im Sinne einer „erweiterten Subjektivperspektive“ ihre auch ökologischen Einstellungen und Bewertungskriterien in betriebliche Prozesse einbringen und sich so „Chancen für eine nachhaltigere und sozialverträglichere Gestaltung von Arbeit eröffnen“ (ebd. 20). Damit ist keineswegs vorausgesetzt, dass die Beschäftigten mehrheitlich ökologische Positionen vertreten, aber die Möglichkeiten, dies zu tun, seien tendenziell auch insofern stärker gegeben, als Unternehmen zunehmend gefordert sind, auf gesellschaftliche Anforderungen und diejenigen der Beschäftigten einzugehen. Während Becke und Warsewa davon ausgehen, nachhaltigkeitsorientierte Einstellungen der Beschäftigten könnten in den Betrieb getragen und also von der lebensweltlichen in die „erwerbsarbeitliche“ Sphäre überführt werden, lässt sich auch direkt an der konkreten Arbeitstätigkeit selbst ansetzen. Dann lautete die Frage, ob die empirisch nachweisbaren „arbeitsinhaltlichen Ansprüche“ der Beschäftigten, d. h., eine als sinnhaft erlebte Tätigkeit auszuüben und etwa gesellschaftlich sinnvolle Produkte herzustellen, auch eine ökologische nachhaltige Dimension aufweist (Nies 2019). Zu berücksichtigen ist allerdings, dass die Machtpotenziale sowohl innerhalb als auch außerhalb der Unternehmen noch immer sehr asymmetrisch verteilt sind (vgl. Barth et al. 2019): Nachhaltigkeitsinnovationen im Bereich der Arbeit sehen sich im Rahmen von Unternehmen in einem komplexen Machtgeflecht gefangen, und außerhalb der Unternehmen sorgt die bloß diskursive Infragestellung der unternehmerischen Hoheit über die Frage, was wie produziert wird, auf starke Widerstände. Subjektivierung von Arbeit kann nur dann einen Beitrag zu nachhaltiger Arbeit im Sinne einer sozial ökologischen Transformation leisten, wenn die Entscheidungsspielräume der Beschäftigten ungleich größer werden. Damit wird die Frage nach einer weitergehenden Beteiligung der Werktätigen und ihrer Organisationen auch für die Durchsetzung arbeitsökologischer Innovationen relevant.

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3.2 Das Leitbild nachhaltiger Arbeit in konfliktären Konversionsprozessen Diese Beteiligung ist insbesondere auch dann notwendig, wenn Arbeitnehmer Betroffene von ökologisch begründeten Transformationsprozessen sind. Dies verdeutlichen die aktuellen Auseinandersetzungen um die Konversion von fossilen Energien zu erneuerbaren Energien durch einen Ausstieg aus der Kohle bzw. in der Autoindustrie infolge des Übergangs vom Verbrennungsmotor zu anderen Antriebsformen (insbesondere Elektromobilität) und zu nachhaltigeren Mobilitätsystemen. Gerade in diesen Bereichen könnte die integrative Leitbildfunktion von „nachhaltiger Arbeit“ bedeutsam werden. Denn die Transformationsprozesse dürften mit einem Verlust von Arbeitsplätzen bzw. zumindest mit einer Entwertung bisheriger Qualifikationen einhergehen – so werden in der Automobilindustrie zwischen 125.00 bis zu 360.000 der 800.000 Stellen als gefährdet angesehen (vgl. Die Welt 2019). In diesem Konfliktfeld gibt nun das Leitbild der nachhaltigen Arbeit aufgrund seiner doppelten Zielsetzung, sowohl ökologische Transformation voranzutreiben wie auch menschenwürdige, gute, entwicklungsförderliche Arbeit zu erhalten bzw. zu schaffen, keine eindeutige Richtung vor. Wie in dem UNDPBericht explizit deutlich gemacht wird, kann es zu Interessengegensätzen kommen und es werden daher „Maßnahmen zur Bewältigung von Zielkonflikten“ (UNDP 2015, S. 209) erforderlich. Dies impliziert, dass die Interessen der bisher in diesen Bereichen Beschäftigten als durchaus legitim anzusehen sind. Arbeitsökologische Innovationen dürfen also nicht über die Köpfe der Beschäftigten hinweg stattfinden. Vielmehr muss der Übergang hin zu ökologisch nachhaltiger Arbeit unter Berücksichtigung des Ziels der Sozialverträglichkeit und der Wahrung der menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten erfolgen. Die verschiedenen Formen der gewerkschaftlichen Interessenorganisation und der Partizipation der Beschäftigten in der Arbeitswelt müssten daher eher eine Stärkung erfahren, und es ist – so Becker et al. (2019) bezogen auf den Wandel Zulieferindustrie in der Autoindustrie angesichts des Übergangs zu Elektromobilität – eine „beteiligungsorientierte Industriepolitik zur Bearbeitung sozialökologischer Transformationskonflikte“ (ebd. 254) notwendig. Nur so können soziale Verwerfungen vermieden werden. Anstelle eine für soziale Auswirkungen blinde ökologischere technische Innovation voranzutreiben, könnte das Leitbild der nachhaltigen Arbeit zu einem konfliktvermittelnden, integrativen sozial-ökologischen Innovationsprozess beitragen.

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3.3 Bildung für einen neuen nachhaltigkeitsorientierten Berufsethos Allerdings sollten Debatten um arbeitsökologische Innovationen hin zu nachhaltiger Arbeit nicht allein hinsichtlich der aktuell im Zentrum öffentlicher Auseinandersetzungen stehenden Sektoren geführt werden. Und ebenso wenig geht es um eine Förderung spezieller Green Jobs mit besonderen positiven Auswirkungen auf die Umwelt. Aus unserer Perspektive ist vielmehr festzuhalten, dass jede Tätigkeit mit spezifischen materiell-energetischen Voraussetzungen und Auswirkungen verbunden ist. Technologische wie auch soziale Innovationen in allen Tätigkeitsbereichen und Berufsfeldern können damit zu einem Übergang zu nachhaltigem Arbeiten beitragen. In diesem Sinne wird auch in dem UNDP-Bericht betont, dass es nicht nur um die Beendigung bestimmter Arbeiten und die Schaffung neuer Arbeitsformen geht, sondern vor allem um die Transformation von Arbeitsplätzen (UNDP 2015, S. 18). Neue Kompetenzen und eine ökologische Modernisierung der Berufe und ein neuer nachhaltigkeitsorientierter Arbeits- und Berufsethos sind daher für den Übergang hin zu Nachhaltigkeit vonnöten. Einen wesentlichen Beitrag hierzu kann eine stärkere Berücksichtigung von Nachhaltigkeitsthemen in der beruflichen Bildung leisten. Zwar finden bereits seit einigen Jahren Innovationsprozesse in diese Richtung statt (vgl. BMBF 2018), betrachtet man allerdings die konkrete Ausgestaltung der Lehrpläne und des Unterrichts in der beruflichen Bildung, so ist das Resümee eher ernüchternd. Entsprechende Lehrinhalte werden, wenn überhaupt, additiv vermittelt; eine systematische Integration von Nachhaltigkeitsanliegen in alle Tätigkeitsbereiche ist hingegen noch ein Desiderat. Dabei wäre gerade das für Deutschland charakteristische duale System der beruflichen Bildung in besonderem Maße geeignet, zu einer derartigen Veränderung der Ausbildung und damit auch des vermittelten Berufsethos beizutragen. Zum einen kann die Fachausbildung sowohl in den Betrieben wie auch in der Berufsschule ein Bewusstsein für die spezifische ökologische Relevanz der eigenen Tätigkeit schaffen. Zum anderen könnte die gerade für den ‚Vater der Berufsschule‘ Georg Kerschensteiner relevante, über die reine Fachlichkeit hinausweisende Bedeutung der beruflichen Bildung für eine „staatsbürgerliche Erziehung“ (1901) eine grundlegende Neuorientierung erfahren. Dieses Anliegen, das sich heute noch in der Aufnahme des Faches „Sozialkunde“ in den Lehrplan widerspiegelt, resultierte um 1900 aus dem Ziel einer Integration der männlichen Jugend in den Nationalstaat. Heute würde es unserer Ansicht nach primär

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um eine kosmopolitische Erziehung gehen, welche die Integration der modernen Arbeitsgesellschaft (und damit auch die Arbeit des Einzelnen) in das Ökosystem und eine Berücksichtigung der Folgen der eigenen Arbeit für die Arbeit und das Leben von Menschen in anderen Weltregionen zum Inhalt hat. Hierdurch könnte ein neues integratives Nachhaltigkeitsethos vermittelt werden, das zusammen mit fachspezifischen nachhaltigkeitsrelevanten Kenntnissen zu einer grundlegenden Innovierung der Beruflichkeit beitrüge. Zu ergänzen ist, dass auch für den Bereich der akademischen Bildung ähnliche Innovationen einzuleiten wären, da die Forderung nach einer systematischen Integration von Bildung für Nachhaltigkeit auch dort bisher noch weitgehend unerfüllt ist.

4 Die Neubestimmung des Verhältnisses von bezahlten und unbezahlten Arbeiten Im Gegensatz zu einer Engführung von Arbeit auf Erwerbsarbeit, wie sie in der Debatte um ökologische Arbeitsplätze und Green Jobs teilweise zu konstatieren ist, zielt das Leitbild der nachhaltigen Arbeit auf die Nachhaltigkeit aller (re-) produktiven Tätigkeiten ab. In diesem Sinne wird in dem erwähnten UNDP-Bericht darauf verwiesen, dass „aus der Perspektive der menschlichen Entwicklung […] der Begriff der Arbeit mehr als Arbeitsplätze oder Beschäftigungsverhältnisse“ umfasst und auch „Arbeit im Haushalt und im Bereich Betreuung und Pflege, Freiwilligenarbeit und ehrenamtliches Engagement sowie kreative Tätigkeiten“ (UNDP 2015, S. 3) einbezieht. Hieran anknüpfend wird von der AG Nachhaltige Arbeit explizit ein ausgeweiteter Arbeitsbegriff zugrunde gelegt, der nicht nur die marktorientierte Erwerbsarbeit, sondern neben den genannten Tätigkeiten auch ebenso Versorgungs-, Für- und Vorsorgearbeit sowie ‚Eigenarbeit‘ einbezieht. Ein solchermaßen erweiterter Arbeitsbegriff impliziert, dass diese Tätigkeiten nicht additiv betrachtet werden können, sondern deren Wechselwirkungen in ihren Veränderungsdynamiken zu berücksichtigten sind. Dabei müssen auch mit der Trennung zwischen formeller und informeller bzw. vermarktlichter und nicht marktförmiger Arbeit häufig verbundene Hierarchisierungen problematisiert werden. Die Neubestimmung des Verhältnisses von bezahlten und unbezahlten Arbeiten stellt, so wird im Folgenden dargelegt, ein zentrales Feld sozialer Innovationen für eine Transformation hin zu Nachhaltigkeit dar. Die industriegesellschaftliche Fokussierung auf Erwerbsarbeit wurde, aufbauend auf Debatten in der Frauen- und Geschlechterforschung, im Zusammenhang mit Nachhaltigkeit bereits früh problematisiert: Um die Jahrtausendwende

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befasste sich das Projekt „Arbeit und Ökologie“ (HBS 2000) systematisch mit dieser Thematik, indem die Kombination verschiedener Tätigkeiten mit unterschiedlichen Gestaltungsprinzipien und Anforderungen untersucht wurde und mit dem Konzept der ‚Mischarbeit‘ auch Arbeiten jenseits der Erwerbsarbeit in die Analyse von Arbeit einbezogen wurden (Brandl und Hildebrandt 2002) (s. Abb. 2). Das Konzept, das als Referenz angesehen wird, wenn es um die Ausbuchstabierung eines alternativen, erweiterten Arbeitsbegriffs geht, kombiniert verschiedene Tätigkeiten, aus denen sich Mischqualifikationen, -belastungen und -einkommen ergeben. Neben Erwerbsarbeit werden Gemeinwesenarbeit, in der für die Gesellschaft nützliche Dinge hergestellt und Leistungen unentgeltlich erbracht werden, der Selbstversorgung dienende Eigenarbeit sowie Versorgungsarbeit, d. h. Sorgearbeit insbesondere in der Familie, mitberücksichtigt. Mischarbeit ist als analytisches und zugleich als nachhaltigkeitsorientiertes normatives Konzept anzusehen. In dem Projekt „Arbeit und Ökologie“ wurden Leitlinien von ökologischer, ökonomischer und sozialer Nachhaltigkeit bestimmt und der

Abb. 2   Mischarbeit als Idealtypus eines erweiterten Arbeitsbegriffs (Brandl und Hildebrandt 2002, S. 105)

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­ bergang zu einer „nachhaltige(n) Arbeit […], die eine nachhaltige LebensÜ führung ermöglicht“, eingefordert (HBS 2000, S. 33). Zur Umsetzung von nachhaltiger Arbeit und Mischarbeit als ihrem Leitkonzept wurden spezifische politische Maßnahmen wie eine sozial-ökologische Steuerreform und insbesondere eine generelle (Erwerbs-)Arbeitszeitverkürzung (auf 25–30 s pro Woche) für nötig erachtet, durch die eine Umverteilung von Arbeit erreicht werden soll. Die Rezeption des Konzepts der Mischarbeit blieb allerdings vorwiegend auf akademische Kreise beschränkt und insgesamt wurden die Zusammenhänge zwischen Nachhaltigkeit und Arbeit um die Jahrtausendwende nur vereinzelt thematisiert. In den letzten Jahren hat jedoch insbesondere im sog. Postwachstumsdiskurs das Interesse an Konzepten einer Neuverteilung der Arbeit zugenommen. Begründet wird dies vor allem damit, dass eine Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcen- und Energieverbrauch bislang nicht gelungen ist und technische Lösungen zur Behebung der ökologischen Krisenphänomene unzureichend sind. Ziel ist der Übergang von der derzeit auf Wirtschaftswachstum und Erwerbsarbeit basierenden Arbeitsgesellschaft zu einer sozial-ökologischen Tätigkeitsgesellschaft. Diskutiert werden Modelle weit­ reichender sozialer Innovationen, die in der Regel auf einer Erwerbsarbeitszeitverkürzung, häufig der Flankierung durch ein garantiertes Grundeinkommen und einer Aufwertung des informellen, unbezahlten Tätigkeitssektors beruhen (vgl. im Überblick Littig 2016, Schmelzer und Vetter 2019). Diese Forderungen basieren auf Befunden, wonach lange Arbeitszeiten in der Regel mit einem hohen ökologischen Fußabdruck aufgrund des mit der Produktion verbundenen Umweltverbrauchs einhergehen. Bezogen auf die OECD-Staaten wurde errechnet, dass das Limit für eine nachhaltige Erwerbsarbeitszeit bereits bei sechs Stunden erreicht sei (Frey 2019). Neben diesem sog. Skalen-Effekt werden auch sog. Kompositionseffekte angeführt. So tendieren Menschen mit langen Arbeitszeiten dazu, im eigenen Haushalt zeitsparendere Geräte und Technologien einzusetzen, die im Allgemeinen umweltintensiver sind (vgl. Liebig 2019, S. 214 f.). Diskutiert werden verschiedene Alternativkonzepte zur Vollzeit(erwerbs)arbeit. Niko Paech schlägt eine Aufteilung der Arbeitszeit vor, infolge der nur noch 20 s den monetär entlohnten Tätigkeiten gewidmet werden. Die anderen 20 s werden im entkommerzialisierten Bereich gearbeitet und sind durch subsistenzorientierte Tätigkeiten (Eigenproduktion, gemeinnützige Arbeit u. a. m.) sowie einen suffizienzorientierten Lebensstil bestimmt (Paech 2014, S. 151). Diefenbacher et al. halten ebenfalls die Minimierung der aktuellen Dominanz der Erwerbsarbeit und eine Aufwertung der informellen Arbeiten für notwendig (2016, S. 314). Zu Letzteren werden Aktivitäten in drei Bereich gezählt, nämlich in der eher

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­ eiblich konnotierten Haushaltswirtschaft, in der Selbstversorgungswirtschaft w (handwerkliche Tätigkeiten und Gartenarbeiten) sowie in der Selbsthilfeökonomie (z. B. Nachbarschaftshilfe) (ebd., S. 299). Damit liegen durchaus bereits einige Konzepte vor, welche eine Orientierung für soziale Innovation in Richtung Nachhaltigkeit durch eine Neubestimmung von Arbeit geben. Allerdings ist hinsichtlich mancher Konzepte im Postwachstumsdiskurs4 kritisch anzumerken, dass teilweise eine romantisierende Verklärung der Tätigkeiten im informellen, unbezahlten Sektor zu konstatieren ist und eine Unterschätzung der über die Einkommenssicherung hinausgehenden Bedeutung der formellen, bezahlten Arbeit für Identitätsstiftung, die Entwicklung der individuellen Potentiale und die soziale Integration erfolgt. Diese Kritik impliziert nicht, dass wir nicht eine Neubestimmung des Verhältnisses von bezahlter und unbezahlter Arbeit für ein zentrales Feld einer sozialen Innovation in Richtung Nachhaltigkeit erachten. Eine sozialwissenschaftlich informierte arbeitsökologische Innovation muss jedoch Barrieren und mögliche problematische Nebenfolgen der Verschiebung mit in die Betrachtung einbeziehen. Forschung für soziale Innovation zur Beförderung nachhaltiger Arbeit sollte daher auch einige der zugrunde liegenden Annahmen hinterfragen und überprüfen. Hierzu wird im Folgenden (a) auf die These einer ökologisch positiven Wirkung einer Arbeitszeitreduktion eingegangen und sodann (b) die Arbeit im informellen Bereich näher betrachtet. (a) Die These von ökologisch positiven Effekten einer Reduktion der Erwerbsarbeit kann zumindest relativiert werden. Eine im Rahmen des Verbundprojekts „Arbeit und Ökologie“ durchgeführte Studie zu den Effekten einer mit dem Ziel der Arbeitsplatzsicherung durchgeführten Arbeitszeitverkürzung und -flexibilisierung in der Volkswagen AG auf Zeitwohlstand, Lebensführung und sozial-ökologisches Engagement kommt zu einem ernüchternden Schluss: „Die Annahme, dass durch die mit der Arbeitszeitverkürzung gewonnenen Zeitpotentiale quasi ‚von selbst‘ ein Reflexionsprozess in Gang gesetzt würde, an dessen Ende eine Umstellung der Lebensführung nach sozial-ökologischen Gesichtspunkten erfolgen könnte, wird […] nicht belegt. […] Die Hypothesen über positive Wechselwirkungen zwischen neuen Arbeitszeitmustern und nachhaltiger Lebensführung haben sich nicht bestätigt“ (Hildebrandt 1999, S. 35).

4Dies

gilt nicht für alle Ansätze im sehr heterogenen Postwachstumsdiskurs (siehe im Überblick Schmelzer/Vetter 2019), sondern vor allem für die wertkonservativ ausgerichteten Konzepte.

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Eine wesentliche Ursache hierfür sieht Hildebrandt darin, dass die Subjekte ihre eigenen Interessen kaum einbringen konnten und die Flexibilisierung und Verkürzung der Arbeitszeit eher nach den Vorgaben der Interessen des Unternehmens erfolgte (ebd., S. 36). Auch haben sich die Erwartungen, dass das Mehr an Zeit zu einem ökologischen Engagement führen könnte, nicht erfüllt. Ursache waren dabei auch die spezifische Infrastruktur der Autostadt Wolfsburg und das dort dominierende konsumistische Wohlstands- und Lebensführungsmodell (ebd., S. 37). Diese Befunde aus dem Jahre 1999 widerlegen zwar nicht die Möglichkeit eines durch Arbeitszeitverkürzungen herbeigeführten Wandels der Lebensführung hin zu Nachhaltigkeit, relativieren aber doch die Annahme eines automatischen Zusammenhangs. In den nachfolgenden Jahren hatte das Thema der Arbeitszeitverkürzung in Deutschland zumindest von Gewerkschaftsseite her keine Bedeutung mehr, sodass entsprechende Studien in anderen Kontexten nicht durchgeführt wurden. In den letzten Jahren wurde allerdings verstärkt neben Forderungen nach höherer Entlohnung auch die Möglichkeit einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung eingefordert und in einigen Tarifverträgen der IG Metall und bei ­ver. di-Wahlmodellen, die den Beschäftigten die individuelle Option zwischen Entgelterhöhung oder zusätzlichen freien Tagen ermöglichen, festgeschrieben. Dabei wählten überraschend viele Beschäftigten die Option eines Mehr an freier Zeit (vgl. Liebig 2019, S. 225). Die ökologischen Effekte dieses Gewinns an freier Zeit sind allerdings von ihrer individuellen Nutzung abhängig. Wird sie zu einer Reduktion der Wochenarbeitszeit genutzt, so sind diese eher positiv, während sie in geblockter Form auch zu einer Verlängerung der Urlaubszeit dienen kann, was z. B. zu zusätzlichen Reisen führt, so dass die ökologische Bilanz negativ ist (ebd., S. 225). Trotz dieser Einschränkung kommt Liebig zu dem Gesamtbefund, „dass eine Arbeitszeitverkürzung zwar kein sozial-ökologisches Allheilmittel darstellt. Doch sollte sie genauso wenig geringgeschätzt werden, denn sie kann durchaus für positive soziale und ökologische Ziele dienen.“ (ebd.) Er ergänzt allerdings, dass diese positiven Wirkungen auch von außerbetrieblichen Kontextbedingungen abhängig sind, wie einer ökologischen Steuerreform, welche ökologische Verhaltensoptionen befördert, sowie einer egalitäreren Verteilung der Hausarbeit. Denn die aktuell weiter fortbestehende ungleiche Verteilung dieser Arbeiten zwischen den Geschlechtern aufgrund traditioneller Rollenzuschreibungen kann als weiteres mögliches Manko einer Verkürzung und Flexibilisierung der Arbeitszeit angesehen werden. Bereits heute ist für viele Frauen aufgrund der höheren Teilzeitquote eine in gewisser Weise den oben skizzierten Modellen entsprechende Arbeitsrealität kennzeichnend – allerdings verbunden mit E ­inkommens- und

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Rentenreduktion und einer permanenten Doppelbelastung, wohingegen Männer bezogen auf Arbeitszeit noch eher dem klassischen Vollzeitmodell folgen. Eine Verkürzung der Arbeitszeit könnte zur Folge haben, dass Männer eher echte FreiZeit gewinnen, wohingegen für Frauen die Belastungen noch zunehmen. Auch wenn die Forderung nach einer Aufwertung der informellen, nicht-vermarktlichten Arbeit ursprünglich von der Frauen- und Geschlechterforschung erhoben wurde, so sind diese geschlechterpolitischen Erwägungen dennoch nicht in allen wachstumskritischen Ansätzen präsent. Deren Einbezug ist aber unabdingbar, um eine Vertiefung geschlechtsspezifisch ungleicher Arbeitsteilung infolge einer Neubestimmung des Verhältnisses von bezahlter und unbezahlter Arbeit zu vermeiden (vgl. Littig 2016). Schließlich ist auch die von vielen Verfechtern einer Arbeitszeitreduktion angeführte Argumentation zu hinterfragen, wonach die durch technischen Fortschritt ermöglichte Produktivitätssteigerung eine Arbeitszeitverkürzung nicht nur praktikabel, sondern auch ökologisch ebenso wie sozial erforderlich mache, um einen gesteigerten Umweltverbrauch und Arbeitslosigkeit zu vermeiden (vgl. z. B. Schor 2016, S. 136 f.). Denn es ist zu berücksichtigen, dass die Produktivitätssteigerungen in der Industriegesellschaft auch durch den Einsatz der sog. „technischen Sklaven“ (Staudinger 1947) ermöglicht wurden, die nicht nur im privaten Haushalt die Arbeit vereinfachten, sondern auch die Erwerbsarbeit revolutionierten. Lebendige Arbeit von Menschen und biotische Energie wurden durch fossile Energieträger und die durch sie angetriebenen Maschinen ergänzt und ersetzt. Die Folge war eine erhebliche Steigerung des Ressourcenverbrauchs. Durch Digitalisierung ermöglichte Automatisierungsprozesse und Produktivitätszuwächse dürften auch einen erneuten Anstieg globaler Materialströme und einen vermehrten Energieverbrauch zur Konsequenz haben. Protagonisten der Industrie 4.0 hoffen zwar, dass die gegenwärtige digitale Revolution zu einer smarteren, nachhaltigen Produktion führen wird. Kritiker warnen allerdings vor einem „Ressourcenfluch 4.0“ (Pilgrim et al. 2017), da die „Dematerialisierung (als) uneinlösbares Versprechen der Industrie 4.0“ (ebd., S. 38) anzusehen sei (vgl. auch Jochum und Matuschek 2019). Für einen Übergang zu einer postfossilen Gesellschaft könnte so notwendig werden, dass wieder vermehrt menschliche Arbeitskraft eingesetzt werden muss – zumindest, wenn sich auch die bioökonomischen Hoffnungen auf eine einfache Ersetzbarkeit des hohen Verbrauchs an fossiler Energie und nichterneuerbaren Ressourcen durch erneuerbare Energien und nachwachsende Rohstoffe als Illusion erweist. Darüber hinaus ist zu fragen, ob nicht infolge der zunehmenden ökologischen Krisen sogar neue Arbeit entsteht, um die Katastrophen zu verhindern (z. B. Dammbau) bzw. die Folgen der Katastrophen (z. B. Wiederaufbau und

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Verlagerung von durch Überschwemmung zerstörten Städten) zu bewältigen. Ob diese Arbeiten dann im Rahmen formeller Erwerbarbeit oder im informellen Bereich erfolgen wird, ist natürlich offen. Insgesamt kann aber davon ausgegangen werden, dass das Arbeitsvolumen in bestimmten Bereichen zunehmen wird – was aber natürlich nicht impliziert, dass keine Reduktionen der Arbeit in jenen Bereichen möglich sind, in denen der gesellschaftliche Nutzen der Güter höchst fragwürdig ist (z. B. Rüstung). Als verkürzt sind auch die simplifizierende Verklärung der informellen Arbeit und die Problematisierung der formellen Arbeit anzusehen, wie sie z. B. in dem skizzierten Konzept von Diefenbacher et al. (2016) erkennbar wurden. Insbesondere ein Blick in den globalen Süden, aber auch die Berücksichtigung der Arbeitsrealität im Norden, lässt eine differenzierte Betrachtung notwendig erscheinen. Bereits für die letzten Jahrzehnte wird eine „Transformation der Arbeit in die Informalität“ (Mahnkopf 2003, S. 65) konstatiert – mit für die Arbeitenden zumeist negativen Folgen und mit zumindest offenen ökologischen Auswirkungen. In den sog. Entwicklungsländern sind mehr Menschen informell als formell beschäftigt, und ein hoher Anteil hiervon lebt in extremer Armut (vgl. UNDP 2015, S. 75). In der arbeitssoziologischen Diskussion wird unter dem Begriff der informellen Arbeit nicht nur die private, eher der Eigenversorgung dienende Arbeit diskutiert. sondern es ist die heterogene Gesamtheit der ‚atypischen‘ Arbeiten, die von dem ‚Idealtypus‘ der in den Industrieländern mit dem Normalarbeitsverhältnis assoziierten formellen Arbeit abweichen. Formelle Arbeit ist Lohnarbeit in dauerhaften Beschäftigungsverhältnissen bei privaten Unternehmen oder im öffentlichen Bereich, und sie kann durch Statistiken erfasst werden. Verbunden ist sie auch mit der Einbindung in soziale Sicherungsprogramme, es gelten Arbeitsschutzgesetze, und Grundlage ist in der Regel eine formelle Qualifikation und eine relativ gute Bezahlung. Informelle Arbeit ist zumeist im negativen Sinne hiervon abweichend eher ungeregelt, unterbezahlt, ungeschützt und unorganisiert und weist Ähnlichkeiten zu prekärer Arbeit auf (Mayer-Ahuja 2013, S. 56 f.). Viele Formen informeller Arbeit sind dabei durchaus Teil der kapitalistischen Marktökonomie und dienen dem Gelderwerb, die dort Tätigen sind aber nur in einer subordinierten Form einbezogen. Von der ILO und der UNDP wird dementsprechend die Setzung von „Arbeitsnormen zur Eindämmung der informellen Wirtschaft“ als eine „neuer Meilenstein“ gesehen, der zu „menschenwürdigen Arbeitsplätzen“ führen könne (UNDP 2015, S. 183). Nun hat insbesondere die feministische Kritik allerdings zu Recht darauf hingewiesen, dass Normalarbeitsverhältnis und formelle Lohnarbeit immer schon primär spezifisch für die männliche Bevölkerung waren (Mahnkopf 2003,

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S. 60 f.). Argumentiert wurde zudem, dass das Spannungsfeld zwischen formeller Lohnarbeit und informellen Arbeitsformen und die häufig damit verbundene Entgegensetzung von produktiver und nur reproduktiver Arbeit auch Widerspiegelung eines Ausbeutungsverhältnisses sei: Durch die Entwertung der Letzteren kann diese gesellschaftlich und auch für den Kapitalismus notwendige Arbeit billig angeeignet werden (Patel und Moore 2018); der kapitalistischen Verwertung verfügbar gemacht wird diese Arbeit, indem sie aus informellen, aber subsistenzsichernden autonomen und autarken traditionellen Kontexten herausgelöst wird. Die im Postwachstumsdiskurs erhobene Forderung nach einer Aufwertung der informellen Arbeit kann durchaus auch als Versuch angesehen werden, dieser Abwertung entgegenzuwirken. Mit der Fokussierung auf Haushaltswirtschaft, Selbstversorgungswirtschaft und Selbsthilfeökonomie wird jedoch insbesondere unter einer globalen Perspektive die problematische Realität von informeller Arbeit nur unzureichend erfasst. Diese muss aber berücksichtigt werden, wenn durch eine Neubestimmung des Verhältnisses von formeller und informeller Arbeit eine nachhaltige Arbeit befördert werden soll, die auch den Anspruch einer guten, entwicklungsförderlichen Beschäftigung gerecht wird.

5 Resümee und Ausblick Für soziale Innovationen bezüglich der Neubestimmung des Verhältnisses von bezahlter und unbezahlter Arbeit sind aus diesen Überlegungen folgende Schlüsse zu ziehen: • Die im Postwachstumsdiskurs und anderen auf einem erweiterten Arbeitsbegriff beruhenden Konzepten wahrnehmbare Tendenz einer einseitigen Orientierung auf den Nichterwerbsarbeitsbereich und einer simplifizierenden Forderung nach einer (durch ein garantiertes Grundeinkommen abgesicherten) Reduktion der Bedeutung von Erwerbsarbeit ist kritisch zu hinterfragen. Sie ist ebenso einseitig wie die Erwerbsarbeitsfokussierung des hegemonialen Diskurses um den Übergang in eine Green Economy. Die oben skizzierten Potentiale arbeitsökologischer Innovationen innerhalb der Erwerbsarbeit sind daher unter den gegebenen Bedingungen als zentraler Bestandteil einer Transformation anzusehen. Insbesondere gilt es, die subjektiven Potentiale und Interessen der Arbeitnehmer an einer Entwicklung der eigenen Potentiale innerhalb der Erwerbsarbeit ernst zu nehmen. Für eine sozial-ökologische Transformation der Arbeitsgesellschaft sind soziale Innovationen sowohl in Erwerbs- wie auch Nichterwerbsarbeit von Bedeutung, und dabei müssen

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deren Wechselwirkungen, mögliche Synergien wie auch Konfliktfelder und Nebenfolgen von Veränderungen systematisch berücksichtigt werden. • Aktuelle Bestrebungen von Gewerkschaften nach einer Veränderung von Arbeitszeitmustern als Teil von Tarifvereinbarungen wären mit den ­sozial-ökologischen Debatten um eine Reduktion der Arbeitszeit zusammen zu führen (vgl. Liebig 2019). Die Zeitgestaltung sollte dabei weder nur an die Bedürfnisse der Unternehmen angepasst sein noch allein nach den rigiden Vorgaben eines ökologischen Zeitregimes erfolgen. Ziel muss vielmehr eine Flexibilisierung und Reduzierung von Arbeitszeit sein, in der die Subjekte ihre eigenen Interessen und Bedürfnisse einbringen können. Und sie muss angesichts der skizzierten Probleme auch geschlechtersensibel erfolgen. • Bezüglich des Verhältnisses zwischen erwerblicher und nichterwerblicher, formeller und informeller Arbeit, bezahlten und ehrenamtlichen Arbeiten, vermarktlichten und marktfernen Arbeiten sowie Produktionsund Reproduktionsarbeit sind integrative Innovationskonzepte notwendig. Wir teilen die Forderung nach einer Wiederaufwertung der am letzteren Pol angesiedelten Arbeiten. Diese ‚sozialen Re-novationen‘ im Sinne einer Wiederentdeckung und Stärkung von Arbeitsformen, die im Verlauf der industriegesellschaftlichen Modernisierung entwertet und marginalisiert wurden, können einen wichtigen Beitrag für den Übergang zu einem nachhaltigeren Arbeiten leisten. Dies impliziert aber nicht, dass nur eine neue Einseitigkeit der Perspektive an die Stelle der alten treten sollte. Potentiale arbeitsökologischer Innovationen durch Verschiebungen und neue Verbindungen wären ebenso zu erschließen. Auch wir haben vereinfachend in dem Beitrag die polaren Gegensatzpaare verwendet und ihre weitgehende Kongruenz unterstellt. Bei näherer Betrachtung wird aber deutlich, dass es hiervon abweichende Kombinationen gibt. So muss formelle, bezahlte Arbeit nicht zwingend auch in einer Marktgesellschaft erfolgen – zumindest nicht in einer wachstumsorientierten, kapitalistischen Ökonomie. Die mit der formellen Arbeit verbundenen Regulierungen, die für Beschäftigte auch eine Absicherung implizieren und Anerkennung ihrer Qualifikationen beinhalten, könnten erhalten werden, ohne dass damit ein Festhalten an der ökologisch problematischen Wachstumsökonomie verbunden wäre. Auch könnten der Begriff der formellen Arbeit und die damit verbundenen Ansprüche eine ökologische Erneuerung erfahren, wenn die hiermit verbundenen Normierungen auch die Berücksichtigung von Umweltstandards miteinschlössen.

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• Besonders hohe Innovationspotentiale wären damit in der Entwicklung von neuen Mischarbeitsformen zwischen formeller und informeller Ökonomie zu erwarten. Von vielen wird ein derartiger Wandel über die Ausweitung der „Sharing Economy“ erhofft. Diese „Ökonomie des Teilens“ ist zwar nicht von der Digitalisierung abhängig, jedoch haben digitale Plattformen wesentlich zum Boom der Sharing Economy beigetragen. Hierdurch wurde in den letzten Jahren bereits ein Wandel der Arbeitswelt befördert, der die Grenzen zwischen Konsum und Produktion erodieren ließ und neue Prosumentennetzwerke und Formen des kollaborativen Konsums hervorbrachte. Trotz der angedeuteten Ressourcenprobleme der Digitalisierung könnten hier in der Gesamtbilanz auch ökologisch nachhaltigere Arbeitsweisen ermöglicht werden, In diesem Sinne verkündete Rifkin in „Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft“ (2014) eine durch die intelligente Nutzung der neuen Technologien ermöglichte Genese von „collaborative commons“ und ein „nachhaltiges Füllhorn“. Angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre mussten diese Hoffnungen allerdings relativiert werden. Durch die Übernahme der Idee einer Ökonomie des Teilens durch profitorientierte Unternehmen des Plattformkapitalismus kam es eher zu einer Erosion von Arbeitsstandards und ökologisch negativen Rebound-Effekten, da sich für die Konsumenten die Konsumchancen vervielfältigt haben. Wie Loske argumentiert, besteht daher ein politischer Gestaltungs- und Regulierungsbedarf, wenn man die positiven Effekte der Sharing Economy befördern will: „Sharing kann […] einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten, wenn es gelingt, die Tendenz zur gemeinschaftlichen Nutzung von Gütern und Diensten überwiegend im sozial-ökologischen Modus zu halten. Das passiert aber nicht von selbst, sondern braucht politischen Willen.“ (Loske 2019, S. 70) Dieses Plädoyer für eine begleitende politische Governance ist, wie hier abschließend argumentiert werden soll, für alle arbeitsökologischen sozialen Innovationen zu halten. Zwar können Innovationen von Akteuren innerhalb der Arbeitswelt insbesondere von den Tätigen selbst angestoßen und vorangetrieben werden. Die Bedingungen in der Erwerbsarbeit wie auch in der Sphäre der informellen Arbeiten sind jedoch immer auch abhängig von den gesamtökonomischen Strukturen und den regulierenden politischen Rahmensetzungen. Die bisherige Innovationspolitik zielt bisher vor allem auf technische Innovationen ab. Für eine sozialökologische Transformation der Arbeitsgesellschaft sind jedoch tief greifende strukturelle Innovationen notwendig, welche auch die skizzierten sozialen, arbeitsökologischen Innovationen unterstützen.

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Jochum, Georg,  Dr. Phil.; Dipl. Soz., Studium der Soziologie (LMU München). Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU München; TUM School of Governance, Lehrstuhl für Wissenschaftssoziologie. Letzte Veröffentlichungen: Jochum, G.; T. Barth; T. Brandl; A. Cardenas Tomazic; S. Hofmeister; B. Littig; I. Matuschek; U. Stephan; G. Warsewa. 2019. Nachhaltige Arbeit – Die sozial-ökologische Transformation der Arbeitsgesellschaft. Positionspapier der AG „Nachhaltige Arbeit“ im Deutschen Komitee für Nachhaltigkeitsforschung in Future Earth. Hamburg: DKN Jochum, G. und I. Matuschek. 2019. Arbeit im Spannungsfeld von digitaler und sozialökologischer Transformation – Interferenzen, Synergien und Gegensätze. In: Becke, G. (Hrsg.): Gute Arbeit und ökologische Innovationen – Perspektiven nachhaltiger Arbeit in Unternehmen und Wertschöpfungsketten. Oecom-Verlag. S. 81–100. Barth, Thomas, Dr. phil, Studium der Soziologie und Politikwissenschaft an der FSU Jena. Stipendiat der Rosa Luxemburg Stiftung im Promotionskolleg „Demokratie und Kapitalismus“ und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der FSU Jena. Seit 2014 akademischer Rat auf Zeit am Institut für Soziologie der LMU München. Letzte Veröffentlichungen: Barth, T. und A. Henkel. Hg. 2020. 10 Minuten Soziologie: Nachhaltigkeit. Transcript Verlag. Barth, T./Jochum,G./Littig, B. 2019. Machtanalytische Perspektiven auf (­nicht-)nachhaltige Arbeit. In: Nachhaltige Arbeit: machtpolitische Blockaden und Transformationspotentiale. WSI-Mitteilungen, Schwerpunktheft 1/2019, S. 3-12. Barth, T. 2018. Marxismus und Ökologie. Zur Analyse nicht-nachhaltiger gesellschaftlicher Naturverhältnisse. In: Haubner, T./Reitz T. (Hg.): Marxismus und Soziologie. Klassenherrschaft, Ideologie und kapitalistische Krisendynamik. Beltz Juventa: Weinheim 2018, S. 235-249.

Leitbildentwicklung in Organisationen Ein interaktiver Lernprozess zur nachhaltigen Transformation Peter Dürr Zusammenfassung

Auch wenn die aktuellen Veränderungsdynamiken in Wirtschaft und Gesellschaft nahezulegen scheinen, das Paradigma des Agilen gewänne gegenüber dem Strategischen die Oberhand, so bleibt in Organisationen die Suche nach einem Kompass für die Zukunft unverändert oder gewinnt sogar an Bedeutung. Sei es unter der Überschrift Vision, Mission, Marke, Corporate Identity oder, etwas allgemeiner, Leitbild, Organisationen versuchen in der Praxis auf unterschiedlichste Weise, den Heiligen Gral allgültiger Grundsätze und Leitlinien für die weitere Entwicklung aus der Vielfalt aller Möglichkeiten zu destillieren und in ein kommunizierbares Format zu übertragen. Im Beitrag wird untersucht, inwiefern Leitbildprozesse mit ihrem Fokus auf Werte- und Zukunftsfragen geeignet sind, um nachhaltige Veränderungen in Organisationen anzustoßen. Im Mittelpunkt steht dabei die Entwicklung einer neuartigen Prozesslogik, die anerkannte pädagogische, ingenieurwissenschaftliche und designorientierte Gestaltungsschemata in einem sog. „Interaktiven Lernparcours“ bündelt und als Planungshilfe eingesetzt wird. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Bedeutung von Prinzipien wie Partizipation, Perspektivwechsel und Konstruktivität gerichtet, um diese Prozesse erfolgreich zu gestalten. Im Rahmen eines konkreten Anwendungsbeispiels wird anschließend geprüft, wie die Implementierung dieses Planungsinstruments in der Praxis gestaltet werden kann und welche Auswirkungen sich daraus auf nachhaltiges Handeln in der Organisation ergeben.

P. Dürr (*)  München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_5

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1 Leitbilder als Impuls zur Nachhaltigkeit Auch wenn die aktuellen Veränderungsdynamiken in Wirtschaft und Gesellschaft nahezulegen scheinen, das Paradigma des Agilen gewänne gegenüber dem Strategischen die Oberhand, so bleibt in Organisationen die Suche nach einem Kompass für die Zukunft unverändert oder gewinnt sogar an Bedeutung (Farjoun 2007, Mancesti 2015, Teece et al. 2016). Sei es unter der Überschrift Vision, Mission, Marke, Corporate Identity oder, etwas allgemeiner, Leitbild, Organisationen versuchen in der Praxis auf unterschiedlichste Weise, den Heiligen Gral allgültiger Grundsätze und Leitlinien für die weitere Entwicklung aus der Vielfalt aller Möglichkeiten zu destillieren und in ein kommunizierbares Format zu übertragen. Bei aller Unterschiedlichkeit enthalten diese Leitbilder in der Regel Aussagen über die langfristige Orientierung und das Wertefundament der Organisation. Nach einer Analyse der unterschiedlichen Zielsetzungen von Leitbildprozessen soll in einem ersten Schritt untersucht werden, inwiefern die damit verbundene Auseinandersetzung mit Werte- und Zukunftsfragen dazu führt, dass sich organisationales Handeln stärker an sozial-ökologischen Zielsetzungen der Gesellschaft orientiert und Nachhaltigkeit in diesem Sinne in der Organisation verankern werden kann. Leitbilder entstehen als Ergebnis eines strukturierten Prozesses, an dem unterschiedliche Führungskräfte, MitarbeiterInnen oder auch externe Stakeholder beteiligt sein können. In einem zweiten Schritt soll geklärt werden, welche Bedeutung die Prozessgestaltung auf das Ergebnis haben kann. Da in der gesichteten Literatur die Vorgehensweisen in sehr unterschiedlichem Detail beschrieben sind und sich dabei jeweils eigener Systematiken bedienen, wird zur besseren Vergleichbarkeit zunächst ein generisches Modell für Lern-Lösungs-Prozesse vorgestellt. Darin wird die Verschränkung zwischen ­ Lösen und Lernen begründet und werden Aktivitäten sowohl nach Art der Befassung mit der Fragestellung als auch nach Form des kommunikativen Austauschs zwischen den Beteiligten unterschieden. Die sequenzielle Verknüpfung dieser Aktivitäten beschreibt eine Art Hindernislauf, der hier als Parcours bezeichnet wird. Das Modell dient als Grundlage, um zu überprüfen, inwiefern die Prozessgestaltung eine nachhaltige Ausrichtung der Organisation unterstützt. In einem anschließenden Anwendungsbeispiel werden die erläuterten Prinzipien anhand eines in der Praxis durchgeführten Entwicklungsprozesses ­veranschaulicht.

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2 Funktion und Inhalte von Leitbildern 2.1 Begrifflicher Rahmen Unter einem Leitbild wird allgemein eine „leitende Vorstellung“, ein „Ideal“ oder „Vorbild“ verstanden (Duden 2019). Während in der Managementliteratur die Entwicklung von Leitbildern überwiegend als Aufgabe der strategischen Unternehmensführung verstanden wird (Bleicher 2004, Graf und Spengler 2016, Greiner 2018, Grünig und Kühn 2011, Hinterhuber 2011, Klaußner 2016, Lombriser und Abplanalp 2015, Müller-Stewens und Lechner 2016, Paul und Wollny 2014), unterscheidet sich das Verständnis der darin enthaltenen Komponenten und deren Bedeutung teilweise erheblich. Dies ist unter anderem auf unterschiedliche fachliche Zugänge und eine damit verbundene heterogene Anwendungspraxis mit fließenden Grenzen zwischen Managementberatung und wissenschaftlicher Theoriebildung zurückzuführen. So schreibt Klaußner (2016, S. 3), dass ein „Leitbild einer Organisation […] kurz und prägnant den Auftrag (Mission), die strategischen Ziele (Vision) und die wesentlichen Orientierungen für Art und Weise ihrer Umsetzung (Werte) [formuliert].“ Es umfasst Beschreibungen von Aufgaben und Zielen, Art der Zielerreichung sowie die „Grundvorstellungen“ einer Organisation. Auch Greiner (2018, S. 125) ordnet einem Leitbild die Komponenten Vision und Mission zu, ergänzt durch „Grundsätze“ und „Werte“ des Unternehmens. Dagegen beziehen sich laut Paul und Wollny (2014, S. 51) Leitbild und Mission nur auf die Gegenwart und ist die Visionsbeschreibung hierzu ergänzend zu sehen. Ähnlich sehen Grünig und Kühn (2011, S. 129 f.) die Vision nicht als Bestandteil des Leitbildes. Darin enthalten sind dagegen die Mission als Beschreibung des Unternehmenszwecks, Selbstverständnis, oberste Ziele und Werthaltungen. Laut Lombriser und Abplanalp (2015, S. 252) soll einerseits die Vision in einem Leitbild festgehalten werden, andererseits listen die Autoren diese neben strategischer Mission, Grundwerten, strategischer Intention, Grundstoßrichtungen, Kernkompetenzen und Rahmenbedingungen nicht mehr auf (ibid., S. 252). Auch Hinterhuber (2011, S. 99) sieht die Vision nicht als Teil des Leitbildes, das er mal mit der Unternehmenspolitik (Mission) gleich-, mal neben sie setzt, um in Summe eine „Unternehmensphilosophie“ abzubilden (ibid., S. 100). Laut Graf und Spengler (2016, S. 62) wiederum befassen sich Leitbilder „mit den langfristigen, globalen Zielen und den langfristig gültigen Prinzipien, Normen und Spielregeln einer Organisation, die ihre Lebens- und Entwicklungsfähigkeit sicherstellen soll“. Sie enthalten unter anderem Aussagen zu Selbstverständnis, Zielen, Aufgaben und Strukturen sowie zum (gewünschten) Verhalten ihrer Mitglieder und dienen als „gemeinsamer Orientierungsrahmen“ (ibid., S. 62).

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Begibt man sich auf die Ebene der einzelnen Leitbildkomponenten, so nimmt die Bandbreite der begrifflichen Heterogenität deutlich ab. Wie Lombriser und Abplanalp (2015, S. 244) aus einem Vergleich unterschiedlicher Definitionen für die Vision einer Organisation schlussfolgern, ist ihnen die „Vorstellung von richtungsweisenden Gedanken für die zukünftige Unternehmensentwicklung“ gemeinsam und sie hat damit eine „orientierende“, „motivierende“ und „sinngebende“ Funktion (ibid., S. 244). Mit der Mission bzw. dem mission statement wird legitimiert, wozu es die Organisation gibt, worin ihr Zweck besteht und welche Aufgaben sich daraus bezogen auf unterschiedliche Stakeholder ableiten. Greiner (2018, S. 132) führt beispielsweise diese Aussage auf Antworten zu drei Kernfragen zurück: „Warum gibt es uns? Welchen Auftrag erfüllen wir? Welchen Mehrwert bieten wir unseren Kunden und der Gesellschaft?“. Bei den Grundwerten und Grundsätzen wird generell unterschieden zwischen der Art und Weise, wie das Unternehmen agiert und von außen gesehen werden möchte, und den Erwartungen an MitarbeiterInnen und Führungskräfte. Lombriser und Abplanalp (2015, S. 252) formulieren in diesem Zusammenhang die Frage „Wie machen wir es?“, die es zu beantworten gilt, und Greiner (2018, S. 146 f.) nutzt die englischen Begriffe company values und people values, um die unterschiedlichen Perspektiven zu differenzieren. Hinterhuber (2011, S. 103) und Lombriser und Abplanalp (2015, S. 252) ordnen darüber hinaus Kernkompetenzen diesen Unternehmensgrundsätzen zu. Einige AutorInnen sehen auch das Selbstverständnis bzw. die Identität als Teil des Leitbildes, womit ausgedrückt wird, wie sich das Unternehmen (aktuell) selbst sieht (Grünig und Kühn 2011, S. 129, Lombriser und Abplanalp 2015, S. 252). Hinterhuber (2011, S. 101) verweist auf „traditionelle Werte“ des Unternehmens sowie auf eine Form des „Selbstbewusstseins“ (ibid., S. 102), das Stolz bei den Mitarbeitenden hervorbringt. „Zukunft braucht Herkunft“ schrieb schon der Philosoph Odo Marquard (Marquard 2015), woraus die Verbindung zwischen Entwicklung einer Zukunftsvision und Identität hervorgeht, die nach Wagner (2010, S. 499) definiert ist über „Wertorientierungen, die das gemeinsame Handeln anleiten“.

2.2 Differenzierung der Aussagemerkmale Nach Greiner (2018, S. 124) ist ein Leitbild als „emotionaler und sachlogischer Überbau der Strategiearbeit“ zu verstehen, dessen Orientierungsund Motivierungsfunktion von den hier zitierten AutorInnen im Wesentlichen geteilt wird. Allerdings zeigt eine Analyse, dass Angaben zu den enthaltenen

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Komponenten und ihren jeweiligen Aussageabsichten oft bezüglich nachfolgender Merkmale voneinander abweichen: • Funktion: Dient die Aussage der Beschreibung eines Sollzustands (normativ), eines methodisch mehr oder weniger fundierten Untersuchungsergebnisses (analytisch) oder einer Handlungsanweisung (aktionsorientiert)? • Orientierung: Sind die Aussagen eher an Kunden, Lieferanten, Partner und Öffentlichkeit (außen) gerichtet oder eher in Richtung der eigenen Organisation mit ihren MitarbeiterInnen und Führungskräften (innen)? • Zeitbezug: Beziehen sich die Aussagen eher auf Zustände oder Entwicklungen in der Zukunft (morgen) oder auf Beschreibungen der Gegenwart (heute)? • Abstraktionsgrad: Sind die Aussagen eher allgemein zur ganzheitlichen Orientierung oder konkret und umsetzungsorientiert formuliert (hoch – mittel – niedrig)? • Entwicklungszusammenhang: Werden die Aussagen eher im Zusammenhang mit der übergeordneten Leitbildentwicklung oder der untergeordneten Strategieentwicklung erarbeitet? Nach dieser Differenzierungslogik lassen sich häufig Leitbildern zugeschriebene Instrumentarien bzw. die mit ihrer Hilfe generierten Aussagen wie in Tab. 1

Leitbildentwicklung

Vision

x x

x x

Unternehmenswerte

x

Unternehmenskultur

x

Identität/Selbstverständnis

x

x

x x

Marktposition/USP

x

x

Chancen-/Risiken-Analysen

x

x

Markt-/Wettbewerbs-Analysen

x

x

Stärken-/Schwächen-Analysen

x

Strategische Handlungsfelder x

Strategische Ziele

x

Wirkungsmodelle Strategische Maßnahmen

x x x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x x

x x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x

x x

x

x

x

x

x

niedrig

hoch

x x

mittel

Abstraktionsgrad

heute

Zeitbezug

x x

Strategische Stoßrichtungen

innen

außen

aktionsorientiert

Orientierung

Mission

Corporate Identity

Strategieentwicklung

analytisch

Instrument/Element

normativ

Funktion

morgen

Tab. 1   Differenzierung von Elementen in Leitbildern und Strategien. (Eigene Darstellung)

x x

x

x

x

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d­ argestellt unterscheiden und eine Grenze zwischen Leitbild- und Strategieentwicklung ziehen. Grob lassen sich Leitbild- und Strategieentwicklung dadurch unterscheiden, dass Leitbilder überwiegend normativen Charakter haben, während Strategien stärker aktionsorientiert formuliert sind. Dabei wird der Fokus zunehmend nach innen auf die eigene Organisation und die Schaffung der Voraussetzungen zur zielgerichteten Steuerung gerichtet. Mit dieser Abgrenzung soll nun untersucht werden, inwiefern sich die in Leitbildprozessen entwickelten Aussagen positiv auf die Nachhaltigkeit der Organisation auswirken.

2.3 Die Zukunft ganzheitlich im Blick Eine Vision ist ein Narrativ der Zukunft, das hochkomprimiert einen Sollzustand der Organisation in der Zukunft beschreibt. AdressatInnen der darin enthaltenen Aussagen sind in der Regel die MitarbeiterInnen und Führungskräfte der Organisation. Sie wirken sinnstiftend (Müller-Stewens und Lechner 2016, S. 235, Paul und Wollny 2014, S. 51, Greiner 2018, S. 124), orientieren sich an Werthaltungen der beteiligten Stakeholder (Hinterhuber 2011, S. 84, Lombriser und Abplanalp 2015, S. 248) und sind entsprechend ganzheitlich ausgerichtet (Lombriser und Abplanalp 2015, S. 248). Dies in Verbindung mit der langfristigen Ausrichtung führt aus Sicht von Porter und Kramer (2011) zum Konzept des shared value und damit zu einer Verschiebung vom Shareholder- zum ­Stakeholder-Fokus. Eine langfristige und ganzheitliche Orientierung unter Berücksichtigung von Werthaltungen unterschiedlichster Stakeholder wirkt sich auf nachhaltiges Handeln einer Organisation aus. So definieren sich nicht-nachhaltige Verhaltensweisen von Organisationen wesentlich über die Vergesellschaftung sozialer und ökologischer Kosten, während durch Zukunftsorientierung langfristige Folgen organisationalen Handelns mitberücksichtigt werden. Lombriser und Abplanalp (2015, S. 249 ff.) betonen, dass zum einen „nicht gelöste gesellschaftliche Probleme […] irgendwann in den Unternehmen Kosten [verursachen]“, zum anderen “[leisten] ökologische und soziale Investitionen […] langfristig einen Beitrag zur Motivation der Belegschaft, zum Imagegewinn bei Kunden und zur Akzeptanz in der Öffentlichkeit” (ibid., S. 248).

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Eine „Vision erzeugt Zuversicht, Freiheit von Angst, Stolz und Freude, dabei zu sein“ (zur Bonsen 2012, S. 35), welches wichtige Zutaten zur Sinnstiftung für die MitarbeiterInnen einer Organisation sind, Loyalität und Begeisterung schaffen (Greiner 2018, S. 124) und somit zu nachhaltigerem Verhalten führen. Ein ganzheitliches Verständnis von Werten, die über das betriebsökonomische hinausgehen, führt zu Aushandlungsprozessen, bei der insbesondere soziale und ökologische Aspekte stärker berücksichtigt werden. Eine Mission ist eher nach außen gerichtet und stellt den Daseinsgrund der Organisation in den Vordergrund. Es handelt sich um ein Versprechen an Kunden und/oder die Gesellschaft als Ganzes, und daher rückt auch hier ein Werteuniversum ins Blickfeld, das sich tendenziell an nachhaltigen Prinzipien orientiert, da eine Ausgrenzung sozialer und ökologischer Nebenwirkungen langfristig kaum möglich ist. Eine Auseinandersetzung mit Grundwerten (Lombriser und Abplanalp 2015, S. 248) führt in der Regel zu einer stärkeren Orientierung an „sozialen Maßstäben“, „geistiger Lebensqualität“ und humanistischem Denken, wobei die kurzfristigen und materiellen Bezüge in den Hintergrund treten (Warwitz 2016, S. 260 ff.). Das humanistische Menschenbild umfasst dabei elementare Bedürfnisse wie Freiheit, Gerechtigkeit, Selbstentfaltung und Teilhabe (Schlösser 2007). Impulse zur Nachhaltigkeit, die durch die Leitbildarbeit entstehen, können also zusammenfassend an den Wesensmerkmalen Langfristigkeit, Ganzheitlichkeit und Sinnstiftung festgemacht werden. Welche Rolle spielt hierbei die Gestaltung des Entstehungsprozesses?

3 Leitbildentwicklung als Prozess „Entscheidend ist weniger der Inhalt als die Art und Weise der Entwicklung und Einführung eines Leitbildes“ schreiben Lombriser und Abplanalp (2015, S. 252) in ihrem Buch über strategisches Management. Insgesamt werden die Vorgehensweisen zur Erarbeitung eines Leitbildes in der Literatur in sehr unterschiedlichem Detail beschrieben, sowohl in Bezug auf die Auswahl der Prozessschritte (nur Kernprozess vs. inklusive vor- und nachgelagerte Prozesse) als auch in Bezug auf die konkrete Durchführung einzelner Aktivitäten. Stellvertretend für diese auch in den Geschäftsmodellen der jeweiligen Anbieter von Prozessbegleitungen begründete Vielfalt wird nachfolgend eine Auswahl prägender Merkmale vorgestellt.

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3.1 Vorgehensmodelle Die Bedeutung einer möglichst heterogenen Teamzusammensetzung wird von vielen AutorInnen betont (vgl. Hilb 2017, S. 43, Grolmann 2015, S. 198 f., Graf und Spengler 2016, S. 84, Lombriser und Abplanalp 2015, S. 255, Paul und Wollny 2014, S. 53, Hinterhuber 2011, S. 88 ff.). Klaußner (2016, S. 15) weist darauf hin, dass mit der Heterogenität auch die Komplexität des Vorhabens zunimmt und sich daraus ein ergebnisoffenerer Prozess ergibt. Diese Entscheidungen sind verbunden mit der Frage, ob die Steuerung des Prozesses eher top-down oder bottom-up erfolgen soll (Klaußner 2016, S. 13 ff.). Im ersteren Fall werden die wesentlichen Entscheidungen durch das Top-Management getroffen, in letzterem ist eine starke Gestaltungsmacht der MitarbeiterInnen auf unterschiedlichsten Hierarchieebenen gewährleistet. Lombriser und Abplanalp (2015, S. 255) betonen die Bedeutung der Kombination dieser Ansätze, die als Gegenstromverfahren bezeichnet wird. Darüber hinaus verweist Hilb (2017, S. 42) auf die Bedeutung der Analysen von Umfeld, Stakeholdern und Organisation, um auf diese Weise ein robustes Fundament für das zu entwickelnde Leitbild zu schaffen. Diese haben auch bei Graf und Spengler (2016, S. 86 ff.) eine wichtige Vorbereitungsfunktion, bevor mit der eigentlichen kreativen Arbeit begonnen werden kann. Grolmann (2015, S. 203) gliedert den Gesamtprozess in verschiedene Phasen, Vorbereitung, die eigentliche Leitbildentwicklung – Organisation und Durchführung von Workshops, Reflexionsschleife Lessons Learned und Auswertung –, redaktionelle Nachbereitung, Beschluss mit Verabschiedung und Rollout. Insbesondere der Vorbereitung wird dabei eine wichtige Rolle eingeräumt, damit eine „funktional und kulturell anschlussfähige Prozessarchitektur“ entsteht (ibid., S. 211). Graf und Spengler (2016, S. 85) empfehlen zur Strukturierung die Erstellung eines Prozessplans, in dem alle relevanten Planungen für die Leitbildentwicklung zusammengefasst sind. Mehrere AutorInnen entwickeln darüber hinaus konkrete Vorstellungen, wie die Kommunikation und Interaktion zwischen den Beteiligten in den jeweiligen Prozessphasen organisiert werden kann. Detaillierte Vorschläge findet man hierzu bei Klaußner (2016, S. 97 ff.), Grolmann (2015, S. 203 ff.) und Eisenschmidt (2015, S. 73 ff.), während Graf und Spengler (2016, S. 85) explizit auf den „didaktischen Aufbau“ verweisen. Eine andere Darstellungsform wählt Hinterhuber (2011, S. 87 ff.), indem er nicht Prozessphasen oder Interaktionsformate beschreibt, sondern Geisteshaltungen, die als Leitsätze der Visionsfindung dienen. So empfiehlt er den TeilnehmerInnen dieser

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Prozesse unter anderem, mit offenen Sinnen zu beobachten, in Alternativen zu denken, Erfahrungen zu sammeln und sich in die Lage anderer zu versetzen. Um diese unterschiedlichen Lösungsprozesse, die immer auch mit Lernvorgängen verknüpft sind, einordnen und bewerten zu können, wird nachfolgend ein neu entwickeltes Beschreibungsformat vorgestellt.

3.2 Ein generisches Parcoursmodell für Lern-Lösungs­­ Prozesse Verschränkung von Lösen und Lernen Die Leitbildentwicklung ist, wie alle Organisationsprozesse, mit einer Lern- und einer Lösungsaufgabe verbunden. Einerseits gilt es, wie im vorigen Abschnitt beschrieben, ein Arbeitsergebnis zu erzielen, das Wege in eine erfolgreiche Zukunft weist und sinnstiftend auf MitarbeiterInnen wirkt. Andererseits setzt die Erreichung dieses Ziels voraus, dass in einer reflektierenden Auseinandersetzung überhaupt erst belastbare Grundlagen für die gewünschte Positionierung geschaffen werden. Um dem Doppelwesen dieser Anforderungen Ausdruck zu verleihen, wird im Weiteren von Lern-Lösungs-Prozessen gesprochen. Lern-Lösungs-Prozesse sind im Wesentlichen dadurch gekennzeichnet, dass sie zur Erreichung eines vorgegebenen Ziels eine Abfolge von Aktivitäten vorsehen, die in der Literatur aufgrund der unterschiedlichen disziplinären Perspektiven und Kontexte sehr uneinheitlich beschrieben sind. Im Bildungskontext wird oft von „Lernschritten“ (Leisen 2015, Wahl 2013), „Lernelementen“ (Wannemacher et al. 2016), „Lerngelegenheiten“ (Seidel et al. 2008) oder „Lernaktivitäten“ (Pfäffli 2015, Kosslyn 2017) gesprochen, ein Begriff, der auch im eher technisch orientierten Feld des collaboration engineering aufgegriffen wird (Leimeister 2014, Briggs et al. 2003, de Vrede et al. 2009). Im betrieblichen Kontext, vor allem im Projektmanagement, wird analog von „Arbeitsschritten“, „Aufgaben“ oder „Arbeitspaketen“ gesprochen (Kraus und Westermann 2019, Kuster et al. 2019). Cognitive Engagement Da Lernen ein Prozess der Aneignung ist (Seidel et al. 2008, S. 260), muss Wissen nicht nur übermittelt, sondern untersucht, reflektiert, kontextualisiert, angewendet und mit bestehendem Wissen verknüpft werden (Fost et al. 2017, S. 168). Mit dem Begriff „forschendes Lernen“ verweist Mayer (2004, S. 94) auf die unterschiedlichen Aktivitäten, die im Rahmen eines Forschungsprozesses durchlaufen werden. Dazu gehört das Bilden von Hypothesen, das experimentelle

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Testen sowie die möglichst wiederholte Anwendung von Lösungen, wie sie auch beim problembasierten Lernen vorzufinden sind (Barrows 1994, Walker et al. 2015). In seinen Untersuchungen zu Prinzipien erfolgreichen Lernens betont Kosslyn (2017, S. 154 f.) die Vielfalt kognitiver Operationen als Voraussetzung zur Tiefenverarbeitung von Informationen (deep processing), Wiederholungen, um multiple mentale Repräsentationen von Informationen zu schaffen (generation effect) und die Bedeutung von Feedback, um fehlerhafte mentale Modelle zu korrigieren. Um das Gelernte zu vertiefen, eignen sich auch Formen des Erklärens wie beispielsweise Präsentationen (Chi et al. 1994). Aus einer Analyse unterschiedlicher Studien zum aktiven Lernen und eigenen Erfahrungen leiteten Kosslyn (2017, S. 169) und seine KollegInnen verschiedene Aktivitätenbündel ab, die sich entweder der Schaffung von Outputs, der Untersuchung von Standpunkten, der gezielten Aktivierung von Studierenden, der Synthese oder Bewertung von Arbeitsergebnissen zuordnen lassen (vgl. auch Tab. 2). Eine vollkommen andere Sicht auf differenzierende Merkmale von Lernprozessen bieten Ansätze aus dem Bereich Design. Dort geht es in diesem Zusammenhang um die Frage, welche Raumanforderungen sich aus unterschiedlichen Aktivitäten des Lernens und Lösens ergeben. Hierfür wurden unter anderem stringente Konzepte von Jenull und Jacobson (2013), Doorley und Witthoft (2012), Kohlert und Cooper (2017), Mokosch-Wabnitz (2014) sowie Gensler (2015) entwickelt (vgl. auch Tab. 2). Da diese in engem Zusammenhang mit der Form der Interaktion stehen, werden sie ausführlicher erst im nächsten Abschnitt behandelt. Aus diesen heterogenen Erkenntnissen und Perspektiven wurde in Anlehnung an Kosslyns (2017) Begrifflichkeit eine Klassifizierung von Lernaktivitäten entwickelt, die als cognitive engagements angeben, welche Form der Befassung mit dem Wissensgegenstand für Lernende im Vordergrund steht: • Frame: Aktivitäten, mithilfe derer Kontext, Problemstellung und Lernaufgabe geklärt werden. Hierbei werden Zielsetzungen formuliert sowie normative und projektspezifische Grenzen gesetzt. Dies ist eine notwendige Voraussetzung zur Steuerung von Recherche und Kreation. • Source: Aktivitäten, die der Informationsbeschaffung in jeglicher Form, beispielsweise durch Zuhören, Lesen oder Beobachten im Feld, dienen. Diese sind Voraussetzung für nachfolgende Analyse oder Kreation. • Explore: Aktivitäten, deren Ziel in der Untersuchung von Phänomenen und Aussagen, beispielsweise mittels reflektierender Diskurse, Datenanalyse oder Simulation, liegt. Das so gewonnene Verständnis ist Voraussetzung, um Sinn und Muster für nachfolgende Syntheseschritte abzuleiten.

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Tab. 2   Vergleich unterschiedlicher Klassifizierungen von Lernaktivitäten Cognitive Lerntypoengagements logien (Jenull und Jacobsen 2013)

Learning Actions (Doorley und Witthoft 2012)

Ways we learn (Gensler 2015)

Frame

Activity Tags ThinkLets (Kolfschoten (Kosslyn 2017) et al. 2004)

Understand problem

Source

Discover

Saturate

Acquire

Explore

Analyze

Reflect

Reflect, Collaborate

Consolidate

Transfer information Evaluate Alternatives

Synthesize

Construct

Create

Flare

Deliver

Share

Saturate

Feedback Focus

Implement

Realize

Discuss, debate Synthesize, evaluate write, diagram, math, code, brainstorm

Develop alternatives Convey Master

Select

(Focus question)

Write, diagram, math, code, storm Speak, present

Monitor outcome

Respond

Choose an alternative Experience

Take action

• Consolidate: Aktivitäten, die zur Strukturierung und Bewertung durch heuristische Mustererzeugung oder mathematische Optimierung beitragen. Diese verdichteten Ergebnisse sind Voraussetzung für nachfolgende Kreation oder eine Auswahlentscheidung. • Construct: Aktivitäten, die auf Entwicklung eigener Ideen und Herstellen neuer Outputs – konzeptionell oder physisch – gerichtet sind. Brainstorming, Schreiben sowie Prototyping sind Voraussetzung für nachfolgende Überarbeitung aufgrund von Testen oder Analyse. • Deliver: Aktivitäten, die dem Sichtbarmachen von Lern- und Arbeitsergebnissen gegenüber einem ausgewählten Adressatenkreis dienen. Hierzu gehören

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beispielsweise das Durchführen von Experimenten oder Prüfungen sowie Präsentationen. Diese sind Grundlage für das Einholen externen Feedbacks und möglicher weiterer Iterationen im Lern-Lösungs-Prozess. Feedback: Aktivitäten, in deren Mittelpunkt kritische Bewertung und konstruktives Rückspiegeln der präsentierten Inhalte stehen. Feedback weist den Weg zur iterativen Verbesserung der Lern- und Arbeitsergebnisse. Select: Aktivitäten, die auf das Auswählen einer Option aus mehreren auf der Grundlage eines vorher entwickelten Bewertungsschemas zielen. Dies kann mithilfe geeigneter Wahlmethoden oder mathematischer Auswahlverfahren erfolgen. Implement: Aktivitäten, die auf das Anwenden von entwickelten Lösungen auf realweltliche Kontexte gerichtet sind. Implementierungen sind als praktische Outputs von Lernprozessen zu verstehen und liefern wichtige Inputs für nachfolgende Lern-Lösungs-Prozesse. Manage: Aktivitäten, die dem Projektmanagement, dabei insbesondere der Teamkommunikation, -koordination und dem Controlling gewidmet sind. Diese Tätigkeiten laufen typischerweise parallel zu allen anderen Aktivitäten ab und sind insbesondere in längerfristigen Prozessen von großer Bedeutung. Im Weiteren wird hierauf nicht eingegangen.

Diese Klassifizierung von Lernaktivitäten lässt sich, wie in Tab. 2 dargestellt, anderen Zuordnungslogiken der lernfunktionalen Orientierung aus den Bereichen Design, Collaboration Engineering und Pädagogik gegenüberstellen. Dabei ist zu erkennen, dass es viele Gemeinsamkeiten bezüglich der Informationsbeschaffung (source) und dem Kreieren (construct) gibt. Das Framing als Vorbereitung von Lern-Lösungs-Prozessen ist dagegen häufig nicht explizit ausgewiesen. Die Grenzen zwischen Analyse und Synthese (explore, consolidate) sind nicht immer eindeutig und somit oft als ein einziger Lernvorgang ausgewiesen. Das Entscheiden (select) und Umsetzen (implement) ist in Lehrkontexten eher selten, da dort der Fokus meist auf der Lernerfahrung und nicht der Lösung liegt. Lern- und Problemlösungsprozesse, wie sie in Lehrveranstaltungen, Workshops, Forschungs- oder Praxisprojekten durchgeführt werden, lassen sich so gesamthaft als Folgen dieser engagements beschreiben. Diese Aktivitätensequenzen werden hier in Anlehnung an sportliche Läufe zur Überwindung von Hindernissen als Parcours bezeichnet, eine Begriffsverwendung, die schon Jenull und Jacobsen (2013, S. 27–28) mit dem InnovationParcours als räumlicher Umsetzung von LernStationen auf LernPfaden aufgreifen.

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Kommunikative Interaktion Eine weitere wichtige Charakteristik von Lern-Lösungs-Prozessen ist die Form, in der die beteiligten Personen miteinander interagieren. In Bildungskontexten wird dabei meist aufgrund der Wissensasymmetrie zwischen den Rollen der Lehrenden und der Lernenden unterschieden, während in Praxiskontexten diese Rollenverteilung weniger ausgeprägt ist und je nach Phase unterschiedliche Personen Gestalter- oder Moderatorenfunktionen übernehmen können. Jonassen und Hung (2015, S. 15) verweisen auf die Bedeutung von Eigenaktivität, Austausch zwischen Lernenden sowie den Wechsel von Interaktionsformaten, um unterschiedliche Rollen einzunehmen, sich Fragestellungen von verschiedenen Seiten anzunähern und somit eine eigene Positionierung zu entwickeln (Reinmann-Rothmeier und Mandl 2001). In einer Meta-Studie zu 225 Einzeluntersuchungen zeigten Freeman et al. (2014, S. 8413–8414) die Vorzüge des aktiven Lernens gegenüber frontalen Lehrformen auf. Im Vergleich mit anderen Lehrmethoden wie service learning und learning communities zeigen zudem Kilgo et al. (2015), dass die Kombination von aktivem und kollaborativem Lernen am wirkungsvollsten ist. Vereinfacht lassen sich in Lernsettings fünf typische Interaktionsmuster unterscheiden (vgl. Dürr et al. 2016, S. 6), die in der heutigen Praxis dominieren: • • • • •

Plenarer Input (z. B. Vortrag, Filmvorführung, Pitch/Slam) Plenare Interaktion (z. B. Fishbowl, Planspiel, Podiumsdiskussion) Gruppen-Coaching (Team Coaching, Peer Instruction, Feedback) Gruppenarbeit (z. B. World Café, online-Chat, Brainstorming) Individualarbeit (z. B. online-Recherche, Schreiben, Blitzlicht)

Durch Kombination dieser beiden Aspekte, cognitive engagement und Interaktionsmuster, lassen sich nun Lern-Lösungs-Prozesse ganzheitlich beschreiben und bewerten.

3.3 Der Mehrwert interaktiver Lernprozesse Nach Paul und Wollny (2014, S. 51) führt der Entwicklungsprozess dazu, dass ein gemeinsames Verständnis über die zukünftige Ausrichtung der Organisation entsteht. Durch die gemeinsame Erarbeitung wird ein gewisser Konsens und damit Akzeptanz geschaffen, die für die nachfolgenden strategischen Entscheidungen zu einer besseren Koordinierung führen (ibid., S. 53). Lombriser und Abplanalp (2015, S. 258) ergänzen, dass der Prozess der Teamentwicklung und Integration

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dient und zudem einen emotionalen Wertekern aktiviert, in dem „Fairness, Gerechtigkeit, Harmonie, Vertrauen, Respekt, Offenheit, Freude, Spaß, Mut und Gemeinschaftsgeist“ enthalten sind. Wichtig ist auch die Haltung der Beteiligten im Prozess, für den Offenheit, Verstehen anderer Meinungen, sich in deren Lage Versetzen und aktives Zuhören notwendige Voraussetzungen sind (Hinterhuber 2011, S. 86). Wirkungen auf die Nachhaltigkeit lassen sich im Wesentlichen an den nachfolgend vorgestellten Prozessmerkmalen festmachen. Partizipation Leitbilder enthalten grundlegende Aussagen über die langfristige Ausrichtung und das organisationskulturelle Selbstverständnis. Erfolgen diese Festlegungen nicht einfach top-down, sondern werden gemeinsam mit MitarbeiterInnen unterschiedlicher Hierarchieebenen entwickelt, verstärkt dies die Identifikation mit den Ergebnissen. Die Prozessbeteiligten können die Folgen ihrer Interventionen selbst dann erkennen, wenn sich die von ihnen eingebrachte Perspektive im Aushandlungsprozess nicht durchsetzen konnte, denn das Ergebnis ist immer auch mit den Gegenentwürfen und dem diesbezüglichen Austausch von Argumenten assoziiert. Das Arbeitsbuch Gemeinwohlökonomie (Blachfellner et al. 2017, S. 68 f.) sieht die Mitentscheidung der Mitarbeitenden als einen zentralen Aspekt der Gemeinwohlorientierung einer Organisation. Diese werde durch ihren Einfluss auf „langfristig relevante Grundsatzentscheidungen“ (ibid., S. 69) gestärkt. Flankiert werden diese durch weitere Aspekte wie Legitimierung der Führungskräfte und innerbetriebliche Transparenz (ibid., S. 66–68). Die Standards der Global Reporting Initiative, einer internationalen Organisation, die seit über 20 Jahren das Nachhaltigkeitsreporting weiterentwickelt, sehen Angaben über den Prozess vor, wie Wertepositionen entwickelt (Disclosure 102-16: Values, principles, standards, and norms of behavior), wie Mitarbeiter (Disclosure 102-19: Delegating authority) und weitere Stakeholder (Disclosure 102-21: Consulting stakeholders on economic, environmental, and social topics) hierfür eingebunden werden (GRI 2018, S. 16–19). Das internationale Forschungs- und Beratungsinstitut Great Place to Work® hat ein Auditierungsmodell entwickelt, das Organisationen zu einer Standortbestimmung ihrer Unternehmenskultur verhelfen soll (GPTW Deutschland 2019). Die great places to work werden aus Befragungen abgeleitet, in denen MitarbeiterInnen Auskunft über unterschiedliche Kulturmerkmale und ihre Zufriedenheit mit ihrem Arbeitgeber erteilen. Unter Verwendung dieses Modells weisen Schubert und Kast (2015, S. 216 f.) darauf hin, wie eine wertorientierte Kultur Respekt, Stolz und

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Teamgeist der Mitarbeiter aktiviert und durch partizipative Prozesse gefördert werden kann. Auch Hollmann (2013, S. 7 f.) bestätigt einen Zusammenhang zwischen der Beteiligung von Mitarbeitern in Entscheidungsprozessen und nachhaltiger (Personal-) Führung. Perspektivwechsel Prozesse, bei denen die Beteiligten aus unterschiedlichen Arbeitsbereichen rekrutiert werden, sind durch eine natürliche Vielfalt an Perspektiven geprägt, sofern die jeweiligen Mitspracherechte nicht zu stark eingeschränkt werden. Diese Heterogenität bezieht sich in stringenten Beteiligungskonzepten nicht nur auf die jeweiligen Wissensbestände und Arbeitsumfelder, sondern auch auf individuelle Werthaltungen. Die längerfristige Perspektive im Leitbild wird dadurch auch durch eine größere Bandbreite zu berücksichtigender Auswirkungen organisationalen Handelns ergänzt. Dies führt, wie in Abschn. 2.3 dargestellt, zu einer verstärkt Stakeholder-orientierten Ausrichtung der Organisation und damit positiven Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit (Lombriser und Abplanalp 2015, S. 248, Porter und Kramer 2011). Wie in Abschn.  2.2 erläutert, hat das Entwickeln unterschiedlicher Perspektiven nicht nur mit der Provenienz der TeilnehmerInnen zu tun, sondern auch mit der Vielfalt an Rollen, die sie im Laufe der Bearbeitung einnehmen, sowie der Form, in der die Interaktion zwischen ihnen organisiert ist. Der Wechsel zwischen einer Moderatoren-, Rechercheur-, Gestalter- und Zuhörerrolle in verschiedenen Gruppenkontexten führt zu einer Verbesserung des Austauschs, der inspiriert, integriert und neue Zugänge hervorbringt (Reinmann-Rothmeier und Mandl 2001, Jonassen und Hung 2015, S. 15, Schubert und Kast 2015, S. 217). Dies wiederum fördert Aspekte einer nachhaltigen Unternehmenskultur wie Teamgeist, Glaubwürdigkeit und Respekt (Schubert und Kast 2015, S. 216). Nicht zuletzt werden Perspektivwechsel auch durch das iterative Vorgehen unter Aktivierung unterschiedlicher kognitiver Operationen forciert, wie sie im Rahmen des Parcourskonzepts erläutert wurden, da Wechsel des Bearbeitungsmodus zu neuen Erkenntnissen führen (Kosslyn 2017, S. 154 f.; Chi et al. 1994). Konstruktivität So wie Lernen ein individueller Konstruktionsprozess ist (vgl. Becker 2006, Mayer 2004, Seidel et al. 2008), kann das Herausarbeiten der Unternehmensessenz – in der Praxis häufig auch als Kern (The Living Core 2019), DNA (Neilson et al. 2006) oder Betriebssystem (Resourceful Humans 2019) einer Organisation bezeichnet – als gemeinsamer Konstruktionsprozess verstanden werden. Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dass er mehrfache Iterationen divergenter und konvergenter Phasen aufweist, kreativ, nichtlinear und somit ergebnisoffen ist.

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Hierin steckt auch eine der großen Herausforderungen für die Unternehmensführung: Inwiefern muss sie Leitplanken vorgeben oder bereit sein, Ergebnisse zu akzeptieren, die nicht ihrer Erwartung entsprechen? Grundsätzlich ist die Kombination aus top-down und bottom-up der gewählte Kompromiss, um den emergenten Charakter zu wahren, ohne die Richtlinienkompetenz ganz aufzugeben. Der Zusammenhang zur Nachhaltigkeit kann analog zur Beteiligung begründet werden: Nur wenn bei eingebundenen MitarbeiterInnen der Eindruck entsteht, Ihre Stimme habe einen Einfluss, weckt dies ein Gefühl von Anerkennung, Selbstwirksamkeit und Stolz auf das gemeinsam erzielte Ergebnis (Schubert und Kast 2015, S. 216, GRI 2018, S. 16, Hollmann 2013, S. 7 f.).

4 Praxisbeispiel: Anwendung des Parcoursmodells für die Leitbildentwicklung Kontext Im Jahr 2018 wurde das Parcoursmodell bei einem mittelständischen Verkehrsunternehmen unter der Projektbezeichnung „Entwicklung des Markenkerns der Organisation“ angewendet. Die Ergebnisse sollten als Grundlage für die zu erarbeitende Strategie dienen und als Ergebnisformat Bild-/Text-Kombinationen für die in Abb. 1 dargestellten Markenwerte Identität, Differenzierung, Vision und Versprechen enthalten. Im Gegensatz zu den in Abschn. 2 genannten Leitbildkonzepten werden hier Unternehmenswerte nicht als eigenes Element ausgewiesen, sondern als prägende Bestandteile aller anderen Markenwerte integriert, insbesondere Identität, Differenzierung und Versprechen. An Stelle einer Mission wird mit dem Versprechen die Perspektive des Kunden eingenommen, also eine Beschreibung, welcher Mehrwert bei der Inanspruchnahme der Dienstleistung wahrgenommen werden soll. Prozessdesign Die in Abschn.  2.2 eingeführte Methodik des Lern-Lösungs-Parcours mit wechselnden Interaktionsformaten wurde hier erstmals außerhalb der Hochschule angewendet. Es wurden zwei Gruppen gebildet: • Das Projekt-Team wurde aus Mitgliedern unterschiedlicher Hierarchiestufen gebildet. Neben dem oberen Management wurden aus allen Fachbereichen MitarbeiterInnen eingebunden, die als MultiplikatorInnen fungieren sollten. Die Aufgabe des Projekt-Teams war die Erarbeitung der vier Markenwerte in einem iterativen Prozess unter Einbindung des Support-Teams.

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Abb. 1   Unterscheidung der Wertdimensionen des entwickelten Markenkerns. (Eigene Darstellung)

• Das Support-Team hatte im Wesentlichen die Aufgabe, den Prozess zu strukturieren und Synthesen der unterschiedlichen Diskussionsergebnisse durchzuführen. Dafür wurde zunächst das Parcours-Modell mit dem Management entwickelt. Im Prozess bestand die Hauptaufgabe darin, aus Inputs und Feedbacks neue Markenwert-Optionen zu generieren. Diese wurden in Form von Bild-/ Text-Kombinationen präsentiert und als (Marken-) Welten bezeichnet. Aufgrund der unterschiedlichen Aufgaben unterscheiden sich die ­ LernLösungs-Parcours der beiden Gruppen, wie in den nachfolgenden Abb. 2a und 2b dargestellt. In einer vorbereitenden Sitzung vor den Leitbild-Workshops wurden Zielsetzung, Vorgehensweise und Ergebnisformate zwischen Projekt- und ­Support-Team vereinbart (Schritt 01: Projektdefinition). In einem zweiten Schritt war das Support-Team mit der Informationsbeschaffung beschäftigt, die zum einen mit dem Einholen und Sichten von Dokumenten, zum anderen mit dem

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Abb. 2   a Lern-Lösungs-Parcours für das Projekt-Team. (Eigene Darstellung)

Abb. 2   b Lern-Lösungs-Parcours für das Support-Team. (Eigene Darstellung)

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Führen von Interviews mit Mitgliedern des Projekt-Teams verbunden war (Schritt 02: Recherche). Für das Projekt-Team bedeuteten die entsprechenden Aufgaben das Verfügbarmachen dieser Informationen (Schritt 02: Infobereitstellung). Auf Grundlage dieser Daten entwickelte das Support-Team Bild-Text-Welten in einem vierstufigen Prozess: Zunächst wurden Daten und Interviews ausgewertet und die Ergebnisse geordnet (Schritt 03: Strukturierung), dann wurden die Analyseergebnisse zusammengefasst und daraus Muster abgeleitet (Schritt 04: Mustererzeugung). Anschließend wurde auf die prägnantesten Markenwerte fokussiert (Schritt 05: Auswahl), in einem kreativen Assoziationsprozess mit Textbeschreibungen und Visualisierungsbeispielen angereichert und in eine verstehbare, aber auch emotionalisierende Form gebracht (Schritt 06: Weltenschöpfung). Diese Arbeitsergebnisse bildeten die Grundlage für die nun folgenden ­Leitbild-Workshops mit dem Projekt-Team, die in folgenden Schritten abliefen: Nach Klärung von Zielsetzung und Vorgehensweise im jeweiligen Workshop (Schritt 07: Workshopauftakt) bekamen die TeilnehmerInnen die Aufgabe, zunächst, wie in einer Ausstellung, jeweils individuell einen stillen Rundgang durch die anfangs zehn verschiedenen Welten zu machen (Schritt 08: Weltenrundgang). Dabei wurden sie aufgefordert, zunächst nur zu sichten, nicht zu bewerten, und sich erst in einer zweiten Runde Notizen auf einem Block zu machen. Mit diesem Vorgehen sollten stereotypische Reaktionsmuster der Bewertung zunächst unterdrückt und die Welten offenen Sinnes aufgenommen werden. In einem nächsten Rundgang durften die Exponate – immer noch still – kommentiert und durch bereitgestellte Bild- und Textmaterialien ergänzt werden (Schritt 09: Weltenkritik). Erst beim nächsten gemeinsamen Rundgang wurden Wahrnehmungen und Argumente bezüglich jedes Weltenexponats sprachlich ausgetauscht und durch das Support-Team dokumentiert (Schritt 10: Weltenanalyse). Am Ende des Workshops wurde entschieden, ob eine weitere Iteration erforderlich sei oder man den Beschluss zu den final abgestimmten Markenwerten fassen wolle (Schritt 11: Entscheidung). Im ersteren Fall wurde der Prozess ab Schritt 04 wiederholt. Nach Abschluss der Leitbild-Workshops und Beschluss erfolgte die Kommunikation des finalen Leitbilds (Schritt 12: Diffusion) und der Roll-out im Unternehmen (Schritt 13: Umsetzung). Ergebnisse und Einordnung Insgesamt wurden drei Iterationen durchgeführt, im Zuge derer durch Auswahl, Rekombination und Synthese aus den zehn anfänglichen Bild-Text-Welten am Ende vier übrigblieben. In Abb. 3 ist ein Zwischenergebnis dargestellt, um das Konzept der Bild-Text-Welten zu illustrieren und Abb. 4 zeigt die Überschriften

Abb. 3   Beispiel einer Bild-Text-Welt zur Beschreibung eines Markenwerts. (Eigene Darstellung)

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Abb. 4   Finale Definition des Markenkerns über vier Markenwerte. (Eigene Darstellung)

der finalen Markenwerte, die gemeinsam den Markenkern des Unternehmens bilden und im Anschluss als ganzheitliches Leitbild ausformuliert wurden. Einige Besonderheiten des Prozesses sollen hier hervorgehoben werden, um Bezüge zwischen Arbeitsergebnis, Prozess und Nachhaltigkeit herzustellen: • Die Vision enthält über die Vorstellung, intelligente, also umwelt- und nutzerfreundliche Mobilität anbieten zu wollen, einen klaren Nachhaltigkeitsbezug. Das Versprechen besteht darin, NutzerInnen und MitarbeiterInnen größtmögliche Entfaltungsspielräume zu bieten. Bei der Beschreibung ihrer Identität kam das Projekt-Team zu dem Schluss, dass nicht die entwickelte Dienstleistung, sondern die Art und Weise des wertschätzenden miteinander Arbeitens prägendes Merkmal des Unternehmens sei. Allein beim Differenzierungsmerkmal ist kein klarer Nachhaltigkeitsbezug erkennbar. • Eine Herausforderung im Prozess war die Zusammensetzung des ­ ProjektTeams, das vergleichsweise führungslastig war und nicht die gesamte Vielfalt

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des Unternehmens abbildete. Dadurch wurden in manchen Prozessphasen aufgestellte Hypothesen zu wenig infrage gestellt und präzisiert. Einige Beteiligte hatten außerdem Schwierigkeiten mit dem Abstraktionsgrad der Bilderwelten und suchten vergeblich nach ikonischen Bezügen, die näher an ihrem Arbeitsalltag waren. • Als Folge dieser beiden Faktoren wurde bei einigen die Tendenz sichtbar, sich beim Blick auf Wesenskern und Zukunft konkretistisch an Naheliegendem und Bekanntem statt an übergeordneten, damit verbundenen Vorstellungen zu orientieren.

5 Reflexion und Ausblick Die konstituierenden Merkmale von Leitbildern werden in der Literatur zwar sehr unterschiedlich voneinander abgegrenzt, doch gibt es trotz dieser Vielfalt ein hohes Maß an Übereinstimmung, was deren Wirkungen betrifft. Sie weisen als Fundament für darauf zu entwickelnde Strategien einen starken Zukunftsbezug und eine klare Werteorientierung auf, die sowohl nach innen wie nach außen wirken sollen. Als wesentliche Treiber Richtung Nachhaltigkeit wurden hier Langfristigkeit, Ganzheitlichkeit und Sinnstiftung identifiziert. Die Frage, ob ein Leitbild zu mehr Nachhaltigkeit in einer Organisation führt, kann somit grundsätzlich bejaht werden. Die zweite Hypothese bezog sich auf die Auswirkungen, die die Gestaltung des Entwicklungsprozesses auf eine nachhaltige Orientierung der Organisation hat. Auch hier ist zunächst festzuhalten, dass sich die beschriebenen Vorgehensweisen teils signifikant bezüglich Teamzusammensetzung, Entscheidungslogik, Arbeitsinhalten, Phaseneinteilung und Formen des kommunikativen Austauschs unterscheiden. Dies bildet oft nur die konkurrierenden Literaturuniversen ab, einerseits die betriebswirtschaftlich orientierte Managementliteratur mit dem Schwerpunkt auf Instrumentarien und Lösungsergebnissen, andererseits s­ozial-psychologisch orientierte Publikationen mit Schwerpunkt auf Prozessen und Kommunikation. Um die empfohlenen Vorgehensweisen vergleichen und bewerten zu können, wurde das Konzept des Lern-Lösungs-Parcours vorgestellt, bei dem Lösungsschritte und Formen der kommunikativen Interaktion in einem integrierten Modell zusammengefasst sind. Mithilfe dieses Modells und der Beschreibungen aus der Literatur lassen sich Grundsätze für gelingende Prozesse ableiten, die mit den Begriffen Partizipation, Perspektivwechsel und Konstruktivität zusammengefasst wurden und sich positiv auf die Nachhaltigkeit der Organisation auswirken.

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Zur Veranschaulichung der Bedeutung von Inhalten und Prozess der Leitbildentwicklung, wurde ein Anwendungsbeispiel aus der Praxis vorgestellt. Während bei den entwickelten Leitbildinhalten, im Beispiel als Markenwerte bezeichnet, ein klares nachhaltiges Profil sichtbar wird, führte die begrenzte Heterogenität der Prozessbeteiligten zu einer eher begrenzten Partizipation und damit letztlich auch einem geringeren Maß an Ergebnisoffenheit bzw. Konstruktivität. Die Zielsetzungen der Nachhaltigkeit wurden in diesem Punkt also nur teilweise erreicht. Der Lithmustest einer erfolgreichen Umsetzung kann ohnehin erst nach Jahren durchgeführt werden, wenn die auf dem Leitbild aufbauende Strategie zu Veränderungen in der Organisation und der durch sie beeinflussten Umwelt führt. Die Hauptaufgabe von Leitbildern ist es, eine Organisation zu langfristigem Erfolg zu führen. Dieser Aufsatz kommt zu dem Schluss, dass mit diesem Ziel auch positive Auswirkungen auf die Gesellschaft im Allgemeinen erfolgen im Sinne von Verhaltensweisen, die durch ein höheres Maß an Nachhaltigkeit gekennzeichnet sind. Nachhaltigkeit hat allerdings sehr viele Dimensionen, die hier nur auf einem vergleichsweise abstrakten Niveau beschrieben werden konnten. Tatsächlich gibt es zahlreiche Beispiele, wie Erfolge in einer Nachhaltigkeitsdimension durch Verluste in einer anderen konterkariert werden können. Dies macht den weiteren Forschungsbedarf bezüglich einer differenzierten Darstellung und Bewertung der vielschichtigen Auswirkungen organisationalen Handelns sichtbar.

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Dürr, Peter,  Prof. Dr.-Ing., MSc., Studium Economics (UC Irvine), Transportation (MIT), Promotion Stadt- und Verkehrsplanung (TU München). Director Research Think Tools AG, Senior Manager Horváth & Partners, Lehrgebiet Wissens- und Kommunikationsmanagement und Co-Studiengangsleitung Management Sozialer Innovationen Hochschule München, Visiting Scholar UC Berkeley CITRIS-DDI, selbstständiger Berater Strategie & Kommunikation. Letzte Veröffentlichungen: Dürr, P., P. Spier, A.M. Lödermann, A. Nissler. 2016. Lehrraum der Zukunft. Schriftenreihe Innovation und Qualität der Lehre, Hochschule München. Dürr, P., N. Tschauner, G. Zollner. 2015. Versicherungen als Solidargemeinschaften. In Nachhaltigkeit messbar machen, Hrsg. Sprinkart KP, 245–270. Regensburg: Walhalla. Hipp, M., P. Dürr, K. Sailer, K.P. Sprinkart. Hrsg. 2015. Praxis gesellschaftlicher Innovation. Regensburg: Walhalla. Sprinkart, K.P., Dürr, P., Hipp, M., Sailer, K., Hrsg. 2015. Netzwerke gesellschaftlicher Innovation. Regensburg: Walhalla.

Gemeinwohlbilanz und Balanced Scorecard – Überlegungen für eine Annäherung Wolfgang Gehra und Julia Schmidt

Zusammenfassung

Seit 2010 hat die Initiative der Gemeinwohl-Ökonomie in Europa und Südamerika eine Vielzahl von Menschen, Unternehmen und Kommunen inspiriert, ihr Handeln am Gemeinwohl auszurichten. Hintergrund ist die Vision der Gemeinwohl-Ökonomie, eine Marktwirtschaft zu etablieren, die wirtschaftliches Handeln in Einklang mit ethischen Werten bringt. Eine Werte-Bezugsgruppen-Matrix dient hierbei als Orientierungssystem der Berichterstattung und Entwicklung sowie als Zielsystem für die externe Bewertung unternehmerischen Handelns. In diesem Beitrag wird die Verbindung der G ­ emeinwohl-Matrix mit der Balanced Scorecard vorgestellt. Durch die Verknüpfung beider Systeme fungiert die Gemeinwohl-Matrix über ihre Funktionen als Nachhaltigkeitsbericht und Organisationsentwicklungsinstrument hinaus auch als Teil der betriebswirtschaftlichen Steuerung und profitiert somit von der strategischen Relevanz des etablierten ManagementTools. Die in vielen Organisationen verfügbare Datenbasis zur Kennzahlenermittlung im Rahmen der Balanced Scorecard-Erstellung erleichtert den Einstieg in ein gemeinwohlorientiertes Wirtschaften und befruchtet durch einfache Anpassungsprozesse die Strategieimplementierung. Es wird davon

W. Gehra (*) · J. Schmidt  München, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Schmidt E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_6

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a­ usgegangen, dass eine nachhaltige Einflussnahme umso mehr wirkt, je tiefer die Zielorientierung auf das Gemeinwohl hin in der DNA des wirtschaftlichen Denkens und Handelns von Organisationen implantiert ist.

1 Einleitung Das Konzept der Gemeinwohl-Bilanz als Instrument einer Nachhaltigkeitszertifizierung ist ein mittlerweile von über 400 Organisationen, vorwiegend im deutschsprachigen Raum, angewendeter Kriterienkatalog. Darunter sind namhafte Unternehmen wie die Sparda Bank München, die Krankenkasse BKK ProVita oder der Sportartikelhersteller Vaude. Mithilfe einer Matrix, die 20 Felder umfasst, werden maximal in Summe 1000 Plus- bzw. maximal 3600 Minuspunkte vergeben. Das erstellte Testat der Gemeinwohl-Bilanz ist zwei Jahre gültig. Aufgrund des mindestens zweijährigen Rhythmus, manche Unternehmen erstellen ihre Folgebilanz erst später, hat die Gemeinwohl-Bilanzierung eher einen Zertifizierungscharakter mit einem nicht unerheblichen zusätzlichen Aufwand der Erstellung. Dem gegenüber steht das weit verbreitete Konzept der Balanced Scorecard, das als Teil der täglichen Steuerung einer Organisation mittels Kennzahlen im Unternehmensalltag implementiert ist. Meist werden die dazu notwendigen Daten im betrieblichen Rechnungswesen permanent und parallel zur operativen Leistungserstellung erhoben. Hieraus ergibt sich die Fragestellung für die folgenden Überlegungen, inwieweit eine Annäherung der beiden Konzepte Gemeinwohl-Bilanz und Balanced Scorecard den arbeitsaufwendigen Zertifizierungscharakter des ersteren Konzepts in die parallel mitlaufende Buchhaltungssystematik des zweitgenannten Ansatzes überführen ließe, um letztendlich die Verbreitung der Gemeinwohlorientierung mit Hilfe der Gemeinwohl-Bilanz zu fördern.

2 Die Gemeinwohl-Bilanz Die Gemeinwohlökonomie versteht sich als intrinsisch motivierte, globale ­Open-Source-Bewegung mit dem Ziel der Durchsetzung einer ethischen Marktwirtschaft, die nicht die Vermehrung von Geldkapital anstrebt, sondern ein gutes Leben für alle. Höchster Wert ist hierbei die Menschenwürde, aber auch die ökologische Verantwortung spielt eine große Rolle (Internationale Delegiertenversammlung 2018). Mithilfe der Gemeinwohl-Bilanz und der G ­ emeinwohl-Matrix (Matrix-Entwicklungsteam 2017) sollen sich Unternehmen staatliche und

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u­nternehmerische Vorteile verschaffen können, z. B. bei Steuern, Krediten und Aufträgen. Die Gemeinwohlökonomie-Bewegung setzt neue Werte in Wirtschaft und Gesellschaft. Alle Ideen für eine veränderte nachhaltige Wirtschaftsordnung werden in demokratischen Prozessen entwickelt. Diese Werte sollen im unternehmerischen Alltag gelebt werden. Ein weiteres Ziel ist, kapitalistisches Wirtschaften und ungleichmäßige Gewinnverteilung zu begrenzen. Wirtschaftswachstum soll demnach nur im Rahmen der sozialen und ökonomischen Verträglichkeit erfolgen, sodass auch im gesamten politischen Kontext keine Übermachten durch finanzielle Mittel entstehen können (Internationaler Verein zur Förderung der Gemeinwohl-Ökonomie e. V. 2019). Die Bilanz erscheint in Form einer Matrix (s. Abb. 1). Die vertikale Linie, also die Y-Achse, bildet die verschiedenen Stakeholder-Gruppen, hier Berührungsgruppen, mit Buchstaben von ‚A‘ bis ‚E‘ ab. A) „Lieferant*innen B) Eigentümer*innen und Finanzpartner*innen C) Mitarbeitende D) Kund*innen & Mitunternehmende E) gesellschaftliches Umfeld“ (Matrix-Entwicklungsteam 2017, S. 8)

Abb. 1   Gemeinwohlmatrix 5. 0 (Matrix-Entwicklungsteam 2017)

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Auf der X-Achse werden entgegengesetzt die für die Gemeinwohlökonomie unerlässlichen Werte dargestellt. Diese sind: 1. „Menschenwürde, 2. Solidarität und Gerechtigkeit, 3. ökologische Nachhaltigkeit, 4. Transparenz und Mitentscheidung“ (Matrix-Entwicklungsteam 2017, S. 8). So entspricht beispielsweise A1 der Menschenwürde in der Zulieferkette, B2 der sozialen Haltung zum Umgang mit Geldmitteln etc. (Matrix-Entwicklungsteam 2017).

3 Balanced Scorecard Die Balanced Scorecard ist ein von Kaplan und Norton im Jahr 1992 entwickeltes strategisches Measurement-Tool (Kaplan und Norton 2018, Vorwort VIII). Aus einem verbesserten Kennzahlen-System ist im Laufe der Zeit, unter Mithilfe diverser internationaler Beratungsunternehmen, ein anerkanntes Führungssystem geworden. Durch praktische Erfahrungen und das wachsende Interesse werden stetig Weiterentwicklungen veröffentlicht (Kaplan und Norton 2018, Vorwort VIII f.). „[Die BSC] (Sie) fördert den Dialog zwischen Geschäftseinheiten, Bereichsleitern und Vorständen, nicht nur in Bezug auf kurzfristige finanzielle Ziele, sondern auch in Bezug auf Formulierung und Durchführung einer bahnbrechenden Strategie für die Zukunft“ (ebd. S. 13). Ziel der Einführung einer BSC im Unternehmen ist es, einen kontinuierlichen Prozess zu implementieren, der die „langfristigen Ziele und Strategien“ der Geschäftseinheiten in das Unternehmen einbindet (ebd. S. 13). Die Balanced Scorecard ist ein Kennzahlensystem, das Daten verschiedener Quellen zu einem Aussagesystem kombiniert (Kühnapfel 2019, S. 1). „Diese Inputdaten sind ganz unterschiedlicher Natur, mal quantitativ und objektiv ermittelbar (z. B. stammen sie aus der Kostenrechnung oder der Personalbuchhaltung), mal sind es subjektive Erwartungswerte“ (ebd. 2019, S. 1). Neben den monetären werden auch die nicht monetären Ziele wie Kundenzufriedenheit berücksichtigt, denn sie tragen zur Erfüllung der Ziele bei und dürfen nicht außer Acht gelassen werden. Im Gegensatz zu den bloßen Finanzkennzahlen handelt es sich hierbei um Frühindikatoren, wodurch sich eine negative Veränderung frühzeitig erkennen und verhindern lässt (Barthélemy 2011, S. 59).

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Abb. 2   Kategorisierung der BSC nach Perspektiven – Darstellung in Anlehnung an Kaplan und Norton (1997), S. 9 nach (Gerberich et al. 2006)

Die vier dargestellten einzelnen Perspektiven einer BSC (s. Abb. 2) setzen sich mit unterschiedlichen Fragestellungen auseinander. Die ‚Finanzperspektive‘ erörtert die Frage, welche Zielwerte sich aus den finanziellen Erwartungen der Kapitalgeber als Stakeholder ableiten lassen. Die ‚Kundenperspektive‘ untersucht, welche Ziele sich aus den Anforderungen der Kunden ergeben. In der ‚Prozessperspektive‘ werden interne Prozesse, z. B. in der Produktion, den Dienstleistungen oder dem Marketing, analysiert. In der ‚Potenzial-, Lern- oder auch Mitarbeiterperspektive‘ müssen die Potentiale des H ­ uman-Resources-Managements analysiert werden (Gerberich et al. 2006, S. 41). Das große Interesse an der Balanced Scorecard ist laut Horváth und Partners durch eine Reihe von Managementproblemen begründet. Das dynamische Arbeitsumfeld erfordert eine effiziente Implementierung der notwendigen Strategien. Gerade hier bestehen erhebliche Missstände, da die Umsetzung schlecht messbarer Aussagen in klar definierte Zielformulierungen und die dazugehörigen Maßnahmen enorme Schwierigkeiten bereiten. Die Studie von Vohl aus dem Jahr 2014, „Balanced Scorecard im Mittelstand – Studie zum Einsatz der BSC in mittelständischen Unternehmen“, zeigt, dass die BSC durchaus auch im Mittelstand verankert ist. Ein Vergleich (in Form einer Tabelle, s. Abb. 3) zu anderen bisherigen Studien verdeutlicht, wie hoch das Interesse an einer Implementierung der BSC in Unternehmen ist. Horváth und Partners erhielten

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Abb. 3   Tabelle zu Studien bzgl. Anwendung der BSC in Organisationen, (Vohl 2014, S. 2)

das Ergebnis, dass 78 Prozent aller befragten Unternehmen den Nutzen einer BSC als positiv ansehen. Die anderen Studien hingegen untersuchten direkt den Implementierungsgrad in den Unternehmen und zeigten eine Implementierung bei 17,2 Prozent bis 38 Prozent der befragten Unternehmen (Vohl 2014, S. 2).

4 Analyse der Gemeinwohlbilanz und der Balanced Scorecard Die detaillierte Analyse auf Gemeinsamkeiten folgt der Systematik einer qualitativen Inhaltsanalyse nach Kuckartz 2018), der die „deduktiv-induktive Kategorienbildung“ entspricht (ebd, 2018, S. 95). Hierbei wird mit „­ [..]A-prioriKategorien begonnen und im zweiten Schritt folgt die Bildung von Kategorien bzw. Subkategorien am Material […]“. Mit einer Art Raster, werden die Gemeinwohlbilanz und die verschiedenen Balanced Scorecard-Fragestellungen gescannt, d. h., das vorhandene Material wird auf den entsprechenden Inhalt durchsucht und dabei kategorisiert, im Nachfolgenden auch „Tag“ genannt. Im zweiten Schritt erfolgt dann induktiv die Bildung von Subkategorien, wobei nur das der jeweiligen Hauptkategorie zugeordnete Material herangezogen wird (ebd. 2018, S. 96). Die Untersuchung, Analyse und Kategorisierung erfolgt mit Microsoft Excel, einem Standardtool in vielen Unternehmen. Dies ermöglicht einen freien Zugriff auf die erstellten Daten zur eventuellen Weiterverwendung und Anpassung an die Organisation.

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5 Analytischer Vergleich von Kennzahlen und verpflichtenden Indikatoren der Gemeinwohl­­ Bilanz Die Schwierigkeit einer vergleichenden Analyse beider Systeme liegt in ihrer Offenheit begründet. Die Vorgaben sowohl in der Balanced Scorecard als auch in der Gemeinwohl-Matrix sind eher vage formuliert. Die Balanced Scorecard als Erweiterung für das traditionelle Rechnungswesen beinhaltet allerdings die notwendig gewordene Bewertung von immateriellen und intellektuellen Vermögenswerten eines Unternehmens. Darüber hinaus stellen traditionelle finanzielle Kennzahlen lediglich vergangene Ereignisse dar (vgl Kaplan & Norton, 1997 aus Boersch und Elschen 2007, S. 139). Die Organisationen sind für eine erfolgreiche Umsetzung der BSC nicht verpflichtet, sich an eine gewisse Anzahl von Kennzahlen zu halten. Diese werden als „Manifestation einer Strategie“ [gesehen], „weil alle Kennzahlen in einer UrsacheWirkungsbeziehung miteinander verknüpft sind“ (ebd. 2007, S. 144). Daraus ist zu schließen, dass je nach Strategie für die jeweilige Art des Unternehmens andere Kennzahlen die größte Bedeutung besitzen und somit valide sind. Die Gemeinwohlökonomie richtet sich an alle Arten von Organisationen und Unternehmen. Kleineren Unternehmen ist es jedoch erlaubt, eine verkürzte Kompaktbilanz zu erstellen, um die ersten Hürden zu nehmen. Kleinstunternehmen mit weniger als zehn Mitarbeitern können diese auch dauerhaft ausführen. Für die Erstellung der vorliegenden Arbeit wurden die sogenannten ‚verpflichtenden Indikatoren‘ der Vollbilanz als Datenbasis verwendet. Alle Fragestellungen des Berichtbogens wurden dennoch gesichtet. Die hier existierenden fast 450 verschiedenen Fragestellungen des Berichtbogens sind inhaltlich sehr lang, teilweise zu gemeinwohlspezifisch oder enthalten Fragestellungen, die nicht im regulären Betriebsablauf, ohne Gemeinwohlbilanzierung, erfasst werden können. Ein Beispiel für eine solche Frage ist: „Welche der Produkte und Dienstleistungen sind Luxusprodukte, die meistens ‚nur‘ dem eigenen Status dienen und durch preiswertere, weniger ressourcenverbrauchende Produkte und Dienstleistungen des einfachen oder guten Lebens ersetzt werden können?“ Hingehen wurde der hierzu passende verpflichtende Indikator des ­GWB-Berichtes „Anteil der Nutzenart in % des Gesamtumsatzes: Statussymbole bzw. Luxus (… %)“ berücksichtigt, um die Vollständigkeit der Arbeit zu gewährleisten. (Matrix-Entwicklungsteam 2017, S. 92). Die oft kürzer und direkter verfassten ‚verpflichtenden Indikatoren‘ der Gemeinwohlbilanz sind einfacher und schneller zu beantworten, deshalb kann sich der

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‚Erstanwender‘ besser zurechtfinden. Die Auswahl der in der Analyse behandelten Fragestellungen ist demnach nicht wertend zu sehen, sondern dient der Reduzierung der Komplexität für Einsteiger auf dem Gebiet der Gemeinwohlbilanzierung. Zugunsten der Lesbarkeit ist bei den einzelnen Kennzahlen kein gesonderter Quellverweis zu finden. Die erarbeitete Excel-Datei (insbesondere das Tab der Tabelle der gesamten geprüften Kennzahlen mit dem Namen ‚Kennzahlen Tag Treffer‘) weist die Herkunft der Fragestellungen jedoch jeweils in einzelnen Spalten aus, um die stetige Nachvollziehbarkeit zu gewährleisten. Die kompletten Fragestellungen der Gemeinwohlbilanz entstanden aus dem „Arbeitsbuch zur Gemeinwohlbilanz 5.0“ des Matrix-Entwicklungsteam 2017), es handelt sich um die verpflichtenden Indikatoren zur Erstellung der Vollbilanz. Die Kennzahlen und Fragestellungen der Balanced Scorecard entspringen verschiedenen Quellen, um eine Bandbreite der verschiedenen Arten von Scorecards abzubilden. Aufgrund dessen ist die Masse der analysierten BSC-Kennzahlen in diesem Fall als relevant zu erachten. Es stellt sicher, dass möglichst viele verschiedene Organisationen angesprochen werden und eine Verallgemeinerung durch unterschiedliche Ansätze stattfindet.1 Die Tabelle (s. Abb. 4) umfasst 400 verschiedene Kennzahlen, die jeweils in den Zeilen unter der Überschrift-Frage/KPI2 in ‚Spalte A‘ zu finden sind. Die nächsten vier Spalten sortieren die Kennzahlen in die, nach der Balanced Scorecard von Kaplan und Norton, vorgegebenen Perspektiven ‚Prozess B‘, ‚Kunden C‘, ‚Mitarbeiter D‘ und ‚Finanzen E‘. Die folgenden Spalten F–J sortieren die Kennzahlen nach ihrer Herkunft. Die Reihenfolge hierbei ist frei gewählt. Um die Nachvollziehbarkeit und Objektivität in allen Schritten zu gewährleisten, sind alle Daten des Ursprungs in der Tabelle zu finden. Die Kennzahlen aus dem Buch von Hennig et al., „100 Kennzahlen der Balanced Scorecard“, sind mit ‚BSC 100‘ gekennzeichnet und befindet sich in ‚Spalte F‘. Danach folgt ‚G‘ mit den Kennzahlen mit der Überschrift

1‚Klassische

Kennzahlen‘ der BSC finden sich von Hennig et al. (2008), aus dem Titel „100 Kennzahlen der Balanced Scorecard“ und Jürgen Fleig (2019) aus dem Kapitel zur Balanced Scorecard des Management Handbuchs. Zur Erweiterung des Portfolios wurden zwei spezialisierte Quellen zusätzlich gewählt: Friedag und Schmidt (2011) mit dem Taschenbuch „Balanced Scorecard“ sowie Neßler und Fischer (2013) mit dem Buch „Social-Responsive Balanced Scorecard“. Beide Quellen befassen sich auch mit gesellschaftlichen Aspekten der BSC und liefern in der Analyse entsprechende Kennzahlen. 2KPI bedeutet Key Performance Indicator, Betriebswirtschaftliche Kennzahlen zu Leistungsmessung. Diese Abkürzung wurde jedoch nur zu verbesserten Lesbarkeit in der Tabelle verwendet.

Abb. 4   Auszug der Tabelle in Excel, Analyse der Kennzahlen sortiert. (Eigene Darstellung 2019)

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‚BSC-Wissen‘; hierbei handelt es sich um die Kennzahlen aus dem Buch bzw. der Internetseite von Dr. Fleig (2019). ‚Spalte G‘ zeigt die Daten der Gemeinwohlökonomie; gekennzeichnet wurde diese durch die Spaltenüberschrift ‚GWM Pflicht‘. Mit der Kennzeichnung in ‚Spalte I‘ sind die Daten mit der Überschrift ‚CSR-BSC‘ gekennzeichnet und stammen aus dem Buch von Neßler und Fischer (2013). Die letzte Spalte mit Daten zur Herkunft ist die ‚Spalte J‘, die Daten aus dem Taschenguide zur BSC von Friedag und Schmidt (2011) zeigt. Anschließend erfolgte die Sortierung nach Attributen, die in der Spalte mit der Überschrift ‚Tag‘ zu finden sind. Ein ‚Tag‘ ist ein „Markierungselement von Beschreibungssprachen (z. B. HTML) zur Strukturierung der Dokumente“ (Duden 2019) und kennzeichnet die jeweiligen Daten mit Attributen oder auch Codes. Diese sortieren im ersten Schritt nur allgemein und a-priori, was der Übersicht und Sortierung dient. Das heißt, dass ein ‚Tag‘ nicht unbedingt im wissenschaftlichen Sinne korrekt sein muss. Das Tag ‚Kundenwünsche‘ beispielsweise ist hier lediglich ein Attribut, das angibt, dass die Kennzahl mit Kunden und der potenziellen Erwartungshaltung der Kunden zusammenhängt. So finden sich unter dem genannten ‚Tag‘ sowohl Daten wie „Anzahl der Produkt- und Dienstleistungsinnovationen mit sozial-ökologischer Verbesserung, die durch die Mitwirkung von Kund*innen entstanden sind“ oder „Anteil der Produkte mit ausgewiesenen Inhaltsstoffen (in % des Umsatzes)“. Ein weiteres Beispiel zur Verdeutlichung ist unter dem ‚Tag‘ ‚Mitarbeiterzufriedenheit‘ zu finden. Hier wurden sowohl die Kennzahl „Kosten aufgrund von Arbeitsunfällen“ als auch „Umsetzung der Verbesserungsvorschläge“ codiert. Beide Kennzahlen verbindet ‚das Befinden von Mitarbeitern‘, auch wenn Arbeitsunfälle so nicht mit der allgemeinen Zufriedenheit verbunden werden können. Die Filterfunktion der ‚Tags‘ ist wichtig, um größtmögliche Überschneidungen zu finden, und ersetzt die Codierung in der qualitativen Analyse. Der Prozess wurde in mehreren Schleifen überprüft, sodass einzelne Kennzahlen teilweise mit dem bestmöglichen Tag versehen wurden, um möglichst wenige Daten mit einzelnen Tags ohne Dopplung entstehen zu lassen. Dies wurde in einer Pivot-Tabelle überprüft und ausgewertet. So sind die Zeilen von 400 Kennzahlen in der Tabelle mit insgesamt 50 Tags versehen worden. Diese sind:

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Abwesenheit Anlagen Anlagestrategie Arbeitsverträge Auslastung Mitarbeiter Ausschuss Berichtswesen Betriebszugehörigkeit Bewerbung Cashflow Deckungsbeitrag Durchlaufzeit Erfolgsrate Fachpresse Fluktuaonsrate Fremdfirmen Fremdkapital

Gesellschaliche Verantwortung Gewinn Steuern Herstellkosten Informaon Innovaonen Kapital Korrupon Kundenumsatz Kundenwünsche Kundenzufriedenheit Lager Lieferungen Lobby Marktanteil Mitarbeiter Engagement Mitarbeiterzufriedenheit Mitbesmmung

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Ökologische Nachhalgkeit Preisbildung Produktalter Produkon Produkvität Prozess Reichweite Soware Spenden Umsatz Umsatz Weiterbildung Werbung Wiederkäufer Zeichnungen Zukunsinvesonen Produkte

Die Kennzahlen mit den Tags ‚Anlagestrategie‘, ‚Zukunftsinvestitionen‘ und ‚Lobby‘ entfallen aus der weiteren Analyse, da sie nur in der Gemeinwohlökonomie vorkommen und somit keine Anwendung in der Balanced Scorecard finden. Ebenso wurde mit den Daten mit dem Tag ‚Spenden-Umsatz‘ verfahren. Hier kam es zu einer Übereinstimmung zwischen der GWÖ und der BSC nach Friedag. Jedoch ergab die Einzelprüfung, dass der gemeinsame Zusammenhang fehlt. Bei Friedag sind Spenden als Umsatz zu sehen, da die Kennzahlen in dem Bereich eines gemeinnützigen Vereins Anwendung finden. In der ­GWM-Fragestellung wurde nach der ‚Offenlegung von Parteispenden auf Basis des Umsatzes‘ gefragt; hierzu gibt es kein Pendant in den weiteren Kennzahlen. Der gegenläufige Test in einer Pivot-Tabelle ergab eine weitere Reduzierung der zu vergleichenden Kennzahlen. Alle ‚Tags‘, die zwar Daten aus Fragestellungen der BSC beinhalten, aber keine weiteren Fragen aus der Gemeinwohlökonomie, wurden nicht in die weitere Analyse mit einbezogen. Eine Gemeinsamkeit oder Überschneidung ist aufgrund der fehlenden Vergleichsbasis ausgeschlossen.

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Entfallen sind aus diesem Grund: Auslastung Mitarbeiter

Lager Lieferungen

Ausschuss

Lobby

Deckungsbeitrag

Produktalter

Durchlaufzeit

Produkon

Erfolgsrate

Produkvität

Fachpresse

Prozess

Herstellkosten

Reichweite

Informaon

Soware

Innovaonen

Wiederkäufer

Kundenumsatz

Zeichnungen

Kundenzufriedenheit

Die Auswahlprozesse entstehen nicht aus der Bedeutung oder Notwendigkeit für die jeweilige Quelle, sondern ergeben sich rein aus der analytischen und qualitativen Betrachtung bezüglich Gemeinsamkeiten. Die einzig wortgetreue Übereinstimmung lässt sich in den Kennzahlen des Tags ‚Fluktuationsrate‘ finden (vgl. Abb. 5). Diese Kennzahl ist sowohl bei der ‚BSC 100‘, bei ‚BSC Wissen‘ als auch bei der ‚Gemeinwohlökonomie‘ zu finden. Eine genaue Betrachtung des kompletten Tags „Fluktuationsrate“ findet im gesonderten Analysepunkt ‚Fluktuationsrate‘ statt. In alphabetischer Reihenfolge folgt die inhaltliche Analyse der ‚Tags‘ und Kennzahlen auf Basis vorhandener Literatur.

Abb. 5   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Fluktuationsrate‘. (Egene Darstellung 2019)

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5.1 Abwesenheit Die Kennzahlen unter dem ‚Tag‘ ‚Abwesenheit‘ (vgl. Abb. 6) unterscheiden sich in der Formulierung nur minimal und können als unkomplizierte Kennzahl angesehen werden. Die Gemeinwohlökonomie betrachtet in der Fragestellung zusätzlich die „Tage, an denen Mitarbeiter trotz Krankheit in den Betrieb kommen“. Hier müsste der Wert geschätzt werden. Eine genaue Erfassung dieser Daten erscheint schwierig im Rahmen der Erstellung einer Balanced Scorecard. Alle Kennzahlen finden sich im Perspektivenbereich der Mitarbeiter wieder. Durch das wiederholte Auftreten in den verschiedenen Balanced-Scorecard-Bereichen ist die Wahrscheinlichkeit einer Nutzung als BSC Kennzahl hoch.

5.2 Berichtswesen Die Analyse des ‚Tags‘ ‚Berichtswesen‘ (vgl. Abb. 7) ergibt, dass keine Übereinstimmungen vorhanden sind. Die Berichtsfrage der Gemeinwohlökonomie ist spezifisch und bezieht sich nur auf die Erfassung von Veröffentlichungen gesellschaftlicher oder ökologischer Art. Hierzu machen die beiden ­BSC-Kennzahlen im Bereich Berichtswesen keine Angaben.

5.3 Betriebszugehörigkeit Die „Betriebszugehörigkeitsstruktur“ (vgl. Abb. 8) und die „durchschnittliche Betriebszugehörigkeit“ entsprechen den gleichen Kennzahlen und wären bei

Abb. 6   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Abwesenheit‘. (Eigene Darstellung 2019)

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Abb. 7   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Berichtswesen‘. (Eigene Darstellung 2019)

Abb. 8   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Betriebszugehörigkeit‘. (Eigene Darstellung 2019)

der GWÖ-Bilanzierung somit unkompliziert für den Nutzer einer bestehenden Balanced Scorecard.

5.4 Bewerbung Ebenso verhält es sich mit den Kennzahlen aus dem Bereich Bewerbung (vgl. Abb. 9). Die Fragestellungen unterscheiden sich zwar minimal, jedoch muss für die Erfassung einer „Steigerung der Bewerbungen“ die generelle Anzahl von Bewerbungen ermittelt werden. Die Datenbasis, der der Fragestellung zur Gemeinwohlbilanzierung ist somit noch einfacher zu beschaffen.

5.5 Fluktuationsrate Die Kennzahl „Fluktuationsrate“ (vgl. Abb. 10) aus gleichlautendem ‚Tag‘ wurde bereits erwähnt; hier ergibt sich die einzige wortgetreue Übereinstimmung beider Systeme. Die „Kündigungsquote“ ist als Kennzahl in der Gemeinwohlökonomie

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Abb. 9   Tabelle in Excel. Analyse der Kennzahl – Bewerbung.PNG. (Eigene Darstellung, 2019)

Abb. 10   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Fluktuationsrate‘ gesamt. (Eigene Darstellung 2019)

nicht vorhanden und muss somit für weitere Analysen vernachlässigt werden. Eine zusätzlich geforderte Pflichtfragestellung in der Gemeinwohlbilanzierung erfordert eine Aufspaltung nach Führungsebenen, Ethnien oder Religionen.

5.6 Fremdfirmen Das ‚Tagging‘ für die Kennzahl ‚Fremdfirmen‘ umfasst viele Daten (vgl. Abb. 11). Hier ist die Codierung in eine zweite Ebene nötig, um eine Analyse auf Ähnlichkeiten durchführen zu können. Unter dem ‚Tag‘ ‚Fremdfirmen-Anteil‘ finden sich ähnliche Fragestellungen, sowohl für die Gemeinwohlbilanz als auch für die ‚BSC Friedag‘ und ‚BSC 100‘. Es ist jedoch zu unterscheiden, dass der ‚Anteil an Fremdfirmen‘ nicht dem ‚Anteil an Fremdmitarbeitern‘ gleicht, Fremdmitarbeiter hingegen zum ‚Anteil der Fremdfirmen‘ gehören.

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Abb. 11   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Fremdfirmen – Anteil‘. (Eigene Darstellung 2019)

Die Frage nach den „zugekauften Dienstleistungen“ ähnelt der Frage von Friedag nach dem „Anteil der (Fremd-)Dienstleistungen am Gesamtumsatz“, und eine Erfassung der Daten muss bei dieser Fragestellung in der BSC Friedag vorhanden sein. Somit ist sie nutzbar zur Gemeinwohlberichtserstellung. Die Gemeinwohlökonomie zielt bei der zweiten Frage im Bild auf den „gerecht verteilten Anteil am Wertschöpfungsprozess aller Lieferant*innen ab“ (Matrix-Entwicklungsteam 2017, S. 21). Eine Verwendung der BSC-Daten ist nicht möglich, denn die Fragestellungen der BSC im Vergleich zur GWÖ sind zu unterschiedlich. Die vier Fragestellungen unter dem Begriff ‚Fremdfirmen – Ethik‘ haben keine Übereinstimmung im Bereich BSC und GWÖ (vgl. Abb. 12). Zwei Fragestellungen zur Erstellung der CSR- BSC beinhalten den „Umgang mit Wettbewerbern“ und „eventuelle Klagen im Wettbewerb“, die Gemeinwohlökonomie beschäftigt sich hierbei jeweils mit dem „Umgang mit Lieferanten“. Im gesamten Bereich der Kennzahlen zu dem ‚Tag‘ ‚Fremdfirmen‘ findet sich keine weitere Übereinstimmung, die Gemeinwohlökonomie hat hier ein Alleinstellungsmerkmal. Denn „Kooperation“, „die Wertung der Vergleiche mit Mitbewerbern in der Kommunikation“ und die „Dauer von Geschäftsbeziehungen“ lassen sich in den geprüften BSC Kennzahlen nicht finden.

Abb. 12   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Fremdfirmen – Ethik‘. (Eigene Darstellung 2019)

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5.7 Fremdkapital Das Buch mit den Kennzahlen ‚BSC 100‘ beinhaltet die Fragestellung nach dem „Verschuldungskoeffizienten“, hier handelt es sich um den „Anteil des Fremdkapitals am Eigenkapital“ (Hennig et al. 2008, S. 134).In der GWÖ ist diese Fragestellung ebenso vorhanden und kann einfach übernommen werden (vgl. Abb. 13). Eine Gemeinsamkeit bei der Fragestellung „Finanzierung, aufgeschlüsselt nach Finanzierungsart“ der GWÖ ist nicht genau zu klären. Die Kennzahlen können nicht als Gemeinsamkeit verzeichnet werden. Obwohl es wahrscheinlich ist, dass für eine Auflistung des Fremdkapitals die Herkunft der Geldmittel geklärt und erfasst sein muss.

5.8 Gewinn Steuern Die Berichtsfragen der Gemeinwohlbilanz (vgl. Abb. 14) sind in diesem ‚Tag‘ sehr detailliert gestellt. Die Frage nach der „Differenz von Brutto- und Nettolohnsumme“ steht in Verbindung mit der „Nettoabgabenquote“, deswegen ist es kein Wert, welcher unter das Tag ‚Arbeitsverträge‘ fällt, und rechtfertigt somit das Tagging (Matrix-Entwicklungsteam 2017, S. 98) Des Weiteren wird in der Gemeinwohlbilanz nach dem „länderspezifischem Reporting“ zu „Steuern“ „Gewinn“ etc. gefragt, diese Punkte können sehr wahrscheinlich beantwortet werden, sofern die Controlling-Kennzahl im Betrieb vorhanden ist. Jedem Unternehmen ist es freigestellt, welche Daten in die BSC einfließen; da die Strategieentwicklung jedoch über alle Ebenen im Unternehmen kommuniziert und umgesetzt werden sollte, ist ein länderumfassendes Reporting wahrscheinlich. „Einen Wildwuchs an Scorecards gilt es zu verhindern, auch darum sollte der Prozess also auf der höchstmöglichen Ebene begonnen werden.“ (Horváth und Kaufmann 1998, S. 49)

Abb. 13   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Fremdkapital‘. (Eigene Darstellung 2019)

Abb. 14   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Gewinn Steuern‘. (Eigene Darstellung 2019)

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Abb. 15   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Gewinn Steuern – Gewinn‘. (Eigene Darstellung 2019)

Zur Erleichterung der Analyse wird auch im zweiten ‚Tag‘ ‚Gewinn Steuern‘ (vgl. Abb. 15) mit einer zweiten Spalte gearbeitet. Der „Gewinn“ ist als Kennzahl in beiden klassischen BSC-Varianten und in der Gemeinwohlökonomie vorhanden. Die Kennzahlen sind identisch und können eindeutig für beide Arten der Berichterstattung verwendet werden. „EBIT“ und „EBITDA“ sind „Cashflow“-Annäherungen. Bei beiden Kennzahlen (vgl. Abb. 16) wird das steuerbereinigte Einkommen inklusive eventuellen Miet- und Pachteinnahmen, aber auch vor Zinsen ermittelt (Hennig et al. 2008, 115 f.) Die Gemeinwohlökonomie erfragt, zusätzlich zu den bereits erwähnten benötigten Daten, die Sozialversicherungsbeiträge. Vorausgesetzt, diese und die dazugehörigen Löhne sind bekannt, ist das Ergebnis der Kennzahlen zur Gemeinwohlbilanzierung nutzbar. Dieselbe Datenbasis ermöglicht eine Vereinfachung und kann als bereits bekannte Zahl angesehen werden. Eine Übertragung auf das „Länderspezifische Reporting“ ist ebenso möglich, wenn der „EBIT“ oder „EBITDA“ für dieses Land bereits gerechnet wurden (siehe Punkt 3.3.11 Gewinn- Steuern). Die Frage nach den „auszuschüttenden Kapitalerträgen“ bezieht sich vorrangig auf die soziale oder ethische Mittelverwendung, also z. B. keine Ausschüttung von Erträgen, solange noch Fremdkapital im Unternehmen vorhanden ist (Matrix-Entwicklungsteam 2017, 39 f.). Hier ist keine vergleichbare Kennzahl in der BSC zu finden.

5.9 Kapital Auch das ‚Tag‘ ‚Kapital‘ besteht aus vielen Kennzahlen und Fragestellungen. Hier wird die Analyse durch eine zweite Reihe von Attributen notwendig, um im Ausschlussverfahren analysieren zu können (vgl. Abb. 17). Unter dem Tag ‚Kapital – Eigenkapital‘ finden sich zwei verschiedene Fragestellungen der Gemeinwohlökonomie. Der „Durchschnittliche Eigenkapitalanteil

Abb. 16   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Gewinn – sonstiges‘. (Eigene Darstellung 2019)

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Abb. 17   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Kapital – Eigenkapital‘. (Eigene Darstellung 2019)

Abb. 18   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Kapital – Anteil an‘. (Eigene Darstellung 2019)

im Vergleich zu anderen Branchen“ ist in keiner der BSC Kennzahlen zu finden. Der geforderte „Eigenkapitalanteil“ ist jedoch mit der Kennzahl aus BSC 100 der „Eigenkapitalquote“ gleichzusetzen und somit identisch. Hier ist eine Verwendung sowohl bei der BSC als auch bei der Gemeinwohlbilanzierung möglich. Die „Verteilung des Eigenkapitals an Stakeholder, z. B. Kund*innen“ ist eine der Gemeinwohlökonomie spezifische Fragestellung (vgl. Abb. 18) und findet sich in keiner der BSC-Kennzahlen wieder. Alle weiteren Kennzahlen unter diesem Punkt finden sich nicht in der GWÖ wieder und können somit in der Analyse vernachlässigt werden.

5.10 Kundenwünsche Es gibt vier Kennzahlen im ‚Tag‘ der ‚Kundenwünsche‘ (vgl. Abb. 19) die der GWÖ entspringen. Daten aus der ‚CSR – BSC‘ ähneln diesen. Die Frage nach „fehlende Deklaration von Gefahrenstoffen“ kann mit der Fragestellung aus der CSR BSC: „Anteil der Produkte mit ausgewiesenen Inhaltsstoffen gleichgestellt werden“. Diese Übereinstimmung führt zur Erleichterung der Gemeinwohlbilanzerstellung.

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Abb. 19   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Kundenwünsche‘. (Eigene Darstellung 2019)

Des Weiteren kann die ‚CSR – BSC‘ Frage nach den „freiwilligen Informationen“ gleich zwei GWÖ Fragen aufgreifen, nämlich den „Anteil der veröffentlichen Preisbestandteilen“ und die Frage nach der „Anzahl und Art der Vorfälle, in denen freiwillige sowie gesetzliche Informationspflichten“ verglichen werden. Durch die äußerst vage formulierte CSR-BSC-Frage kann jedoch eine Beantwortung so differenziert stattfinden, dass eine Hilfestellung für die Erstellung der GWB fraglich und somit nicht erkennbar ist.

5.11 Mitarbeiter Engagement Im Themenfeld ‚Mitarbeiter Engagement‘ finden sich Kennzahlen beider Systeme (vgl. Abb. 20). Zur Strukturierung wurde die Tabelle mit einem zweiten ‚Tag‘ versehen um Ähnlichkeiten analysieren zu können. Die Tabelle in Abb. 20 zeigt die Fragestellung mit dem ‚Tag‘ ‚Mitarbeiter Engagement‘ und ‚Gewerkschaft‘. Auch wenn die Mitgliedschaft in einer

Abb. 20   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Mitarbeiter Engagement – Gewerkschaft‘. (Eigene Darstellung 2019)

Gemeinwohlbilanz und Balanced Scorecard – Überlegungen …

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Gewerkschaft im Betriebsrat nicht notwendig ist, ist dies doch oft üblich und rechtfertigt somit das Tagging. Die ‚BSC Wissen‘ Frage nach der „in Ausschüssen engagierten Mitarbeitern“ kann mit der Frage nach der „Existenz eines Betriebsrates“ in der GWÖ gleichgesetzt werden. Hier müsste in jedem Fall ein Engagement im Betriebsrat genannt werden. Das Statement vom Betriebsrat lässt sich jedoch nicht mit Fragen aus der BSC beantworten. Auch die „Beschwerden und zugehörigen Reklamationen“ sind nicht in einer BSC zu finden. Alle weiteren Tags besitzen keine Inhalte der Gemeinwohlökonomie und benötigen daher keine Analyse

5.12 Mitarbeiterzufriedenheit Das Tag „Mitarbeiterzufriedenheit“ (vgl. Abb. 21) enthält zahlreiche Daten, sodass hier die Analyse mit einer weiteren Spalte unterstützt wurde. Die Fragestellung der Gemeinwohlökonomie bezüglich ‚Betriebsunfällen‘ umfasst die „Anzahl und das Ausmaß“. Sowohl die CSR BSC als auch die BSC 100 erfassen Betriebsunfälle. Die Daten aus der BSC 100 erfassen die „Unfallquote“. Hier werden alle Fehlstunden aufgrund von Unfällen (auch nicht betrieblich) erfasst. Diese ist somit irrelevant für die Fragestellung der GWÖ. Um die „Kosten aufgrund von Betriebsunfällen“ zu erfassen, benötigt man die „Anzahl dieser Unfälle“. Hier kann eine Übereinstimmung verzeichnet werden, welche zur Erleichterung der Gemeinwohlbilanzerstellung führt. Die restlichen Kennzahlen des Tags Mitarbeiterzufriedenheit haben keine Übereinstimmung mit der Gemeinwohlökonomie oder sind in dort kein Bestandteil.

Abb. 21   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Mitarbeiterzufriedenheit – Betriebsunfälle‘. (Eigene Darstellung 2019)

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5.13 Ökologische Nachhaltigkeit Die Ökologische Nachhaltigkeit besteht aus vielen Kennzahlen, hier ist wieder eine Spaltung in weitere ‚Tags‘ notwendig (vgl. Abb. 22). Die Fragestellung der Gemeinwohlökonomie über den „Einsatz von sonstigen Verbrauchsmaterial in Kilogramm“ findet eine Übereinstimmung. Die Wertschöpfungskette umfasst z. B. auch den administrativen Bereich. Um eine Optimierung der „Ressourcen und des Energieeinsatzes“ vornehmen zu können, muss der aktuelle Einsatz erfasst werden. Hier ergibt sich eine Erleichterung der Beantwortung in der Gemeinwohlbilanzierung sofern diese Kennzahl der CSR BSC vorhanden ist. Im Punkt der ‚ökologischen Nachhaltigkeit‘ in Bezug auf die ‚Mitarbeiter‘ (vgl. Abb. 23) findet sich keine Übereinstimmung, die Fragestellungen unterscheiden sich im Grundsatz. Die ‚CSR BSC‘ fragt nach „Grundsätzen und Vermittlung von Fachkenntnissen“, die Gemeinwohlökonomie verwendet Fragestellungen zur „Akzeptanz und Anteilshöhe der ökologischen Nachhaltigkeit“ in den diversen Bereichen. Unter dem Tag ‚Ökologische Nachhaltigkeit – Projekte‘ (vgl. Abb. 24) findet sich keine weitere Übereinstimmung, die Social-Responsibility Scorecard stellt die

Abb. 22   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Ökologische Nachhaltigkeit – Material‘. (Eigene Darstellung 2019)

Abb. 23   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Ökologische Nachhaltigkeit – Mitarbeiter‘. (Eigene Darstellung 2019)

Gemeinwohlbilanz und Balanced Scorecard – Überlegungen …

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Abb. 24   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Ökologische Nachhaltigkeit – Projekte‘. (Eigene Darstellung 2019)

Abb. 25   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Ökologische Nachhaltigkeit – Verbrauch‘. (Eigene Darstellung 2019)

Frage nach den „Investitionsausgaben in Bezug auf Umweltschutzmaßnahmen“, die Gemeinwohlökonomie nach der „Höhe der finanzierten Projekte sozial-ökologischer Herkunft“. Hier ist zu beachten, dass die GWÖ-Fragestellungen unter dem Punkt „finanzierte Projekte“ inhaltlich die Anlagestrategien von Finanzmitteln, zum Beispiel in Fonds oder Vergabe von Minikrediten, begutachtet. (­ Matrix-Entwicklungsteam 2017, 42 f.) Die nötige Berichterstattung zum Verbrauch von Ressourcen (vgl. Abb. 25) ist sehr detailliert vorhanden in der Gemeinwohlökonomie. Die ‚CSR BSC‘ bietet zwei Kennzahlen zu diesem Thema an. Die „Energieeffizienz“ findet kein Match in der GWÖ, jedoch kann der „direkte und indirekte Energieverbrauch“ mit den Kennzahlen zum „Stromverbrauch“ und zur „Heiuenergie“ gleichgesetzt werden. Hier bietet die CSR BSC also eine Hilfestellung für die Gemeinwohlbilanzierung an. Weitere Treffer konnten nicht ermittelt werden.

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5.14 Umsatz Trotz einer Fülle an Daten aus Kennzahlen und Fragestellungen benötigt dieser ‚Tag‘ keine weitere Sortierung (vgl. Abb. 26). Die Fragestellungen nach der „Fördersumme und den Zinszahlungen für immaterielle Leistungen“ findet sich in keiner der BSC Kennzahlen. Die „Zuführung zu Rücklagen“ wird ebenso in keiner der Kennzahlen berücksichtigt. Eine „ethische Betrachtungsweise der Produkte und Dienstleistungen“ liegt ebenfalls in der BSC nicht vor. Der „Umsatz“ als Kennzahl wird in der Balanced Scorecard vielseitig verwendet; wie bei dem Tag ‚Gewinn‘ erörtert, findet dies auch bei im Ausland ansässigen Niederlassungen/Filialen/Produktionsstätten Anwendung. Keine der BSC Kennzahlen behandelt die Frage nach den „Umsatzvorgaben“ gesondert; wenn jedoch der „Umsatz“ als Kennzahl im Unternehmen vorhanden ist, wird hierzu eine Zielvorgabe vorhanden sein. Diese Kennzahl kann für die Beantwortung der ersten Frage in der Tabelle also zur Hilfe genommen werden und stellt eine Erleichterung bei der Erstellung der Gemeinwohlbilanz dar.

5.15 Weiterbildung Die Kennzahlen zum Thema Weiterbildung (vgl. Abb. 27) benötigen eine differenziertere Betrachtung und wurden ein weiteres Mal in ‚Tags‘ unterteilt. Die Kennzahlen mit den Attributen zum Thema ‚Anzahl‘ (auf Stunden/Tage oder Mitarbeiter bezogen) ähneln sich. Die Gemeinwohlökonomie stellt hier die Fragestellung nach „Entwicklungsmöglichkeiten pro mitarbeitende Person“. Die CSR BSC, die BSC 100 und Friedag erfassen die „Anzahl der Aus- und Weiterbildungstage pro Mitarbeiter“. Die Kennzahl kann ohne weiteres Zutun zum Beantworten der GWÖ verwendet werden. Keine weitere Übereinstimmung findet man zum Thema „Sicherheit“ (vgl. Abb. 28). Es stellen zwar beide Systeme die Frage nach „Schulungen zum Thema Sicherheit“, jedoch bezieht sich die Fragestellung der GWÖ auf „Arbeitsschutz“ (Matrix-Entwicklungsteam 2017, S. 51), die CSR bezieht sich hingegen auf „Schulungen im Bereich der Produktstandards“. (Neßler und Fischer 2013, S. 74) Alle weiteren Tags unter dem Thema „Sicherheit“ enthalten keine Fragestellungen der Gemeinwohlökonomie

Abb. 26   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Umsatz‘. (Eigene Darstellung 2019)

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Abb. 27   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Weiterbildung Anzahl‘. (Eigene Darstellung 2019)

Abb. 28   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Weiterbildung Sicherheit‘. (Eigene Darstellung 2019)

5.16 Werbung Das ‚Tag‘ ‚Werbung‘ enthält drei Fragestellungen aus der GWÖ Bilanzierung (vgl. Abb. 29). Die Frage nach der „Anzahl der erreichten Menschen“ ist auf die Verbreitung von sozialen und ökologischen Grundsätzen ausgelegt und findet daher keine weitere Beachtung (Matrix-Entwicklungsteam 2017, 93 f.) Eine Abgrenzung der „Werbekampagnen auf ethische und unethische Kampagnen“ entfällt, sie ist in den Kennzahlen der BSC nicht vorgesehen, obwohl diese ebenfalls den „Werbeetat“ betrachten.

Abb. 29   Auszug aus der Excel-Tabelle zur Analyse – Fragestellungen zum Tag – ‚Werbung‘. (Eigene Darstellung 2019)

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In diesem ‚Tag‘ findet sich ein Match mit der in der dritten Zeile dargestellten Frage aus dem GWÖ Katalog: Die Übersicht des „Budgets für Werbung und Marketing“. Die BSC Wissen liefert die Frage nach dem „Wachstum des Werbeetats“. Um ein Delta bezüglich des Wachstums errechnen zu können benötigt man die Basis, also die Summe der Ausgaben für Werbung und Marketing. Es kann eine Erleichterung bei der Erstellung der Gemeinwohlbilanz verzeichnet werden.

6 Ergebnisdarstellung Insgesamt wurden 298 Fragestellungen näher auf Übereinstimmungen zwischen der Gemeinwohlökonomie und den verschiedenen BSC Quellen untersucht. Hierbei konnten 58 Fragestellungen mit einem positiven Ergebnis, d. h. mit einer Übereinstimmung der Daten, herausgearbeitet werden. Bei insgesamt 240 näher geprüften Datensätzen war das Ergebnis negativ; diese sind nicht für die Erstellung einer Gemeinwohlbilanz auf Basis der Balanced Scorecard Daten nutzbar (siehe Abb. 30). Die Ergebnisse werden nachfolgend als Tabelle und graphisch verarbeitet dargestellt. Die höchste Anzahl der Übereinstimmungen finden sich in Bereich mit dem Tag ‚Umsatz‘, insgesamt neun, an zweiter Stelle das Tag ‚Gewinn Steuern‘, gefolgt von dem ‚Tag‘ ‚Abwesenheit‘ (siehe Abb. 30). Die größte Anzahl an Fragestellungen in den ‚Tags‘ ohne Übereinstimmung zwischen Gemeinwohlökonomie und der Balanced Scorecard finden sich bei ‚Arbeitsverträgen‘ mit 42 Kennzahlen, gefolgt von ‚Produkten‘ mit 36 Kennzahlen, an dritter Stelle stehen hier die Fragen aus der ‚Ökologischen Nachhaltigkeit‘ mit 32 Werten. Die Aufstellung in der Tabelle (Abb. 30) gibt keinen Hinweis darauf, ob es sich um die immer selbe Fragestellung oder unterschiedlichen Fragestellungen handelt, sondern lediglich, ob es eine Übereinstimmung in diesen Feldern gibt. Die Grafik „Anzahl mit Übereinstimmung nach Quellen“ (Abb. 31) und die dazugehörige Tabelle (Abb. 32) zeigen eine hohe Dichte bei den Kennzahlen aus der Quelle ‚BSC 100‘, gefolgt von ‚BSC Wissen‘. Ebenso ergibt sich aus den Daten die Zahl der Fragestellungen der Gemeinwohlökonomie. Bei einer Anzahl von 302 auf Inhalt geprüften Fragestellungen kommen 35 mit Übereinstimmung aus den vier Balanced Scorecard Daten; keine Übereinstimmungen gibt es bei 129 Datensätzen aus der Balanced Scorecard; bleiben 136 Kennzahlen aus der Gemeinwohlökonomie. Hier gibt es 113 ohne

130 Frage/KPI Werbung Weiterbildung Umsatz Produkte Preisbildung Ökologische Nachhalgkeit Mitbesmmung Mitarbeiterzufriedenheit Mitarbeiter Engagement Marktanteil Kundenwünsche Korrupon Kapital Gewinn Steuern Gesellschaliche Verantwortung Fremdkapital Fremdfirmen Fluktuaonsrate Cashflow Bewerbung Betriebszugehörigkeit Berichtswesen Arbeitsverträge Anlagen Abwesenheit Gesamtergebnis

W. Gehra und J. Schmidt

Posiv 3 4 9

5 2 2 2 2 8 2 2 4 4 2 2

Analyse der Übereinsmmungen Negav Gesamtergebnis 5 8 10 14 15 24 36 36 4 4 32 2 16 9 3 6 2 17 2

37 2 18 11 3 8 2 19 10

5 1 15 6 5

5 3 17 10 9 2 2 3 42 4 5 298

3 42 4 5 58

240

Abb. 30   Tabelle Anzahl der Übereinstimmungen nach Tags sortiert aus GWÖ und BSC (Schmidt 2019)

Übereinstimmung. Bleiben 23 Fragen aus den Pflicht-Indikatoren der Gemeinwohlökonomie, die mithilfe der Balanced Scorecard beantwortet werden können. (Abb. 32) Die Grafik der ‚Übereinstimmung nach Perspektiven‘ (Abb. 33) zeigt, dass die Anzahl in den Bereichen „Finanzen“, aber auch bei den Mitarbeitern, besonders hoch ist. Dies lässt sich durch die Tatsache begründen, dass die Balanced Scorecard im Finanzbereich angesiedelt ist, aber auch durch eine hohe Anzahl an verwendeten Kennzahlen nach der Sortierung zu Tags aus den Quellen BSC 100 (68 Stück) und BSC Wissen (43 Stück) herleiten. Beide Quellen sind im klassischen betriebswirtschaftlichen Bereich angesiedelt.

Gemeinwohlbilanz und Balanced Scorecard – Überlegungen …

131

Anzahl mit Übereinstimmung nach Quellen: 4 10 23

Anzahl von GWM Pflicht Anzahl von BSC 100 Anzahl von CSR BSC Anzahl von BSC Wissen

6

Anzahl von BSC Fried

15

Abb. 31   Grafik aus der Anzahl der Übereinstimmungen in Fragestellungen nach Quellen sortiert. (Eigene Darstellung 2019) Werte Anzahl von GWM Pflicht Anzahl von BSC 100 Anzahl von CSR BSC Anzahl von BSC Wissen Anzahl von BSC Fried

Ja Nein Gesamtergebnis 23 113 136 15 53 68 6 41 47 10 33 43 4 3 7

Abb. 32   Tabelle der Anzahl der Übereinstimmungen in Fragestellungen nach Quellen sortiert. (Eigene Darstellung 2019)

20

23

ÜBEREINSTIMMUNGEN NACH PERSPEKTIVEN Anzahl von Mitarbeiter

13

Anzahl von Prozess 3

Anzahl von Kunden Anzahl von Finanzen

ERGEBNIS

Abb. 33    Tabelle der Anzahl der Übereinstimmungen Perspektiven sortiert. (Eigene Darstellung 2019)

in

Fragestellungen

nach

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W. Gehra und J. Schmidt

7 Diskussion der Ergebnisse Die Ergebnisse zeigen, dass insgesamt 23 Fragestellungen der Gemeinwohlbilanzierung aus den Kennzahlen der Balanced Scorecard entnommen werden können. Nach deren Sortierung ist auffällig, dass sieben Kennzahlen aus der Prozessperspektive, acht aus der Mitarbeiter- bzw. Entwicklungsperspektive und neun Kennzahlen aus der Finanzperspektive stammen; dagegen gibt es keinen Treffer (in den Gemeinwohlfragestellungen) aus der Kundenperspektive. Dieses Ergebnis ist insofern erstaunlich, als bei beiden Systemen, also sowohl in der Balanced Scorecard als auch der Gemeinwohlökonomie, die Stakeholdergruppe der Kunden eine wichtige Rolle spielt. Die Fragestellungen der Gemeinwohlökonomie beinhalten vor allem „messbare“, also leicht zu erfassende Daten, wie zum Beispiel: Stunden, Anteile am Umsatz, Einsatz in kg. Die Kennzahlen im Bereich Finanzen entsprechen einem Querschnitt der vorhandenen Fragestellungen wie zum Beispiel: „Mittelüberschuss auslaufender Geschäftstätigkeit (in Tsd. EUR)“ oder „Eigenkapitalanteil“. In den Prozesskennzahlen findet man zum Beispiel die Frage „Übersicht Budgets für Marketing, Verkauf, Werbung: Ausgaben für Maßnahmen bzw. Kampagnen“, in der Entwicklungsperspektive: „Anzahl und Ausmaß der Betriebsunfälle“. Kritisch betrachtet entspricht die Menge von 23 Kennzahlen von 144 verpflichtenden Indikatoren zur Gemeinwohlbilanzerstellung knapp 16 Prozent der Gesamtmenge. Wenn man die Vergleichsmenge auf alle möglichen Fragestellungen der Gemeinwohlökonomie, nämlich 448, heranzieht, entsprechen die vorhandenen 23 Fragen nur etwa fünf Prozent des Bilanzierungsprozesses. Zusätzlich stellt sich die Frage, ob die Nutzung der Balanced Scorecard durch genau diese Fragestellungen zu der erwünschten Strategieerfüllung führt. Das Fehlen der Kundenperspektive in dem Fragekatalog macht die Nutzung von weiteren ‚sich nicht mit der GWÖ deckenden‘ Kennzahlen wahrscheinlich. Nur so, in der Waage der Prozessebenen, ist die Scorecard ausgeglichen und ‚balanced‘.

8 Unternehmerische Vorteile und Praxisbezug in Unternehmen Ein Unternehmen das sich aktiv mit der Gemeinwohlökonomie und der dazugehörigen Gemeinwohlbilanzierung auseinandersetzt, könnte schnell von der Flut an abgefragten und bereitzustellenden Informationen abgeschreckt werden. Das Arbeitsbuch zur Gemeinwohlbilanzerstellung 5.0 enthält insgesamt 114 Seiten und ist nur Teil eines ganzen Prozesses.

Gemeinwohlbilanz und Balanced Scorecard – Überlegungen …

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Ein bekanntes und etabliertes Instrument wie die Balanced Scorecard kann Unternehmen in diesem Punkt behilflich sein. Die Tatsache, dass bereits 23 Kennzahlen mit der Erstellung der (vorhandenen) Balanced Scorecard keiner weiteren Überlegungen bedürfen, nutzt Unternehmen in der Praxis. Synergieeffekte bei der Erstellung einer Balanced Scorecard und die gleichzeitige Nutzung der erhobenen Daten für die Gemeinwohl-Bilanz könnten so Unternehmen vom Einsatz der nachhaltigen und gemeinwohlorientierten Zielausrichtung überzeugen.

9 Resümee und Ausblick Die in diesen Überlegungen analysierten Kennzahlen der Balanced Scorecard sind bereits allgemein betriebswirtschaftlich anerkannt und werden in einer Vielzahl von Unternehmen zur Steuerung und Prüfung der Prozesse verwendet. (vgl. Vohl 2014). Eine Ausweitung des bereits bekannten Systems ist leicht möglich. Sowohl Porter und Kramer (2011) als auch Kaplan und Norton (2008) pochen darauf, dass die Prozesse zur Strategieentwicklung und Zielerreichung in Unternehmen veränderbar sind und in regelmäßigen Schleifen angepasst werden müssen. „Unternehmen […], müssen dazu zunächst einmal alle gesellschaftlichen Bedürfnisse, Vorteile und Probleme identifizieren, die in Zusammenhang mit ihren Produkten stehen.“ (Porter und Kramer 2011, S. 67) „Sie erkennen schnell, wie sich diese Entscheidungen auf das operative Geschäft und auf die Strategie auswirken und können notfalls strategische Kurskorrekturen vornehmen.“ (Kaplan und Norton 2008, S. 19) Bei der Implementierung der Gemeinwohlökonomie in Unternehmen gilt es, als ersten Schritt zunächst die Strategieimplementierung im Alltag mit einer entsprechenden Ausrichtung auf das Gemeinwohl zu versehen. Hierzu kann die Identifizierung der vorhandenen Daten aus der Balanced Scorecard helfen. Aufgrund der Analyse im Rahmen einer qualitativen Sozialforschung ergibt sich ein „starres System“ zur Identifizierung von Gemeinsamkeiten, begründet durch die Methode der Attributisierung einzelner Kennzahlen. Die gewünschte Objektivität und Reliabilität führen zu einem schnellen Ausschluss einzelner Kennzahlen ohne eine Prüfung auf Anpassungs- oder Anwendungsmöglichkeiten beiderseits. Gerade auf Prozessebene der Kunden finden sich Kennzahlen in der Gemeinwohlökonomie, die sich für eine Balanced Scorecard eignen. Auf den ersten Blick scheinen die direkten Anknüpfungspunkte anhand der hier ausgeführten Analyse zwischen Gemeinwohl-Bilanz und Balanced Scorecard gering im Vergleich zu den mehreren hundert Kriterien, die beide Ansätze zum

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Inhalt haben. Aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen und ursprünglich verschiedenen Zielorientierungen war dies zu erwarten. Dennoch entsteht auf den zweiten Blick eine gewisse Zuversicht, mit ein wenig „Übersetzungshilfe“ eine Balanced Scorecard entwickeln zu können, die umfassend die Kriterien der Gemeinwohl-Bilanz integriert. Damit ließe sich ein Angebot für Unternehmen schaffen, das erstens den Arbeitsaufwand für die Erstellung der Gemeinwohl-Bilanz reduziert, da von einem Zertifizierungsparadigma mit langen Prüfzyklen auf ein Paradigma der alltäglichen Buchhaltung und Datengenerierung gewechselt wird und die erhobenen Daten mehrfach verwendet werden. Zweitens werden die Kriterien einer ­Gemeinwohl-Bilanz in Verbindung mit der Balanced Scorecard noch mehr zu einem operativen Tool, das die Umsetzung von Strategien und damit die alltägliche Steuerung einer Organisation und ihres Handelns in der Gesellschaft unterstützt.

Literatur Barthélemy, Frank. 2011. Balanced Scorecard: Erfolgreiche IT-Auswahl, Einführung und Anwendung: Unternehmen berichten. Wiesbaden: Vieweg + Teubner Verlag/Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH Wiesbaden. Boersch, Cornelius, und R. Elschen, Hrsg. 2007. Das Summa Summarum des Management. Wiesbaden: Gabler. Duden. 2019. Wörterbuch online, Tag,. https://www.duden.de/rechtschreibung/Tag_ Strukturelement_Markierung. Zugegriffen: 10.06.19. Fleig, Jürgen. 2019. Balanced Scorecard (BSC). Management Handbuch. Kapitel 035 (b-wise GmbH, Hrsg.), Karlsruhe. Verfügbar unter https://www.business-wissen.de/ kapitel/balanced-scorecard-bsc/. Zugegriffen: 30.04.2020. Friedag, Herwig R., und W. Schmidt. 2011. Balanced Scorecard, 4. Aufl. Freiburg: ­Haufe-Lexware GmbH & Co. KG. Gerberich, Claus W., T. Schäfer, und J. Teuber. 2006. Integrierte Lean Balanced Scorecard: Methoden, Instrumente, Fallbeispiele. Wiesbaden: Gabler. Hennig, Alexander, W. Schneider, U. Wiehle, M. Diegelmann, und D. Henryk. 2008. 100 Kennzahlen der Balanced Scorecard. Wiesbaden: Cometis. Horváth, Péter, und L. Kaufmann. 1998. Balanced Scorecard-ein Werkzeug zur Umsetzung von Strategien. Harvard-Business-Manager: das Wissen der Besten 20:39–50. Internationale Delegiertenversammlung. 2018. Die Vision der GWÖ. https://www.ecogood. org/de/vision/die-vision-der-gwo/. Zugegriffen: 18.05.19. Internationaler Verein zur Förderung der Gemeinwohl-Ökonomie e. V. 2019. Theoretische Basis. https://www.ecogood.org/de/vision/theoretische-basis/. Zugegriffen: 18.05.19. Kaplan, Robert S., und D. P. Norton. 1997. Balanced scorecard: Strategien erfolgreich umsetzen. Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag Kaplan, Robert S., und D. P. Norton. 2008. Management mit System. Harvard Business manager (Mai 2008): 2–19.

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Kaplan, Robert S., und D. P. Norton. 2018. Balanced scorecard: Strategien erfolgreich umsetzen. Stuttgart: Schäffer-Poeschel Verlag. Kuckartz, Udo. 2018. Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung, 4. Aufl. Weinheim, Basel: Beltz Juventa. Kühnapfel, Jörg B. (Hrsg.). 2019. Balanced Scorecards im Vertrieb. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden. Matrix-Entwicklungsteam. (Hrsg.). 2017. Arbeitsbuch zur Gemeinwohl-Bilanz 5.0 Vollbilanz, o.O. Verfügbar unter: https://www.ecogood.org/de/unsere-arbeit/gemeinwohlbilanz/gemeinwohl-matrix/arbeitsmaterialien/. Zugegriffen: 30.04.2020. Neßler, Christian, und M.-T. Fischer. 2013. Social-Responsive Balanced Scorecard: Wie Unternehmen gesellschaftliche Verantwortung in Kennzahlen umsetzen. Wiesbaden: Springer. Porter, Michael E., und M. R. Kramer. 2011. Die Neuerfindung des Kapitalismus. ­Harvard-Business-Manager: das Wissen der Besten 33 (2): 58–75. Schmidt, Julia. 2019. Excel-Datei zur Bachelorarbeit „Die Gemeinwohlökonomie im Unternehmenskontext“. Vohl, Hans-Jörg. 2014. Balanced Scorecard im Mittelstand, Studie zum Einsatz der BSC in mittelständischen Unternehmen. http://www.bsc-im-mittelstand.de/0105_buch-download.html. Zugegriffen: 17.05.19.

Gehra, Wolfgang,  Prof. Dr., Diplom-Kaufmann (Univ.), Professur für Sozialmanagement und Öffentlichkeitsarbeit, Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München, Deutschland Als Diplom-Kaufmann und als Co-Studiengangsleiter vertritt er die Wirtschaftswissenschaften im interdisziplinären Studiengang Management Sozialer Innovationen. 20 Jahre Managementerfahrung als mittelständischer Unternehmer, Geschäftsführer Bioland-zertifizierter Klosterbetriebe und kfm. Direktor der Deutschen Franziskaner­ provinz mit vielen sozialen Einrichtungen sowie als langjähriger Stiftungsvorstand bedeuten vielfältige Expertise für innovative Veränderungsprozesse in Gesellschaft und Organisationen im Spannungsfeld zwischen betriebswirtschaftlichen Sachzwängen und ideellen Zielen, insbesondere der Nachhaltigkeit. Mitglied in diversen Bei- und Aufsichtsräten. Der Fokus auf unternehmerisches Handeln im sozialen und ökologischen Kontext bildet sowohl Erfahrungshintergrund als auch Forschungsinteresse. Letzte Veröffentlichung: Freiburg, M.; W. Gehra, 2020 (in Druck). Hybride Geschäftsmodelle von Social Enterprises im Spannungsfeld zwischen Lehre und Praxis. In: WiSt – Wirtschaftswissenschaftliches Studium, Zeitschrift für Studium und Forschung. Schmidt, Julia,  B.A. Management sozialer Innovationen. Bachelorstudium Management sozialer Innovationen (HM München), Steuerfachangestellte, langjährige Erfahrung in der Unternehmensorganisation und dem Controlling. Spezialisierung auf die Gemeinwohlökonomie, Fortbildungen zur Gemeinwohlbilanzierung durch den Verein für Gemeinwohlökonomie.

Open Space: Räumliche, zeitliche und soziale Flexibilisierung der Bürowelt als Antwort auf die Herausforderungen von Arbeit 4.0 – Empirische Befunde Theresa Arnold Zusammenfassung

Voneinander Lernen, gegenseitige Inspiration, interaktiver Austausch und innovative Lösungen: Unternehmen tendieren in letzter Zeit verstärkt zu neuen Raumkonzepten zur Gestaltung agiler und flexibler Arbeitsflächen (Die Berliner Smart City Vision. Eine diskursanalytische Zukunftsforschung, Institut Futur, Berlin, 2017). Diese lassen sich als Open Space-Büros begreifen, die als offene und flexible Arbeitslandschaft konzipiert sind (Arbeit der Zukunft: Digital, multilokal, dynamisch. Thesen und Gestaltungsansätze für den Arbeitsplatz der Zukunft, ISF München, München, 2018). Der vorliegende Beitrag stellt die Ergebnisse einer empirischen Forschungsarbeit dar, in welcher das Phänomen „Open Space“ aus arbeitssoziologischer Perspektive untersucht wird. Dabei geht es um die Praxis von Open Space: Welche Motive und Gründe sehen Unternehmen für die Einführung dieser Büros? Wie gestalten die Beschäftigten ihre Arbeit unter den arbeitsorganisatorischen Veränderungen? Welche Herausforderungen ergeben sich hier für die Beschäftigten und wie werden diese gelöst? Diese Fragen werden anhand der empirischen Datengrundlage (Interviews mit Beschäftigten und ChangebegleiterInnen) beantwortet. Im Umgang mit der veränderten Arbeitsumgebung lassen sich Spannungsfelder herausarbeiten, die abschließend unter Berücksichtigung arbeitssoziologischer Theorien und von Konzepten der Subjektivierung von Arbeit diskutiert werden.

T. Arnold (*)  Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_7

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T. Arnold

1 Einleitung Mit der Veränderung von Arbeitsprozessen vollzieht sich auch ein Wandel in der Gestaltung von Büroräumen. Die zunehmende Flexibilisierung von Leben und Arbeit fordern neue Formen des Zusammenlebens, sodass neben innovativen Lebensraumkonzepten wie „Smart City“ auch neue Arbeitsorganisationen, wie „Open Space“ als modernes Büromodell immer relevanter werden (Priebe 2017, S. 8). Über die architektonische Bauweise hinweg zeigt sich eine Trendentwicklung hin zu flexiblen, multilokalen Arbeitsräumen, die im Hinblick auf die Organisation der Abläufe Flexibilisierung und Individualisierung entsprechen (Kratzer 2018). Neben dem Trend, dass jene Büros stilvollen Lofts oder Boutique-Hotels zum Verwechseln ähnlich sehen, wird unter Open Space-Büros eine durchgehende Büroarbeitswelt ohne Trennwände verstanden. Die neue Arbeitsorganisation ist als moderne, flexible Arbeitslandschaft konzipiert, die für verschiedene Arbeitsanforderungen verschiedene Räume oder Raumzonen bieten (ebd. 2018). Hier teilt sich, ähnlich wie bei Großraumbüros, eine größere Anzahl von Arbeitskräften einen offenen Raum. Anders als in Großraumbüros findet sich hier jedoch eine durchgehende Arbeitslandschaft mit sowohl offenen als auch geschlossenen Bereichen. Die unterschiedliche Gestaltung der Raumtypen zielt auf die jeweiligen Tätigkeitsprofile mit den speziellen Anforderungen ab, wie beispielsweise konzentriertes, ungestörtes Arbeiten oder Routinearbeit. Während sich in den traditionellen Büroräumen ein Arrangement abzeichnet, das als Verräumlichung von Arbeitsteilung und systematischer Kontrolle fungiert, stehen aktuell Offenheit, Transparenz und der Abbau von Hierarchie an erster Stelle (Petendra 2015). So wird offenen, flexiblen Büroflächen mit zunehmend Raum für Kommunikation, Kreativität und Agilität besondere Bedeutung zugemessen. Das Streben nach Agilität lässt sich nicht nur anhand der agilen Methoden wie „Scrum“ erkennen, die Unternehmen in letzter Zeit verstärkt einsetzen (Lühr et al. 2018; Haack und Müller-Trabucchi 2017). Namhafte Unternehmen wie Siemens und Adidas haben ihre Arbeitsorganisation nach dem Open Space-Prinzip umstrukturiert und verfolgen damit einen flexiblen Arbeitsstil, der sich in der Raumaufteilung wiederfindet (Kratzer und Lütke Lanfer 2017). Im vorliegenden Beitrag geht es um die Konstitution von Open Space-Büroräumen als Raumbildungsprozesse in der Wechselwirkung von strukturellen Bedingungen und subjektiviertem Handeln der Beschäftigten. Untersucht wurden deren Handlungspraktiken und deren Wahrnehmungen unter Berücksichtigung veränderter arbeitsorganisatorischer Bedingungen.

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Nach der Darstellung der Relevanz des Themas Open Space werden im zweiten Kapitel die Forschungsfragen und das zur Analyse verwendete Forschungsdesign der Studie vorgestellt. Anschließend erfolgt anhand der Datenauswertung ein Abschnitt, der aus Sicht der Unternehmen die Erwartungen und Motive für die Umgestaltung hin zu Open Space erläutert. Der darauffolgende Teil beschäftigt sich mit der Perspektive der Beschäftigten und mit den Erfahrungen und Handlungsweisen, die mit der neuen Arbeitslandschaft gemacht werden. Diese werden schließlich in Form von Spannungsfeldern zusammengefasst. Es folgt eine Darstellung von Handlungsstrategien der Beschäftigten zum Umgang mit den veränderten Arbeitsbedingungen im Open Space. Abschließend werden die empirischen Ergebnisse unter Berücksichtigung soziologischer Theorien zur Subjektivierung von Arbeit diskutiert und resümiert.

2 Fragestellung und Forschungsdesign Die Untersuchung erfasst zum einen Motive und Beweggründe von Unternehmen, die von einer traditionellen Büroform zu Open Space wechseln. Außerdem werden aus arbeits- und industriesoziologischer Perspektive vor dem Hintergrund der flexibilisierten Arbeitsprozesse die Handlungsorientierungen und Subjektivierungspotentiale in Alltagspraktiken untersucht. Im Hinblick auf die im Wandel der Arbeitswelt untersuchten Tätigkeiten gibt es in der Arbeitsund Industriesoziologie einige empirische Beiträge, die für projektförmiges Arbeiten verstärkt Handlungs- und Autonomiefreiräume erkennen, die in subjektivierte Leistungsregulation und eine zunehmende Selbstorganisation sowie Eigenrationalisierung münden (Kratzer 2003). Auch die Arbeit im Open Space tendiert dazu, interaktiver, reflexiver und individueller zu werden, und wirft damit die Frage auf, inwiefern auch hier eine (neue) aktive Mitgestaltung des Arbeitssubjekts vorliegt und gefordert wird, und inwieweit Unternehmen auf die Nutzung der Potentiale, Ressourcen und Kompetenzen der Arbeitskräfte bauen. Die Fragestellung der Arbeit lautet: 1. Welche Motive und Erwartungen führen Unternehmen zur Einrichtung von Open Space Arbeitsplätzen? 2. Welche Spannungsfelder ergeben sich hierbei für die Beschäftigten und inwiefern werden subjektivierte Handlungsstrategien und Gestaltungsoptionen der Anpassung und Aneignung genutzt, um unter den veränderten räumlichen und zeitlichen Bedingungen Leistung zu erbringen?

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Zur qualitativen Untersuchung dienten die theoretischen Ansätze zur Subjektivierung und Entgrenzung von Arbeit. Für das methodische Vorgehen wurde ein Mixed-Method-Ansatz gewählt, um eine umfassende und vielschichtige Perspektive auf den Forschungsgegenstand zu erreichen (Flick 2012). Hierfür bot sich die Kombination eingesetzter Methoden zur Datenerhebung an: ExpertInneninterviews, Beobachtung, sowie Leitfadeninterviews mit Beschäftigten. Für die ExpertInneninterviews wurden sogenannte ChangebegleiterInnen befragt, die in drei verschiedenen Unternehmen den Umgestaltungsprozess zu Open Space begleiten (n = 4). Die Auswahl des Samples der Leitfadeninterviews orientierte sich an Beschäftigten aus verschiedenen Unternehmen und Organisationen im Bereich der Dienstleistung, im Speziellen in der Beratungsbranche (n = 4). Für die Auswertung der Daten wurde die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) verwendet und eine induktive Kategorienentwicklung gewählt.

3 Betriebliche Motive und Erwartungen für Open Space Für Unternehmen stellt die Büroform, insbesondere hinsichtlich der hohen Mietpreise von Büroflächen, einen zentralen Kostenfaktor dar, der in der Gestaltung von Büroflächen einberechnet und abgebildet wird. Dabei erweisen sich Open Space-Büros zunehmend als effizient und wirtschaftlich, wo von einer partiellen physischen Abwesenheit der Beschäftigten ausgegangen wird. Neben der Wirtschaftlichkeit des Konzepts erweist sich Open Space auch für die sich verändernden Unternehmensprozesse geeignet, da es der Unternehmensführung eine flexible und agile Personalplanung ermöglicht. Das betrifft sowohl den Personalzuwachs und -abbau als auch die Zusammenstellung neuer Teams. Mit der offenen Raumeinheit besteht die Möglichkeit, auf die stetig wechselnden Organisationsstrukturen flexibel und agil zu reagieren. Weitere Motive sind außerdem Innovation und Kommunikation. Hierbei wird angenommen, dass durch die Bürostruktur die Kommunikation innerhalb des Teams gefördert wird, da es aufgrund der offenen Gestaltung einfacher sei, Kontakt aufzunehmen und in Interaktion zu treten. Unternehmen zielen darauf ab, neue Begegnungen zu schaffen, um Innovationsprozesse anzukurbeln. Auf diese Weise wird versucht, abteilungs- sowie teamübergreifende Interaktionen zu generieren. Räumlich wird dies meist auch mithilfe gemeinsam genutzter Lounge-Bereiche bezweckt, um so einen „Ort zur Begegnung“ zu schaffen und das Silodenken in Unternehmen aufzubrechen. Darüber hinaus kann Open Space im Zuge einer Trendentwicklung gesehen werden, um sich nach außen für

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(potentielle) Beschäftigte als digitalisiertes, im Wettbewerb mit anderen Arbeitgebern attraktives Unternehmen zu präsentieren. Zudem beabsichtigen Unternehmen mit diesem Konzept, innovativ zu sein und hinsichtlich der Themen Digitalisierung und Globalisierung Stärke präsentieren zu können. Open Space soll, so kann man zusammenfassend sagen, Wirtschaftlichkeit, Effizienz, Flexibilisierung und die Förderung von abteilungsübergreifender Kommunikation und Innovation fördern.

4 Die Perspektive der Beschäftigten Die Umstrukturierung nach dem Open Space-Prinzip kann sich für manche Beschäftigte als tief greifende Veränderung im Arbeitsleben erweisen. In erster Linie bedeutet dies meist den Verlust des „persönlichen“ Arbeitsplatzes, insbesondere, wenn dies durch Desk-Sharing begleitet wird und der Arbeitsplatz jeden Tag neu gewählt werden muss. Im Hinblick auf die Verhaltensweisen im Open Space konzentriert sich das folgende Kapitel auf die Erfahrungen und Herausforderungen der Beschäftigten in der offenen Arbeitslandschaft.

4.1 Spannungsfelder im Open Space Die arbeitsorganisatorischen Veränderungen im Zuge von Open Space bilden den Ausgangspunkt für veränderte Arbeitsweisen der Beschäftigten. Diese werden im Folgenden als Spannungsfelder begriffen.

4.1.1 Spannungsfeld: Fester Arbeitsplatz vs. flexibler Arbeitsplatz Flexibilisierung in der Wahl der Arbeitsorte Das Konzept Open Space schließt ein, dass auch anderswo, etwa an anderen Standorten oder im Home Office, gearbeitet wird. Die Befragten nutzen die Vielzahl flexibler räumlicher Arbeitsplätze. Es zeigte sich, dass für die Beschäftigten damit auch eine gesteigerte räumliche Flexibilisierung einhergeht, die durch das Arbeiten an anderen Standorten oder im Home-Office gekennzeichnet ist. Die Möglichkeit, von zu Hause zu arbeiten, ist dabei im Konzept Open Space inbegriffen.

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Mobilität und Reorganisation durch Digitalisierung Diese Flexibilität bezogen auf die Arbeitsorte wurde von den Beschäftigten durchaus geschätzt, allerdings ergaben sich auch negative Aspekte hinsichtlich des verlorenen persönlichen Arbeitsplatzes. So wurde eine Unterscheidung zu traditionellen Büros gemacht. „Früher hattest Du natürlich Deinen festen Arbeitsplatz. Du kommst morgens rein, bringst Deine Tasse Kaffee mit und kannst […] gleich losstarten und das ist so ein Problem bei offenen Arbeitsplätzen, dass du Mobilität zwar haben kannst, aber so kabellos funktioniert das auch nicht.“ (Nr. 6, Z. 389–396).

Im Open Space Büro wird ein hoher Grad an Digitalisierung angestrebt und dies auch von den MitarbeiterInnen durch die flexible Wahl des Arbeitsortes im Home-Office oder andernorts genutzt. In diesem Zusammenhang erwähnte eine Befragte das im Open Space angestrebte Prinzip „paperless work“. In Anlehnung an die Clean-Desk-Policy sind die Beschäftigten dazu angehalten, keine Dokumente oder anderes Arbeitsmaterial am Arbeitsplatz zu hinterlassen, sobald sie ihren Arbeitstag beenden. Die Befragte fühlte sich eingeschränkt, da das Arbeitsmaterial immer wieder erneut verstaut werden muss. „Es gibt einfach noch Unternehmen, die arbeiten einfach noch viel mit Papier. […] Und es geht noch nicht ganz ohne. Papier braucht einfach Platz und das ist halt auch so ein Manko. Klar, im Open Space hast Du nicht mehr deine 2,40 m breiten Tische, sondern nur noch 1,20 m […] Da bist Du dann so ein bisschen eingeschränkt. Genau, das ist jetzt auch so ein Negativfall bei uns, dass Du Dich nicht mehr ausbreiten kannst, wie Du willst.“ (Nr. 6, Z. 526–536).

Handlungsspielräume und Selbstorganisation Open Space erfordert eine verstärkte Selbstorganisation der Arbeit. Diese geht mit einer Zunahme an Autonomie und neuen Handlungsfreiräumen in der Arbeitsausführung einher. „Das ist dann aber auch Struktur. Jeder, wie er es machen will. Digital machst Du eine To-Do-Liste und hast es als Papierform da. Da ist jeder für sich verantwortlich, wie er seine Aufgaben erledigt.“ (Nr. 6, Z. 555–558).

Innerhalb der zeitlichen Arbeitsgestaltung existieren betrieblich festgelegte Rahmenbedingungen sowie Vertrauensarbeitszeit, die jedoch von einer flexiblen Handhabung begleitet werden und Chancen zu mehr Autonomie zulassen.

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„Mir schreibt prinzipiell niemand vor, wann ich komme und wann ich gehe, außer ich hab’ natürlich Termine. Also die Arbeitszeit ist eigentlich komplett flexibel, und bei uns wird das auch gelebt“ (Nr. 5, Z. 55–57).

Die Arbeitszeit gestaltet sich zwar flexibel, richtet sich jedoch hauptsächlich nach den Deadlines der bearbeiteten Projekte. Hinsichtlich der potentiell veränderten Arbeitsgestaltung im Zuge der Open Space-Organisation zeigte sich ein ambivalenter Diskurs. Einerseits gaben die Beschäftigten mehrheitlich an, ihren Arbeitsalltag bewusst kaum anders zu strukturieren. Andererseits zeigten sich implizit bei allen Befragten Merkmale, die auf eine veränderte räumliche, zeitliche, organisatorische Gestaltung ihrer Tätigkeit hindeuteten. Diese wurden meist erst in der Befragung und unter Berücksichtigung ihrer Umgebung und im sozialen Handeln bemerkbar. Entpersonalisierung des Arbeitsplatzes Da sich für die Beschäftigten die Arbeit nicht nur in verschiedenen Raumzonen im Open Space, sondern auch an anderen Orten, etwa im Home Office, vollzieht, weist es auf eine Entpersonalisierung des Arbeitsplatzes hin. So findet zwar eine Erweiterung der Arbeitsortoptionen statt, gleichzeitig schwindet der territoriale Anspruch auf den persönlichen, eigenen Arbeitsplatz. So verspürte eine Befragte die schleichende Abnahme der Privatsphäre im Open Space. „Zwar positiv […], dass es so offen ist und alles frei […], aber irgendwann verlierst Du oft Deine Privatsphäre […]. Das ist, glaube ich, schon die größte Veränderung. Natürlich hast Du früher so Deine Bilderrahmen aufgestellt, Familienfotos und so weiter“ (Nr. 6, Z. 368–373).

Persönliche Merkmale wie das Aufstellen von Bildern und Familienfotos stellen sowohl eine Art Identifikation als auch Territorialisierung dar, die den Arbeitsplatz „markieren“ und individualisieren. Zwar wurde es nicht mehrheitlich als negativ oder störend empfunden, keinen persönlichen Arbeitsplatz zur Verfügung zu haben. Allerdings wird mit einer Beförderung und der Aussicht auf einen persönlichen Arbeitsplatz ein positives Gefühl verbunden, sich dieses verdient zu haben.

4.1.2 Spannungsfeld: Privatsphäre vs. Transparenz Das subjektive Leistungsverständnis Bei der Analyse der erhobenen Daten ließ sich mehrfach erkennen, dass Arbeitskräfte, bezogen auf ihre Leistungserbringung im Open Space, ein widersprüchliches Verständnis pflegen. Zum einen gilt eine vom Unternehmen unterstützte

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flexible Arbeitsweise, die durch eine zeitliche und räumliche Handlungsautonomie geprägt ist. Zum anderen zeichneten sich Ambivalenzen hinsichtlich der Handlungsfreiräume ab, die durch die Umgebung im Open Space restriktiv beeinflusst werden. So ergaben sich im Zuge der indirekten Steuerung Formen von Autonomierestriktionen, wie beim Erledigen privater Dinge. Alle Befragten äußerten sich zum Gefühl der Beobachtbarkeit, das insbesondere durch die starke Transparenz in der offenen Arbeitslandschaft wahrgenommen wird und sich auf das subjektive Leistungsverständnis auswirkt. Die MitarbeiterInnen bewegen sich innerhalb der vom Unternehmen erlaubten flexiblen Arbeitsformen nach dem Prinzip Vertrauen. Zum anderen fühlten sich die Beschäftigten dabei „ertappt“, nicht ihrer Arbeit nachgegangen zu sein und Privates erledigt zu haben. „Ich weiß noch, als Einsteiger hatte ich da halt irgendwie so ein bisschen Hemmungen, […] meinen Mandanten anzurufen […]. Wo ich halt dachte, die hören mir alle zu […] und ich weiß eh nicht so ganz genau, was ich da jetzt fragen muss“ (Nr. 5, Z. 337–342).

Die Mehrheit der Beschäftigten hatte insbesondere am Anfang ihrer Karriere im Unternehmen Schwierigkeiten, im Open Space laut zu telefonieren. Diese Hemmung verschwindet allerdings, so die Befragten, mit zunehmender Erfahrung. Auf die Frage, wie sich die Open Space-Umgebung auf die eigene Leistung auswirke, gaben alle Befragten an, nicht signifikant beeinträchtigt zu sein. Zwar zeigte sich in allen Interviews eine Auswirkung auf die Konzentrationsfähigkeit, welche jedoch nicht erheblich als Leistungsminderung aufgefasst wurde. Die Mehrheit der Befragten betonte den schnellen Informationsfluss als positive Auswirkung der Open Space-Organisation, der als maßgeblich für die Leistungserbringung wahrgenommen wurde. Bei Tätigkeiten, die ein hohes Maß an Konzentrationsarbeit beanspruchten, sei sie jedoch eher kontraproduktiv. Vertraulichkeit Als weitere Problematik im Open Space erwies sich der Umgang mit vertraulichen Informationen. Alle Beschäftigten berichten von Situationen, in denen ihre Arbeit Vertraulichkeit beinhaltet, wie beispielsweise die Planung eines Börsengangs von KundInnen. Neben vertraulichen Gesprächen, die zu Beginn schon Diskretion verlangen und für welche die Beschäftigten Rückzugsorte aufsuchen, entstehen oft unerwartet vertrauliche Unterhaltungen. „Typisch (…) ein Gespräch wird im Open Space begonnen. Man hat wohl vermutet, es ist Open Space-tauglich und das ist es dann doch nicht. Dann muss man eben gucken, wie kriegt man die Kuh vom Eis. Das kriegt dann jeder mit, wo und wie führt man das Gespräch“ (Nr. 4, Z. 342–347).

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Für die Beschäftigten entsteht eine delikate Situation, in der sie eigens entscheiden müssen, wie sich ein geeigneter Umgang gestaltet. Dabei handelt es sich meist um einen schmalen Grat, da die Beschäftigten zudem kein Aufsehen erregen wollen. Arbeit und Privatleben Als zentraler Faktor stellt sich außerdem die Überlappung von Arbeits- und Privatleben dar, die im Open Space aufgrund der gesteigerten Transparenz als Konfliktpotential empfunden wird. An dieser Stelle zeigt sich, dass im Open Space nicht nur die Arbeitskraft in ihrer Professionalität beobachtet wird, sondern auch die Person als solche in den Mittelpunkt rückt. Dies gestaltete sich für die Beschäftigten als Schwierigkeit, wenn persönliche Probleme emotional nicht ausreichend verdrängt werden können und Auswirkungen auf die Arbeitsgestaltung haben. „Es kann auch sein, dass man traurig ist, weil zu Hause was passiert ist, oder jemand wurde gekündigt. […] Dann kriegst du so was mit, und vielleicht willst du das ja gar nicht […]. Und du musst, wenn du traurig bist, trotzdem arbeiten“ (Nr. 6, Z. 567–571).

Manche Beschäftigten beschrieben dies als kritisch, da sie nicht zwingend so viel Privatheit und Nähe zulassen möchten. Insgesamt ließ sich die Transparenz und Offenheit einerseits als Schwierigkeit für die Behandlung vertraulicher Informationen identifizieren. Gleichzeitig wurde die offene Büroeinheit, die durch mehr Nähe gekennzeichnet ist, als positiver Faktor für das Zusammengehörigkeitsgefühl wahrgenommen, wie im folgenden Zitat erkennbar wird: „Weil es wirklich schön ist, weil man auch im Alltag die Kollegen wahrnimmt […] man sieht einfach, was die treiben und man kriegt es mit und es ist so ein Zusammengehörigkeitsgefühl“ (Nr. 4, Z. 212–216).

4.1.3 Spannungsfeld: Kommunikation vs. Konzentration Kommunikation Die Befragten hoben eine Zunahme in der Interaktion und damit eine Verbesserung in der Kommunikationsweise mit KollegInnen und Vorgesetzten hervor. Wie bereits festgestellt, entsteht im Open Space mehr Raum für informelle Gespräche. Diese ergeben sich nicht nur aufgrund der Beobachtbarkeit, häufiger sehen und gesehen zu werden. Vielmehr trägt hier auch eine gegenseitige

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­ ffenheit zu einem aktiven Austausch miteinander bei, infolge dessen InterO aktionen erhöht werden. Die Transparenz im Open Space führe auch zu einer einfachen „Orientierung“ und einem schnellen Auffinden der MitarbeiterInnen. „Tatsächlich ist es so im Open Space, […] dass man erkennen kann, wann wer da ist und man dann gucken kann, ob man kurz kommuniziert“ (Nr. 4, Z. 39–42).

Hier wurde der Vergleich zum Einzelbüro gezogen, da man in diesem Fall oft überflüssige Wege gelaufen war, obwohl die KollegInnen sich dann im Termin oder außer Haus befanden. Insgesamt wurden die informellen Gespräche, die sich beispielsweise auf dem Weg zur Kaffeemaschine ergeben, als sehr wichtig wahrgenommen. Zudem wurde es im Vergleich zu traditionellen Büros als einfacher bewertet, Absprachen mit den Vorgesetzten zu treffen. Dies wurde auch durch die tatsächliche Nähe zum Vorgesetzten begründet. „Wenn der Chef dann in einem Raum hockt, dann traust du dich erst mal nicht anzuklopfen. Und wenn es in einem offenen Raum ist, […] dann hast du mal eine Frage, dann kannst Du direkt fragen“ (Nr. 6, Z. 407–411).

Darin zeigte sich ebenso ein Abbau von hierarchischen Strukturen, da das Büro des Vorgesetzten noch oft mit einem Statussymbol konnotiert ist. Neben der Kommunikation mit den Vorgesetzten wurde besonders die Interaktion mit KollegInnen betont, die zur gegenseitigen Unterstützung im Arbeitsprozess verhelfe und gemeinsame Lösungsansätze hervorbringe. „Wenn du was mitbekommst und die reden über Probleme und du kennst das Problem schon, dann kannst du trotzdem sagen „Hey, ich kenne das Problem. Dann hilft man aus.“ (Nr. 6, Z. 297–300).

Dabei wurde es aber auch einerseits als negativ aufgefasst, dass KollegInnen dadurch schneller in andere Zuständigkeitsbereiche involviert waren. Andererseits wurde dieser Aspekt gleichzeitig als positiv erachtet, da es insgesamt dem Unternehmensinteresse diene. „Was insofern gut ist, für die Gesamtfirma, weil man den Schaden wohl abwenden konnte, aber man wird hineingezogen, weil man es gar nicht verhindern kann, das mitzukriegen“ (Nr. 4, Z. 234–237).

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Es lässt sich feststellen, dass das interaktive Arbeiten im Open Space partiell zu einer Erweiterung des eigenen Aufgaben- bzw. Zuständigkeitsbereiches führt, der von der Kooperation der KollegInnen geprägt ist. Ablenkung, Akustik und Intensität der Einflüsse Bezogen auf die Ablenkung durch Open Space wurden verschiedene Faktoren genannt. „Dass mich die Gespräche von anderen oder Telefonate mich abgelenkt haben. Dass ich dachte, ich muss mich jetzt konzentrieren, aber geht nicht richtig, weil so viele Leute reden“ (Nr. 5, Z. 419–422).

Zu den Ablenkungsfaktoren gehört die Lautstärke, deren Wahrnehmung variierte, je nachdem, ob sie als Hintergrundkulisse oder bewusst als Gespräche wahrgenommen wird. Die Lautstärke in den Open Space-Büros wirkt sich, so alle Befragten, auf die Konzentrationsfähigkeit der Beschäftigten aus. So ereigneten sich weniger Störungen durch „Plaudereien“ als vielmehr durch Telefonate oder Gespräche, die neben ihnen geführt wurden. Eine Befragte betonte, dass manche KollegInnen sich möglicherweise bewusst in den Fokus rückten, indem sie absichtlich laut redeten, damit jeder ihre „Probleme“ mitbekomme. Hierbei ist auch anzumerken, dass die Problematiken um Akustik und Laustärke auch mit der Anzahl weniger Rückzugsorte zusammenhängt und zu einer Verschärfung der Belastung führt. Alle drei identifizierten Spannungsfelder sind von einer spezifischen Ambivalenz gekennzeichnet. Sie deuten auf ein verändertes Raumarrangement für die Beschäftigten hin, in dem sie spezielle Umgangsweisen und Bewältigungsstrategien für sich entwickeln müssen. Wie dies geschieht, wird im folgenden Abschnitt erörtert.

4.2 Umgang mit Spannungsfeldern Die Beschäftigten berichteten von speziellen Anpassungs- und Strukturierungsleistungen, mit denen sie ihre Arbeit nach eigenen und betrieblichen Leistungsansprüchen gestalten. Anpassungsleistungen Beschäftigte versuchen dem allgemeinen Lautstärkepegel und den Gesprächen der KollegInnen entgegenzuwirken, indem sie per Kopfhörer Musik hören. Das

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Musikhören mit Kopfhörern dient einerseits als Hilfe, konzentriert und ungestört arbeiten zu können. Andererseits bringt es die Arbeitskraft in eine zwiespältige Situation, da auf diese Weise potentiell eingehende Anrufe nicht gehört werden können. Weiterhin berichteten die Beschäftigten von einer Art „Tunneleffekt“ und von einem Ausblenden, welche sie mit der Zeit im Open Space entwickeln würden, um ihre Umgebung weniger wahrzunehmen. „Die reden irgendwas, ich kriege das kurz mit, aber ich blende das aus und ich mache weiter. Das ist auch eine Fähigkeit, die man im Open Space tatsächlich lernen muss, dass man sich entkoppelt“ (Nr. 4, Z. 173–177).

In diesem Zusammenhang wurde auch ein „emotionales Ertragen“ erwähnt, das sich darauf bezieht, dass situationsbezogen immer wieder Priorisierungsentscheidungen im Hinblick darauf gefällt werden müssen, ob man sich nun ablenken lässt oder sich verstärkt auf die eigenen Arbeit konzentriert. „Dann ist es eine gute Sache, wenn ich es schaffe, emotional es zu ertragen, dass dann auch die anderen Dinge, die […] ich […] eigentlich in Ruhe machen muss, […] dann eben […] verschoben werden oder unterbrochen werden müssen“ (Nr. 4, Z. 279–283).

Dies wurde als innerer Zwiespalt wahrgenommen, wobei stets abgewägt und priorisiert werden müsse. Hierbei werden subjektive Anforderungen an das eigene Zeitmanagement gestellt, indem Prioritäten gesetzt werden, ob spontane Störungen zugelassen werden dürfen oder diese terminlich geregelt werden. Die Arbeitsgestaltung werde dadurch schwer planbar und die Arbeit könne nie ungestört abgeschlossen werden. Insgesamt gaben alle Befragten an, sich nach einer Weile an die Arbeitsbedingungen im Open Space gewöhnt zu haben. Hierbei wurde auch die persönliche Anpassungsfähigkeit hervorgehoben. Aneignungsstrategien Des Weiteren tendierten die Beschäftigten dazu, sich Rückzugsorte zu suchen, um Störungen oder Ablenkungen zu vermeiden und um ihrer Arbeit konzentriert nachgehen zu können. Diese waren beispielsweise Projekträume, Telefonboxen, Flure oder außerhalb des Büros Terrassen oder das Home-Office. Dabei wurden die Rückzugsorte als erweiterte Handlungsfreiräume wahrgenommen.

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„Es gibt bei uns Räumlichkeiten, wo du konzentriert arbeiten kannst, Ruhezonen […] Du hast immer die Gelegenheit aufzustehen und zu gehen, wenn es nicht besser wird mit der Lautstärke“ (Nr. 6, Z. 266–272).

Anhand der Auswertung wurde deutlich, dass der Aspekt Rückzugsmöglichkeit, also ein Ort zum ungestörten Arbeiten, äußerst wichtig ist. Rückzugsorte werden zudem oft aufgrund der im Open Space gesteigerten Nähe und Transparenz gesucht, da die Hierarchien im Zuge von Free-Seating und Clean-Desk deutlich flacher werden. Daher ist es manchen Beschäftigten unangenehm, so nah neben ihren Vorgesetzten oder KollegInnen zu arbeiten. „Hier ist es relativ offen und die Hierarchie auch, dann kann es sein, dass dein Chef neben dir hockt, aber […] wenn es dir unangenehm ist, kannst du flüchten“ (Nr. 6, Z. 236–239).

Die Art des Umgangs mit den Störfaktoren im Open Space variierte unter den Befragten deutlich. Für die individuellen Handlungsstrategien wichtig waren die vom Unternehmen bzw. vom Team geführten Praktiken ebenso wie die persönliche Verhaltensweise. Damit umgehen zu können, betrachteten die Beschäftigten einerseits als Anforderung des Tätigkeitsprofils, andererseits als Teil der eigenen Persönlichkeit. „Die Leute entscheiden sich von ihrem Naturell für ihren Job. Zum Beispiel jemand, der geregelte Abläufe liebt, seine Ruhe liebt, der wird sich eher nicht für einen Job, wie ich ihn hab, entscheiden. Wenn der darauf ausgelegt ist, dass man geregelte Arbeitszeiten hat und dem dann ein Open Space aufdrückt, dann funktioniert das auch nicht“ (Nr. 5, Z. 582–588).

Insgesamt verkörperten die subjektiven Erwartungen und Ansprüche auch eigene Maßstabsetzungen im Hinblick auf die Akzeptanz und Regulierung der individuellen Bedürfnisse, wodurch die Bedingungen im Open Space relativiert oder auch legitimiert wurden. Als weitere Strategie fungierte die direkte Ansprache. So berichteten Beschäftigte, dass sie KollegInnen offen ansprechen, falls die Gespräche im Open Space zu laut würden. „Die wichtige Strategie ist direkt zu sein. Dass man diese Direktheit eben auch miteinander zulässt, im Positiven. Wenn man nur sagt, der Kollege ist immer so ruppig. Das ist natürlich blöd, da muss man sich schon miteinander absprechen“ (Nr. 4, Z. 395–398).

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Ebenso erfolgte eine Form indirekter Kommunikation, indem Beschäftigte sichtbar Post-its als Warnsignale auf ihre Bildschirme klebten, um nicht gestört zu werden. Bezogen auf die Aneignungsstrategien zeigte sich, dass ein respektvoller Umgang miteinander angestrebt wird, indem ruhige Orte oder eine Telefonbox gewählt werden. Ferner zeigten sich auch Achtsamkeit und Respekt, die mit einer Reflektion und emotionalen Intelligenz einhergehen, dass Mitarbeitende Stresssituationen ihrer KollegInnen erkannten und daraufhin reagierten. Als Zeichen respektvollen Umgangs ließe sich auch das Gewähren der gegenseitig bevorzugten Sitzplatzstruktur anerkennen, da man die Lieblingsplätze der Mitarbeitenden kenne und respektiere.

5 Zusammenfassung und Ausblick Hinsichtlich der Forschungsfragen lässt sich unter Berücksichtigung der empirischen Befunde Folgendes festhalten: Auch wenn sich Open Space-Büros in ihrer Ausgestaltung nach Größe, Raumzonen, Arbeitsstrukturen und „Policies“ unterscheiden, zeigt sich in der Flexibilität der Raum- sowie Arbeitsplatznutzung das konstituierende Merkmal. So verfügen diese Büros über unterschiedliche tätigkeitsspezifische Raumzonen und Arbeitsplätze, die die Beschäftigten flexibel zur Gestaltung ihrer Tätigkeit nutzen können. In dieser Entscheidungsfreiheit liegt der Unterschied zu den traditionellen Büros. In die Open Space-Büros sind Flexibilität, Agilität und Mobilität inkludiert, wohingegen traditionelle Büros wie Einzel- oder kleinere Büros weniger auf die in der heutigen Arbeitswelt geforderten Bedingungen zur Kommunikation- und Interaktionsfähigkeit abzielen und stattdessen eher Raum für konzentriertes Arbeiten bieten. Hinsichtlich der Ziele und Erwartungen von Unternehmen konnte festgestellt werden, dass mit diesem Konzept neben Effizienzsteigerung und Kostenreduktion, Flexibilität, Kommunikation und Innovationskraft verbunden werden. In diesem Zusammenhang lässt sich vermuten, dass Unternehmen mit dem Open Space-Konzept eine geeignete Form finden, auf die veränderten Anforderungen des Marktes reagieren zu können. Auf diese Weise lässt sich flexibler reagieren auf Personalzuwachs und -abbau, die Anpassung des Personalbestands an die Auftragslage oder die Zusammenstellung neuer agiler Teams im Zuge des Wettbewerbs (Huchler et al. 2007; Böhle 2010). Daneben versuchen Unternehmen auf neue Herausforderungen der digitalen Arbeitswelt zu reagieren, indem sie mit der Philosophie von Open Space ihre Wettbewerbsfähigkeit und Agilität gegenüber ihrer Umwelt darstellen wollen und für Beschäftigte und potentielle MitarbeiterInnen als attraktive Arbeitgeber erscheinen wollen.

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Arbeitsorganisatorisch unterstützt Open Space aufgrund der flexibilisierten räumlichen und zeitlichen Gestaltung von Arbeit eine verstärkte Ausrichtung auf indirekte Kontrolle, Ergebnissteuerung und eine allgemeine Lockerung starrer Arbeitsausführung, die sich im Zuge von Projektarbeit und der ungeregelten bzw. flexiblen Arbeitsbedingungen vollzieht. Damit treten Formen zeitlicher, räumlicher und inhaltlicher Entgrenzung von Arbeit auf (Moldaschl und Sauer 2000). Zunehmend bilden technische und organisatorische Veränderungen einen wichtigen Bestandteil für neue Formen der Betriebs- und Arbeitsorganisation (Böhle und Bolte 2002). Open Space wird im Zuge des Fortschritts von Technik überhaupt erst möglich, da sich die Philosophie am Konzept „Paperless Office“ orientiert und auf einer funktionierenden Telekommunikation beruht (Sellen und Harper 2002). Nicht nur zur Arbeitsausführung, sondern auch zur Kommunikation innerhalb des Teams und mit KundInnen wird immer mehr auf Informations- und Kommunikationstechnologien gesetzt. Daneben wollen Unternehmen mit dem Angebot flexibler Arbeitsplatzoptionen nicht nur individuelle Anreize schaffen, sondern Handlungsspielräume erweitern (Kleemann et al. 2002). Unternehmen haben mittlerweile festgestellt, dass Anreize weniger durch materielle Anerkennung geschaffen werden. Demnach treten die früher angestrebten Wertvorstellungen und Ziele der Beschäftigten, wie beispielsweise die Aussicht auf einen Firmenwagen und „Karriere zu machen“, zunehmend in den Hintergrund, Stärkere Leistungsanreize werden stattdessen durch Themen wie Work-Life-Balance, gute Arbeitsbedingungen oder Nachhaltigkeit gesetzt. Ein Bezug zur Nachhaltigkeit lässt sich insofern vermuten, als „Sharing“ (Carsharing, Foodsharing usw.), zunehmend relevanter werden und beim Open Space-Konzept Desk-Sharing als positiv angesehen werden kann. Gesamtgesellschaftlich entsteht ein neuer Blick auf die Bedeutung von Besitztümern und territorialen Ansprüchen. Daran anknüpfend erweisen sich Innovationsprozesse als soziale Prozesse, die von Normen und sozialen Wertvorstellungen geprägt sind (Blättel-Mink 2019). Durch die verstärkt projektförmige Organisation im Open Space ergeben sich für die Beschäftigten neue Anforderungen an die Selbststeuerung, Selbstkontrolle und die Selbstrationalisierung (Böhle 2010; Voß/Pongratz 2004). Mit der Möglichkeit zur flexiblen Wahl des Arbeitsortes wird im Büro und außerhalb multilokal gearbeitet. Dabei stellt die Koordination der Teamarbeit einen zentralen Faktor dar, der nicht nur die Steuerung der eigenen Kapazitäten erfordert, sondern auch die des Projektteams umfasst. Zudem deuten sich in der betrieblichen Arbeitsorganisation Aspekte zur subjektivierten Arbeit an, indem die Fähigkeit zur Selbststeuerung vom Unternehmen erwartet und der Einbezug personeller Kompetenzen von der Arbeitskraft gefordert werden: der zunehmende

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Einsatz subjektiver Strukturierungsleistungen in der betrieblichen Arbeitsorganisation und der verstärkte Zugriff auf die subjektiven Potentiale von Arbeitskräften (ebd.; Kleemann et al. 1999). Im Zuge dieses Abbaus herrschaftlicher Steuerung und der Zunahme indirekter Steuerung im Open Space sind die Beschäftigten zunehmend selbst verantwortlich für die Transformation ihrer eigenen Fähigkeiten in Arbeitsleistung, auch wenn die gegebenen Bedingungen die Arbeitsgestaltung teilweise aufgrund von Lautstärke, Ablenkung oder Unterbrechungen beeinträchtigen. Es war erkennbar, dass manche Arbeitskräfte weniger Privates auf der Arbeit mitteilten, obwohl dies manchmal aufgrund der Transparenz unweigerlich passiere. Andere nahmen dies jedoch als positiven Faktor wahr, indem man die KollegInnen als Person und „Ganzes“ mit ihrer Persönlichkeit kennenlerne und auf diese Weise die KollegInnen auch arbeitsbezogen besser einschätzen könne. Verbunden damit wurde die Offenheit im Open Space als Zusammengehörigkeitsgefühl wahrgenommen. Die Arbeit geht für die Beschäftigten aufgrund ihrer Dienstleistungstätigkeit ohnehin mit dem Einsatz von Emotionsarbeit einher, wobei die Interaktionsarbeit ein wichtiger Bestandteil für die Leistungserbringung darstellt (Huchler et al. 2007; Böhle 2006). Dabei müssen die Akteure ihre Handlungen aufeinander abstimmen, sodass die gemeinsame Ko-Produktion gelingt (Dunkel und Rieder 2004). Für die Beschäftigten ist diese Situation mit der Besonderheit einer doppelten Kontrolle verbunden, einerseits durch den Betrieb (Unternehmen und Management), andererseits durch die KundInnen (Böhle 2006). Für die Beschäftigten stellt dies eine tägliche Herausforderung dar, die durch die interaktive Arbeit im Open Space teilweise beeinträchtigt werden kann. So werden von den Beschäftigten zunehmend „extrafunktionale Funktionen“ wie kreative oder sozial-kommunikative Lösungskompetenzen gefordert (Frey 2009). Im Zuge der betrieblichen Strategien zur Selbstorganisation werden hier anknüpfend an die „Arbeitskraftunternehmer-These“ partielle Merkmale eines neuen Typus sichtbar: eine Arbeitskraft, die zur UnternehmerIn ihrer eigenen Arbeitskraft wird und eigene Potentiale effizient und unternehmerisch einzusetzen weiß (Pongratz und Voß 1998). Daneben lässt sich die flexible zeitliche und räumliche Gestaltung von Arbeit als Anzeichen für eine veränderte Selbstorganisation verstehen. Dies beinhaltet eine auf Selbstorganisation ausgerichtete Arbeitsweise, die zugleich Autonomie und neue Handlungsfreiräume in der Arbeitsausführung bedeuten und für die Beschäftigten mit einem deutlichen Autonomiegewinn verbunden sein können (Voß 2007). Fremdorganisation und – kontrolle durch die Vorgabe von Regelungen und formalisierter Abläufe werden zunehmend durch Selbstkontrolle, Selbstökonomisierung und Selbstrationalisierung ersetzt, während

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Handlungsspielräume und Autonomie ausgeweitet werden (Lohr und Nickel 2005). So lassen sich die Veränderungen zu Open Space als Wandel betrieblicher Strategien zur Nutzung und Gestaltung des Arbeitseinsatzes der Arbeitskräfte begreifen. Die mit der Flexibilisierung und Selbstorganisation einhergehenden veränderten arbeitsorganisatorischen Bedingungen stellen neue Gegebenheiten dar, die von den Befragten gleichermaßen mit erweiterten Gestaltungspielräumen und Anreizstrukturen verbunden werden (Kratzer 2003). Für die Beschäftigten ergeben sich Handlungschancen zur individuellen Einflussnahme auf die eigene Arbeitsgestaltung. Diese Chancen wurden von den Befragten als betriebliches Entgegenkommen wahrgenommen. Die Beschäftigten sahen darin eine selbstbestimmte, unabhängige Arbeitsweise, die sie weitgehend frei gestalten können durch die Wahl der Arbeitsorte, die Benutzung verschiedener Arbeitszonen und ­Home-Office-Optionen (Moldaschl 2001). Diese werden als Teil des Konzepts angesehen und vielmehr als Handlungsautonomie wahrgenommen. Absprachen mit KollegInnen und Vorgesetzen zur flexiblen Arbeitszeitgestaltung erweisen sich hierbei als individuelle Verhandlungsautonomien. Der Aspekt möglicher Autonomiepotentiale erweist sich als zentral für die hohe Akzeptanz des Konzepts, wobei mehrheitlich auch die Nachvollziehbarkeit der tätigkeitsspezifischen (Dienstleistungs-) Arbeit beiträgt. Wie in den empirischen Ergebnissen festgestellt, haben die Beschäftigten bestimmte Umgangsweisen entwickelt, um unter den veränderten Gegebenheiten ihre Arbeit zu verrichten und Leistung zu erbringen. Als Anpassungsleistung ließ sich vorwiegend das Ausblenden der Umgebung – Lautstärke, Akustik und die hohe Intensität der Einflüsse – verzeichnen. Dies wurde einerseits technisch durch das Musikhören mit Kopfhörern bewirkt. Zum anderen handelte es sich um eine kognitive (Eigen-)Leistung, indem die Umgebung mental ausgeblendet wurde. Hier entwickelten die Beschäftigten spezielle Filtermechanismen, einen „Tunnelblick“. Um auf die Bedingungen im Open Space zu reagieren, nutzten die Befragten meist Rückzugsorte wie Projekträume, Telefonboxen oder das HomeOffice. Um Störungen zu verhindern und ihr praxisbezogenes Handeln flexibel den komplexen und strukturell vorherrschenden Arbeitsbedingungen anzupassen, greifen die Beschäftigten regulierend ein und entwickeln so eine kompensatorische Subjektivität (Kleemann et al. 2002). Sie beweisen eine hohe Strukturierungsbereitschaft (Matuschek et al. 2004) durch ein effizientes Zeitmanagement unter der Berücksichtigung von Unterbrechungen, ein tätigkeitsspezifisches Raummanagement unter Kriterien von Akustik und technischen Bedingungen sowie eine allgemein strukturierende Priorisierung und Evaluierung eigener Kapazitäten zum Erreichen der Leistungsansprüche. So werden durch subjektiv-individuelle

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Anpassungsleistungen effiziente Arbeitsabläufe gewährleistet. Auf diese Weise wird eine Passung betrieblicher Ansprüche erzielt (Kleemann et al. 2002). Bezogen auf eine praktisch-handelnde Aneignungsebene lässt sich erkennen, dass Beschäftigte trotz restriktiver Arbeitsbedingungen bestimmte Handlungsoptionen aufrechterhalten. Dies geschieht etwa durch eine bevorzugte Platzwahl und durch Einhaltung einer allgemeinen Sitzplatzstruktur. So wurde dargestellt, dass die Beschäftigten nicht nur für fachliche Absprachen kooperieren, sondern auch in Interaktion treten, um gegenseitig bessere Arbeitsbedingungen einzufordern. Diese werden als individuelle Handlungsautonomie wahrgenommen (Kleemann et al. 2002). Es zeigt sich, dass Strategien nicht nur individuell entwickelt, sondern auch kollektiv in der Interaktion mit KollegInnen ausgehandelt werden, indem gemeinsame Verhaltensrichtlinien aufgestellt werden. So lässt sich erkennen, dass die Arbeitsweisen im Open Space auch ein Stück Unternehmenskultur bedeuten, die im Rahmen betrieblicher Reorganisation auch als strategischer (­Werte-) Wandel angestrebt werden. Dadurch können auch gemeinsame Visionen und Leitbilder innerhalb der Belegschaft entstehen, die zum angemessenen Handeln in der Organisation beitragen können.

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Voß, G. G. 2007. Subjektivierung von Arbeit und Arbeitskraft. Die Zukunft der Beruflichkeit und die Dimension Gender als Beispiel. In Arbeit und Geschlecht im Umbruch der modernen Gesellschaft. Forschung im Dialog, Hrsg. Aulenbacher, B., M. Funder, H. Jacobsen, und S. Völker, 97–113. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Voß, G. G., und H. J. Pongratz. 2004. Arbeitskraft und Subjektivität. Einleitung und Stellungnahme. In Typisch Arbeitskraftunternehmer. Befunde der empirischen Arbeitsforschung, Hrsg. Pongratz, H. J., und G. G. Voß, 7–31. Berlin: Ed. Sigma.

Arnold, Theresa,  M.A., Studium der Soziologie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Die Forschungsgebiete von Theresa Arnold sind Arbeits- und Organisationssoziologie, Sozialpsychologie und systemische Beratung.

Komplementärwährungen und monetäre Werkzeuge als soziale Innovation Christian Gelleri

Zusammenfassung

Viele soziale und ökologische Innovationen scheitern oft an Renditezwängen. Etliche Ökonomen sprechen dem Geld einen neutralen Charakter zu. Dies entspringt der Vorstellung, Geld sei ein Ding, auf das der Mensch nur begrenzt Einfluss habe. Ein Blick in die historische Entwicklung des Geldwesens lässt an dieser Theorie starke Zweifel aufkommen: Geld entsteht bereits in der Antike, jedoch spätestens in der Neuzeit durch Kollektive, die ausgehend von bestimmten Zielen und Normen einen abstrakten Wert- und Rechenmaßstab festlegen und mittels eines Zahlungssystems verwirklichen. Mit dieser Perspektive eröffnet sich das Geld selbst als eine formbare Institution. Die Handlungsspielräume werden einerseits durch die Zusätzlichkeit einer Währung stark erweitert, andererseits aber auch durch Regeln und Normen begrenzt. An Beispielen von Regionalwährungen in Wörgl, im Chiemgau und auf Sardinien werden unterschiedliche Umweltbedingungen betrachtet und die Zielrichtung und Lösungsansätze der jeweiligen Währungsinitiativen vorgestellt. Das neu geschaffene „Geld“ wirkt dabei wie ein Bindemittel, das die Beteiligten dynamisch und dauerhaft zu Kooperationen anregt. Welchen Beitrag leisten solche alternativen Währungen im Hinblick auf globale Herausforderungen wie demographischer Wandel, Klimaerwärmung und soziale Ungleichheit? Sind sie vielleicht sogar Wegbereiter eines grundlegenden Transformationsprozesses im Geldwesen?

C. Gelleri (*)  Rosenheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_8

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1 Geld als Gegenstand sozialer Innovation Anfang 1980 gab es laut Bernard Lietaer eine Komplementärwährung auf der Welt: den schweizerischen WIR (Lietaer 1999, S. 292). Daneben gab es vereinzelt weitere kleine und relativ unbekannte Systeme wie das 1908 eingeführte BethelGeld (Hardraht und Godschalk 2004, S. 29). Nach der Gründung des ersten Tauschrings 1983 stieg die Anzahl im Laufe der 80er und 90er Jahre rasant an auf etwa 1900 im Jahr 1998 (Lietaer 1999, S. 281). 2013 gab es bereits knapp 4000 Komplementärwährungen in 23 verschiedenen Ländern (Seyfang und Longhurst 2013). Mittlerweile wird die Zahl auf etwa 10.000 geschätzt, darunter allein über 2122 „Kryptowährungen“ (laut coinmarketcap.com, Stand: 25.03.2019). Diese Dynamik weist darauf hin, dass es über die 160 bestehenden nationalen und supranationalen Geldsysteme hinaus eine zunehmende Vielfalt monetärer Werkzeuge gibt, die den Bedürfnissen, Zielen und Zwecken der Bürgerinnen und Bürger dienen können. Dennoch werden Komplementärwährungen immer noch als Rand- oder Nischenphänomen wahrgenommen. Die Gestaltung der Regeln des Geldes wird zumeist als Gegenstand politischer Entscheidungsprozesse in Expertengremien der Zentralbanken angesehen (Dietsch 2017, S. 232). Die Veränderung der institutionellen Rahmenbedingungen sind somit bestenfalls „politische Innovationen“ (Rammert 2010, S. 42). Die Entwicklung der Zahlungsmittel wird wiederum als ökonomische Innovationen wahrgenommen, oft jedoch verbunden mit negativen externen Effekten (Paech 2012; Lessenich 2016). Die Veränderung des Geldes selbst erscheint auf den ersten Blick ungewöhnlich, da die Zielsetzung einer hohen Wertstabilität unangefochten erscheint und unabhängige Notenbanken danach streben, diese zu erhalten (McGinnis und Roche 2017, S. 11). Die Teilnehmenden am Geldsystem bewegen sich bislang wie Fische im Wasser und kümmern sich nicht um das sie umgebende Medium (Lietaer 1999, S. 18). Wenn einzelne „Fische“ über Geld sprechen, dann erscheint es eher wie ein gegebenes „Ding“, das es zu maximieren gilt: „I like money. I’m very greedy. I’m a greedy person. I shouldn’t tell you that, I’m a greedy – I’ve always been greedy. I love money, right?… But, you know what? I want to be greedy for our country. I want to be greedy. I want to be so greedy for our country. I want to take back money.“ (Donald Trump am 11. Februar 2016)

Donald Trump repräsentiert das Bild wirtschaftender Menschen, die nach Profit streben. Trump überträgt dieses Bild auf den Staat, der als „schwäbischer Hausmann“ ebenfalls möglichst viel Gewinne erwirtschaften soll. Theoretisch fundiert wird das Geld als Ding durch die Modellierung von Märkten mit Anbietern, die

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ihre Güter feilbieten. Da es in diesem fiktiven Markt schwierig ist, jemanden zu finden, der genau das benötigt, was ich anbiete und umgekehrt das anbietet, was ich benötige, entsteht der Bedarf für eine „Innovation“ (Rammert 2010, S. 39). Diese vereinfacht den Tauschprozess, indem ein Gut als Standard eingeführt wird, der von den Marktteilnehmern akzeptiert wird. Das Problem der doppelten Koinzidenz wird durch die Einführung eines Nummeraire gelöst (Ingham 1996, S. 513). Das Standardgut lässt sich leicht messen, ist leicht übertragbar und genießt allgemeine Wertschätzung. Die Ökonomie leitet daraus in der Regel drei Grundfunktionen ab: Tauschmittel, Wertaufbewahrungsmittel und Wertmaßstab (Mankiw und Taylor 2008, S. 709). Das Medium, das diese Funktionen am besten und günstigsten abdeckt, setzt sich im Markt als Geld im Sinne des „geltenden Tauschmediums“ durch. Als innovativ gilt, wer signifikante Fortschritte bei der Erfüllung der Funktionen leistet (Ingham 1996, S. 511).

2 Narrativ des Metallismus Im Vordergrund steht eine ökonomisch-technische Sichtweise, in der Effizienzgesichtspunkte die Hauptrolle spielen. Dieses Narrativ besitzt eine lange Tradition und wird von Goodhard als „M-Theorie“ bezeichnet (Goodhart 1998). Das „M“ steht für Metallismus, weil es einen bestimmten Gegenwert wie Gold oder Silber repräsentiert. In vielen ökonomischen Modellen wird dieses Narrativ implizit übernommen und nicht weiter reflektiert (Şener 2014, S. 8). Das perfekte Geld hat keine Transaktionskosten und besitzt immer und überall den gleichen Wert. Mit dieser Annahme verschwindet das Geld aus den ökonomischen Modellen, und übrig bleiben zum Beispiel Tauschsituationen auf der berühmten Insel von Robinson Crusoe. In einer solchen Modellwelt kommen Währungskrisen und Störungen durch die monetäre Sphäre nicht vor. Abgelehnt wird auch die Vorstellung, dass neues Geld etwas Konstruktives in der Gesellschaft bewirken könnte. Bleibt man dem Narrativ der M-Theorie verhaftet, wird das Geld selbst kaum Gegenstand der Reflexion werden. Abgesehen von technischen Entwicklungen der Geldmedien bleibt wenig Spielraum. Wer das „Ding“ besitzt, soll es halten und mehren können. Die Knappheit ist gut, weil es den Wert als Tauschmittel garantiert. Ein Problem entsteht allerdings, wenn die Verteilung stark ungleichgewichtig wird und es zu Unterauslastung, Arbeitslosigkeit und Armut kommt. Staaten sind in diesen Situationen stark gefordert, weil sie einerseits das Eigentum der Besitzenden schützen und andererseits im Falle einer zu starken Knappheit einen sozialen Ausgleich herbeiführen müssen. Ansprüche der Bedürftigen und Schutzrechte der Eigentümer stehen sich gegenüber und entladen sich in politischen Konflikten.

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3 Denkfigur des Chartalismus Eine relativ neue „Schule“ der Gelderzählungen wurde von Georg Friedrich Knapp durch sein 1905 veröffentlichtes Buch „Die staatliche Theorie des Geldes“ begründet (Knapp 1905). Er führt darin aus, dass Geld spätestens in der Neuzeit durch souveräne Handlungen kollektiver, meist staatlicher Institutionen entstehe. Ausgangspunkt waren Märkte, für die weltliche und kirchliche Regierungen Geld bereitstellten, die einerseits den Tausch erleichterten und andererseits die Eintreibung von Steuern sicherstellten. Geld schöpfen zu können, ist damit eng verbunden mit der Macht, Steuern und Beiträge erheben zu können. Da Steuern nur in der emittierten Geldeinheit getilgt werden dürfen, entsteht ein allgemeiner Annahmezwang (Wray 2018, S. 60). Zwar steht es den Akteuren im Wirtschaftskreislauf frei, vor der letzten Zahlung eine andere Währungseinheit zu verwenden, doch erhöht dies den Transaktionsaufwand und erfordert mindestens einen zusätzlichen Geldwechsel vor der Bezahlung der Steuern (Mundell 1961, S. 662). Der Wert der geprägten Einheit lag bei soliden Staaten meist über dem reinen Metallwert. Darin drückte sich das Vertrauen der Bevölkerung in die Sicherheit und Effizienzvorteile der kollektiven Währung aus (Desan 2014). In der Historie gab es etliche lokale Zahlungs- und Kreditsysteme, die im Wesentlichen eine Buchhaltung der lokalen Gemeinschaft darstellte. Graeber geht davon aus, dass diese Art von bankähnlichen Kontokorrentsystemen sogar die Grundlage für die Mehrzahl der Transaktionen dargestellt hat (Graeber 2011). Auch hier gab es vielfach lokale Repräsentanten, die Beiträge und Steuern erhoben haben wie zum Beispiel Religionsgemeinschaften oder politische Institutionen wie ein „Gemeinde-Rat“. Die Geldschöpfung und die Annahme von Steuern gehören zwar logisch zusammen, sind jedoch nicht im rechtlichen Sinne miteinander gekoppelt. Diese Nicht-Reziprozität ermöglicht dem Staat oder einem Kollektiv einen gewissen Spielraum, Geld in Wirtschaftsräume zu emittieren, ohne dass er damit rechnen muss, dass der komplette Betrag in Form von Steuern zurückfließt (Wray 2016). Rechtlich gesehen handelt es sich um ungewisse Verbindlichkeiten. Der im Laufe der Zeit realisierte Gewinn zwischen Emission und Rückfluss wird als „Seignorage“ bezeichnet.

4 Geld aus dem Nichts schöpfen Die chartalistische Sichtweise betont die Macht und Fähigkeit des Staates oder eines anderen Kollektivs, Geld aus dem Nichts schöpfen zu können (Abb. 1). Sie folgt damit einem schöpferischen Innovationsverständnis „ex nihilo“ (Rammert

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Abb. 1   Chartalistische Geldentstehung. (Eigene Grafik)

2010, S. 31). Mit diesem Geld können Unternehmen und Angestellte bezahlt werden, um öffentliche oder gemeinschaftliche Güter bereitzustellen. Mit dem neu geschöpften Geld werden Wirtschaftsaktivitäten an den Gütermärkten in Gang gesetzt und Einkommen generiert. In der heutigen Geldpolitik finden wir keineswegs eine staatlich durchgängig bestimmte chartalistische Reinform vor, sondern eine sehr weitgehende Delegation der Geldschöpfung an Geschäftsbanken. Diese hat sich sukzessive über Jahrhunderte entwickelt (Desan 2014). Warum gibt aber der Staat dieses mächtige Instrument aus der Hand? Begründet wird dies unter anderem durch die Fähigkeit der Geschäftsbanken, innovative Unternehmen zu identifizieren, die mit ihren Investitionen und Ausgaben das Produktionspotenzial erhöhen (Weber 2018). Durch den Zins werden die Unternehmen mit hohem Wachstumspotenzial begünstigt und Unternehmungen und Projekte mit geringem Steigerungspotenzial herausgefiltert. Aspekte wie Nachhaltigkeit und Solidarität spielen bei betriebswirtschaftlichen Kalkulationen eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist für die Bank die Rückzahlbarkeit, inklusive Zins. Politökonomische Erkenntnisse zum Auseinanderdriften von Arm und Reich (Dietsch 2017, S. 237) und zur zunehmenden Belastung der Umwelt (Lessenich 2016) spielen hier im besten Fall eine Nebenrolle. Eine viel höhere Priorität besitzt im Rechtssystem die Absicherung des Zahlungsverkehrs und des erworbenen Geld- und Sach-Eigentums (Teubner 2012, S. 56). Das Prinzip der Freiheit wird als leitendes Prinzip angeführt: freie Marktwirtschaft, Freihandel und ein neoliberales Wirtschaftskonzept (Riles 2018, S. 50 f.). Oft werden die

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höchsten Profite dort erzielt, wo die höchsten externen Effekte entstehen. Versteht man wie bei Luhmann unter Geld das originäre Kommunikationsmedium der Wirtschaft, dann muss auf die Art der Geldentstehung geschaut werden, da diese der Quellpunkt des Wirtschaftens ist (Luhmann 1994). Bei der heute dominierenden Form der Geldschöpfung bringen Banken Geld durch Kredit in Umlauf (Abb. 2). Die Kreditvergabe ist eng mit der Absicherung durch Eigentum und andere Sicherheiten verknüpft (Heinsohn und Steiger 2006). Nur wer Sicherheiten hat, kommt direkt an der Quelle an das Medium der Wirtschaft heran. Als Gegenleistung erhalten die Banken einen Zins für ihre Dienste, mit dem sie Risiken absichern, Verwaltungskosten decken und Kapitalgebern eine Rendite bezahlen. Aktuell gelingt es Staaten und großen Unternehmen, einen niedrigen oder sogar negativen Realzins zu verhandeln. Ob dies nur ein vorübergehender posttraumatischer Zustand ist oder der Beginn einer „Postwachstumsökonomie“ (Paech 2012), muss die Geschichte lehren. Für die meisten Individuen und Firmen sind allerdings auch im Zeitalter von Niedrigzinsen positive Realzinsen der Regelfall. Hinzu kommt, dass nicht in allen Regionen der Welt funktionierende Bankstrukturen vorhanden sind. Der Druck bei Kleinunternehmern ist relativ hoch. Immerhin repräsentieren diese 99,8 Prozent der Unternehmen in der Europäischen Union (Eurostat 2019). Kleine und mittlere Unternehmen zahlen laut einer OECD-Umfrage aus dem Jahr 2019 gegenüber großen Unternehmen im Durchschnitt mehr als einen Prozentpunkt höhere Zinsen. Abb. 2   Geldschöpfung durch Banken. (Eigene Grafik)

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In vielen Ländern liegt die Zinsdifferenz deutlich höher, und ein hoher Anteil der Kreditanfragen wird komplett abgelehnt (OECD Scoreboard 2019). Entsprechend hoch ist der Anteil der vom Geldsystem abgehängten und exkludierten Menschen. Kommt es zusätzlich zu Rezessionen im Wirtschaftszyklus, halten sich Banken aus Sicherheits- und Renditegründen bei der Kreditvergabe zurück und Wirtschaftsabschwünge werden prozyklisch verstärkt. Aus Sicht der Nichtbanken gibt es aktuell keine Alternative zum Geld der Geschäftsbanken. Steuern, Mieten und viele andere relevante Ausgabeposten können nur mit Giralgeld bezahlt werden. Über Gesetze und Rechtsprechung haben wir uns in den letzten Jahrzehnten das „Kreuz“ selbst auferlegt und können aktuell kaum frei wählen. Umso wichtiger sind experimentelle Alternativen, die mithilfe der Denkfigur des Chartalismus und des kollektiven Designs zu einer großen Transformation beitragen können (Desan 2017; Feichtner 2018). Auf drei Innovations-Ebenen kann dabei angesetzt werden: • Public Banking, um Über- und Untertreibungen makroökonomisch entgegen zu wirken • Monetäre Innovationen durch die Bottom-Up-Entwicklung von wechselseitigen Selbsthilfeinstrumenten • Public-Commons-Partnerships als Verbund der ersten beiden Ansätze Folgt man der Auffassung von Rammert, wären nur die letzten beiden Ebenen als „soziale Innovationen“ zu definieren, weil sie außerhalb der Politik entstehen und sich im Laufe der Zeit mit politischen Institutionen verbinden (Rammert 2010, S. 43). Die lokale Vernetzung startet jedoch oft durch zivilgesellschaftliche Initiativen und verbindet sich später mit lokalstaatlichen Institutionen oder auch umgekehrt. Daher sind die Grenzen auf lokaler Ebene eher fließend und die wechselseitige Vernetzung ein wesentlicher Erfolgsfaktor.

5 Typen sozialer Innovationen im Bereich des Geldwesens Im Bereich der Komplementärwährungen bedienen wir uns vier Kriterien zur Unterscheidung verschiedener Geldformen: 1. Emission des Geldes durch einen öffentlichen Träger 2. Emission in digitaler Form 3. Verwendung des Geldes über Zentralstellen oder Peer-to-Peer 4. Charakterisierung des Geldes als soziale Innovation

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Das erste Kriterium ergibt sich aus der bisherigen Diskussion: Aufgrund der Macht, Steuern zu erheben, kann potenziell auch ein öffentliches Geld emittiert werden. Ohne diese Eigenschaft ist im rechtswissenschaftlichen Sinne streng genommen nicht von „Geld“ oder „Währung“ zu sprechen, weil die rechtsnormative Anerkennung in der politischen Sphäre fehlt (Omlor 2014). Das zweite Kriterium beschreibt eine technische Eigenschaft, die eine Skalierung und Programmierung von Zielen und Eigenschaften ermöglicht. Dem stehen vielfältige materiellen Formen des Geldes gegenüber. Ähnlich ist das dritte Kriterium der dezentralen Peer-to-Peer-Verwendung ohne Einschaltung einer zentralen Instanz. Beim Bargeld läuft die Weitergabe direkt. Auch bei ­Blockchain-basierten Währungen ist das Register verteilt und durch komplexe Operationen eine dezentrale Weitergabe möglich (Bech und Garrat 2017). Beim Buchgeld einer Bank werden Transaktionen zentral verbucht. Die soziale Innovation unterscheidet sich als viertes Kriterium von anderen Innovationen dadurch, dass intentional in die Gesellschaftsentwicklung eingegriffen wird, um einen sozialen Wandel herbeizuführen und zu gestalten (Hochgerner et al. 2012, S. 7). Forschende und Praktizierende aus unterschiedlichen Gesellschaftssektoren partizipieren mittels demokratischer Verfahren an den „Reallaboren“ und verfolgen transformative Ziele (Defila und Di Giulio 2018, S. 40–41). Wird Geld in diesem Sinne gestaltet, wird es über rein technologische oder ökonomische Faktoren hinaus zum Treiber für kulturelle Entwicklung (Howaldt und Schwarz 2010, S. 102). Die ersten drei Kriterien wurden einem Modell der „Money Flower“ entnommen (Bech und Garrat 2017; Bofinger 2018). Das vierte Kriterium wurde für diesen Beitrag variiert (Abb. 3). Die grafische Visualisierung erfolgt mithilfe eines Venn-Diagramms, das die Kriterien in binärer Form, also als zutreffend oder nicht zutreffend, integriert (Micallef 2018). Aufgrund der großen Bedeutung politischer und ökonomischer Institutionen im Bereich des Geldwesens werden die zwei wichtigsten Formen kurz skizziert.

5.1 Zentralbanken und Geschäftsbanken Die Zentralbanken emittieren neben dem Bargeld digitales Zentralbankgeld. Mit einem Anteil von 10 Prozent und 20 Prozent emittieren die Zentralbanken damit fast ein Drittel des gesamten Geldvolumens (Bundesbank 2019) Zentralbankgeld benötigen die Geschäftsbanken zur Hinterlegung von Mindestreserven bei der Zentralbank und zum Ausgleich von Salden zwischen den Banken. Die Geschäftsbanken repräsentieren in Deutschland gut zwei Drittel des gesamten

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Abb. 3   Money Flower. (Eigene Grafik)

Geldvolumens und 90  Prozent des Transaktionsvolumens zwischen Nichtbanken. Drei Banktypen teilen sich zu fast gleichen Teilen den Markt des Giralgeldes: Sparkassen als lokalstaatliche Banken (in Österreich allerdings großenteils privatisiert), die Genossenschaftsbanken und die privaten Geschäftsbanken. Im Ursprung waren genossenschaftliche Gruppierungen und Sparkassenvereine als lokale Kreditgemeinschaften ein Mittel zur Selbsthilfe ohne große Regulierungsanforderungen. Durch Netzwerke und Regeln sind nach und nach gesellschaftlich relevante und gesetzlich anerkannte Institutionen entstanden. Was also vor 150  Jahren mit Genossenschaftsbanken und Sparkassen noch „soziale Innovationen“ waren, sind heute etablierte und tradierte Formen des Geldsystems. Damit fehlt ihnen der Aspekt des „Neuen“, der zu einer „Innovation“ gehört (Rammert 2010, S. 29). Vereinzelt gibt es in diesem Sektor immer wieder neue Bankformen, die sich wie im Fall der GLS-Bank als soziale Innovationen im Geldwesen ansehen (Jorberg und Landwehr 2017, S. 287). Global gesehen sind die Marktanteile privater Geschäftsbanken sehr viel höher, und dementsprechend steht die Rendite viel stärker im Vordergrund. Da in vielen Ländern das Giralgeld das einzige Geldmedium ist, mit dem offiziell Steuern bezahlt werden können, kommt dem Geld der Geschäftsbanken die eigentliche Rolle des offiziellen Geldes zu. Erstaunlicherweise kann mit Bargeld oft keine Steuer getilgt werden, daher bestehen an der juristischen Kennzeichnung als „Geld“ gewisse Fragezeichen.

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5.2 Kryptowährungen der ersten Generation als ökonomische Innovation Im Falle der Kryptowährung Bitcoin gibt es keinerlei Verpflichtung zur Einlösung, weder in einer anderen Währung noch in Form von Steuern, Leistungen oder ähnlichem. Vielen Kryptowährungen haftet daher der Ruf an, es gehe nur um die Gewinnmaximierung der Geldschöpfer. Vor diesem Hintergrund sind auch die Wellen der Empörung zu verstehen, die im Zuge der Ankündigung und Gründung des Libra-Projekts von Facebook entstanden sind. Einer der Knackpunkte besteht darin, dass der Libra zwar gegen harte Währungen verkauft werden soll, aber keine formale Einlösegarantie besteht. Somit entstünde durch die Emission der Währung eine vollständige Seignorage zugunsten des Emittenten-Clubs, der nur aus Mitgliedern besteht, die es sich leisten können, mehr als 10 Mio. US$ einzulegen. Zwar solle die Libra-Stiftung eine Währungsreserve mit zinstragenden Anleihen bilden, jedoch bestehe lediglich eine Ankaufabsicht für Libra zum Zwecke der Kurspflege, aber eben keine Garantie (Bofinger 2018). Von der rechtlichen Struktur ist das Libra-Konzept auf einen kleinen oligarchischen Zirkel begrenzt. Diese Form von Kryptowährungen können als „ökonomische Innovationen“ mit gewissen technischen und Nutzen maximierenden Aspekten angesehen werden. Ein den sozialen Innovationen innewohnender transformativer Beitrag ist derzeit nicht zu erkennen.

6 Fallbeispiele für monetäre Werkzeuge als soziale Innovation Wichtiger sind daher Ansätze, die demokratisch gestaltet sind und auf Ziele wie soziale Gerechtigkeit, Solidarität und Nachhaltigkeit setzen (Lietaer et al. 2012). Dies schließt die Nutzung der Blockchain-Technologie nicht aus, jedoch reicht eine potenziell vielversprechende Technik allein nicht aus, um als transformativ wirkende „soziale Innovation“ zu gelten.

6.1 Der Einsatz von Steuergutschriften auf lokaler Ebene mit Gemeindegeld (tax tokens) Komplementärwährungen entstehen oft in Zeiten großer Wirtschaftskrisen und hoher Arbeitslosigkeit. Ein bekanntes Beispiel ist das „Wunder von Wörgl“ in den Jahren 1932 und 1933 (Onken 1997). Der Bürgermeister Michael

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Unterguggenberger hatte sich über Jahre mit den Theorien von Silvio Gesell (2009) beschäftigt und war in dem kleinen Tiroler Ort mit einer Arbeitslosigkeit von über 20 Prozent konfrontiert. Mithilfe seiner Frau, die ein Geschäft in Wörgl führte, entwickelte er ein lokales Freigeld-Konzept und überzeugte den Gemeinderat von der Idee. Der Bürgermeister heuerte Arbeitssuchende an, um ein Projekt nach dem anderen anzugehen: Ein Kindergarten wurde saniert, eine Straße repariert, eine Brücke gebaut, ein Wanderweg für Touristen eingerichtet und sogar eine Skischanze errichtet. Bezahlt wurden die Arbeitenden nicht mit der Nationalwährung, sondern mit „Arbeitsbestätigungen“ in nominalen Werten der nationalen Währung in Höhe von 1, 5 und 10 Schilling (Abb. 4). Unternehmen wurden motiviert, die Lokalwährung zu akzeptieren, und im Gegenzug wurde zugesagt, dass Gemeindesteuern bezahlt werden können. Ein chartalistischer Kreislauf war geboren, der vom gemeinsamen Kollektiv ihren Ausgangspunkt nahm (Nakayama und Kuwata 2019). Um dem Misstrauen vorzubeugen, wurde der komplette Betrag in österreichischen Schilling bei der örtlichen Raiffeisenbank hinterlegt. Diese Reserve war jedoch weder formal noch praktisch notwendig, weil die Unternehmen die kostenfreie Einlösung für die Begleichung in Steuerschulden gegenüber einem gebührenpflichtigen Wechsel in die nationale Währung bevorzugten. Auf dem lokalen Geldschein waren die Ziele

Abb. 4   Arbeitsbestätigung Wörgl aus dem Jahr 1932. (© Unterguggenberger-Institut Wörgl e. V., Wörgl)

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und die Idee des Vorhabens beschrieben und außerdem angekündigt, dass etwaige Überschüsse an die lokale Armenhilfe fließen. Eine besondere Eigenschaft war eine Umlaufsicherung in Höhe von 1 Prozent pro Monat. Mit Hilfe von Klebemarken wurden die Arbeitsbestätigungen regelmäßig aufgewertet. Fällig wurde die Aufwertung immer zum Ersten des Monats. Die lokale Währung war dadurch sehr schnell im Umlauf. Kurz vor Ablauf landeten die Scheine zumeist in der Gemeindekasse, weil die Unternehmen damit noch kurz vor Ablauf ihre Steuern bezahlt haben (Broer 2013). Die Gemeinde freute sich über die sprudelnden Einnahmen, und die Auslastung der Betriebe nahm signifikant zu. Während die umliegenden Gemeinden weiter in wirtschaftlicher Depression versanken, blühte die Gemeinde auf und die Arbeitslosigkeit sank um ein Viertel. Umliegende Gemeinden übernahmen das Modell, und Gemeinden aus ganz Österreich zeigten starkes Interesse. Kurz nach dem Start der Lokalwährung sah die österreichische Notenbank ihr Geldmonopol verletzt und betrieb ein Verbot der Lokalwährung. Auf administrativer Ebene konnte sich die Notenbank schon bald durchsetzen. Widerstände innerhalb der Kommunalverwaltung und eine Klage der Gemeinde konnten den Stop des Projekts um einige Monate verzögern, jedoch musste nach der juristischen Niederlage in letzter Instanz und einer Strafandrohung gegen die Gemeindeverwaltung das Projekt nach nur einem Jahr im Sommer 1933 eingestellt werden. Dem kurzen Hoffnungsschimmer folgte eine faschistische Diktatur in Österreich, die später durch die nationalsozialistische Diktatur abgelöst wurde. Dennoch gelang es der Gemeinde, eine „Blaupause“ in die Welt zu setzen, die Vorbild war für das Schweizer WIR-System (Dubois 2014), den Chiemgauer (Gelleri 2008) und den Sardex (Sartori und Dini 2016). Bei der Einordnung als „soziale“ oder „politische“ Innovation ist der Fall Wörgl insofern interessant, weil er aus der Not der Bevölkerung geboren und mit lokalen Akteur*innen zusammen auf den Weg gebracht wurde. Als demokratisch legitimierte politische Institution hat die Gemeinde für eine Aktivierung der lokalen Wirtschaftskreisläufe gesorgt, während die Notenbank bei der Erfüllung ihrer politischen Aufgabe völlig versagt hatte. Die Geldschöpfung fand im Verbund mit der Schaffung öffentlicher Güter statt, die teilweise bis heute noch einen Nutzen für die Bewohner stiften und mit einem Schild auf die Finanzierung durch das damalige Freigeldprojekt hinweisen.

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6.2 Barter-Systeme zur Selbsthilfe am Beispiel Sardex Der Begriff „Barter“ bedeutet auf Deutsch „tauschen“ und meint normalerweise den direkten Austausch zwischen den Teilnehmenden. Ein Bartersystem geht jedoch über den simplen direkten Tausch weit hinaus. Die Leistungsfähigkeit des Netzwerks steigt mit der Anzahl der Angebote und nähert sich bei großen Systemen einem „universalen Geld“ an. Daher ist die Überwindung einer kritischen Masse entscheidend und wie im nachfolgend geschilderten Fall eher der Begriff „Netzwerkgeld“ passend. Auch in der heutigen Zeit gibt es viele Regionen, die durch eine hohe Arbeitslosigkeit und eine geringe Auslastung des regionalen Produktionspotenzials betroffen sind. So gilt die Insel Sardinien seit Jahrzehnten als sehr wirtschaftsschwache Region in Italien. Mit der Finanzkrise im Jahr 2008 hat sich die Situation noch einmal verschärft. Die Arbeitslosigkeit stieg auf über 20 Prozent und die Jugendarbeitslosigkeit sogar auf über 50 Prozent. Die 60.000 kleinen und mittleren Unternehmen litten unter einer geringen Auslastung ihrer Kapazitäten. Ein Startup aus fünf Jungunternehmern stieß auf das Thema Komplementärwährungen und analysierte verschiedene Typen. Am vielversprechendsten erschien ein Barter-System, das einen wechselseitigen Liquiditätsrahmen ermöglicht. Durch die Geschlossenheit treten Teilnehmende als Anbieter und als Nachfrager auf („Prosumenten“). Trotz Unterauslastung war die Skepsis gegenüber einem weiteren Zahlungsmittel sehr groß. Durch viel Überzeugungsarbeit und persönliches Netzwerken gelang es zum Start 2010, eine kritische Masse von 237 Unternehmen zur Teilnahme zu motivieren (Sartori und Dini 2016). Die Betriebe zahlten einen festen Mitgliedsbeitrag für die Teilnahme, der sich an der Zahl der Mitarbeiter orientierte (ab 300 EUR pro Jahr). Weil neben dem Jahresbeitrag keine weiteren Gebühren anfallen, ist es für die Unternehmen attraktiv, möglichst viel im Netzwerk umzusetzen. Die Höhe des Liquiditätsrahmens wurde ebenfalls an der Mitarbeiterzahl festgemacht. Mit dem zinsfreien Überziehen des Sardex-Kontos beginnt der regionale Geldkreislauf. Wer Sardex einnimmt, sucht sogleich weitere Möglichkeiten, diesen wieder auszugeben. Mit der Zeit wurden auch Mitarbeitende in den Kreislauf einbezogen, die bis zu 300 Sardex pro Monat ausbezahlt bekommen. Das Netzwerk wuchs rasant an und umfasste drei Jahre nach dem Start 1000 Unternehmen und zählt im Jahr 2019 über 4000 Unternehmen. Der Umsatz lag laut persönlicher Auskunft von Giuseppe Littera, dem CEO von Sardex, 2019 bei 52 Millionen Sardex. Pro Unternehmen wurden durchschnittlich 20.000 Sardex umgesetzt, das sind etwa acht Prozent eines ­durchschnittlichen

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Unternehmensumsatzes auf Sardinien. Medien betitelten das Projekt als ­„Sardex-Faktor“, weil die Umsätze einen signifikanten Anteil an der regionalen Wertschöpfung in Höhe von etwa einem halben Prozent erreicht haben. Nach eigener Schätzung wurden etwa 1000 neue Arbeitsplätze auf der Insel geschaffen. Der Schwerpunkt der Wertschöpfung liegt im Süden und Südwesten der Insel, wo die Initiative auch ihren Sitz hat. Seit 2016 ist die Betreibergesellschaft eine Aktiengesellschaft mit Investoren aus ganz Italien. Die Gründer betonen, dass es ihnen darauf ankomme, den sozialen Impact auf die Region zu maximieren, sehen jedoch in der Unternehmensform keine „demokratische Rechtsform“. Teilweise wird argumentiert, dass Barter-Netzwerke ein eigenständiges rechtliches Organ seien. Die Betreiberorganisation fungiert lediglich als Dienstleister, um die technische Abwicklung und die Sicherheit zu gewährleisten. Die Abhängigkeit des Netzwerks von der Betreiberorganisation ist jedoch sehr hoch und die Fachkenntnis über das Netzwerk beim Betreiber konzentriert. Daher wäre einer demokratischen Rechtsform grundsätzlich der Vorzug zu geben. Reflektiert man den Sardex als soziale Geldinnovation, läuft die Geldschöpfung ähnlich ab wie bei einer Bank. Durch die regionale Geschlossenheit des Systems kommen Ausgaben in Sardex mit erhöhter Wahrscheinlichkeit wieder als Einnahmen zurück. Ein Zwang zum Wachstum besteht dabei nicht, weil keine zusätzlichen Zinsen erhoben werden. Die Kostendeckungsbeiträge sind mit zwei Prozent vom Umsatz überschaubar. Sie sind zum einen als Finanzierungsbeitrag für die Liquidität zu sehen, zum anderen als Marketingkosten für das sichtbare Angebot im Internet. Wer Sardex besitzt, sucht aktiv nach regionalen Angeboten und mindert für Leistungsanbieter den Werbeaufwand. Ein zusätzlicher „Umlaufimpuls“ besteht durch die Pflicht, den Liquiditätsrahmen innerhalb eines Jahres auf Null zurückfahren zu müssen. Gelingt dies nicht, werden Euros fällig, die die Teilnehmer in der Regel zu wenig haben. Daher gibt es sowohl auf der Nachfrageseite den Drang, Sardex bald wieder auszugeben, um die eigene Euro-Liquidität möglichst zu schonen, und auf der Angebotsseite den Zwang, Minus-Bestände innerhalb von zwölf Monaten auf Null auszugleichen. Die Logik des wechselseitigen Gebens und Nehmens ist für alle Teilnehmer nachvollziehbar, und je mehr mitmachen, desto effizienter und kostengünstiger wird das wirtschaftliche Potenzial der Insel genutzt. Für den Staat und die Gesellschaft ist die Aktivität in mehrfacher Hinsicht attraktiv: Steigende Umsätze mit hohem regionalen Wertschöpfungsanteil erhöhen die Beschäftigung, lassen Einkommen und Steuern steigen und ermöglichen die Finanzierung öffentlicher Güter. Da die Aktivitäten auf der Insel stattfinden, sind die Transportwege kürzer und die externen Effekte auf die Umwelt tendenziell geringer als bei im- und exportorientierten Wertschöpfungsformen.

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Wirtschaftswissenschaftler werfen hier oft das Argument des „Protektionismus“ ein, jedoch werden lediglich freie Kapazitäten genutzt. Die Wertschöpfung in Euro wird daher weder beeinträchtigt noch zulasten anderer Regionen verringert. Die Alternative zum regionalen Austausch in Sardex wäre also gar keine Wertschöpfung oder Schwarzarbeit. Gegenüber dem Sardex kann der Vorwurf der „Schattenwirtschaft“ nicht gemacht werden, da die Umsätze komplett digital stattfinden und in aufgezeichneter Form jederzeit für die Finanzämter einsehbar sind. Bei einem jährlichen Umsatz von 100 Mio. Sardex (2018) dürften die Steuereinnahmen bei über 15 Mio. Euro liegen. Diese Steuern müssen in Euro entrichtet werden und stehen aufgrund des sardischen Autonomiestatus zu 60 Prozent der sardischen Regionalregierung zur Verfügung. Der ­Sardex-Kreislauf würde sich schließen, wenn die sardische Regierung die zusätzlichen Steuereinnahmen in Sardex akzeptieren und verausgaben würde. Denkbar wäre sogar die Integration einer chartalistischen Perspektive, indem die sardische Regierung erst einmal Sardex verausgaben könnte, um dann nach einem Jahr die verausgabten Sardex zu tilgen. Als Liquiditätsrahmen wären mindestens 15 Mio. Sardex anzusetzen, jedoch wären aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und des großen Bedarfs an öffentlichen Gütern deutlich mehr möglich. An dieser Stelle zeigt sich das Potenzial von sogenannten P ­ ublic-CommonsPartnerships, die auf eine enge Kooperation von staatlichen Institutionen und zivilgesellschaftlichen Netzwerken setzen (Helfrich und Bollier 2019). Auf der Ebene der Einmalinvestition finden solche Partnerschaften längst statt. So hat die Europäische Union der Sardex-Initiative für die Entwicklung der Software-Plattform mehrfach Geldbeträge als Subvention bereitgestellt. Auch ­ gibt es auf lokaler Ebene erste kleine Projekte der Zusammenarbeit, wenn es um das Bezahlen in kommunalen Schulen auf Sardinien und um Hilfsleistungen geht. Das Beispiel Wörgl zeigt jedoch ein noch viel größeres Potenzial mithilfe einer aktiven lokalstaatlichen Rolle im Verbund mit einer demokratischen Trägerschaft.

6.3 Chiemgauer Regionalwährung bar und digital Dass Komplementärwährungen nicht aus der Not heraus geboren werden müssen, zeigt das Beispiel der Chiemgauer Regionalwährung (Abb. 5). Die Region Chiemgau in den Landkreisen Traunstein und Rosenheim ist durch relativen Wohlstand geprägt, die Arbeitslosigkeit liegt weit unter dem europäischen Durchschnitt und die Unternehmensstruktur ist eine gesunde Mischung aus regional orientierten und exportorientierten Betrieben. Bei der Gründung standen Aspekte der Unterauslastung nicht allzu stark im Vordergrund, wenngleich damals eine

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Abb. 5   Chiemgauer Regionalwährung, Serie 2019–2022. (© Chiemgauer e. V., Traunstein)

Rezession mit einer stark gedrückten Konsumstimmung zu verzeichnen war. Vielmehr wurden Aspekte wie Nachhaltigkeit, Förderung der Bildung und das Experimentieren mit ökonomischen Theorien diskutiert und in den Gründungsstatuten verankert. Analysiert wurden im Vorfeld die damals noch raren Beispiele an Komplementärwährungen, insbesondere das Wörgler Freigeld-Projekt, die WIR-Bank sowie im Hinblick auf die rechtliche Einschätzung der Bethel-Euro der Bodelschwingh’schen Anstalten in Bielefeld. Träger der Initiative waren in diesem Fall der Autor, der damals als Lehrer an der Waldorfschule Chiemgau in Prien am Chiemsee tätig war, und sechs Schülerinnen, die sich freiwillig für das Schülerunternehmensprojekt angemeldet hatten. Die Rechtsform war anfangs ein nicht eingetragener Verein, der kurze Zeit später in einen eingetragenen Verein gewandelt wurde. Aufgrund der ländlichen Struktur und der zunehmenden Dominanz von Konzernen und Filialisten wurde evaluiert, wie viele Unternehmen bereit waren, am Projekt teilzunehmen. Die Ergebnisse wiesen auf etwa 35 inhabergeführte regionale Unternehmen im selben Ort hin. 20 Unternehmen erklärten sich zur Akzeptanz bereit, vorausgesetzt, dass aufgrund des

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kleinen Netzwerks ein Rücktausch in Euro möglich ist. Der Chiemgauer unterscheidet sich von einem geschlossenen Bartersystem durch die beidseitige Tauschbarkeit in die Nationalwährung. Der Währungsname wurde der Region Chiemgau entlehnt und der Wechselkurs mit einem Euro zu einem Chiemgauer festgelegt. Als Bonus für den Eintausch erhält ein Wunschprojekt drei Prozent der Eintauschsumme. Die Zahlung der drei Prozent refinanziert sich aus dem für den Rücktausch fälligen fünf Prozent. Zwei Prozent dienen zur Deckung der Betriebskosten. Orientiert an der Freigeld-Idee (Rogoff 2016), gibt es auch beim Chiemgauer das Prinzip des Umlauf-Impulses durch halbjährliche Klebemarken, die drei Prozent des Nennwertes kosten. Auf den digitalen Chiemgauer-Konten beträgt der Negativzins sechs Prozent pro Jahr. Bei der Diffusion des Chiemgauers wirkte das über Jahrzehnte aufgebaute Netzwerk der Waldorfschule begünstigend. Zum Startdatum im Januar 2003 tauschten 30 Eltern und Lehrende 2000 EUR in 2000 Chiemgauer. Zugleich wurden Abonnements mit monatlichen Tauschsummen zwischen 20 und 200 Chiemgauer vereinbart. Wenige Tage nach dem Start äußerten Firmen den Wunsch, ihre Chiemgauer wieder in Euro wechseln zu können. Der Betrag wurde nach Abzug der Wechselgebühr auf das Konto der Unternehmen überwiesen. Anfangs war der Chiemgauer mehr ein Gutscheinsystem, weil die Beträge relativ schnell in Euro getauscht wurden. Durch eine rege Berichterstattung in den Schulnachrichten und in lokalen Zeitungen stieg die Anzahl der Akzeptanzstellen Ende 2003 auf 100 an. Der Umsatz lag bei insgesamt 70.000 Chiemgauer. Im zweiten Jahr verdreifachte sich der Eintausch, und die Zahl der Akzeptanzstellen verdoppelte sich. Die Dynamik setzte sich in den Folgejahren fort, und immer mehr regionale Kreisläufe wurden mit dem Chiemgauer gebildet. Mit dem Eintritt der Finanzkrise erhöhte sich noch einmal das Interesse in der Öffentlichkeit und in den Medien. Besorgte Mitglieder regten an, über die Weiterentwicklung des Chiemgauer nachzudenken, und es entstanden Entwürfe einer wertgedeckten Regionalwährung. Zeitgleich wurde der digitale Chiemgauer entwickelt, der den Zahlungsverkehr stark vereinfachte. Die Entwicklung fand in enger Zusammenarbeit mit Genossenschaftsbanken und Sparkassen statt. Größeren Unternehmen wurde dadurch die Teilnahme ermöglicht. Im Jahr 2013 wurden die Stadtwerke Rosenheim als kommunales Unternehmen gewonnen, die ein regionales Ökostromprodukt in Chiemgauer anbieten. Heute setzt die Initiative mehr als sechs Millionen Chiemgauer pro Jahr um. Mehr als 500 Betriebe und über 4000 Menschen aus der Region nehmen teil. Damit ist die Initiative die größte ihrer Art im deutschsprachigen Raum und Vorbild für viele weitere Hundert Regionalwährungen weltweit.

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Angeregt durch Komplementärwährungen in Brasilien und Belgien begann die Chiemgauer-Initiative im Jahr 2017 in Zusammenarbeit mit zwei weiteren Regionen mit der Entwicklung eines Klimabonus-Konzepts. Das Konzept wurde aus einer Vielzahl von Vorschlägen von der Nationalen Klimaschutz-Initiative des Bundesumweltministeriums ausgewählt, sodass im Sommer 2019 erstmalig in Deutschland im Bereich der Regionalwährungen ein Public-Commons-Projekt in Angriff genommen werden konnte. Als erste Etappe wurde die Einsparung von 5000 Tonnen CO2 über drei Jahre in der Region Chiemgau zum Ziel gesetzt. Das Regelwerk der Komplementärwährung „Klimabonus“ dient dazu, Menschen und Organisationen zur Reduktion von CO2 zu motivieren und den ­Rest-Fußabdruck zu kompensieren. Aus den Einnahmen für die Kompensation werden die Reduktionsanreize finanziert. Als Vehikel dient die Komplementärwährung. Ganz neu ist die Idee nicht: In Gent gibt es die Lokalwährung „Torekes“, die an Bewohner eines Stadtteils ausbezahlt werden, wenn sie Müll einsammeln (Lietaer et al. 2012). Als Belohnung werden Torekes vergütet. Die Torekes können wiederum nur für ganz bestimmte Zwecke eingesetzt werden, zum Beispiel für die Pacht einer kleinen Gartenfläche. Auf dieser können die Bewohner Gemüse anbauen und ernten. Der Klimabonus wird ähnlich angewandt: Bringt zum Beispiel jemand ein defektes Gerät zu einem Repair-Cafe und kann das Gerät repariert werden, erhalten die Person, die das Gerät bringt, und die Person, die das Gerät repariert, einen Klimabonus. Dieser kann zum Beispiel für ein regional hergestelltes klimafreundliches Produkt verwendet werden. Geld setzt bei diesen Ansätzen eine wechselseitige Dynamik in Gang. Indem die Institution Geld über basis- oder repräsentativ-demokratische Verfahren verändert wird, entfaltet es eine Lenkungswirkung, die zwar niemanden zum Handeln zwingt, aber den Einzelnen an das gemeinsam vereinbarte Handeln stetig und immer wieder „erinnert“. Aus der einmaligen gemeinsamen Imagination einer Zukunft wird ein „recyclierendes Re-Imaginieren“. Für sich ist dies sicherlich nicht ausreichend, doch kann das Geld als regionale Infrastruktur weitere soziale Innovationen anregen und mit weiteren Initiativen ein Ökosystem der Transformation bilden (Domanski und Kaletka 2018). Wird dieses gemäß dem Grundprinzip „Zurück zum menschlichen Maß“ (Kohr 2002) umgesetzt und an Prinzipien wie Subsidiarität und Dezentralität orientiert, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass in überschaubaren und transparenten Räumen nachhaltige Entwicklungspfade betreten werden.

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Gelleri, Christian, Dipl.-Hdl., Dipl.-Betriebswirt (FH), Studium Wirtschaftspädagogik (Uni München), Studium der Volkswirtschaftslehre (Uni München), Studium der Betriebswirtschaftslehre (TH Rosenheim). Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Internationales Recht, Europarecht und Europäisches Privatrecht, Professur Feichtner im Rahmen des Forschungsprojekts „Demokratisierung von Geld und Kredit“, Geschäftsführender Vorstand der Regios eG, Gründer der Regionalwährung Chiemgauer. Letzte Veröffentlichungen: Gelleri, Christian. 2019. Democratizing Money: Chiemgauer Community Currency as a collective designed money. Ramics-Conference-paper, Hida-Takayama. Gelleri, Christian. 2012. Neuro ergänzt Euro: Staatliches Nebengeld statt Euroaustritt. in: Sammelband Parallelwährungen. Hrsg. von Bundesverband Mittelständische Wirtschaft, Berlin. Gelleri, Christian. 2008. Theorie und Praxis des Regiogeldes. In Der Geldkomplex: Kritische Reflexion unseres Geldsystems und mögliche Zukunftsszenarien, Hrsg. Mathias Weis und H. Spitzeck. Bern, Stuttgart, Wien: Haupt.

Eine philosophische Annäherung an die Identität von Orten Martina Wegner

Zusammenfassung

Die Ergebnisse des Projekts „Demografiewerkstatt Kommunen“ zeigen, dass Kommunen, die tragfähige Lösungen als Antwort auf den demografischen Wandel finden wollen, früher oder später an den Punkt kommen, an dem sie sich mit ihrer Identität auseinandersetzen müssen. Sie können ihre Zukunft nicht planen, ohne sich Gedanken über ihre Identität zu machen. Daher stellt sich die Frage nach der Art dieser Identität und ob die Kommunen als Orte eine eigene Identität besitzen oder ihnen diese ausschließlich von Menschen zugeschrieben wird. Dieser Überlegung soll auf der Grundlage philosophischer Ansätze nachgegangen werden, um damit Diskurse, die in anderen Disziplinen geführt werden, anzureichern. Bei dieser philosophischen Spurensuche wird nach Anhaltspunkten in der Identitätstheorie, aber auch in der Anthropologie, der Metaphorik sowie der Topografie gesucht.

1 Einleitung Die nachfolgende Spurensuche stammt aus der Praxis: Im Rahmen des vom Bundesfamilienministerium (BMFSFJ) seit 2015 geförderten Projekts Demografiewerkstatt Kommunen (DWK) sollen die daran teilnehmenden Städte und

M. Wegner (*)  München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_9

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Landkreise eine Demografiestrategie entwickeln1. Während des Prozesses der Strategieentwicklung richteten die Kommunen die Aufmerksamkeit zunächst stark auf die demografischen Veränderungen, mit denen sie jeweils konfrontiert sind, und darauf, mit welchen Maßnahmen diese bewältigen werden könnten. Einige Kommunen veränderten im Laufe des Prozesses den Fokus; zwar sind ihnen alle Bevölkerungsgruppen wichtig, von besonderer Bedeutung sind jedoch die jungen Menschen und die Frage, wie diese in Zukunft wohl leben wollen. Die Frage nach den zukünftigen Lebensbedingungen des Ortes stellt auch die Frage, wie der Ort sich entwickeln soll und welche Identität er aufweist. So überlegte man sich in Adorf im sächsischen Vogtland, dass man als Gemeinde im strukturschwachen Raum nicht mit den wirtschaftlich stärkeren Orten wird konkurrieren können, aber als traditionsreiche Musikstadt in schöner Natur eine attraktive Wohnstadt für Pendler werden könnte. In der zu DDR-Zeiten stolzen Stahlstadt Riesa gibt es immer noch zahlreiche Wirtschaftsbetriebe, aber der Ort muss sich nach einem starken Bevölkerungsverlust nach der Wende zu einem neuen Selbstverständnis finden. In der Stadt kündet die monumentale Stahlgussplastik „Elbquelle“ von Immendorff von vergangenen Zeiten, während man mit Schülerinnen und Schülern die Stadt von Morgen mithilfe eines Spielbretts diskutiert. In Grabow im Landkreis Ludwigslust-Parchim wurde die Altstadt saniert mit einem Wohnangebot, das auch Menschen mit Beeinträchtigungen berücksichtigt, der Marktplatz wurde mit neuen Einkaufsmöglichkeiten und Begegnungsorten versehen. Darüber hinaus wurde die Tradition sonntäglicher Konzerte im Park wiederbelebt. Diese wenigen Beispiele zeigen bereits, dass die Idee der Identität der Orte in ihrer Weiterentwicklung eine wichtige Rolle spielt. In der kommunalen Praxis wurde und wird in Situationen des Umbruchs oder der Umgestaltung oft ein Leitbild – zum Teil gemeinsam mit den Bürger*innen, zum Teil von Marketingagenturen – entwickelt. Man will den unverwechselbaren Kern des Ortes, der Region herausstellen und damit die Menschen in der Stadt halten oder für sie interessieren. Allerdings wird dabei häufig ein Identitätsbezug hergestellt, der sehr vordergründig ist und eher auf die Vermarktbarkeit als auf eine Identitätstheorie ausgerichtet wird. Aber wie kann man diese Identität fassen? Die genannten Beispiele lassen vermuten, dass es bei der Identität um geschichtliche Prägungen geht, um Traditionen, um die Lage des Ortes in einer bestimmten Region oder Natur und auch um eine Einmaligkeit, die durch Architektur, Landmarken oder Denkmäler gespiegelt wird. Mit der Suche nach Identität streben

1Die Autorin

berät das BMFSFJ seit 2015 in der Umsetzung des Projekts.

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die Kommunen nach einer sozialen Nachhaltigkeit, d. h., sie wollen die Lebensbedingungen der Menschen so gestalten, dass es dort zu Zusammenhalt, zu gemeinsam getragenen Werten vor dem Hintergrund erlebter Geschichte und zu einem Interesse an der Mitwirkung kommt. Die Frage nach der Identität stellt sich in unterschiedlichen Disziplinen. Mit Blick auf die Identität einer Stadt sind es naturgemäß die Disziplinen, die sich mit Stadtplanung und Stadtentwicklung auseinandersetzen, die in diesem Feld forschen und arbeiten. Allerdings sind diese Forschungen, wie nachfolgend gezeigt werden soll, in erster Linie auf die Handlungsmuster der Menschen in der jeweiligen Stadt und stark auf die Wechselwirkung von Ort und Mensch bezogen. Im Gegensatz dazu soll hier der Versuch unternommen werden, aus der Disziplin der Philosophie das Thema der Identität des Ortes aufzunehmen und zu analysieren, ob Städte und Gemeinden jenseits der Zuschreibungen durch Menschen eine eigene Identität haben. Während die Frage nach der Identität und der Identifikation von Menschen mit einem Ort gängig und subjektiv von diesen beantwortbar ist, ist die Frage, ob und unter welchen Annahmen Orten eine eigene Identität zugeschrieben werden kann, wenig diskutiert. Die philosophische Identitätstheorie soll feststellen, ob Orten eine eigene Existenz und Identität losgelöst von Handlungsmustern und Zuschreibungen oder Konstruktionen von Menschen zukommt. Schwierig ist die Untersuchung dadurch, dass die Begriffe Ort und Kommune nicht deckungsgleich sind. Bei Kommunen handelt es sich um eine politisch bestimmte Gebietskörperschaft, die nach planerischen, wirtschaftlichen oder politischen Aspekten mit Rechten ausgestattet und demokratisch verfasst ist und Orte mit eigener Geschichte und Identität zusammenfassen oder treffen kann. Gleichzeitig liegt durch den Prozess der (Re-) Kommunalisierung (vgl. z. B. Dahme und Wohlfahrt 2013, S. 239 ff.) ein großes Gewicht auf der Selbstorganisation der Kommunen, die oft über neu gezogene Verwaltungsstrukturen hinweg zusammenarbeiten müssen. Dass diese Unterscheidung zwischen gewachsenen Orten und planerisch/politisch festgelegten Kommunen bedeutsam ist, zeigt sich in den immer wieder auftretenden Schwierigkeiten, die in intra- und interkommunaler Kooperation nach Gebietsreformen auftreten, oder lässt sich an Störgefühlen in der Bevölkerung festmachen, die die aus praktischen Erwägungen heraus entstandenen Aufteilungen oder Bezeichnungen ihres Ortes emotional und identifikatorisch nicht nachvollziehen können. Wie Mattenklodt formuliert, war die Gebietsreform in Deutschland in den 1960er und 1970er Jahren „gekennzeichnet durch den Übergang von historisch gewachsenen Einheiten zu geplanten, möglichst effektiven Versorgungskörperschaften. Über ein geschichtlich gewordenes Gefüge von Körperschaften der Gemeinde- und Kreisebene wurde ein abstrakt konzipiertes Netz kommunaler Leistungseinheiten

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gelegt“ (Mattenklodt 2013: 161), das den Ansprüchen der Bürger*innen an eine moderne Verwaltung besser genügen sollte. Wenn wir hier aber von der Identität von Kommunen sprechen, können wir daher nur Orte in ihrer Gewachsenheit, in ihrer über die Jahrzehnte und Jahrhunderte ausgeprägten, durch die politischen und gesellschaftlichen Zeitläufte und Dynamiken veränderten Räume meinen. Es sind Räume, die kulturell und anthropologisch bedeutsam sind, da die Bewohner*innen hier Sozialität und Teilhabe erfahren haben, die existentiell zum menschlichen Dasein und Lebensvollzug gehören und die Hintergrundfolie für ihr Leben darstellen.

2 Die Eigenlogik der Städte als soziologischer Referenzpunkt Sucht man in der Soziologie nach der Diskussion zur Identität von Orten oder Kommunen, stößt man auf die Diskussion der „Eigenlogik der Städte“. Die Forschungstradition in der Stadtsoziologie bezieht sich auf „Stadt“ als ein besonderes Gebilde, das Merkmale aufweist, die es vom Land unterscheiden. So wurden der Wohnraum in der Stadt, die Lebensbedingungen von Familien in der Stadt etc. erforscht, aber nur, indem sie symptomatisch für das Gebilde „Stadt“ sind, aber nicht mit Blick darauf, ob es hier auch Stadttypisches gibt, d. h. etwas, das die Städte an sich prägt. Wenig wurde hingegen erforscht, wie Städte sich unterscheiden (vgl. Löw 2018, Frank 2012). In den vergangenen zehn bis 15 Jahren wurden in der Stadtsoziologie Henri Lefèbvres Überlegungen zur Stadt aufgenommen (vgl. Frank 2012)., die Rezeption seiner Ideen soll hier kurz aufgenommen werden. Lefèbvre beschrieb „Stadt“ als ein komplexes „Kunstwerk“, als ein gewordenes Objekt mit Geschichte (Löw 2018). Nach Lefèbvre drängt sich die Stadt in ihrer Faktizität den Menschen auf, sie lenkt das Handeln in bestimmte Bahnen, und zugleich realisiert sich Stadt erst durch dieses Handeln. Lefèbvre sieht hier also eine Wechselwirkung zwischen der Identität des Ortes und seiner Prägung durch den Menschen. Auf dieser Grundlage forderte Lefèbvre die Soziologie dazu auf, ihren Blick nicht mehr nur auf gesellschaftliche Strukturen, sondern verstärkt auch auf Städte und ihre Spezifik zu lenken. In diesem Zusammenhang wird heute in der Soziologie darüber nachgedacht, ob die Stadt einen bestimmten Habitus (vgl. Lindner 2008, Bockrath 2008) hat, ob körperliche Merkmale auf die Stadt übertragen werden können oder ob es nicht vielmehr um Sinnwelten geht, die die Städte ihren Bewohner*innen anbieten (Löw 2018). Vor diesem Hintergrund ist ein Forschungsprojekt mit

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dem Titel „Eigenlogik der Städte“2 aufgelegt worden, das sich auf Fragen der Besonderheit einzelner Städte fokussiert: Was ist Stadt, was ist allen Städten gemeinsam? Funktionieren Städte unterschiedlich, und wodurch charakterisieren sich diese Unterschiede? „Das Wissen, dass Hamburg ganz anders ist als München und dass Cottbus sich anders anfühlt als Leipzig, ist in der menschlichen Alltagserfahrung tief verankert. Doch warum ist dies so? Warum wird nicht nur ‚die Stadt‘ gemeinhin als anders als ‚das Land‘, sondern warum werden auch Städte als voneinander unterscheidbare und jeweils eigene soziale Gebilde imaginiert und erfahren?“ (Frank 2012, S. 289) Wie kann die besondere Wirklichkeit dieser Stadt im Unterschied zu jener Stadt – in dem hier aufgerufenen Beispiel von Hamburg im Unterschied zu München oder auch von Cottbus im Unterschied zu Leipzig – theoretisch und empirisch erfasst werden? Der Begriff der „Eigenlogik“ möchte „die Verquickung von etwas Allgemeinem (Logik) – Dichte und Heterogenität als räumliche Strukturprinzipien von Stadt – mit einer je ortsspezifischen (eigenen) Ausprägung – lokal spezifische Modi der Verdichtung und Heterogenisierung, eine je spezifische natürliche Einstellung zur Welt – beschreiben. ‚Eigenlogik‘ thematisiert folglich die spezifische Dichte lokaler Praktiken sowie die lokalspezifischen Handlungs-, Wahrnehmungs- und Erlebensmuster in Städten als institutionalisierte, routinierte Praktiken der Verdichtung. Es sind diese lokalen Praktiken, so die These, die Städte letztlich voneinander unterscheidbar machen.“ (Frank 2012, S. 299)

Hinsichtlich dieser soziologischen Thesen lässt sich folgende Bewertung ausmachen (Frank 2012, S. 303 ff.): Einig sind sich alle darin, dass der E ­ igenlogik-Ansatz eine innovative Forschungsperspektive bereithalte, die geeignet sei, traditionelle Denkstrukturen aufzusprengen und interdisziplinär anschlussfähig stadtsoziologisches Neuland zu betreten. Bemängelt wird jedoch das „fast vollständige Fehlen empirischer Daten“ (Sept 2009: 248), mit denen die theoretischen Überlegungen untermauert werden könnten. Die Empirie scheint noch in den Kinderschuhen zu stecken, da das Forschungsdesign durchaus herausfordernd ist, wenn Städte synchron und diachron verglichen werden sollen – und dabei aufgrund ihrer Veränderung und der sehr unterschiedlichen Wirkfaktoren „moving targets“ sind. Erste Ergebnisse lassen vermuten, dass Städte eigene Handlungslogiken herausbilden. Frank zitiert Löw mit dem Ansatz, dass die Aufdeckung der Eigenlogik von Städten diesen helfen

2Für

diesen Literaturhinweis danke ich meinem Kollegen Gerald Beck (vgl. seinen Beitrag in diesem Buch).

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kann, Routinen zu durchbrechen und Veränderungen herbeizuführen (vgl. Frank 2012, S. 305 ff.). Löw beschreibt Forschungsansätze, die in einer Stadt verfolgte Handlungsmuster in den Schichtungen der Geschichte ablesen und auf diese zurückzuführen sucht (ebd.) Vor diesem Hintergrund erklärt Löw die Notwendigkeit einer sinnverstehenden Stadtsoziologie, da „der Stadtsoziologie ein Baustein der Theoriebildung [fehlt], wenn sie in erster Linie entweder Aussagen über die Stadt an und für sich im gesellschaftlichen Ganzen oder über Milieus in Städten trifft.“ (Löw 2018, S. 135 ff.) Mit der sinnverstehenden Stadtsoziologie versucht Löw, das Handeln der Menschen in der Stadt vielschichtig zu erfassen und in einen Gesamtzusammenhang zu stellen. Die Eigenlogik der Städte beschäftigt sich also stark damit, wie eine Stadt durch ihre Geschichte und die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse eine Eigenlogik entwickelt. Dadurch wird die Identität der Kommune direkt mit den Handlungsmustern der Menschen in Verbindung gebracht, d. h., die Identität entsteht durch die Menschen und ist an ihren Handlungen ablesbar. Mit den nachfolgenden Überlegungen zur Identität soll der Ort selbst als Träger von Identität untersucht werden. Die philosophischen Überlegungen lassen bewusst die Prägung und die Zuschreibungen durch Menschen außer Acht und richten sich auf den Ort und auf das, was er für seine Entstehung aus sich heraus mitbringt. Im Rückgriff auf philosophische Denkfiguren soll die Existenz einer eigenen Identität des Ortes begründet und in ihrer Beschaffung und Bedeutung analysiert werden. Dabei geht es nicht darum, spezifischen Städten eine Logik nachzuweisen, sondern grundsätzlich darum, ob ein Ort eine Identität aus sich heraus aufweist, die über die gezielte Planung und Gestaltung durch Menschen hinausgeht.

3 Der Begriff der Identität in der Philosophie In der Philosophie stellen sich bezüglich der Identität zwei grundsätzliche Fragen. Bei der ersten geht es darum, wem oder was eine Identität zukommt und ob diese Identität tatsächlich einzigartig ist. Diskutiert wird also, ob zwei Dinge miteinander identisch sind und ob ein Seiendes mit sich identisch ist (Weissmahr 2010). Man kann sich dabei der Logik bedienen und Identität als eine Relation darstellen, d. h., a ist identisch mit b. Aristoteles ging davon aus, dass a und b identisch sind, wenn alles, was von a ausgesagt wird, auch von b ausgesagt wird. Das Leibniz-Prinzip sagt jedoch aus, dass es „zwei vollkommen gleiche, nicht unterscheidbare Dinge in der Welt nicht geben kann“ (Ulfig 1999, Stichwort Identität). Das Identitätsprinzip stellt fest, dass ein „Seiendes mit sich selbst identisch ist“ (Ulfig 1999, Stichwort Identität), was durch die Aussage

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des Leibniz-Prinzips keine Tautologie ist. Für die Identität von Orten würde das grundsätzlich bedeuten, dass der Ort als etwas Seiendes oder als Ding in der Tat eine Identität aufweist und dass er mit keinem anderen Ort identisch sein kann. Ein anderer Aspekt in der philosophischen Betrachtung von Identität ist die diachrone Identität (Weissmahr 2010), d. h. die Diskussion der Frage, inwiefern etwas im Zeitverlauf seine Identität (mit sich selbst) behält. Das Phänomen der veränderlichen Identität, die dennoch einen wiedererkennbaren Kern hat, kennt eine metaphysische und eine logische Dimension. Das von Plutarch überlieferte Theseus-Paradoxon macht die logische Problematik der Identität, die sich bereits in der Antike gestellt hat, deutlich. „Das Schiff, auf dem Theseus mit den Jünglingen losgesegelt und auch sicher zurückgekehrt ist, eine Galeere mit 30 Rudern, wurde von den Athenern bis zur Zeit des Demetrios Phaleros aufbewahrt. Von Zeit zu Zeit entfernten sie daraus alte Planken und ersetzten sie durch neue intakte. Das Schiff wurde daher für die Philosophen zu einer ständigen Veranschaulichung zur Streitfrage der Weiterentwicklung; denn die einen behaupteten, das Boot sei nach wie vor dasselbe geblieben, die anderen hingegen, es sei nicht mehr dasselbe.“ (Zitat aus Philoclopedia).

Das Denkmodell wird noch durch die Frage erweitert, welchen Einfluss es auf die Frage der Identität des Schiffes haben würde, wenn man aus den alten Planken ein neues Schiff gebaut hätte – und welche Identität welches Schiff zu den jeweiligen Zeitpunkten des Baus hätte. Als Lösungsansatz für diese komplexe Fragestellung wird auf den Unterschied zwischen Material und Funktion verwiesen, wobei die Funktion letztlich den Ausschlag gebe. Wenn also die Entität weiterbestehen und funktionieren kann, auch mit ausgetauschten Materialien, würde dies ihre Identität sichern. Für die Identität von Orten würde das einerseits bestätigen, dass er trotz seines Wandels seine Identität erhält, und dies als Entität, d. h. aus sich heraus, und nicht durch Zuschreibung. Dennoch ist hier die Frage nach der Funktion nicht zu vernachlässigen: In einer Variante der Geschichte wird berichtet, dass jedes Jahr auf diesem Schiff die siegreiche und glückliche Rückkehr des Theseus gefeiert wurde. Damit muss das Schiff nicht nur als Schiff funktionieren, sondern vor allem auch als Symbol dienen können, das eine bestimmte Ausstrahlung hat. Während die logische Argumentation die vom Menschen unabhängige Identität des Ortes stärkt, bringt die metaphysische Dimension Ort und Mensch in einen Zusammenhang. Weissmahr verweist darauf, dass wir Menschen ein Bewusstsein von Identität haben, dass wir ein apriorisches Wissen haben, das uns uns selbst als Identität in Differenz erleben lässt. Mit dem Wissen um die räumliche und zeitliche Identität in Differenz unserer leiblichen Person verfügen wir über „das

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Wissen um Raum und Zeit als solche bzw. auch um die Identifizierbarkeit der Personen und Dinge zu verschiedenen Zeiten“ (Weissmahr 2010). Damit ist ausgesagt, dass der Mensch Wandlungen von Identität versteht und einen Kern ausmachen kann, der der Veränderung trotzt und das Wiedererkennen, aber auch eine Weiterentwicklung, erlaubt. Da nun geklärt wurde, dass Orten aus philosophischer Perspektive eine eigene, nicht zugeschriebene Identität zukommen kann, sollen im Folgenden einige Hypothesen dieser Identitätsbildung philosophisch diskutiert werden. Die erste bezieht sich auf die Veränderung der Identität im Laufe der Geschichte, in den Zeitläuften, und auf deren Bedeutung für den Menschen. Auch hier soll der Ort als Existenz mit eigener Identität gesehen und in seiner Wirkung auf den Menschen beschrieben werden. Dabei sollen die anthropologischen Voraussetzungen der Wahrnehmung von Veränderung seitens des Menschen beleuchtet werden. Die zweite Hypothese bezieht sich auf die Identität, die sich durch metaphorische Elemente des Ortes begründet. Auch wenn diese Elemente menschengemacht sein können, sind sie mit der Identität des Ortes verschmolzen und wirken auf den Menschen. Dass sie hierbei unterschiedliche Wirkungen entfalten können, wird durch die Gegenüberstellung von Gedächtnis und Erinnerung verdeutlicht. Eine dritte Hypothese bezieht sich auf die Topografie des Ortes und zeigt auf, wie einerseits die geografischen Koordinaten und andererseits die Prägung durch eine bestimmte Landschaft oder Natur zur Ausprägung der Identität des Ortes ­beitragen.

4 Identität in der Veränderung als anthropologische Herausforderung Orte verändern sich in ihrer Identität im Laufe der Geschichte. Diese Geschichte vollzieht sich zumeist allmählich, und nur der Ort weiß um sie in der Gänze und in ihrer Sachlichkeit. Die Identität des Ortes charakterisiert sich durch die Geschichte, die er den Menschen zu einem Zeitpunkt X darbietet. In diesem Zeitpunkt X schwingen Vergangenheit und Zeitläufte mit und deutet sich die Zukunft an. Für die Menschen ist diese Darbietung der Geschichte ein prägender Faktor, der eine anthropologische Notwendigkeit kennt. Die Geschichte des Ortes ist ein Zeitstrahl, auf dem die Menschen eine bestimmte Zeitscheibe mit-leben und sich angeschlossen fühlen an das, was vor ihnen war und was sich in Zukunft ereignen wird. Hierin spiegeln sich auch die Fähigkeit des Menschen zur Transzendenz und sein Wunsch, von Vergangenem zu wissen und in Zukünften zu denken, die er nicht mehr miterleben wird.

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Die Geschichte des Ortes ist einerseits seine eigene, ihn prägende Geschichte und gleichzeitig die von den Menschen dort zu verschiedenen Zeitpunkten unterschiedlich gedeutete Geschichte, die als Geschichtlichkeit bezeichnet wird. Angehrn stellt eine Verbindung zwischen Identität und Geschichte her (2018) und sieht sie als ein Wechselverhältnis (2018: S. 7). So prägt die Geschichte einen Ort, und die so entstandene Identität wirkt auf den Menschen. „Die Rekonstruktion der Geschichte, die Historie, ist ein Instrument der Vergewisserung eigener und fremder Identität“ (Angehrn 2018: S. 7). So sind beim Begreifen des Wesens des Ortes seine Herkunft und seine Geschichte von großer Bedeutung – das Hier und Jetzt bietet dafür nicht ausreichend Informationen. Dilthey geht nach Angehrn (ebd.: S. 8) davon aus, dass der Mensch durch Geschichte geprägt wird, d. h. dass Geschichte nicht Rahmen, sondern konstitutives Element der menschlichen Existenz ist. Damit ist auch gesagt, dass Mensch und Ort einerseits für eine Zeit Geschichte teilen, aber für den Menschen die darüber hinaus gehende Geschichte, die den Ort und seine Identität prägt, von Bedeutung ist. Auch wenn zu unterscheiden ist zwischen der Geschichte, die sich objektiv vollzogen hat, und der Deutung von geschichtlichen Ereignissen durch die Menschen und zu beachten ist, dass Geschichte ohne Erzählung durch den Menschen kaum zu denken ist, ist dem Ort und seiner Identität ein Gesamt an Geschichte eingeschrieben, das über die menschlichen Erzählungen hinausgeht. Diese Gesamtheit von Geschichte des Ortes bedeutet, dass zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Geschichten erzählt werden können, ohne dass dies seine Identität verändert. Denn die dort lebenden Menschen nehmen die Identität des Ortes nur in Ausschnitten war, insbesondere die Zeitscheibe, in der sie selbst leben. Anthropologisch elementar wichtig ist, Anschluss an eine Geschichte zu haben, die über den Einzelnen selbst hinausgeht, die vor ihm anfängt und über ihn hinaus weist. Angeschlossenheit an die Geschichte gehört zu den existenziellen Lebensgefühlen und ist eine wichtige Erfahrung, aber auch die Angeschlossenheit an die Geschichtlichkeit, die Deutung und Verarbeitung von Geschichte. Das heißt, die Menschen leben ein Stück der Veränderung der Dinge (subjektiv) mit, das mit einer objektiven und auch subjektiv gedeuteten Vergangenheit und Zukunft verbunden ist. Was passiert aber nun, wenn ein Ort seine Identität nicht allmählich und evolutionär wandelt, sondern sich ein starker Bruch in der Geschichte ereignet? Die weitgehende Zerstörung von Orten im Zweiten Weltkrieg, kollektive Selbstmorde an Orten vor militärischen Invasionen (z. B. Demmin), oder verheerende Erdbeben stellen solche Rupturen dar. Die Identität des Ortes ist dann zerstört oder verschüttet, und es stellt sich die Frage, ob der Ort auf diesen Trümmern zu einer neuen Identität finden kann oder ob er erst zu seiner alten Identität zurückfinden muss, damit dann wieder eine graduelle Weiterentwicklung seiner Identität stattfinden kann.

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In der Realität mussten sich Orte konkret dieser Frage stellen, und in Städten wie Dresden, Frankfurt oder Berlin wurden Gebäude im alten Stil wieder aufgebaut – auch um auf diese Weise rekonstruierend Anschluss an die eigene Geschichte finden zu können. Der Wiederaufbau nach historischem Muster ist jedoch umstritten, wie das Humboldt-Forum in Berlin zeigt. Hier spiegelt sich, wie Menschen sich zur Geschichte positionieren: Manche wollen einen zukunftsgerichteten Neubau, andere ziehen es vor, das alte Stadtbild wiederaufleben zu lassen. Es geht also darum, wie Menschen die Identität des Ortes wahrnehmen und ob diese sich für ihre Lebensvollzüge eignet, ob ihnen Kontinuität, die Einordnung und Anschlussfähigkeit des eigenen Lebens in und an vergangene und zukünftige Zeiten möglich ist. Sigel (2006, S. 24 f.) beschreibt, dass mit dem Wiederaufbau und der Wiederherstellung der historischen Stadtsilhouette Dresdens eine Wiedergutmachung und Kontinuität verbunden wird, die über die Stadt und ihre Bewältigung von Geschichte hinausreicht. Gleichzeitig kontrastiert das wiederhergestellte Altstadt-Ensemble stark damit, dass die Flächen um die Dresdner Altstadt durch „Brachen und die verschiedenen Sedimente der Nachkriegsbebauung“ (Sigel 2006, S. 24) charakterisiert sind. Diese Arten der Bebauung haben kaum Verbindung zueinander und sind daher in ihrer Identitätsausstrahlung gebrochen. Ein ganz anderes Beispiel bietet Pompeji, das 79 nach Christus von einem Vesuvausbruch verschüttet wurde und das bis heute keinen Anschluss an die eigene Geschichte mehr gefunden hat. Es ist heute ausschließlich Museum und ein Touristenort, eine Zeitlang ein Veranstaltungsort, der konserviert und erinnert, aber nicht weiterlebt.

5 Die Kraft der Metaphorik in der Identität des Ortes Die Identität der Orte und ihrer Geschichte stellen sich oft in Metaphern dar. Diese Metaphern können Gebäude sein, aber auch Plätze oder Gärten, Wahrzeichen oder Landmarken, Brunnen oder Statuen. Oft spricht man von einem Ensemble in einer Stadt, das aus einer bestimmten Epoche kommt und eine Unverwechselbarkeit bedeutet, aber auch kleine Denkmäler wie das Manneken Pis in Brüssel oder die Gänseliesel in Göttingen weisen einen hohen Wiedererkennungswert auf. So gerinnen geschichtliche Vorkommnisse in diesen Metaphern und werden Teil der Identität des Ortes. Aber auch zur Identität des Ortes gehörende Bäume oder Plätze laden ein zu Begegnungen und für Einzelne oder Gruppen denkwürdigen Ereignissen. In der Identität des Ortes finden sie ihren Platz neben anderen Metaphern, die in ihrer Bedeutung und Ausstrahlung

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unterschiedlich sein können. Es zeigt sich, dass die Metaphern verletzliche Stellen in der Identität des Ortes sind: Die Zerstörung der Twin Towers, die aus der berühmten Silhouette Manhattans herausgerissen wurden, der zerstörerische Brand von Notre-Dame in Paris, die Zerstörung der Buddha-Statuen von Bamiyan schreiben sich in die Identität des Ortes ein. Die Metaphern der Identität von Orten kann durch Menschen in zwei Weisen wahrgenommen werden. Dabei muss unterschieden werden zwischen Erinnerung und Gedächtnis. Metaphern können sich mehr an die Erinnerung oder mehr an das Gedächtnis richten. Assmann weist Erinnerung und Gedächtnis unterschiedliche Merkmale zu. So beschreibt sie die Erinnerung als unzuverlässig und aktiv, d. h. verbunden mit der Energie des Auffindens und des Hervorholens, sie bezieht sich auf zeitenthobene Werte, auf einen Eindruck. Man erinnert sich plötzlich an einen blühenden Busch oder auch den Duft eines Gerichts, den man aktiv hervorholt, um das Geschehene zu rekonstruieren. Das Gedächtnis hingegen ist zuverlässig und passiv, ein Speicher von Daten, der Fakten in objektiver Weise auffindbar macht (vgl. Assmann 1991, S. 17). So geht es im Ruhmestempel zum Beispiel nicht um die Taten und die damit verbundenen Fakten, sondern um die Tatsache, dass diese weitererzählt und besungen werden. Das Gegenstück wäre die Bibliothek, in deren Büchern die Fakten verzeichnet sind, die das Gedächtnis nähren. Verpflichtet der Tempel zum Andenken für die Zukunft, ermöglicht die Bibliothek Wissen von der Vergangenheit (vgl. Assmann 1991, S. 13 ff.). Die Identität des Ortes wird also von besonderer Strahlkraft sein, wenn sie eine Metaphorik aufweist, die bestenfalls beides bedient, vor allem aber die Erinnerung in ihrer stimulierenden Wirkung nicht auslässt. Ein gelungenes Beispiel ist das Mahnmal auf dem Ground Zero in New York, das National 9/11 Memorial: Die Türme, die hier vor dem Anschlag am 11. September 2001, standen, wurden in zwei tiefe und dunkle Wasserbecken umgekehrt, in die ständig Wasser hinabfließt. Steht man am Beckenrand und schaut in die Tiefe, bekommt man einen Eindruck vom Fall der Menschen aus den Fenstern der Türme. Auf dem Beckenrand sind die Namen der Verstorbenen eingraviert, sodass man ihnen nah ist, wenn man sich über den Rand beugt, um in die Tiefe zu sehen. Zusätzlich zu den „Pools“ gibt es ein Dokumentationszentrum, das an das Gedächtnis appelliert und die Einzelheiten des Anschlags und seine Bewältigung mit Zahlen und Fakten dokumentiert. Damit ist eine einzigartige Symbolik gelungen, die die Geschichte inkorporiert und sie im wahrsten Sinne des Wortes umdreht und in die Zukunft weisen lässt. Assmann (1991, S. 18) schreibt: „Sich identifizieren heißt nicht, sich gleich zu fühlen, sondern zu erkennen und einen Bezug herzustellen.“

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6 Die Topografie als Auslöser von Ereignissen Eine bestimmte Landschaft, geographische Gegebenheiten oder die Natur an sich (auch im Sinne von Bäumen, Gärten oder Parks) verleihen der Identität eines Ortes eine elementare Prägung. Zum einen richten sich Siedlungen an den Gegebenheiten der Landschaft aus, natürliche Häfen, Öffnung zum Wasser hin. Zum anderen können sie zu historischen Orten werden, weil sie einen Kreuzungspunkt oder eine bestimmte Lage im Verhältnis zu anderen Orten markieren (z. B. Handelswege, militärische Standorte, „neutrale“ Orte etc.). Ivo Andrić, der 1961 für sein 1945 erschienenes Werk „Die Brücke über die Drina“ den Nobelpreis bekam, legt darin die Problematik des Vielvölkerstaates Jugoslawien dar. Am Anfang des Buches nimmt er die dramatische Landschaft als Ausgangspunkt für die Geschichte von Višegrad. „Den größeren Teil ihres Laufes fließt die Drina zwischen steilen Bergen, durch enge Schluchten oder durch tiefe Täler mit schroff abfallenden Ufern. Nur an einigen Stellen des Flusslaufes erweitern sich die Ufer zu offenen Niederungen und bilden auf einer oder auf beiden Seiten des Flusses milde, teils ebene, teils wellige Landschaften, die zur Bestellung und Besiedlung geeignet sind. Eine solche Erweiterung entsteht auch hier bei Višegrad, an einer Stelle, wo die Drina in einer plötzlichen Biegung aus der tiefen und engen Klamm hervorbricht.“ (Andrić 2013, S. 7)

Andrić beschreibt den farblichen Kontrast zwischen den dunklen, fast bedrohlichen Bergen und dem grünen und aufgewühlten Wasser, den Kontrast zwischen den Bergen und der Ebene. Geografisch ist der Ort die Verbindung zwischen West und Ost, zwischen Serbien und Bosnien und über Serbien hinaus mit den übrigen Teilen des seinerzeitigen türkischen Reiches und damit auch zwischen Christentum und Islam. Die Stadt mit ihrer Brücke wird durch ihre geografische Lage und mit der landschaftlichen Dramatik als Hintergrundfolie zum Kristallisationspunkt von Geschichte mit ihren steten Veränderungen. Die Brücke selbst ist eine Metapher der Erinnerung. Ivo Andrić beschreibt das Leben auf der Brücke, die Terrassen hat, wo die Menschen einander schon immer begegnet sind, gefeiert haben, Dramen erlebt haben etc. Dass die topografische Prägung der Identität auf die Menschen ausstrahlt, lässt sich unschwer an der Bedeutung der Natur für den Menschen festmachen: Man denke an die Rezeption von Naturthemen in der Literatur, aber auch an die seit der Industrialisierung immer wieder kehrenden Diskussionen um das Spannungsfeld von Kultur, Natur und Technik. So nimmt der Mensch zum Beispiel die Architektur von Häusern, zum Beispiel im Klassizismus, als eine ordnende und

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disziplinierende Kraft gegenüber der Natur dar. Sicher gibt es in verschiedenen Epochen der Ideengeschichte sich wandelnde Wahrnehmungen von Natur, aber die Vorstellung der Antike, in der die Natur im Sinne eines Kosmos, zu dem der Mensch gehört und der auch etwas Einendes, etwas Vertrautes und Grundsätzliches hat, wirkt noch heute. „Aber die Nöte dauern nicht ewig – und das haben sie mit den Freuden gemein – sondern sie gehen vorüber oder lösen einander wenigstens ab und geraten in Vergessenheit. Das Leben auf der Kapija [auf den Terrassen der Brücke, Anm. Der Verfasserin] erneuerte sich immer wieder und allem zum Trotz, und die Brücke änderte sich weder mit den Jahren noch mit den Jahrhunderten, noch mit den schmerzlichsten Wendungen in den zwischenmenschlichen Beziehungen. All das ging ebenso über sie hinweg, wie das unruhige Wasser unter ihren glatten und vollkommenen Bögen dahinfloss.“ (Die Brücke über die Drina, S. 143)

Die emotionale Bedeutung der Kontinuität der topografischen Identität des Ortes beschreibt Göschel (2013) im Zusammenhang mit Stuttgart 21 und dem Protest gegen das Fällen der alten Bäume im Stadtpark. „Selbst der Kampf um die Bäume im angrenzenden Park ist nicht primär ökologisch sondern kulturell bestimmt. […] Die alten Bäume des Parks, die für den Neubau gefällt werden mussten, scheinen den Projektgegnern eine ‚benevolente‘, eine dem Menschen zugewandte, schützende Natur zu symbolisieren. Der Kampf um den Park mit seinem alten Baumbestand erinnert weniger an einen Kampf um Naturressourcen, die als bedroht empfunden werden, als vielmehr um einen ‚locus amoenus‘, einen beseelten Ort, der seinen Zauber aus Erinnerungen und kulturellen Aufladungen bezieht.“ (Göschel 2013, S. 155)

7 Die Identität von Orten im Kontext sozialer Nachhaltigkeit Wir halten fest, dass Orte ihre eigene Identität haben, die über die Zeit der aktuellen Einwohnerschaft hinausgeht. Wir halten ferner fest, dass die Menschen sich diese Identität nie ganz erschließen, sondern in ihrer Wahrnehmung von aktuellen Erlebnissen und Bedingungen geprägt sind. Die durch Zeitläufte und die jeweilige Situation geprägte Identität des Ortes schiebt sich vor die eigentliche und die Zeit überdauernde Identität des Ortes. Wie kann man dennoch den Ort gleichzeitig mit Blick auf aktuelle An- und Herausforderungen im demographischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel und mit dem Wissen um diese eigene Identität des Ortes gestalten?

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Unter Berücksichtigung der eingangs genannten drei Hypothesen bezüglich Geschichte, Metaphorik und Topologie von Orten, die deren Identität prägen, lässt sich mit Blick auf die geschichtliche Veränderung auf einen vorsichtigen Umgang mit allen historischen Schichtungen verweisen, da die eigentliche Identität des Ortes immer durchscheinen wird. Sigel schreibt mit Blick auf die Gestaltung von Städten: „Gelingender Geschichtsbezug beinhaltet jedoch mehr als die Akzeptanz einer bestimmten historischen Bildlichkeit unserer Städte, er braucht Substanz aus verschiedensten historischen Schichtungen, [die ihnen] differenzierten, pluralistischen und auch subjektiven Zugang garantieren […]“ (Sigel 2006, S. 29). Er spricht von einem Palimpsest, was letztlich auf eine sich verändernde, aber doch eigene Identität der Stadt verweist. Das Bild des Palimpsests steht sinnbildlich dafür, dass aktuelle geschichtliche Ereignisse immer wieder in den Hintergrund treten und verblassen und sich auf der Geschichtsfolie des Ortes Neues einschreibt, während zurückliegende Ereignisse weiter durchscheinen. Mit Blick auf die Metaphorik erscheint es geboten, ihre Botschaften zu erfassen und in Beziehung zu den dort wohnenden Menschen zu setzen, dabei aber ihre Bedeutung für die Identität des Ortes insgesamt abzuwägen. Sigel weist für die Architektur darauf hin, dass die Fokussierung auf die konkrete Beschreibung dazu führen kann, dass andere Bilder nicht mehr sichtbar sind, was zu einer Unklarheit führt, die insbesondere für ein kollektives Gedächtnis ein Problem darstellen (vgl. Sigel 2006, S. 13). Sigel führt aus, dass die Sprache der Architektur eine sein muss, die weder dem Diktat der Moderne, die eine Gesichtslosigkeit und Gleichförmigkeit als Hintergrundfolie für den modernen Menschen bedeutet, folgt noch sich in der Reproduktion von historischen Fassaden erschöpft, sondern die Historizität von Gebäuden transparent in den richtigen Kontext stellt. Für die Gestaltung von Kommunen sind die Erinnerungen der Menschen wichtig für die Identifikation mit dem Ort und damit für die Lebensqualität des Ortes. In Grabow hat man nicht nur die Konzerte im Park wiederbelebt, sondern im Park auch einen Hochzeitspavillon gebaut, der dem Park auf der Grundlage der Geschichte neue Bedeutung gibt. Die Hochzeiten von heute werden die Erinnerungen von morgen sein, eingebettet in die Metaphorik des Parks. In Riesa entdeckt man die Konzertmuschel neu, in der sich die Menschen zu Zeiten der DDR getroffen haben und die als Ort der Begegnung große Bedeutung hatte. Die Planung in Kommunen muss diese Metaphern lesen und deuten lernen, da sie Teil ihrer Identität sind, und für jedes neue Symbol ist es entscheidend, dass es Seiendes und Gewesenes spiegelt, das bereits in ihnen angelegt ist, und nicht

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unverbunden neue Inhalte transportiert, Selbstinszenierungen von Künstlern verkörpert oder einfach nur medienwirksam sein soll. Die topografischen Gegebenheiten können als elementarer Bestandteil der Identität gepflegt und herausgestellt werden und stellen aufgrund ihrer meist langwährenden Gegebenheit eine besondere Herausforderung dar. Eine besondere Aufgabe ist das in Riesa, wo die Stadt ebenso wie in Ingolstadt vom Wasser abgewandt entstanden ist und sich heute die Frage stellt, ob im Rahmen der wirtschaftlichen und kulturellen Veränderungen eine Öffnung zum Wasser hin möglich ist. Dabei stellt sich die Frage, ob der Kern der Identität dennoch erhalten bleibt oder ob dadurch ein die Identität gefährdendes Maß an unangepasster Urbanität in die Stadt Einzug hält. Es ist offensichtlich, dass es an kleineren Orten aufgrund der größeren Übersichtlichkeit leichter ist, entlang der historisch gewachsenen Identität zu gestalten. Die Herausforderungen bleiben aber unabhängig von der Größe des Ortes die gleichen. Um Menschen zu erreichen, müssen Kommunen sich der eigentlichen Identität der Orte stellen. Die Bürger*innen brauchen die Verbundenheit mit Vergangenheit und mit Zukunft. Die Identität des Ortes muss unter Berücksichtigung von prägender Topographie, Natur, Geschichte, architektonischem Erbe und ihren jeweiligen Denkmälern freigelegt und in Beziehung zur Wahrnehmung der Einwohner*innen gesetzt werden. Was gestaltet wird, kann immer nur ein Teil sein – hier greift das Bild des Palimpsests – denn die Identität des Ortes reicht über das Hier und Jetzt der Menschen hinaus. Den Anschluss an die Identität der Orte als Wegweiser für Zukünfte wird sich an der Bereitschaft der Bewohner*innen messen lassen, sich diese zu eigen zu machen.

Literatur Andrić, Ivo. 2013. Die Brücke über die Drina, München: dtv Angehrn, Emil und G. Jüttemann. Hrsg. 2018. Identität und Geschichte. Göttingen, Bristol, CT, U.S.A.: Vandenhoeck & Ruprecht (Philosophie und Psychologie im Dialog, Bd. 17) Assmann, Aleida. 1991. Zur Metaphorik der Erinnerung. In Assmann, A. und Harth, D., Hrsg.: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt a. M.: Fischer-Taschenbuch-Verlag Bockrath, Franz. 2008. Städtischer Habitus – Habitus der Stadt in Löw, Martina und H. Berking. Hrsg. Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt a. M.: Campus Verlag Dahme, Heinz-Jürgen und N. Wohlfahrt. 2013. Lehrbuch Kommunale Sozialverwaltung und Soziale Dienste. Weinheim: Beltz Verlagsgruppe Frank, Sybille. 2012. Eigenlogik der Städte. In Handbuch Stadtsoziologie, (Hrsg.: Eckardt, F.) Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 289–309

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Göschel, Albrecht. 2013. „Stuttgart 21“: Ein postmoderner. In: Brettschneider, Frank und W. Schuster. Hrsg. Stuttgart 21. Ein Großprojekt zwischen Protest und Akzeptanz. Wiesbaden: Springer Lindner, Rolf. 2008. Textur, imaginaire, Habitus – Schlüsselbegriffe der kulturanalytischen Stadtforschung. In Löw, Martina und H. Berking. Hrsg. Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt/New York: Campus Verlag Löw, Martina. 2018. Vom Raum aus die Stadt denken. Grundlagen einer raumtheoretischen Stadtsoziologie. Bielefeld: Transcript Verlag Löw, Martina und H. Berking. Hrsg. 2008. Die Eigenlogik der Städte. Neue Wege für die Stadtforschung. Frankfurt a. M.: Campus Verlag Sigel, P. 2006. Konstruktionen urbaner Identität. In Klein, Bruno und Sigel, Paul (Hrsg.). Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart. Konstruktionen urbaner Identität. Erstausg., 1. Aufl. Berlin: Lukas Mattenklodt, H.-F. 2013, Territoriale Gliederung – Gemeinden und Kreise vor und nach der Gebietsreform. In Püttner, Günter. Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis: Band 1: Grundlagen und Kommunalverfassung. Springer-Verlag, S. 154–182 Ulfig, Alexander (1999): Lexikon der philosophischen Begriffe. 2. Aufl. Wiesbaden: Fourier Weissmahr, Bela. Stichwort „Identität“. 2010. In Brugger, Walter und H. Schöndorf., Hrsg. Philosophisches Wörterbuch. Orig.-Ausg., [vollst. Neubearb.]. Freiburg im Breisgau: Alber

Internetquellen https://www.philoclopedia.de/2017/07/07/das-schiff-des-theseus/, letzter Zugriff 30.11.2019 www.demografiewerkstatt-kommunen.de

Wegner, Martina, Prof. Dr., Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München, Deutschland. Martina Wegner ist Professorin für die Organisation von Zukunftsdiskursen. Als Philosophin ist sie im Studiengang Management sozialer Innovationen (MSI) an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München für den Bereich Werte und Normen verantwortlich. Sie lehrt zu den Schwerpunkten Wirtschafts- und Sozialethik sowie Zivilgesellschaft und Demokratie, ihre Hauptthemen sind zivilgesellschaftliche Entwicklungen mit Fokus auf Bürgerbeteiligung und Bürgerschaftlichem Engagement. Sie führt für Kommunen sowie für Bundes- und Landesministerien Evaluations- und Beratungsprojekte durch, die sich u. a. auf die kommunale Umsetzung von Querschnittsthemen wie nachhaltige Entwicklung und Demografie beziehen.

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Letzte Veröffentlichungen: Wegner, Martina; T. Klie. 2018 Verantwortung und Identität vor Ort. In Thomas Klie und Anna Wiebke Klie. Hrsg. Engagement und Zivilgesellschaft. Expertisen und Debatten zum Zweiten Engagementbericht. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden (Bürgergesellschaft und Demokratie), S. 547–568. Wegner, Martina: Ein Plädoyer für die (Bürger-)Tugend. In Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). 2017. Hrsg. Zweiter Bericht über die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik Deutschland. Schwerpunktthema: „Demografischer Wandel und bürgerschaftliches Engagement: Der Beitrag des Engagements zur lokalen Entwicklung“ (Bundesdrucksache, 18/11800), S. 58–67.

Gesellschaftliche Transformation durch Partizipation – eine kommunale Praxis mit Bevölkerung und Betroffenen Ingegerd Schäuble und Oranna Erb

Zusammenfassung

Der Alltag in unseren Kommunen wird zunehmend komplexer, undurchschaubarer und dabei notgedrungen auch vieldeutiger. Politik und Verwaltung, die verantwortlich sind für die Bewältigung der vielfältigen Alltagsaufgaben – wie Digitalisierung, Beschleunigung, Diversity, Umwelt, Demographie, Mobilität –, geraten dabei oft in Konflikte zwischen bürokratischen Regelungslogiken, politisch motivierten Vorgaben, im Alltag machtvoll vorgetragenen Erwartungen von Interessengruppen sowie sozialen, kulturellen, ökonomischen, verkehrlichen u. a. Bedarfen in der Allgemeinheit der BürgerInnen. Konflikte können, wenn sie nicht bearbeitet und gelöst werden, zur Erstarrung in der Struktur und zur Verhärtung von Konfliktfronten führen. Folge davon ist oft ein selbst erzeugter Erneuerungs- und Investitionsstau nicht nur bei investiven, sondern v. a. bei nicht-investiven Aufgaben. Wir im Schäuble Institut haben mit der Entwicklung von passgenauen D ­ialog-Prozessen sehr gute Erfahrungen gemacht, wenn mit ihnen die zum Erliegen gekommene Kommunikation erneut angeschoben, ein tragfähiges, respektvolles Miteinander gemeinsam entwickelt wird und Resilienz der Kommune bei Ambiguitätstoleranz hergestellt wird.

I. Schäuble (*) · O. Erb  München, Deutschland E-Mail: [email protected] O. Erb E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_10

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Innovative kommunale Strukturen, andere Organisationsformen und zielführende Veränderungsprozesse sind unverzichtbar. Aufbau und Gliederung: Schilderung der Blockaden in kommunalen Entwicklungen, Reflexionen zu dialogischen Lösungswegen, günstige und ungünstige Rahmenbedingungen, Schlussfolgerung für praktisch Tätige aus Kommunalpolitik und -verwaltung, innovationsfreudige Betroffene, ModeratorInnen/MediatorInnen. Zum Innovationspotential: Wir verwenden die positiven Potentiale der rationalen sowie emotionalen Intelligenz und fördern die mentale Offenheit, aus deren wacher Kombination Resilienz und zukunftsfähige, nachhaltige Innovationen möglich werden.

1 Einleitung Gesellschaftliche Transformationsprozesse sind wie eine Versprechung für die nachhaltige Lösung alltagsrelevanter Fragen. Während die üblichen demokratischen Instanzen und Entscheidungswege von vielen als nicht hinreichend zupackend und glaubwürdig wahrgenommen werden, wird mit der Idee der gesellschaftlichen Transformation ein Stück Eigenmacht als positive Vision ins Spiel zurückgebracht. Bürgerschaftliche Bewegungen, Initiativgruppen und alternative Gesellungsformen stehen positiv konnotiert als Kontrast zum schwerfälligen, oft undurchschaubaren politischen System. Nach unserer Moderations-/Mediationserfahrung in der Arbeit mit und für Kommunen bergen ernst gemeinte, konsequent umgesetzte partizipative Prozesse im Gemeinwesen erhebliche Potentiale zur Gestaltung von gesellschaftlicher Transformation. Sie sind Transformationsprozesse an der Basis der Bevölkerung – und mit der Bevölkerung. Als Voraussetzungen für gelingende Partizipation möchten wir anführen: eine achtsame professionelle Anleitung und den Willen in Politik und Verwaltung, die partizipativ wirksamen Alltagskompetenzen in kommunale Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Wir berichten nachfolgend direkt aus der ­ soziologisch-stadtplanerisch-kommunikativen Praxis: von typischen kommunalen Problemlagen und den partizipativen Lösungswegen, die Kommunen mit uns als neutralem Moderations-/Mediationsteam gegangen sind, um ihre Aufgaben nachhaltig zu lösen.

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2 Typische Herausforderungen in ­­Stadt-/ Gemeindeentwicklung Der Alltag in Kommunen wird zunehmend komplexer. Verwaltungsstrukturen, Einflusssphären und Interessenlagen erscheinen oft als undurchschaubar, widersprüchlich. Die nachhaltige Steuerung des kommunalen Gemeinwesens verlangt von kommunal Verantwortlichen neben beruflichem Können und fachlichen Erfahrungen hohe soziale Kompetenzen, um sich in den intensiv virulenten Gruppendynamiken und in der Vieldeutigkeit kommunaler Handlungsfelder zurechtzufinden. An anspruchsvollen gesellschaftlichen Herausforderungen, die in Kommunen hineinwirken, seien beispielhaft erwähnt: • Digitalisierung in Wirtschaft und Alltag mit maßgeblichen Folgen, z. B. für die Formen der Kommunikation, die Mobilitätsmuster, das veränderte Einkaufsverhalten (Harari 2018, King 2018) • Zunehmende Beschleunigung in allen Lebensbereichen (Rosa 2005, Lobo 2019) • Verändertes Mobilitätsverhalten durch immer mehr Wege/Bewegungen, auch zu weiter entfernten Zielen, verhaltener Trend zu ökologisch verträglichen Verkehrsmitteln, Einführung/Etablierung alternativer (scheinbar) ökologisch günstiger Verkehrsmittel (Knoflacher 2014) • Veränderte konsumptive Freizeitmuster und Arbeitsformen (Schjold 2015, Crouch 2019) • Wegfall gewachsener gesellschaftlicher Sozialstrukturen und veränderte Demographie (Gehl 2015, Wichterich 2013) • Zusammenleben in unterschiedlichen Kultursegmenten, Exklusion, Parallelwelten (Helfrich und Bollier 2019) • Wachstumszwang ausgehend vom Finanz- und Wirtschaftssystem, verzweigt in alle Lebensbereiche und von vielen Individuen als „Normalität“ abgespeichert (Felber 2012, Loske 2013) • Ökologische Probleme z. B. bei Klima und Energie mit erheblichen Folgen durch Umwelt-Katastrophen und schleichender, immer sichtbarer werdender Umweltzerstörung (Scheidler 2016, Neubauer 2019) • Orientierungslosigkeit in der Lebensbewältigung (Lessenich 2016, Meißner 2017) • extreme politische Haltungen und Ausgrenzungen (Rommelspacher 2002) • Schere zwischen arm und reich – sowohl innerhalb der Gesellschaft einer Stadt, eines Landes als auch zwischen einzelnen Staaten (Lessenich 2016, Eribon 2017)

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Konflikte zwischen den vielfältigen Daseinsbereichen und Interessenlagen lassen, wenn sie nicht bearbeitet und nachhaltig gelöst werden können, die sozialen Strukturen des Miteinander in Kommunen erstarren, Konfliktfronten verhärten, es geht nichts mehr voran (Arras 2000). Unter den hieraus resultierenden Erneuerungs- und Investitionsstaus bei investiven und v. a. nicht-investiven Aufgaben leiden viele. Früher bewährte kommunale Bewältigungsstrategien verlieren z. B. durch starke Bürokratisierung ihre Elastizität im Umgang mit sozialpolitisch neuen Konstellationen. Sie unterliegen, wenn Machtpolitik statt Sachpolitik im Zentrum stehen. Öffentliche AkteurInnen verfehlen dann oft ihre eigentlichen Zwecke und Primäraufgaben; und nicht selten regen sich daraufhin soziale Unruhe und Unzufriedenheit. Dies kann bis zur Verunsicherung im Glauben an die Demokratie führen und den Widerstand der Betroffenen provozieren (Crouch 2008). Der soziale Stress in Kommunen entzündet sich an unterschiedlichen Themen: Verkehr, Verdichtung, Neubauvorhaben, Kultur, soziale Infrastruktur-Versorgung, Segregation, Armut, Folgen der Klimaveränderung o. ä. und wird nicht selten aggressiv ausgetragen. In solchen Konfliktlagen sind PossibilistInnen, wie L. Neubauer und A. Repenning (2019) Menschen mit wacher, offener Haltung nennen, hilfreich orientierend. PossibilistInnen stehen bewusst in der Gegenwart und pflegen die Fähigkeit, sich eine andere, eine gute Zukunft vorzustellen. Im nachfolgenden Beispiel ging es um eine Siedlung (vgl. Abb. 1), in der sowohl die Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs als auch mit Dienstleistungen und mit sozialen Einrichtungen schleichend abnahm bzw. teilweise schon nicht mehr gesichert war. Wichtig ist es, nicht nur die BürgerInnen, sondern alle betroffenen AkteurInnen an der Wahrnehmung und Verarbeitung der Probleme zu beteiligen und sie miteinander in Kontakt zu bringen. Der Kreis der Beteiligten bleibt dabei idealerweise immer offen, denn im Verlauf des Dialogprozesses können auch noch weitere Betroffene identifiziert und einbezogen werden. Politik und Verwaltung, die wechselnde Alltagsaufgaben schnell und nachhaltig bewältigen sollen, geraten dabei oft in Konflikte zwischen • bürokratischen Kontroll- und Regelungslogiken • politisch motivierten Vorgaben • machtvoll vorgetragenen Erwartungen von örtlichen und überörtlichen Interessengruppen • sozialen, kulturellen, ökonomischen, verkehrlichen, … Bedarfen in der Allgemeinheit der BürgerInnen.

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Abb. 1   Zu beteiligende AkteurInnen am Beispiel einer Siedlung mit InfrastrukturProblematik. (Eigene Darstellung: Schäuble-Institut für Sozialforschung)

Anhaltender Unfrieden in der Bevölkerung, Reibungen in der Kommunalpolitik selber, aber auch in der Kommunalverwaltung schränken, wenn sie sich potenzieren, die Handlungsfähigkeit im Gemeinwesen erheblich ein. Notwendige kommunale Entwicklungen werden von solchen Konfliktlagen oft verlangsamt, erschwert, manchmal sogar verhindert. Die Lebensqualität im Gemeinwesen nimmt ab, ebenso die Glaubwürdigkeit der AkteurInnen. Auch die Versorgungslage (z. B. mit Sozialen Diensten, mit Wohnraum, mit qualitätsvollem öffentlichem Raum) wird u. U. lückenhaft. Blockaden führen nicht nur bei InvestorInnen zu Unzufriedenheit, das gewünschte energetisierende Zusammenleben (Knecht 2015) in einem konstruktiven Miteinander insgesamt wird so nach und nach verunmöglicht (Sennett 2018).

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3 Reflexionen zu dialogischen Lösungswegen/ Methoden in Netzwerken Weil kommunal Verantwortliche in ihrer Funktion fachlich festgelegt und außerdem von der Berufsbildung her auf sozial-moderierende Anforderungen i. d. R. nicht vorbereitet sind, werden bei Bedarf unterstützende, vermittelnde und übersetzende Aufgaben in anspruchsvollen kommunalen Planungen extern organisiert: mit der professionellen Konzeption und neutralen Anleitung von passgenauen, kommunalen Dialog-Prozessen (Schäuble Institut für Sozialforschung 2005). Diese Dialoge verstehen wir bewusst als „Arbeit in von vielen getragenen Partizipationsnetzwerken“. Es wäre hier irreführend, verkürzt von „Bürger“-Beteiligung zu sprechen. Nachhaltig wirksame Partizipationsnetzwerke spannen sich über verschiedene soziale Gruppen, Interessenlagen, Fachlichkeiten und Hierarchieebenen (Hüther 2013). Nur deshalb können sie • die zum Erliegen gekommene kommunale Kommunikation erneut beleben • ein tragfähiges, respektvolles Miteinander gemeinsam und verbindlich entwickeln • Resilienz der Kommune bei Ambiguitätstoleranz (wieder) herstellen. Mit Dialog-Prozessen lassen sich kommunale Selbstverständlichkeiten für gelebtes Vernetzen und moderne Formen demokratischer Partizipation vitalisieren; sie fördern auch den sozialen Mut zu Veränderungen/Verbesserungen/Erneuerungen (Meißner 2017). Allerdings wollen Dialog-Prozesse wohl überlegt und situationsspezifisch professionell gestaltet werden, um der großen Verantwortung für das kommunale Netzwerk gerecht zu werden. Wir selber arbeiten z. B. in diesem Sinne grundsätzlich im transprofessionellen Team an komplexen kommunalen Aufgaben und wir wählen die Dialog-Methoden sorgfältig für den jeweiligen Anlass aus. Im folgenden Beispiel (vgl. Abb. 2) ging es um einen Ortsmitten-Bereich, in dem innerhalb eines künftigen Sanierungsgebiets (Programm „Leben findet Innenstadt“) ein Bebauungsplan aufgestellt wurde. Wichtig war ein differenziertes Vorgehen, bei dem sich größere Veranstaltungen für alle Interessierten abwechselten mit kleineren Dialogtischen (DT) bzw. mit Themengruppen (TG), die auf ganz bestimmte Aspekte fokussiert waren. Parallel zu diesen öffentlichen Veranstaltungen traf sich die Lenkungsgruppe (LG) in regelmäßigen Abständen, um das weitere Vorgehen zu vereinbaren. Wichtig sind das passgenaue Angebot und die Flexibilität im Prozess: Der nur vorläufig konzipierte Ablauf bleibt offen für Veränderungen, die sich im Laufe des Partizipationsprozesses als notwendig erweisen.

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Abb. 2   Beispiel für den Ablauf eines Dialogprozesses für eine Ortsmitten-Entwicklung. (Eigene Darstellung: Schäuble-Institut für Sozialforschung)

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Wir gehen davon aus: Das Gemeinschaftswesen Mensch organisiert die Daseinsvorsorge und Lebensbewältigung in verschiedenen sozialen Gesellungsformen – in unseren Breitengraden sind dies u. a. Kommunen unterschiedlicher Größe und Qualität. Idealerweise folgt das kommunale Handeln transparenten Regeln und Zielen, die sich an wechselnde gesellschaftliche Primäraufgaben und Bedingungen in Kultur, Verkehr, Bildung, Wohnen, Demografie, Wirtschaft jeweils sachgerecht anpassen. Der Organismus „Kommune“ lebt vom Zusammenspiel zahlreicher sich ergänzender, sich widersprechender, sich fördernder und sich einschränkender Energieflüsse. Im Idealfall sind diese gerade so abgestimmt, dass der Gesamtorganismus gut läuft.

4 Kommunale Resilienz – kommunale Intelligenz Wenn Individuen schwierige Lebensereignisse durchstehen, bilden sie Resilienz aus – je mehr, umso besser gelingt ihnen die Bewältigung. Resiliente Menschen mobilisieren hilfreiche soziale Verbundenheit und sind selber sozial verbindlich (Eisenstein 2017), geben ihrem Leben aktiv Sinn und spüren Selbstwirksamkeit (Hunecke 2013), gehen flexibel mit unveränderlichen Gegebenheiten um (Welzer 2019), konzentrieren sich auf das Wesentliche und bündeln ihre Energien. Auch Kommunen entwickeln notgedrungen Resilienz angesichts großer gesellschaftspolitischer Herausforderungen (Fathi 2019). Auch sie brauchen (Adloff und Leggewie 2014) • ein verlässliches soziales Gefüge • eine gemeinsam getragene Vorstellung zur Entwicklung der kommunalen Gesellschaft mit allen vorhandenen Potentialen • Flexibilität bei der Aktivierung und beim Einsatz vorhandener Ressourcen • Handlungskompetenz und Orientierung auf die kommunalen Ziele. Partizipationsprozesse sind eine sehr gute Gelegenheit, die so verstandene kommunale Resilienz spürbar zu machen, sie zu formen und zur konfliktbearbeitenden Handlungsbasis zu machen. Seit den 70er Jahren gibt es nun schon Impulse, Konflikte – ausgelöst durch gesellschaftliche Schieflagen – partizipativ anzugehen, auch um die selbstbewusster werdende Bevölkerung in Entscheidungsfindungen über ihre Lebenssituation mit all ihrer Kompetenz aktiv mit einzubeziehen. Mit der Planungszelle (Dienel 1978) begannen erste Tastversuche; ihnen folgten verschiedene andere und weiter verfeinerte Konzepte für emanzipative bürgerschaftliche Prozesse. Bürgerdialoge wurden im Laufe der Jahre für

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• die einen fast zu einem Selbstzweck, um sich mit „Modernität“ zu schmücken • die anderen zum Garanten für eine hohe Lebensqualität in der Stadt-/Dorf­­ gesellschaft • wieder andere zur Problemlösung in (großer) Not • und für manche eine Bedrohung – Bedrohung z. B. für im Stillen/Verborgenen wirkende Machtkonstellationen oder durch Aktivierung von Veränderungsängsten, oder … Aber alle waren sich sicher, dass Partizipation etwas bewirkt – und sie tut es! Was ist das Geheimnis von gelingenden Planungs- und Aktivierungsdialogen in einer Gemeinde/Stadt? Im Resilienz-Denkmodell gehen wir davon aus, dass • es Sinn macht, alle Kompetenzen eines Gemeinwesens zu nutzen, um zu passenden Lösungen zu kommen, mit denen alle (gut) leben können: Die politische und Verwaltungskompetenz sind dafür ebenso wichtig wie die Erfahrung der Fachleute und die Alltagskompetenz derjenigen, die später mit der gefundenen Lösung leben (müssen). Das entspricht dem „haltenden und verbindlichen sozialen Gefüge“ als Voraussetzung von Resilienz. • es in demokratischer Tradition selbstverständlich sein sollte, nicht über, sondern mit und zwar mit allen Betroffenen zu sprechen. Diesbezügliche Kommunikationskulturen werden im stressigen Alltag allzu oft vernachlässigt und stehen dann nicht zur Verfügung, wenn sie gebraucht werden. Das entspricht der Notwendigkeit, alle Ressourcen einzubeziehen, um Resilienz zu entwickeln. • die wachsende Komplexität kommunaler Aufgaben hohe Anforderungen an alle Involvierten stellt. Deshalb sind neue und strukturierte Formen des Vermittelns und Lernens erforderlich, damit Flexibilität nachhaltig erfahren/gelebt werden kann. Diese Formen können auf dem Übungsfeld PlanungsDialog im kommunalen Alltag eingeübt werden. Hier geht es um die Resilienz-Qualität „Flexibilität“. • die Verantwortlichen in der Kommune mit einer neutralen, fachkundigen Anleitung des (Planungs-)Dialogs mit Klärung der Gruppendynamik unter den Betroffenen (Moderation und ggf. Mediation) maßgebliche Entlastung erfahren, denn sie können auf ihre eigentlichen beruflichen Rollen konzentriert bleiben, während der Ausgleich der Meinungen/Interessen vom neutralen Moderationsteam gesucht und hergestellt wird. Die Handlungskompetenz der Fachleute wird gestärkt und die Ziel-Orientierung ausgerichtet.

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Im herrschenden ökonomisierten Denken wird der Wert von Dialog-Prozessen für kommunale Friedenssicherung ebenso unterschätzt wie die hochprofessionelle Moderations-/Mediations- Dienstleistung zur achtsamen Bündelung und Ausrichtung der Potentiale selber. In der partizipativen Arbeit sind folgende Prozess-Qualitäten und Klärungen unverzichtbar, damit eine Kommune zur resilienten Kommune werden kann: • Die Interessierten sollten bereits zu Beginn der Kooperation wissen: Planungsdialoge sind im direkten Sinne der Wortes Arbeit, und zwar für alle. • Sie sind auch Lehr- und Lernstücke – ebenfalls für alle. Die Kompetenz bei den Betroffenen wächst, sodass ein späterer Dialogprozess in derselben Kommune auf höherem sozial-kommunikativem Niveau ansetzen kann als der erste. • Wenn professionelle externe Mitwirkung gewünscht wird, dann erfolgt diese idealerweise im transprofessionellen Team; denn für die nachhaltige und stringente Handhabung der meist komplexen Themen ist eine breite Fachlichkeit beim anleitenden Moderationsteam unerlässlich. • Dialogprozesse gelingen am besten nach dem Prinzip „So viel wie nötig, so wenig wie möglich“ im Bestreben, mit dem Zeitbudget und der Kooperationsbereitschaft der Mitwirkenden sorgsam umzugehen. • Achtsamkeit, Respekt, Wertschätzung im Kontakt mit den Interessierten bestimmen die dialogische Kommunikationskultur. Diese vom ­Moderations-/ Mediationsteam gelebten Qualitäten sind orientierendes Beispiel für eine andere Beziehungsqualität zwischen einander – im laufenden Dialogprozess und ebenso wie bei anderen Themen/Aufgaben in der Kommune. Auch dies ist eine wichtige Maßgabe der Nachhaltigkeit.

5 Ambiguität im konstruktiven sozialen Miteinander Ambiguitätstoleranz ist ein anwachsendes Potential und das Ergebnis gut laufender Partizipationen. Wenn die Betroffenen erfahren, dass Unterschiede eher zur Fülle führen, jedenfalls keine Bedrohung darstellen, ist dies eine gute Voraussetzung für Weitblick und Empathie und damit auch für die persönliche und kommunale Resilienzentwicklung. In anderen Gesellschaftsbereichen wird statt von Ambiguität oft von Vielfalt/Diversity gesprochen und festgehalten, dass es vielen schwer fällt, unterschiedliche Strömungen im sozialen Umfeld – in der

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Gesellschaft, Kommune, Nachbarschaft – einfach zunächst einmal nebeneinander bestehen zu lassen. Wenn dies wertfrei möglich ist, ist eine soziale Qualität erreicht, die auf friedlichen Formen des Umgangs beruht. Hier dürfte in vielen sozialen Bereichen tatsächlich ein Nachholbedarf an Erfahrung und Einüben existieren. Dabei mischen sich konventionelle kommunale Selbstverständlichkeiten mit schnelllebigen modernen Trends, deren Stabilität und Haltbarkeit in der stadtgesellschaftlichen Entwicklung sich erst noch erweisen muss. Dazu zählen etwa: • Herausforderungen wie zu Beginn des Artikels beschrieben, die Angst, Resignation, Burnout, sozialen Rückzug, … nach sich ziehen können • das Entstehen neuer bürgerschaftlicher Initiativen, die mit diesen Herausforderungen kreativ umzugehen versuchen, wie z. B. – innovative Formen des Zusammenlebens/des Wohnens – neue Gesellungsformen in Gemeinschaften nach dem Prinzip ­Ich-in-Bezogenheit – Leben nach der Ökonomie des Tauschens und Teilens in sozialer Verbundenheit – Mobilitäts-Formen jenseits von fossilen Lösungen (Auto, Flugzeug, …) – gelebtes Umweltbewusstsein z. B. durch Sharing-Konzepte, Schaffung von verpackungsfreien Läden, Upcycling von Produkten, eine neue Generation von Second-Hand-Läden und Distributionswegen, … • Mobilisierung psychischer und sozialer Ressourcen, um – gewollte Lebensqualität(en) selbst(-verantwortlich) zu schaffen und zu erhalten – soziale und psychische Flexibilität zur Lebensbewältigung zu entwickeln/ einzuüben – Verbundenheit und Verlässlichkeit mit anderen zu erleben – sich im eigenen Rhythmus zu finden und selbst zu ermächtigen – Unplanbarkeit und Ungewissheit in der globalen Gesellschaft auszuhalten – mit offenen Zukunftsperspektiven zu leben – bei übergroßer Schnelligkeit innezuhalten und – standzuhalten • Übertragung der Trends vom „Kleinen“ aufs „Große“, d. h. auf die Kommune/ auf regionale Entwicklungen etc. • Basisdemokratie: hier leben, sich hier engagieren, sich sammeln, anstatt sich zu zerstreuen.

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Das (scheinbar objektive rationale) Wissen allein reicht zur Gestaltung einer so ausdifferenzierten sozialen Wirklichkeit nicht aus. Das persönliche (emotionale, mentale, spirituelle) Verständnis für individuelle und gruppenspezifische Vorstellungen und Verantwortungen in sozialen Gebilden und Prozessen schafft erst die Voraussetzung für die heute mehr denn je gefragte Gestaltungskompetenz bei allen Beteiligten und in allen Feldern. Und es gibt zahlreiche Felder, die zu bearbeiten sind. Hier (vgl. Abb. 3) ein Beispiel aus dem ­Städtebauförderungs-Programm Soziale Stadt, in dem es v. a. darum ging, dass alle Ressourcen des Quartiers identifiziert, wertgeschätzt und in den baulich, sozial und kulturell relevanten Sanierungsaktivitäten wirksam werden konnten. Bei der dialogischen Erarbeitung des Integrierten Handlungskonzeptes wurden Handlungsfelder identifiziert, die teils kurz- und mittelfristig, teils aber auch nur langfristig realisierbar zu sein schienen. Letztere wurden in einem Ideenspeicher „geparkt“, um zu gegebener Zeit in den jeweils aktuellen Maßnahmenplan (Beantragung von Städtebauförderungsmitteln) aufgenommen zu werden.

Abb. 3   Beispiel für Handlungsfelder, die bei der Erarbeitung eines Integrierten Handlungskonzeptes von Bedeutung sein können. (Eigene Darstellung: Schäuble-Institut für Sozialforschung)

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Veränderungsprozesse gelingen nach unserer Erfahrung dann am besten, wenn alle Betroffenen auf Augenhöhe mit ihrer jeweils unterschiedlichen Kompetenz und Interessenlage gesehen und aktiv einbezogen werden.

6 Weitere Beispiele aus gelungenen transformativen Dialog-Prozessen, die an der Basis ansetzen Um die verdichteten obigen Darlegungen griffiger zu machen, zeigen wir an Dialogen, die wir selbst realisierten, einige maßgebliche Qualitäten auf. Die Anlässe für einen Einsatz unterscheiden sich z. T. erheblich, so ist z. B. ein kombiniertes dialogisches Vorgehen gewählt worden, um im Rahmen einer Zwischenevaluation zugleich die Basis für ein Integriertes Handlungskonzept (IHK) zu legen. Hier war es notwendig, dass die lokal Interessierten und Zuständigen Flexibilität und Handlungskompetenz entwickelten, und zwar sowohl im dialogischen Procedere als auch im Problemverständnis. Auch hier (vgl. Abb. 4) wechselten sich themenbezogene kleinere Veranstaltungen (Dialogtische) mit größeren Bürgerdialogen für alle Interessierten der Kleinstadt ab. Die Ergebnisse wurden jeweils aufbereitet und im nächsten Dialogschritt rückgespiegelt. Wichtig war uns, die Zwischenergebnisse immer wieder auf ihre Stimmigkeit und Akzeptanz in der Groß-Gruppe zu überprüfen. Das Dialogkonzept sah folgende Schritte vor: Bei der Sanierung einer geschichtlich belasteten Siedlung ging es v. a. um den Erhalt der Infrastruktur (Bildung, Gesundheit, Versorgung mit Gütern des täglichen Bedarfs, Angebote für SeniorInnen), Verkehr, Nachverdichtung/Neubauviertel, soziales Miteinander in einer respektierenden Quartiers-Atmosphäre. Mit Blick auf die Resilienz-Qualitäten sollten der Aufbau und die Einübung eines „haltenden und verbindlichen sozialen Gefüges“ sowie die Erweiterung der Handlungskompetenz bei allen Betroffenen gewährleistet werden. Das Dialogkonzept war hier noch weiter ausdifferenziert als in den bisherigen Beispielen, um es den auf vielfältige Weise miteinander verwobenen Gruppierungen zu ermöglichen, wechselseitig voneinander zu lernen. Der Aufschwung der gesamten Siedlung sollte auch bereits in der Graphik (Abb. 5) symbolisch dargestellt werden.

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Abb. 4    Kombination von Erarbeitung eines Integrierten Handlungskonzeptes und Evaluation bei einem Projekt im Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“. (Eigene Darstellung: Schäuble-Institut für Sozialforschung)

Abb. 5   Beispiel für den Verlauf eines Dialog-Prozess zur Erarbeitung einer Sozialraumanalyse und eines Integrierten Handlungskonzeptes (Städtebauförderungsprogramm „Soziale Stadt“). (Eigene Darstellung: Schäuble-Institut für Sozialforschung)

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7 Schlussfolgerung für transformationsfreudige Interessierte aus Kommunalpolitik und -verwaltung, Bürgerschaft, ModeratorInnen/ MediatorInnen in kommunalen Dialog-Prozessen Wenn in Partizipationsprojekten die positiven Potentiale der rationalen sowie emotionalen Intelligenz bewusst eingesetzt werden, fördert das die mentale Offenheit für Gestaltbares, aus der überhaupt erst Resilienz und Ambiguität im Dienste zukunftsfähiger, nachhaltiger Innovationen möglich sind. Dazu reicht es eben nicht aus, nur Informationen oder „Wissen“ zu vermitteln oder nur fachlich zu steuern, es muss auch im verstehen wollenden Geist, also in einer – trotz unterschiedlichster persönlicher Haltungen/Interessen – konstruktiven kommunalen Atmosphäre verwendet werden. Zur Verwirklichung von Planungsdialogen ist vor allem dazu zu raten, sich mit einem stringenten fachlichen und dialogischen Konzept, aber gruppendynamisch offen und flexibel, der Aufgabe zu nähern. Moderations-/Mediationsteams stehen mitten im Geschehen und sind zahlreichen, auch widersprüchlichen Erwartungen ausgesetzt. Sie brauchen stabile, wache und authentische Persönlichkeiten. Ihre Glaubwürdigkeit – eine ihrer herausragenden Qualitäten – resultiert aus der redlichen und transparenten Handlungsstrategie. Wer als kommunal Verantwortlicher in Planungsdialoge einbezogen ist, sollte wissen, wie wichtig es ist, die eigene fachliche Rolle zu finden und auszufüllen. Mit dem Moderationsteam zusammen bilden kommunale Fachleute ein starkes Netzwerk, in dem die kommunalen Angelegenheiten essentiell bewegt werden bis zu ihrer Erledigung. Es ist Arbeit, sich in dieses Netzwerk einzufinden und auszuprobieren. Aber es ist sicher, dass • sich diese Mühe durchaus lohnt, denn das Netzwerk muss nur einmal aufgebaut werden. Steht es, dann geht es nur noch um die situationsspezifische Weiterentwicklung/Anpassung an neue Herausforderungen • Netzwerke gepflegt werden wollen, damit sie die Substanz entwickeln können, die Netzwerkteilnehmenden selber zu „nähren“, zu unterstützen, zu orientieren und sozial abzusichern.

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Literatur Adloff, Frank, C. Leggewie. 2014. Das konvivialistische Manifest. Bielefeld: transcript ­Verlag Arras, Hartmut E. 2000. Kommunikation und Moderation – Bedeutung für nachhaltige Stadtentwicklung, in: Nachhaltige Stadt. Beiträge zur urbanen Zukunftssicherung, hg. von Kissel, Harald A. Berlin: SRL-Schriftenreihe Crouch, Colin. 2008. Postdemokratie. Berlin: edition suhrkamp Crouch, Colin. 2019. Gig Economy. Prekäre Arbeit im Zeitalter von Uber, Minijobs & Co. Berlin: edition suhrkamp Dienel, Peter C. 1978. Die Planungszelle. Der Bürger plant seine Umwelt. Eine Alternative zur Establishment-Demokratie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag Eisenstein, Charles. 2017. Die Ökonomie der Verbundenheit. München: Scorpio Verlag Eribon, Didier. 2017. Gesellschaft als Urteil. Berlin: edition suhrkamp Fathi, Karim. 2019. Resilienz im Spannungsfeld zwischen Entwicklung und Nachhaltigkeit – Anforderungen an gesellschaftliche Zukunftssicherung im 21. Jahrhundert. Berlin: Springer Verlag GmbH Felber, Christian. 2012. Die Gemeinwohl-Ökonomie: das Wirtschaftsmodell der Zukunft. München: Piper Verlag Gehl, Jan. 2015, Städte für Menschen, 2. Aufl. Berlin: jovis Verlag GmbH Harari, Juval Noah. 2018. Homo Deus. Eine Geschichte von morgen. München: Beck Verlag Helfrich, Silke, D. Bollier. 2019. Frei, fair und lebendig. Die Macht der Commons. Bielefeld: transkript Verlag Hunecke, Marcel. 2013. Psychologie der Nachhaltigkeit. Psychische Ressourcen für Postwachstumsgesellschaften. München: oekom Verlag Hüther, Gerald. 2013. Kommunale Intelligenz. Potentialentfaltung in Städten und Gemeinden. Hamburg: edition Körber Stiftung King, Vera. 2018. Geteilte Aufmerksamkeit. Kultureller Wandel und psychische Entwicklung in Zeiten der Digitalisierung, 2018. in: Psyche, Heft 8 Ursula Knecht, C. Krüger, D. Markert, M. Moser, A.C. Mulder, I. Praetorius, C. Roth, A. Schrupp, A. Trenkwalder-Egger. 2015. ABC des guten Lebens, 3. Auflage. Rüsselsheim: Christel Göttert Verlag Knoflacher, Hermann. 2014. Das Auto im Kopf. Fetisch motorisierter Individualverkehr. In: Politische Ökologie. Postfossile Mobilität. Zukunftstauglich und vernetzt unterwegs. München: oekom verlag Lessenich, Stefan. 2016. Neben uns die Sintflut, Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis. München Piper Verlag Lobo, Sascha. 2019. Realitätsschock. Zehn Lehren aus der Gegenwart. Köln: Kiepenheuer & Witsch Loske, Reinhard. 2013. Eine wirkmächtige Förderin der Veränderung, in: politische ökologie 133, Baustelle Zukunft. Die Große Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, S. 94–101. München: oekom Verlag Meißner, Andreas. 2017. Mensch, was nun? – Warum wir in Zeiten der Ökokrise Orientierung brauchen. München: oekom Verlag

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Neubauer, Luisa, A. Repenning. 2019. Vom Ende der Klimakrise. Eine Geschichte unserer Zukunft. Stuttgart: Tropen Sachbuch, Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH Rommelspacher, Birgit. 2002. Anerkennung und Ausgrenzung. Deutschland als multikulturelle Gesellschaft. Frankfurt/Main: Campus Verlag Rosa, Hartmut. 2005. Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Berlin: suhrkamp taschenbuch wissenschaft Schäuble Institut für Sozialforschung, Schäuble, Ingegerd, und C. Grüger, 2005. Gemeinschaftsinitiative Soziale Stadt. Diskursive Bürgerbeteiligung. Bericht zum Modellprojekt. München: Oberste Baubehörde im Bayerischen Staatsministerium des Innern. Scheidler, Fabian. 2016. Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation. Wien: promedia Verlag Schjold, Inger Kristine, P. Neff. 2015. Raum für Konflikte. Wenn bei der Nutzung des öffentlichen Raums verschiedenen Logiken aufeinander treffen. In: OrganisationsEntwicklung Nr. 2, S. 35–42. Zürich: Verlag Organisationsentwicklung und Management AG Sennett, Richard. 2018. Die offene Stadt. Eine Ethik des Bauens und Bewohnens. Berlin: Hanser Verlag Welzer, Harald. 2019. Alles könnte anders sein. Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Frankfurt/Main: Fischer Verlag Wichterich, Christa. 2013. Im Kleinen das Große beginnen. In: politische ökologie 133, Baustelle Zukunft. Die Große Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft, S. 86–93. München: oekom Verlag

Schäuble, Ingegerd, Dipl.-Soziologin Supervisorin DGSv. Studium Soziologie, Sozialpsychologie, Wirtschaft an der LMU Ludwig-Maximilian-Universität München, Forschungsassistenz am Soziologischen Institut der LMU München, Gründung der AgaS GmbH Arbeitsgemeinschaft für Angewandte Sozialforschung, Lehraufträge an den Universitäten München, Stuttgart, Weihenstephan, FU Berlin, Lehrinstitut für Dokumentation Frankfurt, Ärztliche Akademie München. Certifizierung bei der DGSv (Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching). Gründung Schäuble Institut für Sozialforschung mit den Tätigkeitsschwerpunkten: qualitative Sozialforschung, Moderation/Mediation/Begleitung von Partizipations- und Dialogprozessen, Organisations-, Team- und Projektentwicklung, Fortbildung in verschiedenen sozialen und dialogischen Kompetenzbereichen, Supervision und Coaching für Einzelne und Gruppen. Letzte Veröffentlichungen: siehe www.schaeuble-institut.de Schäuble, Ingegerd. 2019. Teamentwicklung Fallsupervision. In: Festschrift 40 Jahre Ärztliche Akademie für Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen e. V., Seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen im Fokus, hrsg. Manfred Endres, München Schäuble, Ingegerd, und O. Erb. 2018. Wählen und Gestalten. Motivationen und Einstellungen von Münchner Frauen zu politischer Mitwirkung und Wahlen, München Schäuble, Ingegerd. 2017. Neue Fortbildung: Teamentwicklung und Fallsupervision, in: Akademie aktuell 2017-2, S. 5–9

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Erb. Oranna, und I. Schäuble. 2013. Soziale Stadt Augsburg und Oberhausen-Nord, Augsburg Distler, Andreas, und I. Schäuble: 2011. Soziale Stadtentwicklung Bobingen. Zukunft der Gegenwart, Bobingen Distler, Andreas, und I. Schäuble. 2011. Heuchelhof schafft Heimat. Soziale Stadterneuerung, Zukunft des Stadtteils, Würzburg Erb, Oranna, Dipl.-Ing.in freiberufliche Ortsplanerin, München, Netzwerk-Partnerin im Schäuble Institut für Sozialforschung München, Deutschland. Architekturstudium mit Schwerpunkt Stadtplanung, langjährige Berufserfahrung in allen Bereichen der S ­ tadt-/Ortsplanung. Konzeption und Moderation von Partizipationsprozessen und Dialog-Verfahren zu stadtplanerischen, Gender- und Diversity-Themen. Über vierjährige Arbeitserfahrungen im europäischen Ausland (Polen). Maßgebliche Mitgestaltung von Gemeinschaftsbildungsprozessen; besonderes Interesse an Begegnung im Tanz: langjährige Praxis in conscious dance; Abschluss Grundstufe der Ausbildung zur Tanztherapeutin (BTD). Letzte Veröffentlichungen: Beide auffindbar unter: https://www.schaeuble-institut.de/angebot/forschung/öffentlichkeitswirksames/ Ingegerd Schäuble und O. Erb. 2018. Wählen und Gestalten. Motivationen und Einstellungen von Münchner Frauen zu politischer Mitwirkung und Wahlen, München Oranna Erb und I. Schäuble. 2013. Soziale Stadt Augsburg und Oberhausen-Nord, Augsburg

Transformativer Wandel im Handwerk Sozialwissenschaft als „Infiltration“ und Arrangement Peter Biniok

Zusammenfassung

Das Handwerk im Allgemeinen und die Branche Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik (SHK) im Speziellen sehen sich mit einem zunehmenden Fachkräftemangel konfrontiert. Die Innung SHK Berlin hat daher ein Modellprojekt initiiert, in dem ein Soziologe an der Konzeption von Maßnahmen gegen Ausbildungsabbrüche mitarbeitet und bei der Bearbeitung ­empirisch-analytischer Fragestellungen unterstützt. Modellprojekte haben das Ziel, soziale Innovationen als wissenschaftlich begründete Veränderungen der Praxis zu erzeugen. Sozialwissenschaftler werden dabei selbst zum gestalterischen Akteur im Transformationsprozess. Es existieren verschiedene Formen sozialwissenschaftlicher Gestaltung. Im aktuellen Fall ist die empirische Sozialforschung zweierlei. Sie ist erstens „Infiltration“ aufgrund/mittels des ethnografischen Zugangs und sie ist zweitens „Arrangement“ durch die Initiierung von Dynamik. Sozialwissenschaften unterstützen die Selbststeuerung der Akteure und stoßen Veränderungen an, die von den Praktikern getragen werden. Der Forschungsprozess lässt sich insgesamt als soziale Anreicherung (innovative Sublimation) verstehen, d. h. als Prozess steigender Reflexivität der Akteure und der Ausformung von Möglichkeitshorizonten. Im Beitrag werden begünstigende und hinderliche Faktoren sowie Kompetenzanforderungen an den Soziologen erörtert.

P. Biniok (*)  Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_11

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1 Einleitung: Fachkräftemangel als Untersuchungsgegenstand Gesellschaftliche Problemlagen lassen sich in den seltensten Fällen allein durch technischen Fortschritt lösen, sondern vielmehr durch Transformationsvorhaben von Wissenschaft und Praxis (Schneidewind/Singer-Brodowski 2014). Es sind soziale Innovationen nötig (Howaldt/Jacobsen 2010) – egal, ob für sich alleinstehend oder in Kombination mit technischen Neuerungen. Mit dieser Einsicht verbunden sind Forderungen nach und die Herausbildung von grenzüberschreitenden Handlungszusammenhängen. Dazu gehören wissenschaftsinterne Formen der Zusammenarbeit, die unter dem Label Interdisziplinarität firmieren, ebenso wie außerakademische Partizipationsvorhaben mit der Zivilgesellschaft. Die zentrale Idee beruht auf der Kombination heterogener Wissensbestände als Basis für Innovationen. Die als relevant eingeschätzten Akteure kommen „an einem Tisch“ zusammen und gestalten gemeinsam einen Transformationsprozess. Dabei sind deren spezifische Perspektiven zu integrieren und Fragen nach bspw. Individualisierbarkeit, Sozialverträglichkeit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit zu vereinbaren. Die beteiligten Akteure lernen so, auch ungewohnte Rollen einzunehmen und neue Strategien des Problemlösens zu entwickeln. Dies gilt auch für Soziolog*innen bzw. Sozialwissenschaftler*innen.1 Je nach Arbeitsgebiet stehen sie u. a. vor veränderten Anforderungen an sich selbst, vor neuen – von Wissenschaft abweichenden – Geltungsansprüchen und/oder eingeschränkten Handlungsfreiheiten. Problemlage und zugehöriger Gestaltungsrahmen hängen mit Rollenmodellen der Sozialwissenschaftler*innen zusammen und müssen wechselseitig in Einklang gebracht werden. Die hier vertretene These lautet entsprechend: Spezifische Transformationsprozesse bedingen je andere Formen von Sozialwissenschaft. Ausgangspunkt des vorliegenden Beitrags ist der aktuell in den Medien geführte, wenn auch kaum sichtbare Diskurs zum Fachkräftemangel und der Attraktivität beruflicher Bildung in Deutschland (Rahner 2018; Hartmann et al. 2018; Herberg 2018; Hemkes/Wilbers/Heister 2019). Für das Handwerk und besonders für spezifische Branchen und Gewerke lassen sich Fachkräfteengpässe

1Im vorliegenden Text wird zwischen beiden Terminologien keine Differenzierung vorgenommen. Der Fokus liegt fallabhängig auf Soziolog*innen, die in anwendungsorientierten Forschungs- und Entwicklungszusammenhängen tätig sind. Damit ist freilich eine Übertragbarkeit der Diskussion auch auf andere Fachgebiete der Sozialwissenschaften nicht ausgeschlossen, sogar erwünscht.

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feststellen und/oder prognostizieren (Thomä 2014; Malin et al. 2019). Dazu zählt auch die Branche Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik (SHK) in Berlin, die sich mit einem zunehmenden Mangel an Fachkräften konfrontiert sieht. Die Innung SHK Berlin initiierte daher ein Modellprojekt, um mittels eines eigenverantwortlichen Beitrags diesem Mangel entgegenzuwirken.2 Die (Selbst) Verantwortlichkeit der Innung resultiert nicht nur aus ihrer existentiellen Aufgabe als Fachverband der Branche, sondern verweist auch auf ihr Selbstbild als Innovator. Das übergeordnete Ziel, Fachkräfteengpässe zu vermeiden bzw. zu beheben, wird im Projekt auf die Frage heruntergebrochen, wie vorzeitige „Vertragslösungen“ in der beruflichen Ausbildung im SHK-Handwerk in Berlin vermieden werden können.3 Neben Fragen der Berufsorientierung, des Ansehens des Handwerks oder der Qualität schulischer Bildung in Berlin, wird damit eine konkrete Facette des Fachkräftemangels adressiert. Im Mittelpunkt der sozialen Innovationen stehen sowohl die Wirtschaftlichkeit verändernder Maßnahmen als auch deren Nachhaltigkeit. Neuerungen müssen so in den Ausbildungsalltag der Akteure eingepasst werden, dass sie das Tagesgeschäft nicht behindern und dabei eine Langzeitwirkung entfalten. Im Projekt arbeitet ein Soziologe (der Autor), um die multiplexen Gründe für Vertragslösungen zu identifizieren und an der Konzeption und Umsetzung von Maßnahmen gegen Ausbildungsabbrüche im Gewerk mitzuarbeiten.4 Insbesondere die Bearbeitung e­ mpirisch-analytischer Fragestellungen fällt in seinen Aufgabenbereich, d. h. Planung des Forschungsdesigns, Datenerhebung, Dateninterpretation und Verschriftlichung. Das Modellprojekt zeichnet sich durch die Herbeiführung wissenschaftlich begründeter sozialer Innovationen aus. Es stellt eine besondere Form angewandter Sozialwissenschaften dar und impliziert einen eigenen Forschungsduktus/-habitus. Anders als bei einer evaluativen Begleitung von ­

2Vgl.

die Internetpräsenz zum Modellprojekt unter: https://www.shk-berlin.de/kompetenzzentrum/sonderprojekte/projekt-as-nb (letzter Zugriff 04.10.2019). 3Vertragslösungen ist ein Begriff aus dem Feld und meint Vertragsauflösungen. Vorzeitige Vertragslösungen in der Ausbildung sind nicht immer mit Ausbildungsabbrüchen gleichzusetzen, denn die Ausbildung kann in einem anderen Betrieb weitergeführt werden (Uhly 2015). 4Der Beitrag ist Ergebnis der Reflexion meiner Arbeit im Modellprojekt. Ich nehme neben meiner Rolle als „Praktiker“ auch die des (theoriegeleiteten) Beobachters ein. Manche Erörterungen mögen daher schemenhaft, verkürzt und pointiert wirken – eine vertiefende Analyse ist denkbar. Ich danke Stefan Selke und Andreas Otremba für hilfreiche Kommentare.

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Praxisprojekten in Form von Teilprojekten oder durch externe Wissenschaftler wird der Sozialwissenschaftler selbst zum gestalterischen Akteur im Transformationsprozess. Diese spezifische Arbeitssituation wird im vorliegenden Beitrag exemplarisch diskutiert. Die Rolle als Gestalter ist im Modellprojekt implizit angelegt, da das Verwertungsinteresse der Daten auf Transformation abzielt. Der Soziologe ist entsprechend sowohl Problemergründer durch „Infiltration“ als auch Problemlöser durch Arrangement.5 Im Beitrag wird zunächst das soziologische Rollenverständnis vor dem Spannungsverhältnis von Engagement und Distanzierung skizziert (Abschn. 2). Anschließend erfolgen Berichte aus dem Feld, um die Arbeitssituation zu veranschaulichen, die Kontextbedingungen zu erörtern und die Kompetenzanforderungen des Sozialwissenschaftlers zu benennen (Abschn. 3). Darauf aufbauend wird das Modellprojekt als Form von angewandten Sozialwissenschaften mit akademischer Praxisforschung kontrastiert, um einen Typus der Gestaltung zu entwickeln (Abschn. 4). Den Abschluss bildet die Diskussion um den Härtegrad anwendungsorientierter Sozialforschung (Abschn. 5).

2 Verortung: Angewandte Sozialwissenschaften als Mitgestalter von Gesellschaft Engagement und Distanzierung der Soziologie bzw. der Vertreter*innen der Disziplin werden seit der Herausbildung des Fachs kontrovers diskutiert (Elias 1983; Mevissen 2016). In immer neuen Diskurs-Zyklen wird entweder eine stärkere Einflussnahme auf Gesellschaft gefordert oder eine stärkere Zurückhaltung angemahnt. Es werden Fragen gestellt, wie sehr sich Soziolog*innen in Bezug auf ihren Gegenstandsbereich engagieren dürfen und wie viel Distanzierung nötig sei, um zu objektive(re)n Erkenntnissen zu gelangen. Der Doppelcharakter der Soziologie als Disziplin, die Teil ihres eigenen Untersuchungsgegenstandes ist, erfordert eine besondere Reflexion der eigenen Position und ein hohes Maß an Identitäts- und Grenzarbeit (Gieryn 1983; Kaldewey 2016). Das Markieren von räumlichen, kognitiven und sozialen Distanzen – oder gerade deren Aufhebung – bedingen eine akteurzentrierte

5Die Terminologie Infiltration hat, gemeint als Spionage/Sabotage und geheime Untersuchung, eine negative Konnotation. Ich verwende den Begriff dennoch, denn er trifft den Kern zweckbasierter Forschungsarbeit: Ein Wissenschaftler dringt möglichst unauffällig in ein Feld ein, um Probleme (und Lösungen dafür) zu identifizieren.

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Positionierung und Selbstbeschreibung mit je spezifischen Prämissen der Wissenschaftlichkeit, der Erkenntnisgenerierung und des Wissenstransfers. In Konvergenz mit der Identitätsbildung sind verschiedene Arbeitsformen von Soziologie zu unterscheiden. Solcherart vorgenommene Typisierungen existieren ebenso für Sozialwissenschaften im Ganzen, wenngleich spezifische Disziplinen (etwa Soziale Arbeit) per se tiefer in den gesellschaftlichen Alltag der Akteure eingreifen und Veränderungen initiieren und begleiten als andere (bspw. Sozialethik). In einem groben Raster lassen sich drei Arbeitsformen von Sozialwissenschaft unterscheiden (Latniak/Wilkesmann 2005): Beratung, anwendungsorientierte Forschung und akademische Forschung.6 In der Beratung sind Sozialwissenschaftler*innen Kund*innen und erbringen eine von Auftraggebern vordefinierte Dienstleistung gemäß den vereinbarten Vorgaben (Degele et al. 2001; Blättel-Mink/Katz 2004). Ziel ist die fallgenaue Bearbeitung einer Fragestellung in Bezug auf einen festgelegten Gegenstandsbereich. Es dominiert eine Handlungslogik der schnellen Problemlösung und fokussierten Entscheidungen. Berater*innen haben kaum Einfluss darauf, inwiefern ihre Erkenntnisse in der Praxis umgesetzt werden. Akademische Forschung hingegen bearbeitet Fragestellungen, die aus dem Wissenschaftssystem selbst generiert werden. Ziel ist ein an wissenschaftlichen Kriterien orientierter Erkenntnisgewinn, der Allgemeingültigkeit besitzt. Die Ergebnisse zirkulieren primär in innerdisziplinären Grenzen. Gewissermaßen als „Mixtur“ beinhaltet anwendungsorientierte Forschung Bestandteile beider Arbeitsformen. Die Fragestellungen sind, wie bei Beratung, klar durch einen Auftraggeber definiert, und die Ergebnisse werden außerhalb des Wissenschaftssystems in Wert gesetzt. Die Bearbeitung erfolgt, wie bei akademischer Forschung, anhand wissenschaftlicher Methoden und Gütekriterien. Da sich diese Kriterien allerdings am Praxisfeld messen und orientieren, unterliegen sie möglichen Einschränkungen, etwa eine geringe Fallzahlen oder punktuelle Fallauswahlen.

6Ähnlich

wird für die Soziologie anhand ihrer Adressatengruppen (und Wissensformen) in die vier Tätigkeitsbereiche von professioneller, kritischer, anwendungsorientierter und öffentlicher Soziologie unterschieden (Burawoy 2005). Professionelle und kritische Soziologie richten sich an ein akademisches Publikum. An nichtakademischen Zielgruppen ausgerichtete Soziologie ist in dieser Sichtweise entweder öffentliche Soziologie als dialogische Bearbeitung relevanter Problemlagen durch Verwendung reflexiven Wissens. Oder diese Form der Soziologie widmet sich unter Maßstab der Anwendungsorientierung der auftragsbezogenen Erarbeitung von Interventionen durch Einsatz instrumentellen Wissens.

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Anwendungsorientierte Sozialforschung gilt als Sammelbegriff für Arbeitszusammenhänge wie Begleitforschung, Evaluationsforschung oder Aktionsforschung und ist durch grenzüberschreitende Zusammenarbeit (bes. Transdisziplinarität), bedarfsorientierte Vorgehensweisen und partizipative Ansätze gekennzeichnet (von Unger 2014; Schemme/Novak 2017). Wissenschaftler und Praktiker arbeiten zusammen. „Wissen wird dabei in direkter Auseinandersetzung mit dem Praxiskontext und oft in Kooperation mit den Akteuren generiert. Diese Tätigkeit zeichnet sich dadurch aus, dass eine enge Kooperation mit Praxispartnern stattfindet, die sich in einer möglichst gemeinsamen Problemdefinition und Suche nach praktikablen Lösungen oder ‚lessons learned‘ niederschlägt, die später weiter genutzt werden können.“ (Latniak und Wilkesmann 2005, S. 83)

Praktiker, nicht-akademische Akteure und sog. „Laien“ nehmen neue Rollen ein. So beansprucht etwa die Aktionsforschung für sich ein besonders enges Verhältnis zu den Praxisakteuren, die als gleichberechtigte Kooperationspartner gelten (Fricke 2014). Und auch für responsive Spielarten der wissenschaftlichen Begleitforschung werden Innovationspartnerschaften konstatiert, die den grenzüberschreitenden Dialog initiieren (Sloane 2007). Gesellschaft wird zum Labor bzw. gesellschaftlicher Wandel findet in Real- und Praxislaboren statt. Das Experiment nimmt einen zentralen Platz in den Sozialwissenschaften ein (Latour 2001; Böschen et al. 2017). Modellversuche (in der beruflichen Bildung) und spezifische Spielarten von Modellprojekten sind eine Ausprägung solcher experimentellen und partizipativen Formen anwendungsorientierter Sozialwissenschaften. Diese Projekte haben keinen Forschungsauftrag, sondern zielen darauf ab, beispiel- bzw. modellhaft Maßnahmen und Instrumente für einen spezifischen Zweck zu entwickeln – sie sind Ausgangspunkt sozialer Innovationen (Schwemme 2014). „Modellversuche haben die Veränderung von Praxis, also Innovationen in der Wirklichkeit beruflicher Ausbildung, zum Ziel. Hieran wird die Wissenschaft beteiligt, indem die Veränderungen und die damit einhergehenden Prozesse wissenschaftlich begründet, entwickelt, reflektiert und in ihrer praktischen Erprobung ausgewertet werden.“ (Hemkes et al. 2017, S. 2)

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Basis der Entwicklungsund Transformationsprozesse sind ­wissenschaftlich-empirische Studien. Insofern sind an Modellprojekten im Bedarfsfall Wissenschaftler*innen beteiligt.7 Wird der Anspruch einer partizipativen und kooperativen Wissenschaft ernst genommen, scheint eine Beteiligung der Praxisakteur*innen an Datenerhebungs- und Analyseprozessen ebenso unerlässlich wie die Anwesenheit der Wissenschaftler im Feld. Modellprojekte zeichnen sich dann durch besondere Maßnahmen aus, diese Beteiligungen herzustellen. Bestenfalls führen die Wissenschaftler*innen ihre Arbeit vor Ort als Feldforschung durch – halten sich also über längere Zeiträume bei den Praxisakteur*innen auf. Soziologie und Sozialwissenschaften erzeugen in diesen Fällen eine Art Ethnologie der eigenen Gesellschaft (Hitzler 1999). Als professionelle Grenzgänger rekonstruieren die Wissenschaftler*innen die Konstruktion sozialer (Sinn-)Welten. Im ursprünglichen Sinn wird Ethnografie als teilnehmende Beobachtung ohne Einmischung in das Handlungsgeschehen aufgefasst (Geertz 1983). In wissenschaftsbasierten Modellprojekten wäre solch eine Distanzierung zum Untersuchungsgegenstand kontraproduktiv, da ja gerade eine Veränderung der Gegebenheiten vor Ort angestrebt wird. In Abwandlung des ­Distanzierungs-Prinzips zu „beobachtender Teilnahme“ (Hitzler/Eisewicht 2016) wird ein Mehr an Engagement empfohlen und gefordert. „Beim existenziellen Engagement geht es (uns) darum, sich in möglichst Vieles zu involvieren bzw. involvieren zu lassen, in verschiedene Rollen zu schlüpfen, mit zu tun, was zu tun je ‚üblich‘ ist, und dabei nicht nur andere, sondern auch sich selbst zu beobachten – beim Teilnehmen ebenso wie beim Beobachten.“ (Eisewicht/Hitzler 2019, S. 143)

Die vorstehenden Erläuterungen verdeutlichen die Grundannahme des Beitrags. Anwendungsorientierte Sozialforschung engagiert sich, mischt sich ein, begegnet den Praxisakteur*innen ‚auf Augenhöhe‘. Gleichzeitig distanzieren sich Sozialwissenschaftler*innen, um diese Eingriffe in Gesellschaftsstrukturen reflexiv ­einzuordnen.

7Für

Modellprojekte scheint es keine einheitliche Definition und verbindliche Richtlinien zu geben. Es werden auch Modellprojekte durchgeführt, an denen keine Wissenschaftler*innen beteiligt sind.

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3 Berichte aus dem Feld: partizipative Involviertheit Die Innung SHK Berlin ist eine unabhängige Fachvertretung der regional ansässigen Firmen in den Bereichen Sanitär- und Heizungsbau, Klempnerei, Ofen- und Luftheizungsbau. Sie ist verantwortlich für die Durchführung überbetrieblicher Ausbildung im eigenen SHK-Kompetenzzentrum Berlin, für die Abnahme der Gesellenprüfungen im Rahmen der dualen Ausbildung und für die berufsbezogene Weiterbildung der Betriebsinhaber*innen und deren Mitarbeiter*innen. Die Arbeit im Modellprojekt integriert den Soziologen in den Arbeitsbereich beruflicher Ausbildung der Innung SHK Berlin. Über die nachstehenden Feldberichte wird selbstreflexiv die eigene Position und Rolle analysiert. Ziel des Modellprojekts ist es, Maßnahmen gegen vorzeitige Vertragslösungen zu entwickeln und so Abbrüche in der Ausbildung Anlagenmechaniker*in SHK zu verringern. Dazu wurde eine Bedarfsanalyse im Mixed Methods-Design durchgeführt, an die sich die Konzeption von Maßnahmen und deren Erprobung im Praxistest anschließen. In allen Projektphasen werden die ausbildungsrelevanten Akteure einbezogen. Das Modellprojekt ist im Verwaltungsbereich der Innung angesiedelt, während der Untersuchungsbereich mindestens noch die Ausbildungsbetriebe, die Berufsschule und die überbetrieblichen Werkstätten einschließt. Die folgenden Beobachtungen portraitieren die Innung (Abschn. 3.1), verdeutlichen die förderlichen und hinderlichen Kontextbedingungen der wissenschaftlichen Arbeit (Abschn. 3.2) und gehen auf die Anforderungen an den Sozialwissenschaftler ein (Abschn. 3.3).

3.1 Innung SHK Berlin – „eine starke Gemeinschaft“ Die Innung SHK Berlin versteht sich eher als Gemeinschaft auf Augenhöhe denn als streng hierarchische Organisation. Niedrigschwellige Kontaktmöglichkeiten, tägliche Begrüßungen mit freundschaftlichem Handschlag und Duzen sind Kommunikations- und Interaktionsrituale, die den Weg ebnen für situativ-pragmatische Handlungsvollzüge. Informelle Rekrutierungsstrategien ­ fördern vertraute und ‚familiäre‘ Teamkonstellationen und bilden die Grundlage zur Etablierung von Adhoc-Lösungsstrategien. Der Zusammenhalt zwischen der Innung und den Mitgliedsbetrieben wird stärker durch intrinsische Motive der Verbundenheit und Solidarität erzeugt als

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durch externe Zwänge und Kontrollmechanismen durch Geschäftsführung und Vorstand. Es zeichnet sich ein Bild (lediglich) zurückhaltender Einflussnahme der Innung auf die Betriebe und deren Ausbildungsqualität ab. Die Aufgabe der Innung könne es lediglich sein, „den Betrieben den Spiegel vorzuhalten“ (Vorstandsmitglied). Wenn im Projekt über Maßnahmen gegen Vertragslösungen diskutiert wird, zeigen sich entsprechend Bedenken, Betriebe mit zu energischen Forderungen zu verärgern. In den letzten Jahren befindet sich die Innung im Wachstum: Es handele sich, so der Obermeister in einem bildhaften Vergleich, nicht mehr um die Erfordernisse zur Organisation einer 30 qm-Wohnung, sondern nunmehr gehe es darum, eine Stadtvilla zu führen. Das rasante Wachstum erfordert mehr Koordination und stärkere Formalisierung in Verwaltung und Organisation. Der Anspruch, mehr Netzwerk als Innung zu sein, zieht zahlreiche Aktivitäten nach sich, die Mitarbeiter an die Belastungsgrenzen bringen. Mit dem Wachstum ist jedoch auch ein neuer Zeitgeist verbunden, der die Öffnung hin zur Wissenschaft und die Initiierung des Modellprojekts möglich gemacht hat. Die Innung sieht sich als Innovator in der beruflichen Ausbildung (in Berlin). Die Mitgliedsbetriebe der Innung zeichnen sich durch eine gewisse Reserviertheit bei Innungsaktivitäten aus, so diese nicht zum Bewältigen der tagesaktuellen Herausforderungen dienen. Ein fester Bestandteil der Betriebe ist engagiert, während sich ein Großteil zurückhält. Es wird in drastischer Formulierung eines Betriebsinhabers eine „Kluft“ zwischen Innungsorganisation und Mitgliedern konstatiert. Das allerdings wäre eine wenig fruchtbare Grundlage, um gemeinsam, partizipativ und kooperativ Änderungen in der Ausbildung anzustoßen und Verbesserungen umzusetzen. Gerade wenn es um die Ausbildung Jugendlicher und die Sicherung von Fachkräften geht, wünscht sich die Innung eine gemeinsam geteilte Wertebasis sowie kollektiv geteilte Handlungsnormen unter den Betrieben, die über formale Ausbildungsregularien hinausgehen. Das Modellprojekt arbeitet darauf hin, eine höhere Selbstverpflichtung der Betriebe für eine qualitativ hochwertige Ausbildung zu erreichen. So wie es eine gemeinsame Aufgabe ist, den Nachwuchs auszubilden, so müssten sich die Betriebe bei dieser Aufgabe (auch) unterstützen (lassen).

3.2 Kontextbedingungen: Offenheit und Schließung Den Erfolg der wissenschaftlichen Arbeit begünstigt die grundsätzliche Offenheit des Feldes. Dazu gehört in erster Linie die Eingliederung des Wissenschaftlers in die Arbeitgeberorganisation. Der Soziologe ist in Vollzeit Teil der Innungsbeleg-

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schaft, was die Teilnahme und Teilhabe am interaktiven und kommunikativen Tagesgeschehen garantiert. In spezifischer Weise entlastend wirkt die räumliche Abkopplung des Büros vom Verwaltungsapparat. Es wurde eigens für das Projekt eingerichtet und fördert eine gewisse Sonderstellung, die der professionellen Arbeit dienlich ist. So bietet das Büro sich an als Rückzugsort für Analysen und Schreibarbeit, während andere Arbeitsräume der Verwaltung einer invasiven Gesprächskultur, d. h. dem temporären Unterbrechen von Besprechungen und Unterhaltungen zur Klärung eigener Anliegen, ausgesetzt sind. Positiv wirkt sich auch die Akzeptanz des Wissenschaftlers als Kommunikationspartner aus – insbesondere in Bezug auf die Durchführung der empirischen Studien. Die Anstellung des Soziologen wurde von den Verantwortlichen besonders vor dem Hintergrund der Promotion abgewogen. Wie würden Handwerksbetriebe auf einen ‚Doktor‘ reagieren? Und wie würde ein promovierter Akademiker in diesem spezifischen Umfeld agieren? Rückblickend sind keine negativen Konsequenzen zu verzeichnen. Die Gesprächspartner*innen waren keineswegs reserviert oder hatten Berührungsängste. Möglicherweise wirkte sich der akademische Grad sogar förderlich auf die Legitimierung des Projekts aus. Ausschlaggebend in diesem Prozess sind sozialwissenschaftliche Qualifikation und Habitus des Wissenschaftlers (vgl. Abschn. 3.4). Der generellen Offenheit der Innung auf ostentativer Ebene steht eine relative Geschlossenheit der Betriebe auf der performativen Praxisebene gegenüber. Die Innung bemüht sich um eine „hermetische Abriegelung gegenüber externen Einflüssen, damit wir unsere Betriebe nicht verbrennen [i.S.v. überfordern]“ (Mitarbeiter der Leitungsebene). Die Mitgliedsbetriebe sind Basis der Innung und Adressaten der Innungsarbeit. Diese Arbeit zeichnet sich durch eine beratende Orientierung aus, was für soziale Innovationen ein Hemmnis darstellen mag. In methodisch-praktischer Hinsicht gestaltete sich der Feldzugang zu den Betrieben schwierig (s. o. Reserviertheit). Auf der Praxisebene der Ausbildung, so wird argumentiert, müssten die Betriebe bereits die Ambivalenzen von Ausbildung und Tagesgeschäft in Einklang bringen, weshalb kaum Zeit für die Unterstützung des Projekts bleibe – auch wenn unser Projektansatz immer wieder gelobt wird. Ausschlaggebend für die Zurückhaltung der Praxis ist jedoch vermutlich viel eher eine Dienstleistungsprogrammatik: Das Projekt – und mithin die Innung – und der Wissenschaftler erarbeiten (für die Betriebe) Lösungen. Das gilt unter der Prämisse, dass Wissenserzeugung den ‚schlauen Köpfen‘ überlassen wird und eben nicht kooperativ und partizipativ erfolgt.

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3.3 Kontextbedingungen: Resilienz und Dynamik Erschwerend wirken zum einen unterschiedliche Auffassungen von Zeit und Zeitlichkeit. An Modell- und Praxisprojekte wird stets die Erwartung gestellt, schnell Antworten liefern zu können. Dass eine Bestandsaufnahme für die Konzeption von Maßnahmen nötig ist, wird wenig berücksichtigt.8 Weiterhin machen sich Unterschiede in Synchronität und Arbeitstakt zwischen der Innung als Organisation und der wissenschaftlichen Projektarbeit bemerkbar. Im Modellprojekt verlangsamt sich die Arbeit durch erstens die Involviertheit der anderen Projektmitarbeiter in weitere Tätigkeiten und Projekte und zweitens durch die im Organisationsleben erzeugten Handlungsmodi (s. o. Überlastung durch Wachstum und wenig formalisierte Arbeitsteilung). Zum anderen divergiert das Verständnis von wissenschaftlicher Praxis zwischen Soziologe und Praxisakteuren. In der Praxis zeigt sich eine ‚Liebe für Zahlen‘, also ein Fokus auf quantitative Methoden, Messwerte und Statistiken. Dies liegt vor allem am Begründungskontext des Projekts. Grafiken und statistische Aussagen sind die belegbaren Nachweise für spezifische Sachverhalte. Erst die breite Erhebung von Einstellungen und Meinungen liefert verlässliche Aussagen über die Ausbildungsverhältnisse und hilft der Ergebnisvermarktung. Für das Modellprojekt ergibt sich ein Verständnis von empirischen Studien, bei dem Zahlen die harten Fakten sind, mit denen argumentiert werden kann, während Aussagen aus Interviews vornehmlich als ‚Vor-Fakten‘ zur Fragebogenkonstruktion dienen. Dies ist eine übliche Form von Mixed Methods, wenngleich die fachlichen Hintergründe dafür in der Praxis kaum bewusst sind. Diese fehlende Erfahrung führte bspw. dazu, dass kein Geld für Transkriptionen eingeplant wurde. Darüber hinaus tendieren Praxisakteure zur (Über-)Betonung ihres Wissens über das Feld. Dies betrifft weniger den Projektkontext als vielmehr die operative Ausbildungsebene. Symptomatisch ist etwa die empirisch kaum belegbare Annahme, dass Auszubildende früher mehr Biss gehabt hätten als heute. Darüber hinaus kann die Vorfestlegung von geeigneten Maßnahmen bereits im Antragstext hinterfragt werden. Dies scheint dem Modellcharakter des Projekts und dem Verständnis von Wissenschaft geschuldet zu sein: Austesten von Vorstellbarem statt tief gehende Exploration. Hier überlagert die diskursive Ebene das praktische Tun. Gewollt sind Maßnahmen gegen Fachkräftemangel „im großen Stil mit

8Dies

belegen auch meine Erfahrungen aus Technikentwicklungsprojekten.

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Kampagnencharakter“ (Mitarbeiter der Leitungsebene). Jedoch werden bereits in der Planung Einzelmaßnahmen infrage gestellt, unter Rekurs auf die Bereitschaft der Betriebe.9 Es existiert eine Spielart von Resilienz: Einerseits sollen Maßnahmen innovativ sein, andererseits nicht die Alltagspraxis stören. Ein ‚harter Kurs‘ wird vermieden, da sich Innungsmitglieder womöglich bevormundet fühlen. Dies führt zu latenten – sich selbst mehr oder weniger bewusst auferlegten – Restriktionen in Bezug auf die Entwicklung von Innovationen.

3.4 (Erforderliche) Kompetenzen des Sozialwissenschaftlers Spezifische Formen von angewandter Sozialforschung haben Facetten von Ethnographie und zwar immer dann, wenn sich die Wissenschaftler nicht nur für Interviews ins Feld begeben und/oder in das Feld integriert sind. So sieht Völter (2008) in ethnografischer Kompetenz die Basis für Soziale Arbeit. Diese Kompetenz muss angeeignet werden, bestenfalls im praktischen Tun. Was für die Aktionsforschung gilt, gilt ebenso für die engagierte Ethnographie. „Der angehende Aktionsforscher muss verstehen, dass es darauf ankommt, sich sozialen Situationen mit offenen Fragen, Bereitschaft zum Dialog und zur Zusammenarbeit mit Praxisakteuren zu nähern.“ (Fricke 2014, S. 232)

Die größte Herausforderung liegt vermutlich darin, den soziologischen bzw. sozialwissenschaftlichen Habitus mindestens temporär abzulegen und absichtsvoll die Teilhabe am Feld zu ermöglichen. Dabei ist es wichtig, mögliche soziale Distanzen zu überwinden und gleichzeitig genügend professionelle Distanz aufzubauen. Zweifelsohne gestalten Sozialwissenschaftler in ihrer Arbeit die Gesellschaft – ebenso werden sie jedoch vom Feld affiziert und ändern ihr Handeln (Zajak 2018). Es ist höchst erforderlich, sich mit einem Projekt(-ziel) identifizieren zu können. Denn durch Engagement, und weniger durch Distanzierung, wirken Sozialwissenschaftler glaubhaft und erhalten die für die Arbeit notwendigen Informationen.

9So

wird ein Selbsttest der Ausbildungsqualität für Betriebe externen Kontrollinstanzen vorgezogen.

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Sozialwissenschaftler benötigen routiniertes Grenzgängertum. Sie übertreten die Grenzen der eigenen Arbeits- und Lebenswelt und nehmen als Fremde am gesellschaftlichen Alltag Anderer teil. Auch wenn die konkrete Projektarbeit im Mittelpunkt des Handelns steht, stellt sich ein soziologischer Blick auf die umfassenderen Strukturen und Handlungszusammenhänge ein (bspw. die Organisationsentwicklung der Innung). Durch „soziologisches Fremdeln“ (Villa 2006) wird der Blick objektiver, scharfsichtiger, rationaler in Bezug auf die vorfindbaren Gewohnheiten, Traditionen, Normen. Das Erlernen unauffälliger Präsenz ist wichtig für Grenzgänger. Jede Organisation und jedes Feld hat eigene ‚Rituale‘ im weitesten Sinn. Werte und Routinen rahmen die gemeinsamen Handlungen und Interaktionen. Grenzgängertum bedeutet daher stets auch Adaption. Sozialwissenschaftler sind zur Ritualadaption aufgefordert. Dazu gehören etwa das morgendliche Händeschütteln und ein ruppiger-schelmischer Umgangston. So wird spaßhaft beim Mittagessen das Platznehmen am Tisch durch „Hier ist besetzt!“ verweigert. Im repetitiven Arbeitsalltag gewährleistet dies Kommunikationsanschlüsse. Auch die Aneignung der vorherrschenden invasiven Gesprächskultur gehört dazu, denn Abweichungen davon werden von den Akteuren als ‚Irritation‘ wahrgenommen. Die Innung ist eine Männerdomäne, in der sich wie selbstverständlich geduzt und gefrotzelt wird. Eine derbe Ausdrucksweise ist nicht ausgeschlossen und zeigt sich in den Interviews anhand regelmäßig genutzter Vulgärsprache. Gleichzeitig bilden sich familiäre und freundschaftliche Beziehungen unter den Praxisakteuren und in den Ausbildungsverhältnissen heraus. Eben jene Ausdrucksweisen und Umgangsformen gilt es zu berücksichtigen, wenn Betriebe und/oder andere ausbildungsrelevante Akteure adressiert werden. Grundsätzlich sollten Sozialwissenschaftler*innen zu ‚Down-Phrasing‘ in der Lage sein. Damit sind vor allem Wortwahlen verbunden, und es gilt, bspw. Terminologien wie „Fragebogen erstellen“ statt „Fragebogen konzipieren“ zu nutzen. So wurde der Vorschlag, das Wort „Zusammentreffen“ durch „Zusammenschau“ zu ersetzen, mit der ironischen Aufforderung kommentiert: „Du solltest mal wieder einen Konsalik lesen.“. Und zu einem anderen Zeitpunkt hieß es: „Wenn ich Texte von Herrn Biniok lese, lege ich mir immer ein Wörterbuch bereit.“ Auf diese Weise werden Aushandlungen über die einzusetzende Sprache möglich. Die drei genannten Kompetenzen ermöglichen die professionelle Unterstützung der Praxisakteure im Modellprojekt. Das durch Teilhabe gewonnene Wissen über das Feld wird den Akteuren in adäquater Form zur Verfügung gestellt, um selbstständig einen möglichen Transformationsprozess zu imaginieren und umsetzen. Das ist eine mögliche Form sozialwissenschaftlicher Gestaltung.

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Tab. 1   Zwei Formen anwendungsorientierter Sozialwissenschaften. (Eigene Tabelle) Akademisches Praxisprojekt

Außer-akademisches Modellprojekt

Fokus

Forschung

Entwicklung

Fragestellung

(allgemeine) Bedarfe, Bedürf- (konkrete) Probleme, Hindernisse nisse

Handlungsfreiheit

Autonom

Teil-autonom

Vorgehen

Kurzzeitige Aufenthalte im Feld

Dauerhaft im Feld

Rolle

Rollenwechsel

Rollenüberlagerung

Funktion Wissenschaftler

Moderation, Orchestration, Netzwerken

Infiltration, Konsultation, Arrangement

Gestaltungsprozess

Soziale Anreicherung: Soziale Dynamisierung: Prozess steigender Aktivierung Prozess steigender Reflexivität und Entfaltung und Partizipation

4 Spielarten sozialwissenschaftlicher Gestaltung Das Modellprojekt der Innung SHK Berlin ist ein wissenschaftsbasiertes Transformationsvorhaben, bei dem der Soziologe aufgrund der spezifischen Stellensituation am Arbeitsalltag der Praxisakteur*innen teilnimmt.10 Feldforschung bildet die Grundlage von Veränderungshandeln – allerdings durch die Praxisakteur*innen selbst. Die Analyse der gestaltenden Rolle des Wissenschaftlers in solch einer Konstellation erfolgt durch die nun folgende Gegenüberstellung zweier exemplarischer Formate von anwendungsorientierten Sozialwissenschaften: einerseits das akademische, praxisorientierte Forschungsprojekt (Biniok/Selke 2018) und andererseits das vorgestellte Modellprojekt. Beide weisen je spezifische Eigenheiten auf und bedingen das Handeln des Soziologen auf andere Weise. Wenngleich die Gegenüberstellung Trennschärfe suggeriert, sind die Abgrenzungen fließend. Dies liegt am Anspruch, die divergierenden Charakteristika zweier eng ‚verwandter‘ Formen anwendungsorientierter Sozialforschung zu bestimmen (vgl. Tab. 1).

10Auch

wenn der dauerhafte oder langfristige Aufenthalt im Feld in der Praxisforschung grundsätzlich wünschenswert ist, ist dies in konkreten Projekten eher die Ausnahme.

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‚Nicht-Forschung‘ Ein erster Unterschied besteht im Erkenntnisinteresse und der Ausrichtung des jeweiligen Projekts. Im Gegensatz zur akademischen Praxisforschung wird das außer-akademische Modellprojekt nicht als Forschung deklariert. Im Gegenteil: „Forschung dürfen wir nicht sagen.“ (Mitarbeiter der Leitungsebene) Im Fokus steht die zielgerichtete Entwicklung von Maßnahmen und nicht die Erforschung des Feldes. Es deutet sich eine Differenzierung von Forschung und Wissenschaft in den Augen der Praxisakteure an, die scheinbar darauf beruht, der Wissenschaft eine hohe Exaktheit und Widerspruchsfreiheit einzuräumen, während Forschung als Entdeckung neuer Phänomene gilt. Das ist insofern paradox, weil für das Modellprojekt innovative, also neuartige, Maßnahmen gefordert werden. Während das akademische Projekt eher vage (gesamtgesellschaftliche) Bedarfe und Bedürfnisse (und mögliche Problemhorizonte) zum Gegenstand hat, startet das Modellprojekt von konkret benennbaren Herausforderungen und Fragestellungen gesellschaftlicher Praxis. Aus der Konkretheit der Fragestellung resultiert auch die Vorstellung, statt Forschungsarbeit sei primär wissenschaftliche Entwicklungsarbeit nötig, die sich in Messwerten manifestiert. Allerdings geht einer Maßnahmenentwicklung stets auch eine (qualitative) Exploration, Bestandsanalyse und Erforschung des Feldes voraus. Quasi-Autonomie In einem akademischen Praxisprojekt besitzen die Wissenschaftler*innen grundsätzlich hohe Grade an Handlungsfreiheit unter Berücksichtigung des Projektplans. Natürlich verändern (gerade bei Praxisforschung) im Projektverlauf externe Einflüsse das wissenschaftliche Vorhaben und Vorgehen; wie darauf reagiert wird, hängt jedoch von den Wissenschaftlern ab. Im Modellprojekt fügen sich die Sozialwissenschaftler*innen in die Entscheidungsroutinen einer Organisation ein. Insbesondere wenn sie nicht die Projektleitung innehaben, hängt ihr Mitspracherecht von diesen Instanzen ab. Asynchronität zwischen Organisations- und Projektarbeit und divergente Auffassungen von Zeitlichkeit können dann zu Herausforderungen in der wissenschaftlichen Arbeit werden. Operative Feldforschung Das Vorgehen bei akademischer Praxisforschung ist durch punktuelle und/oder kurzfristige Aufenthalte im Feld gekennzeichnet. Es werden Informationsveranstaltungen und Workshops durchgeführt, Personen befragt und Ereignisse beobachtet. Im Falle des Modellprojekts arbeitet der*die Sozialwissenschaftler*in dauerhaft im Feld und ist den feldinternen Dynamiken ausgesetzt (etwa Dienstleistungskultur der Innung). Dazu gehört auch, sich den ‚indigenen‘

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­ erhaltensweisen anzunähern. Die Arbeit im Modellprojekt hat zwar Facetten V von Ethnografie, ist jedoch keine Feldforschung im eigentlichen Sinne, bei der ‚fremde Kulturen‘ verstanden werden. Ausgehend von konkreten Zielsetzungen handelt es sich vielmehr um ‚operative Feldforschung‘, die einen Unterschied herstellt. Durch die dauerhafte Präsenz im Feld arbeitet der*die Sozialwissenschaftler*in mit einer Gleichzeitigkeit von Beobachtung und Teilnahme, bei der sich die Rollen überlagern. Der Rückzug in das eigene Büro ermöglicht die Distanzierung vom Forschungsgegenstand. Bei akademischen Praxisprojekten hingegen ist ein distinkter Rollenwechsel zu beobachten. Der*die Sozialwissenschaftler*in ist Mitglied in Hochschulstrukturen und -kommunikation einerseits und ‚Erfahrungsreisende*r‘ andererseits. Infiltration und Arrangement Die benannten Settings und Rollen gehen Hand in Hand mit unterschiedlichen Funktionen, die der*die Sozialwissenschaftler*in in der Praxisforschung einnimmt. Im Fall akademischer Praxisforschung ist der*die Sozialwissenschaftler*in zunächst Moderator und Orchestrator, um die relevante Akteursgruppen (auch aus der Zivilgesellschaft) in die Forschung einzubeziehen und bedarfsorientiert miteinander zu assoziieren und zu vernetzen. Die Aufgabe der Partizipation besteht darin, Strukturen zu schaffen, die sich im Laufe der Zeit selbst auf Dauer stellen. Im Modellprojekt hingegen bestehen Akteurbeziehungen bereits, und der*die Sozialwissenschaftler*in dringt investigativ in diese Strukturen ein. In gewisser Weise infiltriert er das Feld, denn seine Anwesenheit ist erklärungsbedürftig und basiert darauf, dass etwas nicht in Ordnung ist. Aufgrund der eingeschränkten Autonomie und der existierenden Strukturen kommt dem Sozialwissenschaftler eine konsultative Funktion zu, die sich mit Arrangementaufgaben verknüpft.11 Arrangements entstehen in zweifacher Hinsicht. Der Wissenschaftler arrangiert vor allem Wissen, Texte, Auswertungen in Form von Kategorisierungen und Typisierungen. Die bedarfsorientierte Aufbereitung von Daten und Erkenntnissen ist wesentlicher Bestandteil der Re-Vitalisierung von Entscheidungsprozessen im Feld. In Verbindung mit dem darüber hinausgehenden Arrangement von Material, Artefakten und Personal werden die Praxisakteure in der Neugestaltung beruflicher Ausbildung unterstützt.

11Der Begriff „Arrangement“ wird gegenüber der Terminologie „Strukturierung“ bevorzugt, da Strukturen bereits existieren und der Sozialwissenschaftler vor allem NeuOrdnungen entwirft, anhand derer die Praxisakteure (Re-)Strukturierungen vornehmen.

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Soziale Anreicherung Der Gestaltungsprozess bzw. die Realisierung einer Transformation haben jeweils andere Konnotationen. Der Prozess wechselseitigen Austauschs zwischen Wissenschaftler*innen und Zivilbevölkerung im akademischen Praxisprojekt erfährt eine soziale Dynamisierung, die bestenfalls in neue, nachhaltige Strukturen mündet. Die Akteure werden immer stärker am Projekt beteiligt, während sich das Projektteam immer mehr zurückzieht. Die eigenständige Selbstverwaltung der neuen Strukturen ist zentrales Element der Forschung, da Projekte in vielen Fällen zwar kurzzeitige Resonanz hervorrufen, nach Projektende jedoch selten weitere Interventionen folgen und schnell der ursprüngliche – eigentlich zu verbessernde – Urzustand wieder hergestellt ist. Im Modellprojekt stellt sich zweifelsohne auch die Frage sozialer Dynamisierung. Allerdings ist eher davon auszugehen, dass die Praxisakteur*innen problemavers agieren und sich mit den ihnen zur Verfügung stehenden Ressourcen arrangieren. Der Prozess lässt sich daher primär als soziale Anreicherung verstehen.12 Die neuen Arrangements werden direktiv aus dem Projekt heraus erarbeitet und mit den relevanten Akteur*innen abgestimmt. Praxispartner eignen sich durch wissenschaftliche Unterstützung selbstreflexiv Wissen für Veränderungsprozesse an und etablieren innovative Maßnahmen.

5 Fazit: Ein Modellprojekt ohne Praxis? – ‚Härtegrade‘ sozialwissenschaftlicher Praxisforschung Auf einer wissenschaftstheoretischen Ebene werden veränderte Modi der Wissensproduktion und neue Formen und Formate der Partizipation von außer-wissenschaftlichen Akteuren an Transformationsprozessen diskutiert. ­ Weniger Aufmerksamkeit wird dabei der Frage gewidmet, inwiefern sich adressierte Verbraucher*innen, Kundengruppen oder Techniknutzende real überhaupt an Transformationsprozessen beteiligen wollen und/oder sich dazu in der

12Vgl. Systemisch orientierte Interventionsforschung: „Der Ansatz folgt dabei in der Intervention einem „ökologischen Prinzip“ der sanften Steuerung. Die PraktikerInnen aus den Unternehmen, Management wie Beschäftigte, werden als ‚ExpertInnen‘ für ihre eigenen Probleme angesehen, Wissenschaft und Beratung unterstützt die Selbststeuerungsfähigkeit der handelnden Personen durch dialogische Prozesse der Wissensgewinnung und des Wissenstransfers, um die sozialen Prozesse und Strukturen nachhaltig weiterzuentwickeln.“ (Klatt et al. 2014, S. 286).

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Lage sehen. Der diskursiven Offenheit des Feldes SHK-Branche in Berlin gegenüber sozialen Innovationen steht bspw. eine arbeitspraktische Zurückhaltung im Projektkontext gegenüber. Die vorliegende Studie offenbart Ambivalenzen zwischen den (theoretischen) Ansprüchen von Praxisforschung und der praktischen Umsetzung. Das Modellprojekt ist in besonderer Weise legitimiert durch die wissenschaftliche Arbeit. Diese ist als variables Hilfsmittel zu verstehen: Sie ist gleichzeitig Begründungskriterium nach außen gegenüber Sozialpolitik sowie praxisbezogenes Veränderungsmoment nach innen gegenüber Mitarbeiter*innen und Ausbildungsbetrieben. So gelingt es, die Anwesenheit des Soziologen als erklärungsbedürftigen Ermittler, der ‚Missstände aufdeckt‘, zu legitimieren (Infiltration). Darüber hinaus wird der Soziologe zum Stifter von Dynamik, die das Projektteam initiiert und trägt (Arrangement). Dennoch verkomplizieren und erschweren feldinterne Dynamiken und Resilienz auf Betriebsebene die kollektive Modifikation bestehender Strukturen. Die regelmäßige Rückbindung von Analyseergebnissen und entwickelten Maßnahmen an das Praxisfeld harmonisiert nicht in gewünschtem Umfang. Das Fallbeispiel verdeutlicht einen wichtigen Aspekt, der in allgemein üblichen Routinen der Projektbeantragung und des Projektstarts eher wenig Beachtung findet. Wissenschaftliche Mitarbeiter werden für Projekte eingestellt, die sie nicht konzipiert haben. Dies kann zur Folge haben, dass das Projekt mit falschen Prämissen und inadäquaten Methoden startet und eben jene Justierungen von Engagement und Distanzierung nicht dem Gegenstandsbereich gerecht werden. Was folgt, wäre bspw. ein Praxisprojekt ohne Praxis. Sozialwissenschaftler*innen haben die Chance, die feldeigenen Charakteristika zu analysieren, um bereits bei der Adressierung der Praxispartner die Weichen für eine erfolgreiche Projektarbeit zu stellen. Das bedeutet vor allem, sich der eigenen Rolle im spezifischen Projekt gewahr zu werden. Davon hängt der ‚Härtegrad‘ sozialwissenschaftlicher Praxisforschung, d. h. der Innovationsgrad der Transformation und die Nachhaltigkeit der Maßnahmen, ab. Die Gegenüberstellung der zwei Formen anwendungsorientierter Sozialwissenschaft zeigt, dass spezifische Formen der Gestaltung mit unterschiedlicher Nähe zum Gegenstand und mit verschiedenen ‚Härtegraden‘ verbunden sind. Strukturbildung und Strukturmodifikation können – in Abhängigkeit von Lokalitäten, Akteuren, usw. – ganz verschieden verlaufen und erfolgreich sein. Engagement und Distanzierung sind dabei reversibel und jeweils fallabhängig zu justieren. Zum einen entscheiden sich die Praxisforscher*innen selbst für angemessene Rollen und Vorgehensweisen in der wissenschaftlichen Arbeit. Zum anderen spielt das Engagement der Praxispartner*innen eine ebenso große Rolle.

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Eine gelingende Partizipation ebnet den Weg für eine nachhaltige Innovationsleistung und ein erfolgreiches Transformationsprojekt.

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Transdisziplinäre Forschung am Beispiel des Projekts „Media Future Lab“ Sevda Can Arslan

Zusammenfassung

Transdisziplinäre Praxis ist „gesellschafts- oder lebensweltorientierte Forschung“ (Vilsmaier und Lang, Nachhaltigkeitswissenschaften, Bd. 104, Springer, Heidelberg, S. 89, 2014). Damit meinen die Autor*innen, dass „Fragen und Problemstellungen der Forschung nicht aus einer wissenschaftlichen Tradition heraus generiert werden […] sondern sich an gesellschaftlich relevanten Fragestellungen oder Problemen orientieren“ (Vilsmaier und Lang, Nachhaltigkeitswissenschaften, Bd. 104, Springer, Heidelberg, S. 89 f., 2014). In diesem Artikel wird Vilsmaier und Langs Verständnis von transdisziplinärer Forschung eingehend erläutert. Nach einer kurzen Vorstellung des kommunikationswissenschaftlichen Projekts „Media Future Lab“ werden die Merkmale von Transdisziplinarität an diesem konkreten Beispiel erklärt. Bei dieser Reflexion orientiere ich mich in Aufbau und Inhalt an dem Aufsatz „Transdisziplinäre Forschung“ von Ulli Vilsmaier und Daniel J. Lang aus dem Jahr 2014. In jenem Aufsatz erläutern die Autor*innen Transdisziplinarität am Beispiel der Nachhaltigkeitswissenschaften. Ich fasse die davon für das Projekt „Media Future Lab“ relevanten Punkte zusammen und ordne das Projekt auf der Basis dieser Punkte in den Kontext der Transdisziplinarität ein. Damit passt der Artikel gut in den Tagungsband, der u. a. danach fragt, wie „wir als Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler das Verstehen und die

S. C. Arslan (*)  Mannheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_12

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Entwicklung nachhaltiger sozialer Innovations- und Transformationsprozesse erleichtern [können]“, „[w]elche Rollen […] wir selbst im jeweiligen Kontext [spielen] und [w]elcher theoretischen und methodischen Hilfsmittel […] wir uns dabei [bedienen].“

1 Einleitung Transdisziplinäre Praxis ist „gesellschafts- oder lebensweltorientierte Forschung“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 89). Damit meinen die Autor_innen, dass „Fragen und Problemstellungen der Forschung nicht aus einer wissenschaftlichen Tradition heraus generiert werden […] sondern sich an gesellschaftlich relevanten Fragestellungen oder Problemen orientieren“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 89 f.). In diesem Artikel wird Vilsmaiers und Langs Verständnis von transdisziplinärer Forschung eingehend erläutert. Nach einer kurzen Vorstellung des kommunikationswissenschaftlichen Projekts Media Future Lab (MFL) werden die Merkmale von Transdisziplinarität an diesem konkreten Beispiel erklärt. Diese ausführliche Reflexion orientiert sich in Aufbau und Inhalt an dem Aufsatz „Transdisziplinäre Forschung“ von Ulli Vilsmaier und Daniel J. Lang aus dem Jahr 2014. In jenem Aufsatz erläutern die Autor_innen Transdisziplinarität am Beispiel der Nachhaltigkeitswissenschaften. Die davon für das Projekt MFL relevanten Punkte werden hier zusammengefasst und das Projekt auf Basis dieser Punkte in den Kontext der Transdisziplinarität eingeordnet. So fügt sich dieser Artikel in den Tagungsband ein, der u. a. danach fragt, wie „wir als Sozialwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftler das Verstehen und die Entwicklung nachhaltiger sozialer Innovations- und Transformationsprozesse erleichtern [können]“, „[w]elche Rollen […] wir selbst im jeweiligen Kontext [spielen] und [w]elcher theoretischen und methodischen Hilfsmittel […] wir uns dabei [bedienen].“

2 Vorstellung des Projekts MFL Das Projekt MFL handelt von der Zukunft der Medien. Medien sind als öffentliche Kommunikationskanäle wesentlich für Demokratie. Doch sie befinden sich gerade in einer Krise: Reichweite, Akzeptanz und Deutungshoheit von traditionellen Angeboten sinken. Vor diesem Hintergrund fragt das Projekt,

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was wir, die Gesellschaft, von Medienangeboten erwarten, was wir unter gutem Journalismus verstehen und was wir uns das kosten lassen wollen. In fünf Schritten werden Antworten auf diese Fragen gesammelt, die am Ende in einem Bürgergutachten gebündelt werden. Im ersten Schritt werden Experteninterviews geführt mit Medienkritiker_innen und Medienpraktiker_innen von traditionellen und neuen Medienanbieter_innen, von Interessen- und Berufsverbänden, aus Medienpolitik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Darauf folgen die sogenannten „MFLs“. In diesen Labs treffen sich in unterschiedlichen Settings jeweils 20 bis 25 Menschen, um ihre Kritik zu artikulieren und Ideen für Alternativen zu entwickeln. Bei den Labs sind verschiedene Formate möglich, ob „Fishbowl“ oder „Zukunftswerkstatt“. Im dritten Schritt wird die Möglichkeit für eine Online-Diskussion zum Projektthema geschaffen. So soll allen die Teilnahme ermöglicht werden, die bei den Labs nicht selbst dabei sein konnten. Damit wird das Material, das in den ersten beiden Projektphasen zusammengetragen wurde, ergänzt und differenziert. Das Herz des Projekts bildet das „Medienzukunftsforum“. Über ein halbes Jahr verteilt treffen sich 20 bis 25 Menschen, die entweder schon bei den Labs dabei waren oder sich über die Online-Diskussion angeboten haben, und diskutieren mit Expert_innen ihrer Wahl. Ihre Aufgabe besteht darin, ein Bürgergutachten zur künftigen Kommunikationsordnung zu schreiben. Dieses Bürgergutachten soll 2020 auf dem abschließenden Medienzukunftsgipfel präsentiert werden. Das Projekt hat eine Laufzeit von vier Jahren und ist Teil des Forschungsverbunds „ForDemocracy – Zukunft der Demokratie“, der vom Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst finanziert wird. Diese kurze Vorstellung von MFL soll als Grundlage dafür dienen, Transdisziplinarität nun am konkreten Beispiel dieses Projekts zu erläutern.

3 Ausgangspunkt und Merkmale von Transdisziplinarität Die transdisziplinäre Forschung hat sich seit den „1990er-Jahren als Forschungspraxis entwickelt“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 89). Vilsmaier und Lang (2014) erläutern zunächst den Ausgangspunkt transdisziplinärer Forschung. Sie weisen darauf hin, dass Transdisziplinarität „darauf ab[zielt], den Ort und die Rolle der Wissenschaft in der Gesellschaft neu zu bestimmen“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 88). Die aktuelle Rolle der Wissenschaft hat sich laut den Autor_innen mit der Zeit entwickelt, sie ist also gemacht:

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„Schon die Forderung von Kooperation zwischen unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen setzt eine klare Trennung, eine Grenze zwischen den Bereichen voraus. Doch so eindeutig, wie beispielsweise die Begriffe ‚Wissenschaft‘ und ‚Politik‘ auch zu unterscheiden sind, die Grenzen zwischen den dahinter liegenden Konzepten sind keineswegs immer genau zu bestimmen – und sie sind vor allem nicht einfach gegeben, sondern Ergebnis eines Prozesses. Wenn wir also von der Wissenschaft und den anderen Gesellschaftsbereichen sprechen, dürfen wir nicht aus den Augen verlieren, dass wir uns dabei auf ein ganz besonderes Wissenschaftsund Gesellschaftsbild beziehen, das eine bestimmte Ordnung spiegelt. Diejenige Ordnung, die uns heute als normal erscheint, ist keineswegs gegeben.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 88).

Vilsmaier und Lang (2014) beschreiben die diesem Wissenschaftsverständnis zugrunde liegende Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Dabei kommen sie zu dem Schluss, dass die Entwicklung der gesellschaftlichen Rollenteilung in einem Paradox endet: Die sich immer weiter spezialisierende Wissenschaft schafft eine Komplexität, die so hoch ist, dass man ihr wiederum nicht mit spezialisierter Wissenschaft begegnen kann (Vilsmaier und Lang 2014, S. 89). Um mit dieser Komplexität umzugehen, weicht die Transdisziplinarität mit dem Schritt hin zur Erkenntnisproduktion mit Akteur_innen außerhalb der Wissenschaft diese Grenzen zwischen der Wissenschaft und anderen Bereichen der Gesellschaft auf. Dieses Wissenschaftsverständnis ist vereinbar mit den Grundlagen des Projekts MFL. Das Projekt basiert auf einem vergleichbaren Wissenschaftsverständnis der qualitativen empirischen Sozialwissenschaft (Meyen et al. 2011) und der partizipativen Forschung (von Unger 2014). Im Folgenden machen die Autor_innen drei Merkmale transdisziplinärer Forschung aus: die Kontextabhängigkeit der Forschung, die Gesellschaftsorientierung und den Fokus auf den Lernprozess. Diese drei Merkmale werden nun vorgestellt und in Bezug zu dem Projekt MFL gesetzt. Vilsmaier und Lang (2014) machen die Kontextabhängigkeit von Forschung als ein Merkmal des transdisziplinären Wissenschaftsverständnisses aus. Die Autor_ innen lehnen sich an das Verständnis der „Mode 2“-Forschung von Gibbons et al. (1994) an. Mode 1 bezeichnet ein „Wissenschaftsverständnis, das an eine Reinheit der Methode und allgemeingültige Wahrheit glaubt“ – ein „Mythos“ für die Autor_innen (Vilsmaier und Lang 2014, S. 93 f.). Sie folgen stattdessen einer Vorstellung von Wissenschaft, „die anerkennt, dass auch Wissenschaft in einem spezifischen Kontext und von Menschen betrieben wird, deren Denken und Handeln von unterschiedlichsten Interessen, Leidenschaften und damit subjektiven Faktoren beeinflusst ist und insofern kein absolutes Wissen hervorbringen kann.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 93 f.). Als mögliche Kontextfaktoren nennen sie „Bedingungen in einem Labor ebenso wie das geistig-kulturelle Umfeld, die politischen und

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ö­ konomischen Bedingungen sowie historische Erfahrungen, die eine bestimmte Epoche charakterisieren“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 92). Für das Projekt MFL folgt daraus ein hoher Anspruch an die Reflexion über die verschiedenen Kontexte, in denen im Rahmen des Projekts Wissen generiert wird. Die Reflexion z. B. über subjektive Faktoren, die die Entscheidungen des Kernteams beeinflussen, als auch über die spezifischen Situationen der anderen Akteur_innen oder die Räume, in denen das Wissen generiert wird, muss dokumentiert und bei der Synthese der Wissensbestände miteinbezogen werden, um transdisziplinärer Forschung gerecht zu werden. Die Autor_innen bezeichnen die transdisziplinäre Praxis außerdem als „gesellschafts- oder lebensweltorientierte Forschung“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 89). Damit meinen sie, dass „Fragen und Problemstellungen der Forschung nicht aus einer wissenschaftlichen Tradition heraus generiert werden […] sondern sich an gesellschaftlich relevanten Fragestellungen oder Problemen orientieren“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 89 f.). Diese Fragestellungen sind, wie oben beschrieben, in hohem Maße komplex. Hier bietet transdisziplinäre Forschung „Ansätze, die es ermöglichen, sich Situationen hoher Unsicherheit und Komplexität zu nähern, wenn über das, was sie als Ganzes ausmacht, keine Klarheit herrscht. Bei transdisziplinärer Forschung geht es – so könnte man salopp behaupten – um dieses Ganze.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 90). Die Autor_innen betonen, dass „das Ganze“ hier nicht so missverstanden werden sollte, dass man Realität mithilfe von Transdisziplinarität komplett erfassen könne. Stattdessen geht es darum, dass Transdisziplinarität „Unsicherheit und Unvollständigkeit anerkennt und als Rahmenbedingung der Forschung berücksichtigt“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 90). Transdisziplinarität braucht die „außerwissenschaftlichen Perspektiven, um die Vielfalt an Betrachtungswinkeln zu erhöhen. Sie erkennt an, dass ein lebensweltliches Problem dann bestmöglich erfasst und folglich bearbeitet werden kann, wenn auch das Erleben sowie das im Alltag oder durch professionelle Tätigkeiten erworbene Wissen einbezogen wird, welches das ‚Leben in dieser Welt‘ ausmacht, wie auch das Leiden, das durch eine Problemlage entstehen kann. Häufig ist daher die Rede von Kooperationen mit ‚Praxisakteuren‘ oder außerwissenschaftlichen Akteuren. Sie komplementieren das Bild einer Situation, das WissenschaftlerInnen durch ihre spezifische Kenntnis von Teilaspekten erfassen.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 90).

Genau diese außerwissenschaftlichen Perspektiven vielfältiger Akteur_innen stehen im Mittelpunkt des Forschungsprojekts MFL. Wie bei von Ungers (2014) Verständnis von partizipativer Forschung geht es darum, gesellschaftliche Akteure als „Co-Forscher/innen“ einzubinden.

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Die Autor_innen weisen außerdem darauf hin, dass es nicht nur darum geht, Welt zu verstehen, sondern auch, diese zu gestalten (Vilsmaier und Lang 2014, S. 97). „Transdisziplinäre Nachhaltigkeitsforschung versteht sich insofern als transformative Wissenschaft (WBGU 2011; Vilsmaier und Lang 2014, S. 90).“ Bei MFL handelt es sich auch um ein transformatives Projekt, mit dem Ziel, „soziale Wirklichkeit partnerschaftlich [zu] erforschen und [zu] beeinflussen“ (von Unger, 2014). Als eine weitere Eigenschaft transdisziplinärer Forschung machen die Autor_ innen außerdem den Lernfokus aus. Das Ziel ist „nicht, einzig wissenschaftlich fundierte Antworten auf drängende gesellschaftliche Herausforderungen zu liefern, sondern Prozesse zu gestalten, die vielfältige Aufgaben erfüllen. In erster Linie handelt es sich um Lernprozesse, in denen WissenschaftlerInnen unterschiedlicher Disziplinen wie VertreterInnen nicht-wissenschaftlicher Gesellschaftsbereiche (z.  B. aus zivilgesellschaftlichen Organisationen, bestimmten Berufssparten, der Politik, der Industrie oder BewohnerInnen einer Region) gemeinsam von- und miteinander lernen, um eine Situation oder ein Phänomen in seiner Komplexität zu verstehen und zu verändern“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 91).

Dabei betonen sie, wie wichtig die Haltung der beteiligten Akteur_innen ist und zitieren ihre Kolleg_innen: „Through scientists entering into dialogue and mutual learning with societal stakeholders, science becomes part of societal processes […]. Problem-solving includes reflections, the transformation on attitudes, the development of personal competence and ownership, along with capacity building, institutional transformations and technology development (Vilsmaier und Lang 2014, S. 91).“ Solche Lernprozesse sind im Rahmen von MFL vorgesehen. Das auf Basis aller Labs und Interviews zum Ende des Projekts entwickelte Bürger_ innengutachten wird als Handreichung zur Transformation des Mediensystems verstanden. Die Autor_innen scheinen aber lediglich von einer Verschiedenheit der Interessen der Akteur_innen auszugehen. Eine mögliche Gegensätzlichkeit wird nicht thematisiert. So ist denkbar, dass „ein Phänomen in seiner Komplexität“ von allen im transdisziplinären Forschungsprojekt beteiligten Akteur_innen verstanden ist, doch die Vorstellungen davon, ob und wie es zu verändern ist, sich gegenseitig ausschließen. Das kann im Fall des Projekts MFL z. B. passieren, wenn marginalisierte Gruppen mehr Sichtbarkeit in den Medien fordern, für Medienmacher_innen allerdings die kommerzielle Profitabilität oder für Medienpolitiker_ innen ihre Wiederwählbarkeit im Vordergrund stehen. Hier stellt sich die Frage, ob im Laufe des Projekts eventuell die Perspektiven bestimmter Akteur_innen

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(begründet) ausgeschlossen werden müssen, um eine weitere Einigkeit des Ziels zu gewährleisten. Solche Ausschlüsse würden wiederum zu einem Mangel an Vielfalt der Perspektiven führen. Daher muss die Entscheidung darüber gut abgewogen werden. Hilfreich scheint es hierbei, wenn das Projekt auf einem normativen Standpunkt beruht, der für die Entscheidung herangezogen werden kann. Zu möglichen Werten liefern die Autor_innen in diesem Beitrag allerdings keine eigenen Beispiele. Sie verweisen später im Text auf Pohl und Hirsch Hadorn (2006), die das „Gemeinwohl als regulatives Prinzip“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 100) nennen. Für das Projekt MFL wäre es genauso denkbar, aus demokratietheoretischer Perspektive den Standpunkt eines am gesamtgesellschaftlichen Wohl orientierten „Journalismus der Vielen“ einzunehmen. So wäre das Projekt auch immun gegenüber Instrumentalisierung z. B. durch die Medienindustrie, deren vornehmliches Interesse die Steigerung der Verkaufszahlen und damit Werbekund_innen ist. Doch selbst mit einem solchen normativen Standpunkt ist über den Ausgang des bei der Transdisziplinarität angestrebten Lernens noch nichts gesagt. Jenseits des Lernens bestehen in der jetzigen Gesellschaft Machtverhältnisse, die die nach dem Lernen angestrebte Transformation erschweren. Die Autor_innen selbst schweigen dazu, wie man sich dafür wappnet. Lediglich in der oben bereits erwähnten Abbildung zu „Interdependenz der drei Wissensarten (nach Pohl und Hirsch Hadorn 2006, S. 35)“ finden die Machtverhältnisse Erwähnung (Vilsmaier und Lang 2014, S. 100, Abb. 3.1). Auch für das Projekt MFL scheint es wichtig, realistische Vorstellungen über die Machtverhältnisse im jetzigen Mediensystem zu erarbeiten, um auf dieser Basis zu „individuelle[r] und kollektive[r] Selbstbefähigung und Ermächtigung“ (von Unger 2014) der beteiligten Akteur_innen anzuregen. Alles in allem scheinen also sowohl der Ausgangspunkt als auch die Merkmale transdisziplinärer Forschung mit dem Projekt MFL vereinbar.

4 Züricher Verständnis von Transdisziplinarität Vilsmaier und Lang (2014) stellen fest, dass „es sich bei der Entstehung von transdisziplinärer Forschung um ein Phänomen handelt, das aus verschiedenen historischen Entwicklungsprozessen resultiert und sich in unterschiedlichen Forschungsfeldern entwickelt(e)“ (S. 94). Anschließend zeigen sie verschiedene Verständnisse von Transdisziplinarität auf. Als „Meilenstein“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 97) transdisziplinärer Forschung gilt für die Autor_innen eine Tagung in Zürich im Jahr 2000, an der 800 Vertreter_innen aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft aus 50 Ländern teilnahmen. Dort einigte man sich auf die „Zurich Definition of Transdisciplinarity“ (Klein et al. 2001).

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Im ersten Abschnitt der fünfteiligen Definition geht es um die Vorteile von Transdisziplinarität: „Why transdisciplinarity? The core idea of transdisciplinarity is that different academic disciplines working jointly with practitioners to solve a real-world problem. It can be applied in a great variety of fields. Transdisciplinary research is an additional type within the spectrum of research and coexists with traditional mono-disciplinary research. The science system is the primary knowledge system in society. Transdisciplinarity is a way of increasing its unrealized intellectual potential and, ultimately, its effectiveness.“ (Klein et al. 2001, S. 4)

Ein Abgleich des ersten Punktes mit den Eigenschaften des Forschungsprojekts MFL zeigt: Innerhalb des Projekts steht die Disziplin der Kommunikationswissenschaft im Vordergrund, an einzelnen Stellen (z. B. bei der Erstellung des Forschungsstandes und bei den Interviews mit Expert_innen) wird auf Wissen aus verwandten Disziplinen wie der Soziologie oder Politikwissenschaft zurückgegriffen. Erst im Verbund „ForDemocracy – Zukunft der Demokratie“ realisiert sich die Zusammenarbeit mit anderen „academic disciplines“. Hier wird mit über zwanzig Forscher_innen aus den Geistes- und Sozialwissenschaften gemeinsam zu Demokratietheorie und zur Organisation demokratischer Prozesse gearbeitet – also zu Fragestellungen, die den einzelnen Projekten übergeordnet sind. Innerhalb des Projekts MFL werden schließlich „practitioners“ einbezogen: Auf der Ebene der Labs geht es um die Perspektive der Mediennutzer_innen, bei den Interviews kommen Expert_innen aus dem Journalismus und der Politik sowie zivilgesellschaftliche Akteur_innen zu Wort. Das Ziel des Projekts ist es, eine konkrete Utopie für eine demokratische Zukunft des Mediensystems zu entwickeln. Damit stellt sich das Projekt der Aufgabe, „to solve a real-world problem“. Das Feld der Öffentlichkeit scheint gut geeignet, um es transdisziplinär zu bearbeiten. Der zweite Punkt der Definition bezieht sich auf das Verhältnis von transdisziplinärer zu anderer Forschung. Die Kommunikationswissenschaft wird häufig als „transdisziplinär“ beschrieben. Mit dem Begriff ist hier aber oft lediglich gemeint, dass es sich bei der Kommunikationswissenschaft um eine Wissenschaft handelt, in der über verschiedene akademische Disziplinen hinweg am Gegenstand der öffentlichen Kommunikation geforscht wird. So integriert die Kommunikationswissenschaft beispielsweise theoretische Ansätze aus der Soziologie, der Politikwissenschaft und der Psychologie. Mit dem hier im Fokus stehenden Begriff der Transdisziplinarität ist dagegen Forschung gemeint, die über die wissenschaftlichen Disziplinen hinaus geht. Zur Abgrenzung gegenüber ähnlich klingenden Konzepten verweisen Vilsmaier und Lang (2014, S. 98) auf die Erklärung von Jahn (2008):

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„Transdisziplinär können wir Forschungsprozesse nennen, die auf eine Erweiterung der disziplinären, multi- und interdisziplinären Formen einer problembezogenen Integration von Wissen und Methoden zielen: Im disziplinären Kontext findet Integration auf der Ebene (disziplinen-)intern definierter Forschungsfragen statt, im multidisziplinären auf der Ebene praktischer Ziele und Probleme, im interdisziplinären auf der Ebene wissenschaftlicher Fragestellungen im Überschneidungsbereich verschiedener Disziplinen und im transdisziplinären auf der Ebene des Überschneidungsbereichs dieser wissenschaftlichen Fragestellungen mit gesellschaftlichen Problemen. In transdisziplinären Forschungsprozessen werden gesellschaftliche Sachverhalte als lebensweltliche Problemlagen aufgegriffen und wissenschaftlich bearbeitet.“ (Hervorhebungen durch SCA).

Vilsmaier und Lang (2014) betonen wie auch die Autor_innen der „Zurich Definition of Transdisciplinarity“ (Klein et  al. 2001, S.  4), dass „transdisziplinäre Forschung nicht die Relevanz und Nützlichkeit von disziplinärer und interdisziplinärer Forschung infrage stellen [soll]. Es geht vielmehr darum, Erkenntnisse, die durch diese unterschiedlichen Forschungszugänge gewonnen werden, gezielt aufeinander zu beziehen und füreinander nutzbar zu machen.“ (S. 110). Diese Haltung lässt sich auch beim Projekt MFL ausmachen. Der hier gewählte Forschungszugang stellt die Bedürfnisse und Ideen der Mediennutzer_ innen in den Mittelpunkt. Zwar werden Expert_innen im Rahmen der Interviews gehört, doch die gemeinsame Entwicklung eines Bürger_innengutachtens obliegt den Mediennutzer_innen allein. Das so generierte Wissen kann anschließend der Kommunikationswissenschaft dienen. Im letzten Punkt wird die Bedeutung des Wissenschaftssystems zur Generierung von Wissen in der Gesellschaft hervorgehoben. Die Autor_innen argumentieren, dass mit Transdisziplinarität das intellektuelle Potenzial und die Wirksamkeit der Wissenschaft zum Tragen kommen. Dieser Anspruch wird bei MFL ebenfalls formuliert. Wissenschaft soll hier den Rahmen bieten, in dem aus der Perspektive verschiedener Akteur_innen neue Erkenntnisse gewonnen werden, die anschließend zur Verbesserung des Mediensystems angewandt werden können. Ob dies gelingt, kann sich erst mit dem Fortgang und dem Ende des Projekts zeigen. Im zweiten Teil der „Zurich Definition of Transdisciplinarity“ wird erklärt, wie Transdisziplinarität umgesetzt wird: „How is transdisciplinary done? Transdisciplinary projects are promising when they have clear goals and competent management to facilitate creativity and minimize friction among members of a team. Stakeholders must participate from the beginning and be kept interested and active over the entire course of a project. Mutual learning is the basic process of exchange, generation and integration of existing or newly-developing knowledge in different parts of science and society.“ (Klein et al. 2001, S. 4)

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Das „clear goal“ besteht in der Erstellung eines Bürger_innengutachtens mit konkreten Vorschlägen zur demokratischen Gestaltung des Wissenschaftssystems. Für die Erstellung geben die Forschungsfragen des Projekts den groben Rahmen vor. Wir wollen wissen: Was erwarten wir (die Gesellschaft) von Medienangeboten? Was verstehen wir unter gutem Journalismus? Was wollen wir uns das kosten lassen? Diese allgemeinen Fragen lassen sich dann noch spezifizieren, z. B. indem man sie auf einzelne Medien herunterbricht oder zwischen den Sphären der Produktion, Distribution und Konsumtion der Medien unterscheidet. Dies geschieht im Laufe des Forschungsprozesses gemeinsam mit den Teilnehmer_innen. Die verschiedenen „stakeholder“ sind in diesem Projekt allerdings nicht von Anfang an mit dabei und auch nicht während der gesamten Laufzeit des Projekts involviert. Das Kernteam setzt an bestimmten Stellen auf die Mitarbeit einzelner Akteur_innen. Den hier formulierten Anspruch an Transdisziplinarität erfüllt MFL also nicht. Allerdings weisen die Autor_innen im Aufsatz an späterer Stelle auf das zu diesem Vorgehen passende Konzept der „funktional dynamischen Kollaboration“ (vgl. Krütli et al. 2010; Vilsmaier und Lang 2014, S. 109) hin: „Grundsätzlich können bei der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis (aus der Sicht der WissenschaftlerInnen) diverse Grade der Intensität des Einbezugs von Akteuren unterschieden werden. Diese reichen von einer reinen Information der Akteure bis hin zu einem Arbeiten auf gleicher Augenhöhe bzw. dem ‚Empowerment‘ der Praxisakteure durch die WissenschaftlerInnen. Zu beachten ist, dass die unterschiedlichen Intensitäten des Einbezugs auch mit Verschiebungen der Machtkonstellationen sowie Verantwortlichkeiten für den Prozess und die Ergebnisse einhergehen (vgl. van Kerkhoff und Lebel 2006). Im Sinne der funktional dynamischen Kollaboration müssen aber nicht alle Akteure zu jedem Zeitpunkt in gleichem Maße in den Forschungsprozess einbezogen werden. Es gilt vielmehr für jeden Prozessschritt gemeinsam gezielt zu überlegen, wessen Einbezug in welcher Intensität sinnvoll, zielführend und insofern funktional ist.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 109).

Es bleibt hier unklar, inwiefern sich dieses Vorgehen dann nicht einfach mit disziplinärer Forschung deckt. Aber dieser Hinweis lässt sich als Aufforderung verstehen, regelmäßig – auch gemeinsam mit den Akteur_innen – zu reflektieren, an welchen Stellen sie zu welchem Ziel mehr oder weniger einbezogen werden wollen. Der letzte Punkt betrifft das gegenseitige Lernen. Das Projekt MFL bietet viel Raum für „exchange, generation and integration of existing or ­newly-developing knowledge“ zwischen all den unterschiedlichen Akteur_innen. Damit sind neben dem Bürger_innengutachten als formales Ergebnis vor allem die Prozesse der

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individuellen und kollektiven Beschäftigung mit den Forschungsfragen und Antworten darauf gemeint. Angebote zu „exchange und generation“ gibt es auf zahlreichen Ebenen: In den Labs diskutieren die Teilnehmer_innen persönlich miteinander; auf dem begleitenden Forschungsblog kann die gesamte Forschungstätigkeit verfolgt und kommentiert werden; auf Twitter werden zusätzlich relevante Informationen rund um das Mediensystem geteilt; sobald eine geeignete Plattform dafür gefunden ist, kann jenseits der anderen O ­ nline-Kanäle Blog, Twitter und YouTube online über das Projekt diskutiert werden; und die Interviews fanden zum Teil als öffentliche Vorlesungsreihe statt, zu der jede_r eingeladen war. Die Einzelinterviews und Podiumsdiskussionen wurden vom Kernteam moderiert, anschließend gab es Raum für Fragen aus dem Publikum. Da die Vorlesung aus organisatorischen Gründen an einem Vormittag unter der Woche stattfand, wurde sie außerdem in Bild und Ton festgehalten und anschließend auf YouTube zur Verfügung gestellt. Die Bewerbung der ­Live-Veranstaltungen erfolgte über Plakate, den Blog und Twitter sowie E-MailVerteiler des Lehrbereichs, Instituts und des Verbundes. Allerdings haben wir nicht überprüft, welche Menschen letztlich an diesem Angebot teilgenommen haben. Neben dem Austausch über Teilaspekte des Projekts in Form von Vorträgen auf wissenschaftlichen Konferenzen wurde außerdem z. B. eine FishbowlDiskussion im Rahmen der Konferenz „Great Transformation: Die Zukunft moderner Gesellschaften“ veranstaltet. Die „integration“ all diesen Wissens, das in den unterschiedlichen Foren von solch verschiedenen Akteuren in recht vielfältiger Art generiert wird, stellt eine besondere Herausforderung dieses Projekts dar. Bisher scheint es, als ob das Kernteam alleine die Synthese der verschiedenen Erkenntnisse vollführen muss. Eine Software zur Analyse qualitativer Daten aus verschiedenen Quellen könnte eventuell hilfreich sein, um den Überblick über die gesammelten Ergebnisse zu behalten und diese nachvollziehbar zu systematisieren. Anschließend müssen die Ergebnisse den unterschiedlichen Akteur_innen in einer für sie verständlichen Sprache kommuniziert werden. Während des gesamten Forschungsprozesses sollen „different parts“ der Gesellschaft einbezogen werden. Dieses Projekt hat einen demokratischen Anspruch. Daher sollen die in der jetzigen Gesellschaft wirkenden Ausschlussmechanismen zumindest abgemildert werden. Dafür sollen z. B. die gezielte Ansprache marginalisierter Gruppen für die Labs und die Interviews sorgen, sowie die Fortbildung zu rassismuskritischem Veranstalten und gegebenenfalls zu gendersensiblem Verhalten oder zu Critical Whiteness innerhalb des Verbunds. Es gibt allerdings noch viele Lücken im Projekt im Bezug auf Inklusion. So ist z. B. das Online-Angebot nicht barrierefrei. Die Vertonung der Blogtexte, die deutsch- und anderssprachige Untertitelung,

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die Übersetzung von Filmen in Gebärden oder von Texten in Leichte Sprache wären Möglichkeiten, mehr Gruppen der Gesellschaft in dieses Projekt miteinzubeziehen. Schon Vilsmaier und Lang (2014) weisen darauf hin, dass transdisziplinäre Forschung meist durch den Mangel an Ressourcen beschränkt wird. Unter Ressourcen verstehen sie sowohl Geld also auch „Zeit, Energie und Geduld aller Beteiligten“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 110). Schon bei der Konzeption des Projekts und damit bei der Bewerbung um Fördergelder muss der finanzielle und personelle Aufwand, den erfolgreiche Bemühungen um Vielfalt bedeuten, mitgedacht werden, damit ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Forschungsprozess allen Teilen der Gesellschaft zugänglich zu machen. Hilfreich wäre dabei ein aktueller Leitfaden für inklusive Forschung, der sowohl die verschiedenen Aspekte auflistet, die einzubeziehen sind, als auch voraussichtliche Kosten und mögliche Fördertöpfe dafür nennt. Solch ein Instrument, entwickelt von Wohlfahrtsverbänden in Zusammenarbeit mit in inklusiver Forschung erfahrenen Menschen, würde damit weniger erfahrenen Wissenschaftler_ innen den Einstieg in inklusive Forschung erleichtern. Die Autor_innen weisen im Hinblick auf die Ressourcen außerdem darauf hin: „Die noch größeren Herausforderungen liegen jedoch im Umgang mit dem Fremden und Befremdlichen, dem Ungewohnten und Unberechenbaren, das sich in transdisziplinären Projekten zur Geltung bringt.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 110). In diesem Projekt besteht das Kernteam mit Michael Meyen aus einem älteren Mann mit DDR-Prägung und mit Sevda Can Arslan aus einer jüngeren Frau mit Migrationshintergrund. Diese Kombination vereinfacht den Umgang mit den genannten Herausforderungen, weil das Team hinsichtlich Alter, Geschlecht und Herkunft divers ist. So bestehen gegenüber bestimmten Gruppen weniger Empfindungen von „Fremdheit“ und ein besserer Zugang zu bestimmten Feldern. Außerdem sorgen die Biografien des Kernteams für zwei unterschiedliche Perspektiven. Das gilt bei transdisziplinärer Forschung als Vorteil. In vielen anderen Punkten, z. B. Grad der formalen Bildung und Einkommen, ähnelt sich das Kernteam – und der gesamte Forschungsverbund – allerdings sehr stark. Um den Grad der Transdisziplinarität zu erhöhen, ist darauf zu achten, im weiteren Forschungsprozess bezogen auf diese Merkmale für mehr Vielfalt bei den Akteur_innen zu sorgen.

5 „Wissen“ im integrativen Verständnis von Transdiziplinarität Die Autor_innen behandeln außerdem den im integrativen Verständnis von Transdiziplinarität zentralen Begriff des „Wissens“. In transdisziplinärer Forschung steht die „Einbeziehung jeden Wissens und Verhandlung von Werten“ im Vordergrund:

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„Nicht nur wissenschaftlich generierte Erkenntnis sollte im Forschungsprozess Berücksichtigung finden, sondern auch Wissensformen, die in beruflichen Kontexten erworben oder im alltäglichen Daseinsvollzug als Erfahrungswissen angeeignet werden […]. Neben Wissen und Erfahrungen werden zudem Werte, Interessen und Gewohnheiten in der Forschung berücksichtigt und in transdisziplinären Prozessen verhandelt.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 97).

Sowohl der Anspruch, auch außerwissenschaftliches Wissen miteinzubeziehen, als auch die zwei Begründungen dafür entsprechen komplett dem Projekt MFL. Neben diesen Wissensformen erläutern die Autor_innen die Unterscheidung von drei verschiedenen Arten des Wissens: Systemwissen, Zielwissen und Transformationswissen. Diese Unterscheidung dient „häufig als ein Strukturierungselement des Forschungsprozesses und der daraus resultierenden Erkenntnisse“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 100). Beim Systemwissen geht es um „Aspekte der Genese und möglichen Entwicklungen des Problems und seinen lebensweltlichen Interpretationen“, beim Zielwissen um „Aspekte der Bestimmung und Begründung von Veränderungsbedarf und erwünschten Zielen sowie besseren Praktiken“ und beim „Transformationswissen“ um „Aspekte der technischen, sozialen, rechtlichen, kulturellen u. a. Handlungsmöglichkeiten zur Veränderung bestehender und Einführung erwünschter Praktiken“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 100). In Abb. 1 werden die verschiedenen Arten des Wissens und ihre wechselseitige Abhängigkeit genauer beschrieben.

Abb. 1   Interdependenz der drei Wissensarten. (Nach Pohl und Hirsch Hadorn 2006, S. 35, Vilsmaier und Lang 2014, S. 100, Abb. 3.1)

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Diese Unterscheidung in verschiedene Arten des Wissens kann auch für das Projekt MFL hilfreich sein. Interessanterweise decken sich die drei Wissensformen mit dem Vorgehen im ersten MFL: Bei der verwendeten Methode der Zukunftswerkstatt wird ein Dreischritt von der Kritik über die Utopie zur Praxis durchgeführt. Die Ergebnisse der Kritik-Phase lassen sich als Systemwissen verstehen, die Ergebnisse der Utopie-Phase beim Zielwissen einordnen und die Ergebnisse der Praxis-Phase beim Transformationswissen. Doch die Unterscheidung lässt sich nicht nur zur Kategorisierung der bereits erhobenen Daten verwenden. Auch während der Erhebungsphase können sie die Nachfrage anleiten. Da die Methode der Zukunftswerkstatt laut Bergmann et al. (2010) im Rahmen transdisziplinärer Forschung Verwendung findet (S. 276), kann hier an bestehende Literatur angeknüpft werden. Zum Schluss stellen die Autor_innen verschiedene Phasen transdisziplinärer Forschung vor. Transdisziplinarität bringt mit sich, dass während des Forschungsprozesses immer wieder zu früheren Schritten zurückgegangen werden muss wegen „der spezifischen, mit vielerlei Unsicherheiten behafteten Forschungskonstellationen“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 101). Transdisziplinäre Forscher_innen durchlaufen die gleich beschriebenen drei Schritte also mehrmals, teilweise nicht nacheinander, sondern eher „ineinander“ (Vilsmaier und Lang et al. (2012, S. 31). Die folgenden drei Schritte (vgl. Abb. 2) entsprechen den von den Autor_innen dargestellten drei Phasen (A), (B) und (C) bei Lang et al. (2012, S. 31) bzw. den Punkten (1), (2) und (3) beim Modell des Instituts für Sozial-Ökologische Forschung (ISOE) (Jahn 2008, S. 31). Für die Phase der „Problemidentifikation und -strukturierung“ gilt: Zunächst ist es wichtig, „die ‚richtigen‘ und legitimierten Akteure in den Forschungsprozess mit einzubeziehen“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 102). Das Kernteam des Projekts besteht aus zwei Kommunikationswissenschaftler_innen. Darüber hinaus werden an verschiedenen Stellen andere Akteur_innen im Forschungsprozess miteinbezogen. Die Auswahl der genauen Gruppen, aus denen die Akteur_innen kommen, sowie der innerhalb dieser Gruppen schließlich ausgesuchten Personen muss noch begründet und transparent gemacht werden. Hierbei ist zu beachten, dass das Sampling auch vom Wissen und den Bedürfnissen der beteiligten Akteur_innen geprägt wird. So kann in einem Lab beispielsweise der Bedarf nach mehr Informationen zu einem Thema formuliert werden, was dann in einem Interview mit einer Expertin zu diesem Thema mündet. Die Autor_ innen selbst weisen schon darauf hin, dass „einige Schritte auch sehr schwer vorhersehbar sind, wie zum Beispiel die Entwicklung eines transdisziplinären Forschungsteams“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 102). Das Wissen über diese Schwierigkeit ermöglicht hoffentlich einen gelasseneren Umgang mit den Herausforderungen, die hierbei warten.

Transdisziplinäre Forschung …

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Abb. 2   Prinzipien und Leitfragen zur Gestaltung transdisziplinärer Forschung in den Nachhaltigkeitswissenschaften (Lang et al. 2012, S. 31) (Vilsmaier und Lang 2014, S. 104)

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Dann geht es darum, eine gemeinsame Problemdefinition zu entwickeln. Im Projekt gehen wir zunächst davon aus, dass sich traditionelle Medien aktuell in einer Krise befinden: Sie haben an Reichweite und Finanzierung sowie an Akzeptanz und Legitimation verloren, ihr Informationsmonopol und ihre Deutungshoheit sind gebrochen. Gleichzeitig sprechen wir den Medien wichtige demokratische Funktionen zu: Sie stellen Öffentlichkeit her, vermitteln zwischen Politik und Bürger_innen, ermöglichen Partizipation und kontrollieren Herrschende. Der Forschungsbedarf ergibt sich wiederum daraus, dass sich die Kommunikationswissenschaft aktuell eher auf individuelle Medienwirkungen konzentriert und Medienstrukturen sowie normative Fragen eher am Rande behandelt. Diese Problemdefinition muss im Laufe des Forschungsprozesses immer wieder hinterfragt, besprochen und angepasst werden. So lässt sich die Beschreibung der Krise der Medien sicher noch von der Perspektive der Medien selbst, die um den Verlust ihrer Vormachtstellung fürchten, weg und hin zu den Bedürfnissen der Mediennutzer_innen führen. In diesem Projekt soll es schließlich um die Verbesserung der demokratischen Funktionen der Medien gehen, das Gemeinwohl steht im Vordergrund. Der transdisziplinäre Auftrag an die Labs und die Interviews lautet in jedem Fall, die Problemdefinition immer wieder zu thematisieren und sich darüber zu einigen. Der anschließend geforderte gemeinsame Forschungsrahmen baut im Projekt zunächst auf die bestehende Forschung auf. Das Projekt schließt an die Medienreformdebatte zu Finanzierungsmodellen, journalistischen Berufsnormen, Kriterien für Qualität von Journalismus und rechtlichen Rahmenbedingungen des Mediensystems an. Die bereits formulierten Forschungsfragen zur Zukunft der Medien werden im Laufe des Projekts weiter ausdifferenziert. Nicht auszuschließen ist außerdem, dass sich sowohl Forschungsrahmen als auch -fragen mit den involvierten Akteur_innen noch verschieben oder erweitern. Eine große Herausforderung scheint hier darin zu bestehen, bei der Offenheit für Anpassung den Fokus des Projekts beizubehalten und sich nicht zu „verzetteln“. „Erfolgskriterien“ wurden für das Projekt bisher keine formuliert. Hier steht zunächst ein weiterer Blick in die transdisziplinäre Literatur an, um zu verstehen, was damit genau gemeint ist. Methodisch hat das Kernteam schon das grobe Vorgehen festgelegt (Labs, Interviews, Planungszelle/Bürger_innengutachten). Anpassungen sind hier – wohl in Absprache mit den Lab-Veranstalter_innen – vor allem bei den im Lab verwendeten Methoden möglich (bisher angewandt: Zukunftswerkstatt und Fishbowl). In der nächsten Phase geht es um „Gemeinsames Generieren von lösungsorientiertem und anschlussfähigem Wissen“: Hierfür müssen zunächst die Rollen der Akteur_innen und damit die Erwartungen an sie und von ihnen gemeinsam geklärt werden. Den ersten Schritt dafür bildete ein Workshop zum „Umgang

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mit Praxispartner_innen“ im Forschungsverbund. Dort wurde unter anderem der hier behandelte Text von Vilsmaier und Lang (2014) diskutiert. Anschließend gab es einen weiteren Workshop zu partizipativer Forschung. Die Erkenntnisse aus den Workshops und der dazugehörigen Literatur sollen in einer zusammenfassenden Tabelle münden, die einen Überblick gibt über die möglichen Rollen aller am Projekt beteiligten Akteur_innen. Diese Übersicht wird dann auf dem Forschungsblog zur Verfügung gestellt und als Grundlage für die Absprachen mit den Akteur_innen genutzt. Dabei kann es sich, dem transdisziplinären Vorgehen entsprechend, immer nur um eine vorläufige und in der Interaktion anzupassende Rollenbestimmung handeln. Anschließend geht es an die „eigentliche Untersuchung der Forschungsfragen“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 102). Die Autor_innen weisen dabei auf folgende Schwierigkeit hin: „Eine große Herausforderung besteht darin, Wissen, das auf unterschiedliche Weise entstanden ist (z. B. durch wissenschaftliche Forschung oder die alltägliche Lebenspraxis), zusammenzuführen. Während die wissenschaftliche Wissensgenerierung durch etablierte Vorgehensweisen (z. B. Theoriebezug, standardisierte Methoden) eine Absicherung erfährt, ist es um Wissen, das außerhalb der Wissenschaft generiert wird, ganz anders bestellt. Wie können wir feststellen, ob ein solches (vermeintliches) Wissen nicht bloße Meinung ist, die lediglich von einer Person, einem Unternehmen, einer politischen Partei vorgetragen wird? An dieser Stelle trifft die transdisziplinäre Forschung an die Grenzen der Überprüfbarkeit.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 102).

Sie schlagen vor: „Daher ist es wichtig, die unterschiedlichen Formen von Wissen nicht einfach zu ‚vermischen‘, sondern systematisch aufeinander zu beziehen. Das kann zum Beispiel erfolgen, indem Problembeschreibungen und -erklärungen aus unterschiedlichen, nichtwissenschaftlichen Erfahrungskontexten (oft auch als lebensweltliche Darstellungen bzw. Interpretationen bezeichnet) jenen wissenschaftlicher Herkunft gegenübergestellt und aufeinander bezogen werden. Dabei kann sich zum Beispiel herausstellen, dass in (inter) disziplinären Forschungsperspektiven bestimmte Facetten bisher außerhalb des Betrachtungshorizontes lagen und daher in die Untersuchungen einbezogen werden müssen. Es kann sich aber auch umgekehrt (vermeintliches) Wissen als bloße Meinung entpuppen, die nicht belastbar ist.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 102).

Diese Hinweise erscheinen für das Projekt besonders wichtig. Da in diesem Projekt aus verschiedenen Positionen heraus, in verschiedenen Settings und über verschiedene Kanäle hinweg Wissen generiert wird, ist ein besonders reflektierter

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Umgang damit wichtig. So ist es z. B. denkbar, dass zu einem Kritik-Punkt, der von Mediennutzer_innen im Lab geäußert wird, im Anschluss an das Lab wissenschaftliche Literatur herangezogen und dazu in Bezug gesetzt wird. Dabei kann sich z. B. zeigen, dass der Kritikpunkt auch empirisch unterstützt werden kann oder aber eben widerlegt werden muss. Ebenso ist es denkbar, dass ein ­Online-Kommentar eine Perspektive einbringt, der weder in den Labs noch in den Interviews bisher aufgegriffen wurde. Bei beiden Szenarien stellt sich die Frage, ob, inwiefern und wie diese zwei Wissensformen schließlich nebeneinander existieren oder miteinander in Verhandlung gebracht werden können. Außerdem ist noch zu entscheiden, ob die Synthese allen Wissens vom Kernteam alleine geleistet werden muss oder ob zum Beispiel bei der Erstellung der Bürgergutachten zunächst in einem Programmteil die Sichtung und Systematisierung des bisher erhobenen Wissens vorgesehen ist. Über das Projekt hinaus stellt sich außerdem die Frage, wie das noch größere Wissen der verschiedenen Forschungsprojekte zu Demokratie innerhalb des Verbunds synthetisiert werden kann. Die Autor_innen geben zu, dass es sich bei diesem Punkt um eine große Schwierigkeit transdisziplinärer Forschung handelt: „Nach wie vor besteht großer Forschungsbedarf mit Blick auf die Integration von Wissen und Erfahrungen, die sich hinsichtlich ihrer Genese unterscheiden, und die Berücksichtigung von Normen und Werten stellt gerade mit Blick auf die Generalisierbarkeit von Ergebnissen transdisziplinärer Forschung eine große Herausforderung dar.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 110). Als grundlegenden praktischen Ratschlag für den Umgang mit dieser Form der Wissensgenerierung formulieren die Autor_innen den Anspruch, diese so transparent und damit so nachvollziehbar wie möglich zu machen. Sie halten fest: „[Transdisziplinäre Forschung] eröffnet Raum für Unvorhersehbares und gibt damit ein Stück weit die Kontrolle ab, die ein exaktes Vorgehen und eine entsprechende Rekonstruktion ermöglichen würde. Daher ist es von besonderer Bedeutung, den Forschungsprozess gut zu planen und transparent und genau zu dokumentieren. Das gilt im Besonderen für jene Facetten des Forschungsprozesses, die auf den ersten Blick als Peripherie der Forschung erscheinen, wie z. B. das Entstehen von Kontakten zu potenziellen ProjektpartnerInnen, öffentliche/politische Diskurse, die den transdisziplinären Prozess begleiten, oder der Verlauf von kooperativen Arbeitstreffen transdisziplinärer Teams.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 110).

Vor allem über den Forschungsblog soll die Nachvollziehbarkeit und Transparenz des Forschungsprozesses gewährleistet werden. Dort dokumentiert das Kernteam und bei Bedarf weitere Akteur_innen über die gesamte Projektlaufzeit hinweg die verschiedenen Schritte ihrer Forschung.

Transdisziplinäre Forschung …

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In der nächsten Phase steht die „Re-Integration und Anwendung des generierten Wissens“ im Vordergrund: „In dieser Phase geht es darum, das entwickelte Wissen sowohl in die gesellschaftliche als auch in die wissenschaftliche Praxis zu überführen.“ Für die gesellschaftliche Praxis kann das „bedeuten, dass ein konkreter Problemlösungsansatz, der in einem transdisziplinären Prozess erarbeitet wird, in der Folge auch zur Umsetzung kommt.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 102) Die Autor_innen meinen aber, „selbst wenn das in der konkreten Situation nicht in direkter Form erfolgt, so kann durch einen transdisziplinären Prozess ein Umdenken stattfinden, das Entwicklungen beeinflusst.“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 102 f.). Im Projekt ist vorgesehen, dass sich dieser „konkrete Lösungsansatz“ im Bürger_innengutachten manifestiert. Dieses wird in einem Medienzukunftsgipfel der Öffentlichkeit präsentiert. Es bleibt allerdings offen, inwiefern die hier vorgeschlagenen Lösungen umgesetzt werden. Denkbar wäre aber, dass sich jenseits des Bürger_innengutachtens während der Projektlaufzeit aus den Labs heraus selbsttätige Gruppen organisieren. Sie setzen bestimmte Lösungen schon selbst direkt um, anstatt das Stellvertreter_innen aus Politik oder Journalismus zu überlassen. Daneben gibt es auch die Möglichkeit, dass Akteur_innen durch Debatten in den Labs zum Umdenken kommen. Wie im Projektantrag bereits formuliert, kann der Nutzen für die Gesellschaft darin liegen, dass das Medienpublikum aus der Zuschauer_innenrolle heraustritt und aktiv wird, sehr wahrscheinlich aber die Medienkompetenz der Beteiligten erhöht wird. Ob auch diese möglichen Veränderungsprozesse erhoben und dann bewertet werden sollen, darüber steht die Entscheidung für dieses Projekt noch aus. Für die Medien selbst bietet das Projekt den Raum für Gespräche mit Medienkritiker_innen, Bezugspunkte für Debatten um Funktion des Journalismus und eigenes Rollenverständnis sowie Handlungsempfehlungen für diejenigen, die alternative Angebote entwickeln wollen. Für die wissenschaftliche Praxis „kann durch derartige kooperative Forschungsprozesse ein Zugewinn an Wissen und Verstehen erfolgen, der in die scientific community eingespeist und dort diskutiert wird (durch wissenschaftliche Publikationen) und seine Wirkung auf diese Weise entfaltet. Eine wichtige Frage ist hierbei, inwieweit sich fallstudienbasierte und somit stark kontextualisierte Erkenntnisse generalisieren und auf andere Fälle bzw. in andere Kontexte übertragen lassen“ (Vilsmaier und Lang 2014, S. 102 f.).

Für die Reintegration des Wissens in die Wissenschaft sind die dort üblichen Formen von Vorträgen und Aufsätzen vorgesehen. Darin soll das bei diesem Projekt gewonnene inhaltliche und methodische Wissen für die Kommunikationswissenschaft angemessen reflektiert und aufbereitet werden. Das inhaltliche

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Wissen betrifft das Wissen und die Erfahrungen der Teilnehmer_innen, methodisch soll die qualitative empirische Sozialforschung, v. a. die partizipative bzw. transdisziplinäre Forschung, in diesem Projekt weiterentwickelt werden. Die für die gesellschaftliche Praxis zielorientierten Produkte sind neben dem Bürgergutachten am Ende vor allem öffentliche Veranstaltungen, Blog, Twitter und YouTube, die den gesamten Forschungsprozess abbilden sollen. Im Rahmen des Forschungsverbunds stehen neben dem Blog des Gesamtverbunds verschiedene Überlegungen im Raum. So wird es vielleicht eine Demokratie-Messe mit den Ergebnissen der Projekte und des Verbunds geben. Die Bewertung der Auswirkungen des Projekts wird vermutlich immer wieder im Laufe des Projekts erfolgen. Da sich der Medienzukunftsgipfel mit der Vorstellung des Bürgergutachtens allerdings am Ende der Projektlaufzeit befindet, wird eine Bewertung der Folgen innerhalb dieses Projekts nicht zu leisten sein. Für alle drei Phasen gelten außerdem die in Abb. 3 dargestellten generellen Prinzipien. Innerhalb des Projekts wird dem Anspruch, regelmäßig die Forschungsarchitektur zu bewerten und anzupassen, mit Treffen des Kernteams sichergestellt. Gelegentlich wird es Feedback von den Verbundpartner_innen geben. Eine darüber hinausgehende Bewertung ist momentan nicht vorgesehen. Allerdings wird während des gesamten Forschungsprozesses immer wieder Rücksprache

Abb. 3   Prinzipien und Leitfragen zur Gestaltung transdisziplinärer Forschung in den Nachhaltigkeitswissenschaften (Lang et al. 2012, S. 32) (Vilsmaier und Lang 2014, S. 105)

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mit verschiedenen Akteur_innen gehalten; außerdem werden Rückmeldungen z. B. von Online-Kommentator_innen miteinbezogen. Zur Entschärfung von Konfliktsituationen wurden im Projekt bisher keine Maßnahmen getroffen. Auch die Maßnahmen zur Verstärkung der Partizipationsmöglichkeiten (besonders marginalisierter Gruppen) müssen noch verbessert werden. Das Modell eines idealtypischen transdisziplinären Forschungsprozesses (s. Abb. 4) weist den drei Phasen ihre jeweilige Position im Forschungsprozess zu. Außerdem werden hier alle möglichen Akteur_innen aufgeführt, mögliche Probleme und mögliche Ergebnisse genannt. Das Forschungsdesign des Projekts MFL lässt sich hier gut integrieren. Bei den Ergebnissen für die gesellschaftliche Praxis soll es v. a. um Maßnahmen gehen, während beim wissenschaftlichen Diskurs die Industrieforschung ausgelassen wird. Ansonsten entsprechen die in der Abbildung genannten Punkte verschiedenen Teilbereichen des Projekts. Alles in allem ergibt die Reflexion des Projekts MFL vor dem Hintergrund der von Vilsmaier und Lang (2014) beschriebenen Transdisziplinarität, dass sich der Aufbau des Projekts in weiten Teilen mit transdisziplinären Ansprüchen deckt. Im Rahmen der zeitlichen Möglichkeiten des Kernteams und des finanziellen Rahmens des Projekts sollen daher die hilfreichen Hinweise der Autor_innen hier

Abb. 4   Modell eines idealtypischen transdisziplinären Forschungsprozesses: Das ISOEModell (Jahn 2008, S. 31) (Vilsmaier und Lang 2014, S. 105)

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umgesetzt werden. Die Veröffentlichung dieser detaillierten Reflexion von Transdisziplinarität an einem konkreten und aktuell laufenden Forschungsprojekt in diesem Tagungsband ermöglicht anderen Forscher_innen hoffentlich einen guten Einblick in die Praxis transdisziplinärer Wissenschaft.

Literatur Bergmann, Matthias, Thomas Jahn, Tobias Knobloch, Wolfgang Krohn, Christian Pohl, und Engelbert Schramm, Hrsg. 2010. Methoden transdisziplinärer Forschung. Ein Überblick mit Anwendungsbeispielen. Frankfurt a. M.: Campus. Gibbons, Michael, Camille Limoges, Helga Nowotny, Simon Schwartzman, Peter Scott, und Martin Trow, Hrsg. 1994. The new production of knowledge: The dynamics of science and research in contemporary societies. London: Sage. Jahn, Thomas. 2008. Transdisziplinarität in der Forschungspraxis. In Transdisziplinäre Forschung. Integrative Forschungsprozesse verstehen und bewerten, Hrsg. Matthias Bergmann und Engelbert Schramm, 21–38. Frankfurt a. M.: Campus. Kerkhoff, Lorrae van; Lebel, Louis (2006): Linking knowledge and action for sustainable development. In: Annual Review of Environment and Resources 31 (1), S. 445–477. https://doi.org/10.1146/annurev.energy.31.102405.170850. Klein, Julie Thompson, Rudolf Häberli, Roland W. Scholz, Walter Grossenbacher-Mansuy, Alain Bill, und Myrtha Welti. 2001. Transdisciplinarity: Joint Problem Solving among Science, Technology, and Society: An Effective Way for Managing Complexity. Basel: Birkhäuser. Krütli, Pius, M. Stauffacher, T. Flüeler, und R. W. Scholz. 2010. Functional‐dynamic public participation in technological decision‐making: site selection processes of nuclear waste repositories. In: Journal of Risk Research 13 (7): 861–875. https://doi. org/10.1080/13669871003703252. Lang, D.J., A. Wiek, M. Bergmann, M. Stauffacher, P. Martens, P. Moll, M. Swilling, und C.J. Thomas. 2012. Transdisciplinary research in sustainability science: practice, principles, and challenges. Sustainability Science, 7 (1), S. 25–43 Meyen, Michael, M. Löblich, S. Pfaff-Rüdiger, und C. Riesmeyer. 2011. Qualitative Forschung in der Kommunikationswissenschaft: Eine praxisorientierte Einführung. Wiesbaden: VS. Pohl, Christian, und Gertrude Hirsch Hadorn. 2006. Gestaltungsprinzipien für die transdisziplinäre Forschung: Ein Beitrag des td-net. München: Oekom-Verlag. Unger, Hella von. 2014. Partizipative Forschung: Einführung in die Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer. van Kerkhoff, Lorrae, und L. Lebel. 2006. Linking Knowledge and Action for Sustainable Development. Annual Review of Environment and Resources 31 (1): 445–477. https:// doi.org/10.1146/annurev.energy.31.102405.170850. Vilsmaier, Ulli, J. D. Lang. 2014. Transdisziplinäre Forschung. In: Harald Heinrichs und Gerd Michelsen (Hrsg.): Nachhaltigkeitswissenschaften, Bd. 104. Heidelberg: Springer, S. 87–113.

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Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). 2011. Welt im Wandel. Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation. Zusammenfassung für Entscheidungsträger. Berlin: WBGU.

Arslan, Sevda Can,  Dr.in phil, Studium der Medien- und Kommunikationswissenschaft, Ethik und Kulturphilosophie und Geschichte (Uni Mannheim). Mitarbeiterin im Projekt „Media Future Lab“ (https://medialabs.hypotheses.org/) im Forschungsverbund „ForDemocracy“. Mitgründerin und Mitglied des Netzwerks Kritische Kommunikationswissenschaft (www.krikowi.net).

Interaktive Formate zur gesellschaftlichen Teilhabe von Seniorinnen und Senioren am Beispiel sozialverantwortlicher Technikgestaltung Tamar Beruchashvili, Elisabeth Wiesnet und Yves Jeanrenaud

Zusammenfassung

Unser Projekt „TP3: Technikgestaltung“ ist Bestandteil des bayernweiten Forschungsverbandes ForGenderCare (www.forgendercare.de). Die Herausforderungen bestehen in den durch demografischen Wandel veränderten Lebenssituationen und -bedarfen älterer Menschen und in den Chancen einer partizipativen Technikentwicklung, hier zielgruppenorientierte Lösungen anzubieten. „Nachhaltiges Wirtschaften“ lässt sich durch sozialverantwortliche Technikentwicklung ergänzen und erweitern. Wir beziehen uns auf Trontos (Caring Democracy. Markets, Equality, and Justice, New York University Press, New York and London, 2013) Begriff der „Personal Responsibility“ und auf ein Verständnis von Care als Achtsamkeit (Brückner, Care und Migration. Die Ent-Sorgung menschlicher Reproduktionsarbeit entlang von Geschlechterund Armutsgrenzen, Verlag Barbara Budrich, Opladen, 2010). Diese haben wir

T. Beruchashvili (*) · E. Wiesnet · Y. Jeanrenaud  München, Deutschland E-Mail: [email protected] E. Wiesnet E-Mail: [email protected] Y. Jeanrenaud E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_13

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als Grundlage für unseren praxisorientierten, innovativen Ansatz New Care Spaces herangezogen. Zugleich zeigt sich sozialverantwortliche Technikentwicklung (Rommes, Technologies of inclusion, Tapir Academic Press, 2011; Björgvinsson, Participatory design and democratizing innovation. Proceedings of the 11th Biennial participatory design 4 conference, ACM Library, 2010; Beruchashvili, Mensch und Computer 2018 – Workshopband, Gesellschaft für Informatik e. V., Bonn, 2018) ebenso als soziale Innovation, da sie prozesshaften und übergreifenden Charakter aufweist, der Unternehmen und mit ihrer Umwelt verbindet (Stiess, Soziale Innovation und Nachhaltigkeit, Springer Fachmedien, Wiesbaden, 2013). Darüber hinaus entwickelten wir ein experimentelles und interdisziplinäres Workshop-Design. Wir praktizierten direkte Nutzer_innen-Integration unter besonderer Berücksichtigung von gender- und diversityrelevanten Faktoren. Als Methoden verwendeten wir teilnehmende Beobachtung (Passaro, Anthropological Locations: Boundaries and Grounds of a Field Science, University of California Press, Berkeley, 1997) und Zusammenfassende Inhaltsanalyse (Mayring, Qualitative Inhaltsanalyse. Grundlagen und Techniken, Beltz Pädagogik, Weinheim, 2015). Dadurch lässt sich die transferierende Rolle von Sozialwissenschaftler_innen verdeutlichen. Diesen Ansatz schlagen wir Unternehmen, Non-Profit Organisationen und dem öffentlichen Dienst als Innovationsmethode vor, um Skepsis zwischen Unternehmern und Anspruchsgruppen (inkl. Marginalisierten) aufzulösen (Rommes, Technologies of inclusion, Tapir Academic Press, 2011; Jeanrenaud et al., Study decisions, entrance and academic success of Women and Men in STEM. Gender&IT’18, Association for Computing Machinery (ACM), New York, S. 157–160, 2018) Dadurch ändern sich die Organisationskulturen, und externe Kooperationen eröffnen sich. Jedes Gesellschaftsmitglied kann so an „nachhaltigem Leben und Wirtschaften“ mitgestalten.

1 Einleitung „Ich wünsche mir Selbstständigkeit und Autonomie durch Technik, aber ich habe nicht den Traum, dass mir ein Roboter den Kaffee ans Bett bringt.“ Diese Aussage stammt aus einem Interview mit einem Senior für das Teilprojekt „Die Rolle einer gender- und diversityorientierten Technikentwicklung bei der Teilhabe von Seniorinnen und Senioren im demografischen Wandel“ des bayerischen Forschungsverbundes ForGenderCare1. Man kann einerseits

1www.forgendercare.de.

Interaktive Formate zur gesellschaftlichen Teilhabe …

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die Ambivalenz dieser Aussage als nicht zugängliche Black Box verstehen. Andererseits lässt sie sich aber als Herausforderung und Chance zu neuartigen Lösungsansätzen für ein Empowerment im Alter mit Hilfe von Technik begreifen. Der folgende Artikel möchte einen Lösungsweg zum Umgang mit dieser Ambivalenz aufzeigen und diesen als soziale Innovation (Howaldt und Jacobsen 2010) definieren. Nach einer knappen Einführung in das Teilprojekt2 erläutern wir die sozio-politische Basis des Projekts. Insbesondere gehen wir auf unser Verständnis von Care, Teilhabe, demografischem Wandel und Technikgestaltung und -entwicklung ein und positionieren dieses in der aktuellen wissenschaftlichen Diskussion. Daraufhin möchten wir auf unser Forschungsvorgehen mittels der innovativen und partizipativen Methode von Innovationsworkshops eingehen. Ein wichtiges Ergebnis unseres Forschungsprojekts ist dabei unser Ansatz „New Care Spaces“. Diesen stellen wir anschließend dar und fassen ihn als soziale Innovation. Auf die Besonderheit unseres sozialwissenschaftlichen Arbeitens zum Erschließen dieses Ansatzes gehen wir gesondert ein. Eine Ergebnisdiskussion soll diesen Beitrag abschließen.

2 Einführung in das Projekt „Technikentwicklung“ vom Forschungsverbund ForGenderCare Senior_innen kommt in zunehmendem Maße eine wichtige Rolle im öffentlichen Leben und der gesellschaftlichen Mitgestaltung zu, die sie bereits heute unterschiedlich aktiv annehmen und einfordern. Geprüfte Formate für geeignete partizipative Prozesse gibt es bislang allerdings nicht. Ziel des Teilprojekts „Die Rolle einer gender- und diversityorientierten Technikentwicklung bei der Teilhabe von Seniorinnen und Senioren im demografischen Wandel“ von ForGenderCare war es deshalb, geeignete Kommunikations- und Partizipationsmodelle zu entwickeln, um Senior_innen mit unterschiedlichen Anforderungen und Lebenswirklichkeiten an der Entwicklung gesellschaftlicher Veränderung teilhaben zu lassen. Konkret entwickelten wir ein Teilhabemodell am Beispiel der ältere Menschen mittelbar und unmittelbar betreffenden Technikentwicklung.

2Projektlaufzeit

01.04.2015 bis 31.12.2019. Projektleitung von April 2015 bis August 2018: Prof. Dr. Susanne Ihsen, Gender Studies in den Ingenieurwissenschaften, Technische Universität München. Projektmitarbeit: April 2015 bis September 2016: Dr. Yves Jeanrenaud, ab August 2018 Projektleitung, Oktober 2016 bis Oktober 2017: Nina Brötzmann, Februar 2018 bis Dezember 2019: Tamar Beruchashvili, Mai 2015 bis Dezember 2019: Elisabeth Wiesnet.

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Das Projekt ist Bestandteil des bayernweiten Forschungsverbundes ForGenderCare. Die Herausforderungen bestehen in den durch demografischen Wandel veränderten Lebenssituationen und -bedarfen älterer Menschen und in den Chancen einer partizipativen Technikentwicklung, hier zielgruppenorientierte ­ Lösungen anzubieten. Das Projektdesign sah zunächst Interviews mit Expert_innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik vor, die Auskunft zu den notwendigen Rahmenbedingungen von gender- und diversityorientierten Kommunikations- und Partizipationsmodellen sowie zu deren Auswirkungen auf die Prozesse von Technikgestaltung gaben. Diese wurden um Selbstaussagen von Senior_innen in Bayern hinsichtlich ihrer privaten und öffentlichen Bedarfe, ihres Technikverständnisses sowie vorhandener Einstellungsmuster ergänzt. Abgerundet wurde die Erhebung durch Innovationsworkshops für die Entwicklung gender- und diversityorientierter Kommunikations- und Partizipationsmodelle in der Technikgestaltung.

3 Soziale und politische Rahmenbedingungen Bereits das Leitbild Bayern 2030 (2011) stellt fest, dass sich Bayerns Regionen in den nächsten Jahrzehnten verändern werden. Ältere Menschen werden mehr denn je Teil des öffentlichen Lebens sein und als wichtige Quelle für Stärke und Zusammenhalt der Gesellschaft benötigt, um ihre Städte und Dörfer auch bei kleiner werdender Bevölkerung in den unterschiedlichen Teilräumen lebenswert und attraktiv zu gestalten. Hauptsächlich Oberbayern wird aufgrund leistungsstarker Wirtschaft, gut vernetzter Hochschulen und moderner Infrastruktur auch außerhalb der Ballungszentren „Wanderungsgewinner“ bleiben. Dies trifft jedoch auf die anderen Regionen nicht in gleichem Maße zu. Der „Aktionsplan Demografischer Wandel“ (2011) schlägt deshalb für Bayern auch digitale Infrastrukturmaßnahmen vor, um das Leben im ländlichen Raum bei abnehmender und alternder Bevölkerung angemessen sicherzustellen. Für Senior_innen bedeutet der demografische Wandel bereits heute, dass sich ihr gewohntes Lebensumfeld mehr und mehr verändert: Die Familienstrukturen verändern sich durch die zunehmende Erwerbstätigkeit der Töchter und beruflich begründete Abwanderungen; der Anteil von Senior_innen, die allein leben, steigt und führt zu Mobilitätseinschränkungen, Vereinsamung und schließlich zu einem Defizit an pflegenden Personen aus dem persönlichen Umfeld. Entsprechend bieten technische Produkte und technikgestützte, digitale Dienstleistungen auch Kompensationsmöglichkeiten in der Pflege (Brückner 2012, Aulenbacher und Dammayr 2014), in der ­Internetkommunikation, wo die Beteiligung, insbesondere von Frauen über

Interaktive Formate zur gesellschaftlichen Teilhabe …

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60 Jahren, zunimmt (D21-Digital-Index 2013, ­D21-Digital-Index 2016), und im Haushalts- und Mobilitätsbereich (Ihsen et al. 2012). In Bezug auf ihre gesellschaftliche Teilhabe zeigt sich, wie sich Senior_innen aktiv an Fragen des demografischen Wandels in ihrem eigenen Lebens- und Wohnumfeld beteiligen (Gebauer et al. 2011) und wie sich ihre Einstellungen zu Veränderungen von der traditionellen Fürsorge und Pflege innerhalb von Familienstrukturen hin zu öffentlicher und privater Pflege und Betreuung sowie zu alternativen Lebens- und Wohnkonzepten (Generationenhäuser, Alten-WGs) verändern (Boggatz 2011, Mahne et al. 2017). Veränderungen lassen sich auch im Selbstverständnis von Senior_innen in Bezug auf öffentliche (Nebenerwerb, Ehrenamt, Weiterbildung, politisches Engagement) und private Aktivitäten (Kinderbetreuung, Nachbarschaftshilfe, Hobbys) feststellen. Gensicke und Geiss (2010) verweisen so beispielsweise auf die gestiegene Bereitschaft, sich bis zum Alter von etwa 75 Jahren vermehrt in die Zivilgesellschaft einzubringen. Zuvor hatten Burmeister et al. (2005) bereits auf das Modell der „Senior-Trainer_innen“ aufmerksam gemacht, das Ältere zur Stärkung lokaler Netzwerke gezielt weiterbildet. Auch die Bundespolitik engagiert sich aktiv im Bereich Teilhabe der Zivilgesellschaft, beispielsweise mit den erst kürzlich aufgestockten BMBF-Mitteln zur Förderung von Bürgerforschung (BMBF 2019). Obwohl seit vielen Jahren ausreichend Erkenntnisse über Probleme der Bedienung, Handhabung sowie Funktionalität und Komplexität technischer Produkte auf der einen wie auch über entsprechende Verbesserungsmöglichkeiten auf der anderen Seite zur Verfügung stehen, sind nur sehr wenige neu entwickelte Technologien und Programme gender- und altersgerecht gestaltet oder barrierefrei bedienbar (Gebauer et al. 2011). Die Gründe dafür sind eine immer wieder festgestellte „Expert_innenblindheit“ und die geringe Kenntnis über die wirklichen Bedürfnisse und Fähigkeiten alter Menschen sowie die Missachtung logischer und natürlicher Handlungsabläufe (Mollenkopf 2006). Dies wird unter anderem auf den Altersunterschied zwischen Produktentwickler_innen und künftigen Kund_innen zurückgeführt (Shire und Leimeister 2012). Gleichzeitig werden ältere Anwender_innen, aber auch weitere Nutzer_innengruppen aus den Bereichen Medizin, Service, Handel etc., kaum in Innovationsprozesse einbezogen. Vielen Akteur_innen, die die Entwicklung von AAL-Systemen beeinflussen, fehlen anwendbare Werkzeuge und Methoden, mit denen Nutzer_innen am Produktentwicklungsprozess beteiligt werden können (Glende et al. 2011). Um aber Technik nicht nur für, sondern auch mit Nutzer_innen zu gestalten, muss auf die Bedürfnisse und Ängste von Senior_innen sowie auf ihren Wunsch eingegangen werden, neue Technologien zu nutzen und an neuen Entwicklungen teilzuhaben (ÖIAT 2015, Glende 2010).

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Die Integration von Nutzer_innen in Technikgestaltungsprozesse nimmt zu, allerdings bezieht sie unsystematisch verschiedene Diversity-Dimensionen wie z. B. Geschlecht, Alter, Einkommen, geografische Lage, Familien- und Bildungsstand oder Freizeitverhalten ein (Gebauer et al. 2011). Gleichzeitig haben wir es mit einer Generation von Senior_innen zu tun, die zunehmend selbstbewusst in ihre Lebensgestaltung eingreift. Daher stellt sich die Frage, ob und wie erweiterte Formen von Partizipation dazu beitragen können, diese veränderten Bedarfe sinnvoll aufzugreifen und damit Mobilität, Kommunikation und Partizipation zu unterstützen. Anhand der Analyse der aktuellen Vorgehensweisen bei Technikentwicklungsprozessen sind vier Wege in der Praxis zu beobachten (vgl. auch Abb. 1): 1. Technikgestaltung anhand der (reflexiven) Ich-Methodik 2. Technikgestaltung anhand von Stereotypen 3. Entwicklung von Persona als Prototyp für Zielgruppe 4. Partizipative Technikgestaltung durch Nutzer_innen-Inklusion. Den Prozess der partizipativen Technikgestaltung durch N ­ utzer_innen-Inklusion verstehen wir als an sozialverantwortliche Technikentwicklung (vgl. „participatory design“3 nach Björgvinsson et al. 2010) angenähert, da in diesem Prozess die Merkmale des „Gender Extended Research and Development“ ­(GERD)-Modells durch entsprechende Moderation zu identifizieren sind. Auf dieser Konstellation basiert das idealtypische Konzept von New Care Spaces (vgl. ähnliche Modelle wie „Triple Helix“ nach Etzkowitz und Leydsdorff 2000). Björgvinsson et al. postulieren eine Herausforderung an sozialverantwortliche Technikentwicklung und definieren sie zugleich: „[…] exploring alternative ways to organize milieus for innovation that are more democratically-oriented than traditional milieus that focus on expert groups and individuals. It also means moving from the dominating technocratic view of innovation; a move from things to Things where differences and controversies are allowed to exist, dilemmas are raised and possibilities explored“ (Björgvinsson et al. 2010, S. 49 f.).

Diesen Anforderungen soll unser Ansatz New Care Spaces gerecht werden, indem er gender- und diversityorientiert ist, die Amibivalenz der Bedürfnisse der

3Der

erste Transfer von „participatory design“ aus dem englischen Sprachgebrauch in „sozialverantwortliche Technikentwicklung“ hat im Rahmen von „Mensch und Computer“ 2018 in Dresden stattgefunden (siehe: https://muc2019.mensch-und-computer.de/mci-workshops/ [letzter Zugriff 18.10.2019]).

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Abb. 1   Aktuelle Wege der Technikgestaltung (Nina Brötzmann auf Basis von Westkämper [2006]: Einführung in die Organisation der Produktion, S. 121; Rommes [2011]: Inclusion by design. In: Sörensen et al. [Hrsg.]: Technologies of inclusion, S. 129–146; Maaß et al. [2014]: Gender-/Diversityaspekte in der Informatikforschung: Das GERD-Modell. In: Marsden und Kempf [Hrsg.]: Gender-UseIT, S. 67–78)

Senior_innen als Chance begreift und von Sozialwissenschaftler_innen moderiert wird. Laut unseren Forschungsergebnissen wird in der Technikentwicklung einerseits hauptsächlich mit „männlichen Personas“ gearbeitet. Zudem werden im Entwicklungsprozess größtenteils nur die Nutzungsgewohnheiten von „lead usern“ bedacht, die wiederrum meistens technikaffine Männer sind. Auf der anderen Seite besteht der Mitwirkungswunsch an der Gestaltung von Technologien, doch fehlt derzeit noch ein klares Entgegenkommen seitens der Produktentwickler_ innen. Beispielsweise kann fehlende Reaktion auf das Feedback zu einem ­technischen Produkt demotivierend wirken. Bedürfnisse, Ressourcen und Ängste

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von Älteren bezüglich einzelner Technologien wie hinsichtlich des Datenschutzes sollten wahr- und ernst genommen werden. Besonders sollte auf Verständlichkeit, Einfachheit in der Bedienung und Unterstützung bei einer Anwendung Wert gelegt werden. Empathie kann aktiv hergestellt werden, wenn Produktentwickler_ innen selbst die Lebenswelt von Älteren mit ihren körperlichen und geistigen Gegebenheiten nacherleben und -empfinden. Dies ist ansatzweise zum Beispiel durch einen Altersanzug, eine Blindenbrille oder einen Rollstuhl möglich. Die dargelegte Skepsis von Senior_innen gegenüber Unternehmen ist durch einen Wandel in der Unternehmenskultur aufzulösen. Unternehmen sollten diese als wertgeschätzte Zielgruppe wahrnehmen und möglichst in Prozesse der Technikentwicklung einbinden. Diese Verbindungen können ebenso zur Entwicklung von barrierefreier Technik und zu Technologien der privaten und öffentlichen Nutzung beitragen. Im Gegensatz zu Deutschland besitzen andere Länder eine ausgeprägte Partizipationskultur, die Auswirkungen auf die Technikentwicklung hat. Beispielsweise herrscht nach Ornetzeder und Rohracher in Dänemark eher eine partizipative Innovationsgestaltung durch Nutzer_innenintegration vor. Diese Partizipationskultur geht dabei über die aus der Verwertungsperspektive von Firmen hinaus. Bei einigen Innovationen mit neuen sozialen Organisationsformen und gesellschaftspolitischen Zielsetzungen ist zivilgesellschaftliches Engagement wichtig. Erfolgreiche Beispiele, bei welchen ein persönliches Verantwortungsgefühl (personal responsibility) die Mitarbeit vieler an der Erschließung neuer Produkte und Märkte bewirkte, sind die Entwicklungen von Windkraftanlagen in Dänemark, die Selbstbaubewegung für thermische Solaranlagen in Österreich und die Entstehung organisierter Carsharing-Strukturen in der Schweiz (Ornetzeder und Rohracher 2012, S. 176–186). Diese Best Practice einer sozialverantwortlichen Technikgestaltung soll für New Care Spaces sprechen.

4 New Care Spaces Bei unserem neuen Ansatz New Care Spaces war es uns ein Anliegen, sowohl den Bedarfen älterer Menschen bezüglich Technik gerecht zu werden als auch zu einer an Gender und Diversity orientierten Kultur in Unternehmen beizutragen. Zudem möchten wir das persönliche Verantwortungsgefühl Einzelner zur Mitwirkung am Wohl aller ansprechen. Der von uns benutzte „Care“-Begriff umfasst zwei Ebenen: Zum einen verwenden wir den Achtsamkeitsansatz von Joan Tronto (2012) in Bezug auf angemessene Interaktionsprozesse (Brückner 2010). Zum anderen verfügt die

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Technikgestaltung selbst über beteiligungsorientierte Methoden zur Erforschung, Abschätzung und Bewertung technischer Entwicklungen. Diese sind eng mit Fragen einer Technikethik und -verantwortung verbunden, beziehen sich bisher aber vor allem auf die ingenieurwissenschaftlichen Professionen und Akteur_innen (Grunwald und Saupe 1999, Hubig und Reidel 2003, Ropohl 2009). Generell geht es darum, das Problembewusstsein für die Gestaltbarkeit von Technik zu schärfen, um neue technische Entwicklungen verantwortbar, gesellschaftlich akzeptabel und nachhaltig zu gestalten. Care wird, in Bezug auf Partizipation und Technikgestaltung, im Sinne von „Teilhabe“ bzw. „Einbezogensein“ interpretiert, ausgehend von der These, dass sowohl gesellschaftliche als auch technische Veränderung besser mit als lediglich für Menschen gestaltet wird. Wie in Abb. 2 vereinfacht dargestellt, sehen wir einen reziproken Kreislauf sowohl zwischen „Care Giver“ und „Care Receiver“ als auch zwischen Technikproduzent_innen und Techniknutzer_innen. Ausgangspunkt dieser Überlegung ist, dass jeder Mensch im Laufe seines Lebens in unterschiedlichem Maße auf CareLeistungen angewiesen ist (Krüger 2018). Gleichzeitig aber spendet jeder Mensch Care, beispielsweise in der Kindererziehung und in der Pflege älterer Menschen, aber auch in der (temporären) Verantwortungsübernahme für andere. Ebenso ist jeder Mensch in unserer postmodernen Gesellschaft auf Technologie, zum Beispiel zur Kommunikation, in hohem Maße angewiesen. Technische Geräte werden gleichzeitig auf das Kaufverhalten der Konsument_innen angepasst. Zudem haben Kund_innen beispielsweise über ­Online-Feedbackfunktionen die Möglichkeit, Techniken zu bewerten und Verbesserungsvorschläge anzubringen. Dadurch sind alle in diesem Sinne an der Produktion von Technologie mitbeteiligt. Wenn

Abb. 2   Projekteigene Darstellung „Denkwerk care“. (Quelle: Eigene Darstellung)

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wir Care oben als „personal responsibility“ verstehen, kann ebenso Technik als Verantwortung und Bewusstsein verstanden werden, indem im Kreislauf der Technikentwicklung Menschen genauso freiwillig teilnehmen wie bei Care (beispielsweise bei politischem oder gesellschaftlichem Engagement). Aus dieser Analogie heraus gewinnt die Technikentwicklung eine vergleichbare sozio-politische Gewichtung wie Care in der Gesellschaft. Da wir Care als (gesellschaftliche) Teilhabe durch Partizipation bei Technikgestaltung und Zugang zu Techniknutzung definieren, sehen wir beide Kreisläufe zudem miteinander verbunden. Eines der Forschungsergebnisse unseres Teilprojekts „Technikentwicklung“ ist, dass Senior_innen einerseits Selbstständigkeit und Autonomie durch Technik fordern. Andererseits wünschen sie sich, im Alter Care-Dienste nicht durch Service- oder Pflege-Roboter (Care-Giving) zu empfangen (Care-Receiving), sondern durch Menschen. Diese Ambivalenz ist eine gewisse „Black Box“, indem sie Selbstbestimmtheit, soziales Miteinander und Vertrauen erkennen lässt und gleichzeitig die Akzeptanz neuer Technik(-Services) behindert (vgl. Abb. 3). Diese Black Box weckt auch Ängste. Die wichtige Anforderung an Technik, individuelle Räume für Care zu gestalten, findet man schon bei Tronto (2013). Angesichts des demografischen Wandels müssen laut unserer resultierenden These New Care Spaces entstehen, in denen sich Bürger_innen gemeinsam um die Belange aller kümmern, damit gesellschaftliche Teilhabe diverser Bevölkerungsgruppen möglich ist (Tronto 2013, S. 13). Aus diesen Grundlagen heraus bietet das Teilprojekt unser NewCare-Spaces-Konzept als Verantwortungsraum an. New Care Spaces sollen sowohl

Abb. 3   Black Box. (Eigene Darstellung)

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Rahmenbedingungen diversityorientierter Kommunikations- und Partizipationsmodelle erfüllen als auch Ängste (z. B. vor der Black Box „Technik“) individualisiert einfangen. Sie bezeichnen ein (persönliches) Verantwortungsbewusstsein (personal responsibility) (Tronto 2013) sowie „Technik-Responsibility“ nach dem „Denkwerk Care“ (siehe zuvor in diesem Text und Abb. 2). Gleichzeitig sind sie als öffentliche Räume und so als Open Innovation zu verstehen (Vollmann et al. 2012, Björgvinsson et al. 2010), die einen Beitrag zur Teilhabe von Senior_innen bei Technikentwicklung und gesellschaftlichen Veränderungen leisten. New Care Spaces lassen sich mit passenden Kooperationspartnern bedarfsorientiert konzipieren. Hierzu sind neben Räumlichkeiten auch Moderator_innen (inkl. Methodenset) und Multiplikator_innen erforderlich, die die Innovationsprozesse begleiten. Die Prinzipien von sozialverantwortlicher Technikentwicklung wie die Demokratieorientierung, die Partizipation von Non-Lead-Usern (auch ­Nicht-Nutzer_innen), die Abschaffung einer „technischen Sicht von Innovation“ sowie der Raum für Ambivalenzen (wie in der einführenden Aussage des Artikels) sollen ebenso berücksichtigt werden (Björgvinsson et al. 2010). Darüber hinaus ergänzen New Care Spaces die Leitlinien der Sozialraumorientierung (Budde et al. 2007) in der sozialen Arbeit von Wohlfahrtsorganisationen. Das anwendungsorientierte Konzept der New Care Spaces basiert auf einem Care-Verständnis von Achtsamkeit und personal responsibility im Sinne von awareness und dient als gender- und diversityorientiertes Kommunikations- und Partizipationsmodell. Dadurch können Senior_innen (und andere marginalisierte, bisher wenig inkludierte Gruppen) zur Gestaltung ihrer – diversen – privaten und öffentlichen Lebensbedarfe aktiv in Technikgestaltungsprozesse einbezogen werden und so mittelbar an der Entwicklung langfristiger und disruptiver gesellschaftlicher Veränderung teilhaben. New Care Spaces ermöglichen es, die Bedarfe von Senior_innen durch Teilhabemöglichkeiten frühzeitig zu erkennen. In der partizipativen Umsetzung dieser Bedarfe sind eine gewisse Agilität zwischen Nutzer_innen und Technikentwickler_innen sowie eine sozialverantwortliche Technikgestaltung (Björgvinsson et al. 2010) gewährleistet. Außerdem birgt unser Ansatz New Care Spaces nach entsprechender Akzeptanz und praktischer Wirksamkeit (Howaldt und Schwarz 2012, S. 55) die Chance zur sozialen Innovation in sich, weil der Ansatz gleichzeitig soziale Bedarfe berücksichtigt und soziale Praktiken schafft. Dabei bietet er sich als alternativer Weg zu einer demokratischen Partizipation und Intersektionalität wie Living Labs (Björgvinsson et al. 2010, S. 42 ff.) an. Mit dem Übergang von der Industrie- zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft zeichnet sich eine Bedeutungszunahme sozialer Innovationen für die Konturierung eines soziologisch aufgeklärten, postindustriellen Innovationsparadigmas ab (Howaldt et al. 2008). New Care Spaces können damit Bestandteil sozialer Innovationsschübe s­ ein,

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die zahlreiche kleine und große gesellschaftliche Teilbereiche benötigen, die das Leben einzelner Menschen wie auch die Entwicklung einer nationalen und globalen Gesellschaft beeinflussen (ZSI 2008, S. 28).

5 Innovationsworkshops als innovative und partizipative Methode Ein wichtiger Bestandteil unseres Forschungsdesigns war, neben Interviews mit Expert_innen und Senior_innen, die innovative und partizipative Methode der Innovationsworkshops. Hierdurch sollten Betrachtungsweisen beider ­Interview-Zielgruppen nochmals zusammengefasst werden. Darüber hinaus konnten divers zusammengestellte Teams gender- und diversityorientierte Kommunikationsund Partizipationsmodelle in der Technikgestaltung entwickeln. Die Innovationsworkshops haben während des Technikentwicklungsprojekts an der Technischen Universität München (TUM) stattgefunden. An den Workshops haben Senior_innen, Expert_innen und Student_innen aus MINT-Fächern teilgenommen. Das sozialwissenschaftlich orientierte und experimentelle Workshopdesign4 ist als sehr erfolgreich zu bewerten. Während des Workshops wurden Szenariotechniken, Elemente aus Design Thinking (Lewrik et al. 2018) und LEGO Serious Play5 adaptiert. Ziel war es, eine Mischung aus Wissensinput, Kreativitätstechniken und einer generellen motivationsförderlichen Gestaltung zu generieren, sodass dem Erarbeiten innovativer Ideen ein stimulierender Rahmen geboten wird. Das Workshopdesign war interaktiv, interdisziplinär und offen. Diese Kriterien sowie die Schaffung einer offenen Kommunikationskultur während des Workshops ließen die Teilnehmer_innen produktiv und auf einer Sprachebene an einer bestimmten Fragestellung (Challenge) arbeiten. Dabei folgten die Workshops einem experimentellen Design und offenbarten durch ihre Herangehensweise

4Aufbau

des Workshops. 1. Challenge: Fragestellung für den Workshop, die auf das Forschungsvorhaben bzw. Ziel des Workshops abzielt [divergierende Phase] 2. Aktuellen Wissensstand definieren in Bezug auf Challenge [divergierende Phase] 3. Brainstorming: Ideen sammeln [divergierende Phase] 4. Ideen anhand einer Technik/Methode reduzieren, sodass am Ende eine Idee nach einer Bewertungsmatrix demokratisch gewählt wird 5. Die reduzierte Idee konzipieren und Prototypen 6. Testen in der Gruppe 7. Feedbackrunde

5 Aus

dem Grund der Altersgerechtigkeit wurden LEGO-DUPLO-Elemente verwendet.

Interaktive Formate zur gesellschaftlichen Teilhabe …

271

Werteorientierungen der Teilnehmer_innen. Dabei erfüllte die Herangehensweise die Prinzipien der sozialverantwortlichen Technikgestaltung (social responsible design), indem die Teilnehmer_innen die Ergebnisse beeinflussen, voneinander lernen und „gleichberechtigt durchlaufen“ (Klüber 2019). Mit Methoden der teilnehmenden Beobachtung (Passaro 1997) und der zusammenfassenden Inhaltsanalyse (Mayring 2015) werteten wir die Workshops aus. Für die Teilnehmer_innen des Workshops waren Incentives vorgesehen. Die unentgeltliche Freiwilligkeit zur Teilnahme an einer Veranstaltung, die dem Wohl aller dienen kann, bleibt weiter eine Herausforderung. „­ Personal/TechnikResponsibility“ und Care (in dem Fall als Fürsorge) sind kaum unentgeltlich und auf freiwilliger Basis anzutreffen und vor allem im Fall von Care stark weiblich konnotiert. Wenn jedoch das Bewusstsein von Care (nach Tronto 2013) für alle geschaffen wäre, könnte die empfundene Betroffenheit (auch „technische Betroffenheit“ nach unserem „Denkwerk Care“, siehe Abb. 2) aller Gesellschaftsmitglieder zur Bereitschaft vieler an der Mitwirkung am Wohl aller führen. In den aktuellen politischen, wirtschaftlichen und kommunalen Verhältnissen ist der vorgeschlagene Methodenmix jedoch zielführender durch motivierendes Incentive zu realisieren.

6 Die transferierende Rolle von Sozialwissenschaftler_innen bei der Entwicklung unseres sozialen Innovationsansatzes In unserem Ansatz New Care Spaces sehen wir bei Wirksamkeit und Akzeptanz in der Praxis die Chance einer potenziellen sozialen Innovation. Der Entstehungsprozess dieses Forschungsergebnisses kann exemplarisch die transferierende Rolle von Sozialwissenschaftler_innen bei der Entwicklung von sozialen Innovationen verdeutlichen. Schon Wolfgang Zapf identifizierte 1989 wichtige Werkzeuge der Sozialwissenschaften, insbesondere der Soziologie, zur Förderung der im Übergang von der Industrie- zur Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft gegenüber technischen Innovationen gesellschaftlich immer bedeutender werdenden sozialen Innovationen (Zapf 1989, Howaldt et al. 2008). So bieten Sozialwissenschaften im Innovationsprozess Entscheidungshilfen unter anderem in Form von Umfrageforschung, Persönlichkeitstests, Technologiefolgen- und Risikobewertung, Personalplanung und Quellen von Sozialtechnologien wie Qualitätszirkel, Mitbestimmungsmodell und Gruppentherapie. Darüber hinaus können in Ansätzen der allgemeinen Theorie Innovationen und Produktivität besser verstanden werden (Zapf 1989, S. 182 ff.). Obwohl die Sozialwissenschaften neben Natur- und Ingenieurwissenschaften heute noch nicht

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gleichbedeutende Innovationsgestalter sind, können sie sich als aktiver Innovationstreiber positionieren, indem sie potenzielle Anwender_innen und Kund_innen nicht als Endstufe eines linearen Entwicklungsprozesses sehen, sondern diese in hochgradig interaktive Kommunikationsnetzwerke als aktive Problemlöser_innen und Innovator_ innen einweben (Howaldt et al. 2008, S. 68). Die Kernkompetenz der Sozialwissenschaften im Innovationsgeschehen nämlich ist die Gestaltung sozialer Kontexte, in denen Wissensaustausch zwischen Problemlöser_innen, Expert_innen, Key-User_ innen und Anwender_innen verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme stattfinden kann und Lernprozesse initiiert werden (Gustavsen 2006). Das Integrieren zentraler gesellschaftlicher Akteur_innen von der Idee bis zur Umsetzung kann zu einem „Empowerment“ von Nutzer_innen oder zu einer wenigstens partiellen Verschiebung gesellschaftlich-ökonomischer Machtverhältnisse in der Relation zwischen Hersteller_in und Nutzer_in beitragen (Ornetzeder und Rohracher 2012, S. 171 f.). Darüber hinaus leisten sozialwissenschaftlich initiierte Reflexionsschleifen innerhalb eines Innovationsprozesses einen entscheidenden Beitrag zur Fokussierung der Umsetzbarkeit einer neuen Idee und damit des Durchbrechens eines „Fortschrittsautomatismus“ (Howaldt et al. 2008, S. 68). Da sich so konventionelle Strukturen der Arbeitsteilung zwischen Entwickler_innen und Anwender_innen auflösen und eine immer stärkere Einbindung des Erfahrungswissens der Peripherie notwendig wird, besteht in besonderem Maße ein Bedarf an gelingender Kommunikation, Kooperation und Wissensgenerierung zwischen mehr und mehr heterogenen Akteur_innen. Vor diesem Hintergrund zeigt sich verstärkt die Bedeutung sozialwissenschaftlicher Expertise für die Gestaltung und Analyse solcher Innovationsprozesse (Howaldt et al. 2008, S. 68). Trotzdem soll auf unvermeidbare interdisziplinäre Berufscharakteristika hingedeutet werden. Björgvinsson et al. (2010) definieren Aufgabenfelder für sogenannte „Design Researcher“. „Design Researcher“ sollen in der Lage sein, einen Kreis heterogener Teilnehmer_innen zu moderieren und zu bedienen sowie ihre Marginalität zu akzeptieren (Björgvinsson et al. 2010). Diese Eigenschaften sollten auch Sozialwissenschaftler_innen sich aneignen, damit sie Living Labs oder Innovationsworkshops sowie New Care Spaces moderieren können. Das experimentelle Format der Innovationsworkshops innerhalb unseres Forschungsprojekts verstehen wir als einen der oben beschriebenen sozialen Kontexte, in welchen soziale Innovationen gemeinsam figuriert werden können. Dabei sollte das Ideal eines sozialen Innovationsprozesses mit Hilfe von technischen Produkten interdisziplinär erarbeitet werden. Aus diesem Grund war nicht die praktische Umsetzbarkeit eines Endproduktes, sondern der reflexiv gestaltete, gruppendynamische Prozess im Fokus unseres wissenschaftlichen Interesses. Ein Mixed Team aus Senior_innen, Expert_innen und Student_innen aus MINTFächern sammelte unter der methodischen Anleitung von zwei Soziolog_innen

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die Bedarfe von Menschen im Alter. Zusammen erfolgte daraufhin mittels LEGO Serious Play und Elementen aus Design Thinking die Gestaltung eines New Care Spaces, welcher den diversen genannten Bedarfen möglichst gerecht werden sollte. Damit boten wir einen geschützten Raum zum Austausch von Wissen und Ansichten unterschiedlicher Interessengruppen bezüglich eines guten Lebens im Alter. Das Arbeiten mit Mixed Teams bedeutet zudem, Diversität bezüglich Alter, Bildungsstand, (sozialer) Herkunft, fachlichem Hintergrund, persönlichen Einstellungen und Lebenssituation zu berücksichtigen. Trotz dieser Unterschiedlichkeiten gelang die sozialwissenschaftlich angeleitete Kommunikation, indem wir alle Gruppenmitglieder sowohl in die Ideengenerierung als auch in die Ausarbeitungsphase gleichermaßen einbezogen und jede Meinung als gleich wichtig annahmen. Die Gruppendynamik und unser interdisziplinärer Ansatz erwiesen sich als äußerst effektiv. Aus der Zielgruppe der Senior_innen hatten wir sowohl Lead-User_innen von technischen Produkten als auch Non-User_innen geladen. Dadurch konnten wir das kreative Innovationspotenzial beider Gruppen ausschöpfen. Zudem bezogen wir bewusst die marginale Zielgruppe der Senior_innen nicht nur zur Bewertung eines Endprodukts oder eines Produktkonzepts ein, sondern ließen sie selbst in Zusammenarbeit mit Expert_innen und Student_innen einen Prototyp erarbeiten. In ihren Redebeiträgen zeigte sich, dass die Zielgruppe der Senior_innen ihre Meinungen und Bedarfe als ernst genommen und ihre aktive Mitarbeit als wertgeschätzt erlebte. Dieses Erlebnis von Selbstwirksamkeit und -ermächtigung als Nutzer_in stand teilweise gegensätzlich zu Alltagserfahrungen der marginalisierten Gruppe der Senior_innen, wenn sie beispielsweise keine Antworten auf Feedbacks zu technischen Produkten erhielten oder viele Techniken seitens der Medien als nicht für ihre Generation geeignet eingestuft wurden. Die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Altersgruppen erwies sich als sehr produktiv und gewinnbringend für einen gemeinschaftlichen Erfahrungsaustausch im Rahmen der Innovationsworkshops als New Care Spaces. Die Innovationsworkshops wurden durch Methoden qualitativer Sozialforschung wie zusammenfassende Inhaltsanalyse (Mayring 2015) und teilnehmende Beobachtung (Passaro 1997) ausgewertet. Durch diese methodischen Zugänge haben wir einen reibungslosen Übergang der Workshopergebnisse zu Forschungsdaten gewährleistet. Der Einsatz und die Anwendung bestimmter Methoden der qualitativen Sozialforschung verdeutlichen nochmals eine Neupositionierung der Rolle von Sozialwissenschaftler_innen in Innovationsprozessen. Über das Teilprojekt entstandene New Care Spaces lassen sich mit passenden Kooperationspartnern bedarfsorientiert konzipieren. Hierzu sind neben Räumlichkeiten auch Moderator_innen (inkl. Methodenset) und Multiplikator_innen erforderlich, die die Innovationsprozesse passend und zielführend begleiten.

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An der Stelle kann das Berufsfeld von Sozialwissenschaftler_innen als durchaus passend betrachtet werden. In unserem Forschungsprojekt zeigte sich somit, dass Sozialwissenschaftler_ innen Perspektivenvielfalt und Reflexivität bei der Entwicklung von sozialen Innovationen ebenso ermöglichen können wie den Einbezug unmittelbarer Zielgruppen und marginalisierter User_innen.

7 Zusammenfassung der Ergebnisse In dem vorliegenden Text diskutierten wir unseren Ansatz New Care Spaces, der durch die partizipative Einbindung von User_innengruppen mittels Innovationsworkshops erzielt wurde. Wir schlagen vor, New Care Spaces als soziale Innovation im Anschluss an Howaldt und Jacobsen (2010) zu betrachten. Um Skepsis zwischen Unternehmen und Anspruchsgruppen (inkl. marginalisierter Gruppen) aufzulösen, empfehlen wir, die partizipative Methode der Innovationsworkshops für Unternehmen, Non-Profit-Organisationen und den öffentlichen Dienst angepasst umzusetzen (Rommes 2011). Um diese Bereitschaft zur Teilhabe herzustellen, müssen seitens der Produktentwickler_innen Empathie und Einfühlungsvermögen und eine prinzipielle Offenheit für die tatsächlichen Bedarfe älterer Menschen bestehen. Unternehmen sollten diese als wertgeschätzte Zielgruppe wahrnehmen und möglichst in Prozesse der Technikentwicklung einbinden. Dadurch können sich auch die Organisationskulturen ändern und sich weitere externe Kooperationen eröffnen. Jedes Gesellschaftsmitglied kann so an „nachhaltigem Leben und Wirtschaften“ (Stiess 2013) mitgestalten. Diese Verbindungen können ebenso zur Entwicklung von barrierefreier Technik und zu Technologien der privaten und öffentlichen Nutzung beitragen. Nur so, zeigte unsere Forschung, werden die vorherrschende Skepsis bezüglich eines antizipierten Desinteresses für ältere Zielgruppen seitens Produkthersteller_innen und die oft medial ausgelöste Angst vor Technologien zerstreut. Unsere New Care Spaces sind aus dieser Perspektive eine vielversprechende Option, diesen Herausforderungen zu begegnen. Wenn New Care Spaces im öffentlichen Raum als Open Innovation (Vollmann et al. 2012) fungieren, dienen sie unserem Projekt zur Teilhabe von Senior_innen bei Technikentwicklung und gesellschaftlichen Veränderungen. New Care Spaces lassen sich mit passenden Kooperationspartnern bedarfsorientiert konzipieren. Hierzu sind neben Räumlichkeiten auch Moderator_innen (inkl. Methodenset) und passende Multiplikator_innen erforderlich, die die Innovationsprozesse begleiten. Darüber hinaus ergänzen New Care Spaces die Leitlinien der Sozialraumorientierung (Budde et al. 2007) und sozialverantwortliche Technikentwicklung.

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Bei der Entwicklung dieser sozialen Innovation kann darüber hinaus Sozialwissenschaftler_innen eine tragende Rolle zukommen. Insbesondere beim Konzipieren von Räumlichkeiten und beim Arbeiten als Multiplikator_innen und Moderator_innen, der Herstellung von New Care Spaces, ist sozialwissenschaftliche Expertise, wie wir gezeigt haben, äußerst zielführend und erfolgversprechend.

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T. Beruchashvili et al.

Beruchashvili, Tamar,  M.A., Studium Management Sozialer Innovationen an der Fachhochschule München, Studium Soziologie und Gender Studies an der LMU München, Zusatzausbildung Academic Program for Entrepreneurship bei SCE München. Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur Gender Studies in Ingenieurwissenschaften der Technischen Universität München, verantwortlich für Teilprojekt 3 „Technikgestaltung“ des Forschungsverbunds ForGenderCare. Ebenso Referentin für Innovationsförderung und Organisationsentwicklung beim Caritasverband München und Freising e. V. Letzte Veröffentlichung: Wiesnet, E., Beruchashvili, T., Jeanrenaud, Y.: „New Care Spaces“ -ein Gender und Diversity sensibler Ansatz zur digitalen Teilhabe. In „Gestalten oder gestaltet werden? Perspektiven feministischer Ökonomie auf Digitalisierung“. 17. efas-Fachtagung. 06.12.2019. Berlin. Online verfügbar unter: https://efas.htw-berlin.de/wp-content/uploads/Poster_Efas_Wiesnet. pdf (15.12.2019). Wiesnet, Elisabeth, M.A., Studium der Soziologie, Gender Studies und Statistik an der LMU München, Wissenschaftliche Hilfskraft an der Professur Gender Studies in den Ingenieurwissenschaften an der TU München im Teilprojekt 3 „Technikgestaltung“ des Forschungsverbunds ForGenderCare, Doktorandin an der LMU München unter der Betreuung von Prof. Dr. Stefan Lessenich zum Thema Grenzen des selbstbestimmten Informierens. Empirische Sichtweisen und Deutungen zu § 219a Letzte Veröffentlichung: Wiesnet, E., Beruchashvili, T., Jeanrenaud, Y.: „New Care Spaces“ -ein Gender und Diversity sensibler Ansatz zur digitalen Teilhabe. In „Gestalten oder gestaltet werden? Perspektiven feministischer Ökonomie auf Digitalisierung“. 17. efas-Fachtagung. 06.12.2019. Berlin. Online verfügbar unter: https://efas.htw-berlin.de/wp-content/uploads/Poster_Efas_Wiesnet. pdf (15.12.2019). Jeanrenaud, Yves, Dr. phil., Studium der Soziologie, Gender Studies und Medienwissenschaften in Basel (Uni Basel) und Tübingen (Uni Tübingen). Promotion in München (TU München/TUM). PostDoc Gender Studies in den Ingenieurwissenschaften (TUM). Vertretungsprofessur Allg. Soziologie in Vechta (Uni Vechta). PostDoc Institut für Soziologie (LMU München), Soziologie und Gender Studies. Ab 2020: Gastprofessur Geschlechterforschung MINT und Med. (Uni Ulm). EU Independent Expert H2020. Beirat gender thoughts (Uni Göttingen). AG Perspektiven (FG Gender e. V.). ORCID ­0000-0002-8378-2831.

Interaktive Formate zur gesellschaftlichen Teilhabe …

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Letzte Veröffentlichungen: Jeanrenaud, Y.; A. Sept. 2019. Was trägt zum Studienerfolg in MINT-Fächern bei? Ergebnisse aus dem Projekt GenderMINT 4.0 über Studiengangentscheidungen, Studieneingang und Studienerfolg von Frauen und Männern in MINT. DAADeuroletter (67). 2019. S. 28–31. Jeanrenaud, Y.; A. Sept; S. Ihsen. 2018. Study decisions, entrance and academic success of Women and Men in STEM. Gender&IT’18. New York: Association for Computing Machinery (ACM). 2018. S. 157–160. Jeanrenaud, Y. 2018. Lebenskonzepte von Ingenieurinnen. In: Onnen, C.; S. ­Rode-Breymann. eds. Zum Selbstverständnis der Gender Studies II. Technik – Raum – Bildung. L’AGENda Band 2. Leverkusen: Verlag Barbara Budrich. S. 155–172.

Die Kunst der sozialen Transformation Empowerment durch soziale Kunst für eine Erhöhung der Chancengleichheit in Europa Christine Best und Kerstin Guhlemann Zusammenfassung

Eine der zentralen aktuellen Herausforderungen ist die (Aus)Bildung und Integration von Menschen in Gesellschaft und Arbeitsmarkt, die aufgrund ungleicher biografischer Chancen benachteiligt sind. Dazu sind neuartige Ansätze und Formen der Kooperation zwischen verschiedenen Akteuren notwendig. Ein sozial innovativer Ansatz, der dazu einen Beitrag leisten will, ist der der sozialen Kunst. In diesem werden Hierarchien aufgelöst, und Kunst wird zu einem integrativen Kooperationsprozess, der auf vielfältige Weise Raum zum Erfolgserleben, gemeinsamer Verständigung und persönliche Entwicklung schafft und zum Empowerment benachteiligter Gruppen beiträgt. Auf dieser Basis haben sich in Deutschland bereits Formen der Kombination aus Theaterarbeit und sozialer Arbeit durchgesetzt, die traditionellen Methoden der Integration benachteiligter Menschen in Arbeitsmarkt und Gesellschaft im Ergebnis stark überlegen sind. Die Übertragung dieses Ansatzes auf andere europäische Länder wird im EU-Projekt JobAct Europe – Social Inclusion by Social Arts mit sozialwissenschaftlicher Begleitung verfolgt. Im vorliegenden Beitrag werden der Ansatz und die europäischen

C. Best (*) · K. Guhlemann  Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] K. Guhlemann E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_14

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Formen seiner Adaption vorgestellt. Es wird gezeigt, wie auch transnational für biografisch benachteiligte Gruppen die Chancen der Arbeitsmarktintegration mithilfe sozial innovativer künstlerischer Ansätze erhöht werden können.

1 Hintergrund und Gang der Untersuchung Die Erhöhung der Chancengleichheit innerhalb der Gesellschaft ist ein Thema, das seit seiner Integration in die Strategieziele Europa 2020 nichts an Relevanz verloren hat. Aufgrund der engen Verknüpfung zwischen der Position auf dem Arbeitsmarkt und der gesellschaftlichen Integration ergeben sich zwei wesentliche Ansatzpunkte: 1) die Verbesserung der Beschäftigungsfähigkeit und 2) der Beschäftigungschancen. Im vorliegenden Beitrag stellen wir daher einen Ansatz der sozialen Kunst vor, der beides, Beschäftigungsfähigkeit und Beschäftigungschancen, mithilfe künstlerischer Methoden in Angriff nimmt. Die Stärkung der Schlüsselkompetenzen herausfordernder Zielgruppen mit künstlerischen Methoden kann um ein Vielfaches höhere Erfolgsquoten aufweisen als die etablierten Methoden der Arbeitsmarktintegration. Davon ausgehend stellt dieser Beitrag daher die Frage, wie der Ansatz sozialer Kunst dazu beitragen kann, Individuen und gesellschaftliche Prozesse zu verändern. Untersucht wird, was die Methode auszeichnet und welche Ergebnisse damit bei welchen Zielgruppen erzielt werden können. Nach einem kurzen Blick auf den Hintergrund der Entstehung sozialer Problemlagen und auf die Potenziale von Empowerment-Ansätzen allgemein werden zunächst Anwendungsbereiche sozialer Kunst zum Zweck des Empowerments vulnerabler Gruppen vorgestellt. Den Hauptteil bilden anschließend Ergebnisse aus dem Erasmus+-Projekt JobAct Europe, in dem Einsatz und Verbreitung der JobAct-Methode in Deutschland und dem europäischen Ausland zwei Jahre lang wissenschaftlich begleitet wurden. Hier wird beschrieben, wie, mit welchen Ergebnissen und bei welchen Zielgruppen der Ansatz in den verschiedenen Ländern zum Erreichen des gemeinsamen Ziels, der Verringerung sozialer Ungleichheit, eingesetzt wird. In einem Ausblick werden die Chancen einer sozialen Transformation durch künstlerische Ansätze vor dem Hintergrund der Befunde noch einmal reflektiert.

Die Kunst der sozialen Transformation

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2 Spielerisch gegen Ungleichheit – theoretische Befunde 2.1 Manifestierung sozialer Problemlagen Die Kerndimensionen sozialer Ungleichheit: Bildung, Beruf, Einkommen und Gesundheit sind stark miteinander verknüpft und stehen in enger Abhängigkeit voneinander, verstärkt von weiteren soziodemografischen Faktoren wie Familienstand oder Migrationsgeschichte (Richter und Hurrelmann 2006). Kennzeichnend ist ein starker Determinismus der sozialen Lage in der Kindheit für die biografischen Chancen im weiteren Lebensverlauf. In einer Risikokette verstärken sich negative Einflüsse des häuslichen und sozialen Umfeldes, desintegrative kulturelle Gewohnheiten, geringe materielle Voraussetzungen und Bildungsvoraussetzungen wie -chancen gegenseitig (Richter-Kornweitz und Utermark 2013). Besondere Problemhäufungen, wie hohe Arbeitslosigkeit, wenig Inanspruchnahme von Betreuungsangeboten, Vorsorgeuntersuchungen, Kultur- und Bildungsangeboten sowie kritisches Gesundheitsverhalten, treten oft in einzelnen, benachteiligten Stadtteilen auf. Die hohe ethnische und soziale Segregation der Wohnbezirke und gesellschaftlicher Gruppen trägt dazu bei, dass Ungleichheit über Generationen „vererbt“ werden kann. Dabei manifestiert sich der Einfluss der Herkunft in primären und sekundären Effekten, zum einen in der Entwicklung von Kompetenz, Leistung und problematischem Verhalten, zum anderen in seiner Prägekraft für biografische Entscheidungen in Bildung, Beruf oder Devianz (Blossfeld 2013). Gleichzeitig unterdrückt ein homogenes soziales Umfeld eine Veränderungsmotivation oder Perspektiventwicklung. Von gesellschaftlicher Seite steht dem die Gefahr einer Diskriminierung aufgrund der genannten Merkmale gegenüber, die die Integrationschancen weiter verringert (Imdorf 2017). Durch die starke Determinationskraft von geringen Erwartungen bzw. Erwartungen des Scheiterns für die Selbstwahrnehmung der Betroffenen kann der so genannte „Pygmalion-Effekt“, eine Spirale selbsterfüllender Prophezeiungen, entstehen, die für dauerhaft niedrige Handlungsspielräume im Erwerbsverlauf sorgt (Koch und Dollase 2009). Dieser Zusammenhang manifestiert sich u. a. in der nach wie vor geringen Bildungsmobilität. So ist der höchste Bildungsabschluss der Eltern aufgrund „kumulierter Bildungsarmut“ in starkem Maße prägend für die Bildungswege der folgenden Generation, die wiederum in hohem Maße die erwerbsbiografischen Chancen bestimmen (Wolter 2016). In diesem Sinne überrascht es wenig, dass Studien deutschlandweit den Zusammenhang

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zwischen der Arbeitslosigkeit der Eltern und der nachfolgenden Generation aufzeigen (Berth et al. 2010; Müller 2016). Dazu kommt, dass eine längerfristige Abwesenheit vom Arbeitsmarkt die Beschäftigungschancen weiter senkt. Neben dem fortschreitenden Verlust von Selbstvertrauen durch wiederholte Misserfolgserfahrungen veralten berufliche Kompetenzen und Bewerbungsstrategien, steigt die Gefahr einer Stigmatisierung vonseiten der Arbeitgeber und des sozialen Umfeldes und sinken die Fähigkeiten, sich in der Konkurrenz der Mitbewerbenden zu behaupten (Heinl et al. 2008). Es besteht somit die Gefahr, dass Personengruppen aufgrund ungleich verteilter biografischer Chancen dauerhaft in die Arbeitsmarktferne und an den Rand der Gesellschaft abgedrängt werden. Trotz Bemühungen, der Problematik entgegenzuwirken, hat sich in den letzten Jahrzehnten nur wenig an der Chancenverteilung geändert (Rock 2019). Die ungleiche Verteilung sozialer Chancen ist ein europaweites Phänomen, das auch von besseren wirtschaftlichen Lagen eher verstärkt als verringert wird. Durch den kumulativen Aufbau positiver und negativer Entwicklungspotenziale über die gesamte Lebensspanne profitieren die ohnehin besser gestellten Personengruppen in stärkerem Ausmaß von erweiterten Möglichkeiten, während ein Teil der Bevölkerung seine Situation nur langsam verbessert, was die Schere zwischen gesellschaftlichen Gruppen weiter öffnet (Mielck 2005).

2.2 Transformationen für bessere Chancen Transformation bezeichnet einen besonderen Typ sozialen Wandels, der durch Prozesshaftigkeit, Langfristigkeit, Interdependenz und Sequenzhaftigkeit gekennzeichnet ist. Er bringt neue gesellschaftliche Ordnungs- und Entwicklungsmuster hervor und verändert soziale Prozesse. Die Entwicklung ist intentional gesteuert und gestaltend, gleichzeitig aber eigendynamisch und organisch-evolutionär (Reißig 2014). Eben diese Dialektik findet sich sowohl auf der Ebene der gesellschaftlichen Ebene als auch auf der des Individuums. Neuere Ansatzpunkte zur Verbesserung der Chancengleichheit im Gesundheits- und Bildungsbereich reagieren auf die biografischen Zusammenhänge mit der Einnahme einer Lebenslaufperspektive. Eine Variante ist der Ansatz des Empowerments. Er baut auf der Überzeugung auf, dass die Menschen grundsätzlich „Experten in eigener Sache“ sind und Fähigkeiten sowie Ressourcen zur Selbstgestaltung ihrer Biografie besitzen, die gestärkt werden können. Das zugrunde liegende Menschenbild ist das eines kompetenten Akteurs, der sein Leben selbst gestalten kann. Das Ziel ist dabei die Erhöhung der Autonomie und der Handlungsspielräume im Lebensverlauf durch die

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Stärkung der Selbstwirksamkeit und wesentlicher Kompetenzen für aktives biografisches Handeln. Menschen in verschiedenen Lebenslagen sollen ihre Stärken erkennen und so ermächtigt und ermutigt werden, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Damit sind drei Entwicklungsziele adressiert: 1) die Überzeugung von der eigenen Gestaltungsmacht, die die Wahrnehmung der Handlungsspielräume beeinflusst (Selbstwirksamkeit), 2) die Fähigkeiten zur Erweiterung dieser Handlungsspielräume und 3) das Wissen um die Handlungsspielräume. Der Ansatz ist ergebnisoffener als direkte psychosoziale Beratung und Betreuung. Es können zwar Möglichkeiten für die Entwicklung der Personen bereitgestellt und Veränderungen angestoßen werden, aber die Interventionen im Lebensverlauf müssen von den Betroffenen selbst erbracht werden (Stark 1996). Grundsätzlich ist das Ziel, „Prozesse von Selbsthilfe und Vernetzung dort zu initiieren und zu unterstützen, wo sie auf der Basis der vorhandenen Ressourcen der Einzelnen nicht von selbst entstehen können“ (Bodenmüller 2004, S. 21). Der Ansatz bleibt nicht bei den Betroffenen stehen, sondern setzt neben der Subjektebene auch auf der Ebene der Gruppe, der Institutionen und der Politik an. Indem beispielsweise durch die Entwicklung von Selbsthilfegruppen und Kontaktstellen Netzwerke im Nahbereich gefördert und institutionelle wie politische Veränderungen durch Partizipation und politische Teilhabe der Betroffenen angestrebt werden, soll eine umfassende Aufwertung der Lebenssituationen der Zielgruppe erreicht werden. In diesem Sinne meint Empowerment neben der Selbstveränderung auch Sozialveränderung und kann neben der Persönlichkeit als Quelle der Selbstveränderung auch auf dem Kollektiv aufbauen (Herriger 2014). Empowerment-Ansätze für Erwerbslose sind vorwiegend direkt arbeitsmarktbezogen. Vorhaben zielen auf den Aufbau berufsrelevanter Fachkompetenzen (Weiterbildungsgutscheine), die Eingliederung in eine sinnstiftende Tätigkeit – je nach Vermittelbarkeit auf dem ersten oder zweiten Arbeitsmarkt (z.  B. Bürgerarbeit, Eingliederungsgutscheine, Lohnzuschüsse) oder Entrepreneurship-Training. Daneben existieren Projekte, die den Ansatz mit ­ Gesundheitsförderung oder den Aufbau von Gesundheitskompetenzen verbinden, Räume und Mittel für einen regelmäßigen Austausch schaffen, am Zeitmanagement arbeiten oder die Arbeitssuche in ein Projektmanagement einbinden1. Eine noch randständige Rolle nehmen Empowerment-Ansätze mit künstlerischen Methoden ein, deren Anwendung und Wirkungspotenziale Gegenstand des folgenden Unterkapitels sind.

1Für

einen Überblick siehe beispielhaft https://www.gesundheitliche-chancengleichheit.de/ gesundheitsfoerderung-bei-arbeitslosen/gute-praxis/empowerment/ (27.10.2019).

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2.3 Empowerment mit sozialer Kunst Künstlerische Ansätze im Bereich Empowerment basieren auf der Annahme, dass mit Kunst eine universelle Ebene vorliegt, in der eine Verständigung und ein Austausch zwischen der Zielgruppe und deren Umfeld möglich ist. Soziale Kunst fußt auf dem Beuys’schen Ansatz eines erweiterten Kunstbegriffs, geht aber in ihrem dialogischen Anspruch über diesen hinaus. Im Fokus steht nicht mehr ein physisches Werk, sondern der künstlerische Prozess von dessen Entstehung (Krenn 2016). Sie ermöglicht die Bearbeitung von unangenehmen oder problematischen Situationen durch ein „langsames indirektes Annähern an Themen und Erfahrungen“ (Kechaja 2017, S. 195), deren (Um)bewertung und Verarbeitung. Wesentliche Elemente sind dabei, dass die Kunst in einer multiprofessionellen Kooperation von Akteuren aus den Bereichen Kunst/Kultur, Bildung und sozialer Arbeit aus dem üblichen Top down-Ansatz in einen partizipativen Rahmen überführt wird (Heinrich 2016). In der sozialen Arbeit werden hierbei oft biografische Ansätze gewählt. Mit künstlerischen Ausdrucksformen kann so ein Raum geschaffen werden, in dem geschützt vor Gefahren des Scheiterns Schwierigkeiten überwunden werden können, Lösungen für Probleme gefunden, alternative Rollen ausprobiert und neue Seiten an sich entdeckt werden können. Die Teilnehmenden können neue Erfahrungen machen, die Perspektive wechseln, ungünstige Verhaltensroutinen erkennen und Veränderungen anstoßen (Bodenmüller 2004, S. 20). Die gemeinsame Arbeit an einem künstlerischen Produkt fördert Selbstreflexion, Solidarität, Teamwork und Kreativität und den Stolz, etwas Hochwertiges zu erschaffen. Sowohl der künstlerische Prozess als auch das Ergebnis tragen zur Entwicklung der Teilnehmenden bei. Mit der Präsentation des Ergebnisses wird ein Erfolgserlebnis ermöglicht, das wichtig für die Stärkung des Selbstwertgefühls ist und in der Erwerbslosigkeit ansonsten oft fehlt. Gerade Kreativität und der Glaube an die eigenen Fähigkeiten sind essentielle Voraussetzungen für den Erfolg bei der Stellensuche nach längerer Erwerbslosigkeit. Wesentlich ist auch die Veränderung der Fremdwahrnehmung, und die Überwindung von Stigmatisierungen, die durch die künstlerische Leistung erzielt werden können. Die künstlerische Arbeit kann so zu einer Art „Lobbyarbeit für Betroffene“ (Bodenmüller 2004, S. 22) werden. Insbesondere bei den oben beschriebenen Homogenisierungstendenzen sozialräumlicher Segregation kann durch diese Perspektiventwicklung und den ­Peer-Group-übergreifenden Austausch ein Gegengewicht geschaffen werden, das zu Perspektivveränderungen beitragen kann. Die dabei wirkenden Mechanismen sind Provokation, Reflexion und Distanzierung (Larcher 2016).

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Künstlerische Ansätze zum Empowerment greifen auf verschiedenste Kunstformen zurück. Berichte umfassen Malerei, Literatur, bildnerisches Gestalten, Musik, Radio, Tanz, Hörspielproduktion und Theater. Im Folgenden werden einige Beispiele vorgestellt. In einem Projekt wurden von Arbeitslosen Skulpturen angefertigt, begleitet von der Präsentation dieser mit Text und Fotografie über verschiedene Medien und Partizipation in Organisation und Planung der öffentlichen Ausstellung. Gleichzeitig wurden Reproduktionen zum Verkauf angeboten. Damit konnten nicht nur Kreativität und künstlerischer Ausdruck gefördert werden, sondern auch Fähigkeiten im Bereich Marketing/Öffentlichkeitsarbeit sowie Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit. Während Teilnehmende an assistierten Arbeitsplatzsuchen in Konkurrenzsituationen agieren, wurden bei diesem Projekt Teamarbeit und Unterstützung gefördert. Durch die Kontakte mit Firmen innerhalb des Projektes fand eine Teilnehmerin eine Arbeitsstelle (Bodenmüller 2004). In einem anderen Projekt konnten Erwerbslose mit Schüler*innen, Menschen mit Behinderung, politischen und wirtschaftlichen Akteuren gemeinsam „ohne Worte“ ein Großbild malen, was eine Möglichkeit zur Begegnung auf Augenhöhe und zum Vorurteilsabbau schaffte (Bodenmüller 2004, S. 20). Jugendliche mit Migrations- oder Fluchtgeschichte waren die Zielgruppe eines Projektes, das wöchentliche Workshops mit Rap, Hip-Hop-Tanz, Theater, Foto, Film und Graffiti durchgeführt hat, die am Ende eines Jahres in einer öffentlichen Aufführung der Ergebnisse gipfelten. Der Ausdruck der eigenen Problemlagen und Ausgrenzungserfahrungen wurde dabei mit Texten oder Choreographien ermöglicht und von einer Auseinandersetzung mit Rassismus, Vorurteilen und Bedrohungen begleitet (Kechaja 2017). Die künstlerische Ausdrucksform diente dabei für eine angstfreie Analyse der eigenen Erfahrungen und den Anstoß zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen Identität. Empowerment fand in einem „dynamischen Wechselspiel aus Selbstermächtigung und Bestärkung“ (Kechaja 2017, S. 199) durch die Überwindung von Ohnmacht und Hilflosigkeit sowie den Anstoß von Prozessen der „Subjektwerdung“ statt. In den Theateransätzen mit dem Ziel des Empowerments ist die Grundlage die Auflösung der traditionellen Grenzen zwischen Rezipienten und Vortragenden zugunsten eines dialogischen Charakters. Es lassen sich Entwicklungen zu einer „Bürgerbühne“ beobachten, auf der „professionelles Theater mit nichtprofessionellen Darstellern“ (Kunze 2014, zit. nach Heinrich 2016), ggf. auch in Kombination mit Profi-Schauspielern, geboten wird. Das geschieht, indem die Zielgruppe, beispielsweise Geflüchtete, Menschen mit Behinderung, Langzeitarbeitslose, Ältere, in die Produktion der Stücke mit einbezogen wird, indem Geschichten aus der Lebenswelt der Betroffenen aufgegriffen werden oder indem

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gemeinsam Theaterstücke geschrieben werden. Diese Methode dient dazu, bei den Betroffenen eine Distanz zur eigenen Geschichte zu schaffen und einen Reflexionsprozess anzustoßen, der im sicheren Raum der dargestellten Wirklichkeit Lösungen sucht, die auf die eigene Situation anwendbar sind (Dörflinger 2015). Eine andere Variante benutzt die Bühne, um der Zielgruppe – im Fallbeispiel Jugendliche mit unterschiedlicher sozialer und ethnischer Herkunft – eine Stimme zu verleihen. Indem diese den Erwachsenen im Publikum so ihre Lebenswelt verdeutlichen konnten, entstand ein verbessertes Verständnis für die Zielgruppe und eine Verbesserung des Fremdbildes bei gleichzeitiger Stärkung der Selbstwahrnehmung und Ausdrucksfähigkeit der Jugendlichen (Larcher 2016). Ein Ansatz, der Theaterarbeit mit Langzeitarbeitslosen gezielt zur Arbeitsmarktintegration nutzt, ist der JobAct-Ansatz, der von der Projektfabrik Witten entwickelt, mehrfach prämiert und deutschlandweit verbreitet wurde. Dieser wird im Folgenden vorgestellt.

3 Empirische Betrachtung – Der JobAct-Ansatz Im Erasmus+ geförderten Projekt „JobAct Europe – Social Inclusion by Social Art“ wurde die JobAct-Methode zwei Jahre lang in ihrer Anwendung wissenschaftlich begleitet. In einem Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis konnten die Grundelemente und Wirkungen erarbeitet und ihre Anwendbarkeit in anderen europäischen Ländern untersucht werden. Dies geschah durch einen engen Dialog im Projekt, teilnehmende Beobachtungen der Arbeit in den Theaterprojekten mit erwerbslosen Teilnehmenden sowie den Premieren und den Trainings für die Sozialkünstler, die diese Projekte durchführen, Analysen interner Dokumente und qualitative Interviews mit Teilnehmenden und Trainer*innen sowie Expert*innen der Projektfabrik Witten. Aus diesen Materialien wurde die folgende Beschreibung der Methode, ihrer Wirkung und ihrer Anwendung in anderen Ländern herausgearbeitet. Die JobAct-Methode ist ein in Deutschland etablierter künstlerischer Ansatz zur Integration von Langzeiterwerbslosen in den ersten Arbeitsmarkt und basiert auf der Idee des Empowerments der Einzelnen zur Überwindung individueller Problemlagen. Vor rund 15 Jahren von dem Sozialunternehmen „Projektfabrik“ aus Nordrhein-Westfalen konzipiert und seitdem stetig weiterentwickelt und verbreitet, wurde die Methode mittlerweile in rund 350 Projekten erfolgreich eingesetzt. Der JobAct-Methode liegt der Ansatz der sozialen Kunst zugrunde.

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3.1 Zielgruppen Die Zielgruppe des JobAct-Ansatzes besteht aus langzeiterwerbslosen Menschen mit multiplen Vermittlungshemmnissen, die mithilfe der Methode primär in den ersten Arbeitsmarkt und infolgedessen in die Gesellschaft integriert werden sollen. Aktuelle Zielgruppen sind Alleinerziehende, Jugendliche ohne Arbeit oder Ausbildung, Geflüchtete, Personen mit Sprachbarrieren und Ältere. Dabei basiert die Methode auf der Kombination von theaterpädagogischen Praktiken, klassischem Bewerbungstraining sowie einem zielgruppenspezifischen Ansatz wie beispielsweise Sprachkurse für Personen mit Sprachbarrieren. Der Ansatz zeigt sich dabei variabel einsetzbar und kann bei Langzeiterwerbslosen, die weitere potenziell diskriminierend wirkende Merkmale tragen wie Bildungsferne, Migrationshintergrund o. Ä., gleichermaßen angewandt werden. Teilnehmende sind oft Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt, welche sich wechselseitig verstärken und reproduzieren. Zudem wurde der Ansatz auf die spezifischen Bedürfnisse von Menschen in besonderen sozialen Problemlagen angepasst, beispielsweise auf Alleinerziehende unter Berücksichtigung deren knapper zeitlicher Ressourcen. Durch das Jobcenter wird dieser Ansatz besonders bei Personen gefördert, welche bisher von der Teilnahme an regulären Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Eingliederung nicht profitieren konnten, und erweist sich als sehr wirkungsvoll (siehe Abschn. 3.4).

3.2 Soziale Kunst in der JobAct-Methode Der zugrunde liegende Ansatz der Methode ist der des Empowerments durch soziale Kunst, hier umgesetzt durch Theatermethoden. Dabei basiert der Ansatz auf der Überzeugung, dass ein künstlerischer Ansatz notwendig ist, um gegenwärtigen gesellschaftlichen Fragen gerecht zu werden. Kreativität, Phantasie und Inspiration spielen dabei zentrale Rollen zur Überwindung von Hindernissen. Soziale Kunst ermöglicht in diesem Verständnis die Entdeckung des Selbst, schafft Freiraum zur Entwicklung der Individualität und bietet einen neuen Blickwinkel auf die eigene Problemlage sowie auf Wege zu deren Auflösung. Mithilfe sozialer Kunst werden Schlüsselkompetenzen entwickelt, Raum für Selbstentfaltung gegeben sowie das Selbstbewusstsein der Teilnehmenden gestärkt. Insbesondere das Einnehmen neuer Rollen schafft Objektivität und ermöglicht infolgedessen eine selbstreflexive Betrachtung. In diesem neu geschaffenen Raum können auf der Bühne und im Spiel Facetten der eigenen

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Persönlichkeit entdeckt und entfaltet werden, welche für die Teilnehmenden zuvor im Verborgenen lagen. Im Zusammenspiel mit anderen Teilnehmenden auf der Bühne wird die eigene Rolle neu definiert, wodurch ein Hinterfragen der eigenen Rolle als Individuum in sozialen Gefügen angestoßen und zu einem späteren Zeitpunkt eine persönliche Neupositionierung in der Gesellschaft ermöglicht wird. Zudem lernen die Teilnehmenden couragiert aufzutreten, sich selbst zu präsentieren sowie die im Schauspiel entdeckte Kreativität auf ihr alltägliches Leben zu übertragen und anzuwenden. Auf spielerische Art und Weise werden auf der Bühne außerdem Entscheidungsprozesse trainiert, die Fähigkeit, Aufgaben kreativ zu bearbeiten, entwickelt, das eigene Bewusstsein geschärft und infolgedessen die Fähigkeiten zur aktiven Gestaltung des eigenen Lebens verbessert. Von hoher Wichtigkeit und gleichermaßen selbstverständlich entstehend ist dabei die Begegnung von Trainer*in und Teilnehmenden auf Augenhöhe, um einerseits in einem gemeinsamen Prozess soziale Kunst schaffen zu können und den Teilnehmenden andererseits nicht das Gefühl von unausgeglichenen Machtverhältnissen zu vermitteln. Generell können zudem weitere, andere künstlerische Elemente wie Musik oder Tanz integriert werden.

3.3 Praktische Umsetzung der JobAct-Methode Basierend auf der Kombination von Sozialarbeit und Theaterpädagogik werden die Teilnehmenden empowert, mit den ihnen fehlenden Fähigkeiten und Kompetenzen ausgestattet und dabei unterstützt, ihren Weg (zurück) in den Arbeitsmarkt zu finden. Die praktische Umsetzung der JobAct-Methode setzt sich aus zwei Phasen zusammen: einem sechsmonatigen Theatertraining sowie einem daran anschließendem zwei- bis viermonatigen Betriebspraktikum. In der ersten Phase erhalten die Teilnehmenden an drei Tagen pro Woche Schauspieltraining, bei dem ein später bühnenreifes Theaterstück eingeübt wird, gestalten an einem Tag pro Woche Kulissen, Requisiten und Kostüme und erhalten an einem Tag pro Woche ein individuelles Bewerbungscoaching, bei dem nach vorheriger Durchführung von Potentialanalysen zur Identifizierung individueller Stärken und Problemlagen ein individualisierter Karriereplan jeder*jedes Teilnehmenden konzipiert wird. Um die Interdisziplinarität von Theatertrainer*innen und Sozialarbeiter*innen zu nutzen, mögliche Schnittstellenverluste zu vermeiden und eine ganzheitliche Wirkung des Ansatzes zu ermöglichen, erfolgt das Theatertraining einmal wöchentlich unter Anwesenheit der Sozialarbeiter*innen, sodass auch auftretende Fragen oder Probleme kurzfristig beantwortet und gelöst werden können.

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Nach Beendigung der Trainingsphase erfolgt die Präsentation des Theaterstücks vor einer breiten Öffentlichkeit. Hier wird auf eine zweifache Wirkung gezielt, 1) die Ergänzung der im Zuge der Trainingsphase bereits gewandelten Selbstwahrnehmung der Teilnehmenden durch das Erfolgserlebnis der Aufführungen und 2) die Veränderung der Fremdwahrnehmung im sozialen Umfeld der Teilnehmenden, der Betreuer*innen des Jobcenters und ggf. Unternehmensvertreter*innen. Das Stück ist dabei stets ein klassisches Theaterstück eines bekannten Autors; jedes Jahr wird ein anderer als Fokus ausgewählt. Dass keine biografischen Erfahrungen für die Erstellung eigener Stücke genutzt werden, verfolgt das Ziel, den Horizont der Teilnehmenden um alternative Erfahrungsräume zu erweitern. Darüber hinaus haben Erfahrungen gezeigt, dass die Teilnehmenden durch die Mitwirkung in einem bekannten Stück in ihrem Umfeld mehr Respekt erlangen können. Die aus der Premiere gewonnene Energie und das Selbstbewusstsein der Teilnehmenden wird sodann für ihren Übergang in die zweite Projektphase genutzt. In der zweiten Projektphase werden im Anschluss an die Premiere die zuvor erworbenen Schlüsselkompetenzen wie Teamfähigkeit, persönliches Problemund Krisenmanagement sowie Sprach- und Ausdrucksfähigkeit in einem zwei- bis viermonatigen Betriebspraktikum angewandt und ausgebaut, sodass das Selbstwertgefühl durch Erfolgserleben im Praktikum verfestigt wird. Parallel findet an einem Tag in der Woche ein Theatertraining statt, in dem auch Probleme im Praktikum besprochen und gelöst werden können. Die Praktikumsstelle wird bereits während der Praxisphase mithilfe des Jobcoachings gesucht, um im Idealfall einen nahtlosen Übergang zu ermöglichen. Oftmals ergeben sich während des Praktikums Ausbildungs- oder Beschäftigungsmöglichkeiten entweder im selben Betrieb oder durch vorherige bzw. parallel zum Praktikum verlaufende Bewerbungsprozesse, wodurch die Weiterbeschäftigung meist gesichert ist.

3.4 Verbreitung der JobAct-Methode Der Erfolg der JobAct-Methode geht trotz der schwerer vermittelbaren Zielgruppe weit über übliche Maßnahmen der Jobcenter hinaus. In vergangenen Jahren sind Aussagen der Projektfabrik-Leitung zufolge rund 60–70 Prozent der zuvor erwerbslosen Teilnehmenden nach Inanspruchnahme der Maßnahme in Praktika, Aus- und Weiterbildung und/oder sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse vermittelt worden. Aktuell ist die Vermittlungsquote auf 30–40 Prozent gesunken, weil aufgrund der guten Marktlage die Arbeitsmarktferne der Langzeiterwerbslosen in den JobAct-Projekten zugenommen

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hat. Gleichwohl werden damit immer noch etwa doppelt so gute Quoten wie über andere Maßnahmen der Jobcenter erreicht. An den über 350 deutschlandweiten Projekten (Stand Oktober 2019) nahmen rund 6000 Personen in 120 verschiedenen deutschen Städten teil. Den abschließenden Theateraufführungen haben insgesamt circa 55.000 Zuschauer*innen beigewohnt. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen zeugen von der öffentlichen Anerkennung des Erfolgs der Methode, darunter die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande an Gründerin Sandra Schürmann, die Aufnahme in das weltweite Fördernetzwerk Ashoka oder die Verleihung des Vision Awards 2012 für soziales Engagement. Der Ansatz wird auch in der beruflichen Bildung genutzt: Profilbildende Studiengänge wie „Theater als Soziale Kunst“ (FH Dortmund, Soziale Arbeit) im Bereich der sozialen Arbeit oder die „Schule der Sozialen Kunst“ (Projektfabrik Witten, Sozialkünstler) sind zwar noch die Ausnahme, zeugen aber von einem steigenden Interesse an den Potenzialen sozialer Kunst. Wenngleich die Methode im Zuständigkeitsbereich der Jobcenter als Maßnahme im Angebot fest verankert gilt, ist im Kontext stabiler Beschäftigtenzahlen und rückläufiger Langzeitarbeitslosigkeit (Statista 2019) dennoch eine nationale Diffusionssättigung zu verzeichnen. Pläne zur Erweiterung, beispielsweise in den Renten- und Krankenversicherungsbereich werden momentan nicht realisiert, obwohl sich der JobAct-Ansatz bereits in der Vergangenheit hinsichtlich der Arbeit mit psychisch erkrankten Menschen als vielversprechend zeigte. In Anpassung an die aktuelle Arbeitsmarktsituation wird die JobAct-Methode daher momentan insbesondere im Zuge der Wiedereingliederungshilfe und demnach zur Stabilisierung von zuvor Langzeiterwerbslosen, welche in ein neues Arbeitsverhältnis getreten sind, genutzt. Aufgrund seiner hohen Erfolgsquote und seiner hohen Anwendbarkeit für verschiedenste Zielgruppen wurden auch transnationale Diffusionsprozesse des Ansatzes angestoßen. Im Rahmen des Projektes „JobAct Europe“ wurde die Methode durch insgesamt acht Partner aus Italien, Frankreich, Ungarn und Deutschland in den Partnerländern adaptiert. Die Umsetzungen sind Bestandteil des folgenden Unterkapitels.

3.5 Implementierung des JobAct-Ansatzes: europäische Pilotprojekte Im Laufe der zweijährigen Projektlaufzeit wurden in allen beteiligten Partnerländern Pilotprojekte entwickelt, die den JobAct-Ansatz zielgruppengerecht und der jeweiligen professionsspezifischen Ausrichtung der Organisation ent-

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sprechend adaptierten. Das Ziel war dabei stets, nachhaltige und realistische neue Ansätze für die soziale Eingliederung benachteiligter Gruppen zu entwickeln.

3.5.1 Frankreich Die Partnerorganisation La tête de l’emploi mit Sitz in Paris wendet den Ansatz bei Frauen mit Migrationshintergrund an, die aufgrund der Mehrfachbelastungen durch Sprachbarrieren, Erziehung und ethnische wie geschlechtsbezogene Stigmatisierungen eine besonders vulnerable Zielgruppe darstellen (Degele und Winker 2011). Die Zielgruppe unterliegt dabei keiner Altersbeschränkung, wodurch eine möglichst niedrigschwellige Teilnahme ermöglicht wird. Erfahrungen seitens der Projektpartner haben gezeigt, dass der Zugang aufgrund teilweise kulturell bedingter Barrieren und der häuslichen Bevormundung durch Ehepartner erschwert sein kann. Für die Rekrutierung erfolgte daher eine enge Zusammenarbeit mit den Arbeitsagenturen, die, teilweise mit sanftem Druck, den Kontakt zu den Teilnehmerinnen herstellen konnten. Die praktische Umsetzung des Pilotprojektes erfolgt in enger Anlehnung an den JobAct Ansatz mit der Erarbeitung eines Theaterstücks an mehreren Tagen pro Woche und innerhalb von jeweils drei bis vier Stunden täglich. Generell wurde so wenig wie möglich für die Teilnehmerinnen vorgegeben, vielmehr stand das gemeinsame Suchen und Formulieren von Zielen im Mittelpunkt, auch um auf individuell entstehende Gruppendynamiken reagieren und mit diesen arbeiten zu können. Im Zuge einer „Akademie der Künste“ wurde im Pilotprojekt des zweiten französischen Partners Apprentis d´Auteuil der JobAct-Ansatz für eine jüngere Zielgruppe implementiert. Aufgrund hoher Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich und insbesondere hoher Erwerbslosenquoten von Jugendlichen im Pariser Nordosten (Köster 2017) sowie, laut Projektpartner, steigender Gewaltbereitschaft von Schüler*innen, stehen hier Jugendliche mit multiplen schulbiografischen Benachteiligungen im Mittelpunkt sowie solche, deren Schulverbleib gefährdet ist und die im schulischen Kontext bereits durch gewalttätiges Verhalten aufgefallen sind. Ziel ist es, diese Jugendliche zu stabilisieren und in ihrer Persönlichkeit zu stärken, sodass ihnen ein Schulabschluss ermöglicht wird und idealerweise weitere Perspektiven für den weiteren Lebensweg aufgezeigt werden. Zu diesem Zweck wird das Programm parallel zur regulären schulischen Ausbildung durchgeführt und schließt mit einem Praktikum. Das Highlight für die Schüler*innen ist ein gemeinsamer Trip in ein anderes Land, in dem gemeinsam künstlerische Projekte mit einheimischen Kindern durchgeführt werden. Die gelehrten Inhalte in der Akademie der Künste sind dabei identisch zu denen des regulären Lehrplans, jedoch werden sie auf eine künstlerische Art und Weise vermittelt, beispielsweise in der Kombination von Mathematik und

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Musik oder Französisch und Theater, und haben als gemeinsames Rahmenthema den geplanten Trip. Soziale Kunst als Bildungsprinzip wird hier primär mithilfe musikalischer Elemente umgesetzt, da Musik als eine Art Katalysator von Emotionen und Gefühlen angesehen wird. Den Jugendlichen soll so zunächst der Zugang zu sich selbst erleichtert und infolgedessen auch der Zugang zu ihren Mitmenschen ermöglicht werden.

3.5.2 Italien Angesichts konstant hoher Erwerbslosenquoten unter jungen Erwachsenen in Italien (Schraad-Tischler et al. 2017) sind die Zielgruppe der Partnerorganisation Vivaio per l´Intraprendenza aus Florenz junge Erwachsene mit und ohne Migrationshintergrund. Vivaio setzt dabei auf eine Kombination des JobAct-Ansatzes mit Elementen des Entrepreneurship-Ansatzes. Ziel ist die Entwicklung eines „Entrepreneurial Mindsets“, das von den Teilnehmenden zur Selbstvermarktung genutzt werden kann. In den Pilotprojekten werden daher zunächst vier Wochen intensive Theaterarbeit mit anschließender öffentlicher Aufführung des erarbeiteten Theaterstücks durchgeführt. Danach durchlaufen die Teilnehmenden ein neuntägiges Jobcoaching, bei dem die jeweils individuellen Potentiale und Schwächen sowie Karriereoptionen der einzelnen Teilnehmenden evaluiert werden. Auf Basis dessen erfolgt im Anschluss während einer vierwöchigen Projektarbeitsphase mithilfe des Problem-Solving-Ansatzes die Entwicklung potenzieller Geschäftsideen. Die Phase endet mit einem Pitch der jeweiligen Geschäftsidee und geht in eine zweimonatige Praktikumsphase über. Sowohl die Suche als auch die Bewerbung um das Praktikum erfolgt während des Job Coachings. Insgesamt setzt sich der Zeitraum des Pilotprojektes aus neun Wochen intensiver Theater-, Coaching-, und Projektarbeit und einem daran anschließenden zweitmonatigen Praktikum zusammen. Nach 13 Monaten Impulso sind 59 Prozent der Teilnehmenden in Beschäftigung, 27 Prozent absolvieren ein Studium und nur noch 14 Prozent befinden sich auf Arbeitssuche. Entsprechend ihrer organisatorischen Ausrichtung legte die zweite Partnerorganisation aus Italien, Patchanka, ihren Fokus bei Anwendung des JobAct-Ansatzes auf den Einbezug von Ansätzen aus der Sozialen Arbeit, ­ hielt sich ansonsten aber eng an die Originalmethode. Durch die schlechtere Finanzierungslage in Italien sowohl für die Projekte als auch für die erwerbslosen Personen wurde die Zeit auf drei Monate verkürzt. Zielgruppen waren hierbei ehemals suchtmittelabhängige Personen und in einem weiteren Projekt junge Erwachsene ohne Schulabschluss. Im Gegensatz zu Deutschland werden die Praktika in Italien aufgrund schlechterer Zugangschancen vorrangig durch die Partner vermittelt, die dazu mit Unternehmen der Region kooperieren. Auch hier

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waren die Erfolgsquoten hoch, so fanden beispielsweise alle 15 Teilnehmenden der Zielgruppe ohne Schulabschluss im Anschluss einen Ausbildungsplatz, eine Beschäftigung oder nahmen ihre schulische Bildung wieder auf.

3.5.3 Ungarn Vor dem Hintergrund hoher Armuts- und Erwerbslosenquoten und steigenden offenen Rassismus insbesondere gegenüber außereuropäischen Migrant*innen und Nichtchristen (Schraad-Tischler et al. 2017) wurde der JobAct-Ansatz durch die beiden ungarischen Partnerorganisationen Szubjektiv Foundation und Faktor Terminal auf bildungsferne junge Menschen zwischen 18 und 24 Jahren angepasst, die meist einen Migrationshintergrund haben. Ziel ist es, der wachsenden sozialen Ungleichheit in Ungarn entgegenzuwirken und die Personen zu empowern, die durch die oben genannten Hintergründe größte Benachteiligungen erfahren. Insbesondere Menschen, die der ­Roma-Gesellschaft angehörig sind und sich damit ohnehin zahlreichen Diskriminierungen, Benachteiligungen und Stereotypen gegenübergestellt sehen (Scherr 2017), versuchte das ungarische Pilotprojekt zu erreichen. Da eine Reproduktion sozialer Aus- und Abgrenzung jedoch verhindert werden soll, legen die Organisationen Wert auf Heterogenität der Zielgruppe. Die Projektarbeit besteht dabei aus Theatertraining, individueller Lebens- und Berufsorientierungsberatung, dem Lehren hilfreicher EDV-Kenntnisse sowie Hilfestellungen bei der Praktikumsoder Ausbildungssuche. Das während des Projekts entwickelte Theaterstück wird am Ende des Projekts in einem der Budapester Theaterhäuser präsentiert. Als großes Hindernis für die Durchführung des Projektes stellte sich institutionalisierter Rassismus in Ungarn dar. Projekte, die für Arbeit mit Migrant*innen gedacht sind, erhalten zwar zum Teil staatliche Finanzierungen, diese werden jedoch oft eingestellt, sobald ihr Zweck öffentlich kommuniziert wird.

3.5.4 Deutschland Ausgehend von der Überzeugung, junge Menschen aus der Perspektivlosigkeit und sozialen Abgrenzung mithilfe eines künstlerischen Ansatzes heraus begleiten zu können, entwickelte die Projektfabrik das Pilotprojekt „Frederick-Ensemble“. Junge Menschen unter 25 Jahren, die sich hinsichtlich ihrer schulischen oder beruflichen Ausbildung in einer orientierungs- und perspektivlosen Situation befinden, können sich in insgesamt zehn Monaten auf künstlerische Art und Weise Ideen für ihre Zukunft erarbeiten. Ziel ist es, den persönlichen Willen der Teilnehmenden zu stärken sowie eigene Zukunftsideen und -perspektiven zu entwickeln und zu eröffnen. Unter der Leitung einer*eines Theaterpädagog*in und

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mit Unterstützung einer*eines Sozialarbeiter*in werden zwei Inszenierungen erarbeitet, welche später im Rahmen mehrerer Aufführungen, teilweise auch in stadtteil- und bürgerschaftlich orientierten Formaten wie Quartierfesten, der Öffentlichkeit präsentiert werden. An einem Tag pro Woche können sich die Teilnehmenden zudem freiwillig einen Kompetenznachweis Kultur erarbeiten, also ein europaweit anerkanntes Bildungszertifikat der Bundesvereinigung Kultureller Bildungsarbeit. In den ersten Wochen des Projektes wird zunächst an den schauspielerischen Grundlagen gearbeitet, wie zum Beispiel Interaktion in Gruppen, Improvisation auf der Bühne sowie der Arbeit mit dem eigenen Körper. Neben der spielerischen Entdeckung eigener Stärken und Schwächen zeigt sich auch die durch das Projekt entstehende Wochenstruktur als hilfreich für die Teilnehmenden. Die Teilnehmenden werden sowohl durch persönliche Kontakte als auch durch das Jobcenter für das Projekt akquiriert.

4 Ausblick Wie die Beispiele zeigen, ist die ungleiche Verteilung der Chancen auf Arbeitsmarkt- und soziale Inklusion eine transnationale Herausforderung, die ­ aufgrund der generationsübergreifenden Effekte kumulierter biografischer Benachteiligung nicht auf die leichte Schulter genommen werden darf. Um eine Transformation auf den zwei wesentlichen Ebenen, der Individualebene und der gesellschaftlichen Ebene, zu erreichen, erscheint eine Kombination aus Ansätzen des Empowerments mit sozialer Kunst vielversprechend. Ziel des Ansatzes ist es, die erwerblosen Teilnehmer*innen mithilfe integrativer Maßnahmen aus sozialer Kunst zunächst in ihrer Person zu empowern, um anschließend mithilfe des Job Coachings auch ihre Chancen bei der Suche nach Arbeits- oder Ausbildungsmöglichkeiten zu stärken. Der Ansatz der Sozialen Kunst sorgt als rahmengebende Instanz im Mittelpunkt der Arbeit dafür, dass sich die Teilnehmenden von der Rolle durch gesellschaftliche Zuschreibungen befreien, um sich als Individuum neu zu definieren. Dabei wird in der Projektarbeit Wert darauf gelegt, den Teilnehmenden Raum, Zeit und persönliche Ansprache anzubieten, ohne sie in ihrer individuellen Kreativität einzuschränken oder zu beeinflussen. Gemäß dem Empowermentansatz wird davon ausgegangen, dass hierdurch eine Stärkung der Autonomie eintritt und die Selbstwirksamkeit erhöht sowie eigene Handlungsspielräume erweitert werden. Wesentlich für den Integrationserfolg sticht neben dem Erreichen einer öffentlichen Aufmerksamkeit durch eine Präsentation der Ergebnisse der künstlerischen Arbeit eine Verbindung mit Elementen sozialer Arbeit und der Ver-

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mittlung in ein Praktikum heraus. Dieser Ansatz funktioniert mit leichten Anpassungen unter verschiedenen nationalen Rahmenbedingungen und bei verschiedenen Zielgruppen. Mithilfe der Pilotprojekte wurden individuelle Jobchancen für benachteiligte Gruppen nachweisbar verbessert. Das Empowerment durch das Grundprinzip soziale Kunst wirkt dabei unabhängig von Land oder Zielgruppen, die Anpassungen müssen vielmehr dafür vorgenommen werden, dass eine Beteiligung der Zielgruppen an den längerfristigen Projekten sichergestellt werden kann.

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Christine Best, M.A., Studium der Gerontologie an der Universität Vechta, Studium Alternde Gesellschaften an der Technischen Universität Dortmund. Wissenschaftlerin im Forschungsbereich Arbeitspolitik und Gesundheit in der Sozialforschungsstelle Dortmund, ZWE der TU Dortmund, Tutorin an der Apollon Hochschule der Gesundheitswirtschaft in Bremen, Mitglied im Dortmunder Forum Frau und Wirtschaft e. V.

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Letzte Veröffentlichungen: • Best, C. (im Erscheinen). Betriebliche Mitbestimmung im Zeichen des Generationenwechsels: Wissensweitergabe bei Vorsitzwechsel im Betriebsrat. Sozialforschungsstelle Dortmund, Beiträge aus der Forschung, Band 204. Nach Erscheinen online zugänglich unter: http://www.sfs.tu-dortmund.de/sfs-Reihe/Band_204.pdf Kerstin Guhlemann, M.A., Studium Soziologie und Medienwissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. Koordinatorin des Forschungsbereichs Arbeitspolitik und ­ Gesundheit der Sozialforschungsstelle Dortmund, ZWE der TU Dortmund, Modulbetreuerin an der Apollon Hochschule der Gesundheitswirtschaft in Bremen, Mitglied in der DGS und Arbeitskreisen der HBS und IGM. Letzte Veröffentlichungen:

• Janda, V.; K. Guhlemann. 2019. Sichtbarkeit und Umsetzung – die Digitalisierung verstärkt bekannte und erzeugt neue Herausforderungen für den Arbeitsschutz (baua: Fokus); Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Online zugänglich: https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/Fokus/Digitalisierung.html. • Guhlemann, K. 2019. Interessenvertretungen und Mitbestimmung in der digitalen Transformation. In GfA. Hrsg. Arbeit interdisziplinär analysieren – bewerten – gestalten, Dortmund: GfA-Press, A.1.3. • Guhlemann, K.; A. Georg. 2019. Wirksamkeit von Arbeitsschutzstrukturen in der flexibilisierten Arbeitswelt. In Kock, K. Hrsg. Arbeit erforschen und gestalten. Ein Querschnitt durch die Arbeitsforschung in der Sozialforschungsstelle Dortmund. Beiträge aus der Forschung, Band 201, S. 24–35. Online zugänglich: http://www.sfs.tudortmund.de/sfs-Reihe/Band_201.pdf.

Get Online Week 2019 – Eine Intervention zur Verbesserung der digitalen Teilhabe Bastian Pelka und Studiengruppe Get Online Week

Zusammenfassung

Im Zuge der Digitalisierung findet eine Verlagerung vieler Lebenswelten in digitale Medien statt. Bestimmte Personengruppen profitieren davon jedoch weniger als andere. Hier setzt seit 2010 die europaweite Kampagne „Get Online Week“ an. Studierende der Rehabilitationspädagogik der TU Dortmund beteiligten sich im März 2019 zum fünften Mal in Folge an dieser Kampagne und boten rund 40 kostenlose Kurse zu digitalen Themen für benachteiligte Menschen an. Ziel war es, die Gesellschaft für digitale Exklusion zu sensibilisieren und Medienkompetenz sowohl an Zielgruppen als auch an Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens zu vermitteln. Die anschließende Evaluation überprüfte Wirksamkeit und Nachhaltigkeit der Interventionen (Befragung der Teilnehmenden und Leitfaden gestützte Interviews in Einrichtungen). Der Beitrag stellt die Evaluationsergebnisse vor und skizziert Ansätze zum Transfer der Kampagne in andere Einrichtungen.

Mitglieder der Projektgruppe sind: Julia Heidegger, Hannah Klamroth, Friederike Kober, Hannah Leibig, Henrike Naß, Larissa Oliverio, Adina Pauksch, Nathalie Schmitte, Cynthia Seemann, Floriane Thies, Pia Wolf, Ina Zawadka B. Pelka (*)  · Studiengruppe Get Online Week Dortmund, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_15

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1 Einleitung Im Rahmen des Projektstudiums des Studiengangs Rehabilitationspädagogik an der TU Dortmund erarbeiten Studierende zwei Semester lang ein berufsfeldorientiertes Projekt, in dem sie eine rehabilitationspädagogische Fragestellung wissenschaftlich untersuchen (Technische Universität Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften 2018, S. 4). Der vorliegende Bericht stellt die Ergebnisse des Projekts Get Online Week Dortmund – 2019 (GOW Dortmund) dar, das zwölf Studierende im Wintersemester 2018/2019 und Sommersemester 2019 unter Begleitung von Dr. Bastian Pelka durchgeführt haben. Die „Get Online Week“ ist eine internationale Kampagne mit dem Ziel, auf die gesellschaftliche Herausforderung der digitalen Exklusion aufmerksam zu machen und Wege zu deren Bekämpfung aufzuzeigen. Im Rahmen des Projektstudiums haben die Studierenden als lokale Initiative der Kampagne agiert. Sie haben Workshops für benachteiligte Menschen entwickelt und diese in Dortmund durchgeführt. Außerdem wurde durch begleitende Öffentlichkeitsarbeit das Thema digitale Teilhabe lanciert.1 Der vorliegende Bericht beschreibt die Workshops und die ihnen zugrunde liegenden didaktischen Konzepte, widmet sich aber auch deren wissenschaftlicher Auswertung. Das Ziel ist dabei, die Intervention selber, aber auch ihre Gelingensbedingungen für möglichen Transfer in andere lokale Kampagnen sowie für folgende Studierendenkohorten in Dortmund zur Nachahmung aufzubereiten. Die Get Online Week wurde in Dortmund bereits viermal durchgeführt und dreimal dokumentiert (Becker et al. 2019, Pelka et al. 2017, Pelka et al. 2016). Dabei deuteten sich erste Ansätze von Empfehlungen für die Gestaltung pädagogischer Interventionen mit dem Ziel der Stärkung digitaler Kompetenzen unterschiedlicher marginalisierter Zielgruppen an. So wird eine starke Individualisierung der Workshop-Formate an den Bedarfen der Zielgruppe empfohlen. Hierzu seien Interviews mit potenziellen Teilnehmer*innen und Mitarbeiter*innen in den Einrichtungen sowie Hospitationen geeignet. Außerdem seien technische Ausstattungen vor Ort zu überprüfen und zu testen. Ein dritter Maßnahmenblock betrifft die Abstimmung der Anzahl der Teilnehmenden auf deren soziodemographischen Merkmale und die Inhalte der Workshops. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, über diese Empfehlungen hinausgehende, den Transfer unterstützende Schritte aufzuzeigen.

1Die

Aktivitäten der Projektgruppe zur Öffentlichkeitsarbeit werden hier nicht weiter aufgegriffen, da sie nicht zu den Bestandteilen des Studiums der Rehabilitationswissenschaften gehören.

Get Online Week 2019 …

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Um die Notwendigkeit der Kampagne darzulegen, wird zunächst der theoretische Hintergrund mit Ausgangs- und Problemlage sowie dem aktuellen Forschungsstand umrissen. Das folgende Kapitel stellt die Entwicklung der Kampagne und der Workshops dar. Anschließend wird das Forschungsdesgin vorgestellt, welches die Entwicklung der Forschungsfrage sowie das methodische Vorgehen beinhaltet. Das folgende Kapitel stellt die Forschungsergebnisse dar und nimmt eine Evaluierung vor, sodass anhand der Ergebnisse die Beantwortung der Haupt- und Unterfragen erfolgen kann. Im Anschluss daran wird die Gestaltung der Fragebögen reflektiert. Abschließend wird ein Fazit der Kampagne GOW Dortmund 2019 im Hinblick auf die Rehabilitationspädagogik gezogen.

2 Theoretische Grundlagen In diesem Kapitel werden zunächst die gesellschaftliche Problemlage der digitalen Spaltung und ihre Auswirkungen beschrieben und im Anschluss durch die Erläuterung des aktuellen Forschungsstandes belegt.

2.1 Ausgangs- und Problemlage Die fortschreitende Digitalisierung beeinflusst immer mehr Bereiche der Gesellschaft. So verlagern sich Tätigkeiten des Alltags ins Internet, und auch die Kommunikation findet zu großen Teilen über digitale Medien statt. Auch politische Teilhabe und Meinungsbildung verlagern sich ins Netz (Initiative D21 e. V. 2019, S. 21 ff.). Durch das als Medienkonvergenz bezeichnete Verschmelzen verschiedener Medientechnologien werden diese immer kompakter, sind permanent und überall verfügbar und werden in vielen sozialen Kontexten eingesetzt (Krotz und Hepp 2012, S. 7 f.). Ein Beispiel hierfür stellt das Smartphone dar, das viele verschiedene Funktionen in sich vereint. Die dargestellte Entwicklung führt neben neuen Chancen auch zu neuen Risiken und Barrieren, die manchen Menschen den Zugang zu digitalen Medien und somit auch zu Informations- und Kommunikationstechnologien erschweren bzw. ihn verhindern. Es entsteht eine Spaltung der Gesellschaft, die sogenannte digitale Kluft (Dudenhöfer und Meyen 2012, S. 7 f.). Auf der einen Seite stehen digital inkludierte Personen, die digitale Kompetenzen besitzen, nutzen und davon profitieren. Auf der anderen Seite gibt es digital abseitsstehende Menschen, denen nötige Kompetenzen, Zugänge oder das Interesse an digitalen ­Lebenswelten fehlen

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oder die ihre Kompetenzen nicht in vollem Umfang ausschöpfen können. Dies kann zur digitalen Exklusion führen. „Je mehr die Digitalisierung ganz selbstverständlich zum Alltag der meisten Menschen gehört, umso mehr verlieren die Abseitsstehenden den Anschluss“ (Initiative D21 e. V. 2019, S. 7 f.). Im Anschluss folgt die Darstellung der aktuellen Forschung zum Thema der digitalen Spaltung sowie ein Bezug zu den sozialen Folgen.

2.2 Forschungsstand Die zuvor aufgegriffene Problematik der digitalen Spaltung und die damit verbundenen Folgen lassen sich anhand von verschiedenen Indices und Studien belegen. Nachfolgend werden prägnante Ergebnisse kurz dargestellt. Das Messinstrument Digital Economy and Society Index (DESI) beschreibt die Entwicklung der digitalen Gesellschaft und Wirtschaft in den EU-Ländern (European Commission 2019a). Anhand von fünf unterschiedlichen Kategorien wird der Digitalisierungsgrad der einzelnen EU-Länder erfasst. Im internationalen Vergleich steht Deutschland bezogen auf den Durchschnittswert auf Rang 12 von 29 (European Commission 2019g, S. 1). Betrachtet man die einzelnen Kategorien genauer, findet man folgende Ergebnisse: Die Kategorie Humankapital zeigt, dass 20 Prozent der Deutschen über nur unzureichende Kompetenzen bei der Internetnutzung verfügen. Bei 5 Prozent wurden digitale Kompetenzen sogar als nicht vorhanden kategorisiert (European Commission 2019d, S. 6). Die Kategorie Digitale öffentliche Dienste hingegen zeigt, dass Terminvergaben beim Amt immer häufiger über Internetseiten geregelt werden (European Commission 2019b, S. 3 f.). Es ist davon auszugehen, dass immer mehr digitale Verfahren die analogen Alternativen in der Zukunft möglicherweise weitestgehend ersetzen werden (European Commission 2019b, S. 3) und die exkludierenden Folgen für Menschen mit digitaler Benachteiligung weiter reichen werden. Daher werden mit der fortschreitenden Digitalisierung digitale Kompetenzen immer wichtiger, um sich in der heutigen Gesellschaft verorten zu können und kritisch sowie sicher an den vielfältigen, digitalen Möglichkeiten teilzuhaben (Vourkari und Punie 2016, S. 1). Nicht nur innerhalb der einzelnen Staaten, sondern auch innerhalb der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen werden starke Unterschiede bezüglich der Nutzung und der Kompetenzen sichtbar (European Commission 2019d, S. 6 ff.; 2019e, S. 4ff.; 2019f, S. 5 ff.). Für diese Ungleichheiten wurden im DESI vor allem Zusammenhänge in den Kategorien Bildung, Einkommen und Berufstätigkeit ermittelt (European Commission 2019c, S. 1).

Get Online Week 2019 …

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Diese Befunde werden auch im Digital Index (D21) belegt. Das Messinstrument fasst die Kategorien Zugang, Nutzungsverhalten, Kompetenzen und Offenheit in Deutschland zu einem Indexwert zusammen. Der Bereich Zugang veranschaulicht, dass sich die technische Ausstattung in den letzten fünf Jahren maßgeblich verbessert hat. In der Kategorie Kompetenzen wird deutlich, dass die Kenntnisse der BürgerInnen zu digitalen Themen im Vergleich zum letzten Jahr durchschnittlich weiter angestiegen sind. Darüber hinaus erfasst der D21 sieben verschiedene Nutzertypen, die in den drei Hauptgruppen Digitale Vorreiter, Digital Mithaltende und Digital Abseitsstehende zusammengefasst werden (Initiative D21 e. V. 2019, S. 36 f.). In Deutschland gehören noch immer 13 Mio. Menschen zur letzten Gruppe der Digital Abseitsstehenden, die wiederum in Offliner und Minimal-Onliner unterteilt wird. Diese Personengruppe sieht keine oder nur wenig Vorteile in der Internetnutzung und ist weitestgehend überfordert von Internetanwendungen (Initiative D21 e. V. 2019, S. 35 f.). Im D21 werden Aspekte genannt, die den sogenannten Offlinern nach eigener Aussage die Internetnutzung erleichtern würden. Dazu gehört das Erkennen des persönlichen Nutzens (19 Prozent), das Vermitteln der Funktionsweise mit Hilfe von anderen (12 Prozent), eine einfachere Nutzung (11 Prozent) sowie das bessere Verstehen von Fachbegriffen und Funktionen (9 Prozent). 5 Prozent der Befragten gaben an, dass mehr Kenntnisse über den Schutz der persönlichen Daten im Netz für die Nutzung hilfreich wären (Initiative D21 e. V. 2019, S. 19). Als Gründe für die bestehenden Unterschiede zwischen den verschiedenen Personengruppen werden im D21 Geschlecht, Alter und Bildung identifiziert (Initiative D21 e. V. 2019, S. 38 f.). Aufgrund der großen Unterschiede innerhalb der deutschen Bevölkerung spricht man weiterhin von der digitalen Spaltung. Bezüglich der Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen am Internet wurden bestehende Barrieren in unterschiedlichen Studien untersucht. Die Studie Web 2.0 befragte erstmals Menschen mit Beeinträchtigungen, die bereits das Internet nutzen, zu deren Internet-Anwendungen und identifizierte darüber auf die Behinderung bezogene Barrieren (Aktion Mensch e. V. 2010, S. 10 ff.). Für gehörlose Menschen, die über Videotelefonie kommunizieren möchten, stellen zum Beispiel zu niedrige Download- und Upload-Geschwindigkeiten eine Barriere dar (Aktion Mensch e. V. 2010, S. 46 f.). Menschen mit einer Sehbehinderung haben große Probleme bei der Orientierung im Internet allgemein und profitieren von responsiven Webdesigns (Aktion Mensch e. V. 2010, S. 48 f.). Die Studie Mediennutzung von Menschen mit Behinderung (MMB 16) zeigt unter anderem, dass Menschen mit Lernschwierigkeiten das Internet weniger nutzen als Menschen mit körperlichen Behinderungen. Die dargelegte Forschung zeigt auf, dass die Bevölkerungsgruppe der Menschen mit

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­ eeinträchtigungen durch verschiedene Barrieren im Internet in der Nutzung einB geschränkt wird, sodass diese häufiger auf die Anwendungen verzichten. Dadurch werden Menschen mit Beeinträchtigungen in ihrer Teilhabe an internetbasierten Anwendungen eingeschränkt (Bosse und Hasebrink 2016, S. 45 ff.). Damit alle Personen in vollem Umfang an der digitalen Gesellschaft teilhaben und von der Digitalisierung profitieren können, muss diese entsprechend gestaltet werden. Außerdem muss die Vermittlung von Medienkompetenzen ein wichtiges gesellschaftliches und politisches Ziel werden. Somit bedarf es der Entwicklung geeigneter Mittel und Wege, der digitalen Spaltung entgegenzuwirken und digitale Teilhabe zu fördern. Die Get Online Week Dortmund als Teil der europaweiten Kampagne ALL DIGITAL Week stellt eine Möglichkeit dar, das globale Ziel der digitalen Teilhabe aller Menschen zu verfolgen und wird im Folgenden näher erläutert.

3 Die Intervention: Get Online Week Dortmund 2019 3.1 Die Kampagne Die europäische Kampagne ALL DIGITAL Week startete 2010 unter dem Namen Get Online Week2. In der letzten Märzwoche werden seitdem jährlich in über 20 europäischen Ländern Workshops durchgeführt, die den Teilnehmenden zu digitalem Empowerment, also der Befähigung zu profitablem, eigenständigem und eigenmächtigem Nutzen digitaler Technologien, verhelfen sollen. Die Aktionen finden in unterschiedlichsten Einrichtungen wie Bibliotheken, Schulen, Gemeindezentren und gemeinnützigen Organisationen statt und decken eine große Bandbreite an Inhalten ab. Seit dem Start der Kampagne wurde bereits über eine Million Menschen erreicht. Im Jahr 2015 kam der Standort Dortmund als Teil der europaweiten Kampa­ gne hinzu. Hier erarbeiten Studierende der Rehabilitationspädagogik an der TU

2Das ursprüngliche Ziel, Menschen an die O ­ nline-Welt heranzuführen, wurde mittlerweile durch den die Europa weite Kampagne koordinierenden Dachverband der digitalen Lernzentren (bis 2018 „Telecentre Europe“, danach „All Digital“) erweitert zu dem globalen Ziel, Menschen bei einer kompetenten Nutzung von Medien zu unterstützen. Dieser Zielwechsel wurde 2018 in der Umbenennung der „Get Online Week“ in „All Digital Week“ auch im Namen vollzogen. Die Studierenden entschieden sich aber dafür, den in Dortmund etablierten Namen „Get Online Week“ fortzuführen.

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Dortmund im Rahmen des Projektstudiums gemeinsam mit Dr. Bastian Pelka Workshops zu digitalen Themen, die im Anschluss an die Durchführung evaluiert werden. Die vierte GOW Dortmund erreichte 2018 560 Teilnehmende mit 40 Workshops zu vier Themen in 30 Einrichtungen – durchgeführt von zwölf Studierenden innerhalb von sieben Tagen.

3.2 Workshops Im Folgenden werden die vier angebotenen Workshops der GOW Dortmund in einer Kurzbeschreibung vorgestellt. • #augenauf – Cybermobbing begegnen In diesem Workshop wurden Eltern und SchülerInnen für das Thema Cybermobbing sensibilisiert. Dazu wurden den Teilnehmenden handlungspraktische Kompetenzen vermittelt, die ihnen helfen, Cybermobbing frühzeitig zu erkennen und damit angemessen umzugehen. Der Workshop wurde zweiteilig durchgeführt: als Elternabend und als Workshop für SchülerInnen. • Facebook- und dann? Dieser Workshop richtete sich an Menschen mit Beeinträchtigung und führte die Teilnehmenden interaktiv an einen sicheren Umgang mit Facebook heran. Durch praktische Hilfen wurden die dazu erforderlichen Kompetenzen erworben und erweitert. • Online zum Job In diesem Workshop wurde interaktiv das Handwerkszeug rund um das Thema „Online Bewerbungen“ vermittelt. Inhalte des Kurses waren unter anderem praktische Übungen und das Erstellen von Checklisten für den späteren Gebrauch. Der Workshop richtete sich an alle, die auf Jobsuche sind, egal ob zum Berufseinstieg oder nach einer Phase der Arbeitslosigkeit. • GoTalkNow Dieser Workshop vermittelte Kompetenzen für den Umgang mit der ­Talker-App „GoTalkNow“. Des Weiteren wurden hilfreiche Tipps zum Einsatz digital unterstützter Kommunikation gegeben. Der Workshop richtete sich an Lehrkräfte und bei Bedarf auch an IntegrationshelferInnen und Eltern.

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4 Forschungsdesign Ziel dieses Aufsatzes ist es, die lokale Kampagne so zu beschreiben, dass sie sich zur Nachahmung anbietet. Dazu geht der Aufsatz über die reine Deskription der Interventionen hinaus und evaluiert diese. Dabei wird unterstellt, dass für mögliche Nachahmer eine Bewertung der Wirkungen und Gelingensbedingungen der Kampagne von Bedeutung ist. Von früheren GOW-Kampagnen und deren Evaluationen war außerdem bekannt, dass kooperierende Einrichtungen Fragen der Nachhaltigkeit der Interventionen interessiert: Wie lassen sich die Effekte der Workshops für die Teilnehmenden, aber auch für die kooperierenden Einrichtungen verstetigen? Diese Verwendungszusammenhänge leiteten das im Folgenden beschriebene Forschungsdesign zur Evaluation der im Projekt entworfenen und angebotenen Workshops an.

4.1 Forschungsfragen Folgende Forschungsfrage wurde quasi als Operationalisierung der Nachahmungsinteressen formuliert: Inwiefern können die im Rahmen der GOW Dortmund angebotenen Workshops nachhaltig zu einer Erhöhung der digitalen Teilhabe beitragen? Zur methodischen Stützung dieser Hauptfrage wurden anschließend drei Unterfragen entwickelt: 1. Wie können die Workshops gestaltet werden, um die digitalen Kompetenzen der Teilnehmenden zu erhöhen? 2. Welche Aspekte in den verschiedenen Workshops können Nachhaltigkeit bewirken? 3. Wie verändert sich das Nutzungsverhalten der Teilnehmenden bezüglich digi­ taler Medien? Die genannten Forschungsfragen dienten während des gesamten Forschungsprozesses als handlungsleitend und sollten im Laufe der Evaluation beantwortet werden. Aus Sicht der Projektgruppe stellen die Erhöhung der digitalen Kompetenzen, die Nachhaltigkeit der vermittelten Inhalte sowie die Veränderung des Nutzungsverhaltens zentrale Bestandteile der digitalen Teilhabe dar. Demnach soll die Beantwortung der drei Unterfragen kontextuelle Rückschlüsse auf die Hauptfrage erlauben. Zudem wurden, den Unterfragen zugeordnet, insgesamt neun Hypothesen aus der Theorie abgeleitet. Diese werden in Abschn. 5 im Einzelnen aufgegriffen.

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4.2 Methodisches Vorgehen Entsprechend dem formulierten Forschungsinteresse wurde ein quantitativer Forschungszugang gewählt. Die Erhebung der Daten erfolgte durch die schriftliche Befragung aller Teilnehmenden der Workshops. Da für die Beantwortung der Forschungsfragen die Erhöhung der Medienkompetenzen, deren nachhaltige Wirkung und die Veränderung des Nutzungsverhaltens relevant waren, entschied sich die Projektgruppe dazu, eine Längsschnittuntersuchung (Panelforschung) durchzuführen. Infolgedessen wurden die Durchführung einer Prä- und Posttestung sowie eines Follow-ups festgelegt. Somit wurde die Befragung zu insgesamt drei Messzeitpunkten durchgeführt: vor den Workshops, unmittelbar danach und ein drittes Mal weitere fünf bis sechs Wochen später.

4.2.1 Forschungsinstrument Zur Erhebung der Daten setzte die Projektgruppe schriftliche Fragebögen ein. Da die Inhalte der Workshops und die damit verbundenen Kompetenzen stark variierten, wurden diese Fragebögen zweiteilig entwickelt. Ein Hauptfragebogen erfasste Workshop übergreifende Aussagen, um eine Vergleichbarkeit der gesamten Stichprobe zu gewährleisten. In einem jeweiligen Beiblatt wurden die auf die einzelnen Workshops bezogenen Kompetenzen spezifisch ermittelt. Für jeden der drei Erhebungszeitpunkte wurde ein eigener Hauptfragebogen mit unterschiedlichen Aussagen konzipiert. Die Beiblätter hingegen waren bei allen Erhebungszeitpunkten identisch. Grundsätzlich wurden die Fragebögen in Leichter Sprache verfasst. Die Projektgruppe entschied sich bei allen formulierten Aussagen (mit Ausnahme der soziodemografischen Daten) für eine Ratingskala zu Häufigkeiten und Bewertungen als Antwortmöglichkeit. Diese wurde als vierstufige Skala gewählt, um neutrale Antworten zu vermeiden. Bei den Bewertungen wurden die Abstufungen durch farbige Smileys unterstützt, um die Verständlichkeit und somit die Zuverlässigkeit der Antworten zu erhöhen. Damit dem Gefühl von Antwortzwang entgegengewirkt werden konnte, wurde zusätzlich die Antwortmöglichkeit keine Angabe/ich weiß nicht geboten. Für alle Fragebögen wurde ein geschlossenes Antwortformat gewählt, um eine einfache Vergleichbarkeit der Stichprobe zu bieten und die Auswertung zu erleichtern.

4.2.2 Stichprobe Die Grundgesamtheit der Forschung setzt sich aus allen 560 Teilnehmenden der Workshops zusammen, von denen 532 für die Evaluation berücksichtigt werden konnten. Sie umfasst zum einen SchülerInnen der dritten, vierten und siebten

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Klasse und zum Teil deren Eltern sowie eine Vielzahl von Fachkräften. Ebenfalls zur Stichprobe zählen Menschen mit kognitiver und Menschen mit psychischer Beeinträchtigung sowie digital benachteiligte Erwachsene und Jugendliche. Insgesamt bildet sich somit eine heterogene Stichprobe ab. In den einzelnen Workshops lassen sich in der Regel homogene Stichproben ausmachen.

4.2.3 Auswertungsmethoden Im Anschluss an die Datenerhebung auf Basis der Fragebögen T0 (vor dem Workshop), T1 (unmittelbar nach dem Workshop) und T2 (fünf bis sechs Wochen danach) folgte die Datenanalyse mithilfe der Statistiksoftware IBM SPSS Statistics (SPSS). Im anschließenden Kapitel werden die Ergebnisse sowie deren Analyse und Interpretation ausführlich dargestellt.

4.2.4 Kompetenzgewinn Der Kompetenzgewinn der Teilnehmenden wurde durch die Werte der Beiblätter (vgl. Abschn. 4.2.1) ermittelt. Diese wurden zum Zeitpunkt T0 addiert und mit den Werten der nachfolgenden Erhebungszeitpunkte verglichen. Ein Kompetenzpunkt beschreibt die Veränderung um eine Skalen-Einheit. Um ein unverfälschtes Ergebnis zu erhalten, konnten Personen, die keine Angabe angekreuzt hatten, nicht berücksichtigt werden. Die Differenzen der Kompetenzwerte vom Zeitpunkt T1 und T0 bzw. T2 und T1 ergeben einen Wert, der den durchschnittlichen Kompetenzgewinn je Workshop darstellt. Der Kompetenzgewinn zum Zeitpunkt T1 wird im Folgenden mit KompGewT1 abgekürzt, der Kompetenzgewinn zum Zeitpunkt T2 mit KompGewT2. Ein KompGewT1 von 2 Punkten bedeutet, dass die Teilnehmenden zum Zeitpunkt T1 im Durchschnitt 2 Kompetenzpunkte mehr aufwiesen als zum Zeitpunkt T0. Die Kompetenzentwicklung der einzelnen Workshops lässt sich durch die Darstellung der gemittelten Kompetenzgewinne pro Frage in Abb. 1 vergleichen. Sie werden zu den Erhebungszeitpunkten T0, T1 und T2 abgebildet. Beispielsweise stehen zum Zeitpunkt T1 die Teilnehmenden des Workshops GoTalkNow durchschnittlich bei 3,58 Punkten (zwischen stimme eher zu und stimme voll zu) pro Frage. Zum Zeitpunkt T2 konnte der Kompetenzgewinn der Teilnehmenden des Eltern-Workshops #augenauf – Cybermobbing begegnen nicht festgestellt wer­ den, da von den zwölf Fragebögen der Eltern keiner diese Frage beantwortete.

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Abb. 1   Gemittelte Kompetenzgewinne zu den Zeitpunkten T0, T1, T2. (Eigene Darstellung)

5 Forschungsergebnisse Dieses Kapitel stellt die Ergebnisse der Evaluation dar. Auf Grundlage dieser Resultate wird im Anschluss die Forschungsfrage: Inwiefern können die im Rahmen der GOW angebotenen Workshops nachhaltig zu einer Erhöhung der digitalen Teilhabe beitragen? beantwortet. Das Kapitel soll damit auch möglichen Nachahmern der Kampagne Hinweise auf Gelingensbedingungen und Verbesserungsmöglichkeiten geben. Die Grundlage der Analyse und Interpretation der Ergebnisse bildete die Auswertung der Fragebögen mithilfe der Statistiksoftware IBM SPSS Statistics (SPSS). Die Ergebnisse werden nachfolgend den jeweiligen Hypothesen entsprechend dargestellt, analysiert und interpretiert. Die Hypothesen stellen dabei aus der Theorie abgeleitete, begründete Vermutungen dar, deren Prüfung die Beantwortung der Forschungsfragen erleichtern soll.

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5.1 Beantwortung der ersten Unterfrage Dieses Kapitel behandelt die ersten beiden Hypothesen, die mit der der ersten Unterfrage: Wie können die Workshops gestaltet werden, um die digitalen Kompetenzen der Teilnehmenden zu erhöhen? adressiert werden sollen. Hypothese 1: Die Rahmenbedingungen der Workshops (TN-Zahl, Dauer, Räumlichkeiten) müssen passgenau für die Zielgruppe sein, damit die Kompetenzen erhöht werden. Der Aussage: „Ich fand den Raum, die Gruppengröße und die Dauer des Kurses gut“ haben 91 Prozent aller Teilnehmenden voll oder eher zugestimmt. Aufgrund der positiven Rückmeldungen, die die Teams nach der Durchführung der Workshops erhalten haben, und der hohen Zufriedenheit der Teilnehmenden mit den Rahmenbedingungen kann davon ausgegangen werden, dass die Rahmenbedingungen einen positiven Effekt auf den Kompetenzgewinn hatten. Hypothese 2: Damit Kompetenzen erhöht werden, müssen sowohl Wissen als auch die praktische Anwendbarkeit dieses Wissens vermittelt werden ­(Theorie-Praxis-Transfer). Insgesamt stimmten 78,2 Prozent der Teilnehmenden zu, dass sie in den Workshops aktiv mitarbeiten konnten und etwas Neues gelernt haben. Dies zeigt, dass das Ziel, die Workshops praxisorientiert zu gestalten, erreicht wurde. Eine Wissensvermittlung durch die Verknüpfung von Theorie und Praxis hat stattgefunden. Ergebnis Unterfrage 1: Die Interpretation der Ergebnisse aus den Kreuztabellen, den Häufigkeitsverteilungen sowie die Rückmeldungen der Einrichtungen zeigen, dass eine genaue Absprache mit den KooperationspartnerInnen und die daraus resultierende zielgruppenorientierte Gestaltung der Workshops einen positiven Effekt auf die Wissensvermittlung haben. Außerdem bestätigen diese Ergebnisse, dass ein praxisorientierter Workshop, der das theoretisch vermittelte Wissen aufgreift, eine positive Wirkung auf den Lernerfolg besitzt.

5.2 Beantwortung der zweiten Unterfrage Im Laufe dieses Kapitels wird die zweite Unterfrage: Welche Aspekte in den verschiedenen Workshops können Nachhaltigkeit bewirken? durch die Verifizierung der Hypothesen 3 bis 7 analysiert und beantwortet.

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Hypothese 3: Durch eine interaktive Workshop-Gestaltung lassen sich Lerninhalte nachhaltiger vermitteln. Zum Erhebungszeitpunkt T2 stimmten 72,6 Prozent der Teilnehmenden sowohl zu, dass sie den besuchten Workshop aktiv mitgestalten konnten, als auch, dass sie sich nach sechs Wochen noch an die vermittelten Inhalte erinnern konnten. Des Weiteren erinnerten sich 64,1 Prozent auch nach sechs Wochen noch, dass sie die Möglichkeit hatten, den Workshop aktiv mitzugestalten, sowie, dass sie die vermittelten Inhalte noch anwenden. Es zeigt sich, dass ein interaktives Mitgestalten des Workshops durch die Teilnehmenden sowohl „im Kopf blieb“ als auch dazu führte, dass die Inhalte nachhaltiger vermittelt wurden. Hypothese 4: Damit Nachhaltigkeit bewirkt werden kann, müssen die Workshops praxisorientiert gestaltet werden. Deutlich wurden Zusammenhänge zwischen den Variablen der Nachhaltigkeit und der Praxisorientierung, die als positiv zu verzeichnen sind. Hier werden noch einmal die Befunde zur Frage, ob die Teilnehmenden den Workshop aktiv mitgestalten konnten, zur Operationalisierung der Praxisorientierung herangezogen: 64,1 Prozent der Befragten gaben an, dass sie sowohl im Workshop aktiv mitarbeiten konnten, als auch, dass sie die Workshop-Inhalte auch nach sechs Wochen noch angewendet haben. Es zeigt sich, dass ein praxisorientierter Workshop die nachhaltige Anwendbarkeit der Workshop-Inhalte positiv beeinflussen kann. Hypothese 5: Die genutzten Materialien unterstützen das Vertiefen der Lerninhalte. 91,3 Prozent der Befragten empfanden die verwendeten Materialien im Workshop als hilfreich und nützlich. 79,6 Prozent der Befragten zum Zeitpunkt T2, welche die Materialien als gut empfanden, konnten sich nach sechs Wochen noch an die Inhalte der Workshops erinnern. 71,1 Prozent der Teilnehmenden, die das Material positiv bewerteten, stimmten im Weiteren der Aussage zu, die Workshop-Inhalte auch nach sechs Wochen noch anzuwenden. Abschließend ­ kann somit festgehalten werden, dass die Gestaltung der Materialien sich positiv auf den Lernerfolg der Teilnehmenden auswirkt. Hypothese 6: Materialien für den weiterführenden Gebrauch, auf die längerfristig zurückgegriffen werden kann, erhöhen den nachhaltigen Lerneffekt. Insgesamt 78 Prozent der Befragten gaben an, dass sie die entwickelten Materialien auch nach sechs Wochen noch als Hilfsmittel nutzen. 66,1 Prozent der Teilnehmenden gaben an, dass sie die Handouts als hilfreich erachteten, sie sich an die Lerninhalte erinnern können und die Workshop-Inhalte nach sechs

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Wochen noch immer anwenden. Ein ansprechendes Handout trägt somit zu einem nachhaltigen Lerneffekt bei, denn durch das stetige Wiederholen der ­Workshop-Inhalte mithilfe der Handouts werden die Workshop-Inhalte gefestigt. Hypothese 7: Durch die Workshops sollen Interesse und Motivation der Teilnehmenden geweckt werden, um weiterhin die dort vermittelten Lerninhalte anzuwenden. Zum Erhebungszeitpunkt T1 stimmten 89,3 Prozent aller Teilnehmenden voll oder eher zu, dass sie die in den Workshops vermittelten Lerninhalte weiter anwenden werden. Zum Erhebungszeitpunkt T2 gaben 78,3 Prozent der 401 Befragten an, die Lerninhalte immer noch anzuwenden. Die Kreuztabelle der beiden Items zeigt, dass 73,1 Prozent der Teilnehmenden beiden Aussagen zugestimmt haben. Es lässt sich somit darauf schließen, dass die in den Workshops vermittelten Inhalte sowohl interessant als auch nützlich für die Zielgruppen waren. Ergebnis Unterfrage 2: Es konnten fünf Aspekte, die Nachhaltigkeit bewirken, ermittelt werden: die interaktive Gestaltung der Workshops, die Praxisorientierung der Workshops, die Materialien zur Workshop-Durchführung, die Materialien für den weiterführenden Gebrauch sowie das Wecken von Interesse und Motivation bei den Teilnehmenden während des Workshops. Jeder dieser Aspekte wurde mit einer zugehörigen Hypothese in die Forschung einbezogen. Die Hypothesen wurden untersucht und konnten verifiziert werden, so lässt sich die Unterfrage 2 abschließend beantworten. Es kann festgehalten werden, dass alle genannten Aspekte den nachhaltigen Lerneffekt positiv beeinflussen.

5.3 Beantwortung der dritten Unterfrage Das folgende Kapitel beantwortet die Frage Wie verändert sich das Nutzungsverhalten der Teilnehmenden bezüglich digitaler Medien? Hypothese 8: Die Variation der genutzten digitalen Medien hat sich erhöht. Zur Überprüfung dieser Hypothese wurden zu den Zeitpunkten T0 und T2 sechs Items zum Nutzungsverhalten abgefragt. Die Teilnehmenden gaben an, wie häufig sie Suchmaschinen, Online-Shopping, Unterhaltungsdienste oder soziale Netzwerke nutzen und wie häufig sie chatten oder online Spiele spielen. Zu erwähnen ist, dass sich das Nutzungsverhalten der Teilnehmenden in den Bereichen verändert hat, die in den Workshops aufgegriffen wurden. Die Hypo-

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these konnte jedoch nicht eindeutig verifiziert werden. Aufgrund unpräziser Items in den Fragebögen konnte keine Variation des Nutzungsverhaltens gemessen werden. Lediglich eine Verschiebung der Häufigkeiten in den Bereichen konnte ermittelt werden. Hypothese 9: Die Teilnehmenden setzen sich auch nach einem längeren Zeitraum mit den vermittelten Inhalten auseinander. 84,8 Prozent der TeilnehmerInnen zum Zeitpunkt T2 stimmten zu, dass sie sich an die vermittelten Inhalte des Workshops erinnern können. 78,3 Prozent gaben an, dass sie das im Workshop Gelernte auch noch weiter anwenden. Dies lässt darauf schließen, dass die vermittelten Inhalte an die Bedürfnisse der Teilnehmenden angepasst waren. Ergebnis Unterfrage 3: Es zeigt sich, dass die ermittelten Ergebnisse keine eindeutige Interpretation eines veränderten Nutzungsverhaltens ermöglichen. Die im Fragebogen gestellten Fragen liefern keine aussagekräftigen Ergebnisse zur Beantwortung der Hypothese 8. Tendenzen in der Variation des Nutzungsverhaltens lassen jedoch vermuten, dass die vermittelten Lerninhalte Einfluss auf eine Reduzierung oder Erhöhung der Nutzung digitaler Medien haben. Die Hypothese 9 kann deutlicher verifiziert werden, da die Items exakt auf die Hypothese abgestimmt sind. Die Ergebnisse zeigen, dass die Teilnehmenden auch längere Zeit nach dem Besuch der Workshops die erlernten Inhalte weiterhin anwenden.

5.4 Beantwortung der Hauptfrage Im Folgenden wird die Hauptfrage abschließend beantwortet. Die Hauptfrage: Inwiefern können die im Rahmen der GOW Dortmund angebotenen Workshops nachhaltig zu einer Erhöhung der digitalen Teilhabe beitragen? kann nun mithilfe unserer empirischen Erhebungsergebnisse beantwortet werden. Die Ergebnisse zeigen, dass die praxisorientierte Vermittlung von Lerninhalten das Erlernen von theoretischem Wissen ebenso positiv beeinflusst wie eine zielgruppengerechte Gestaltung der Rahmenbedingungen. Es konnte festgestellt werden, dass ein praxisorientierter Workshop, in dem die Teilnehmenden Gestaltungsmöglichkeiten haben, die nachhaltige Anwendbarkeit der ­Workshop-Inhalte positiv beeinflusst. Mit dem Inhalt verknüpfte und zielgruppenorientiert gestaltete Materialien beeinflussen sowohl während als auch im Anschluss an den Workshop den Lerneffekt positiv. Das Interesse für die Inhalte

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des Workshops besteht weiterhin und motiviert zur weiteren eigenständigen Anwendung. Die Ergebnisse zeigen, dass zielgruppenorientierte und interessengeleitete Workshops zu einer nachhaltigen Erhöhung der digitalen Teilhabe beigetragen haben. In Bezug auf die Fragebögen ist positiv aufgefallen, dass sie aufgrund der Leichten Sprache und Smileys zielgruppenorientiert gestaltet und gut verständlich waren. Die Fragebögen hatten durch einheitliches Design und Formulierungen einen hohen Wiedererkennungswert, was besonders zum Zeitpunkt T2 nach den Workshops von Vorteil war. Während der Übertragung der Fragebögen in Leichte Sprache mussten Kompromisse in der Komplexität der Items eingegangen werden, die sich negativ auf deren Aussagekraft auswirkten. Dies hatte zur Folge, dass nicht alle Hypothesen ausreichend oder anhand von verschiedenen Items beantwortet werden konnten. Es musste ein Item zweifach genutzt werden, wodurch die Spezifität der Interpretationen verloren ging. Wegen des Panel-Designs der Studie mussten Fragebögen der gleichen Teilnehmenden aus unterschiedlichen Wellen einander zugeordnet werden. Um die Anonymität der Befragten zu gewährleisten, wurde ein Code-System genutzt, das auf den Forschenden unbekannten Merkmalen der Befragten (erster Buchstabe des Vornamens der Mutter und des Vaters, eigenes Geburtsjahr, siehe Abschn. 4.2.2) beruhte. Kritisch anzumerken ist, dass die Vergabe von individuellen Codes auf jedem Fragebogen zu einer großen Ausfallquote geführt hat. Entgegen den Erwartungen und den Ergebnissen aus den Pretests ergab sich eine hohe Fehlerquote bei der Erstellung der Codes, sodass sich ein großer Teil der Panelmortalität hierdurch erklären lässt. Um die Fehler zu minimieren, bedürfen die Beispielcodes einer genaueren Beschreibung. Alternativ kann die ebenfalls genutzte anonymisierte Liste der Teilnehmenden verwendet werden (Abschn. 4.2.2). Die Fragebögen, die anhand einfacher Nummerierungen codiert wurden, konnten eindeutiger zugeordnet werden.

6 Fazit Die Rehabilitationspädagogik widmet sich neben psychosozialer Betreuung, Pflege und Versorgung ihres Klientel vor allem der Förderung ihrer Teilhabe an allen gesellschaftlichen Lebensbereichen. Im Zuge der Digitalisierung findet eine Verlagerung vieler Lebensbereiche in die digitale Welt statt. Technologische Innovationen bieten neue Formen und Möglichkeiten der Partizipation. Um diese

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zu fördern, müssen RehabilitationspädagogInnen ihr Wissen über die Klientel und die Anwendung der Technologien miteinander in Verbindung bringen. Die diesjährige Kampagne erreichte mit 40 Workshops in Dortmund und Umgebung insgesamt über 500 Personen. Die Heterogenität der Zielgruppen, welche sowohl die digitalen Vorkenntnisse als auch die soziodemographischen Hintergründe der Teilnehmenden umfasst, erforderte ein hohes Maß an Flexibilität während der Planung und Durchführung der Workshops. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Projektgruppe mit der Durchführung und Evaluation der GOW Dortmund sowohl handlungs- als auch forschungsrelevante Kenntnisse vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Arbeitsweisen sammeln konnte. Des Weiteren wurde durch die Gestaltung der Interventionen individuumszentriert gearbeitet. Dies bot den Studierenden die Möglichkeit, praktische Erfahrungen im rehabilitationspädagogischen Arbeitsbereich zu sammeln. Für mögliche Nachahmer der Kampagne – darunter auch folgende Kohorten von Studierenden – wurden verschiedene Erfolgsfaktoren und Herausforderungen skizziert. Zur weiteren Lektüre werden die Berichte der Kampagnen aus 2018 (Becker et al. 2019), 2017 (Pelka et al., 2017) und 2016 (Pelka et al. 2016) empfohlen.

Literatur Aktion Mensch e. V., Hrsg. 2010. Web 2.0/ barrierefrei. Eine Studie zur Nutzung von Web 2.0 Anwendungen durch Menschen mit Behinderung. Bonn: Aktion Mensch. Becker, Manuela, A. Benner, K. Borg, J. Hüls, M. Koch, A. Kost, A. Korn, M.C. Lueg, D. Osthoff, B. Pelka, C. Rosenberger, H. Sattler. 2019. How to Design an Intervention to Raise Digital Competences: ALL DIGITAL Week – Dortmund 2018. In: Antona, M. und Stephanidis C. (eds) Universal Access in Human-Computer Interaction. Theory, Methods and Tools. HCII 2019. Lecture Notes in Computer Science, vol. 11572. Springer, Cham. Bosse, I., und U. Hasebrink. 2016. Mediennutzung von Menschen mit Behinderung. Forschungsbericht. http://www.kme.tu-dortmund.de/cms/de/Aktuelles/aeltereMeldungen/Studie-Mediennutzung-von-Menschen-mit-Behinderung-MMB16_/StudieMediennutzung_Langfassung_final.pdf. Zugegriffen: 16. Januar 2019. Dudenhöfer, K., und M. Meyen. 2012. Digitale Spaltung im Zeitalter der Sättigung. Eine Sekundäranalyse der ACTA 2008 zum Zusammenhang von Internetnutzung und sozialer Ungleichheit. Publizistik – Vierteljahreshefte für Kommunikationsforschung 1: 7–26. European Commission. 2019a. DESI 2019 – Key Findings. https://ec.europa.eu/digitalsingle-market/en/desi. Zugegriffen: 23. Juni 2019.

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B. Pelka et al.

European Commission. 2019b. Digital Economy and Society Index Report 2019. Digital Public Services. https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/desi. Zugegriffen: 12. Juni 2019. European Commission. 2019c. Digital Economy and Society Index Report 2019. Digital Scoreboard Visualization. http://bit.ly/2F46bhQ. Zugegriffen: 12. Juni 2019. European Commission. 2019d. Digital Economy and Society Index Report 2019. Human Capital. Digital Inclusion and Skills. https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/desi. Zugegriffen: 12. Juni 2019. European Commission. 2019e. Digital Economy and Society Index Report 2019. Integration of Digital Technology. https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/desi. Zugegriffen: 12. Juni 2019. European Commission. 2019f. Digital Economy and Society Index Report 2019. Use of Internet Services. https://ec.europa.eu/digital-single-market/en/desi. Zugegriffen: 12. Juni 2019. European Commission. 2019g. The Digital Economy and Society Index. Desi 2019. https:// ec.europa.eu/digital-single-market/en/desi. Zugegriffen: 23. Juni 2019. Initiative D21 e.  V., Hrsg. 2019. D21 Digital Index 2018/2019. Jährliches Lagebild zur Digitalen Gesellschaft. https://initiatived21.de/publikationen/d21-digitalindex-2018-2019/. Zugegriffen: 27. Mai 2019. Krotz, F. und A. Hepp. 2012. Mediatisierte Welten: Beschreibungsansätze und Forschungsfelder. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Pelka, Bastian und Projektgruppe Get Online Week 2017. Hrsg. Get Online Week 2017. Eine Woche zur Verbesserung der digitalen Teilhabe in Dortmund. Beiträge aus der Forschung. Dortmund. Online: http://www.sfs.tu-dortmund.de/sfs-Reihe/Band_198.pdf. Pelka, Bastian und Projektgruppe Get Online Week Dortmund 2016 (2016): Get Online Week Dortmund 2016. Eine Woche zur Verbesserung der digitalen Teilhabe in Dortmund. Sfs Eigenverlag, Beiträge aus der Forschung. Online: http://www.sfs.tudortmund.de/sfs-Reihe/Band_195.pdf. Technische Universität Dortmund, Fakultät Rehabilitationswissenschaften. 2018. Handbuch. Kompetenzorientiertes und selbständiges Lernen im BA Rehabilitationspädagogik, Aufl. 4. https://www.fk-reha.tu-dortmund.de/fk13/de/Studium_und_Lehre/ Projektstudium/20180619-Handbuch_Broschuere_Projektstudium.pdf. Zugegriffen: 13. Juni 2019. Vourkari, R. und Y. Punie, Hrsg. 2016. JRC Science for Policy Report. Der Referenzrahmen für digitale Kompetenzen für Verbraucher. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen.

Bastian Pelka, Dr. phil. Studium der Kommunikationswissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaften in Münster. Lehraufträge in Münster, Hannover, Bielefeld, Dortmund. Dr. Pelka forscht an der Sozialforschungsstelle Dortmund, zentrale wissenschaftliche Einrichtung der TU Dortmund, zu den Themen (digitale) soziale Innovation, digitale Inklusion, berufliche Orientierung und fungiert dort als Koordinator des Forschungsbereichs „Arbeit und Bildung in Europa“. Dr. Pelka lehrt an der Fakultät für Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund zum Thema digitale Teilhabe und digitale Medien für Empowerment von marginalisierten Personengruppen.

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Letzte Veröffentlichungen: Tamami Komatsu Cipriani, C. Kaletka; B. Pelka. 2019. Transition through design: enabling innovation via empowered ecosystems, In: European Planning Studies, https://doi.org/10.1 080/09654313.2019.1680612. Bosse, Ingo; D. Krüger; H. Linke; B. Pelka. 2019. The Maker Movement’s Potential for an Inclusive Society. In: Jürgen Howaldt; C. Kaletka; A. Schröder; M. Zirngiebl. Hrsg. Atlas of Social Innovation. 2nd Volume: A World of New Practices. 2019. München: oekom. Eckhardt, Jennifer; C. Kaletka; B. Pelka. 2018. Observations on the role of digital social innovation for inclusion. In: Technology and Disability, vol. 29, no. 4, pp. 183–198, 2018. https://doi.org/10.3233/tad-170183. Online: https://content.iospress.com/articles/technologyand-disability/tad170183

A story about storytellers – Innovationspotenziale in Bürger*innenstiftungen und Freiwilligenagenturen Janine Kuhnt Zusammenfassung

Wie erfüllen Bürger*innenstiftungen und Freiwilligenagenturen, unter Berücksichtigung ihrer organisationalen Verfasstheit, die ihnen zugeschriebene Innovationsfunktion durch die Förderung von Engagement? Mit einem Blick auf den sozialwissenschaftlichen Diskurs um die „neueren“ Organisationen, die Engagement fördern (Roß/Roth, Engagement und Zivilgesellschaft, Springer Fachmedien Wiesbaden, Wiesbaden, S. 225, 2018; Klein et al., Engagementpolitik. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft als politische Aufgabe, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 55, 2010; Jakob, Engagementpolitik. Die Entwicklung der Zivilgesellschaft als politische Aufgabe, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, S. 233, 2010), wird dieser Frage sekundäranalytisch nachgegangen. Dabei wird auf empirische Daten rekurriert, die Einschätzungen zu den Organisationsformen Bürger*innenstiftung und Freiwilligenagentur im Hinblick auf ihre Verfasstheit ermöglichen, die die Erfüllung der ihnen zugeschriebenen Innovationsfunktion begünstigt. Die relevanten Aspekte der sekundäranalytischen Betrachtung umfassen sowohl quantitative Angaben wie die Anzahl der Organisationen, ihre Finanzausstattung und Personalstruktur als auch qualitative Daten, die aus wissenschaftlichen Befunden zur Selbsteinschätzung der in den Organisationen agierenden Professionellen und ihrem organisationalen Umfeld generiert

J. Kuhnt (*)  Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_16

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worden sind (u. a. Wolf und Zimmer, Lokale Engagementförderung, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2012; Speck et al. 2012). Im Ergebnis wird deutlich, dass die Organisationsformen quantitativ an Bedeutung gewinnen und qualitativ Innovationspotenziale freisetzen. Legitimität für Innovationen wird in den Organisationen insbesondere durch das „Erzählen“ einer glaubwürdigen bzw. einer „Erfolgsgeschichte“ (Luhmann, Organisation und Entscheidung. 3. Auflage, VS Verlag, Wiesbaden, S. 440, 2011) erzeugt. In der wettbewerbsbasierten Sozialwirtschaft verschafft sich die Organisation Vorteile, die von den Mittelgebenden als innovativ(ere) wahrgenommen wird. Ressourcenstarke Mittelgebende fungieren als Treibstoff von Innovationen in den Organisationen, und zugleich ist die Ressourcenausstattung von Engagierten Voraussetzung ihres Engagements und damit auch der Möglichkeit, über legitime Innovationen mitentscheiden zu können.

1 Einleitung „Dabei wird deutlich, dass traditionelle Formen des Engagements (wie etwa innerhalb von Kirchen und anderen religiösen Institutionen) weiterhin Bestand haben, sich behaupten können und essenziell sind, aber sich auch vielfältige neue und innovative Engagementformen entwickeln bzw. unter veränderten Rahmenbedingungen vonnöten sind. Es sind diese veränderten Lebensbereiche und sozialen Verhältnisse, die seitens der Politik und der in der Engagementförderung Aktiven verstärkt gestaltet werden müssen, um allen Menschen Engagement und Teilhabe in traditionellen und/oder innovativen Ausprägungen zu ermöglichen.“ (BMFSFJ 2017, S. 39)

Dem Zitat des „Zweiten Berichts über die Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements in der Bundesrepublik Deutschland“ ist ein Handlungsauftrag an politische Akteur*innen und in der Engagementförderung Aktive zu entnehmen, der darauf gerichtet ist, innovative Engagementformen zu entwickeln und durch innovative Ausprägungen der Engagementförderung Teilhabe zu ermöglichen. Die Engagement fördernden Organisationen (EfO), die lokal zu identifizieren sind, unterschieden sich hinsichtlich ihrer Organisationsstrukturen, ihren „Missionen“ und Leitbildern, ihrer personellen und finanziellen Ausstattung, ihren Entstehungsgeschichten und ihrer lokalen Sichtbarkeit. Als traditionelle EfO sind z. B. die Wohlfahrtsverbände und ihre Mitgliedsorganisationen lokal präsent, was sich darin äußert, dass ihnen, getragen durch das Subsidiaritätsprinzip und ihre gesetzliche Anerkennung in den §§ 3, 4 SGB VIII – zur Leistungserbringung

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im Rahmen der Jugendhilfe – eine ordnungs- und förderpolitisch „­privilegierte“ ­Position zukommt. Durch diese Position profitieren die Verbände, wenn es etwa um die Leistungserbringung der Pflichtaufgaben im Rahmen der Jugendhilfe geht. Zugleich können die Wohlfahrtsverbände mit ihren Einrichtungen und Diensten auf eine vielfältige und jahrzehntelange Engagementtradition verweisen (vgl. Backhaus-Maul et al. 2015, S. 15). Der aktuellsten Gesamtstatistik der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege e. V. (BAGFW) (2018, S. 6) zufolge ist der größte Einsatzbereich mit 35 Prozent aller Einrichtungen die Jugendhilfe, dahinter folgen die Altenhilfe und die Behindertenhilfe mit jeweils 16 Prozent aller Einrichtungen, in denen sowohl hauptberuflich Beschäftigte als auch Engagierte eingesetzt werden. Tätigkeitsfelder in den Organisationen der Wohlfahrtspflege, in denen Personen sich freiwillig engagieren, sind z. B. die Organisation und Durchführung von Veranstaltungen, praktische Arbeiten, Gremien- und Leitungsarbeit sowie Öffentlichkeitsarbeit und Verwaltungstätigkeiten (vgl. Backhaus-Maul et al. 2015, S. 485). Neben den „traditionellen“ Kontexten, in denen Engagement gefördert wird, lassen sich empirisch zwei Organisationsformen beobachten, die als vergleichsweise neu bezeichnet werden können. Bürger*innenstiftungen und Freiwilligenagenturen gelten im sozialwissenschaftlichen Diskurs als „neuere“ und „modernere“ Organisationsformen zur Förderung lokalen Engagements (Roß/ Roth 2018, S. 225; Klein et al. 2010, S. 55; Jakob 2010, S. 233). Der genuine Organisationszweck beider Organisationsformen ist auf die Förderung lokalen Engagements gerichtet. Engagement fungiert zum einen als gesellschaftliche und organisationale Ressource, insbesondere dann, wenn es von den EfO zur sozialen, personenbezogenen Dienstleistungserbringung eingebunden wird (Kuhnt 2018). Ferner wird Engagement eine Innovationsfunktion zugeschrieben (Liebig/Rauschenbach 2010, S. 267). Die Innovationskraft des Engagements gründet in dessen Funktion als „Seismograph gesellschaftlicher Zustände“ (ebd.). Diese Funktion basiert auf einem Kritikpotenzial der Engagierten, die sich in vielfältigen Varianten selbst organisieren (von Bürger*innenbewegungen und Selbsthilfezusammenschlüssen bis zu Vereins- und Verbandsstrukturen), gegenüber staatlichen Missständen und auf der Übernahme von Eigenverantwortung (ebd.). Der Staat übernimmt in diesem Kontext eine „Gewährleistungsverantwortung“ (Schönig 2006, S. 27) für soziale Dienste, denen bei der Engagementförderung eine besondere Bedeutung im Rahmen einer staatlichen Aktivierungspolitik beigemessen wird (ebd.). Bürger*innenstiftungen und Freiwilligenagenturen, die parallel zu anderen EfO entstehen, könnten in diesem Kontext als Organisationsformen einer „aktivierten Bürger*innengesellschaft“

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verstanden werden, die lokal durch die Aktivierung von Eigenverantwortung der Nutzer*innen öffentlicher Dienstleistungen (hierzu Kessl 2006, S. 71), dazu beitragen, „innovative“ Lösungen für soziale Dienstleistungsbedarfe zu entwickeln. Wie sie der Innovationsfunktion, unter Berücksichtigung ihrer organisationalen Verfasstheit, durch die Förderung von Engagement nachkommen, ist weitgehend unbeantwortet1. Im Folgenden wird zunächst ein Verständnis von Innovationen dargelegt. Im Fortgang werden, auf der Basis einer Sekundäranalyse empirischer Daten, die Organisationsformen Bürger*innenstiftung und Freiwilligenagentur hinsichtlich ihrer Verfasstheit betrachtet, die die Erfüllung der ihnen zugeschriebenen Innovationsfunktion begünstigt. Die relevanten Aspekte der sekundäranalytischen Betrachtung umfassen sowohl quantitative Angaben wie die Anzahl der Organisationen, ihre Finanzausstattung und Personalstruktur als auch qualitative Daten, die aus wissenschaftlichen Befunden zur Selbsteinschätzung der in den Organisationen agierenden Professionellen und ihrem organisationalen Umfeld generiert worden sind. Abschließend wird ein Spannungsfeld skizziert, das als kritische Antwort auf die leitende Frage und die eingangs zitierte Erwartung an innovative Engagementformen als Ermöglichung von Teilhabe möglichst aller Menschen verstanden werden kann.

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Ausnahmen bilden die Studie von Annette Barth (2012) und die Dissertation von André Christian Wolf (2009). In Ersterer wird auf der Grundlage einer qualitativen Fallstudie das Spannungsfeld zwischen (politisch gewünschten) Anforderungen, die an die Organisationsform „Bürger*innenstiftungen“ gerichtet werden, und deren Realisierung in einer ausgewählten Region Baden-Württembergs untersucht. Die Feststellung, dass Innovation an sich kein Wert sei und die Existenz einer Organisation nicht ausreichend legitimieren könne (ebd., S. 33), wird im Fortgang – und dies sei an dieser Stelle vorweggenommen – insofern relativiert, als dass eine glaubhafte Erzählung über die Einlösung der Innovationsfunktion, unter Annahme der Reziprozität von Organisation und Umwelt, durchaus existenziellen Charakter für Engagement fördernde Infrastruktureinrichtungen hat; dann nämlich, wenn über Innovativität soziale Wirkung miterzählt und in Aussicht gestellt wird und damit der Selbstzweck der Organisation als erfüllt oder nicht erfüllt angenommen werden kann. Wolf (2009) stellt durch eine Analyse von Fallbeispielen heraus, dass der Begriff „Originalität“ zutreffender sei als der Innovationsbegriff, da die untersuchten Bürger*innenstiftungen nicht primär Innovationen als vielmehr Veränderungsprozesse anregen und Konzepte erproben (ebd., S. 217).

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2 Innovationen oder eine Geschichte irritierbarer Organisationen Im sozialwissenschaftlichen Diskurs wird der Terminus Innovation insbesondere für die Erforschung und Analyse organisationalen oder unternehmerischen Handelns und mit Verweis auf zu lösende gesellschaftliche Herausforderungen diskutiert. Er wird im Kontext der Ausgestaltung „Neuer Wohlfahrtsarrangements“ (Brinkmann 2010, S. 118), von Netzwerken (vgl. Straßheim 2013), des Potentials von Narrationen, um organisationale Veränderungs- und Lernprozesse in Gang zu setzen (vgl. Fahrenwald 2013, S. 87 f.), und als Diskurs und soziale Praxis in Organisationen, also mit Blick auf die Veränderung sozialer Praktiken in und um Organisationen, unter Berücksichtigung von Akteursbeziehungen und Arrangements (Weber 2018), diskutiert. Innovationen werden auf Organisationsstrukturen und -prozesse bezogen betrachtet und Innovationsmanagement – aus einer organisationspädagogischen Perspektive – im Hinblick auf „die Voraussetzungshaftigkeit des Neuen in strukturellen, prozessualen, methodischen, (organisations-)kulturellen und diskursiven Settings“ (Weber 2018, S. 521). In Nonprofit-Organisationen (NPOs) wird mit dem Begriff der Innovation sowohl die Frage der Qualität als auch der Wirkung (sozialer) personenbezogener Dienstleistungen aufgeworfen. Wenngleich die Wirkung primär außerhalb der eigenen Organisation entfaltet wird (vgl. Schuhen 2009, S. 108 f.), stellt sich innerhalb der Organisationen die Wirkungs- als Qualitätsfrage ihrer Dienstleistungen. Die Wirkungsdiskussion ist eine Qualitätsdiskussion im anderen Gewand (Rock 2017, S. 109). Investiert wird in die Bereiche und Leistungen, die unter Berücksichtigung von Qualitätsansprüchen Wirkung versprechen und sich „rechnen“. Die Erfüllung der Innovationsfunktion stellt dabei einen Wettbewerbsvorteil für die Organisationen der Sozialwirtschaft dar: „Die Fähigkeit der Wohlfahrtsverbände, die Bedarfe ihrer Zielgruppen wirtschaftlich und qualitativ hochwertig zu befriedigen und damit wettbewerbsfähig zu sein, steht und fällt mit Innovationsfähigkeit, auch in der Sozialwirtschaft.“ (Nowoczyn 2017, S. 8)

Then (2017, S. 41) führt zur Klärung der Frage, wie sich Wohlfahrtsverbände zu sozialen Innovationen und gegenüber Innovationsimpulsen unterschiedlicher Herkunft verhalten, für die Bestimmung sozialer Innovationen die Kriterien Bedarf, Dringlichkeit und Legitimität an. Innovationen müssen sich demnach an einem Bedarf orientieren, der artikuliert und ausgehandelt werden müsse (ebd., S. 51); „dieser Bedarf muss mit einer gesellschaftlichen Wahrnehmung der Dringlichkeit einhergehen, und die Vorgehensweise muss als legitim gelten“ (ebd., S. 40).

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Legitimität und eine damit verbundene Möglichkeit der Ressourcenmobilisierung zur Umsetzung von Innovationen sollten ferner auf der Grundlage eines Leistungswettbewerbes, also einer Orientierung an der Wirksamkeit der Problemlösungen (ebd., S. 51), erzeugt werden. Einen Hinweis auf die Prominenz der Wirkungsfrage und die Relevanz der öffentlichen Darstellung einerseits sowie die Selbstbeglaubigung der (sozialen) Wirkung von Bürger*innenstiftungen und Freiwilligenagenturen andererseits liefern Güte- und Qualitätssiegel (z. B. von PHINEO, der bagfa oder des Bundesverbands Deutscher Stiftungen). Danach gelten NPOs als wirksam, wenn sich Veränderungen bei den Fähigkeiten, den Handlungsmöglichkeiten oder den Lebenslagen der Zielgruppen ihrer Dienstleistungen (Outcome) oder in der Gesellschaft (Impact) feststellen lassen (vgl. PHINEO gAG 2014, S. 6 f.). Die intermediäre Funktion von NPOs und die in diesem Zusammenhang vorhandene Relation zu anderen Akteur*innen ziehen nach sich, dass Innovationen nicht nur innerhalb einer Organisation Wohlwollen und/oder Widerstände2 auslösen, sondern auch außerhalb. Für einen konstruktiven Umgang mit Innovationswiderständen ist die Führungsebene in NPOs von besonderer Bedeutung. Die Bedeutung der Führungsebene liegt zum einen im „Kerndilemma des Managements und der Governance von Nonprofit-Organisationen“ (Schröer 2009, S. 148) begründet, wonach NPOs multiple Anspruchsgruppen „bedienen“, die ihrerseits häufig widersprüchliche Interessen und Bedürfnislagen haben und damit verbunden auch differente Erfolgserwartungen an die Organisationen stellen (ebd., S. 149). Zum anderen „… geht es nicht nur um den finanziellen Ertrag, sondern auch um die Erfüllung der Mission der Organisation, ihre soziale Wirkung oder deren Nachhaltigkeit.“ (ebd., S. 148). Die Entfaltung sozialer Wirkung ist in dieser Hinsicht nicht nur ein Gradmesser für die Erfüllung der Innovationsfunktion der Organisationen, sondern fordert die Ebene des Managements der Organisationen heraus. Das Handeln des Managements erzeugt Legitimitätsgewinne, wenn die Anspruchsgruppen, getragen von Reziprozität, ihre Erwartungen erfüllt sehen. Dem Kerndilemma des Managements wird in Organisationen durch ein Feilen an der Organisationsfassade begegnet, „um wenigstens an der Oberfläche den unterschiedlichen Erwartungen gerecht zu werden.“ (Kühl 2011, S. 142). Innovationen in NPOs treten demnach als diskursive Konstruktionen in Erscheinung, die sich vordergründig in der Selbstbeschreibung (und Selbstüberhöhung, wenn Innovationsfähigkeit an Wettbewerbsfähigkeit gekoppelt ist) der 2Zu

typischen Bedenken und Einwänden gegen Innovationsideen, wie ‚Beharrungskulturen‘ in Organisationen oder Rechtfertigungszwänge gegenüber ihren Kontrollinstanzen, siehe Kerka et al. (2012, S. 253 f.).

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Organisationen äußern und organisationsintern primär auf Imitationsprozessen fußen. Krücken (2006, S. 269 f.) formuliert dieses „Schauspiel“ aus einer Perspektive neo-institutionalistischer Organisationsforschung trefflich: „Während, metaphorisch gesprochen, auf der gesellschaftlichen Vorderbühne Neuheit, Innovation und Einzigartigkeit gespielt werden, finden auf der Hinterbühne primär Kopier-, Imitations- und Strukturangleichungsprozesse statt.“ Empirisch ist sowohl eine vollständige Kopie als auch eine vollständige Zurückweisung eines Neuerungsvorschlages selten, vielmehr ist zu erwarten, dass, unter Berücksichtigung der spezifischen Organisations- und Anwendungskontexte, Rekombinationen, Hybridisierungen und Fehlkopien entstehen (ebd., S. 270). Innovationen wären dann ein „‚paradoxer Effekt‘ mimetischen Verhaltens“ (ebd., S. 271), indem als erfolgreich wahrgenommene Strukturen kopiert und bedingt durch den Kontext, in dem sie hervorgebracht werden, als neu etikettiert werden. Durch Kopier-, Imitations- und Strukturangleichungsprozesse erweisen sich Organisationen auf der Hinterbühne als irritierbar. Irritation zahlt sich in Form von Innovation aus und „vor allem dadurch, dass sie überhaupt zur Entscheidung zwingt und dass dann auch geprüfte oder abgelehnte Innovationen (‚für die die Zeit noch nicht reif ist‘) im Systemgedächtnis aufbewahrt bleiben.“ (Luhmann 2011, S. 220). Für die Organisationsformen Bürger*innenstiftungen und Freiwilligenagenturen stellt sich die Frage, wie sie Innovationen aus gesellschaftlich als dringlich wahrgenommenen Bedarfen hervorbringen, die (aufgrund ihrer angenommenen Wirkung) Legitimität erzeugen. Oder, anders formuliert, stellt sich die Frage, wie sie die ihnen zugeschriebene Innovationsfunktion erfüllen, sich also selbst- und fremdreferenziell irritieren lassen.

3 Bürger*innenstiftungen Bürger*innenstiftungen sind Teil der organisierten Zivilgesellschaft3, die basierend auf dem US-amerikanischen Vorbild der Community Foundation, seit 1996 mit der Gründung der ersten Bürger*innenstiftung in Gütersloh mittlerweile auch in Deutschland etabliert sind (vgl. Abb. 1). 3Zur

organisierten Zivilgesellschaft werden im Diskurs um Engagement fördernde Strukturen Vereine, Verbände und Initiativen gezählt, in denen Engagierte als Koproduzent*innen und Mitgestaltende Angebote und Leistungen im Rahmen der kommunalen Aufgaben- und Verantwortungsteilung übernehmen (vgl. Jakob 2010, S. 252). Da es an einer einheitlichen Definition mangelt, werden unter Berücksichtigung der Rechtsform von EfO ferner auch Stiftungen, gemeinnützige GmbHs und Genossenschaften zur organisierten Zivilgesellschaft gezählt (vgl. Priemer et al. 2019, S. 9).

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Abb. 1   Entwicklung der Bürger*innenstiftungen in Deutschland. (Quelle: Eigene Darstellung auf der Grundlage der Daten der kontinuierlich erscheinenden Berichte der Stiftung Aktive Bürgerschaft: „Länderspiegel Bürgerstiftungen Fakten und Trends“ [erschienen 2006 bis 2014] bzw. „Report Bürgerstiftungen Fakten und Trends“ [erscheint seit 2015].)

Bürger*innenstiftungen sind, ihrer Konzeption nach, gemeinnützige, wirtschaftlich und konfessionell sowie parteipolitisch unabhängige Organisationen (vgl. Bundesverband Deutscher Stiftungen 2000). Die in Bürger*innenstiftungen organisierten Personen setzen sich auf lokaler oder regionaler Ebene für gesellschaftliche Belange in den Bereichen Bildung und Erziehung, Kunst und Kultur, Soziales, Gesundheit und Sport sowie insbesondere seit 2015 auch für die Integration von Menschen mit Fluchterfahrung ein (vgl. Stiftung Aktive Bürgerschaft 2017, S. 12; Wolf 2010, S. 106). Für die aktive Mitgestaltung dieser gesellschaftlichen Bereiche ist die Form der Projektarbeit von besonderer Relevanz (vgl. Wolf/Zimmer 2012, S. 65). Schwerpunkte der lokalen Projektarbeit liegen in den Handlungsfeldern „Bildung und Erziehung“ (47 Prozent der Projekte sind in diesem Handlungsfeld verortet) (Stiftung Aktive Bürgerschaft 2017, S. 7) und „Flüchtlingsarbeit“ (ebd.); das Letztgenannte ist seit 2016 Teil der Erhebungen und wird in 20 Prozent der befragten Bürger*innenstiftungen als Schwerpunkthema bearbeitet (ebd.). Dem Bereich Bildung und Erziehung können z. B. Projekte zugeordnet werden, in denen Bürger*innen sich als Lese- und Rechenpat*innen in Schulen engagieren, um Kindern „Freude am Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln“ (Bürgerstiftung Wiesloch 2019), im Rahmen derer Schulbücher für Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung angeschafft werden, um sie im Unterricht einsetzen zu können (vgl. Bürgerstiftung Bad Bentheim 2015) oder Stipendien an

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Schüler*innen vergeben werden, „die aufgrund ihrer familiären oder sozialen Situation zusätzliche Unterstützung benötigen, um ihr Potential zu entfalten“ (Bielefelder Bürgerstiftung 2019). Für den Bereich Sport und Gesundheit kann exemplarisch das Projekt „Sport im Park“ genannt werden, mit dem das Ziel verfolgt wird, gesundheitsförderlichen Aktivitäten in der Natur nachzugehen (vgl. Bürgerstiftung Gütersloh 2019). Für die exemplarisch genannten Projekte ist charakteristisch, dass die Bürger*innenstiftungen – als Projektinitiierende und Projektfördernde – Kooperationen mit anderen lokalen Akteur*innen eingehen (u. a. mit Vereinen aus dem Kultur- und Sportbereich, Schulen, der Kommune und Universitäten). Auf der organisationalen Ebene lässt sich aus der potentiellen Kooperationsbereitschaft von Bürger*innenstiftungen mit anderen lokalen Akteur*innen die Hypothese ableiten, dass sich hierin ein Innovationspotenzial abzeichnet. Die Kooperationen von Organisationen und Akteur*innen, die eigentlich in einem Wettbewerb um Ressourcen miteinander stehen (z. B. um finanzielle Mittel, Infrastruktur, Sprecher*innenpositionen im politischen Diskurs, Engagierte) ist insofern innovativ, als sich die beteiligten Organisationen füreinander öffnen und „durchlässiger“ werden, um auf lokal als dringlich wahrgenommene Bedarfe effizient, etwa durch Bündelung von Ressourcen der Beteiligten, reagieren zu können. Dieses Innovationspotenzial durch Kooperationen ist jedoch fragil und voraussetzungsreich; so fassen Priemer et al. (2019, S. 44) zusammen, dass 2016 nur ein knappes Drittel aller Stiftungen (hierunter auch Bürger*innenstiftungen) Kooperationen eingegangen sind (31,8 Prozent, n = 255), dass insbesondere Stiftungen mit einem hohen Stiftungskapital Kooperationen eingehen, Kooperationspartner*innen vor allem andere Stiftungen waren und als prioritärer Grund für Kooperationen in der Regel „finanzielle Unterstützung“ angegeben wurde. Die Relevanz von Kooperationen, die aus finanziellen Gründen eingegangen werden, zeigt sich auch im Hinblick auf die Gründungsphase und Entwicklung von Bürger*innenstiftungen. In diesem Kontext kann auf die enge Kooperation von Bürger*innenstiftungen mit Genossenschaftsbanken verwiesen werden. Genossenschaftsbanken sind bei 252 Bürger*innenstiftungen in gründender Funktion und bei 147 Bürger*innenstiftungen fördernd aktiv (BVR 2017). Die enge Anbindung von Bürger*innenstiftungen an Geldinstitute wird jedoch kontrovers diskutiert. Für die Bürger*innenstiftungen mag diese Anbindung im Hinblick auf die Sicherung finanzieller Ressourcen vorteilhaft sein. Aus der Perspektive potenzieller Engagierter könnte diese Anbindung aber „auch davon abhalten, ihr Geld und ihre Zeit in diesem Rahmen zur Verfügung zu stellen.“ (Jakob 2010, S. 247). Darüber hinaus wird im Diskurs um soziale Innovationen festgehalten, dass die großen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht ohne die Organisation sektorübergreifender Kooperationen und Netzwerke zu bewältigen sein werden

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(vgl. Howaldt 2019, S. 18). Hiermit werden nicht nur die Sektoren allgemein adressiert – im „Ökosystem sozialer Innovationen“ (ebd. 2019, S. 21) werden die Sektoren Zivilgesellschaft, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft genannt –, sondern auch die ausführende Ebene der Bürger*innenstiftungen. Schließlich bedarf es zur Umsetzung und langfristigen Aufrechterhaltung von Kooperationen Personen, die organisieren, koordinieren und zwischen den Sektoren vermitteln. Die personelle Ausstattung in Bürger*innenstiftungen verdeutlicht, dass hauptberuflich Beschäftigte, also jene Personen, die eine organisierende, koordinierende und zwischen Sektoren vermittelnde Funktion (auch langfristig) einnehmen könnten, eher die Minderheit sind. Den Angaben der Stiftung Aktive Bürgerschaft (2018b, S. 20) zufolge arbeiten in 70 Bürger*innenstiftungen 180 hauptamtlich Beschäftigte, jedoch meist in Teilzeit. Zwar wird die Projektarbeit in der Regel von hauptberuflich Beschäftigten verantwortet (vgl. ebd.), die wesentliche personelle Ressource stellen jedoch die freiwillig Engagierten dar. Die Einbindung der Engagierten erfolgt in den Organisationen in 68 Prozent regelmäßig und in 32 Prozent gelegentlich (vgl. ebd., S. 15). Ein konstitutives Element ist dabei die partizipative und demokratische Organisationsstruktur von Bürger*innenstiftungen. Entscheidungen, z. B. über die Vergabe von Fördermitteln für Projekte, werden nicht nur von einzelnen Stifter*innen getragen, sondern von mehreren engagierten Bürger*innen, dem Vorstand und dem Stiftungsrat (vgl. Jakob 2010, S. 245). In 69 Prozent der durch die Stiftung Aktive Bürgerschaft erfassten Bürger*innenstiftungen werden Engagierte systematisch in Entscheidungsprozesse eingebunden, und in 23 Prozent der Bürger*innenstiftungen erhalten Engagierte ferner – gleichwertig zu Stifter*innen – ein Stimmrecht als Mitglied der Stifter*innenversammlung (vgl. Stiftung Aktive Bürgerschaft 2018b, S. 18). Zur Umsetzung der Projekte sind neben der Anbindung an finanzstarke Gründungsstifter*innen und Kooperationspartner*innen, Zustiftungen und Spenden essentiell. Das Stiftungskapital der Bürger*innenstiftungen in Deutschland ist in den letzten zehn Jahren deutlich angewachsen: Zum Erhebungszeitpunkt am 31.12.2006 betrug es 84,1 Mio. € (vgl. Hellmann 2007, S. 8) und zum Zeitpunkt der letzten Erhebung am 31.12.2016 bereits 360 Mio. € (vgl. Stiftung Aktive Bürgerschaft 2017, S. 4). Ferner ist die Summe der für die Projektförderung eingesetzten Mittel beträchtlich und von kontinuierlichem Wachstum geprägt. Die im Vergleich der Bürger*innenstiftungen höchste für die Projektförderung eingesetzte Summe ist von 499 Tsd. EUR im Jahr 2006 auf 1,7 Mio. € im Jahr 2016 angestiegen (vgl. ebd., S. 8). Ihrer Selbstbeschreibung zufolge entfalten Bürgerstiftungen soziale Wirkung als „Mitmach-Stiftungen“ (Stiftung Aktive Bürgerschaft 2018a) durch Engage-

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ment von Bürger*innen für Bürger*innen; so wird die Gruppe der Geber*innen, neben der Gesellschaft allgemein (1,2 Prozent), dem Staat (5,6 Prozent) und Unternehmen (12,8 Prozent) mit großer Mehrheit durch Privatpersonen (80,4 Prozent) gebildet (vgl. ebd.). Legitimität für Innovationen zu erhalten, stellt die Führungsebene von Bürger*innenstiftungen also vor einige Herausforderungen. Zum einen gilt es eigensinnige Bürger*innen als (Ressourcen-)Gebende zu akquirieren und zu pflegen sowie sie als irritierende Innovator*innen zu verstehen und einzubinden. Zugleich gilt es Stellen für hauptberuflich Beschäftigte zu schaffen, um sowohl die eigene Mission erfüllen zu können als auch im Ökosystem sozialer Innovationen eine relevante, d. h. sichtbare Position, einzunehmen und als Organisation „manövrierfähig“ zu sein, um Kooperationsanfragen durch Dritte bedienen oder sie selbst initiieren und langfristig eingehen zu können. Ferner geht mit der eigenen Wettbewerbsfähigkeit einher, potentiell Mittelgebenden Erfolge und „Wirkung“ in Aussicht stellen zu können. Wenn Innovationen über die Kriterien Bedarf, Dringlichkeit und Legitimität bestimmt werden, kann Bürger*innenstiftungen zumindest in der Hinsicht Innovationspotenzial zugeschrieben werden, dass sie in Projektform auf lokale Bedarfe reagieren, über deren Dringlichkeit primär die Mittelgebenden entscheiden, die sich aktivieren lassen, ihre Ressourcen (Zeit, Wissen, Geld) in die Organisation einzuspeisen, selbstermächtigt vor Ort über die Förderwürdigkeit von Projekten mitentscheiden oder durch Engagement lokal als dringlich eingeschätzten Bedarfen nachzugehen. Wird Innovativität an die Wirkung der Projekte in Bürger*innenstiftungen geknüpft, wären drei Aspekte zu bedenken: Da Projekte zeitlich befristet sind, müssten sie 1) in Strukturen überführt werden, in denen hauptberuflich Beschäftigte die Arbeit fortführen, 2) in diesem Kontext Kooperationen zu anderen Sektoren gepflegt werden und müssten 3) die Adressat*innen der Projekte dahin gehend befragt werden, welche (Aus-)Wirkungen die Teilnahme an den Projekten aus ihrer Perspektive hat, um dem Anspruch gerecht zu werden, mit dem Wirkung durch Qualitäts- und Gütesiegel auf der Schauseite der Organisationen erzählt wird. Zur Erinnerung: Danach gelten NPOs als wirksam, wenn sich Veränderungen bei den Fähigkeiten, den Handlungsmöglichkeiten oder den Lebenslagen der Zielgruppen ihrer Dienstleistungen (Outcome) oder in der Gesellschaft (Impact) feststellen lassen (vgl. PHINEO gAG 2014, S. 6 f.). Für die Bürger*innenstiftungen lässt sich anhand der hier gewählten Kriterien für Innovationen zwar ein Potenzial nachzeichnen, dieses basiert aber zuvorderst auf der Zuschreibung von Relevanz bzw. Förderungswürdigkeit der Projekte und Ideen in Bürger*innenstiftungen durch die Mittelgebenden. Inwiefern der Anspruch bedient werden kann, innovative Engagementformen als Ermöglichung von ­Teilhabe möglichst aller Menschen in Bürger*innenstiftungen zu entwickeln ist eine empirische Frage, die weiter zu erforschen und zu diskutieren wäre. Bürger*innenstiftungen

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scheint es allerdings – in Anbetracht ihres Stiftungskapitals und der Aktivierung von Privatpersonen als größte Gruppe der Mittelgebenden – zu gelingen, auf der Schauseite der Organisationen – aus Sicht der Mittelgebenden – glaubwürdige Geschichten über Innovationen und Wirkung zu erzählen und sich durch die Umsetzung konkreter Projektideen der Mittelgebenden auch als irritierbar auf der Hinterbühne zu zeigen.

4 Freiwilligenagenturen Die erste Freiwilligenagentur wurde 1980 in München gegründet (vgl. Wolf/ Zimmer 2012, S. 46). Zur Einschätzung der quantitativen Entwicklung dieser Organisationsform ist die wissenschaftliche Datenlage überschaubar. Im Wesentlichen gibt es drei Studien, in denen die Organisationsform „Freiwilligenagentur“ untersucht wurde. Die Studien unterscheiden sich hinsichtlich ihres leitenden Erkenntnisinteresses und ihrer methodischen Zugänge. 1. Der Generali Engagementatlas (2015) ist die aktuellste Studie, in der auf der Basis quantitativer und qualitativer Daten lokale Engagement fördernde Infrastruktureinrichtungen in ihrer Breite (Bürger*innenstiftungen, Freiwilligenagenturen, kommunale Stabsstellen, Mehrgenerationenhäuser, Mütterzentren, Selbsthilfekontaktstellen, Senior*innenbüros und Soziokulturelle Zentren) erfasst und insbesondere deren Anzahl, Aufgaben, Ziele und Ausstattungen abgebildet werden. 2. Die Studie Speck et al. (2012) basiert auf einer bundesweiten Fragebogenerhebung und qualitativen Fallstudien zur Organisationsform Freiwilligenagentur. Mithilfe dieser umfangreichen Studie werden auf der Basis der quantitativen Fragebogenerhebung Aussagen zu Kontext-, Input-, Prozess- und Ergebnisqualität von Freiwilligenagenturen getroffen. Durch leitfadengestützte teilstandardisierte Expert*inneninterviews mit leitenden Mitarbeitenden in Freiwilligenagenturen und ihrer lokalen organisationalen Umwelt, Selbst- und Fremdeinschätzungen zu dieser Organisationsform erhoben und analysiert. Die Analyse des Interviewmaterials mündet in Fallstudien, die Auskunft über die Organisationsstruktur, das Aufgabenprofil und das lokale Umfeld von Freiwilligenagenturen geben. 3. In der Studie von Wolf und Zimmer (2012) werden, wie auch im Generali Engagementatlas, lokale Engagement fördernde Infrastruktureinrichtungen in ihrer Breite untersucht. Basierend auf einer Auswahl von sechs Modellkommunen werden in Engagement fördernden Infrastruktureinrichtungen

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sowie in Stabs- oder Anlaufstellen der kommunalen Verwaltung leitfadengestützte Interviews mit leitenden Mitarbeitenden geführt und ein Fragebogen zur Erfassung von „Eckdaten“ (ebd., S. 14) der Organisationen eingesetzt. Zusätzlich werden Ergebnisse der Erhebungen mit Vertreter*innen der Organisationen in den Modellkommunen diskutiert. Die variierenden Forschungsgegenstände (Infrastruktureinrichtungen in ihrer lokal vorzufindenden Breite einerseits und Freiwilligenagentur als ausschließlicher Forschungsgegenstand andererseits) und die zeitlichen Rahmen, in denen die Erhebungen durchgeführt worden sind, erschweren die Vergleichbarkeit der Befunde und verdeutlichen, dass zur Einschätzung des Bestandes und der „Verfasstheit“ dieser Organisationsform nur wenig aktuelle und empirisch generierte Daten existieren. Die vorliegenden quantitativen Befunde zeigen, dass die Organisationsform Freiwilligenagentur lokal an Bedeutung gewinnt. Die Studie Speck et al. (2012) rekurriert auf Daten aus dem Jahr 2011, wonach die Anzahl der Freiwilligenagenturen in Deutschland von 190 Freiwilligenagenturen im Jahr 2001 auf 360 im Jahre 2011 gestiegen sei (vgl. ebd., S. 126). Die Autor*innen des Generali Engagementatlas (2015) gehen zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Studie von einer Zahl von 667 Freiwilligenagenturen aus, inklusive Organisationen, die mehr als eine Organisationsform unter einem Dach vereinen und als „Kombinationseinrichtungen“ (ebd., S. 12) bezeichnet werden (z. B. Organisationen, die Senior*innenbüro und zugleich Freiwilligenagentur sind). Die vorliegenden Daten ermöglichen daher keine Betrachtung des quantitativen Ausmaßes von Freiwilligenagenturen im Längsschnitt. Die meisten Freiwilligenagenturen befinden sich in Nordrhein-Westfalen (mit 83 Prozent Spitzenreiter), gefolgt von Bayern, Niedersachsen und Baden-Württemberg (vgl. Speck et al. 2012, S 31). Sie werden in der Regel als eigenständiger Verein (28 Prozent), durch einen Wohlfahrtsverband (26 Prozent) oder kommunal (21 Prozent) geführt, während Stiftungen oder Kirchen als Träger*innenorganisationen die Ausnahme bilden (vgl. ebd., S. 37 und 44). Im Hinblick auf die finanzielle Ausstattung von Freiwilligenagenturen decken sich die Befunde des Generali Engagementatlas (2015) mit denen der Studie von Speck et al. (2012). In beiden Studien wird deutlich, dass kommunale Mittel die mit Abstand dominanteste Finanzierungsquelle darstellen; in 62 Prozent (vgl. Generali 2015, S. 31) bzw. 41 Prozent (vgl. Speck et al. 2012, S. 49) der Freiwilligenagenturen wird auf kommunale Mittel zurückgegriffen. Die finanzielle Unterstützung von Freiwilligenagenturen durch Spenden umfasst 10 Prozent Privatspenden und 13 Prozent Unternehmensspenden (vgl. Generali 2015, S. 31). Hinsichtlich ihres Mittelzuflusses

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unterscheiden sich F ­ reiwilligenagenturen also von Bürger*innenstiftungen, die, wie bereits beschrieben, insbesondere von Privatpersonen, gefolgt von Unternehmen und in deutlich geringerem Umfang durch öffentliche Mittel unterstützt werden. Die finanzielle Ausstattung vieler Freiwilligenagenturen ist – im Verhältnis zu den Bürger*innenstiftungen – als „dürftig“ oder „prekär“ einzuschätzen: Über die Hälfte der in der Generali-Studie erfassten Freiwilligenagenturen sind mit einem jährlichen Gesamtbudget von bis zu 50.000 € ausgestattet (vgl. Generali 2015, S. 30). Dieser Befund deckt sich, wenn auch zu einem deutlich späteren Zeitpunkt erhoben, mit dem der Studie Speck et al. (2012, S. 45), in der rückblickend für das Jahr 2008 nach dem Jahresbudget der Freiwilligenagenturen gefragt worden ist. Hiernach verfügen 42 Prozent der Agenturen jährlich über bis zu 10.000 € und 32 Prozent der Agenturen über bis zu 50.000 €. Wird die qualitative Relevanz dieser Organisationsform, basierend auf einer Analyse ihres Selbstverständnisses, in den Blick genommen, ist festzustellen, dass Freiwilligenagenturen sich als „gesellschaftliche Entwicklungsagenturen in Engagementangelegenheiten und als Protagonisten von Innovationen innerhalb von Verbänden“ (Speck et al. 2012, S. 20) verstehen. Sie übernehmen in diesem Zusammenhang eine Brückenfunktion „zwischen engagementbereiten Menschen und gemeinwohlorientierten Einrichtungen“ (Wolf und Zimmer 2012, S. 46). Das Aufgabenspektrum von Freiwilligenagenturen ist divers und umfasst, so die Selbsteinschätzung, allen voran den Aufgabenbereich „Information und Beratung von Freiwilligen“ (98 Prozent der großstädtischen, 92 Prozent der mittelstädtischen und 82 Prozent der kleinstädtisch-ländlichen Freiwilligenagenturen decken diesen Bereich nach eigenen Angaben „stark“ ab), die „Vermittlung von Freiwilligen“ und die „Zusammenarbeit mit Organisationen“ (Speck et al. 2012, S. 70). Auf die konkrete Handlungsebene bezogen heißt das, dass Personen, die sich für eine Engagementtätigkeit interessieren, durch Freiwilligenagenturen über mögliche Einsatzfelder (z. B. in Kindergärten, Schulen, Senior*inneneinrichtungen, im Natur- und Denkmalschutz, im Sport- oder Kulturbereich) informiert und beraten sowie an Organisationen, die in diesen Bereichen Einsatzmöglichkeiten anbieten und Engagierte suchen, weitervermittelt werden. In diesem Kontext übernehmen Freiwilligenagenturen eine intermediäre Funktion zwischen den Engagementinteressierten und den nach Engagierten suchenden lokalen Organisationen. Eine wesentliche Prämisse, auf der die Vermittlungsleistung ruht, ist die Herstellung von Passfähigkeit zwischen den Anforderungen, die an das Engagement (z. B. von den Organisationen, die Engagierte suchen) gestellt werden und den Eigeninteressen der Engagierten (vgl. Kuhnt 2018, S. 564). Die Passfähigkeit der Engagierten zu ihren Einsatzfeldern wird über den Ausbau von Qualifizierungsmöglichkeiten vor Ort optimiert (vgl. ebd.). Neben den Freiwilligenagenturen

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vor Ort, die Engagementinteressierte aufsuchen können, bieten einige Freiwilligenagenturen auch Online-Portale an, damit die Engagierten selbstständig eine „passende“ Engagementtätigkeit finden können. So wirbt z. B. die Freiwilligenagentur Erfurt (2019) mit dem Verweis auf die Online-Ehrenamtsbörse: „Wir sind davon überzeugt, dass Sie die Aufgabe finden, die zu Ihnen passt.“ Die FreiwilligenAgentur Halle-Saalkreis e. V. (2019) bietet eine O ­ nline-Datenbank an, in der Interessierte Einsatzfelder nach verschiedenen Kriterien suchen und direkt Kontakt zur gewünschten Einsatzstelle aufnehmen können. Welche Angebote und Leistungen Freiwilligenagenturen vor Ort anbieten, hängt vor allem mit der Größe der Organisation (Höhe des Budgets und Anzahl hauptberuflichen Personals) sowie ihrem Umfeld (kleinstädtisch-ländlich, mittelstädtisch, großstädtisch) zusammen (vgl. Speck et al. 2012, S. 71). Der Aufgabenschwerpunkt „Zusammenarbeit mit Unternehmen“ wird im Vergleich zu anderen Aufgabenschwerpunkten als weniger „stark abgedeckt“ eingeschätzt; sonach decken 31 Prozent der großstädtischen Freiwilligenagenturen diesen Bereich stark ab, während dies in den mittelstädtischen und den kleinstädtisch-ländlichen Freiwilligenagenturen nur auf jeweils 8 Prozent zutrifft (vgl. ebd., S. 72). Zur Umsetzung von Tätigkeiten in den genannten Aufgabenbereichen wird in fast einem Drittel der Freiwilligenagenturen ausschließlich auf Engagierte zurückgegriffen; in 27 Prozent der Agenturen gibt es kein hauptberufliches Personal und in 43 Prozent eine Personalstelle (vgl. ebd., S. 56). In Anbetracht ihrer organisationalen Verfasstheit stellt sich die Frage, wie Freiwilligenagenturen die Innovationsfunktion erfüllen können. Im Folgenden werden Freiwilligenagenturen Innovationspotenziale zugeschrieben: 1) hinsichtlich ihrer Vermittlungsfunktion und 2) im Kontext eines professionellen Freiwilligenmanagements. Als Innovationen hemmende Bedingung wird 3) die finanzielle Abhängigkeit der Freiwilligenagenturen von Kommunen diskutiert. 1. Innovationspotenzial kann Freiwilligenagenturen im Hinblick auf ihre Vermittlungsfunktion zugeschrieben werden. Die Vermittlungsfunktion ist dabei sowohl (i) auf die Interessen engagementbereiter Personen ausgerichtet und darauf, deren Erwartungen und Ansprüche an ein sinnerfülltes Engagement zu berücksichtigen (Jakob 2010, S. 237), als auch (ii) auf die Bedarfe von Organisationen, die Engagierte suchen und an die Engagierte weitervermittelt werden. Des Weiteren ist die Vermittlungsfunktion (iii) ausgerichtet auf die Vermittlung zwischen Unternehmen und NPOs, z. B. zur Unterstützung von Unternehmen im Kontext ihres Selbstverständnisses als Corporate Citizens und konkret des Corporate Volunteerings ihrer Mitarbeitenden (zu Formen gesellschaftlichen Engagements von Unternehmen siehe Bartsch/ Biedermann 2018). ­ Innovationen durch die Vermittlungsfunktion anzu-

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regen, bedeutet für Freiwilligenagenturen, unterschiedliche Stakeholder zu bedienen und lokale Bedarfe ausfindig zu machen, sie durch andere Organisationen und Unternehmen mitgeteilt zu bekommen sowie auf diese zu reagieren. Innovationen sind so definiert – auf die organisationale Umwelt gerichtet – primär reaktiv. Mit der Übernahme der Vermittlungsfunktion zeigt sich ein Innovationspotenzial, von dem die Organisationen profitieren, an die die Engagierten weitervermittelt werden. Durch die Vermittlungsfunktion einer „Agentur“ kann die Engagement suchende Organisation ihre eigene Rekrutierungsfunktion4 outsourcen. Das Outsourcen der Rekrutierung von personellen Ressourcen kann als Kopier- und Imitationsprozess eines als erfolgreich wahrgenommenen organisationalen Handelns gedeutet werden, für das die Kopierfolie in der organisationalen Umwelt z. B. Personalvermittlungsagenturen darstellen. Besonders attraktiv ist das Outsourcen der Rekrutierung für „funktionalistische Organisationen“ (Backhaus-Maul et al. 2015, S. 435) der Freien Wohlfahrtspflege, in denen zur Gewinnung von Engagierten sowohl intensive Öffentlichkeitsarbeit betrieben als auch auf Infrastruktureinrichtungen wie Freiwilligenagenturen zurückgegriffen wird (vgl. ebd.). Ein Vorteil des Outsourcings der Rekrutierungsfunktion liegt vor allem in der Ressourcenersparnis. Die Organisationen werden durch die Verantwortungsübertragung oder -delegierung an eine externe Agentur vom Einsatz eigener Ressourcen entlastet. Zugleich stellt die Agentur eine professionelle Aufgabenwahrnehmung in Aussicht; anstatt eigene Organisationsstrukturen zu entwickeln, Personal zu rekrutieren und für die Verfolgung dieses Zwecks einzusetzen und weiterzubilden, kann es effizient sein, auf professionelle Strukturen und Verantwortlichkeiten außerhalb zurückzugreifen. Die Vermittlungsfunktion als Innovation im Kontext der Engagementförderung zu betrachten, weil sie andere Organisationen von ihrer Rekrutierungsfunktion entlastet und insofern eine Neuerung der auf Tradition beruhender, nach innen geschlossener Organisationsabläufe darstellt, zieht allerdings nach sich, dass es ausreichend professionelle und hauptberuflich Beschäftigte sowie Strukturen gibt, um die Funktion erfüllen zu können. 2. Die Übernahme einer Innovationsfunktion in der Binnenorientierung von Freiwilligenagenturen zieht den Bedarf eines professionellen Managements nach sich. Das professionelle Management muss – zur Pflege der Schauseite der Organisation – Öffentlichkeitsarbeit betreiben und zugleich die Beratungs-, Informations- und Vermittlungsleistungen (d. h. das Frei-

4Zur

Rekrutierungsfunktion von NPOs, siehe Liebig und Rauschenbach (2010, S. 268).

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willigenmanagement) (weiter)entwickeln. Da in 27 Prozent der Freiwilligenagenturen Dienstleistungen ausschließlich durch Engagierte erbracht werden, liegen Innovationswiderstände vordergründig in der mangelnden Ausstattung der Freiwilligenagenturen mit Ressourcen; ohne eine dauerhafte, hauptberufliche Personalstruktur ist es mitunter eine Herausforderung, das Kerngeschäft zu sichern. In Freiwilligenagenturen, in denen sich die strukturellen Bedingungen vergleichsweise günstiger darstellen, d. h., in denen zwei oder mehr Mitarbeitende beschäftigt werden (dies ist in 15 Prozent der erfassten Freiwilligenagenturen der Fall; vgl. Speck et al. 2012, S. 56), ließe sich über ein professionelles Management auch die Profilierung der Freiwilligenagentur und ihres Dienstleistungsangebotes vorantreiben, um sich im Wettbewerb lokal behaupten zu können und auf der „Vorderbühne“ (diskursiv) Legitimitätsgewinne zu erzielen. Im Hinblick auf die Einschätzung der Wirkung der Vermittlungsfunktion und des Freiwilligenmanagements – als innovatives Handeln – müssten entsprechende Evaluationsinstrumente entwickelt und Studien kontinuierlich durchgeführt werden, in denen zum einen die Perspektive der Engagierten als „aktivierte Nutzer*innen“ der Angebote erfasst werden, aber auch die Erwartungen und Wirkungsannahmen möglicher Kooperationspartner*innen und Mittelgebenden. 3. Die Kommunen fungieren als wesentliche Finanzierungsquelle, um in Freiwilligenagenturen Dienstleistungen für Dritte anzubieten, wodurch ein Legitimationsdruck für die Freiwilligenagenturen gegenüber den Kommunen erzeugt wird. Freiwilligenagenturen stehen vor der Herausforderung, den Kommunen als Mittelgebende in Aussicht zu stellen, ihrem im Selbstverständnis „latenten Innovationsversprechen“ (Speck et al. 2012, S. 11) erfolgreich nachzukommen. Die Möglichkeit, alternative Finanzierungsquellen zu akquirieren und damit in Konkurrenz zu anderen EfO zu treten, die ihrerseits potenziell Mittelgebende adressieren, minimiert die Herausforderung nicht, sich der sozialen Wirkungsfrage zu stellen. Fraglich ist, inwiefern die innovative und insofern wirksame Identität der einzelnen Organisation, bescheinigt oder beglaubigt durch Güte- und Qualitätssiegel, noch taugt (respektive Legitimität erzeugt), wenn die Anzahl der sozial wirksamen Organisationen im lokalen Raum steigt und Wirksamkeit als differenzierendes Kriterium nicht mehr greift. Mit Luhmann könnte man diese Frage damit beantworten, dass Organisationen ihre Selbstbeschreibungen benutzen, „um ihre individuelle Besonderheit in einer Terminologie herauszustellen, die, wie man hofft, allgemeine Anerkennung findet. Die wichtigste Form der Auflösung des Paradoxes der Einzigartigkeit [bei gleichzeitiger Bildung der Organisation aus denselben Werten wie die ihrer Umwelt; d. V.] scheint in Überbietungsstrategien zu bestehen.“ (Luhmann 2011,

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S. 438; Hervorhebung i. O.). Innovation als Identitätsstrategie überzeugt im Modus der Überbietung nur dann, wenn die eine Organisation in der Selbst- und Fremdbeschreibung als innovativer, im Fall der hier betrachteten Freiwilligenagentur als (sozial) wirksamer, als andere Organisationen eingeschätzt wird. Überbietungsstrategien dieser Art zeigen sich darin, dass Organisationen, bei entsprechender Faktenlage, eine „Erfolgsgeschichte“ (ebd., S. 440) schreiben und sich selbst auszeichnen. Mit Blick auf die Freiwilligenagenturen ist festzustellen, dass Erfolgsgeschichten durch die jährliche Auslobung eines Innovationspreises des Dachverbandes geschrieben werden, die Faktenlage aber wissenschaftlich fundierte, kontinuierliche Erhebungen vermissen lässt. Zusätzlich zum Schreiben von Erfolgsgeschichten muss es – wohlweißlich der Reziprozität von Organisation und Umwelt – jene geben, die diese Geschichten glauben und ihr Geld, ihre Zeit und ihr Wissen in die Organisationen einspeisen. Im Fall der Freiwilligenagenturen sind es – so die quantitative Verteilung der Mittelgebenden – die Kommunen, die die Erfolgsgeschichten glauben (müssen). Neben den Kommunen – unter Berücksichtigung der zögerlichen Bereitschaft mancher Kommunen, für ein ­ In-Aussicht-Stellen von Wirksamkeit und Erfolg, diese Organisationsform grundständig zu fördern –, ist die Führungsebene in Freiwilligenagenturen gefordert, über eine breitere Öffentlichkeitsarbeit Kooperationspartner*innen und Finanzmittelgebende zu akquirieren5 und Erfolg als messbar an der Finanzausstattung oder der erfüllten „Mission“ (Vermittlung und Management von Freiwilligen) sichtbar nach außen zu transportieren.

5 Innovationen als Investitionen von und für die Mittelgebenden Einigkeit herrscht in der Debatte um Engagementförderung und Engagementpolitik darüber, dass „den aktiven und partizipativen Formen des Engagements eine wichtige politische, genauer, Demokratie fördernde Wirkung zukommen kann“ (Roth 2010, S. 625). In organisierten Kontexten wird Engagement zur

5Dem

Ökosystem sozialer Innovationen folgend, wären – neben den Kommunen, als dominante Financiers und den Engagementinteressierten als Nutzer*innen der angebotenen Dienstleistungen – die Sektoren Unternehmen und Wissenschaft als potenzielle Kooperationspartner*innen und Mittelgebende zu adressieren und zu überzeugen. Die Zusammenarbeit mit Unternehmen, so die quantitativen Daten, ist bisher weniger stark ausgeprägt und die Wissenschaft als zu berücksichtigender Sektor nicht systematisch (wissenschaftlich) erfasst worden.

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Möglichkeit der Einlösung oder Inanspruchnahme eines aktiven Mitentscheidungs- und Mitgestaltungsrechts, für das die Akteur*innen der organisierten Zivilgesellschaft Organisationsstrukturen ausbilden. Damit sind zugleich Herausforderungen für die Organisationen und Institutionen verbunden, die Engagement mobilisieren und fördern wollen, denen es an einem entsprechenden „Rollenangebot“ (ebd.) für Engagierte mangelt und die sich gegen Routineabläufe und Beharrungsvermögen durch die Engagierten irritieren lassen müssen. Zugleich geht mit dieser Irritierbarkeit einher, dass Engagement, wenngleich es öffentlich und politisch eine positive Anerkennung erfährt, nicht quasi „naturwüchsig“ demokratisch oder Demokratie fördernd ist. Vielmehr sind die Engagement fördernden Organisationen und Akteur*innen gefordert, die „demokratische Substanz des Engagements“ (ebd., S. 616) selbst hervorzubringen. Dabei bemisst sich das demokratische Potenzial der Organisationen auch daran, inwiefern es ihnen gelingt, nicht nur jene Engagierten zu mobilisieren, die aufgrund individueller Ressourcen (Geld, Wissen, Zeit), Zugänge (Netzwerke, soziale Beziehungen) und Beteiligungserfahrungen, ohnehin bereits privilegiert sind (vgl. ebd.). Hiermit wird ein praktisches Spannungsfeld flankiert: Die Einwerbung von Ressourcen geht mit einer Einladung zur Beteiligung ressourcenstarker Mittelgebenden einher6, wodurch ressourcenarme Personen (allenfalls) als Adressat*innen von Dienstleistungen, nicht aber als über den Mitteleinsatz entscheidende Personen Berücksichtigung finden. Andererseits ist die Einwerbung von Ressourcen ein entscheidender „Treibstoff“ für die Umsetzung der Innovationsfunktion. Organisierte Engagementförderung gibt es nicht zum Nulltarif (Hartnuß 2018, S. 123); so bedarf es kommunaler Strukturen bzw. Infrastruktureinrichtungen, wie Bürger*innenstiftungen und Freiwilligenagenturen, die organisierte Gelegenheiten des Engagements ermöglichen. Die Einbindung der organisierten Zivilgesellschaft in die soziale Dienstleistungserbringung im Kontext kommunaler Daseinsvorsorge, also der lokalen Aufgaben- und Verantwortungsteilung, im Rahmen derer Bürger*innen als Nutzer*innen und Koproduzent*innen von Dienstleistungen aktiviert werden, bedarf einer grundständigen Finanzierung, damit EfO dauerhafte, weitgehend von der Einflussnahme besonders ressourcenstarker Mittelgebenden unabhängige und in diesem Sinne nachhaltige Organisationsstrukturen ausbilden können. Hinsichtlich einer grundständigen Finanzierung und einer damit verbundenen Anerkennung des Potenzials der Engagement fördernden Infrastruktureinrichtungen stellt Jakob (2010, S. 235) fest, dass diese bislang nur von einem Teil der Kommunen

6Auch

Zeit für Engagement muss man sich leisten können.

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wahrgenommen werde. Engagementförderung ist insofern keine kommunalpolitische Selbstverständlichkeit. Innnovationsfähigkeit schließt Kreativität im Umgang mit der Institution sozialer Daseinsvorsorge als politisch-administrativem Rahmen ein. Die Kreativität erschöpft sich nicht im Zurückgreifen auf bewährte Strukturen und Kooperationspartner*innen (etwa die klassische Vereinsförderung von Kommunen oder die Berücksichtigung von Wohlfahrtsverbänden im neokorporatistischen System), sondern geht hervor aus einem Verständnis lokaler Aufgaben- und Verantwortungsteilung und einem damit verbundenen Finanzierungsmix, in dem neue Partner*innen auf dem sozialpolitischen Terrain anerkannt und neue Modi der Engagementförderung lokal erprobt werden. Die Modi lokaler Engagementförderung, unter Berücksichtigung der Bandbreite der organisierten Zivilgesellschaft und ihrer politisch-administrativen Rahmenbedingungen, gilt es weiter empirisch zu untersuchen. Innerhalb der Organisationen bedarf es hauptberuflicher und professioneller Strukturen, die im Sinne von Organisationsentwicklung Engagementförderung als Aufgabe entwickeln und „ein modernes Freiwilligenmanagement“ (Hartnuß 2018, S. 123) etablieren. Zugleich wird deutlich, dass Engagementförderung auf einem Wettbewerbsprinzip zwischen lokalen Organisationen basiert. Im Wettbewerb um Ressourcen (Engagierte, finanzielle Mittel, Wissen, Zeit, Sprecher*innenpositionen im politischen Diskurs) werden die Organisationen als „innovativ“ wahrgenommen, denen es gelingt, sich von der Zivilgesellschaft irritieren zu lassen, auf als dringlich eingeschätzte zivilgesellschaftliche Bedarfe zu reagieren und Lösungen anzubieten, die Legitimität durch Wirkungsannahmen erzeugen. Dabei verschaffen sich die Organisationen einen Wettbewerbsvorteil, denen es gelingt, – auf der Vorderbühne – öffentlichkeitswirksame, überzeugende Geschichten über Qualität, Wirkung und die eigene Organisation als die innovative(re) zu erzählen. Abschließend muss kritisch angemerkt werden, dass, wenn Innovativität das Kriterium ist, an dem förderwürdige Aktivitäten der Organisationen bemessen werden, die Mittelgebenden, darüber entscheiden, was als dringlicher Bedarf gilt, welchen Wirkungsannahmen sie Glauben schenken und welche Lösungen für lokale Bedarfe legitim erscheinen. Lokale Bedarfe, die die Mittelgebenden nicht als dringlich wahrnehmen und an die Organisationen kommunizieren oder an deren Lösung sie nicht mitwirken wollen, bleiben unter dem Radar. Die „aktivierte Bürger*innengesellschaft“ bzw. ihr Engagement wird daher zum einen als ein „Mittelschichtsprojekt“ (Kessl 2006, S. 75) diskutiert. Zum anderen sprechen die Ergebnisse des aktuellsten Freiwilligensurveys hinsichtlich einer geschlechtsspezifischen Verteilung von Engagement „für eine nach wie vor vor-

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handene Orientierung an der traditionellen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung“ (Vogel et al. 2017, S. 643). Die Wahrnehmung einer Gelegenheit, sich lokal zu engagieren, stellt damit weniger ein Aktivierungs- als vielmehr ein Vereinbarkeitsproblem dar; und Engagementförderung, wie in diesem Beitrag deutlich geworden ist, bevorteilt insbesondere diejenigen, die sich Engagement leisten können, weil sie über die nötigen und notwendigen Ressourcen verfügen, um lokal mitentscheiden und mitgestalten zu können.

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Kuhnt, Janine,  M. A., studierte Erziehungswissenschaft an der Freien Universität Berlin und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Seit April 2016 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Sozialpädagogik und außerschulische Bildung des Instituts für Erziehungswissenschaft an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Letzte Veröffentlichungen: Kuhnt, J. (erscheint Mitte 2020). Erzeugung von Lebensqualität durch Engagement – Gleichwertige Lebensverhältnisse zwischen Utopie und Selbstaktivierung. In: Staats, M. (Hrsg.). Lebensqualität. Ein Metathema, Weinheim: Beltz Juventa. Kuhnt, J. und J. Finzi, (erscheint Mitte 2020). Weniger Haus, mehr Leben(squalität)?! Die Tiny House-Bewegung zwischen Revolte und Rendite. In: Staats, M. (Hrsg.). Lebensqualität. Ein Metathema, Weinheim: Beltz Juventa. Kuhnt, J. (im Erscheinen). The dynamics of local responsibility sharing: ­Engagement-promoting organizations and structures in Germany, in: Voluntaris: Zeitschrift für Freiwilligendienste. Kuhnt, J. (im Erscheinen). Wohnungsnot minimalistisch, selbstverantwortlich und/oder sozialarbeiterisch angehen? In: Blätter der Wohlfahrtspflege Heft 2/2020. Kuhnt, J. 2018. Engagementförderung zwischen Professionalisierung, Deprofessionalisierung und Selbstoptimierung. In: np: Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik 6/2018, S. 547–570.

RePair Democracy – Soziale Innovationen als Werkstätten für demokratische Gestaltung Gerald Beck und Robert Jende

Zusammenfassung

In diesem Beitrag werden Soziale Innovationen als Werkstätten für demokratische Gestaltung diskutiert. Vor dem Hintergrund der „Krise der Repräsentation“ (Diehl, Aus Politik und Zeitgeschichte, 40–42: 12–17, 2016) und der „ökologisch-ökonomischen Zangenkrise“ (Dörre, Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften. Sonderband des Berliner Journals für Soziologie, Springer VS, Wiesbaden, S. 3–33, 2019) erscheint die Gestaltung gesellschaftlichen Wandels zunehmend drängender und komplexer. Soziale Innovationen können Beispiele für alternative gesellschaftliche Praktiken darstellen und dadurch Vorbild für die Gestaltung von Wandel sein. Mit Blick auf Initiativen der Reparaturszene gehen wir der Frage nach der Möglichkeit demokratischer Gestaltung nachhaltigen Lebens nach. Können in Initiativen sozialer Innovation wie Reparaturcafés, offenen Werkstätten oder solidarischen Landwirtschaften eingeübte „demokratische Mikropraktiken“ dazu beitragen, politische Selbstwirksamkeit in andere Lebensbereiche zu tragen? Mit dem im Beitrag vorgestellten „Demokratiecafé“ soll ein Raum der Begegnung von Menschen mit ihren lokalen Anliegen angeboten werden, in dem diese Anliegen kollaborativ bearbeitet und Probleme gemeinsam gelöst werden sollen.

G. Beck (*) · R. Jende  München, Deutschland E-Mail: [email protected] R. Jende E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_17

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1 Nachhaltig und demokratisch Leben – eine Aporie? Die moderne Gesellschaft wird häufig als funktional differenzierte (Luhmann) und arbeitsteilige (Durkheim) beschrieben. So haben sich einzelne Funktionsbereiche herausgebildet, und gesellschaftliche Probleme werden in kleinen Paketen von Spezialistinnen und Spezialisten innerhalb einer abgrenzbaren Sphäre bearbeitet. Als umfassendes Organisationsprinzip gilt hierzulande eine repräsentative Demokratie, um Richtungsweisungen politischer Steuerungsversuche wählbar zu machen. Dieses Steuerungsprinzip gerät zunehmend unter Druck, es ist vielfach die Rede von einer „Krise der Repräsentation“ (Diehl 2016). Diese hängt unmittelbar mit der Art und Weise zusammen, wie das gesellschaftliche Zusammenleben wirtschaftlich organisiert ist. In Bezug auf die Krise der Demokratie ist auch die Rede von einer „ökologisch-ökonomischen Zangenkrise“ (Dörre 2019). Das bedeutet, auf das Wesentliche verkürzt, dass das globale Wirtschaftssystem wachstumsgetrieben ist und diese Dynamik die natürlichen Lebensgrundlagen zerstört. Umgekehrt würde eine ressourcenschonende Wirtschaftsweise das aktuelle Weltwirtschaftssystem kollabieren lassen und zu immensen sozialen Verwerfungen führen. Vor dem Hintergrund dieser akuten Mehrfachkrisen erscheint die Gestaltung gesellschaftlichen Wandels mit dem größer werdenden „Verlangen nach Alternativen“ (Wright 2017, S. 9) immer drängender, um „im Hier und Jetzt so zu handeln, dass sich die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Umsetzung der Alternative erhöht“ (ebd., S. 11). In den letzten Jahren wurden für die Bearbeitung dieser Krisen zunehmend „soziale Innovationen“ thematisiert (vgl. u. a. Howaldt und Jacobsen 2010, Beck und Kropp 2012, Moulaert et al. 2014). Unter sozialen Innovationen verstehen wir im Anschluss an Frank Moulaert und Kolleg*innen solche Neuerungen, die an menschlichen Bedürfnissen ansetzen, neue soziale Konstellationen hervorbringen und damit gesellschaftlichen Zusammenhalt fördern (Moulaert et al. 2014, S. 16 f). Dabei interessieren uns vor allen Dingen lokal eingebettete, zivilgesellschaftliche Innovationen „aus der Mitte der Gesellschaft“ (Beck und Kropp 2012, S. 15), da diese weniger unter dem Verdacht stehen, sozialtechnologische Fantasien zu bedienen, sondern vielmehr als Nährboden für die Etablierung nachhaltiger und basisdemokratischer Lebensweisen fungieren. Wir gehen also der Frage nach, inwieweit sich nachhaltiges Leben demokratisch realisieren kann. Dabei setzen wir Demokratie nicht mit repräsentativer parlamentarischer Demokratie in eins, sondern vertreten einen dynamischen Begriff der Demokratisierung.

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Als Mittel der Demokratisierung verstehen wir offene Werkstätten, Repair Cafés, solidarische Landwirtschaften und andere soziale Innovationen als einen Beitrag zur Etablierung lokaler Demokratien. Diese zeichnen sich vor allem durch niedrigschwellige Partizipationszugänge, direkte Wirksamkeit und informellen Austausch aus. Unsere Leitthese orientiert sich am Konzept der Selbstwirksamkeit von Albert Bandura (1997) und besagt, dass Bürgerinnen und Bürger sich als politisch wirksam erfahren müssen, um ein inklusives und befriedigendes politisches Gemeinwesen aufbauen zu können. Umgekehrt bedeutet das, dass eine entsprechende Entkopplung von Bürgerwille und politischen Entscheidungsträger*innen zu einer Erosion der Demokratie führt. Weil Bürgerinnen und Bürger das Gefühl haben, ‚nicht gehört zu werden‘, wenden sie sich von der Idee der Demokratie ab und radikalen Rändern zu. Nachhaltiges Leben und Wirtschaften gerät so systematisch aus dem Blick, weil die politischen Konflikte in anderen Arenen ausgetragen werden. Gesellschaftliche Großwetterlagen richten sich rasch abwechselnd nach dem medialen Wind, der die Aufmerksamkeit der Vielen in ihren Bann ziehen kann. Die Rituale der Demokratie, wie Wahlen oder parlamentarische Debatten, lassen sich in diese Simulationen von Gestaltungsabsichten einfügen (vgl. Blühdorn 2013). In den Simulationen werden allerdings keine erforderlichen Veränderungen vorgenommen. Diese werden im kleinen, experimentellen Rahmen in den Laboren nachhaltigen Lebens praktiziert. Das Prinzip der Reparatur scheint ein probater Ausgangspunkt der Transformation einer institutionalisierten „Politik der Nicht-Nachhaltigkeit“ (vgl. Blühdorn 2013, S. 258 ff.) zu Lebensformen im Fließgleichgewicht mit den natürlichen Lebensgrundlagen zu sein. „Reparatur baut weit mehr als andere Wissenskulturen auf praktischer Erfahrung und Kollaboration auf“ (Bertling und Leggewie 2016, S. 275). Dabei steht eine „Kunst des Zusammenlebens“ (Les Convivialistes 2014, S. 47) im Zentrum des Handelns, die sowohl auf Fürsorge für Dinge und Menschen, als auch auf nichtwachstumsorientierter Gabe beruht. Das Reparieren in kleinen Gemeinschaften widersetzt sich der kapitalistischen Logik des Wachsens, Konsumierens und Gewinnens und ist per se am Gebrauchswert orientiert. Einfach gesagt ist reparieren nachhaltig, fördert Technikmündigkeit und ein geselliges Miteinander (Bertling und Leggewie 2016, S. 277). Damit fokussieren wir auf gesellschaftliche Gruppen, die bereits ohne Wachstum auskommen (oder davon ausgeschlossen sind), um „an der Herausbildung von Gegenöffentlichkeiten mitzuwirken, die Möglichkeiten gesellschaftlicher Transformation ausleuchten“ (Dörre 2017, S. 56). Doch nicht nur ausleuchten, es geht um das reale Experiment im kleinen Rahmen, das uns darüber Aufschlüsse geben kann, wie sich nachhaltige Lebensformen als demokratische selbst organisieren. Die Stadt als Raum und die Stadtgesellschaft als gesellschaftliche Macht (Wright 2017, S. 184 ff.) rücken ins Zentrum der Gestaltung lokaler Demokratien. „Zudem erlaubt

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die Stadt, wie die Werkstatt, die Konzentration der Produktionsmittel – Werkzeuge, Rohstoffe, Arbeitskräfte – auf beschränktem Raum“ (Lefebvre 2016, S. 35). Damit ist eine zweite Implikation von Re-Pair verknüpft: die Anbindung (pair) der Bedürfnisse von Bürger*innen an politische Gestaltung. Darin sehen wir das Potenzial eines kommunalen Demokratieverständnisses zur partizipativen Gestaltung lokaler Lebensräume. Soziale Innovationen wie Repair Cafés, Offene Werkstätten, Commons oder Maker Labs erinnern an eine Art zu leben, die der Entwicklung von lokaler Selbstwirksamkeit zugutekommt. Kollaborative Praktiken der Aneignung, Umformung, des Recyclings und der Anverwandlung werden als reale Utopien zu Alternativen gegenwärtiger Konsum- und Wachstumsorientierung. Durch die Erfahrung von Selbstwirksamkeit scheinen Akteure sozialer Innovation geeignet, die in der Initiative gelernten basisdemokratischen und an Nachhaltigkeit orientierten Praktiken in anderen Kontexten zu replizieren (vgl. Dumitru et al. 2016). Konkret geht es uns deshalb um die Frage, inwiefern soziale Innovationen politisierendes und demokratisierendes Potential entfalten können und die in sozialen Innovationen eingeübten Organisationsweisen auch in anderen Zusammenhängen zur Aktivierung von demokratischen Werten und nachhaltigen Lebensweisen führen. Neben der übergeordneten Frage nach dem Potential sozialer Innovationen für die Einübung, Legitimierung und Verbreitung demokratischer Praktiken interessieren wir uns für eben diese Praktiken im Detail. Was zeichnet die realen Utopien aus, die in offenen Werkstätten gelebt werden? Inwiefern werden, in den überwiegend auf basisdemokratischer Selbstorganisation begründeten Initiativen, nachhaltige Lebensformen gelebt? Und was lässt sich daraus für eine Demokratisierung hochkomplexer Gesellschaften lernen? Um diesen Fragen näher zu kommen, beginnen wir mit den Hauptschauplätzen umwelt- und ressourcenfreundlicher Praxisformen anhand der Darstellung des Reparaturprinzips (2). Die Werkstatt stellt sich dabei als ein Übungsraum für produktive Soziabilität heraus, in welchem demokratische Mikropraktiken gelebt und eingeübt werden. Zwar tragen offene Werkstätten oder Reparaturcafés politisierendes Potential in sich, doch wird dieses nicht explizit adressiert. Um nachhaltige Lebensformen mit politischen Realisierungsmöglichkeiten zu verbinden (re-pair) explorieren wir in einem nächsten Schritt ein Reparaturcafé für Demokratie (3). Einen solchen lokalen Raum, das Demokratiecafé, verstehen wir als ein Labor für eine partizipative Entwicklung lokaler Lebensräume durch die Bewohner*innen in Kollaboration mit strukturbildenden Institutionen. Zum Ende fassen wir die Schlüsse in der Konzeption einer Kollaborativen Demokratie zusammen, um auf eine Demokratisierung der Demokratie aufmerksam zu machen, die nachhaltiges Leben und Wirtschaften auf basisdemokratische Weise strukturell in sich verankert hat (4).

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2 Nachhaltig Leben und Wirtschaften: das Prinzip der Reparatur „If you can’t fix it, you don’t own it!“ – Dieser Leitspruch der Reparaturbewegung zeigt, dass hinter der einfachen Idee von Repair Cafés weit mehr steckt als Hilfe zur Selbsthilfe. Die soziale Innovation des Repair Cafés ist eingebettet in eine größere Bewegung, die auf das Prinzip der Reparatur baut und als Sammelbecken postkapitalistischer Praktiken gelten kann (Baier et al. 2016). Der Leitspruch zielt klar auf eine Aneignung von Produkten, die in der kapitalistischen Logik so nicht mehr vorgesehen ist. Wenn uns ein Produkt erst gehören kann, wenn wir es reparieren können, dann ist der Kauf an sich nicht mehr der entscheidende Faktor. Der Aneignungsprozess im Selbermachen oder Reparieren liegt auch noch auf einer anderen Ebene. Wer sich einen Tisch in einer offenen Werkstatt selbst geschreinert hat, der wird ihn kaum beim nächsten Umzug durch ein Billigangebot aus dem Möbelhaus ersetzen. Ressourcen werden also geschont und Produkte erhalten neue Wertschätzung. Genauso verhält es sich mit Produkten, die in einem Reparaturcafé gemeinsam mit anderen repariert werden. Auch hier entsteht eine Bindung zum Produkt, die zu einer längeren Nutzungsdauer führt (Simons et al. 2016). Jürgen Bertling und Klaus Leggewie (2016) heben insbesondere drei Leistungen der Reparaturbewegung für die politisch angestrebte „Große Transformation“ (WBGU 2011) hervor. Erstens seien Praktiken des Reparierens ein wichtiges Element für Nachhaltigkeitsstrategien, zweitens fördere Reparatur die Technikmündigkeit von Bürger*innen und drittens entstünden durch gemeinsames Reparieren neue soziale Verbindungen und Gelegenheiten zur Interaktion (Bertling und Leggewie 2016, S. 277). In Repair Cafés lassen sich diese drei Elemente der Reparaturgesellschaft sehr gut beobachten. Insbesondere der dritte Punkt ist aus demokratietheoretischer Sicht interessant, denn in Repair Cafés eignen sich Akteure nicht nur technisches Wissen an, sondern üben auch demokratische Praktiken ein. Sie lernen, sich zu organisieren und in Gruppen Entscheidungen zu treffen. Beides funktioniert in sozialen Innovationen oft in Form von demokratischen Mikropraktiken (s. u.). Nicht zu unterschätzen ist zudem die Funktion von Repair Cafés als Treffpunkt in der Nachbarschaft bzw. im Stadtteil. Die Wartezeit verbringen die Gäste mit anderen am Kaffeetisch, und diese Gelegenheit wird für Gespräche über diverse Themen genutzt. Die angeeigneten demokratischen und technischen Kompetenzen nutzen Akteure in der Folge auch in anderen Zusammenhängen. Dieser Schritt des

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sozialen Lernens ist ein Baustein transformativer sozialer Innovation (Dumitru et al. 2016), der im Projekt näher untersucht werden soll. Konkret geht es um die Frage, inwiefern soziale Innovationen demokratisierendes Potential entfalten können und ob die in sozialen Innovationen eingeübten demokratischen Praktiken auch in anderen Zusammenhängen zur Aktivierung von demokratischen Werten führen.

2.1 Die Werkstatt: ein Übungsraum für produktive Soziabilität In seinem Buch Zusammenarbeit stellt Richard Sennett im Kapitel zur Werkstatt die These auf, dass „körperliche Arbeit dialogisches Sozialverhalten zu fördern vermag“ (Sennett 2012, S. 267). Dieser Beobachtung folgen auch wir, denn es konnte gezeigt werden, dass erfolgreiche soziale Innovationen Ablegereffekte (Kropp 2014) erzeugen und soziale Lernprozesse anregen können (Dumitru et al. 2016). Beide Ausprägungen des transformativen Potentials werden in dem Projekt RePair Democracy verfolgt. Unsere Überlegungen gehen von der Annahme aus, dass Akteure sozialer Innovationen in den erfolgreichen Initiativen positive Selbstwirksamkeit erfahren. Erlernte Fähigkeiten und Sicherheiten lassen sich wiederum in kommunale Gestaltungsprozesse einbringen, „indem man in der Werkstatt gewonnene Erfahrungen auf die Gesellschaft überträgt“ (Sennett 2012, S. 268). So dient die Werkstatt als Symbol, gemeinsamen Lebensraum in Zusammenarbeit zu gestalten. Hier ist der Zusammenhang zwischen Handwerk – also beispielsweise gemeinsames Reparieren – und dem gesellschaftlichen Zusammenleben von zentraler Bedeutung. „Wer als Handwerker Geschick in der Herstellung von Dingen erwirbt, entwickelt körperliche Fähigkeiten, die sich auch auf das soziale Leben anwenden lassen“ (ebd., S. 267). Die Werkstatt lässt sich also als die Grundform der Zusammenarbeit rekonstruieren und ist damit auch ein ernst zu nehmendes Brennglas für eine basisdemokratische Lebensform, die Probleme kooperativ vor Ort löst. Dazu sind einige Regeln des aufeinander bezogenen Verhaltens in sozialen Innovationen empirisch beobachtbar und gesamtgesellschaftlich förderlich, um eine sowohl nachhaltige, als auch demokratische Wirtschaftsweise zu entwickeln. Demokratische Mikropraktiken zeigen im unmittelbaren Umgang miteinander – als kleinste Einheit gleichberechtigter Interaktion – die Grundfähigkeiten und -haltungen als Bedingung der Möglichkeit demokratischer Gestaltungsprozesse an.

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2.2 Was sind demokratische Mikropraktiken? „Für den Menschen gibt es das Handeln einzig deshalb, weil es Handeln des anderen ist.“ (Ziemer 2013: 86)

Eine erste wesentliche Eigenschaft gelingender Verständigung ist das Prinzip des Dialogs. Das geht von der Anerkennung des Gegenübers als ein Du (vgl. Buber 1996) bis zum Zuhören- und Sprechen-Können „auf Augenhöhe“ – das Erste ist Voraussetzung des Zweiten. Die Anerkennung des Gesprächspartners als Anderen erfordert eine Distanzierung, dass er*sie ein eigenständiges Wesen hat. Das Zuhören und Sprechen lässt uns mit dem anderen Menschen in eine Beziehung treten. „Das Fundament des Mensch-mit-Mensch-Seins ist dies Zwiefache und Eine: der Wunsch jedes Menschen, als das was er ist, ja was er werden kann, von Menschen bestätigt zu werden, und die dem Menschen eingeborene Fähigkeit, seine Mitmenschen eben so zu bestätigen“ (Buber 1951, S. 33 f.). Buber sieht dieses Prinzip bereits zu seiner Zeit nachhaltig gestört. Unmittelbar im Zusammenhang mit dem dialogischen Prinzip stehen die Offenheit, Überraschungen und Kontrollverlust zuzulassen, und die Vorbehaltlosigkeit, das heißt, frei von Urteilen über Unbekanntes zu sein. Diese beiden Eigenschaften sind Teile der Distanzierung, die notwendig sind, um Regeln überhaupt erst gemeinsam als Gleiche und Verschiedene zugleich aushandeln zu können. Das ist bereits sehr voraussetzungsreich für eine Welt, die dazu neigt, narzisstische Subjekte zu produzieren. Um den Anderen vorbehaltlos und offen anzuerkennen und unter dieser Voraussetzung mit ihm*ihr in Beziehung zu treten, braucht es eine Ambiguitätstoleranz, also einen gelassenen Umgang mit Widersprüchen und Differenzen, und Vertrauen im Sinne einer Positivierung von Ungewissheit und Fremdheit. „Gerade weil uns der Andere in der Moderne zunehmend als Fremder begegnet, als jemand, mit dem wir weder Eigenschaften noch symbolische Referenzrahmen teilen, sind wir sowohl genötigt, als auch frei dazu, ihm […] mit ‚innerer Vorbehaltlosigkeit‘ zu begegnen“ (Hetzel 2010, S. 248). Vertrauen kann allerdings nicht hergestellt werden, sondern wird „geschenkt und angenommen“ (Luhmann 1989, S. 46), es gehört in den Bereich der Unverfügbarkeit, die das ganze Leben begleitet und bereichert (vgl. Rosa 2018). Weil man sich aus einem Bereich der eigenen Kontrollierbarkeit bewegt, kann Vertrauen leicht in Konflikt mit anderen Werten wie Sicherheit, Gewissheit oder Erwartbarkeit geraten, denn es ist bequem, nach dem „großen Anderen“ zu rufen, um Konflikte qua Setzung (bspw. durch den Staat) zu lösen. Für demokratische Mikropraktiken ist Vertrauen allerdings konstitutiv, da es im Rahmen einer unmittelbaren dialogischen Verständigung keinen Bestimmer gibt, der einen Dissens beschließt.

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Für ein demokratisches Miteinander ist es daher unerlässlich, Mehrdeutigkeiten und Unsicherheiten zu „ertragen“. Dabei hilft eine weitere Eigenschaft demokratischer Mikropraktiken: Diversensibilität. Dieser etwas umständliche Begriff – in Ermangelung eines besseren – beschreibt eine Milieu-, Kontext-, Alters- und Kultursensibilität, ohne die eine breite Einbeziehung verschiedener Positionen als gleichberechtigte nur scheitern kann. Zudem fördert Diversensibilität die Ambiguitätstoleranz, denn ein Sensibel-Sein für das Andere als Gleiches führt auch zu einem entspannten Umgang mit Ungewissheiten, Widersprüchen und Außerordentlichem. Und auch das Sensibel-Sein für Divergenz vollzieht sich nicht in einem kulturlosen Raum, sondern setzt Reflexivität voraus. Reflexivität ist das Bewusstsein von der Ausschnitthaftigkeit (Perspektivität) der eigenen Weltwahrnehmung, die ein Mensch durch seine je spezifischen Erfahrungen ausgebildet hat. Um ein Bewusstsein von der eigenen Perspektivität zu entwickeln, bedarf es einer methodischen Selbstbeobachtung. Diese ermöglicht wiederum Selbstkritik als Voraussetzung dafür, andere Perspektiven in ihrer Andersartigkeit zu sehen und anzuerkennen (vgl. Moldaschl 2010, S. 10). Das überschneidet sich teilweise mit der oben genannten Distanzierung, um „von der eigenen ego-zentrischen Perspektive ab-zu-sehen“ (ebd., S. 4). Die Dezentrierung der eigenen Perspektive lässt die Zeit- und Standortgebundenheit des Denkens (vgl. Mannheim 1978) gewahr werden. Diese Einsicht ermöglicht es, von der Genese anderer Perspektiven zu wissen und den eigenen Standpunkt stets als relational zu anderen zu begreifen. „Die geistige Situation, um die es dabei geht, bietet theoretisch die Möglichkeit, zwischen einander logisch ausschließenden Sinnsystemen hinüber und herüber zu wechseln.“ (Berger 1984, S. 62). Diese doch sehr voraussetzungsvollen und ideellen Eigenschaften demokratischer Begegnung gründen ihre Präsenz und Wirksamkeit auf der Verbindlichkeit der Effekte gemeinsamer Anstrengungen. Wenn politisches Engagement keine Konsequenzen nach sich zieht, schwindet das Vertrauen in die eigene Wirksamkeit. Wenn sich immer nur die gleiche Logik bei der Gestaltung des gemeinsamen Lebensraumes durchsetzt, wird Reflexivität zugunsten strategischer Nutzenorientierung zersetzt. Das wiederum hat eine Distanzlosigkeit zur Folge, andere Menschen und Gegenstände zu instrumentalisieren und zu Objekten des eigenen Standpunktes zu machen – und so weiter. Nur durch Verbindlichkeit kann sich politische Selbstwirksamkeit manifestieren und damit demokratische Mikropraktiken befördern. Die Voraussetzungen dafür sind sehr fragil. Um politische Selbstwirksamkeit auf lokaler Ebene wahrscheinlicher werden zu lassen, eignen sich bestimmte Praxisformen zur Realisierung von Zusammenarbeit in besonderem Maße. Komplizenschaft (Ziemer 2013) und Kollaboration

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(Terkessidis 2015), häufig in kriminellen oder kriegerischen Kontexten verwendet, weisen beide auf eine zielgerichtete Zusammenarbeit hin, die unbürokratisch und flexibel für eine begrenzte Zeit zwischen Menschen eingegangen wird. Komplizenschaft meint, abgeleitet aus dem Strafrecht, eine zielgerichtete, temporäre Mittäterschaft, die auf Vertrauen beruht (vgl. Ziemer 2013, S. 167 f.). Sie beruht auf Freiwilligkeit und dem Wunsch nach Bündnisbildung und führt zu engen Verflechtungen „zwischen differenten Elementen“ (ebd., S. 70). Die Verschiedenheit der sozialen Herkunft oder der beteiligten Perspektiven tritt gegenüber der gemeinsam eingegangenen Praxis in den Hintergrund. Damit lassen sich in Mittäterschaft überraschende Veränderungen vornehmen. In eine ähnliche Stoßrichtung zielt das Prinzip der Kollaboration als lösungsorientierte, grenzüberschreitende und vermittelnde Zusammenarbeit. Selbstwirksamkeit wird im unmittelbaren Einwirken auf die (soziale) Umwelt erfahren. Außerdem ist Kollaboration entkoppelt von Bildung, Herkunft oder Fähigkeiten – sie verlangt also nicht erst „mehr Bildung!“ als Voraussetzung von gesellschaftlicher Teilhabe. Kollaboration ist gemeinschaftliche Selbstsorge mit radikalisierter Inklusion. Die benannten Eigenschaften und Elemente demokratischer Mikropraktiken werden in den oben beschriebenen sozialen Innovationen beziehungsweise realen Utopien mehr oder weniger gelebt. Eingehende empirische Untersuchungen müssen noch weitere Klarheit darüber verschaffen, ob es sich hierbei nur um theoretische Idealisierungen handelt oder ob sich demokratische Mikropraktiken auch wirklich praktisch realisieren (lassen). Auf das Prinzip der Kollaboration wird unten nochmal eingegangen. In ihm verkörpert sich eine solch voraussetzungsvolle Möglichkeit, eine Demokratisierung der Demokratie aus lokalen Feldern heraus neu zu denken und zu praktizieren. Zunächst jedoch möchten wir eine mögliche Institutionalisierungsform vorstellen, wie lokale politische Selbstwirksamkeit entwickelt werden kann.

3 Ein Reparaturcafé für Demokratie Im Rahmen des Projektes „RePair Democracy“1 wird aus den Erfahrungen von Repair Cafés und anderer sozialer Innovationen ein Format für einen Ort entwickelt, an dem urbanes Commoning stattfinden kann. Commoning bezeichnet Praktiken, die darauf beruhen, „zu teilen beziehungsweise gemeinsam zu nutzen 1Das

Projekt „RePair Democracy. Soziale Innovationen als Experimentierfeld demokratischer Mikropraktiken“ ist eines von elf Teilprojekten im Bayerischen Forschungsverbund „ForDemocracy. Zukunft der Demokratie“ (https://www.fordemocracy.de/).

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und zugleich dauerhafte soziale Strukturen hervorzubringen, in denen wir kooperieren und Nützliches schaffen können“ (Helfrich und Bollier 2019, S. 19). Urbanes Commoning bezieht sich damit auf das „Gemeinschaffen“ (Stavrides 2018, S. 22) von städtischen Lebensbedingungen wie der gemeinsamen Nutzung von öffentlichen Räumen oder der kooperativen Gestaltung von Stadtpolitik. Commoning bezeichnet eine Logik der Kooperation und der Selbstorganisation, die dort ansetzt, wo weder staatliche noch marktliche Lösungen greifen (Helfrich und Bollier 2012). Unter dem Namen Demokratiecafé fungieren diese, gemeinsam mit Praxispartner*innen entworfenen und durchgeführten Veranstaltungen als Labore für Experimente mit Formen kollaborativer Demokratie (Rohr 2013).

3.1 Werkstätten zur Entwicklung lokaler Demokratien Die einleitend besprochenen multiplen Krisen der Demokratie legen nahe, dass die Demokratie, wie wir sie kannten, so nicht mehr funktioniert. Es besteht also Bedarf, Alternativen für die demokratische Gestaltung, zumindest im Lokalen, zu erproben. Das Format der Demokratiecafés ist eng an den Prozess von Repair Cafés angelehnt. Besucher*innen werden also am Eingang begrüßt und bekommen einen Handzettel, auf den Sie unter anderem notieren sollen, mit welchem Anliegen sie zu der Veranstaltung gekommen sind. Dies dient einerseits der Selbstreflexion, andererseits bietet die Sammlung an Anliegen die Möglichkeit, Menschen mit ähnlichen Anliegen zusammen zu bringen. Denn anders als bei Repair Cafés gibt es in Demokratiecafés keine Expert*innen für Demokratie, die den Besucher*innen bei der Bearbeitung ihrer Anliegen helfen können. Es bilden sich vielmehr spontan Selbsthilfegruppen mit ähnlichen Anliegen – nicht unbedingt mit ähnlichen Lösungsvorstellungen für diese Anliegen. Das Demokratiecafé bringt also mit Hilfe von Moderationstechniken in erster Linie Menschen zusammen, die bei ähnlichen Themen Handlungsbedarf sehen. Je nach Anlass und Gruppe reichen die Methoden von Zukunftswerkstätten bis zu Design-Thinking-Workshops (vgl. Nauditt und Wermerskirch 2018). Dabei soll stets das konkrete Tun zum Ziel gemacht werden. Der nächste Schritt sollte eine Wiederanbindung der Anliegen an Prozesse demokratischen Gestaltens sein ­(Re-Pair). So festigte sich beispielsweise in den ersten Demokratiecafés in München eine Gruppe zivilgesellschaftlicher Akteure, die sich an dem Prozess der Einführung einer Online-Partizipationsplattform für die Landeshauptstadt München beteiligen wollten. Durch die Erarbeitung von Kriterien für eine

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solche Plattform aus der Perspektive der Zivilgesellschaft konnte die Gruppe mit konkreten Anliegen an die Stadtpolitik und die Verwaltung herantreten und wurde in der Folge in die noch andauernde Gestaltung der Plattform einbezogen. Es muss also nicht um direkte Forderungen gehen, sondern Partizipation kann auch bedeutet, dass Bürger*innen Anliegen formulieren, für die sie einen Prozess demokratischer Gestaltung einfordern. Das wäre eine Weiterentwicklung von bisherigen Formaten direkter Demokratie wie beispielsweise Bürgerentscheide, die auf Ja/Nein Entscheidungen beruhen. Im Sinne des urbanen Commonings befassen sich die Besucher*innen von Demokratiecafés mit der gemeinsamen Gestaltung lokaler Lebensumstände. Dieser Bezug auf das Lokale ist dabei eine Reaktion auf die Erkenntnis, dass nationale und internationale Vereinbarungen zunehmend schwieriger auszuhandeln sind. Am deutlichsten wird das unter anderem derzeit am Beispiel der Klimapolitik, die angesichts der oben zitierten „ökologisch-ökonomischen Zangenkrise“ (Dörre 2019) zunehmend hilfloser wirkt, je größer der von ihr bearbeitete Maßstab wird. Nationale Klimaschutzpläne wirken untauglich zur wirklichen Bearbeitung der Krise, und transnationale Abkommen werden aus nationalstaatlichen Interessen heraus torpediert und scheinen zum Scheitern verurteilt. Ein machbarer demokratischer Hebel zum Umgang mit Klimawandel scheint die Zusammenarbeit von Akteuren aus unterschiedlichen Sektoren im Lokalen zu sein (vgl. WBGU 2016).

3.2 Einfach machen! Mit der Entwicklung des Demokratiecafés schließen wir in vielfältiger Weise an die Ideen der Reparaturbewegung an. Erstens geht es um das demokratische Prinzip der Aneignung von Gestaltungsoptionen. In Repair Cafés ist das die Wiederaneignung von Produkten, die repariert werden und so dem logischen Lauf der Wegwerfgesellschaft entzogen werden. In Demokratiecafés geht es entsprechend um die Wiederaneignung von politischer Gestaltung des lokalen Umfelds. Zweitens geht es in beiden Fällen um das unmittelbare Tun. Sozialen Innovationen aus dem Bereich Reparatur und Offenen Werkstätten ist gemeinsam, dass es den Akteuren darum geht, pragmatische Lösungen zu finden und anzupacken. Es sind zu Beginn keine großen Visionen nötig, es wird nicht das komplette System geändert, sondern es geht darum, aktuelle Anliegen zu bearbeiten: „konkret, präzise und lösungsorientiert“ (Baier et al. 2016, S. 35). Dabei wird der eigene Beitrag zur systemischen Transformation nicht ignoriert,

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aber im „Modus des Weltreparierens“ (ebd.) dominiert die Bearbeitung konkreter Angelegenheiten gegenüber dem Diskurs. Auch das Demokratiecafé startet mit diesem Prinzip. „RePair Democracy“ meint in diesem Zusammenhang die Wiederanbindung von Anliegen an Prozesse demokratischer Gestaltung und weniger die Reparatur von in die Krise geratenen politischen Institutionen. Auch wenn die Anbindung an bestehende Institutionen im Laufe der Prozesse immer wichtiger wird, um eine Umsetzung der Ergebnisse der Demokratiecafés zu sichern, ist es doch zu Beginn entscheidend, eine Dynamik in Gang zu setzen und ins Tun zu kommen.

4 Kollaborative Demokratie und die Frage nach der Repräsentation Was ist, wenn Politik nicht mehr die Bedürfnisse und Wünsche der Bürgerinnen und Bürger abbildet, wenn die Anliegen für eine zukunftsfähige Gesellschaft kein Gehör finden? Die Entfremdung zwischen gewählten Entscheidungsträger*innen und Wähler*innen, das Nicht-Gehört-Werden und in den eigenen Anliegen Wirkungslos-Bleiben, ist eine wesentliche Ursache für die Krise der Demokratie. Denn: „Die neuzeitliche Demokratie beruht […] fundamental auf der Vorstellung, dass ihre Form der Politik jedem Einzelnen eine Stimme gibt und sie hörbar macht, so dass die politisch gestaltete Welt zum Ausdruck ihrer produktiven Vielstimmigkeit wird“ (Rosa 2016, S. 366). Ein intensiver Austausch zwischen Repräsentanten und Repräsentierten ist eine Grundvoraussetzung für das Gelingen einer repräsentativen Demokratie (Diehl 2016, S. 12). Begreift man Demokratie allerdings als Lebensform (vgl. Dewey 1996, 2011), dann rückt die praktische Einübung von aufeinander abgestimmtem Verhalten in den Mittelpunkt. Demokratie findet dann überall im Alltag statt, im Bereich des Zwischenmenschlichen. Repair Cafés, offene Werkstätten oder solidarische Landwirtschaften sind dafür ein Experimentierfeld. In solchen sozialen Innovationen werden Gegenstrategien zum ökologischen Kollaps bereits praktiziert. Und sie vermögen sowohl der „ökologisch-ökonomischen Zangenkrise“, als auch einer „Krise der Demo­ kratie“ entgegenzuwirken. Denn auf der einen Seite werden sie jenseits von Markt und Staat ausgeübt (vgl. Helfrich 2012) und entgehen damit der Logik des permanenten ökonomischen Wachstums, das ein Schwinden der Ökologie nach sich zieht. Auf der anderen Seite funktionieren diese Initiativen zumeist basisdemokratisch. Sie repräsentieren damit genau jene Anliegen, die vor Ort virulent sind und institutionalisieren ihre praktische Bewältigung in flexiblen und hand-

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lichen Maßstäben durch kollaborative Produktion und gemeinsamen Konsum. Entschieden wird je nach Größe der Initiative von der Basis ausgehend oder durch einen gewählten Vorstand beziehungsweise in Wechselwirkung. Für die teilweise formalisierten, teilweise informellen Organisationprinzipien haben wir den Begriff der demokratischen Mikropraktiken vorgeschlagen und einige inhaltliche Bestimmungen vorgenommen. Mit dem Begriff meinen wir die kleinste dialogische Interaktionseinheit zur Aushandlung von gemeinsamen Zielen und ihren Wegen dorthin in einem lokalen Maßstab.

4.1 Für eine Politik der Kollaboration In einem Stufenmodell der politischen Teilhabe kann folgende Systematisierung vorgenommen werden, die sukzessive die Partizipationsintensität des Einzelnen an der Gestaltung des Gemeinwesens erhöht: informative, deliberative und kollaborative Partizipation (Rohr 2013, S. 33). Die informative Partizipation an der Gestaltung von Lebensräumen meint die Weitergabe von Informationen über Bauvorhaben oder anderen Planungen seitens der Politik gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Deliberation beruht auf gegenseitigem Austausch zu Fragen des zukünftigen Zusammenlebens und beinhaltet die Hoffnung, dass sich die besten Ideen am Ende durchsetzen. Das stiftet allerdings noch keine Verbindlichkeit, dass politische Teilhabe an deliberativen Prozessen auch Entscheidungsmacht impliziert und entsprechende Konsequenzen sichtbar werden. Kollaboration steht dagegen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit politischer Selbstwirksamkeit, indem „die Teilnehmenden aktiv an Konzepten, Ergebnissen und Ideen mit- und zusammenarbeiten“ (ebd., S. 34). Kollaboration, vom lateinischen co-laborare, bedeutet in seiner allgemeinsten Bestimmung Zusammenarbeit. Das Prinzip der Reparatur und der Ort der Werkstatt wiesen bereits auf solche Praktiken hin. Außerdem ist Kollaboration dadurch bestimmt, „von der Widersprüchlichkeit der Verhältnisse und der Aktivität der Individuen“ auszugehen (Terkessidis 2015, S. 11 f.). Es bedeutet also nicht nur Zusammenarbeit von Interessengleichen, sondern, wie dies in der Bestimmung demokratischer Mikropraktiken ausgeführt wurde, eine Zusammenarbeit der Verschiedenen als Gleiche. Kollaborationen findet also übergreifend dort statt, wo unterschiedliche Interessen, Wünsche und Fähigkeiten aufeinandertreffen, um die „tatsächlichen, vielheitlichen, komplizierten Anliegen der heterogenen Bevölkerung in den Vordergrund [zu] rücken“ (ebd., S. 54). Dafür gibt es viele mögliche Ergänzungen der bestehenden Demokratie, um die Anliegen von Bürgerschaft und politischer Umsetzung wieder miteinander zu verbinden

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(­ re-pair) – beispielsweise die (teilweise) Zusammensetzung des Parlaments durch Losverfahren (vgl. Van Reybrouck 2016). Eine Politik der Kollaboration verankert das Prinzip der übergreifenden Zusammenarbeit des Verschiedenen – ohne dabei auf das Prinzip des Mehrheitsentscheids hinauszulaufen.

4.2 Re-Pair Democracy In diesem Beitrag haben wir versucht zu zeigen, wie eine nachhaltige Lebensweise praktiziert werden kann. Ein beträchtlicher Widerstand gegen die Möglichkeit einer umfassenden Realisierung findet sich in der Auffassung von Demokratie und der Praxis der Demokratie. Wir schlugen vor, demokratische Prozesse der Gestaltung von Lebensräumen in lokalen Konnektiven (vgl. Ziemer 2013, S. 64 ff.) anzusiedeln. Dies verspricht eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass Anliegen sowohl der Bewohner*innen eines Quartiers als auch Anforderungen, die das Klima in Zukunft an uns richtet, umgesetzt werden. Die Praktiken, die dazu einen Modellcharakter aufweisen, finden wir in Reparaturcafés und anderen Werkstätten, die einerseits einen lokalen Bezug haben und andererseits einen umweltschonenden und nachhaltigen Umgang mit ihrer Mit-Welt pflegen. Nachhaltige Lebensweisen sind in den thematisierten sozialen Innovationen auf basisdemokratische Weise strukturell verankert. Dagegen kann argumentiert werden, dass die „liberaldemokratische Gesellschaft […] die ‚Politik der ­Nicht-Nachhaltigkeit‘ zu ihrem Prinzip erhoben“ hat (Lessenich 2019, S. 103). Im Sinne der „ökologisch-ökonomischen Zangenkrise“ ist das aktuelle politische System grundsätzlich in einer Dynamik der Produktion von Katastrophen gefangen. Es bestehen keine Verbindungen zwischen den Anliegen der Umwelt und der institutionellen Gestaltungsmacht. Deshalb ist es vorteilhaft, auf demokratische Mikropraktiken zu fokussieren, die das institutionelle Gefüge der ­Nicht-Nachhaltigkeit unterlaufen und bereits „im Hier und Jetzt“ Alternativen praktizieren. Diese Praktiken folgen einer Politik der Kollaboration, die durch Einbeziehung und Aufeinander-Wirken des Verschiedenen beruht. Kollaboration ist basisdemokratisch, ohne dabei den Willen einer Mehrheit zu verwirklichen. Vielmehr geht es darum, konkret ins gemeinsame Tun zu kommen, wie es das Prinzip der Werkstatt nahelegt. Das im Beitrag vorgestellte – und im Laufe des Forschungsprojektes weiterzuentwickelnde – Demokratiecafé ist als Werkstatt für die Entwicklung lokaler Demokratien konzipiert. In ihm versammeln sich die Anliegen und Erfordernisse einer Stadt, eines Quartiers oder einer Nachbarschaft, und gleichsam finden hier die Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammen, um die

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Anliegen praktisch anzugehen. Ziel ist es, Demokratiecafés in der Stadtgesellschaft zu verankern, um damit die Wünsche und Bedürfnisse der Bürger*innen mit neuen Möglichkeiten der Gestaltung zu verbinden. Die Entwicklung des Demokratiecafés unterliegt einer Dynamik der praktischen Ko-Produktion. Im Sinne einer responsiven Wissenschaft handelt es sich bei dieser Ko-Produktion der Praxis des Demokratiecafés um eine „Interaktion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft“ (Matthies et al. 2015, S. 21). Die Dynamik des Feldes hat das Projekt vom ersten Moment an erfasst und vorangebracht. Das bedeutet, dass wir die ursprünglich angedachten Projektschritte neu ordnen mussten und das Demokratiecafé nicht im Anschluss an eine ausgiebige empirische Untersuchung von Repair Cafés entwickeln konnten, sondern die Entwicklung Teil eines kollaborativen und transdiziplinären Prozesses geworden ist, der noch andauert. Damit öffnen wir als Projekt transdisziplinärer Forschung zwar den geschützten Raum der wissenschaftlichen Vorbereitung, profitieren dafür jedoch von den Einflüssen unserer Praxispartner*innen und fortlaufenden Erfahrungen aus der Werkstatt „Demokratiecafé“.

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RePair Democracy – Soziale Innovationen …

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G. Beck und R. Jende

Jende, Robert, Soziologe (Magister Artium), Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften München im Forschungsprojekt „RePair Democracy. Soziale Innovationen als Experimentierfeld demokratischer Mikropraktiken“ gefördert vom Bayrischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst im Forschungsverbund ForDemocracy. Forschungsschwerpunkte: Performative Soziologie, Öffentliche Soziologie, Soziale Transformation, Gesellschaftstheorie, Ästhetik. Letzte Veröffentlichungen: https://www.sw.hm.edu/die_fakultaet/personen/wissenschaftliche_mitarbeiterinnen/jende/ jende.de.html

Wenn viele Menschen etwas anders machen – Soziale Innovationen und Nachhaltigkeit im Phänomen des Flaschensammelns Florian Engel Zusammenfassung

Der Konsens der Tagung zu Innovation lautete: „Wenn viele etwas anders machen.“ Solcherlei definiertes innovatorisches Handeln möchte ich am Beispiel des Flaschensammelns aufzeigen. Anstatt dies einzig als letzten Rückhalt einer erschöpften Unterschicht anzusehen, schlage ich vor Pfandgebende und -nehmende auch als im Zusammenspiel mit objektivierter Materie kommunikativ handelnde Subjekte zu begreifen. Innovatorisches Handeln beginnt dann schon in den kleinsten kommunikativen Zusammenhängen, in denen Pfandflaschen z. B. nicht bloß herumstehen, um als Müll eingesammelt zu werden. Gerade die frei herumstehende Flasche verbindet vielmehr die reziproke subjektive Aufmerksamkeit von Pfandgebendem und -nehmendem. Im Gegenstand der Pfandflasche kulminieren versachlichtes und eigensinniges (Handlungs-)Wissen rund um das Phänomen ‚Pfandsammeln‘. Die Flasche im öffentlich sichtbaren Raum ist eben nicht frei, sondern stellt eine andere Art kommunikativer Bezüge her. In Form der Pfandringe zeigt sich dann z. B., dass städtischer Raum von ‚vielen, die etwas anders machen‘, im Anschluss an die Bezüge, die die freistehende Flasche anbietet, auf materieller und symbolischer Ebene gezielt neu gedacht und geformt wird. Anhand einer

F. Engel (*)  Fulda, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 H.-W. Franz et al. (Hrsg.), Nachhaltig Leben und Wirtschaften, Sozialwissenschaften und Berufspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29379-6_18

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kombinierten Text- und Bildanalyse möchte ich diesen häufig unsichtbar ablaufenden kommunikativen Verstrickungen in Form der Pfandflasche nachspüren. Denn in ihren raumzeitlichen Bezügen verstehe ich sie als relevanten Aspekt sozialer Innovationen in städtischen Lebensräumen.

1 Einleitung „Wenn Viele etwas anders machen“: So lautete der Konsens der Tagung „Nachhaltig Leben und Wirtschaften – Management Sozialer Innovationen als Gestaltung gesellschaftlicher Transformation“ zum Begriff der sozialen Innovation. Abhängig vom Gegenstand der Innovation bleibt, wen dieses „Viele“ genau repräsentieren soll. Für die sozialwissenschaftliche Nachhaltigkeitsforschung scheinen hier vor allem Akteure der Mittel- und Oberschicht gemeint zu sein und implizit angesprochen zu werden. Gerade ökonomisch weniger leistungsfähige Gesellschaftsmitglieder interessieren sich vermeintlich kaum für Umweltbelange (Schad 2018), eben, weil ihnen Kapital, ­(Problem-)Bewusstsein und Wille zu eigenem Engagement ‚fehlen‘ (Bögenhold 1991, Heinrichs & Grunenberg 2012). Diese grundlegende Problematik eines blinden Fleckes seitens der sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeits- und Innovationsforschung zu sozialer Ungleichheit erscheint umso eklatanter, als ein solcherart verengter Blick das ihn interessierende Subjekt im Nachhaltigkeitsdiskurs unhinterfragt als einen bewusst handelnden, mit relativ klarer Ziel- und Mittelabwägung operierenden Akteur fasst. Die stattdessen als relevant erachteten, Innovationen vorantreibenden ‚Macher_Innen‘ existieren natürlich, z. B. in den avantgardistischen Raumpionier_Innen Gabriele Christmanns (2018) oder in der vielfältigen Entrepeneurs-Forschung (Aulinger 2003). Beide Forschungsperspektiven verengen jedoch, ähnlich neueren Ansätzen zur sharing economy, ihren Blick auf bestimmte Aspekte von Innovation, in Form schichtspezifischer Einstellungen und besonders befähigter Akteur_innen. Ich möchte hingegen soziale Innovation am Beispiel des Flaschensammelns nachvollziehen, dessen Nachhaltigkeitsdimension in der Pfandgesetzgebung der frühen 2000er Jahre begründet liegt (Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit, 2001; Moser 2014). In einem solcherlei marginalisierten sozialen Zusammenhang wie dem Flaschensammeln hängt Innovation nicht nur von der kreativen Klasse ab. Sie ist vielmehr in Verbindung mit alltäglichen kommunikativen Handlungsvollzügen nachzuvollziehen, in denen Viele etwas anders machen. Statt Pfandsammeln bloß als letzten Rückhalt

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einer erschöpften Unterschicht anzusehen, schlage ich dazu vor, Pfandgebende und -nehmende als im Zusammenspiel mit objektivierter Materie kommunikativ handelnde Subjekte im öffentlichen Raum unserer Städte zu begreifen. Diese Zusammenhänge kommunikativen Handelns lassen sich dann z. B. unter dem Aspekt innovatorischen Handelns, in dem viele etwas anders machen, nachvollziehen. Anhand einer kombinierten Text- und Bildanalyse1 möchte ich diesen kommunikativen Verstrickungen in denen Pfandflaschen objektivierte Materie darstellen und Element sozialer Innovation sind, nachspüren. Denn in ihren mikrosoziologisch nachvollziehbaren raumzeitlichen Bezügen verstehe ich sie als relevanten Aspekt makrosoziologisch wirksamer, sozialer Innovationsprozesse in städtischen Lebensräumen, welche häufig unbeobachtet, sicher aber unkoordiniert geschehen. Daher folgt auf eine pointierte theoretische Einbettung in den kommunikativen Konstruktivismus (Knoblauch 2017) ein dreigeteilter empirischer Hauptabschnitt. Im ersten Teil möchte ich die kommunikativen Handlungen zwischen Pfandgebenden und Pfandnehmenden anhand von Interviewauszügen nachvollziehbar darstellen.2 Sodann folgt die zweite, vornehmlich an Bildmaterialien zu rekonstruierende Analyse der Objektivation als aus der Situation herausgelöster Objektivierung. Im dritten analytischen Abschnitt möchte ich die Verbindung jener kleinsten kommunikativen Handlungen mit dem ‚beobachtbaren‘ sozial-räumlichen Wandel ‚im Großen‘ nachvollziehen. Das Fazit geht auf den hier zur Disposition stehenden Konnex zwischen gesamtgesellschaftlich verstandenen Innovationsprozessen und den mikrosoziologisch untersuchbaren Zusammenhängen von handelndem Subjekt und Objektivation ein. Überdies möchte ich dort eine kurze Reflexion zum Analyseprozess vornehmen.

1Die

Daten entstammen klassischen Printmedien, dem Kurznachrichtendienst Twitter sowie meiner Masterarbeit zum Thema „Kombinierte Erwerbsformen von FlaschensammlerInnen im Ruhrgebiet – Zur Einkommensstruktur einer urbanen Sozialfigur“ aus dem Jahr 2013. Namen und Daten, die eine Rückverfolgbarkeit ermöglichen könnten, wurden anonymisiert. 2Verschriftlichte Daten sind nicht das zutreffendste Material für eine Analyse nach Kommunikativem Konstruktivismus. Auf solche Datenstücke zurückzugreifen, dient vor allem dazu, das zentrale Konzept der Objektivation sukzessive einzuführen, welches dann wiederum anhand von Bilddaten in seinen (Be-)Wirkungen eingehender analysiert werden soll.

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2 Ego – Alter Ego – Objektivierung – Die Pfandflasche im kommunikativen Konstruktivismus „Einige Kinder toben durch die Mittagspause eines Businessmünchners. Auch der schlürft an einer Flasche Radler. Wenn er geht, lässt er die Flasche einfach stehen. Kommt schon weg, wird er sich denken. Sie kommt weg.“ (Rüttenauer 2019)

Ich eröffne mit diesem Zitat aus der taz vom 17.05.2019, denn darin verbindet sich das Thema des Flaschensammelns in prägnanter Weise mit einem Schlüsselkonzept des kommunikativen Konstruktivismus: „Alle Fälle kommunikativen Handelns schließen notwendig ein körperliches Wirken mit ein.“ (Knoblauch 2017, S. 150) Wo findet hier ein körperliches Handeln und Wirken statt bzw. wo kommt es her? Um dieser einführenden Frage auf den Grund zu gehen, möchte ich in diesem Abschnitt zunächst eine kurze Einführung in die Objektivierung von Gegenständen als einem Kernkonzept des kommunikativen Konstruktivismus geben. Das Ziel wird sein, diese erkenntnistheoretische Grundlage für das weiterführende Konzept der Objektivation anhand der Pfandflasche im empirischen ersten Teil zu erarbeiten. Der kommunikative Konstruktivismus stellt eine Fortentwicklung des phänomenologisch gegründeten Konstruktivismus dar. Mich interessiert zunächst die laut Hubert Knoblauch kleinste Einheit des Sozialen, die triadische Relation kommunikativen Handelns (vgl. Abb. 1). In Anlehnung an Grenz/Pfadenhauer/Kirschner (2018) möchte ich diesen Zusammenhang in Abb. 1 beispielhaft erläutern: Ab einem gewissen Alter erfährt Subjekt(2), welches das Alter Ego in dieser Konstellation darstellt, dass es Subjekt(1)/Ego, dem zunächst körperlich handelnden Subjekt, welches eine Waffe in Anschlag bringt, nicht um diese Waffe selber geht, sondern um das, worauf (1)/Ego zielt. Also womöglich Subjekt(2)/Alter Ego. Das Gewehr zusammen mit dem Finger am Abzug wird dann von beiden Subjekten (1) und (2) als Teil einer gemeinsamen Umwelt wahrgenommen und ist elementarer Bestandteil der wechselseitigen Koordination (von u. a. dem Zielen, Ausweichen, Neu-Zielen und sich-in-Deckung bewegen). Das Gewehr ist also nicht schlicht Objekt, sondern ein object-in-action, genauer: ein Teil des Vollzugs sozialen Handelns, weil es ein vom jeweils anderen wahrnehmbarer und damit wirkungsvoller Ausdruck gemeinsamer Handlungsvollzüge ist. Objektivierungen tragen also zu sinnhaften Aushandlungsprozessen bei. Dies bewirken sie, indem mit ihrer spezifischen Form und Anwendung ein intersubjektiv erfahrbarer und nachvollziehbarer Sinn und ein Wissen transportiert werden, welche ohne ihre s­ pezifische

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Abb. 1   Die Triadische Relation kommunikativen Handelns. (Quelle: Knoblauch 2017; S. 112, kursive Beschriftungen in den Kästen ergänzend durch den Autor)

Anwesenheit so nicht funktionieren würden. Schon die Vorstellung, statt der Waffe würde Subjekt(1)/Ego eine Spielzeugwaffe benutzen, verändert den reziproken Sinn, die Erfahrungsmöglichkeiten, das Handeln und damit auch den Aushandlungsprozess als Ganzes. Obwohl beide Gegenstände sich ähneln oder gar identisch erscheinen, ist es der ihnen inhärente Sinn und das zu ihrem Gebrauch nötige Wissen (als Teil der Objektivierung) eben nicht. Und selbst, wenn Ego und Alter Ego sich ähnlich verhielten – zielen, ausweichen, in Deckung gehen – würde den Bewegungen vermutlich die Dringlichkeit und die akute Angst um das eigene Überleben abgehen. Wie bereits angedeutet, kann es sich bei Objektivierungen auch um Gesten, Mimiken, verbale Ausdrücke u. v. m. handeln. Für Hubert Knoblauch ist jedoch zentral, dass Objektivierungen, wie im obigen Zitat immer Teil beobachtbarer und erfahrbarer Handlungsvollzüge zwischen Subjekten und objektivierten Objekten sind. Wie können wir uns im Anschluss daran die Pfandflasche als objektiviertes Objekt in solchen Handlungsvollzügen vorstellen? Dazu ein Datenstück aus meiner Masterarbeit, in deren Verlauf ich offen-narrative Interviews mit FlaschensammlerInnen im Ruhrgebiet im Jahr 2012 geführt habe. „Und da kommt es dann sogar vor, dass andere Fußballfans sagen: ‚Hey lass den doch in Ruhe.‘ Oder eben, wenn Du jetzt durch den Zuch gehst und die sehen Dich, dann strecken se Dir schon von sich aus die Flasche entgegen oder holen die irgendwie oben von der Ablage oder aus der Tüte raus. Oder rufen: ‚Meister, komm mal zurück.‘ Und geben Dir die Pulle. Da ist man eigentlich auch nicht so der zweitklassige Mensch, sondern das ist vollkommen ok. […] Also das ist eigentlich recht positiv.“ (Michael, Hervorhebungen durch den Autor)

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Es wird erkennbar, dass die Pfandflasche von beiden interagierenden Menschen als Gegenstand von Interesse wahrgenommen wird und eine konstitutive Rolle im reziproken körperlich-sinnlichen Handeln der involvierten Subjekte einnimmt. Darauf verweist der letzte hervorgehobene Satz: „Und geben Dir die Pulle“. Das triadische Schema, in dem die Flasche als erfahrbarer und wirksamer Aspekt der mit den beiden Subjekten geteilten Umwelt etwas bewirkt, wird auch hier wieder erkennbar. Die ‚Pulle‘ des letzten Satzes verweist damit auf der gestischen Ebene auf den ihr inhärenten Sinn, angenommen werden zu sollen. Die objektivierte Flasche koordiniert damit die Erfahrbarkeit und die Handlungsmöglichkeiten in der triadischen kommunikativen Handlung. Dies wird nochmal verständlicher, wenn wir im hermeneutischen Sinne neue Lesarten bilden. Ohne die Kontextinformation, dass die Flasche entgegengestreckt wird, und nur mit dem Satz „Meister, komm mal zurück!“ könnte es sich hier – weil im Ruhrgebiet befindlich – um das Frotzeln eines Dortmund-Fans gegenüber einem Schalker handeln. Oder da ruft tatsächlich jemand nach einem Kfz-Meister. Der Möglichkeiten gibt es unendlich viele. Erst durch die Wahrnehmung der Flasche als relevantem Objekt in der spezifischen Handlungssituation bzw. dem Handlungsprozess (object-in-action) setzt es als drittes Moment beide Subjekte auf die ihm innewohnende Art und Weise handelnd und wahrnehmend in sinnhafte und mit Wissen aufgeladene spezifische Relation3 zueinander. Die Flasche bewirkt also etwas in der Kommunikation, sie stellt die „Verkörperung subjektiver Vorgänge in Vorgängen und Gegenständen“ (Schütz und Luckmann 1979, S. 317, zitiert nach Grenz et al. 2018, S. 99) der alltäglichen Lebenswelt dar. Solche Szenen des Gabentausches (zur paradigmatischen Bedeutung der Gabe im Anschluss an Marcel Mauss besonders ausführlich: Caillé 2008) in denen Sinn und Wissen intersubjektiv ausgehandelt werden, können täglich beobachtet und auch selbst vollzogen werden. Doch die allermeisten Flaschen werden nicht auf diese Weise übergeben, sondern finden anonymere Wege.

3Relationalität

ist ein weiteres Konzept bzw. eine Eigenschaft, die dem triadischen Grundschema nach Knoblauch zugrunde liegt.

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2.1 Analyse I: Die aus der Handlung sich lösende Flasche – Von der Objektivierung zur Objektivation In der folgenden kurzen Interviewsequenz wird eine vergangene, durchaus als typisch zu bezeichnende Situation für Flaschensammler_Innen beschrieben. „Sagen wir mal am Bahnhof guckste in die Mülleimer, die Leute gucken alle, die glotzen. Ich mein, das is sowieso son Phänomen. […] Da steht jetzt ne Flasche und ich geh manchmal nicht hin, weil, da gucken die Leute. […] Aber dass ich mir das bewusst machen muss in dem Moment und sagen muss: ‚Geh hin, nimm se, feddich.‘ Und diese Scham haben auch viele Leute, und das haben mir auch andere Sammler gesagt, dass Sie diese Scham haben, wenn die anderen Leute gucken.“ (Michael, Hervorhebungen durch den Autor)

Was findet hier statt? Zunächst einmal wird die verstetigte triadische Kommunikationssituation zwischen Subjekten und Objektivierung wiedererkennbar. Die Subjekte treten jedoch weder gegenseitig noch mit der Flasche in direkten Kontakt. Trotz der nicht vorhandenen face-to-face-Interaktion bewirkt die Flasche in diesem Zusammenhang dennoch etwas. Denn ihre materialen Eigenschaften werden als sozial relevant erkannt, „[as they] contribute to the performance“ (Knoblauch 2014, S. 134). Ihre Beteiligung an der kommunikativen Aushandlung bewirkt, dass Michael wahrnimmt, wie die Menschen (vermeintlich) jemanden wahrnehmen, was er wahrnimmt. Damit wendet er sich neben dem Objekt der Flasche aber auch mehreren wahrnehmbaren Subjekten zu. Erneut liegt in der Materialität der Flasche eine Objektivierung ähnlich den früheren Beispielen vor, die zudem die zusätzliche Ebene der Scham enthält. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass über den ihr inhärenten Sinn und das darin gespeicherte Wissen nicht (mehr) explizit und in direktem, leibkörperlichem Austausch zwischen den Subjekten kommuniziert wird. Erinnern wir uns an die Übergabe im Zug. Dort wies der Pfandgebende noch eindeutig via Zusammenspiel von Sprache, Geste und materiellem Gegenstand auf sein Ansinnen, die Flasche zu übergeben, hin. Nichts Derartiges geschieht hier. Diese Loslösung aus der direkten, leibkörperlichen Interaktion verändert jedoch nicht den mit der Flasche zusammenhängenden Sinn, sondern transformiert diesen vielmehr aus der ursprünglichen beobachtbaren Handlung in längerfristige zeitliche und räumliche Prozesse. Und an eben diese raumzeitliche Transformation des Wissens schließt Michael hier an. Schon die Wahrnehmung dieser Anwesenden als möglicherweise die Flasche wahrnehmende

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Subjekte löst hochspezifische Interpretationen und eine Erwartungserwartung4 ausdrückende Spannung aus, zu der u. a. auch das Gefühl der Scham gehört. Im ersten Interviewausschnitt haben wir die Bedeutung des Gewehrs wie auch der Pfandflasche als ein Objekt sehen können, das in klar eingrenzbaren räumlichen, zeitlichen und leibkörperlichen Handlungszusammenhängen eingebettet wahrgenommen wird. Bei der Flasche dieses dritten Datenstücks handelt es sich schon in Ansätzen um etwas Anderes. Michael beschreibt die Flasche als eine aus der direkten kommunikativen Handlung gelöste Objektivation im Grenzschen Sinne, mit der trotzdem ein ähnlicher Sinn und ein ähnliches (Handlungs-)Wissen verbunden werden. Die Flasche als Objektivation wird also „nicht bloß als Mittel zum Zweck“ gesehen (Grenz et al. 2018; S. 101), wie es in den ersten Beispielen erscheinen mag. Sie besitzt „auch eine sinnlich wahrnehmbare Dimension […], die zwar an die konkrete Situation des Erfassens gebunden ist, jedoch immer aus ihrer Gestalt einen trans-situativen (Bedeutungs-) Anteil beinhaltet, der durch seine materiale Gebundenheit nicht determiniert, aber auch nicht beliebig (d. h. symbolisch kontingent) ist“ (ebd.). Im hier präsentierten antizipierenden kommunikativen Handeln von Ego (Michael) mit anderen Subjekten (Alter Egos) und Objekten – als Objektivationen – zeigt sich, dass die Materialisation der letzteren im Prozess des Wirkens zwar verankert, aber eben nicht zwangsläufig an dessen explizite raumzeitliche Performanz gebunden ist (Grenz et al. 2018). Es handelt sich hier also um eine zeitlich wie räumlich entgrenzte Situation mit Prozesscharakter. In dieser erweist sich das von direkter leibkörperlicher Interaktion losgelöste Objekt dennoch als etwas bewirkend und daher an einer Situation teilhabend. Die Flasche bewirkt im Zusammenspiel mit den Subjekten Wahrnehmungen, Beobachtungen, Deutungen und letztlich Handlungen des hier berichtenden Flaschensammlers, auch ohne dass er oder ein anderes Subjekt mit ihr leibkörperlich in Interaktion tritt. Schon ihre wahrgenommene materiale Anwesenheit stellt ein relevantes, zu analysierendes Moment dar. Im triadischen Schema Hubert Knoblauchs ausgedrückt, wäre die Flasche auch in diesem Beispiel Teil von Ego (Handeln), Alter Ego (Reziprozität) und der Objektivierung/Objektivation (die erfahren wird), allerdings ohne dass alle drei direkt miteinander interagieren müssen.

4Bei

James Gibson (1982) und darauf aufbauend Donald Norman (2004) ließe sich diese Situation auch als ‚perceived affordances‘ fassen, die eng mit Fragen der Materialität von Design und Wahrnehmung einhergehen. Ich danke Tilo Grenz besonders für diesen Hinweis, der die Nähe soziologischer und psychologischer Konzepte zum Zusammenhang von Erwartungserwartung und Handeln beleuchtet.

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2.2 Analyse II: Pfand als (be)wirkende Objektivation Eine diese Logik nochmals schärfende Perspektivenverschiebung bietet der Twitter-Feed einer Flaschensammlerin (dazu auch Abb. 2). Bei ihr handelt es sich um eine Dame, die regelmäßige Routen abgeht und diese online dokumentiert. Ich beziehe mich bewusst auf einen kombinierten Bild-Text-Tweet in dem sie eine Station dieser Route beschreibt, um das Gefühl für die Komposition von Bild und Text zu geben, die diesem Medium mitunter zu eigen ist. Die Route führt sie über Spiel- und Sportplätze, Schulhöfe, durch Wohnsiedlungen und Naturräume ihres näheren Wohnumfeldes. Wir erfahren auch, dass sie diese Räume aktiv nach Pfand absucht. Ähnlich den Erkenntnissen Sebastian Mosers (2014) wird hier deutlich, dass viele Sammler_Innen nicht allein den Wert ihrer Flasche im Sinn haben. Sie durchstreifen städtischen Lebensraum und kommentieren z. B., dass offene Bücherregale ein erhaltenswertes oder gar zu erweiterndes Angebot wären. Ich habe diesen Tweet allerdings vor allem aufgrund der hier im Mülleimer

Abb. 2   Screenshot, Twitter von anonym bleiben wollender Flaschensammlerin

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konzentrierten Flaschen ausgewählt. Denn anhand der Kommentare wird das mit ihnen verbundene bzw. in ihnen gespeicherte Handlungs- und Erwartungswissen für Sammler_Innen nachvollziehbarer. Die Sammlerin beschreibt dies sehr griffig auf einer sehr intuitiven, sinnlichen Ebene, die den meisten von uns, die niemals Flaschen sammeln mussten, schwer zugänglich ist (Schmitt 2015). Sie schreibt: „Heute kein Pfand da? … DOCH! :-)“. In Großbuchstaben geschrieben, mit Ausrufezeichen und freudestrahlendem Smiley. Eine derartige Freude empfinden nicht sammelnde Menschen vermutlich nicht. Ihnen geht solche Freude, Erregung und sinnlich/leibkörperlich wirkende Zuwendung/Hingezogen-Sein zu diesem Konglomerat ab. Denn für sie ist dies zu allererst eine Ansammlung verschiedener identifizierbarer Objekte, die letztlich keine Handlung oder auch nur größere sinnliche Reaktion auslösen. Für nicht regelmäßig Flaschen sammelnde Subjekte sind diese eben kein ‚anzapfbarer Wissensspeicher‘, die Objektivation geht an ihnen vorbei. Ja die Flaschen werden vermutlich nicht einmal als signifikanter, für sich allein existenter Bestandteil des Ensembles ‚Müll‘ gesehen, sondern sind ‚nur‘ Teil eines Konglomerats an Weggeworfenem. Die Flaschensammlerin aber hat nach dem sie interessierenden Objekt bewusst und gezielt gesucht, dieses gefunden und als mit einem für sie verständlichen Eigensinn und Handlungswissen verknüpft. Wir können ihn zwar theoretisch nachvollziehen, aber dieses theoretische Wissen würde uns immer noch nicht dazu bewegen, ihrem Beispiel zu folgen, möchte ich behaupten. Weshalb dieser Tweet so spannend ist, ist die Tatsache, dass laut Grenz et al. „die Interpretation von Erzeugnissen als Objektivationen spezifischen Wissens im Alltag äußerst selten ist“ (2018, S. 101). Es ist der wissende Blick des Sammlers bzw. der Sammlerin, der sich hierin äußert und unser Alltägliches zu ihrem Außeralltäglichen bzw. zu etwas Besonderem transformiert. Hier können wir auch kurz an den Artikelanfang zurückkehren. Erinnern Sie sich an den – fiktiven – Businessmünchner und wie er offensichtlich wissen konnte, dass jemand kommen wird, der oder die die Flasche mitnehmen wird. Die Flasche als das dritte Moment in der räumlich und zeitlich voneinander getrennten Handlung kommuniziert Sinn und Wissen durch ihre spezifischen Formen, Gerüche und Farben zwischen zwei Subjekten und verbindet diese, ohne dass sich Ego und Alter Ego leibkörperlich begegnen müssen. Die Flasche, verstanden als Objektivation, ist aus dem unmittelbaren Vollzug von Handlung, Reziprozität und Wahrnehmung herausgelöst, ohne jedoch ihren bewirkenden Charakter zu verlieren.

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2.3 Analyse III: Institutionalisierte Objektivationen In einem dritten Schritt greife ich die ursprüngliche Fragestellung wieder auf. Was hat das Phänomen des Flaschensammelns mit Innovation und nachhaltigem Handeln zu tun? Denn obwohl in dem, was ich bisher beschrieben habe, das Handeln vieler Menschen sichtbar wird, scheint dies eher auf Lebenszusammenhänge von Armut und städtischer Verschmutzung hinzudeuten. Doch die Flasche transformiert mit dem mit ihr verbundenen Sinn und Wissen nicht bloß das Handeln einzelner Subjekte zu- und aufeinander, wie in den Abschnitten I und II beschrieben. Denn diese vielfältigen kommunikativen Handlungen die sich als unintendierte Folge der Pfandgesetzgebung seit dem Jahre 2004 unkoordiniert ausgebreitet haben, sind Ausgangspunkt eines mit dem Nachhaltigkeitsgedanken verbundenen intentionalen, innovierenden sozialen Handelns. Nicht das einzige, aber eines der bekannteren Beispiele hierfür stellen die Pfandringe dar (Abb. 3). Diese bewusst (vom damaligen Designstudenten Paul Ketz) und mit einer spezifischen Intention (das Sammeln erleichtern) kreierten Installationen sind leicht als Element kleinräumlich wirkenden sozialen Wandels von Stadt erkennbar. Gerade wegen der Einheit von Intention, Handlung und Person wird dieses Objekt auch als Innovation anerkennbar (z. B. durch Preise: Bundespreis Ecodesign 2012) und nutzbar (von Kommunen über Anwohner bis zur Presse). Das Erscheinen der Pfandringe ergibt sich dabei direkt aus dem Phänomen des Flaschensammelns. Dementsprechend benennt Paul Ketz in Interviews

Abb. 3   Pfandring. Hildesheimer Allgemeine (2019)

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auch die Humanisierung des Sammelns sowie den Schutz der Sammler_Innen vor Schmutz und Verletzung als explizites Ziel und Motivation. Wie Pfandringe funktionieren, bleibt dagegen implizit. Dies ist nachvollziehbar, denn die Idee der Pfandringe adaptiert nichts Anderes als das in der Flasche gespeicherte (Handlungs-)Wissen. Sie stellen allerdings einen neuen, materiell fassbaren Konnex für das raum-zeitlich asynchrone, triadische Handlungsschema (siehe Abschnitt II) zur Verfügung und insofern eine soziale Innovation, die im Konzert mit den kleinsten kommunikativen Handlungszusammenhänge von Subjekten und Objekten verständlicher wird.

3 Fazit Im Verlauf dieses Artikels sollte Folgendes deutlich geworden sein: • Flaschensammeln kann als Phänomen analysiert werden, das in kleinsten kommunikativen Handlungen abläuft. • Pfandflaschen können aus Sicht des kommunikativen Konstruktivismus’ als Sinn und Wissen vermittelnde Materie verstanden werden, in Form der Objektivation sogar jenseits direkter leibkörperlicher Handlungsvollzüge. Pfandringe docken sowohl an in der Pfandflasche objektivierten Sinn und Wissen an, stellen aber aus kommunikationskonstruktivistischer Sicht auch eine Institutionalisierung der Handlungsvollzüge des triadischen Schemas dar.5 • Soziale Innovationen wie z. B. Pfandringe sind aus dieser Perspektive als dualistische Prozesse zu erkennen, deren kreative, intentionale Seite nicht ohne das häufig unbemerkte, unkoordinierte kommunikative Handeln Vieler (über lange Zeiträume) zu verstehen ist, wie es sich im Flaschensammeln finden lässt. • Der nachhaltige Wandel städtischen Lebensraumes hängt also nicht nur von der intentionalen Kreativität seiner Bewohner_Innen ab. Fruchtbar erscheint ein Analyseansatz, der die sichtbaren wie unsichtbaren Handlungszusammenhänge in ihrer Verschränktheit miteinander versucht zu verstehen.

5Institutionalisierung

ist für konstruktivistische Ansätze mindestens seit Berger und Luckmann ein zentraler Aspekt des Wissensbegriffs (Knoblauch 2017: 58) wie auch für die Frage des Zusammenhangs von Subjektivierung und Objektivierung (ebd.: 69).

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Gerade mit der Ausweitung der Definition auf die bewirkende materielle Ebene wird deutlich, dass soziale Innovation zutiefst alltägliche Prozesse beinhalten kann. Objekte spielen in diesen Prozessen eine spezifische Rolle, wie in den Analysen zur Pfandflasche deutlich geworden sein sollte. Sie können das bewusst wahrnehmbare dritte Moment in kommunikativen Handlungen sein (Analyseabschnitt I). Sie können aber auch, ohne tatsächlich bewegt zu werden, kommunikatives Wahrnehmen und Handeln bewirken (Analyseabschnitt II). Im Zusammenspiel mit gezielt innovatorisch handelnden Individuen entstehen dabei Impulse und Rückkopplungen für eine nachhaltigere städtische Gesellschaft. Innovatorisches Handeln beginnt damit schon in den kleinsten kommunikativen Zusammenhängen, in denen Pfandflaschen eingesammelt werden. Gerade die frei herumstehende Flasche verbindet hierbei die reziproke Wahrnehmung von pfandgebenden und -nehmenden Subjekten. Im Gegenstand der Pfandflasche kulminieren versachlichtes und materialisiertes (­Handlungs-)Wissen rund um das Phänomen des Sammelns. Die Flasche im öffentlich sichtbaren Raum ist eben nicht ‚frei wie der Wind‘, sondern bietet materielle Anknüpfungspunkte für vielfältige neue kommunikative Bezüge an. Pfandringe setzen diese materiell fortgetragenen Wissens- und Sinnbestände innovatorisch fort. An ihnen zeigt sich dann z. B., dass städtischer Raum von ‚Vielen und Vielem, die etwas anders machen‘ im Anschluss an die materielle und symbolische Ebene auch sozial neu gedacht und geformt wird. Wir sehen soziale Innovation am Werk. Gerade Abschnitt III hat im Verlauf der Analyse eine unerwartete Erkenntnis gebracht. Objektivierungen und auch Objektivationen schließen Interpretationsmöglichkeiten und Handlungsoptionen zunächst aus. Das ihnen inhärente Handlungswissen ist grundlegender Bestandteil der kommunikativen Handlungsvollzüge und prägt diese Situationen mit. Dies gilt zunächst auch im Zusammenhang mit dem materiell institutionalisierten Handlungsvollzug, den die Pfandringe darstellen. Wenn wir uns das Bild aber nochmals anschauen, sehen wir dort gar keine Flaschen. Der Pfandring ist voll mit ­Ein-Weg-Plastik-Bechern – dem genauen Gegenteil der Pfandflasche. Wenn Objektivationen als Teil innovativer Prozesse wie der Errichtung von Pfandringen also wieder in die Sphäre sichtbarer Handlungsvollzüge gelangen, haben Subjekte die Chance, das Wissensangebot, das die Flasche vermittelt, abzulehnen, es ironisch zu brechen aber natürlich auch schlicht falsch zu gebrauchen. Der Kreis kommunikativen Handelns schließt sich.

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Engel, Florian, Master of Arts, Studium der Allgemeinen Sozialwissenschaft (Uni Bochum), Studium der Soziologie mit Schwerpunkt Restrukturierung der Geschlechterverhältnisse an der Uni Bochum. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am House of Competence des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) mit dem Schwerpunkt Wissenschaftliches Präsentieren. Seit 2015 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Pflege und Gesundheit der Hochschule Fulda im Bereich der Armuts- und Ungleichheitsforschung. Letzte Veröffentlichungen: Engel, F. 2018. Grundsicherungserfahrungen in Familien. Krisen, Sorgen und (Aus-) Handlungspraktiken. In: Betzelt, S., I. Bode. Hrsg. Angst im neuen Wohlfahrtsstaat – kritische Blicke auf ein diffuses Phänomen. Baden-Baden: Nomos. Singh, A., F. Engel, S. Kreher. 2018. Heranwachsende im Dreieck des ­SGB-II-Leistungsbezugs. In: Sozialer Sinn: Zeitschrift für hermeneutische Sozialforschung. Jg. 19, H. 1, S. 11–43. Hirseland, A., F. Engel. 2016. „Ich meine, das reicht hinten und vorne nicht“: Ansätze nachhaltigen Wirtschaftens bei Hartz-IV-Beziehenden. In: Vierteljahreshefte für Wirtschaftsforschung. Jg. 85, H. 3, S. 69–79.