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German Pages VIII, 368 [367] Year 2020
Technikzukünfte, Wissenschaft und Gesellschaft / Futures of Technology, Science and Society
Wilfried Konrad · Dirk Scheer Annette Weidtmann Hrsg.
Bioökonomie nachhaltig gestalten Perspektiven für ein zukunftsfähiges Wirtschaften
Technikzukünfte, Wissenschaft und Gesellschaft / Futures of Technology, Science and Society Reihe herausgegeben von Armin Grunwald, ITAS, Karlsruhe Institute of Technology, Karlsruhe, Deutschland Reinhard Heil, ITAS, Karlsruhe Institute of Technology, Karlsruhe, Deutschland Christopher Coenen, ITAS, Karlsruhe Institute of Technology, Karlsruhe, Deutschland
Diese interdisziplinäre Buchreihe ist Technikzukünften in ihren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten gewidmet. Der Plural „Zukünfte“ ist dabei Programm. Denn erstens wird ein breites Spektrum wissenschaftlichtechnischer Entwicklungen beleuchtet, und zweitens sind Debatten zu Technowissenschaften wie u. a. den Bio-, Informations-, Nano- und Neurotechnologien oder der Robotik durch eine Vielzahl von Perspektiven und Interessen bestimmt. Diese Zukünfte beeinflussen einerseits den Verlauf des Fortschritts, seine Ergebnisse und Folgen, z. B. durch Ausgestaltung der wissenschaftlichen Agenda. Andererseits sind wissenschaftlich-technische Neuerungen Anlass, neue Zukünfte mit anderen gesellschaftlichen Implikationen auszudenken. Diese Wechselseitigkeit reflektierend, befasst sich die Reihe vorrangig mit der sozialen und kulturellen Prägung von Naturwissenschaft und Technik, der verantwortlichen Gestaltung ihrer Ergebnisse in der Gesellschaft sowie mit den Auswirkungen auf unsere Bilder vom Menschen. This interdisciplinary series of books is devoted to technology futures in their scientific and societal contexts. The use of the plural “futures” is by no means accidental: firstly, light is to be shed on a broad spectrum of developments in science and technology; secondly, debates on technoscientific fields such as biotechnology, information technology, nanotechnology, neurotechnology and robotics are influenced by a multitude of viewpoints and interests. On the one hand, these futures have an impact on the way advances are made, as well as on their results and consequences, for example by shaping the scientific agenda. On the other hand, scientific and technological innovations offer an opportunity to conceive of new futures with different implications for society. Reflecting this reciprocity, the series concentrates primarily on the way in which science and technology are influenced social and culturally, on how their results can be shaped in a responsible manner in society, and on the way they affect our images of humankind.
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/13596
Wilfried Konrad · Dirk Scheer · Annette Weidtmann (Hrsg.)
Bioökonomie nachhaltig gestalten Perspektiven für ein zukunftsfähiges Wirtschaften
Hrsg. Wilfried Konrad DIALOGIK gemeinnützige Gesellschaft für Kommunikations- und Kooperationsforschung mbH Stuttgart, Deutschland
Dirk Scheer Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT) Karlsruhe, Deutschland
Annette Weidtmann Landesgeschäftsstelle des Forschungsprogramms Bioökonomie Baden-Württemberg, Universität Hohenheim Stuttgart, Deutschland
ISSN 2524-3764 ISSN 2524-3772 (electronic) Technikzukünfte, Wissenschaft und Gesellschaft / Futures of Technology, Science and Society ISBN 978-3-658-29432-8 ISBN 978-3-658-29433-5 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29433-5 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Lektorat: Frank Schindler Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Die Transformation zu einer Bioökonomie ist ein interdisziplinäres und branchenübergreifendes Projekt. Technologische Innovationen und neue Konzepte der Ressourcenbereitstellung erweitern die Möglichkeiten der stofflichen und energetischen Nutzung von Biomasse. Ebenso wichtig wie die Implementation neuer Technologien in bio-basierte Wertschöpfungsketten sind integrierte Studien zur Analyse von Nachhaltigkeit, ökonomischen Rahmenbedingungen und gesellschaftlicher Akzeptanz. Vor diesem Hintergrund behandelt der vorliegende Sammelband aus interdisziplinärer Perspektive unterschiedliche Herausforderungen für die Gestaltung einer zukunftsfähigen, nachhaltigen Bioökonomie in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Die Beiträge des Buches gehen überwiegend auf das Forschungsprogramm Bioökonomie Baden-Württemberg zurück, welches seit 2014 vom Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (MWK) gefördert wird. Zur Vorbereitung des Forschungsprogramms wurde im Jahr 2012 ein interdisziplinärer Strategiekreis einberufen und mit der Identifizierung von Alleinstellungsmerkmalen, Stärken und Chancen für Baden-Württemberg beauftragt. Ergebnis der Arbeit des Strategiekreises ist die im Jahr 2013 veröffentlichte Forschungsstrategie „Bioökonomie im System aufstellen“. Seit 2014 wurden im Forschungsprogramm interdisziplinäre Forschungsprojekte in den Themenfeldern „Lignozellulose – Alternativer Rohstoff für neue Materialien und Produkte“, „Integrierte Nutzung von Mikroalgen für die Ernährung“, „Nachhaltige und flexible Wertschöpfungsketten für Biogas in Baden-Württemberg“ und „Modellierung der Bioökonomie“ gefördert. Im Rahmen der gesonderten Ausschreibung „Sozialwissenschaftliche und ökologische Begleitforschung“ wurden zudem Projekte zu Querschnittsthemen realisiert, die sich auf die oben genannten Förderschwerpunkte bezogen. Durch die Fördermaßnahme sollte das im Land
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Vorwort
vorhandene Potenzial zur Bioökonomie vernetzt und inter- und transdisziplinäre sowie standortübergreifende Zusammenarbeit angeregt werden. Der konkrete Impuls für dieses Buch geht auf eine Veranstaltung am 28. Februar 2018 an der Universität Hohenheim zurück. Unter dem Titel „Bioökonomie nachhaltig gestalten“ organisierten die Herausgeber des Bandes einen Ergebnisworkshop, um ausgewählte Projekte des Forschungsprogramms Bioökonomie Baden-Württemberg zu präsentieren und diskutieren. Im Fokus dieser Veranstaltung und folglich der hier versammelten Buchbeiträge standen Ergebnisse aus Projekten mit sozialwissenschaftlichen, ökologischen und ökonomischen Problemstellungen, die die Bioökonomie in den Kontext soziotechnischer Herausforderungen für eine erfolgreiche, auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Zukunftsgestaltung stellen. Vor diesem Hintergrund gilt zunächst unser Dank dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg (MWK) für die Etablierung und Durchführung des Forschungsprogramms Bioökonomie. Ohne diese Initiative wäre dieses Buch nicht möglich gewesen. Daneben gilt unser besonderer Dank allen Autorinnen und Autoren, die zu dem vorliegenden Sammelband beigetragen haben. Mit ihrem Engagement, ihrer Ausdauer und ihrer Expertise haben sie entscheidend zum Gelingen des Buches beigetragen. Erst damit wurde es möglich, das Hauptanliegen dieses Buches mit Leben zu erfüllen und unterschiedliche Facetten der soziotechnischen Herausforderung einer nachhaltigen Bioökonomie aus interdisziplinärer Perspektive aufzuzeigen. Karlsruhe, Stuttgart im Dezember 2019
Wilfried Konrad Dirk Scheer Annette Weidtmann
Inhaltsverzeichnis
1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Annette Weidtmann, Wilfried Konrad und Dirk Scheer Teil I
Bioökonomie zwischen Zukunfts- und Nachhaltigkeitsgestaltung
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Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Bioökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . 19 Armin Grunwald
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Der Zukunftsdiskurs Bioökonomie im Spiegel der gegenwärtigen Themenlandschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 Dirk Scheer und Wilfried Konrad
Teil II
ioökonomie als sozio-technisches System: Akteure, Visionen, B Governance
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Wissen für den Wandel – Wissenstheoretische Grundlagen einer nachhaltigen Bioökonomiepolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Sophie Urmetzer, Michael P. Schlaile, Kristina Bogner, Matthias Mueller und Andreas Pyka
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Herausforderungen des systemischen Ansatzes in der Bioökonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Rolf Meyer und Carmen Priefer
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Nächste Ausfahrt Bioökonomie? Facetten einer Good Governance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Wilfried Konrad und Dirk Scheer
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Inhaltsverzeichnis
Übergang zu einer forstbasierten Bioökonomie? Ein Vergleich von Deutschland und Finnland. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Alexandru Giurca und Daniela Kleinschmit
Teil III A uf dem richtigen Weg? Zukunftspfade und Szenarien der Bioökonomie 8
Zukünfte der Bioökonomie: eine modellbasierte Analyse möglicher Transformationspfade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Witold-Roger Poganietz, Elisabeth Angenendt, Markus Blesl, Eckart Petig, Hyung Sik Choi und Harald Grethe
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Nachhaltigkeitsbewertung bioökonomischer Produktsysteme. . . . . . 223 Natalia Matiz-Rubio, Ludger Eltrop und Marlies Härdtlein
10 Bioökonomie nachhaltig gestaltet – Konzeptionelle und ethische Grundlagen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Thomas Potthast und Birgit Kröber Teil IV Wertschöpfungsketten im Wandel 11 Potential und Akzeptanz von Verfahren zur Erzeugung von lignozellulosehaltiger Biomasse in der Landwirtschaft. . . . . . . . . . . . 277 Caroline Gillich, Tatjana Krimly und Christian Lippert 12 Repowering von Biogasanlagen – ein Beitrag zur nachhaltigen Energieversorgung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Joshua Güsewell, Marlies Härdtlein und Ludger Eltrop 13 Mikroalgen statt Fleisch und Soja – die Ernährung der Zukunft?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Christine Rösch und Max Roßmann
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Einführung Annette Weidtmann, Wilfried Konrad und Dirk Scheer
Die Bioökonomie als Transformationskonzept in Richtung Nachhaltigkeit hat in Wissenschaft und Politik Bedeutung erlangt. Sie gilt als wichtiger Baustein für den Umbau moderner Gesellschaften zugunsten einer auf regenerativen Ressourcen basierenden Kreislaufwirtschaft. Mithilfe wissensbasierter Innovationen wird in zentralen Wirtschaftsbereichen eine Umstellung von fossilen auf erneuerbare, biologische Ressourcen und die Nutzung von biologischen Prinzipien angestrebt, um Produkte, Dienstleistungen und Prozesse nachhaltig und zugleich zukunfts- und wettbewerbsfähig zu gestalten. Eine biobasierte Wirtschaft soll dazu beitragen, die globalen Herausforderungen zu bewältigen: ausreichende und gesunde Ernährung der Weltbevölkerung, ressourcenschonende und wettbewerbsfähige Rohstoff- und Energieversorgung sowie dauerhafter Umwelt- und Klimaschutz. Die Bioökonomie kommt derzeit vor allem als ein Zukunftsversprechen mit großer Reichweite daher – ein Zukunftsversprechen, Ökonomie und Nachhaltigkeit zu verbinden. Inwieweit dieses Versprechen einzulösen ist, hängt entscheidend A. Weidtmann (*) Landesgeschäftsstelle des Forschungsprogramms Bioökonomie Baden-Württemberg, Universität Hohenheim, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] W. Konrad DIALOGIK gemeinnützige Gesellschaft für Kommunikations- und Kooperationsforschung mbH, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Scheer Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Konrad et al. (Hrsg.), Bioökonomie nachhaltig gestalten, Technikzukünfte, Wissenschaft und Gesellschaft / Futures of Technology, Science and Society, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29433-5_1
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von der sozio-technischen Konfiguration und dem Zusammenspiel von Bioökonomie mit Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ab. Wichtige Impulse für die sozio-technische Ausgestaltung und Entwicklungsdynamik der Bioökonomie kommen dabei aus Politik und Wissenschaft. Im Folgenden werden wir daher die Bioökonomie in ihren politischen und wissenschaftlichen Bezügen kurz skizzieren.
1.1 Die Entwicklung von Bioökonomie-Strategien auf internationaler, nationaler und regionaler Ebene Die Bioökonomie hat in wenigen Jahren einen zentralen Stellenwert im Kontext politischer Strategien für eine zukunftsfähige Transformation der tradierten fossil-basierten Wirtschaftsweise erlangt. Zunächst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre von Naturwissenschaftlern zur Charakterisierung der strukturellen Implikationen der fortschreitenden biowissenschaftlichen und biotechnologischen Entwicklung geprägt, avancierte der Begriff Bioökonomie ab dem Jahr 2005 zu einem populären Konzept der internationalen und nationalen Politik (Birner 2018). Den ersten Meilenstein in diesem Prozess markiert eine Konferenz der Europäischen Kommission zum Thema „New Perspectives on the K nowledgebased Bioeconomy“ im Jahr 2005. Der damalige EU-Kommissar für Wissenschaft und Forschung Janez Potočnik hielt eine vielbeachtete Rede mit dem Titel „Transforming life sciences knowledge into new, sustainable, eco-efficient and competitive products“. In der Folge wurde im Jahr 2007 in deutscher Ratspräsidentschaft das sogenannte „Cologne Paper“ mit dem Titel „En Route to the Knowledge-Based Bio-Economy“ verabschiedet (Cologne Paper 2007). Diese „Kölner Erklärung“ skizziert eine Entwicklung der Bioökonomie bis zum Jahr 2030 und setzt den Schwerpunkt auf zwei wesentliche Erwartungen (Birner 2018): • Die zu erwartende wachsende Bedeutung der Biotechnologie für die europäische Wirtschaft. Dabei werden neben Pharmazeutika, Landwirtschaft und Lebensmittel explizit die weiße Biotechnologie und die Bioenergie als wachsende Zweige genannt. • Die Erwartung, dass die Biotechnologie zur Lösung dringender globaler Herausforderungen, wie der Sicherung der Ernährung für eine wachsende Weltbevölkerung, den begrenzten Rohstoffressourcen und der Verhinderung des drohenden Klimawandels, beitragen kann, indem sie die Entwicklung einer nachhaltigen Wirtschaft auf biologischer Basis fördert.
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Der Beitrag der Bioökonomie zu Nachhaltigkeitszielen wird damit von Anfang an in der politischen Diskussion als treibende Kraft der Bioökonomie genannt, wobei zunächst deutlich mit der Förderung von Schlüsseltechnologien und Innovationen argumentiert wurde. Darüber hinaus stand angesichts der massiv steigenden Ölpreise in den Jahren 2005 bis 2008 der Ersatz fossiler Rohstoffe im Fokus. Aus diesen Impulsen entwickelten sich mehrere politische Initiativen auf nationaler und supranationaler Ebene. So publizierte die OECD im Jahr 2009 das Papier „The Bioeconomy to 2030: designing a policy agenda“ (OECD 2009). Dieses Papier betont ebenfalls die große Bedeutung der Biotechnologie, von der erhebliche Wachstumsschübe für die Gesundheitsindustrie, die Agrarund Ernährungswirtschaft sowie die industrielle Biotechnologie erwartet werden. Dieses Potenzial könne aber nur entfaltet werden kann, wenn vonseiten der Regierungen entsprechende Governance-Maßnahmen, wie zum Beispiel Änderungen an Regulierungen, Anreize für umweltfreundliche Technologien, die Ermöglichung disruptiver Veränderungen sowie die Kommunikation mit der in Teilen Biotechnologie-kritischen Bevölkerung, ergriffen werden. Notwendig sei eine Policy-Agenda einschließlich eines aktiven Dialogs zwischen Regierungen, der Zivilgesellschaft und Unternehmen, der sich mit den ökonomischen, sozialen und ethischen Implikationen sowie Chancen und Herausforderungen der Bioökonomie beschäftigt.
Bioökonomie-Verständnis der EU
„The bioeconomy covers all sectors and systems that rely on biological resources (animals, plants, micro-organisms and derived biomass, including organic waste), their functions and principles. It includes and interlinks: land and marine ecosystems and the services they provide; all primary production sectors that use and produce biological resources (agriculture, forestry, fisheries and aquaculture); and all economic and industrial sectors that use biological resources and processes to produce food, feed, bio-based products, energy and services. To be successful, the European bioeconomy needs to have sustainability and circularity at its heart. This will drive the renewal of our industries, the modernisation of our primary production systems, the protection of the environment and will enhance biodiversity.“ Quelle: European Commission (2018, S. 4)
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In der Europäischen Union wurde im Jahr 2012 die erste dezidierte Bioökonomie-Strategie verabschiedet. Angesichts der Verknappung und End lichkeit von Ressourcen, einer wachsenden Bevölkerung und dem Innovations- und Wachstumspotenzial einer biobasierten Wirtschaft stellt die Strategie den Umgang mit biologischen Ressourcen in den Bereichen Produktion, Konsum, Verarbeitung, Lagerung, Recycling und Entsorgung auf neue Grundsätze. Bioökonomie wird dabei als ein Wirtschaften verstanden, bei dem biologische Land- und Meeresressourcen sowie Abfälle als Ausgangsstoffe für die Lebensund Futtermittelproduktion, die Industrieproduktion und die Energieerzeugung genutzt werden (European Commission 2012). Im Jahr 2018 verabschiedete die Europäische Kommission eine überarbeitete Bioökonomie-Strategie unter dem Titel „A sustainable Bioeconomy for Europe: strengthening the connection between economy, society and the environment“ (European Commission 2018). Die Anbindung an das Pariser Klimaabkommen und an die Agenda 2030 der Vereinten Nationen mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung ist Ausdruck einer nun umfassenderen Definition der Bioökonomie. Zudem wird die erneuerte EU-Bioökonomie-Strategie in den Kontext weiterer europäischer Politikziele gestellt, wie dem Aktionsplan für Kreislaufwirtschaft und der Förderung von Innovationen zur sauberen Energiegewinnung. Die Konkretisierung und Umsetzung der europäischen Bioökonomie wurde und wird über milliardenschwere Investitionen in EU-Forschungsprogramme unterstützt. So spielte die Bioökonomie im derzeit auslaufenden 8. Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union („Horizon 2020“) eine bedeutende Rolle. Neben der technologischen Weiterentwicklung werden hier strukturelle Ziele als entscheidend für das Gelingen einer Bioökonomie genannt. So gelte es die Vielzahl der beteiligten Sektoren, namentlich die Bereiche Land- und Forstwirtschaft, Fischerei, Lebensmittel-, Zellstoff- und Papierherstellung sowie die biotechnologische und Energieindustrie zu vernetzen (European Commission 2012). Und auch das ab 2021 laufende 9. EU-Forschungsrahmenprogramm „Horizon Europe“ sieht mit zehn Milliarden Euro erhebliche Mittel zur Förderung der Bioökonomie vor (European Commission 2018).
Bioökonomie-Verständnis des deutschen Bioökonomierats
„Der Bioökonomierat versteht die Bioökonomie als wichtiges Element des gesellschaftlichen Wandels zu einer nachhaltigeren Wirtschaftsweise. Die Bioökonomie wird definiert als die Erzeugung und Nutzung biologischer Ressourcen (auch Wissen), um Produkte, Verfahren und Dienstleistungen
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in allen wirtschaftlichen Sektoren im Rahmen eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems bereitzustellen.“ Quelle: Bioökonomierat (o. J.)
Die Entwicklung auf nationaler Ebene in Deutschland geht zurück auf das Jahr 2009, als der Bioökonomierat als Beratungsgremium der Bundesregierung eingesetzt wurde. Es folgten die Verabschiedung einer Forschungsstrategie Bioökonomie (BMBF 2010) und einer Politikstrategie Bioökonomie (BMEL 2014). Die Bioökonomie-Definition des Bioökonomierats betont die Bedeutung der Bioökonomie für den gesellschaftlichen Wandel zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise und für das Erreichen der Nachhaltigkeitsziele. Unter anderem wird von ihr erwartet, dass sie zukünftig zu einer nachhaltigen Versorgung mit Rohstoffen und Energie innerhalb der planetaren Grenzen beiträgt. Zur Umsetzung der Forschungs- und Politikstrategie wurde eine Reihe von B ioökonomie-Förderprogrammen angestoßen, sowohl für die Entwicklung von technischen Innovationen als auch um die komplexen Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft, Technik, Wirtschaft und Ökologie zu untersuchen. Knapp 15 Jahre nach dem „Startschuss“ auf der oben erwähnten E UKonferenz im Jahr 2005 ist die Bioökonomie ein international verbreitetes Politikkonzept, das unter verschiedenen nationalstaatlichen Rahmenbedingungen umgesetzt wird. Nach Untersuchungen des Bioökonomierats gab es 2018 weltweit 49 Staaten, die eine Bioökonomie-Strategie verabschiedet hatten sowie eine Reihe weiterer Staaten, die an einer Bioökonomie-Strategie arbeiteten oder über eine verwandte Strategie verfügten (Bioökonomierat 2018). Zunehmend entwickeln sich auch regionale Bioökonomie-Strategien, denen eine wichtige Funktion bei der Umsetzung von B ioökonomie-Konzepten zugeschrieben wird (European Commission 2018). Ein Beispiel ist die im Jahr 2019 beschlossene Landesstrategie „Nachhaltige Bioökonomie Baden-Württemberg“ (UM und MLR 2019), deren erklärtes Ziel es ist, B aden-Württemberg zu einem Beispielland für eine nachhaltige und kreislauforientierte Wirtschaftsform zu machen. Die Strategie soll helfen, erneuerbare und recycelbare Rohstoffe zu erschließen, die Treibhausgasemissionen zu senken und die Biodiversität zu stärken. Sie baut auf Erfahrungen durch die frühzeitige Etablierung der Bioökonomie Forschungsstrategie „Bioökonomie im System aufstellen“ (MWK 2013) und die Förderung des Bioökonomie Forschungsprogramms in Baden-Württemberg (Bahrs und Angenendt 2018, Dahmen et al. 2018; Rösch et al. 2018) auf und wurde in einem breiten Partizipationsprozess unter Einbeziehung einer Vielzahl von Akteuren entwickelt.
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1.2 Die Bioökonomie im Kontext der gesellschaftlichen Verantwortung von Wissenschaft Die Bioökonomie erfordert eine wissensbasierte, zielgerichtete Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft. Auf übergeordneter Ebene schließt die Bioökonomie hier an die gesellschaftspolitische Rolle von Wissenschaft und Technologie im Sinne der Lösung von großen gesellschaftlichen Herausforderungen an. Darüber hinaus stellt sich die Bioökonomie in eine Reihe weiterer, an Umwelt- und Nachhaltigkeitszielen ausgerichteter Transformationskonzepte aus dem Bereich der Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung. Beide Kontexte werden im Folgenden kurz skizziert. Unter dem Begriff „große gesellschaftliche Herausforderungen“ werden im wissenschaftspolitischen Kontext Problemlagen großer Reichweite mit einem hohen Grad an Komplexität, Unsicherheit, Dynamik und Langfristigkeit verstanden (Wissenschaftsrat 2015). Der Diskurs um gesellschaftliche Herausforderungen schließt an wissenschaftspolitische Debatten an, die bis in die 1960er Jahre zurückgehen und die gesellschaftspolitische Rolle von Wissenschaft thematisieren (Kaldewey 2018). Dabei steht der wissenschaftliche Lösungsbeitrag für die Gesellschaft im Vordergrund. Danach ist Wissenschaft nicht ausschließlich auf die Erzeugung wahrheitsbezogener Erkenntnis ausgerichtet, sondern soll gleichermaßen wahrheitsbezogen und gesellschaftlich problemlösend sein. „Problem-oriented research“ (Bechmann und Frederichs 1996), „action research“ (Greenwood und Levin 1998) oder auch die Ausrichtung auf Inter- und Transdisziplinarität (Klein et al. 2001) sind Akzentuierungen dieser Debatten. Die Rede von den großen gesellschaftlichen Herausforderungen ist durch eine breite Vielfalt von Themen gekennzeichnet, die beispielsweise von der notwendigen Vermeidung des Klimawandels und globalen Umweltproblemen über die Auswirkungen der demographischen Entwicklung zur Einführung neuer Technologien wie Robotik, künstliche Intelligenz und Digitalisierung reichen (BMBF 2018; Wissenschaftsrat 2015). Ihnen gemeinsam ist, dass sie zu fundamentalen Veränderungen über systemische Grenzen hinweg führen können oder müssen, die verschiedenste Lebensbereiche der gesamten Gesellschaft beeinflussen. Sie können mit einem massiven Wandel von Lebensstilen, Konsummustern, Infrastrukturen, Netzwerken, Institutionen, Geschäftsmodellen und Wertschöpfungsketten verbunden sein. Zugleich stehen moderne, pluralistisch verfasste Gesellschaften fortwährend vor der Aufgabe, diese tiefgreifenden
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Veränderungs- und Transformationsprozesse aktiv, zielgerichtet und problemlösend zu begleiten und zu gestalten (Mayntz 2006; Paul et al. 2017). Um diese großen Herausforderungen zu meistern, sind integrierte und langfristige Anstrengungen notwendig, die technische mit organisatorischen, sozialen und ökonomischen Dimensionen verbinden (Omenn 2006). Damit haben sich auch die gesellschaftlichen Erwartungen an Wissenschaft verändert. Neben der wissenschaftlich-technologischen Verlässlichkeit treten Kriterien des gesellschaftlichen Nutzens und der sozialen Relevanz von Wissenschaft (Nowotny 1999). Die Bioökonomie kann in dieser Hinsicht als Transformationskonzept verstanden werden, von dem Lösungsbeiträge für große gesellschaftliche Herausforderungen erwartet werden. Daneben reiht sich die Bioökonomie in eine Reihe von Konzepten ein, die einen Umbau moderner Gesellschaften in Richtung einer Umwelt- und Klimaverträglichkeit vorsehen. Der Ausgangspunkt einer solchen Transformationsnotwendigkeit geht zurück auf die Einsicht in planetare Belastbarkeitsgrenzen und Grenzen des Wachstums. Beispielhaft seien hier nur einige wenige Konzepte genannt und kurz erläutert. Der Ansatz einer Cleaner Production (OECD 1995) geht auf die frühen 1990er Jahre zurück und entstand im Rahmen der Vor- und Nachbereitungen der Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Rio de Janeiro 1992. Im Fokus steht die Reduzierung von Umweltauswirkungen bei der Bereitstellung von Produkten und Dienstleistungen durch einen vorsorgenden, betrieblichen Umweltschutz. Durch antizipierende Energie- und Stoffstromanalysen sowie organisatorische und technische Verbesserungen sollen Rohstoffe und Energie möglichst effizient genutzt und zugleich Kosten eingespart werden. Das Konzept der Industrial Ecology (Socolow et al. 1994) entstand Anfang der 1990er Jahre in den USA und ergänzt den betrieblichen Umweltschutz um eine systemanalytische Komponente. Dabei wird die industrielle Ökologie verstanden als ein „systems-based, multidisciplinary discourse that seeks to understand emergent behaviour of complex integrated human/natural systems“ (Allenby 2006, S. 33). Seit Mitte der 1990er Jahre lässt sich ein Trend zu einer integrierten Betrachtungsweise von Produkten und Dienstleistungen feststellen. Dieser als Integrierte Produktpolitik (Scheer und Rubik 2006) bezeichnete Ansatz nimmt systematisch Umweltwirkungen von Produkten und Dienstleistungen in den Blick und akzentuiert die Rolle des Staates für adäquate Politikinstrumente in der Bandbreite von regulatorischer Ordnungspolitik bis zu freiwilligen Instrumenten. Letztere wurden durch den zu Beginn der 2000er Jahre populär gewordenen Ansatz des Corporate Social Responsibility (Schneider und Schmidtpeter 2012) verstärkt. Dabei wurde neben der ökologischen insbesondere auch die soziale
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Verantwortung von Unternehmen mit einbezogen. Während diese Ansätze ihren Schwerpunkt auf die Angebotsseite wirtschaftlicher Tätigkeiten legen, haben andere Konzepte auch die Nachfrageseite vermehrt in den Blick genommen. Beispielhaft dafür steht der Ansatz Sustainable Production and Consumption (Tukker et al. 2008), der Aspekte des nachhaltigen Konsums über Effizienz und Suffizienz thematisiert. Die Bioökonomie knüpft an diese transformativen Nachhaltigkeitskonzepte für einen sozio-technischen Wandel an. Die in diesem Sammelband p räsentierten Forschungsansätze und -ergebnisse stehen explizit oder implizit im Kontext dieser Konzepte und stellen aus dem Blickwinkel der Bioökonomie wichtige Erkenntnisse bereit für deren Konsolidierung und Weiterentwicklung.
1.3 Konzeption und Beiträge des Sammelbandes Das vorliegende Buch greift die politische und wissenschaftliche Einbettung der Bioökonomie auf und liefert Beiträge aus unterschiedlicher methodischer und disziplinärer Perspektive. Die Schnittstelle von Zukunftsgestaltung und Nachhaltigkeitsgestaltung steht im Zentrum dieses Sammelbandes. Dabei wird die Bioökonomie als sozio-technisches System aufgefasst, in dem die technische Ausgestaltung auf das Engste mit sozialen, ökonomischen und politischen Einbettungen verknüpft ist. Das Gelingen einer Bioökonomie hängt entscheidend davon ab, wie technische Innovationen oder neue Handlungsempfehlungen von Akteuren in der Wirtschaft, von Verbrauchern und ganz allgemein in der Gesellschaft angenommen werden. Verständnis, Konzept und Umsetzungsstrategien der Bioökonomie sind dabei durchaus heterogen und werden teilweise kontrovers diskutiert. Die Untersuchung der Bioökonomie aus der Perspektive der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, der Ethik, der Politikwissenschaften sowie der Ökologie begründet sich zudem aus der Notwendigkeit, die in der Bioökonomie angelegte Komplexität von Wirkungszusammenhängen für einen gesellschaftlichen Wandel zu erfassen und zu analysieren. Unser Buch fasst Ergebnisse aus der Kooperation im baden-württembergischen Bioökonomie-Forschungsprogramm zusammen und stellt dabei ganz unterschiedliche wissenschaftliche Ansätze vor, sich mit der Nachhaltigkeit von Bioökonomie zu beschäftigen. Zentrale Fragen sind die N achhaltigkeitsbewertung aus ökonomischer und ökologischer Sicht, aber auch die Fragen nach den Rahmenbedingungen und Steuerungskonzepten, unter denen eine nachhaltige Bioökonomie gelingen kann. Die einzelnen Beiträge decken Wissenschaftsdisziplinen
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wie Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Agrar- und Umweltwissenschaften sowie Modellierung, Technikphilosophie und Innovationsökonomik ab und greifen methodisch unterschiedliche Herangehensweisen auf. So sind etwa konzeptionell-theoretische Ansätze auf Basis von Text- und Dokumentenanalysen, Computersimulationen mit Hilfe von ökonomischen Gleichgewichts- und Stoffstrommodellen, Prozessmodellierungen, Akteurs- und Netzwerkanalysen, Umwelt- und Nachhaltigkeitsbilanzierung sowie Expertenbefragungen auf Basis eines Discrete-Choice-Experiments vertreten. Der Band ist in vier Teile gegliedert und umfasst insgesamt zwölf Kapitel. Der erste, einleitende Teil „Bioökonomie zwischen Zukunfts- und Nachhaltigkeitsgestaltung“ dient dazu, die Begriffe und Hintergründe von Bioökonomie und Nachhaltigkeit einzuführen. Der zweite Teil des Buches „Bioökonomie als sozio-technisches System: Akteure, Visionen, Governance“ thematisiert das Zusammenwirken von Akteuren in der Bioökonomie sowie die damit verbundenen Herausforderungen und Steuerungsmöglichkeiten. Der dritte Teil „Auf dem richtigen Weg? Zukunftspfade und Szenarien der Bioökonomie“ fasst Beiträge zusammen, die sich mit Bewertungsrahmen für eine nachhaltige Bioökonomie und Projektionen in die Zukunft beschäftigen. Der abschließende vierte Teil „Wertschöpfungsketten im Wandel“ fokussiert auf die Rahmenbedingungen für einen Wandel anhand von ausgewählten Anwendungsbeispielen und Akteurskonstellationen. Im Folgenden stellen wir in Kurzportraits die in diesem Sammelband zusammengeführten Beiträge im Einzelnen vor. Teil 1: Bioökonomie zwischen Zukunfts- und Nachhaltigkeitsgestaltung Das Verhältnis zwischen Bioökonomie und Nachhaltigkeit steht im Zentrum des Beitrags von Armin Grunwald. Ausgehend von der Feststellung, dass die Bioökonomie nicht per se nachhaltig sei, werden Überlegungen für ein Anforderungsprofil zur Nachhaltigkeit der Bioökonomie entwickelt. Zunächst wird hervorgehoben, dass eine abschließende Definition von Nachhaltigkeit nicht möglich ist, sondern vielmehr fortwährende Arbeit an der konkreten Bedeutung nachhaltiger Entwicklung zu leisten ist. Als Ausgangspunkt hierfür wird die Brundtland-Definition nachhaltiger Entwicklung gewählt, die einen hermeneutischen Zirkel der theoretischen und praktischen Bedeutungsarbeit in Gang gesetzt habe. Eine Intervention in diesen hermeneutischen Zirkel stellt das integrative Konzept nachhaltiger Entwicklung dar, aus dem substantielle („Was“) und instru mentelle („Wie“) Nachhaltigkeitsregeln abgeleitet und mit Blick auf deren Bioökonomiebezug charakterisiert werden. Schließlich werden auf dieser Grundlage die notwendigen Schritte für eine nachhaltigkeitsorientierte Gestaltung der Bioökonomie expliziert.
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Im Beitrag von Dirk Scheer und Wilfried Konrad wird eine Analyse des Zukunftsdiskurses der Bioökonomie im Spiegel der gegenwärtigen Themenlandschaft geleistet. Die thematische Vielschichtigkeit und Unübersichtlichkeit des Diskurses wird über eine qualitative Dokumentenanalyse systematisch analysiert und deren Ergebnisse zu sechs zentralen Themenlinien der Bioökonomie verdichtet. Diese beinhalten transformative, spezifische, integrative, innovative, konfliktive und produktbezogene Themenlinien der Bioökonomie, die von verschiedenen Akteursgruppen jeweils unterschiedlich betont und akzentuiert werden. Der Zukunftsdiskurs ist geprägt durch eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten an politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und wissenschaftliche Problemstellungen und Lösungsvorschläge. Teil 2: Bioökonomie als sozio-technisches System: Akteure, Visionen, Governance Sophie Urmetzer, Michael P. Schlaile, Kristina Bogner, Matthias Mueller und Andreas Pyka beschäftigen sich aus innovationsökonomischer Sicht mit der Frage, wie eine Transformation zu einer nachhaltigen, wissensbasierten Bioöko nomie gelingen kann. Die Autoren begreifen die Bioökonomie als systemischen Veränderungsprozess und greifen auf den Ansatz der Innovationssysteme zurück. Entscheidend ist dabei der Begriff des zielorientierten oder dedizierten Innovationssystems, mit dem die Wissensbasis transformativer Innovation über techno-ökonomisches Wissen hinaus um weitere Wissensarten erweitert wird. Diese erweiterte Wissensbasis eines dedizierten Innnovationssystems umfasst die drei Wissensarten Systemwissen sowie normatives und transformatives Wissen, die in dem Beitrag ausführlich erklärt und hinsichtlich ihrer Generierung, Diffusion und Anwendung charakterisiert werden. Daran anschließend werden die Konsequenzen aus diesen Erkenntnissen für die Bioökonomiepolitik diskutiert. Der Beitrag von Rolf Meyer und Carmen Priefer zielt darauf ab, zentrale Elemente eines systemischen Ansatzes der Bioökonomie sowie die damit verbundenen Herausforderungen zu analysieren. In einem ersten Schritt wird aufgezeigt, in welcher Weise systemische Vorstellungen in den frühen Bioökonomie-Strategien der EU, Deutschlands und Baden-Württembergs auf zufinden sind. Danach wird das Augenmerk auf diejenigen Elemente und deren Herausforderungen gerichtet, die für eine ganzheitliche Betrachtung und Konzipierung einer Bioökonomie konstitutiv sind. Im Einzelnen adressiert der Beitrag sechs Themenkomplexe mit Blick auf Biomasse, Wertschöpfungsketten, Akteure, Diskurse, Mehrebenen Governance sowie Wechselwirkungen und Rückkopplungen. Aus dieser Analyse ergibt sich zum einen der Hinweis auf die Grenzen und Schwierigkeiten, mit denen die Umsetzung eines systemischen
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Ansatzes der Bioökonomie unweigerlich konfrontiert ist. Zum anderen halten die Autoren ihn gleichwohl für erstrebenswert und sehen in der Steigerung von Lern- und Korrekturfähigkeit eine wesentliche Voraussetzung, den systemischen Ansatz für eine auf Nachhaltigkeit ausgerichtete Bioökonomiepolitik fruchtbar zu machen. Der Governance einer Bioökonomie widmet sich der Beitrag von Wilfried Konrad und Dirk Scheer. Der Beitrag setzt einen spezifischen Fokus auf die sozio-technischen Implikationen bioökonomischer Innovationen. Die Materialbasis für diese Analyse bilden Experteninterviews zu den Themen „Miscanthus und Kurzumtriebsplantagen“, „biobasierte Produkte aus Lignozellulose“ sowie „biologische Methanisierung für Power-to-Gas“. Die Auswertung der Interviews erfolgt in fünf Governance-Bereichen – „Wissenschaft und Technik“, „Politik und Recht“, „Markt und Ökonomie“, „Ökologie“ sowie „Gesellschaft“ – und umfasst jeweils eine Spezifizierung von Governance-Themen und darauf bezogenen Governance-Maßnahmen. Im darauffolgenden Analyseschritt w erden die Governance-Themen aus der Perspektive einer Rahmensetzung für eine Good Governance Bioökonomie beleuchtet und in ihrer Ermöglichungs- oder Beschränkungsfunktion für eine Transformation zu einer nachhaltigen Bioökonomie bewertet. Wie unterscheiden sich die Bioökonomien von Deutschland und Finnland aus einer forstwirtschaftlichen Perspektive? Diese Frage greifen Alexandru Giurca und Daniela Kleinschmit in ihrem Beitrag auf und untersuchen auf der Basis einer akteurszentrierten Analyse Stand und Perspektiven einer forstbasierten Bioökonomie im Ländervergleich zwischen Deutschland und Finnland. Grundlage für die Analyse ist eine quantitative und qualitative Datenerhebung mit den Elementen Literaturauswertung, Onlineumfragen und Interviews. Das empirische Material wird daraufhin untersucht, wie die Akteursnetzwerke einer forstbasierten Bio ökonomie in Deutschland und Finnland strukturiert sind, welche Akteure jeweils den Bioökonomie-Diskurs prägen und welche Sichtweisen und politische Überzeugungen den im Netzwerk befindlichen Akteure zugeschrieben werden können. Teil 3: Auf dem richtigen Weg? Zukunftspfade und Szenarien der Bioökonomie Witold-Roger Poganietz, Elisabeth Angenendt, Markus Blesl, Eckart Petig, Hyung Sik Choi und Harald Grethe stellen in ihrem Beitrag eine modellbasierte Analyse möglicher Transformationspfade zur Bioökonomie vor. Zunächst werden in dem Beitrag mögliche Szenarien für bioökonomische Zukunftspfade entwickelt, die die derzeitig gültigen Klimaschutz- und energiepolitischen Ziele berücksichtigen und auf die vermehrte Nutzung von Lignozellulose als B iomasse-Ressource fokussieren. Für drei quantitativ abgestufte
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Bioökonomie-Szenarien werden Nachfragevolumina für das Jahr 2050 ausgewiesen. Über eine lose Modellkopplung werden die Auswirkungen dieser möglichen Szenarien auf den europäischen Agrarsektor, den Bioenergiesektor, die Transformation der Landwirtschaft in Baden-Württemberg sowie auf die Umweltwirkungen in Deutschland analysiert. Natalia Matiz-Rubio, Ludger Eltrop und Marlies Härdtlein adressieren in ihrem Beitrag methodische Weiterentwicklungen zur Nachhaltigkeitsbewertung bioökonomischer Produktsysteme. Unter einem Produktsystem wird der gesamte Lebensweg von der Ressourcenbereitstellung über die Herstellung und Nutzung bis hin zum Lebensende des Produktes verstanden. Es wird ein Bewertungsrahmen in Anlehnung an die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen – den Sustainable Development Goals (SDGs) – entwickelt, der spezifisch auf die Herausforderungen in Deutschland eingeht. Dieser sogenannte Bioökonomie kompass gibt Orientierung für die Bewertung der Nachhaltigkeit bei Produktion und Konsum biogener Ressourcen über einen passgenauen, lebenszyklusorientierten Indikatorensatz. Die Entwicklung einer ganzheitlichen Konzeption für „Nachhaltige bioökonomische Entwicklung“ auf Grundlage des Berichts der Brundtlandt-Kommission wird im Beitrag von Thomas Potthast und Birgit Kröber angestrebt. Zunächst wird der Begriff Nachhaltige Entwicklung in einer Systematik ausdifferenziert, die von Prinzipien über Leitlinien und prioritären Handlungsfeldern bis hin zu Implementation und Monitoring sieben Ebenen umfasst. Hiervon ausgehend und unter Rekurs auf weitere Elemente, wie Aspekte des integrativen Konzepts nachhaltiger Entwicklung, ethische Grundprinzipien sowie Konzepte der planetaren Belastbarkeit und sozialer Mindeststandards, entwickeln die Autoren ihr ganzheitliches Konzept Nachhaltiger Entwicklung für die Bioökonomie. Nachhaltige Entwicklung wird dabei als dynamischer Prozess angesehen und als archimedische Spirale veranschaulicht, in der die drei Ebenen grundlegende Prinzipien (z. B. Gerechtigkeit), Strategien der Ressourcennutzung (Konsistenz, Effizienz, Suffizienz) und qualitative und quantitative Nachhaltigkeitsindikatoren so verknüpft sind, dass jede Ebene aus der davorliegenden hervorgeht. Aus dieser Spirale ergibt sich eine zunehmende, übergreifende Resilienz sozial-ökologischer Systeme. Teil 4: Wertschöpfungsketten im Wandel Mit dem Potential und der Akzeptanz von Verfahren zur Erzeugung von lignozellulosehaltiger Biomasse in der Landwirtschaft beschäftigt sich der Beitrag von Caroline Gillich, Tatjana Krimly und Christian Lippert. Um einen steigenden Bedarf an Lignozellulose für neue Verfahren sicherzustellen werden
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neue Anbausysteme – wie Miscanthus oder Kurzumtriebsplantagen von schnellwachsenden Hölzern – diskutiert, die auch auf marginalen Böden angebaut werden können und somit weniger in Konkurrenz zur Nahrungsproduktion stehen. Dabei ist entscheidend, welche Anbaupotenziale bestehen und mit welchen Angebotsmengen künftig gerechnet werden kann. Hierzu wurden Landwirte in einem D iscrete-Choice-Experiment befragt, um über die dabei ermittelten Präferenzen durch Monte-Carlo-Simulationen mögliche Anbaupotenziale abschätzen zu können. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass neben Kompensationszahlungen auch Abnahmegarantien die Einführung neuer Verfahren fördern könnten. In ihrem Beitrag beschäftigen sich Joshua Güsewell, Marlies Härdtlein und Ludger Eltrop mit technischen Anpassungsstrategien für Biogasanlagen. Diese unter dem Begriff „Repowering“ firmierenden Ansätze beinhalten technische Maßnahmen und Betriebskonzepte für einen Weiterbetrieb von Biogasanlagen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher und ökologischer Anforderungen einer nachhaltigen Energieversorgung. Die Simulationsmodell-basierte Analyse zeigt, dass Bestands-Biogasanlagen technisch weiterentwickelt werden können, durch Repowering Effizienzsteigerungen möglich sind und Biogasanlagen einen Beitrag zur Reduktion der Treibhausgas-Emissionen der Stromproduktion leisten können. Speziell durch den Wandel hin zu einem flexiblen, an die Nachfrage angepassten Betrieb können Biogasanlagen einen wesentlichen Beitrag in einem nachhaltigen Energieversorgungssystem leisten. Der abschließende Beitrag von Christine Rösch und Max Roßmann widmet sich einer innovativen Option für die Ernährung der Zukunft – Mikroalgen statt Fleisch und Soja. Der Beitrag analysiert die Ernährung mit Mikroalgen anhand technischer, ökonomischer und ökologischer Aspekte der Algenkultivierung und -verarbeitung. Auch die Nutzerperspektive wird im Beitrag über eine Verbraucherbefragung aufgegriffen. Die Ergebnisse setzen die Algentechnologie in einen gesellschaftlichen Kontext, der es ermöglicht, Erwartungen und Bedenken zu antizipieren, Märkte für die Ernährung mit Mikroalgen zu erschließen und den globalen Herausforderungen verantwortlich gegenüberzutreten.
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Teil I Bioökonomie zwischen Zukunfts- und Nachhaltigkeitsgestaltung
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Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Bioökonomie Armin Grunwald
Zusammenfassung
Das Konzept Bioökonomie genießt zunächst Vorschusslorbeeren in Bezug auf Nachhaltigkeit, da es die Umstellung von Wirtschaftskreisläufen von nicht erneuerbaren auf nachwachsende, biobasierte Rohstoffe beinhaltet. Dennoch ist sie damit keineswegs automatisch nachhaltig. Die Bestimmung von Bedingungen, unter denen sie als nachhaltig angesehen werden kann, steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in Überlegungen, auf welche Weise der Begriff der nachhaltigen Entwicklung mit Bedeutung gefüllt wird. Nachhaltigkeit ist nicht im Sinne einer naturwissenschaftlichen Definition bestimmbar, sondern bedarf der stetigen Arbeit an ihrer Bedeutung. Diese wird im vorliegenden Kapitel, basierend auf der Brundtland-Definition, als hermeneutischer Zirkel modelliert. Um für die Bioökonomie Nachhaltigkeitsbedingungen zu bestimmen, bedarf es einer substantiellen Festlegung in dieser Bedeutungsarbeit. Hierfür wird das integrative Konzept nachhaltiger Entwicklung verwendet. Aus den hierin enthaltenen Nachhaltigkeitsregeln lassen sich Anhaltspunkte finden, was bei der Entwicklung einer nachhaltigen Bioökonomie beachtet werden muss.
A. Grunwald (*) Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Konrad et al. (Hrsg.), Bioökonomie nachhaltig gestalten, Technikzukünfte, Wissenschaft und Gesellschaft / Futures of Technology, Science and Society, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29433-5_2
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Schlüsselwörter
Nachhaltigkeitsdefinition · Brundtland · Hermeneutischer Zirkel · Integratives Nachhaltigkeitskonzept · Nachhaltigkeitsregeln
2.1 Ist Bioökonomie per se nachhaltig? Die Bioökonomie genießt als Umstellung von Wirtschaftskreisläufen von nicht erneuerbaren auf biobasierte Rohstoffe im Energie- und Materialienbereich zunächst Vorschlusslorbeeren in Bezug auf Nachhaltigkeit. Das Wort „Bioökonomie“ hört sich im allgemeinen Sprachgebrauch viel nachhaltiger an als etwa das Kunstwort „Chemo-Ökonomie“. Vermutlich würde eine Umfrage in der Bevölkerung, ob Bio- oder Chemo-Ökonomie nachhaltiger seien, zu einem extrem eindeutigen Ergebnis kommen. Wenn jedoch Bioökonomie wirklich per se nachhaltig oder zumindest nachhaltiger wäre, hätte dieses Kapitel nicht geschrieben werden müssen. Dass es nicht so einfach ist, zeigt ein kurzer Blick in die aktuelle Debatte zur Bioökonomie. Die Bioökonomie lässt sich nach der Unterscheidung von Effizienz-, Konsistenz- und Suffizienzstrategien der Nachhaltigkeit (Huber 1995) als Kombination von Effizienz- und Konsistenzstrategie verstehen (Grunwald 2017). Die weitgehende Abstützung von Nahrungsmittel-, Produktions- und Wertschöpfungsketten auf biobasierte Grundstoffe, seien dies nachwachsende Biomasse oder biogene Abfallstoffe, führt diese Ketten dem Anspruch nach näher an natürliche Kreisläufe heran als in der auf fossilen Rohstoffen basierenden Wirtschaft. Dieser Erhöhung der Konsistenz muss die Effizienz zur Seite gestellt werden, um umweltverträgliche Gesamtbilanzen zu ermöglichen. Man kann Bioökonomie als Ansatz verstehen, mit Konsistenz und Effizienz die Umweltbelastung so weit zu reduzieren, dass ein Verbleib im klassischen Wachstumsparadigma (weitgehend) möglich ist. Entsprechend werden Suffizienzstrategien und Verhaltensänderungen in den Debatten der Bioökonomie bislang zu wenig berücksichtigt (Priefer 2018). In diesem Sinne erscheint sie als idealer Ansatz, Grundgedanken des Green Growth umzusetzen (OECD 2011). Auf der anderen Seite findet sich schroffe Kritik. So werde mit der Bioökonomie eine neue Spirale der Indienststellung des Lebens durch die Ökonomie in Gang gesetzt, den „Wegen zum Frieden mit der Natur“ (Meyer-Abich 1984) gerade entgegen gesetzt: „Der Begriff ‚Bioökonomie‘ bezeichnet nicht etwa eine Ökologisierung der Ökonomie, sondern eine Ökonomisierung des Biologischen, also des Lebendigen“ (Gottwald und Krätzer 2014). Ideologiekritisch wird so
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Bioökonomie als Versuch mächtiger Akteure aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gesehen, ihren Partikularinteressen unter dem hehren Mantel der Umweltverträglichkeit nachzugehen. Kritisiert wird auch, dass mit allein auf Effizienz und Konsistenz beruhenden Konzepten wie der Bioökonomie möglicherweise ein grundsätzlich nicht nachhaltiges Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell aufrechterhalten werde statt dieses an der Wurzel zu verändern (Blühdorn 2007). Die Umwertung alles Lebendigen zum Rohstoff Biomasse sei nur ein weiterer Schritt auf einem verhängnisvollen Weg, der die Vernichtung der Existenzgrundlagen der Menschheit beschleunige (Gottwald und Krätzer 2014). Allein die Existenz dieser Debatte motiviert Zweifel, ob die Nachhaltigkeit der Bioökonomie per se gegeben ist. In der Tat muss sie begründet werden. Und wie bei anderen Technologiefeldern auch, geht es nicht um die Frage nachhaltig oder nicht nachhaltig, sondern darum, wie die Bioökonomie durch Lernprozesse zur Nachhaltigkeit beitragen kann. Die Bestimmung von Anforderungen, unter denen Bioökonomie beziehungsweise Beiträge der Bioökonomie zur Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft als nachhaltig angesehen werden können, steht im Mittelpunkt dieses Kapitels (vgl. auch Fritsche und Rösch 2017). Sie nimmt ihren Ausgangspunkt in Überlegungen, auf welche Weise der Begriff der nachhaltigen Entwicklung mit Bedeutung gefüllt wird. Nachhaltigkeit ist nicht im Sinne einer naturwissenschaftlichen Definition bestimmbar, sondern bedarf der stetigen Arbeit an ihrer Bedeutung. Diese wird im vorliegenden Kapitel, basierend auf der Brundtland-Definition, als hermeneutischer Zirkel modelliert (Abschn. 2.2). Als substantielle Festlegung in der Bedeutungsarbeit wird das integrative Konzept nachhaltiger Entwicklung verwendet (Abschn. 2.3). Aus den hierin enthaltenen Nachhaltigkeitsregeln lassen sich Anhaltspunkte finden, was bei der Entwicklung einer nachhaltigen Bioökonomie beachtet werden muss (Abschn. 2.4).1 Auf diese Weise entsteht ein Ausblick auf nachhaltige Zukünfte der Bioökonomie (Abschn. 2.5). Diese erlauben auch, Bezüge zu den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen (UN 2015) herzustellen, wie zum Beispiel in der aktuellen Bioökonomie-Strategie der Europäischen Kommission: „The EU is already a global leader in the sustainable use of natural resources within an efficient bioeconomy, which is essential to most of the Sustainable Development Goals“ (EC 2018, S. 7). Dies übersteigt freilich den Rahmen des vorliegenden Kapitels.
1Dieses
Kapitel führt frühere Arbeiten des Autors zusammen (vor allem Grunwald 2016a, Kap. 2, 4 und 10, und Grunwald 2017) und entwickelt sie weiter im Hinblick auf Bioökonomie.
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2.2 Auf dem Weg zur Bedeutung nachhaltiger Entwicklung Das, was Nachhaltigkeit „bedeutet“, scheint im Großen und Ganzen klar zu sein: es geht um Zukunftsverantwortung und Gerechtigkeit, um die Sicherung der Grundlagen dauerhafter menschlicher Zivilisation auf dem Planeten Erde. Dadurch ist jedoch nicht schon automatisch klar, was nachhaltige Entwicklung im Einzelfall konkret bedeutet. Insbesondere Zielkonflikte und Abwägungsnotwendigkeiten, sobald es um politische oder andere Interventionen in bestehende Wirtschaftsprozesse, Infrastrukturen, Regulierungen oder Anreizsysteme für Konsumhandlungen geht, sind oft nur schwer auflösbar. Der programmatische Konsens verflüchtigt sich dann rasch und macht einer Vielfalt Platz, die oft genug zu konflikthaften Auseinandersetzungen um Interessen führt, denen gegenüber der Nachhaltigkeitsbegriff immer wieder schwach erscheint. Entsprechend wurde in den letzten Jahrzehnten teils heftige Kritik an diesem Begriff geübt (Abschn. 2.2.1). Bedeutungszuschreibungen müssen diese Kritikpunkte ernst nehmen. Meine Antwort setzt an der Definition der Brundtland-Kommission an (Abschn. 2.2.2) und operiert mit einem Modell der Bedeutungsarbeit, das sich anhand der bekannten Denkfigur des hermeneutischen Zirkels erklären lässt (Abschn. 2.2.3) und einen nicht abschließbaren Prozess illustriert (Abschn. 2.2.4).
2.2.1 Kritik am Nachhaltigkeitsbegriff Dass Bedeutungsarbeit für nachhaltige Entwicklung erforderlich ist, lässt sich unmittelbar aus vielen Kritikpunkten an diesem Begriff – nicht unbedingt an den damit transportierten Inhalten – erkennen. Insbesondere von Wissenschaftlern, speziell aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften, aber auch von Praktikern wird immer wieder kritisiert, dass der Begriff nicht klar definiert sei. Entsprechende Kritikpunkte sind (nach Grunwald und Kopfmüller 2012): • Nachhaltige Entwicklung als inhaltsleere Hülle: das Leitbild nachhaltiger Entwicklung sei zwar rhetorisch mächtig, aber inhaltlich leer. Die Akzeptanz des Leitbildes sage konkret nichts aus. Stattdessen könnten sich komplett gegensätzliche Positionen simultan auf Nachhaltigkeit berufen. • Nachhaltige Entwicklung als ideologische Täuschung: die Inhaltsleere lade zum ideologischen Missbrauch ein. Interessenvertreter verkaufen gerne ihre partikularen Interessen unter dem rhetorischen Mantel nachhaltiger Entwicklung.
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• Nachhaltige Entwicklung als Beruhigungspille: der Nachhaltigkeitsbegriff suggeriere, dass die dramatischen Zukunftsprobleme schon irgendwie gelöst werden könnten, wenn man nur lange genug darüber rede. Ob das wirklich der Fall sei, sei unwichtig, solange der Beruhigungseffekt anhalte. • Nachhaltige Entwicklung als Fata Morgana: die moralische Aufladung und das Pathos nachhaltiger Entwicklung seien mit illusionären Erwartungen überladen, Nachhaltigkeit sei eine säkularisierte aber unerreichbare Paradiesvorstellung. Diese Beobachtungen sind nicht originell, sondern begleiten die Debatte zur Nachhaltigkeit von Beginn an. Sie machen deutlich, dass die Akzeptanz der Idee der Nachhaltigkeit auf einer abstrakt-programmatischen oder gar nur rhetorischen Ebene bei Weitem nicht reicht. Wenn die genannten Kritikpunkte zuträfen, wäre eine praktische Arbeit mit dem Nachhaltigkeitsbegriff, also tätige Weltveränderung oder, wie man heute sagt, Transformation in Richtung nachhaltige Entwicklung nicht möglich, weil die Richtung völlig unklar und diffus wäre. So gesehen ist die Tatsache, dass Nachhaltigkeit sich nicht wie ein technischer, naturwissenschaftlicher oder juristischer Begriff klar definieren lässt, in der Tat ein Ärgernis in praktischer Hinsicht. Wenn Nachhaltigkeit eindeutig definierbar wäre, könnte Nachhaltigkeitspolitik als Management in einem festen begrifflichen Rahmen und mit einer klaren Richtungsvorgabe betrieben werden, entlastet von lähmenden Bedeutungsdebatten und langwierigen Auseinandersetzungen. Dass dies nicht so ist, sollte jedoch nicht bedauert werden. Erstens liegt die Unmöglichkeit einer klaren und abschließenden Definition in der Natur der Sache (Abschn. 2.2.2). Und zweitens, vielleicht überraschender, trägt die Nicht-Definierbarkeit der Nachhaltigkeit einen Wert in sich (Grunwald 2016a, Kap. 15). Statt also eine Definition anzustreben, die dann nur angewendet werden muss, ist fortlaufend an der konkreten Bedeutung nachhaltiger Entwicklung zu arbeiten. Es muss um diese Bedeutung gerungen werden.
2.2.2 Die Brundtland-Definition als Ausgangspunkt Die bekannte Bestimmung der Brundtland-Kommission besagt, dass eine Entwicklung dann nachhaltig ist, wenn sie die Bedürfnisse der gegenwärtigen Generation befriedigt, ohne die Möglichkeiten zukünftiger Generationen zu gefährden, deren Bedürfnisse zu befriedigen (Hauff 1987, S. 51). In dieser Definition ist es gelungen, die ethischen Grundgebote der Universalität
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(Kopfmüller 2013) und des Egalitarismus über die Gegenwart hinaus auf zukünftige Generationen auszuweiten (Birnbacher 1988; Grunwald 2013; Ott und Döring 2004). Die Brundtland-Definition ist gleichermaßen genial wie als Rezept unbrauchbar. Wie die Goldene Regel der Ethik oder der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant ist sie keine Regel, wie man handeln soll, sondern eine Regel, wie man überlegen, reflektieren und abwägen soll, um die vielen möglichen Handlungsoptionen nach ihrer Vorzugswürdigkeit unter Nachhaltigkeitsaspekten zu unterscheiden (Grunwald 2016a) und sodann die „nachhaltigste“ Option auswählen zu können. Die Brundtland-Definition sagt nichts über Inhalte und Strategien nachhaltiger Entwicklung aus, sondern nur darüber, nach welcher Maßgabe und in welcher Orientierung nach diesen gesucht werden soll. Sie fungiert als Kompass, legt aber die Mittel nicht fest, um in der durch den Kompass angezeigten Richtung voran zu kommen. Sie ist eine Beurteilungsvorschrift und keine Handlungsregel. Sie sagt aus, worauf es ankommt – auf menschliche Bedürfnisse heute wie in Zukunft –, aber nicht, wie die Bedingungen der Möglichkeit ihrer Realisierung gesichert werden sollen. Wie dieses Reflexionsgebot der Nachhaltigkeit mit Inhalt gefüllt und in Praxis umgesetzt werden soll, ist kontrovers – wie sollte es anders sein? Vorschläge dazu sind nachzulesen in wissenschaftlichen Aufarbeitungen (z. B. Grunwald und Kopfmüller 2012), politischen Programmen (etwa den Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen, UN 2015) und historischen Darstellungen (z. B. Gruber 2010). Ebenso liegt eine Reihe von Versuchen vor, diesen oder jenen Ansatz für eine Konkretisierung als vorzugswürdig zu erweisen (z. B. Kopfmüller et al. 2001; Ott und Döring 2004; Klauer et al. 2013). Dabei ist eine Vielfalt der Perspektiven entstanden, die ressourcenökonomische und naturphilosophische, ethische und gerechtigkeitstheoretische, ökologische und systemanalytische, soziale und kulturelle Aspekte und sicher noch viel mehr Zugänge einschließt. Diese Vielfalt erscheint und wirkt oftmals verwirrend. Sie erscheint vielen sogar als störend, wenn es an praktische Konsequenzen geht. In der Suche nach praktischen Konsequenzen gibt die Brundtland-Definition bestenfalls indirekte Antworten. Ein weiter Brückenschlag ist erforderlich, um vom abstrakten Prinzip und Reflexionsgebot zu Orientierungen für konkrete Fälle zu kommen. Die Brundtland-Definition lässt sich nicht einfach auf konkrete Fälle „anwenden“, etwa im Sinne einer juristischen Subsumtion oder eines praktischen Syllogismus, sondern nur „auf sie beziehen“ (Grunwald 2016a). Sie lässt einen weiten Deutungsraum offen, der der substantiellen Ausfüllung bedarf. In diesem Sinne ist der verbreitete Sprachgebrauch irreführend, die Brundtland- oder eine andere Definition nachhaltiger Entwicklung werde „angewendet“. Sie kann bestenfalls in der Bestimmung konkreter Bedeutung „zugrunde gelegt“ werden.
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2.2.3 Bedeutungsarbeit im hermeneutischen Zirkel Damit rückt die Frage in den Mittelpunkt, wie auf Basis der mit Recht abstrakt bleibenden Brundtland-Definition substantielle Bedeutung für die jeweils anstehenden Fragen der Praxis konstituiert wird, also auch unter welchen Bedingungen bestimmte Technologien, Wertschöpfungsketten oder Branchen der Bioökonomie als nachhaltig beziehungsweise mehr oder weniger nachhaltig bezeichnet werden können. Die Bedeutung nachhaltiger Entwicklung drückt sich darin aus, auf welche Weise die bloß orientierende Brundtland-Definition substantiell mit Inhalt gefüllt wird. Dieses „Füllen“ ist der entscheidende Schritt in der Bedeutungsfestlegung, denn hierbei werden substantielle Entscheidungen mit Folgen für alles Weitere getroffen. Sowohl Angaben über das Objekt der Transformation – den Gegenstand der Nachhaltigkeit – als auch über die Richtung der Transformation – determiniert durch Bewertungskriterien – werden benötigt. Der komplexe und nunmehr seit (mindestens) 30 Jahren laufende und oft kontroverse Prozess der Bestimmung der substantiellen Bedeutung nachhaltiger Entwicklung ist ein Kommunikations- und Verständigungsprozess, in dem unterschiedliche Akteure mit ihren je unterschiedlichen Diagnosen, wissenschaftlichen Hintergründen, weltanschaulichen Überzeugungen, Wissensbeständen, Werten, Zukunftserwartungen oder -befürchtungen und wahrscheinlich vielen weiteren Ingredienzien die „Arena“ der Nachhaltigkeit betreten. Dort haben sie ihre Überlegungen hinsichtlich Gegenstandsbereich und Bewertungskriterien nachhaltiger Entwicklung vorgebracht und bringen sie weiterhin vor (Grunwald 2016a). Hierbei wurden und werden Texte angefertigt, Diskussionen veranstaltet, Praxisfelder eröffnet, Maßnahmen in die Tat umgesetzt, Partizipationsprozesse organisiert, Konsenspapiere verabschiedet, Kontroversen ausgetragen, politische Entscheidungen getroffen, zivilgesellschaftliche Bewegungen gegründet, und vieles mehr. Das Verständnis von Nachhaltigkeit hat sich auf diese Weise in einem vielschichtigen Prozess weiterentwickelt. In diesen Debatten spielen einerseits theoretische Überlegungen eine wichtige Rolle (vgl. Grunwald 2013, 2016a, Teil II): die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit von Nachhaltigkeit mit permanentem Wirtschaftswachstum (z. B. Luks 2013), die Debatten zwischen den mit Säulen oder Dimensionen arbeitenden Konzepten und den integrativen Ansätzen, die Debatte über die Endlichkeit der Ressourcen und die Tragekapazität des Planeten, die Debatte zwischen starker und schwacher Nachhaltigkeit etc. Andererseits aber wird auch in der Praxis notwendig Bedeutung erzeugt. Dies erfolgt wohl in jedem praktischen Nachhaltigkeitsprojekt. Dort kann
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es nie nur darum gehen, vorhandene Nachhaltigkeitsverständnisse bloß „anzuwenden“. Stattdessen muss im jeweiligen Kontext bestimmt werden, was Nachhaltigkeit hier konkret und substantiell bedeutet beziehungsweise besser bedeuten soll. Vermutlich ist in diesem Sinne jede Praxis nachhaltiger Entwicklung, ob nun in Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft oder Wissenschaft, durchzogen von Elementen der Bedeutungsproduktion. Praxis ist nicht „nur“ Praxis, sondern simultan Mitwirkung an der weiteren Ausdeutung des Nachhaltigkeitsbegriffs. Die Praxis der Nachhaltigkeit ist Ko-Produzentin ihrer Bedeutung. Es liegt also ein gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen theoretischer und praktischer Bedeutungserzeugung vor (Grunwald 2013, 2016a). Bedeutung, Sinn und Ausrichtungen, Themen und Ziele nachhaltiger Entwicklung sind keineswegs kanonisiert, sodass Politik, Wissenschaft und Praxis nur ausführen müssten, was im Katechismus nachhaltiger Entwicklung steht. In Praxis, Politik und Wissenschaft wird nicht einfach das exekutiert, was an anderer Stelle mit „Deutungshoheit“ festgelegt wurde, sondern Praxis, Politik und Wissenschaft sind, in dem sie in ihren jeweiligen Dimensionen arbeiten, immer auch in den Prozess der Erzeugung, Zuschreibung und Präzisierung von Inhalten und Bedeutung nachhaltiger Entwicklung involviert – in Wechselwirkung mit theoretisch motivierten Vorstößen. Die Zuschreibung von Bedeutung an den Begriff der Nachhaltigkeit in diesem Theorie/Praxis-Verhältnis kann als hermeneutischer Zirkel (Grunwald 2016b) modelliert werden (s. Abb. 2.1). Einmal angestoßen (z. B. kann der Bericht der Brundtland-Kommission als ein solcher Anstoß verstanden werden, obgleich auch er eine Vorgeschichte hat), intervenieren Akteure aus Wissenschaft, Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft etc. in diesen Zirkel, bereichern ihn durch eigene Bedeutungsangebote, kritisieren bestehende Zuschreibungen, bringen Alternativen ins Spiel, führen synoptische Vergleiche durch und mühen sich darin, die aus ihrer Sicht möglichst vorzugswürdigen Bedeutungszuschreibungen argumentativ zu untermauern. Dieser Zirkel ist kein rein kommunikatives Geschehen, das nur sich selbst weiterentwickelt. Ganz zentral sind die praktischen Auswirkungen dieser stetigen Bedeutungsarbeit (in Abb. 2.1 rechts oben symbolisch dargestellt). Aus dem laufenden Zirkel heraus kommt es immer wieder zu praktischen Konsequenzen, wenn zum Beispiel Lokale Agenda-Prozesse durchgeführt werden, wenn nationale Nachhaltigkeitsstrategien etabliert werden, wenn Konsumenten sich einem nachhaltigeren Lebensstil anschließen oder Unternehmen sich einem Sustainability Reporting unterziehen. Bedeutungsarbeit hat also transformative Kraft: sie motiviert zu Transformation, und gleichzeitig orientiert sie die Richtung von Transformation.
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Abb. 2.1 Der hermeneutische Zirkel der Bedeutungszuschreibung an Nachhaltigkeit. (Quelle: Grunwald 2016b, modifiziert)
Die Mitwirkung der Praxis an der Bedeutungskonstitution dürfte freilich häufig eher implizit sein. Denn in Praxis, Politik und Wissenschaft muss in der Regel so gehandelt werden, als ob die Bedeutung nachhaltiger Entwicklung hinreichend klar sei. Ohne temporäre und kontextbezogene Festlegungen der Bedeutung von Nachhaltigkeit, ohne also ein „Einfrieren“ der Bedeutungsdebatte, wären die Akteure der Praxis nicht handlungsfähig. Grundsatzfragen nach der Bedeutung nachhaltiger Entwicklung müssen in praktischen Projekten mit gutem Grund häufig ausgeblendet werden. Ansonsten würden sich Projekte und Teams in prinzipiellen Bedeutungsdebatten verlieren. Praxis findet dann in einem Modus des „als ob“ statt: es wird gehandelt, als ob die Bedeutung nachhaltiger Entwicklung feststehe – und in der Tat muss sie für eine gewisse Zeit, etwa die Dauer eines Projekts, festgeschrieben sein, um Umsetzung zu ermöglichen. Wichtig ist, dass diese Festschreibungen temporär bleiben und immer wieder reflektiert werden, zum Beispiel am Ende von Projekten oder anlässlich der Einleitung neuer Phasen in politischen Nachhaltigkeitsprogrammen. Derartige Punkte bilden ideale Möglichkeiten, die „eingefrorene“ Bedeutungsdebatte wieder „aufzutauen“, die während der Praxisperiode gemachten Erfahrungen zu reflektieren und sie auf mögliche Rückwirkungen auf den übergreifenden hermeneutischen Zirkel zu befragen. Auf diese Weise entsteht ein spezifisches Theorie/Praxis-Verhältnis der Nachhaltigkeit (Grunwald 2013).
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2.2.4 Kein Ende der Bedeutungsarbeit in Sicht Gelegentlich wird die Hoffnung geäußert, dass der bereits seit Jahrzehnten laufende Prozess der Bedeutungszuschreibung zu Nachhaltigkeit einmal an ein Ende kommen werde, dass sich also so etwas wie die „wahre“ Bedeutung über die Zeit herausstellen werde. Dem Gesagten nach wird sich diese Hoffnung nicht erfüllen. Das Bild des hermeneutischen Zirkels trägt bereits den Verdacht der Unabschließbarkeit in sich – begründet ist dieser Verdacht letztlich dadurch, dass die Brundtland-Definition wie auch andere Ansätze auf dieser prinzipiellen Ebene wie etwa der kategorische Imperativ von Hans Jonas (1979) ausschließlich Reflexionsgebote und keine Handlungsanweisungen sind und sein können (s. o.). Nachhaltigkeit steht damit in Bezug auf Diversität, Vielfalt und Kontroversen in bester Gesellschaft mit anderen Herausforderungen menschlichen Denkens und Lebens, die sich in ähnlich großen Begriffen wie etwa Gerechtigkeit, Demokratie, gutes Leben, Menschenwürde und Transzendenz spiegeln. Es sind die großen Fragen der Menschheit, die sich hinter Begriffen dieses Formats verbergen und die entsprechende Tragweite haben, permanente Reflexion erfordern, Konflikte in sich tragen und dabei „große“ Debatten erzeugen: „An inherent difficulty in the applications of these concepts is that, by their nature, they are rather imprecise. They fall into the same sort of category as ‚justice‘ or ‚well-being‘, and it can be counterproductive to seek definitions that are too narrow“ (Walker et al. 2004, S. 1).
Entsprechend kann der Nachhaltigkeitsbegriff grundsätzlich nicht abschließend logisch oder empirisch geklärt werden. Vielmehr muss er immer wieder neu akzentuiert, mit Bedeutung substantiiert, zwischen Akteuren ausgehandelt und in Bezug auf Folgen für die Praxis interpretiert werden. Hoffnungen auf eine objektive und abschließende Bestimmung von Nachhaltigkeit sind a priori zum Scheitern verurteilt – sie kollidieren mit wesentlichen Charakteristika des Begriffs selbst. Die im Begriff der Nachhaltigkeit kodierten Fragen begleiten uns, wir müssen mit ihnen Seite an Seite leben, ihnen eine sprachliche Gestalt geben und immer neu Wege aushandeln, mit der ihnen inhärenten Offenheit umzugehen, die jeweils nächsten Schritte reflektiert zu gehen, ohne aber gleich schon einen Plan für die übernächsten zu haben. Dies ist kein Grund zur Klage, sondern Motivation zur Mitwirkung an diesem gestaltungsoffenen Prozess.
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2.3 Ein Bedeutungsangebot: das integrative Konzept Das integrative Konzept nachhaltiger Entwicklung (Kopfmüller et al. 2001) ist ein spezifisches Deutungsangebot. Zur Erarbeitungszeit vor knapp 20 Jahren lagen bereits viele Ausarbeitungen zur Nachhaltigkeit vor, darunter einige mit hohem programmatischen Anspruch und politischer Legitimation wie etwa der Bericht der Brundtland-Kommission (Hauff 1987) und die Dokumente des Rio-Prozesses (UN 1992), der auf dem World Summit 1992 in Rio de Janeiro mit völkerrechtlich verbindlichen Festlegungen wie etwa der Klimarahmenkonvention in Gang gesetzt wurde. Eine erste Aufgabe war, diese Dokumente und den Stand der wissenschaftlichen Befassung mit Nachhaltigkeit zu analysieren und in Diagnosen, Prämissen, Wertungen, Vorschlägen, Unterschieden und Gemeinsamkeiten zu verstehen (Jörissen et al. 2001). Diese texthermeneutische und synoptische Tätigkeit war im vorgestellten Modell der Bedeutungsarbeit nichts weiter als eine Analyse des damaligen Standes des hermeneutischen Zirkels der Bedeutungsarbeit an Nachhaltigkeit. Das integrative Konzept als neues Bedeutungsangebot stellte sodann eine Intervention in den weiter laufenden Zirkel dar, die sodann von anderen aufgegriffen, interpretiert, weiterentwickelt oder kritisiert wurde (z. B. Kopfmüller 2006). Der Deutungsraum nachhaltiger Entwicklung – genau das alles, was die Brundtland-Definition klugerweise nicht festlegt – ist im integrativen Konzept auf eine bestimmte Weise mit Bedeutung gefüllt worden. Zunächst erfolgte die Bestimmung konstitutiver Charakteristika des Begriffs nachhaltiger Entwicklung auf Basis politisch legitimierter Dokumente, etwa im Rio- und Rio-Nachfolge-Prozess. Diese oft sehr allgemein formulierten inhaltlichen Bestimmungen wurden sodann in dem für eine Nachhaltigkeitskonzeption notwendigen Maß auf Basis wissenschaftlicher und philosophischer Grundlagen konkretisiert. Das Ergebnis besteht in drei konstitutiven inhaltlichen Elementen einer nachhaltigen Entwicklung: 1) intra- und intergenerative Gerechtigkeit, 2) globale Orientierung und 3) anthropozentrischer Ansatz (Abb. 2.2; vgl. Kopfmüller et al. 2001, Abschn. 4.2 und 4.3). Durch diese konstitutiven Elemente werden Bedeutung und damit Unterscheidungsleistung des Nachhaltigkeitsbegriffs präzisiert. Das Postulat global verstandener Gerechtigkeit in Zeit und Raum soll auf die menschliche Nutzung von (natürlichen und sozialen) Ressourcen und ihre Weiterentwicklung bezogen werden. Mit dieser Orientierung im Rücken wurden generelle Ziele nachhaltiger Entwicklung formuliert (Abb. 2.2). Sie stehen in einer gewissen Analogie zu den von Edith Brown-Weiss (1989) formulierten Grundsätzen inter- und intra-
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Abb. 2.2 Architektur des integrativen Konzeptes. (Quelle: Kopfmüller et al. 2001, modifiziert nach Grunwald 2016a)
generativer Gerechtigkeit eines „Planetary Trust“, dehnen jedoch den Begriff der Ressource über die ökologische Dimension hinaus auf gesellschaftliche Fragestellungen aus. Sie stellen sowohl notwendige als auch (in einem schwächeren Sinne) hinreichende Bedingungen der Realisierung der aus den konstitutiven Elementen erwachsenden Anforderungen an eine Operationalisierung von Nachhaltigkeit dar (Grunwald 2016a, Abschn. 4). Die Frage nach den Mindestanforderungen, die in verschiedenen Hinsichten erfüllt sein müssen, damit diese generellen Ziele überhaupt erfüllt werden können, führt auf das zentrale Element des integrativen Konzepts: die Nachhaltigkeitsregeln. Sie sind zwei unterschiedlichen Gruppen zugeordnet: • substantielle Regeln („Was-Regeln“) geben Antworten auf die Frage, was erfüllt werden muss, damit die generellen Ziele überhaupt erfüllbar werden können (Tab. 2.1)
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Tab. 2.1 Die substantiellen Mindestanforderungen an Nachhaltigkeit Regeln
Ziele 1. Sicherung der mensch- 2. Erhaltung des lichen Existenz gesellschaftlichen Produktivpotentials
3. Bewahrung der Entwicklungs- und Handlungsmöglichkeiten
1. Schutz der menschlichen Gesundheit
1. Nachhaltige Nutzung erneuerbarer Ressourcen
1. Chancengleichheit im Hinblick auf Bildung, Beruf, Information
2. Gewährleistung der Grundversorgung
2. Nachhaltige Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen
2. Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen
3. Selbständige Existenz- 3. Nachhaltige Nutzung sicherung der Umwelt als Senke
3. Erhaltung des kulturellen Erbes und der kulturellen Vielfalt
4. Gerechte Verteilung der 4. Vermeidung unvertret- 4. Erhaltung der Umweltnutzungsmöglich- barer technischer Risiken kulturellen Funktion der Natur keiten 5. Ausgleich extremer Einkommens- und Vermögensunterschiede
5. Nachhaltige Entwicklung des Sach-, Human- und Wissenskapitals
5. Erhaltung der „sozialen Ressourcen“
Quelle: Eigene Darstellung nach Kopfmüller et al. (2001, S. 172)
• instrumentelle Regeln („Wie-Regeln“) geben Antworten, wie die Gesellschaft sich organisieren muss, damit die substantiellen Regeln überhaupt erfüllt werden können (Tab. 2.2) Im integrativen Konzept stellten die substantiellen Nachhaltigkeitsregeln inhaltliche Mindestanforderungen dar, auf die alle heute und zukünftig lebenden Menschen unter dem Begriff der Nachhaltigkeit einen Anspruch haben. Sie sind auf verschiedene Aspekte gesellschaftlicher Entwicklung bezogen und dienen als Leitorientierungen für künftige Entwicklungspfade und als Prüfkriterien für die Bewertung unter Nachhaltigkeitsaspekten. Aufgrund ihrer dem Anspruch nach universellen, das heißt system- und kontextunabhängigen Geltung sind sie relativ abstrakt formuliert. Ihre Konkretisierung und Kontextualisierung in Bezug auf Regionen, Politikfelder, Wirtschaftsbereiche etc. erfolgt in der Regel anhand von Indikatoren und der jeweiligen spezifischen Anforderungen (Grunwald und Kopfmüller 2012).
32 Tab. 2.2 Die instrumentellen Mindestanforderungen
A. Grunwald Internalisierung externer sozialer und ökologischer Kosten Angemessene Diskontierung Verschuldung der öffentlichen Hand Faire weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen Gerechte internationale Zusammenarbeit Resonanzfähigkeit der Gesellschaft Reflexivität der Gesellschaft Steuerungsfähigkeit Selbstorganisation Machtausgleich Quelle: Eigene Darstellung nach Kopfmüller et al. (2001, Kap. 6)
Die instrumentellen Regeln der Nachhaltigkeit (Tab. 2.2) zielen auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die gegeben sein müssen, um eine nachhaltige Entwicklung zu realisieren. Sie beziehen sich auf ökonomische und politisch-institutionelle, aber auch ethische und kulturelle Aspekte nachhaltiger Entwicklung (vgl. im Detail Kopfmüller et al. 2001, Kap. 6). Die Regeln beiderlei Gestalt dienen als Prüfkriterien, mit deren Hilfe nachhaltige und nicht-nachhaltige Zustände und Entwicklungen ermittelt werden können. Sie sollen klären helfen, was als nachhaltig und was als weniger nachhaltig anzusehen ist. Die Regeln stellen die normative Basis und Orientierung für gesellschaftliche Lernprozesse in Bezug auf nachhaltige Entwicklung dar. Sie lösen noch nicht unmittelbar die Anforderungen an eine Operationalisierung ein – dies bedürfte der Bestimmung von Indikatoren, um Erfüllung beziehungsweise Nicht-Erfüllung der Regeln empirisch untersuchen zu können (dazu Kopfmüller et al. 2001, Kap. 7). Das Regelsystem dient damit auch als Basis für die weitere Operationalisierung von Nachhaltigkeit auf der Indikatorebene. Die Regeln können in unterschiedlichen Graden erfüllt werden. In Konfliktfällen muss eine Güterabwägung stattfinden. Dabei kann festgestellt werden, dass eine der beiden konfligierenden Regeln unter bestimmten Umständen Vorrang hat, während unter anderen Umständen die Vorrangfrage neu zu entscheiden wäre. Im Konfliktfall wird keine der betroffenen Regeln für ungültig erklärt, sondern es erfolgt eine Abwägung (Dusseldorp 2017). Das System der Nachhaltigkeitsregeln ist Mittel zur Erreichung des Oberzieles einer nachhaltigen Entwicklung. Das Ausmaß dieser Zielerreichung ist nicht im Vorhinein absehbar; es bedarf empirischer Analysen, um dies zu beurteilen. Aus diesem Grund und weil das Ausmaß der Zielerreichung sich im Lauf der Zeit auf-
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grund neuer Umstände ändern kann, sind ein ständiges Monitoring nachhaltigkeitsrelevanter Parameter und entsprechende Rückkopplungsprozesse erforderlich, um einen Prozess der Annäherung an nachhaltige Entwicklung dauerhaft zu implementieren. Die Herausforderung besteht darin, einen Prozess auf den Weg zu bringen, in dem aber der Weg keineswegs schon das Ziel ist, sondern in dem der Weg in einem ständig weiterlaufenden Lernprozess durch das normative Leitbild der nachhaltigen Entwicklung und der jeweils erforderlichen Bedeutungsarbeit orientiert wird.
2.4 Orientierungen zur Zukunft nachhaltiger Bioökonomie Das integrative Nachhaltigkeitskonzept ist nicht eigens als Instrument der Technikbewertung oder der Analyse von Transformationsfeldern der industriellen Produktion wie der Bioökonomie entwickelt worden. Es bezieht sich vielmehr auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung, in der einzelne Technikfelder und ökonomische Sektoren immer nur eine Teilrolle spielen. Die Nutzung des Konzepts für Fragen einer nachhaltigen Bioökonomie bedarf daher einer Kontextualisierung. Zunächst geht es darum festzustellen, welche Nachhaltigkeitsregeln für die Bioökonomie besonders relevant sind. Wie Nachhaltigkeit und Bioökonomie verbunden sind, ist selbstverständlich nicht pauschal zu klären, sondern wird von Fall zu Fall variieren. Eine ganze Reihe von Regeln kann jedoch prima facie als einschlägig für die Bewertung von Feldern der Bioökonomie gelten (folgend Grunwald 2016a, Kap. 10). Im Folgenden werden charakteristische Aspekte des Technik- und Bioökonomiebezugs dieser Regeln mit Angabe des Wortlauts der Regel kurz dargestellt. Diese Liste enthebt allerdings nicht von der Verpflichtung, in konkreten Projekten zur Nachhaltigkeitsbewertung von bioökonomischen Strategien oder Maßnahmen die komplette Liste der Regeln in Bezug auf die jeweilige Relevanz zu prüfen. Erhalt der menschlichen Gesundheit: Gefahren und unvertretbare Risiken für die menschliche Gesundheit durch anthropogen bedingte Umweltbelastungen sind zu vermeiden. Herstellung, Nutzung und Entsorgung von Technik haben häufig Folgen, die sich kurz- oder langfristig negativ auf die menschliche Gesundheit auswirken können. Hierzu gehören Unfallgefahren in der industriellen Produktion (Arbeitsunfälle), aber auch in der alltäglichen Nutzung von Technik, sowie schleichende Technikfolgen, die über Emissionen in die Umweltmedien mittel- oder
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langfristig gesundheitsgefährdende Wirkungen haben können. Beispiele sind Verunreinigungen durch Pestizide, Rückstände von Arzneimitteln im Grundwasser oder Fein- und Ultrafeinstäube. Auch wenn die Bioökonomie den Ersatz fossiler oder chemisch hergestellter durch biobasierte Stoffe verspricht, ist jeweils eine Prüfung im Einzelfall erforderlich. Sicherung der Grundversorgung: Für alle Mitglieder der Gesellschaft muss ein Mindestmaß an Grundversorgung (Wohnung, Ernährung, Kleidung, Gesundheit) sowie die Absicherung gegen zentrale Lebensrisiken (Krankheit, Invalidität) gewährleistet sein. In der Sicherung der menschlichen Grundbedürfnisse durch das Wirtschaftssystem spielt Technik eine herausragende Rolle. Gleichzeitig entstehen negative Folgen aus dieser in den Industrieländern verbreiteten Art der Bedürfnisbefriedigung. Es ist aber auch daran zu denken, dass ein großer Teil der Weltbevölkerung nach wie vor von diesen technisch ermöglichten Sicherungen der Grundversorgung abgeschnitten ist. So haben zum Beispiel ca. 2 Mrd. Menschen keinen Zugang zu einer geregelten Energieversorgung. Weltweit haben ca. 1,2 Mrd. Menschen keine ausreichende Versorgung mit sauberem Trinkwasser. Eine ganze Reihe der 17 von den Vereinten Nationen 2015 verabschiedeten Sustainable Development Goals (SDG) bezieht sich auf die Überwindung bislang nicht gewährleisteter Grundversorgung. Es bedarf angepasster Konzepte an die jeweils lokal oder regional geltenden Randbedingungen. Hier stellen sich der Bioökonomie ganz andere Fragen als in industrialisierten Ländern, etwa im Hinblick auf die Sicherung der Lebensgrundlagen ländlicher beziehungsweise agrarischer Bevölkerung. Nutzung erneuerbarer Ressourcen: Die Nutzungsrate sich erneuernder Ressourcen darf deren Regenerationsrate nicht überschreiten sowie die Leistungs- und Funktionsfähigkeit des jeweiligen Ökosystems nicht gefährden. Die Umstellung von Wirtschaftsprozessen von nicht erneuerbaren auf erneuerbare Rohstoffe ist zentrales Thema der Bioökonomie, zum Beispiel durch Nutzung von biogenen Energieträgern und bio-basierten Materialien. Die Regel zu erneuerbaren Ressourcen besagt, dass diese Umstellung nicht per se nachhaltig ist, sondern bestimmten Anforderungen genügen muss. Zum einen kommt es darauf an, die Entnahme an Ressourcen so schonend zu gestalten, dass der Bestand nicht gefährdet wird. Durch menschliche Nutzung soll nicht mehr verbraucht werden als sich erneuern kann. Zum anderen ist zu beachten, dass die betroffenen Ökosysteme nicht überlastet werden, zum Beispiel durch hohen Eintrag von Mineraldüngern oder Pestiziden. Technik spielt eine wesentliche
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Rolle in der möglichst effizienten Nutzung der entnommenen Ressourcen, zum Beispiel in der energetischen Nutzung von Biomasse und in der Minimierung problematischer Emissionen. Zur Nachhaltigkeitsbewertung sind sämtliche relevanten Effekte während der gesamten Kette von der Erzeugung der Rohstoffe, ob nun auf landwirtschaftlicher Nutzfläche oder in technischen Anlagen (z. B. Ketzer et al. 2017 für Mikroalgen) über die Nutzungsphase bis zum Ende des Lebenszyklus zu integrieren. Nutzung nicht erneuerbarer Ressourcen: Die Reichweite der nachgewiesenen nicht erneuerbaren Ressourcen ist über die Zeit zu erhalten. Nicht erneuerbare Ressourcen sind durch ihre Endlichkeit eine Herausforderung für Nachhaltigkeit (Meadows et al. 1972). Der Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen wie fossiler Energieträger oder bestimmter Materialien erfordert eine besonders enge Verbindung zur Technik und zum technischen Fortschritt. Die Reichweitenregel verdeutlicht dies unmittelbar: der Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen darf nur dann als nachhaltig bezeichnet werden, wenn die zeitliche Reichweite der Ressource in die Zukunft hinein nicht abnimmt. Dies scheint paradox, denn jede Nutzung macht den weiter verfügbaren Vorrat kleiner. Es funktioniert nur, wenn der technische Fortschritt eine so erhebliche Effizienzsteigerung des Verbrauchs dieser Ressource in der Zukunft ermöglicht, dass die durch den Verbrauch zwangsläufig erfolgende Abnahme des Bestandes sich nicht negativ auf die zeitliche Reichweite des Restbestandes auswirkt. Es wird hier also eine bestimmte Mindestgeschwindigkeit des technischen Fortschritts vorausgesetzt. Die Reichweitenregel koppelt direkt an Effizienzstrategien der Nachhaltigkeit an; man kann sie geradezu als eine Verpflichtung zur Effizienzsteigerung durch technischen Fortschritt und entsprechende gesellschaftliche Nutzungskonzepte für den Verbrauch nicht erneuerbarer Ressourcen lesen. Die Bioökonomie verspricht die Entwicklung von Alternativen zu diesem Modell: die Substitution nicht erneuerbarer durch erneuerbare Ressourcen in Herstellung und Nutzung von Technik. Nutzung der Umwelt als Senke: Die Freisetzung von Stoffen darf die Aufnahmefähigkeit der Umweltmedien und Ökosysteme nicht überschreiten. Durch Rohstoffabbau, Stoffverarbeitung, Transporte, Herstellungsprozesse, die vielfältigen Formen der Nutzung von Technik, durch den Betrieb technischer Anlagen und durch Entsorgungsprozesse wird eine Fülle von stofflichen Emissionen produziert und in die Umweltmedien Wasser (Grundwasser, Oberflächengewässer und Ozeane), Luft und Boden entlassen. Diese Prozesse führen regional häufig zu erheblichen Problemen, vor allem für Luftqualität,
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kosysteme, Biodiversität und das Süßwasser. Die Bioökonomie verspricht durch Ö die Schließung von Kreisläufen auf Basis biogener Rohstoffe eine deutliche Milderung dieser Probleme. Andererseits kann es auch zu gegenläufigen Effekten kommen, etwa im hoch intensiven Anbau von Energiepflanzen durch Pestizideintrag und Überdüngung. Vermeidung technischer Großrisiken: Technische Risiken mit möglicherweise katastrophalen Auswirkungen für Mensch und Umwelt sind zu vermeiden. Diese Regel bezieht sich auf drei verschiedene Kategorien technischer Risiken (Kopfmüller et al. 2001, Abschn. 5.2.4): 1) Risiken mit verhältnismäßig hoher Eintrittswahrscheinlichkeit, bei denen jedoch das Ausmaß der potentiellen Schäden lokal oder regional begrenzt ist, 2) Risiken mit geringer Eintrittswahrscheinlichkeit, aber hohem Schadenspotential für Mensch und Umwelt, 3) Risiken, die mit großer Ungewissheit behaftet sind, da weder Eintrittswahrscheinlichkeit noch Schadensausmaß derzeit hinreichend genau abgeschätzt werden können. Im Bereich der Bioökonomie sind mögliche Risiken der Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen zu nennen, die vor allem in den 1980er und 1990er Jahren stark diskutiert wurden und Anlass zur Einführung des Vorsorgeprinzips in der Umweltgesetzgebung der EU waren (von Schomberg 2005). In der Umsetzung sollte Forschung zu gentechnisch veränderten Organismen zunächst im Labor unter Hochsicherheitsbedingungen stattfinden, um erstes Wissen über mögliche Risiken zu gewinnen. Sobald gewisse Großrisiken nach bestem Wissen und Gewissen ausgeschlossen werden können, sollte dann weitere Forschung unter allmählich gelockerten Sicherheitsbestimmungen möglich sein. Gegenwärtig obliegt die Genehmigung von Freilandversuchen dem Robert-Koch-Institut (RKI). Erhalt von kulturellen Funktionen der Natur: Kultur- und Naturlandschaften beziehungsweise Landschaftsteile von besonders charakteristischer Eigenart und Schönheit sind zu erhalten. Die natürliche Umwelt ist keineswegs nur eine ökonomisch nutzbare Ressource, zum Beispiel in Form von Rohstoffen oder Flächen, die der menschlichen Nutzung offen stehen. Sondern Natur hat auch ästhetische Werte der Kontemplation, der Achtsamkeit, des Respekts vor dem Leben (Gottwald und Krätzer 2014) oder den Hervorbringungen der geologischen wie der biologischen Evolution. Großartige Landschaften sind, neben unzähligen kleinräumigen und regionalen Kleinoden der Natur, Beispiele, dass die Natur auch ästhetisch wertvolle und unersetzbare Erfahrungen ermöglicht und dass religiöse oder durch Traditionen erfolgte Wertzuschreibungen berücksichtigt werden müssen, soll auch zukünftigen Generationen die Möglichkeit offen stehen, entsprechende Erfahrungen zu machen
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(Grunwald 2015). Dies gilt auch für einige durch den Menschen transformierte Kulturlandschaften (z. B. Ketzer et al. 2016; Leible et al. 2015). Beispielsweise hat der Widerstand in vielen Alpenregionen gegen neue Wasserkraftwerke und die damit verbundene Flutung ganzer Alpentäler jenseits der ökonomischen Sorgen um den Tourismus kulturelle und ästhetische Hintergründe. In Deutschland ist analog lokaler und regionaler Widerstand zum Beispiel gegen Hochspannungstrassen und Windenergieparks aufgekommen. Ein Anliegen im naturphilosophischen Hintergrund des Ökomodernismus (Manifest 2015; Grunwald 2016a, Kap. 6) ist es gerade, durch den technischen Fortschritt die Entwicklung der menschlichen Zivilisation und Wirtschaft so weit unabhängig von natürlichen Ressourcen zu machen, dass wieder mehr Raum für ästhetische und spirituelle Erfahrung entsteht. Für die Bioökonomie ist diese Regel eine besondere Herausforderung, steht sie doch immer wieder in der Kritik, Natur und Leben auf ökonomisch nutzbare Biomasse zu reduzieren und den Blick auf ihre kulturelle und ästhetische Dimension zu ignorieren (Gottwald und Krätzer 2014). Während viele der anderen Nachhaltigkeitsregeln in mehr oder weniger ähnlicher Form auch in anderen Nachhaltigkeitskonzepten auftreten, stellt diese Regel ein spezifisches Resultat des integrativen Konzepts (s. Tab. 2.1) dar. Partizipation an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen: Allen Mitgliedern einer Gesellschaft muss die Teilhabe an den gesellschaftlich relevanten Entscheidungsprozessen möglich sein. Diese Regel hat in Bezug auf Technik eine substantielle und eine prozedurale Seite. Zum einen (substantiell) hat sie Auswirkungen auf die Gestaltung von Technologien, die der Partizipation dienen (können) wie zum Beispiel online-gestützte Beteiligungsmöglichkeiten. Hier fordert die Regel zu einer weitest gehenden Ausschöpfung solcher Partizipationspotentiale auf. Zum anderen zielt die Regel auf die Erhaltung, Erweiterung und Verbesserung demokratischer Formen der Entscheidungsfindung und Konfliktregulierung, insbesondere im Hinblick auf solche Entscheidungen, die für die künftige Entwicklung und Gestaltung der (Welt-)Gesellschaft von zentraler Bedeutung sind. Die zukünftige Energieversorgung, weit reichende ethische Fragen der biomedizinischen Wissenschaften mit möglicherweise erheblichen kulturellen Folgen, Fragen der Risikoakzeptanz und -akzeptabilität im Falle gentechnisch veränderter Nahrungsmittel sind Beispiele für Technikentwicklungen von ganz erheblicher Nachhaltigkeitsrelevanz, welche nach dieser Regel mit partizipativen Methoden behandelt werden sollten. Die Regel gibt aber selbstverständlich weder Form noch Verfahren der Partizipation vor; dies muss vielmehr kontextabhängig entschieden werden. In der Bioökonomie reichen entsprechende Kontexte
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vom lokalen Bereich, etwa die konkrete Landnutzung betreffend, bis hin zu großindustriellen Anlagen. Reflexivität: Es sind institutionelle Bedingungen zu entwickeln, um eine über die Grenzen partikularer Problembereiche und über Einzelaspekte hinausgehende Reflexion von gesellschaftlichen Handlungsoptionen zu ermöglichen. Angesichts der weitgehenden gesellschaftlichen Folgen von Technik fordert die instrumentelle Nachhaltigkeitsregel zur Reflexivität dazu auf, a) das Folgenbewusstsein zu stärken, Folgenforschung und Folgenreflexion durchzuführen und die gesellschaftlichen Teilsysteme (insbesondere Politik, Wirtschaft und Wissenschaft) hierfür zu sensibilisieren, b) eine umfassende und multiperspektivische Sicht auf die Folgen zu etablieren statt bloß spezifische Folgenbereiche in den Blick zu nehmen, und c) in den gesellschaftlichen Meinungsbildungen und Entscheidungsprozessen genügend Ressourcen und Zeit für die Folgenreflexion bereitzustellen. Für die Bioökonomie bedeutet dies, dass in ihrer weiteren Entwicklung Bedingungen erhalten beziehungsweise geschaffen werden müssen, damit ein begleitendes Monitoring und Folgenforschung unter Berücksichtigung systemischer Verflechtungen mit Gesellschaft einerseits und ökosystemaren Zusammenhängen andererseits etabliert werden können. Das Ziel ist, einen reflektierten und lernenden Zugang zu einer stärker bioökonomie-basierten Zukunft zu etablieren. Für die Transformation zur Nachhaltigkeit ist hier zum Beispiel der Ansatz der „Reflexive Governance“ (Voß et al. 2006) einschlägig. *
Die Nachhaltigkeitsregeln des integrativen Konzepts lassen sich – wie auch Regeln und Prinzipien anderer Konzepte – nicht direkt in Vorgaben für Technikgestaltung oder gar in Leistungsmerkmale für bioökonomische Innovationspfade übersetzen. Ihre Anwendung auf Nachhaltigkeitsbewertungen für die Bioökonomie ist keine top-down-Anwendung, sondern ein weiterer Schritt in der Übersetzung des Reflexionsgebots der Brundtland-Definition auf Ebenen, in denen die Bioökonomie eine besonders relevante Rolle spielt. Ein Nebenergebnis der Auflistung der Regeln ist, dass es keinen Sinn macht, von der Nachhaltigkeit „der Bioökonomie“ zu sprechen. Nachhaltigkeitsbewertungen bestimmter Technologien oder Innovationspfade können nach manchen Regeln positiv, nach anderen negativ ausfallen. Integrative Bewertungen und der Umgang mit Zielkonflikten sind erforderlich, um zu einer übergreifender Beurteilung zukommen. Dies verweist zurück auf die Notwendigkeit von Bedeutungsarbeit an nachhaltiger Entwicklung in jedem einzelnen Projekt (s. o.).
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2.5 Zusammenfassung: Nachhaltige Zukünfte der Bioökonomie Die Versprechungen der Bioökonomie sind nicht unbescheiden. Ohne Zweifel hat sie hohe Potenziale, zu einer besseren Umweltbilanz menschlichen Wirtschaftens beizutragen. Es gibt auch Gründe anzunehmen, dass eine zukünftig nachhaltigere Wirtschaftsweise gar nicht ohne grundsätzlich bioökonomisch ausgerichtete Technik und Wertschöpfung auskommen kann. Weil jedoch aus Potentialen nicht automatisch reale Beiträge zu einer nachhaltigen Entwicklung resultieren, ist zu fragen, unter welchen Bedingungen aus Potentialen zukünftige Lösungen werden können (Fritsche und Rösch 2017). Eine frühzeitige und prospektive Befassung mit wahrscheinlichen und möglichen Folgen ist für eine reflektierte Gestaltung der Bioökonomie unter Nachhaltigkeitsaspekten erforderlich (Voß et al. 2006). Die Gestaltung der Bioökonomie unter Umwelt- und Nachhaltigkeitsaspekten müsste danach folgende Schritte umfassen (Grunwald 2017; vgl. auch Priefer et al. 2017; Meyer und Priefer 2018): • Analyse der (positiven und negativen) Nachhaltigkeitspotenziale der unterschiedlichen Pfade und Technologien der Bioökonomie bereits in möglichst frühen Entwicklungsstadien (analog Fleischer und Grunwald 2002), und zwar in einer die sozialen, ökonomischen, ökologischen und technischen Aspekte verbindenden Weise (was hier abkürzend als sozio-technisch bezeichnet werden soll). Dies kann entlang der erwähnten Nachhaltigkeitsregeln erfolgen, deren Anwendung erkennbar die Kombination technischer mit sozialen und ökonomischen Aspekten erfordert, um zu gewünschten Nachhaltigkeitseffekten zu führen. Diese Aspekte müssen sodann im Rahmen integrativer Nachhaltigkeitsanalysen und -bewertungen methodisch kontrolliert zusammengeführt werden. Hierzu besteht angesichts inkommensurabler Kriterien und von häufigen Zielkonflikten der Nachhaltigkeit (Dusseldorp 2017) ein erheblicher Forschungsbedarf zur Methodenentwicklung. • Identifizierung und Analyse der kritischen Faktoren für die Realisierung einer nachhaltigen Bioökonomie. Erst eine solche Analyse macht ein Monitoring der real eintretenden Effekte sinnvoll. Angesichts vielfältiger Erfahrungen mit technischen Effizienzgewinnen, die dann doch nicht zu nachhaltigeren Umweltbilanzen geführt haben, sollte dies unter besonderer Berücksichtigung von Rebound-Effekten (Sorrell 2007) erfolgen. • Entwicklung von prospektiven Innovationspfaden zu einer für die Ziele der Nachhaltigkeit eingesetzten Bioökonomie angesichts fördernder wie
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hemmender Faktoren einschließlich ihrer sozialen und kulturellen Aspekte. Teils geschieht dies bereits, jedoch ist nach wie vor der übergreifende sozio-technische Blick gegenüber dem rein technischen vernachlässigt. • In der Transformation zu einer nachhaltigeren Wirtschaft und Gesellschaft darf die mögliche oder reale Rolle anderer Technologiefelder nicht ignoriert werden. Daher sind systematische Vergleiche mit den Potenzialen nicht biobasierter Techniken zur Erreichung von mehr Nachhaltigkeit und Analysen zu Kombinationsmöglichkeiten bio-basierter mit anderen Technologien erforderlich. Dabei müssen Implementierungsstrategien zur Bioökonomie mit Postwachstums- und Suffizienzstrategien gemeinsam und in ihren Kombinationswirkungen untersucht werden (z. B. Priefer 2018). Die Gestaltung der Bioökonomie unter Aspekten der ökologischen Nachhaltigkeit bildet einen ständigen Lernprozess, orientiert am normativen Leitbild der Nachhaltigkeit, in dem über Gestaltungsziele, Realisierungsoptionen, Innovationspfade und nicht intendierte Effekte, aber eben auch über Bedeutungsfragen der Nachhaltigkeit diskutiert wird. In der nachhaltigen Ausgestaltung der Bioökonomie müssen Technikentwicklung und soziale Innovation in einem Lernprozess verbunden werden. Das Bild einer nachhaltigeren Wirtschaft unter Einschluss der Bioökonomie bildet sich dabei allmählich, Schritt für Schritt, heraus (Voß et al. 2006). Erst in diesem Prozess wird sich zeigen, wie groß der Beitrag der Bioökonomie zur Lösung der großen Nachhaltigkeitsprobleme wirklich sein wird.
Literatur Birnbacher, D. (1988). Verantwortung für zukünftige Generationen. Stuttgart: Reclam. Blühdorn, I. (2007). Sustaining the Unsustainable: Symbolic Politics and the Politics of Simulation. Environmental Politics 16(2), 251–275. Brown-Weiss, E. B. (1989). In Fairness to Future Generations. International Law, Common Patrimony and Intergenerational Equity. New York: Transnational Publishers. Dusseldorp, M. (2017). Zielkonflikte der Nachhaltigkeit. Zur Methodologie wissenschaftlicher Nachhaltigkeitsbewertungen am Beispiel des integrativen Konzepts nachhaltiger Entwicklung. Dissertation. Karlsruhe: Karlsruher Institut für Technologie. EC (European Commission) (2018). A sustainable Bioeconomy for Europe: strengthening the connection between economy, society and the environment. Brussels. https://ec.europa.eu/ research/bioeconomy/pdf/ec_bioeconomy_strategy_2018.pdf#view=fit&pagemode=none. Zugegriffen: 1. April 2019. Fleischer, T., & Grunwald, A. (2002). Technikgestaltung für mehr Nachhaltigkeit – Anforderungen an die Technikfolgenabschätzung. In: A. Grunwald (Hrsg.), Technik-
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Der Zukunftsdiskurs Bioökonomie im Spiegel der gegenwärtigen Themenlandschaft Dirk Scheer und Wilfried Konrad
Zusammenfassung
Bioökonomie wird in diesem Beitrag als Diskursbegriff verstanden, unter dessen Dach eine gegenwärtige Debatte um Zukunftsvorstellungen und Gestaltungsmöglichkeiten stattfindet. Dabei sind die thematischen Bezüge und Schattierungen des Zukunftsdiskurses Bioökonomie ebenso unübersichtlich wie variantenreich. Der Beitrag liefert vor diesem Hintergrund eine systematische Identifikation, Aufarbeitung und Strukturierung der vielfältigen Themenbezüge im Zukunftsdiskurs Bioökonomie anhand von Veröffentlichungen aus unterschiedlichen Akteursperspektiven. Über eine qualitative Inhaltsanalyse wurden 21 Dokumente ausgewertet. Im Zuge dieser Analyse wurden die einzelnen Diskursthemen zu sechs prinzipiellen Themenlinien der Bioökonomie verdichtet, die transformative, spezifische, integrative, innovative, konfliktive und produktbezogene Stränge beinhalten. Zudem wurden die einzelnen Themenbezüge hinsichtlich Relevanz und Bewertung analysiert. Im Ergebnis zeigt der gegenwärtige Zukunftsdiskurs Bioökonomie ein facettenreiches, multidimensionales Themenspektrum und v erweist
D. Scheer (*) Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] W. Konrad DIALOGIK gemeinnützige Gesellschaft für Kommunikations- und Kooperationsforschung mbH, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Konrad et al. (Hrsg.), Bioökonomie nachhaltig gestalten, Technikzukünfte, Wissenschaft und Gesellschaft / Futures of Technology, Science and Society, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29433-5_3
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D. Scheer und W. Konrad
damit auf die in den Diskurs eingewobene Komplexität und Ambivalenz. Die Debatte ist geprägt durch eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten an politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und wissenschaftliche Problemstellungen und Lösungsvorschläge. Schlüsselwörter
Zukunftsdiskurs · Bioökonomie · Themenanalyse · Relevanz und Bewertung
3.1 Einleitung Unter einem Zukunftsdiskurs verstehen wir eine artikulatorische Praxis in Schrift, Wort und/oder Bild, die gegenwärtige Zukunftsvorstellungen beinhaltet und dadurch Wissen formiert und herstellt, um auf diese Weise soziale Wirklichkeit zu konstituieren (Hondrich 2001; Rainer 2003). Diskurse über Zukunftsvorstellungen erfüllen damit ihre Zwecke in der Gegenwart bspw. zur Planung, Kommunikation, Abstimmung und Koordination von Akteursgruppen (Lösch et al. 2016). In Zukunftsdiskursen werden individuelle und kollektive Träger adressiert sowie Zukunftsvorstellungen von Wissen, Wunsch und Macht inkorporiert (Hondrich 2001). In strukturierten Partizipationsprozessen und als soziale Praxis tauschen sich Fachexperten, Wissenschaftler, Bürger, Unternehmer und Verbandsvertreter, Politiker und Verwaltungsbeamte, Aktivisten und Vertreter der Zivilgesellschaft aus, streiten intensiv über das Für und Wider einer Zukunftsvorstellung, finden ein gemeinsames Verständnis für ein Vorhaben, reklamieren Handlungsoptionen und -notwendigkeiten oder reden gänzlich aneinander vorbei. Dabei stehen individuelle oder institutionelle Interessen Pate, wird Wünschenswertes, Machbares oder zu verhinderndes formuliert und postuliert, wird mit dem Gemeinwohl argumentiert oder Eigennutz beansprucht, und Rationalität oder aber Wertorientierung bestimmten Positionen zugrunde gelegt. Zugleich sind diese heterogenen, teils unübersichtlichen Diskurse aber thematisch gerahmt und eingegrenzt und finden unter einem terminologischen Dach statt, das als Leitbegriff oder Diskursbegriff bezeichnet werden kann. Diese Rahmung (oder im Englischen Framing) bettet Informationen in bestimmte Deutungsrahmen und -muster ein, um bestimmte Sachverhalte, Themen oder Bewertungen zu betonen beziehungsweise andere zu vernachlässigen (Entman 1993; Kahneman und Tversky 2000). Ein Leitbegriff verfestigt sich dann als Schlagwort und fungiert als zentral verwendeter Diskursbegriff in gesellschaftlichen Debatten inklusive des mittransportierten Deutungsrahmens. Digitalisierung, Industrie 4.0, autonomes Fahren oder künstliche Intelligenz sind
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derzeit populäre Leitbegriffe, unter deren Dach gegenwärtig Zukunftsdiskurse stattfinden. Ein weiterer Leitbegriff, unter dem seit einigen Jahren ein andauernder, intensiv geführter Zukunftsdiskurs über Vorstellungen, Wünsche, Probleme und Handlungsoptionen stattfindet, ist der Begriff der Bioökonomie. Dabei sind die thematischen Felder und Schattierungen des „Zukunftsdiskurses Bioökonomie“ ebenso unübersichtlich wie facettenreich. Vor diesem Hintergrund steht die systematische Identifikation, Aufarbeitung und Strukturierung der vielfältigen Themenbezüge des Zukunftsdiskurses Bioökonomie anhand von Veröffentlichungen aus unterschiedlichen Akteursperspektiven im Mittelpunkt dieses Beitrags. Ziel des Beitrags ist es, die unter dem Zukunftsdiskurs Bioökonomie adressierten Themen systematisch zu erfassen und zu strukturieren, um ein multidimensionales Spektrum gegenwärtiger Themenlinien im Zukunftsdiskurs Bioökonomie zu identifizieren und somit die gegenwärtige Themenstruktur der Bioökonomie aufzuzeigen. In Abschn. 3.2 wird zunächst die methodische Herangehensweise erläutert. Diese beinhaltet eine qualitative Inhaltsanalyse anhand einer Auswahl von Dokumenten. In Abschn. 3.3 werden aus einer Vielzahl von Einzelthemen sechs prinzipielle Themenlinien synthetisiert, die von insgesamt 57 Themenkategorien konstituiert werden. In der ausführlichen Beschreibung dieser Themenlinien werden die Themenkategorien in Beziehung zueinander gesetzt und nach ihrer Relevanz bewertet. Das abschließende Abschn. 3.4 fasst die wichtigsten Schlussfolgerungen in einem Fazit zusammen.
3.2 Methode: qualitative Inhaltsanalyse Zur Identifizierung der Themenstruktur, die den derzeitigen Zukunftsdiskurs Bioökonomie prägt, wurden unterschiedliche Dokumente wie Politikstrategien, Expertisen und Positionspapiere von politischen, wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren qualitativ analysiert. Unser Ziel war es dabei nicht, diese Analyse auf der Grundlage des vollständigen Korpus der verfügbaren Literatur im Themenbereich Bioökonomie durchzuführen. Vielmehr wurde eine Auswahl vorgenommen, die sich daran orientierte, in der Debatte prominent präsente und einflussreiche Akteure in den Blick zu nehmen. Im Ergebnis wurden über diese Vorgehensweise 21 Dokumente zusammengestellt, die in Tab. 3.1 gesammelt präsentiert werden. Die Themenanalyse wurde über ein exploratives Forschungsdesign mithilfe einer qualitativen Inhaltsanalyse durchgeführt. In den Sozialwissenschaften
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D. Scheer und W. Konrad
Tab. 3.1 Zusammenstellung der analysierten Dokumente Politik
Zivilgesellschaft
Wirtschaft
• BMEL (2014, 2016) •B MEL und FNR (2015) • BMBF (2010) • Bioökonomierat (2013, 2015) • Landesregierung Nordrhein-Westfalen (o. J.) • Landesregierung Baden-Württemberg (2013)
• NABU: Ober (2014) • Verband der Chemischen • Welthungerhilfe: Industrie (2015) Schneider (2014) • Brot für die Welt: Tanzmann (2014) • Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz: Geiler (2014)
Wissenschaft und Politikberatung • Daniel und Reich (2014) • El-Chichakli et al. (2016) • Kaphengst und Wunder (2014) • Global Bioeconomy Summit (2015) • Pannicke et al. (2015) • Gottwald (2015) • Wissenschaftliche Dienste (2016a, b)
Quelle: Eigene Darstellung
wird über ein exploratives Forschungsdesign Grundlagenwissen erarbeitet, das eine Strukturierung und Systematisierung eines Forschungsgegenstandes vor dem Hintergrund des leitenden Forschungsinteresses erlaubt. Während ein quantitativer Ansatz die Komplexität eines Forschungsgegenstandes bereits bei der Konzeption bspw. eines standardisierten Fragebogens auf wenige Kenngrößen reduziert, erzeugt ein qualitativer Ansatz zunächst eine Vielfalt von Informationen und Daten, die erst bei der Datenaufbereitung und -analyse verdichtet und reduziert werden. Dadurch lassen sich sowohl ein Forschungsgegenstand in seiner Komplexität erschließen als auch Strukturmuster und Einflussgrößen identifizieren. Der hier verwendete explorative Ansatz arbeitet entsprechend mit einem qualitativen Forschungsdesign anhand einer dokumentenbasierten Inhaltsanalyse (Flick et al. 1991; Jambu 1992; Mayring 2015). Dabei wurde folgendermaßen vorgegangen: In einem ersten Schritt wurde über ein induktives Verfahren auf Basis des Textmaterials eine Themencodierung erarbeitet, indem einzelne Textinhalte einem bestimmten Themenschlagwort zugeordnet wurden. Der Prozess der Themencodierung wurde iterativ von unterschiedlichen Bearbeitern wiederholt und untereinander abgeglichen. Über diesen iterativen Analyseprozess wurden in Summe 421 Einzelthemen identifiziert. Dabei waren inhaltliche Mehrfachnennungen über die gesamte Dokumentenauswahl möglich und – wie erwartet – de facto im Ergebnis auch enthalten. In
3 Der Zukunftsdiskurs Bioökonomie …
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einem zweiten Schritt wurden die 421 Einzelthemen zu inhaltlich kohärenten Oberthemen verdichtet, um so über die Dokumente verteilte Mehrfachnennungen zu einzelnen, sogenannten Themenkategorien zusammenzuführen. Über die Zusammenführung wurden insgesamt 57 Themenkategorien gebildet. Diese verdichteten Themenkategorien wurden schließlich in einem dritten Schritt auf Basis von Plausibilität und Konsistenz zu sechs prinzipiellen Themenlinien der Bioökonomie synthetisiert. Bei der Erarbeitung der Themenkategorien, das heißt im Zuge des zweiten Analyseschrittes, wurde auf das Verhältnis von Mehrfach- und Einfachnennung geachtet. Daraus lässt sich die Relevanz einzelner Themen für die bearbeitete Dokumentenauswahl abschätzen. Der Vergleich von Kodierungen im Material nach deren Häufigkeit ist ein gängiges Auswertungsverfahren der qualitativen Sozialforschung in Verbindung von qualitativer und quantitativer Analyse (Mayring 1999; Kuckartz 2014). Auf dieser Basis wurde eine hohe, mittlere und niedrige Relevanz je nach Häufigkeit der genannten Themenkategorien identifiziert. Zudem wurde bei Mehrfachnennungen, das heißt im Fall von in verschiedenen Dokumenten unter einer Themenkategorie aufgefundenen Textpassagen, die inhaltliche Argumentation und Begründung eruiert. Dadurch lassen sich inhaltliche Bewertungen und Positionen für oder wider einzelne Themenkategorien ermitteln. Aus der Gegenüberstellung von befürwortender oder ablehnender Bewertung im Dokumentenvergleich wurde je Thema eine konsensuale oder dissente Ausprägung abgleitet. Die nachfolgende Ergebnisdarstellung der qualitativen Inhaltsanalyse umfasst die sechs prinzipiellen Themenlinien unterlegt mit den Themenkategorien sowie die Auswertung von Relevanz und Bewertung. Dabei sind die Ergebnisse von Themenlinien, Relevanz und Bewertung als Indikationen zu verstehen, die die Komplexität des Bioökonomiediskurses explorativ auf inhaltlicher Ebene strukturieren. Damit geht kein Anspruch auf Repräsentativität der dargestellten Ergebnisse einher.
3.3 Sechs Themenlinien im Zukunftsdiskurs Bioökonomie Die literaturbasierte Analyse des bioökonomischen Diskurses wurde mit Blick auf die Identifikation der grundlegenden Themenstruktur zu sechs Themenlinien verdichtet. Dabei zeigt die Analyse sehr unterschiedliche Facetten und verdeutlicht insgesamt die thematische Vielschichtigkeit und Komplexität des gegenwärtigen
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Zukunftsdiskurses zur Bioökonomie. Obwohl der Diskurs zur Bioökonomie recht neu ist, ist er bereits durch eine Vielzahl von spezifischen Themenbezügen mit politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Anknüpfungspunkten gekennzeichnet. Die identifizierten sechs Themenlinien im Zukunftsdiskurs Bioökonomie umfassen die folgenden Dimensionen: • Das transformative der Bioökonomie umfasst die drei Säulen der Nachhaltigkeit mit Ökologie, Ökonomie sowie Soziales und legt einen besonderen Schwerpunkt auf die Ressourcenfrage. • Das spezifische der Bioökonomie fokussiert auf konkret formulierte bioökonomische Prinzipien, Handlungsfelder und Instrumente. • Das integrative der Bioökonomie betont deren notwendige Einbettung über Politik- und Markintegration. • Das innovative der Bioökonomie stellt den Wandel von Wertschöpfungsketten über Innovation in den Mittelpunkt. • Das konfliktive der Bioökonomie stellt zentrale bioökonomische Konfliktfelder insbesondere in globalen Zusammenhängen heraus. • Das Produkt der Bioökonomie adressiert schließlich die Produktperspektive als konkrete Manifestation einer Bioökonomie. Diese Themenlinien bilden aus unserer Sicht die thematische Grundstruktur des gegenwärtigen Bioökonomiediskurses. Dabei stehen die identifizierten Themenlinien nicht getrennt voneinander, sondern es existieren vielfach wechselseitige inhaltliche Bezüge und somit unvermeidliche Überschneidungen in der diskursiven Ausstattung der Themenlinien. Die nachfolgende Tab. 3.2 unterlegt die sechs Themenlinien auf Basis ihrer jeweiligen konstitutiven Merkmale mit den insgesamt 57 Themenkategorien. Im Folgenden werden die sechs Themenlinien inhaltlich erläutert sowie die Relevanz und Bewertung der Themenkategorien dargestellt. Insofern diese Darstellung auf den Resultaten der Inhaltsanalyse unseres Dokumentensamples (s. Tab. 3.1) beruht, werden die im Folgenden präsentierten Befunde nicht durch Literaturhinweise und -zitate referenziert. Sie stellen vielmehr eine eigenständige dichte Beschreibung des Zukunftsdiskurses Bioökonomie auf Grundlage der inhaltsanalytisch gewonnenen Materialbasis dar, deren Validität sich folglich aus dem oben detailliert dargestellten methodischen Vorgehen ableitet.
Ökologie
Markintegration • Wettbewerbsfähigkeit Deutschland • Innovation • Ökonomisches Wachstum • Qualifizierung Arbeitskräfte
• Kohärenter Politikrahmen • Rahmenbedingungen • Governance und Regulierung
(Fortsetzung)
• Nachhaltigkeitsbewertung • Nachhaltigkeitsstandards • Folgenabschätzung • Ökonomische Instrumente
• Anwendungsfelder und Branchen • Technologie und Forschung
• Biobasierte Ökonomie • Stoffkreisläufe und Kaskaden • Ökologische Nachhaltigkeit • Food First • Lebensqualität und Wohlstand „integrative“ Bioökonomie
Politikintegration
Instrumente
• Partizipativer Dialog • Soziale Inklusion und Mitsprache • Akzeptanz von Bioökonomie und Technik • Wandel des Konsums und von Lebensstilen • Konflikt zwischen Gesellschaft und Stakeholdern
• Nachhaltiges Wirtschaften/ Konsum • Nachhaltige Landwirtschaft •R egionale, ländliche Entwicklung • Technisch-ökonomische Machbarkeit
Handlungsfelder
Soziales
Ökonomie
Prinzipien
• Klima, Luft, Natur, Tier • Effizienz und • Rest- und Abfallstoffe Reduktion • Boden, Wasser, Biodiversität • Verfügbarkeit und • Ökosystemdienstleistungen Erneuerbarkeit • Energetische Kulturpflanzen • Regeneration des • Unterstützung der Energiewende Naturkapitals • Suffizienz • Flächennutzung und -funktionen „spezifische“ Bioökonomie
Ressourcen
„transformative“ Bioökonomie
Tab. 3.2 Sechs Themenlinien im Zukunftsdiskurs Bioökonomie
3 Der Zukunftsdiskurs Bioökonomie … 49
• Konventionell: Brennmaterial • Innovativ: PtX, Biokraftstoffe
Energetisch
Legende: PtX (Power-to-X): Umwandlung von Strom (aus erneuerbaren Energien) in synthetische Energieträger (dena o. J.) Quelle: Eigene Darstellung
• Konventionell: Holzwerkstoffe, Verpackung • Innovativ: chemische Grundstoffe
• Zielkonflikte zwischen Politikfeldern • Entwicklungsländer • Gesellschaftsmodelle
• Globale Verantwortung • Entwicklungsländer • Konfliktfeld Ernährung • Nutzungskonkurrenzen „Produkt“ der Bioökonomie Stofflich
Konfliktfelder
Internationales
• Konventionell: Agrarprodukte • Innovativ: Algen
• Vernetzte Wertschöpfung • Internationale Vernetzung • Integrierte Nutzung
• Wissensbasierte Bioökonomie • Ganzheitlichkeit und Systemdenken • Systemische Betrachtung der Nebenwirkungen „konfliktive“ Bioökonomie
Nahrung
Wertschöpfungsketten
Innovation
„innovative“ Bioökonomie
Tab. 3.2 (Fortsetzung)
50 D. Scheer und W. Konrad
3 Der Zukunftsdiskurs Bioökonomie …
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3.3.1 Das „transformative“ der Bioökonomie: Zielsetzung Nachhaltigkeit für Mensch und Umwelt Das Konzept der Bioökonomie beinhaltet grundlegend eine Transformation im Sinne eines gesellschaftsökonomischen Strukturwandels unter den Anforderungsbedingungen von Nachhaltigkeit. Dabei wird ein Transformationsprozess unter marktwirtschaftlichen Rahmensetzungen zur Umstellung auf eine postfossile Wirtschaft angestrebt und mit gesellschaftlichen Zielen einer nachhaltigen Entwicklung mit Bezug zu den drei Nachhaltigkeitssäulen Ökologie, Ökonomie und Soziales in Verbindung gebracht. Einen besonderen Stellenwert in der bioökonomischen Nachhaltigkeitsdiskussion hat zudem die Frage der Ressourcen. Ressourcen Mit Blick auf ressourcenbezogene Aspekte werden zum einen generalisierende Leitprinzipien beim Umgang mit Ressourcen thematisiert. Dabei stehen Prinzipien wie Ressourceneffizienz und -reduktion, ein verantwortungsvoller Umgang mit Ressourcen, die Entkopplung von Ressourcenverbrauch und Wachstum oder die Sicherung einer nachhaltigen Verfügbarkeit, Erneuerbarkeit und Multifunktionalität von Biomasse und nachwachsenden Rohstoffen im Vordergrund. Explizit wird von zivilgesellschaftlichen und wissenschaftlichen Akteuren auch auf das Nachhaltigkeitsprinzip der Suffizienz verwiesen, da ausschließlich auf Effizienz gerichtete Maßnahmen keinen langfristig nachhaltigen Umgang mit Ressourcen gewährleisten. Zum anderen werden spezifische Herausforderungen bei nachwachsenden Rohstoffen und Biomasse angesprochen. Biomasse gilt als die einzige erneuerbare Kohlenstoffquelle für die stofflich-industrielle Nutzung. Allerdings ist eine Bioökonomie auf Basis biobasierter Ressourcen nicht per definitionem nachhaltig noch mit volkswirtschaftlichen Mehrwerten verbunden. Nachhaltigkeit ist nur dann gegeben, wenn die Bioökonomie hilft, das Naturkapital zu verbessern beziehungsweise zu regenerieren. Verwiesen wird auch auf den Zusammenhang von Biomasse und Fläche: eine Ausweitung der Biomasseproduktion beinhaltet ceteris paribus eine Ausweitung der Flächennutzung. Eine Verlagerung der Nachfrage von fossilen Ressourcen auf biogene Alternativen als reine Substitutionsstrategie riskiert eine Übernutzung von begrenzten, nachhaltigen Biomassepotentialen. Flächenfunktionen und Effekte von Landnutzungsänderungen müssen daher im Rahmen von bioökonomischen Ressourcenstrategien Berücksichtigung finden. In den ausgewerteten Dokumenten wurden die ressourcenbezogenen Leitprinzipien Effizienz, Reduktion, Verfügbarkeit und Erneuerbarkeit übergreifend
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D. Scheer und W. Konrad
und konsensual als wichtige Elemente einer bioökonomischen Ressourcenstrategie genannt. Die Regeneration von Naturkapital durch einen nachhaltigen Biomasseanbau wurde in der untersuchten Literatur hingegen nur am Rande thematisiert. Von größerer Bedeutung sind die Aspekte von Flächennutzung und -funktionen sowie das Paradigma der Suffizienz, welche überwiegend von gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Akteuren als wichtiges Nachhaltigkeitsprinzip für die Bioökonomie formuliert wurden. Die Biomasseproduktion ist stark an Forst- und Agrarflächen gekoppelt, sodass Aspekte der Landnutzung zentrale Fragestellungen für die Nachhaltigkeit der Bioökonomie sind. Ökologie Die ökologischen Aspekte der Bioökonomie wurden in Verbindung mit einer Reihe von (potentiellen) negativen Umweltwirkungen diskutiert. Im Vordergrund standen vor allem rohstoffbezogene Umweltwirkungen bspw. auf die klassischen Umweltmedien Boden, Wasser und Luft. Es wurden aber auch negative Auswirkungen auf das Klima, die Natur und Tierwelt sowie insbesondere die Biodiversität hervorgehoben. Diese Schutzgüter werden als die zentralen ökologischen Herausforderungen der Bioökonomie angesehen. Hingewiesen wurde auch auf die große Bedeutung von Rest- und Abfallstoffen für den Erhalt von Bodenfruchtbarkeit und Biodiversität aus Sicht des Umwelt- und Naturschutzes. Mit geringerer Häufigkeit wurden schließlich die Beachtung von wichtigen Ökosystemdienstleistungen (z. B. genetische Vielfalt, Bereitstellung von Nahrung und Wasser, Regulierung des Klimas), die nach Einschätzung einiger Autoren ungünstige Ökobilanz von Energiepflanzen sowie der Beitrag der Bioökonomie zur deutschen Energiewende hervorgehoben. Ökonomie Die Bedeutung von ökonomischen Aspekten in einer nachhaltig ausgerichteten Bioökonomie wurde vielfach und akteursübergreifend mit Bezügen zum unternehmerischen und verbraucherbezogenen Nachhaltigkeitsmanagement sowie zu ländlichen Regionen adressiert. Dabei wurden verschiedene Aspekte und Strategien genannt wie bspw. Konzepte eines nachhaltigen Wirtschaftens und des nachhaltigen Konsums oder allgemein der Umstieg auf ein zukunftsfähiges, biobasiertes Wirtschaften. Besonders betont wurde auch die ökonomische Bedeutung der Bioökonomie für den ländlichen Raum beziehungsweise für neue Impulse für eine regionale Wertschöpfung. Ansatzpunkte wie geschlossene Wirtschaftsund Produktionskreisläufe, die Entwicklung ländlicher Regionen oder die Dezentralisierung und regionale Clusterbildung stehen dabei im Vordergrund. Ein branchenbezogenes Hauptaugenmerk liegt bisher insbesondere auf dem Sektor
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der Landwirtschaft und Agrarproduktion (wobei davon auszugehen ist, dass für die Umsetzung einer Bioökonomie zukünftig auch andere Sektoren notwendig sind). Fragen der technisch-ökonomischen Machbarkeit wurden nur vereinzelt hervorgehoben. Auffallend ist zudem, dass in der untersuchten Literatur ökonomische Aspekte in einer Reihe von Dokumenten nicht prononciert thematisiert wurden. Soziales Auch soziale Aspekte wurden in unterschiedlicher Ausrichtung thematisiert. Zunächst wurde einhellig und akteursgruppenübergreifend die Notwendigkeit eines partizipativ und wissensbasiert ausgerichteten Dialogs von Gesellschaft und Entscheidungsträgern betont. Neben diesem mit hoher Relevanz forcierten Thema ist der Diskurs zu den sozialen Aspekten von einer Reihe von Ansatzpunkten mit eher mittlerer Bedeutung geprägt. Dazu zählen die Erwartung, Akzeptanz für Technik und die Bioökonomie allgemein langfristig zu generieren und zu stärken, um sich dadurch den gesellschaftlichen Rückhalt zu sichern, sowie die Zielsetzung, die gesellschaftliche Aufgeschlossenheit, Neugier und Begeisterung für Ergebnisse der Lebens- und Technikwissenschaften zu fördern. Darüber hinaus werden auch Ansätze der sozialen Inklusion, der bürgerlichen Mitsprache und der Einbindung aller gesellschaftlichen Gruppen angesprochen. Denn eine weitreichend und nachhaltig ausgestaltete Bioökonomie setzt einen gesellschaftlichen Umdenkprozess voraus, der über Akzeptanz durch Einsicht getragen wird. In dem Zusammenhang wird auch darauf hingewiesen, dass ein Wandel von Konsumverhalten und Verbraucherpräferenzen sowie die Initiierung von sozialen Innovationen essentiell für ein Gelingen einer nachhaltigen Bioökonomie sind. Gerade nachfrageseitig werden negative Wirkungen auf Umwelt und Mensch durch zum Beispiel sogenannte Rebound-Effekte determiniert. Allerdings wird ein erhebliches Konfliktpotential zwischen gesellschaftlichen Zielen und einzelnen Interessen von Anspruchsgruppen gesehen. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass soziale Aspekte nicht in allen Literaturdokumenten aufgegriffen wurden.
3.3.2 Das „spezifische“ der Bioökonomie: Prinzipien, Handlungsfelder, Instrumente Das „spezifische“ der Bioökonomie umfasst Prinzipien, Handlungsfelder und Instrumente, die von uns auf Grundlage der Literaturanalyse als konstitutiv für die Bioökonomie angesehen werden.
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D. Scheer und W. Konrad
Prinzipien Den Hintergrund von Bioökonomieprinzipien bildet das Bild eines Strukturwandels von der fossilen, erdölbasierten zu einer zukünftig biobasierten Wirtschaft. Im Zentrum der postfossilen Ökonomie steht die stoffliche und energetische Nutzung nachwachsender Rohstoffe durch wissensgetriebene Produkt-, Prozess- und Serviceinnovationen. Die umfassende Verwertung biologischer Ressourcen entfaltet Veränderungsdruck auf Ernährung und Landschaftsgestaltung sowie Natur, Umwelt und Ökosysteme. Sektorale Konzepte der Bioökonomie konzentrieren sich auf die Genese von neuen Wertschöpfungsketten und Wirtschaftszweigen. Normative Konzepte dagegen knüpfen an die Vision einer nachhaltigen Wirtschaftsweise mit geschlossenen Stoffkreisläufen auf Basis nachwachsender Rohstoffe an, die die Ernährungs- und materiellen Bedürfnisse der wachsenden Weltbevölkerung im Einklang mit der Natur befriedigt. An dieser Stelle werden allerdings unterschiedliche Auffassungen darüber erkennbar, ob das deutsche Bioökonomiekonzept dazu beitragen kann, Fehlentwicklungen der fossilen Ökonomie wie den Kapazitätsverlust der Ökosysteme und die Verengung der Agrobiodiversität zu beheben, oder ob es sich letztlich nur um alten Wein in neuen Schläuchen handelt. Insbesondere Stimmen aus der Zivilgesellschaft vermuten letzteres und diagnostizieren dem deutschen Bioökonomiekonzept ein technokratisch-reduktionistisches Weltbild, in dessen Rahmen das bestehende Wirtschaftsmodell unverändert bleibt und lediglich auf eine neue Rohstoffbasis gestellt werden soll. Global vs. regional, Bottum-Up vs. Top-Down, Großtechnik vs. Low-Tech oder mit vs. ohne Gentechnik markieren dabei die Alternativen, auf die es bei der Umsetzung der Bioökonomie in Deutschland ankommt. Unabhängig von der Frage, welchen Weltbildern das deutsche Bioökonomiekonzept verpflichtet ist, werden übereinstimmend und mit hoher Häufigkeit die Orientierung an Kreislaufideen und ökologischer Nachhaltigkeit als bioökonomische Basisprinzipien thematisiert. In diesem Kontext werden einerseits geschlossene Stoffströme, die integrierte Betrachtung stofflicher und energetischer Nutzung sowie die vollständige Verwertung der Biomasse durch Kaskaden- und Koppelprozesse und die Verwendung von Abfall- und Reststoffen gefordert. Andererseits wird die Bioökonomie in den Zusammenhang von Umwelt-, Natur- und Klimaschutz gebracht. Die im Rahmen einer Bioökonomie erbrachten Leistungen der Rohstoff- und Energieversorgung sollen ressourcenschonend und effizient erfolgen sowie Biomasseimporte und Steigerungen von Ernteerträgen an Grundsätzen der Nachhaltigkeit ausgerichtet sein. Als weitere Prinzipien gelten die Grundsätze, dass bei der Nutzung nachwachsender Rohstoffe auf die Vorrangstellung der Ernährungssicherung zu achten ist („Food First“), und das die Bioökonomie zu Wohlstand und einer verbesserten Lebens-
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qualität beitragen soll. Beide Punkte werden konsensual, jedoch mit geringer Häufigkeit in den Blick genommen; Anmerkungen zu Lebensqualität und Wohlstand sind auf politische und wissenschaftliche Akteure begrenzt. Handlungsfelder Die ausgewertete Literatur stellt zwei bioökonomische Handlungsfelder in den Vordergrund, auf die beide häufig in der rezipierten Literatur rekurriert wird. In deskriptiver Perspektive und akteursübergreifend inhaltlich gleichgerichtet werden Branchen und Anwendungsfelder aufgezählt, die für die Bioökonomie konstitutiv sind beziehungsweise von dieser beeinflusst werden. Darunter fallen folgende Branchen: (Präzisions-)Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft, Lebensmittelindustrie, Papierproduktion, Chemie, (erneuerbare) Energieproduktion, Gesundheitswirtschaft sowie die Umweltschutzbranche. Dagegen wird die Betrachtung bioökonomisch relevanter Technologien und Forschungsgebiete mit positiven Erwartungen oder Skepsis verknüpft. So charakterisieren politische und ökonomische Akteure die Biotechnologie als Schlüsseltechnologie und sehen in Bioraffinerien eine neue Basis für die industrielle Produktion der Zukunft, da diese das Biomassepotential durch integrierte Prozesse zur Verwertung aller Pflanzenbestandteile effizient zu verschiedenartigen Produkten umwandelt. Im Gegensatz dazu befürchten zivilgesellschaftlich-wissenschaftliche Akteure, dass Landwirtschaft, Ernährung und Artenvielfalt durch Bioraffinerien noch mehr als bisher unter Druck geraten. Das Muster eines kontroversen Meinungsbildes zwischen politisch-ökonomischen sowie zivilgesellschaftlich-wissenschaftlichen Akteuren zeigt sich auch bei der Bewertung der Lebens- und Biowissenschaften. Exemplarisch hierfür ist die Teildisziplin der synthetischen Biologie, die von ersteren zum Beispiel wegen ihres Innovationspotentials für die nächste Generation biotechnischer Verfahren geschätzt wird, während letztere ihr einen bioethisch besonders problematischen Umgang mit Leben attestieren. Instrumente Im Mittelpunkt des durchweg konsensualen Diskurses zu bioökonomischen Instrumenten stehen Aspekte der Nachhaltigkeitsbewertung und der Implementierung von Nachhaltigkeitsstandards. Zur Bewertung der Nachhaltigkeit bioökonomischer Produkte und Prozesse werden insbesondere ganzheitliche Lebenszyklusanalysen hervorgehoben. Diese sollen transparent, einheitlich und partizipativ angewendet und zum Beispiel für die vergleichende Beurteilung zwischen fossilen und nachwachsenden Rohstoffen herangezogen werden. Die Einforderung von Nachhaltigkeitsstandards adressiert vornehmlich Umwelt- und Sozialstandards und nimmt eine
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sektor- und länderübergreifende Perspektive ein. Nachhaltigkeitsstandards sollen in den Produzentenländern und entlang globaler Lieferketten gelten. Benötigt werde ein globaler Biomassestandard, der die Produktion aller Biomassearten für alle unterschiedlichen Nutzungen regelt. Als Referenzrahmen für einen international ausgerichteten Nachhaltigkeitsstandard werden die „Freiwilligen Leitlinien für die verantwortungsvolle Verwaltung von Boden- und Landnutzungsrechten, Fischgründen und Wäldern“ der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) aufgeführt. Auf voluntaristische Regelungen bestehen speziell wirtschaftliche Akteure, die Nachhaltigkeitszertifizierungen auf eine freiwillige Basis gestellt sehen wollen. Mit Blick auf die Nutzung von Wasserressourcen wird von zivilgesellschaftlicher Seite darauf hingewiesen, dass individuelle Normen und Nachhaltigkeitszertifikate für einzelne Plantagen geeignet sind, nicht jedoch für die Prüfung des überregionalen Wasserbedarfs. Mit mittlerer bis geringer Häufigkeit wird in der Literatur des Weiteren die Notwendigkeit systematischer Analysen und Bewertungen der Auswirkungen bioökonomischer Entwicklungen betont. Verwiesen wird hierzu auf Methoden der Technikfolgenabschätzung und Risikoforschung sowie Instrumente des Monitorings und der Modellierung. Schließlich wird zum Schutz der Biodiversität die Bildung von Schattenpreisen vorgeschlagen, die den Beitrag für und die Schädigung durch die Bioökonomie wirtschaftlich nachvollziehbar machen.
3.3.3 Das „integrative“ der Bioökonomie: Politik- und Marktintegration Das „integrative“ der Bioökonomie umfasst die Bereiche Politik und Markt sowie deren wechselseitiges Verhältnis. Politikintegration Die Diskursanalyse im Bereich Politikintegration zeigt einen insgesamt konsensualen Blick mit unterschiedlicher akteursspezifischer Schwerpunktsetzung. Einhellig wird festgestellt, dass eine erfolgreiche Bioökonomie eine kohärente Politikintegration erfordert, um die verschiedenen Politikfelder in den Bereichen Industrie, Energie, Ernährung, Agrar, Forsten, Fischerei, Klima, Umwelt sowie Forschung und Entwicklung in umfassender und ganzheitlicher Weise zu bearbeiten. Grundlegend hierzu sind partizipativ vorbereitete Entscheidungen zu den Zielen und Transformationspfaden sowie den Förder-, Anreiz- und Regulierungsstrukturen einer Bioökonomiepolitik. Aus politischer und wirtschaftlicher Richtung wird dabei
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die Schaffung von verlässlichen politischen Rahmenbedingungen (z. B. durch den Abbau von Handelshemmnissen) ins Zentrum gestellt. Zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Akteure argumentieren stärker aus der Governance- und Regulierungsperspektive und plädieren für die Etablierung einer verantwortungsvollen, an den Prinzipien einer Good Governance ausgerichteten Politik. Hierzu zählen die Beteiligung relevanter zivilgesellschaftlicher Netzwerke und Akteure, ein nachhaltiger Governance-Rahmen für Landrechte und das Management von Gemeingütern wie Luft, Wasser und Boden sowie Regulierungsstrukturen für geistige Eigentumsrechte, Zugang und Nutzung genetischer Ressourcen und biowissenschaftliche Ethik. Daraus erwächst für die Politik die Herausforderung, den bioökonomischen Transformationspfad durch die Schaffung von Rahmenbedingungen, Anreizmechanismen oder Förderstrukturen sowohl zu unterstützen als auch auf gesellschaftlich erwünschte Ziele hin auszurichten. Dazu bedarf es einerseits einer Vernetzung zwischen wissenschaftlichem, wirtschaftlichem und politischem System einschließlich der Beteiligung der Zivilgesellschaft. Zum anderen verlangt diese Herausforderung den Aufbau politischer Strukturen, die die Bandbreite bioökonomischer Themenfelder bündeln und in eine integrierte und fachlich kompetente Bioökonomiepolitik umsetzen. Marktintegration Die analysierte Literatur zeichnet sich in diesem Themenfeld durch ein konsensuales Meinungsbild aus, wobei festzuhalten bleibt, dass sich zivilgesellschaftliche Akteure nicht explizit zu Fragen der Marktintegration äußern. Für die am Diskurs beteiligten Akteure ist die Integration der Bioökonomie in das bestehende System der Marktwirtschaft für den Wirtschafts- und Wissenschaftsstandort Deutschland von zentraler Bedeutung. Jenseits der erhofften ökologischen und klimapolitischen Vorteile durch die Umstellung auf nachwachsende Rohstoffe werden von der Bioökonomie kräftige ökonomische Impulse zur Stärkung der globalen Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft erwartet. Der Standort Deutschland soll mit Blick auf seine Wachstumsdynamik und sein Potential zur Generierung von Produkt-, Prozess- und Geschäftsmodellinnovationen eine internationale Spitzenposition durch die Bioökonomie einnehmen. In dieser Perspektive ist der Strukturwandel zur postfossilen Bioökonomie ein wesentlicher Baustein zur Standortsicherung auf nationaler und regionaler Ebene. Die Bioökonomie in Deutschland hat die Aufgabe, die internationale Technologieführerschaft zu übernehmen und für unsere Wirtschaftsweise dauerhaft eine neue Rohstoffbasis zu erschließen. Hierzu soll Deutschland in der Bioökonomie zu einem dynamischen Forschungs- und Technologiestandort
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ausgebaut werden, von dem der biotechnische Fortschritt und die Globalisierung als Chancen und nicht als Bedrohungen wahrgenommen werden. Vor diesem Hintergrund sind Innovationen eine Schlüsselbedingung im Transformationsprozess zu einer international wettbewerbsfähigen Bioökonomie. Dies betrifft zum einen neue biobasierte Materialien, Produkte, Energien, Prozesse und Dienstleistungen, zum anderen neue Geschäftsmodelle sowie organisatorische und soziale Innovationen. Zur Stärkung von Forschung und Innovationskraft sollen sich Wissenschaft und Industrie zu Innovationsbündnissen zusammenschließen, die einen reibungsarmen Technologietransfer vom Labor in die Praxis organisieren können. Auf diese Weise durch Innovationen im globalen Wettbewerbsumfeld fest verankert, wird erwartet, dass die Bioökonomie erhebliche Wertschöpfungsimpulse liefert und so für Wirtschafts- und Beschäftigungswachstum sorgt, wobei dieser Aspekt weniger Aufmerksamkeit erfährt als Wettbewerbsfähigkeit und Innovation. Mit geringer Häufigkeit wird schließlich zudem gefordert, das Potential der Bioökonomie zur Schaffung von Arbeitsplätzen durch die Integration bioökonomischer Aspekte in die Aus- und Fortbildung zu unterstützten, um über das notwendige Fachkräftereservoir postfossile Wachstumspfade zu generieren.
3.3.4 Das „innovative“ der Bioökonomie: zwischen Ketten, Disziplinen und Technologien Das „innovative“ der Bioökonomie umfasst Aspekte der wissenschaftlich-technischen und systemisch-organisatorischen Grundlagen bioökonomischer Innovationsprozesse und Wertschöpfungsketten. Innovation Im Bereich Innovation knüpft die Diskussion zur Bioökonomie an das Konzept der Wissensgesellschaft an. Eine erfolgreiche Bioökonomie erfordert eine breite Wissensbasis, um biologische Systeme (Ökosysteme, Organismen, Genpools) besser zu verstehen, vorhersehen und nutzen zu können. Die wissensbasierte Bioökonomie wird interdisziplinär und transdisziplinär gedacht. Ganzheitliche Forschungsansätze integrieren die Kompetenzen insbesondere der Disziplinen Ingenieurwissenschaften, Chemie, Agrar- und Ernährungswissenschaften, Biologie, Informatik, Mathematik, Umweltwissenschaften, Physik sowie Sozial- und Wirtschaftswissenschaften. In transdisziplinärer Perspektive werden systemische Lösungswege in Kooperation politischer, wirtschaftlicher und wissenschaftlicher sowie ökologischer und sozialer Akteure gesucht, die gegenseitiges Lernen und
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die Abwägung von Chancen und Risiken forcieren. Allerdings wird vonseiten zivilgesellschaftlicher Akteure an diesem transdisziplinären Anspruch gezweifelt, da aus ihrer Perspektive der Status quo der deutschen Bioökonomie durch Investitionen in technologiezentrierte Innovationen geprägt ist. So wird Bioökonomie durchaus als wissensbasiertes High-Tech-Konzept interpretiert, in dessen Rahmen Innovationen wie Bioraffinerien, Plattformmoleküle oder Biokraftstoffe der zweiten und dritten Generation durch die Anwendung avancierter Erkenntnisse, Methoden und Praktiken der Ingenieurwissenschaften, Chemie, Agrarforschung, Biologie oder Informatik entwickelt und etabliert werden. Andererseits geht es aufseiten der Wirtschaft darum, die bioökonomischen Impulse der Technik-, Natur- und Lebenswissenschaften in bestehenden Wertschöpfungsketten zu nutzen beziehungsweise gänzlich neue Wertschöpfungsketten für innovative Produkte aufzubauen. Daraus leitet sich die komplexe Herausforderung einer doppelten Integrationsleistung einerseits auf der disziplinären Ebene (interdisziplinäre Wissensintegration) und andererseits hinsichtlich der zielführenden Verknüpfung wissenschaftlicher, technischer und ökonomischer Komponenten zu optimierten Wertschöpfungsnetzen ( techno-ökonomische Integration) ab. Insofern bioökonomische Erkenntnisgewinne und Integrationsfortschritte in Form neuer Anwendungen, Verschiebungen der internationalen Arbeitsteilung oder neuer Konsummuster über die Wissenschaft und Industrie hinaus tief in die Gesellschaft einwirken, ist die Analyse und Bewertung der (nicht intendierten) Folgen der Innovationsdynamik in der Bioökonomie eine weitere, allerdings nur selten angesprochene Herausforderung. Hierzu zählen zum Beispiel die Analyse von ReboundEffekten, die Effizienzgewinne im Nachhinein kompensieren, oder Trade-offs von Nachhaltigkeitsmaßnahmen entwickelter Länder mit gegebenenfalls nachteiligen Folgen für Entwicklungsländer in ausdifferenzierten Wertschöpfungsketten. Wertschöpfungsketten Wertschöpfungsketten sind für die Bioökonomie von zentraler Bedeutung. Die Nutzung und Umwandlung nachwachsender Rohstoffe in bioökonomischen Prozessen findet zentral in Wertschöpfungsketten statt, die analytisch in eine primäre Produktionsstufe, primäre Verarbeitungsstufe, Zwischenproduktstufe, Gebrauchs- beziehungsweise Verbrauchsgüterstufe sowie Sekundärrohstoffstufe unterteilt werden können. Gefordert wird der Aufbau neuer, optimierter Wertschöpfungsketten, die umfassend hinsichtlich ihrer Folgewirkungen analysiert werden, intelligent verknüpft sind und entlang des kompletten Systems geeignete Technologien einsetzen. Die Reichweite bioökonomischer Wertschöpfungsketten wird im zwischenstaatlichen Rahmen gesehen. Sie beruhen auf inter-
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nationaler Arbeitsteilung und organisieren eine effiziente Ressourcennutzung in globaler Perspektive. Voraussetzung für den effizienten Einsatz nachwachsender Rohstoffe sind Wertschöpfungsketten mit ganzheitlichen und nachhaltigen Nutzungskonzepten, die in geschlossenen Stoffkreisläufen eine breite Palette biobasierter Produkte erzeugen. Ein weiterer Aspekt betrifft die Analyse der wirtschaftlich-industriellen Verwertbarkeit wissenschaftlicher Ergebnisse und die damit verbundenen Implikationen für die Gestaltung bioökonomischer Wertschöpfungsketten. Neu geknüpfte oder veränderte Wertschöpfungsketten sind folgenreich für die Industriestruktur, den Qualifikations- und Arbeitskräftedarf oder Standortentscheidungen und sollten in Dialogprozessen thematisiert und bewertet werden. Alle beschriebenen Inhalte werden konsensual diskutiert, wobei der vernetze Charakter einer bioökonomischen Wertschöpfung im Zentrum steht und häufiger als Aspekte von Internationalisierung und integrierter Nutzung aufgegriffen wird. Auffallend ist, dass zivilgesellschaftliche Akteure nicht mit Stellungnahmen zum Thema Wertschöpfungskette im Diskurs vertreten sind.
3.3.5 Das „konfliktive“ der Bioökonomie: inmitten von Ziel- und Wertdifferenzen Das „konfliktive“ der Bioökonomie thematisiert Dissens und Konflikt. Der Zukunftsdiskurs Bioökonomie zeigt dabei Kontroversen und Differenzen auf, die sich zum einen auf bestimmte Konfliktfelder (z. B. Ernährung, Entwicklungsländer) konzentrieren und zum anderen internationale und globale Aspekte adressieren. Konfliktfelder Die Analyse verdeutlicht, dass unterschiedliche bioökonomische Konfliktfelder thematisiert werden. Explizit oder implizit wird akteursübergreifend und mit hoher Häufigkeit anerkannt, dass Nutzungskonkurrenzen zwischen Flächen, Biorohstoffen oder Wasserressourcen konstitutiv für eine Bioökonomie sind. Aus diesen Konkurrenzsituationen können qualitative und quantitative Zielkonflikte zwischen Politikfeldern entstehen, wie zum Beispiel zwischen der Nachfrage nach Biomasse und klima-, umwelt- oder biodiversitätspolitischen Strategien. Für solche Fälle werden ganzheitliche Ansätze empfohlen, die die stofflichen und energetischen Nutzungswege von Biomasse in ihren Wechselwirkungen mit dem Ziel betrachten, konfliktäre Entwicklungskorridore verschiedener Handlungsfelder zu identifizieren und über intelligente Lösungsstrategien zu vermeiden.
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Ebenfalls eine hohe Aufmerksamkeit erhalten die Konfliktfelder Ernährung und Entwicklungsländer. Dabei zeigen sich politische und wirtschaftliche Akteure problembewusst und lösungsoptimistisch, während zivilgesellschaftliche Akteure grundsätzliche Zweifel an der Kompatibilität der Bioökonomie mit Zielen wie Ernährungssicherung oder globale Gerechtigkeit hegen. Im Konfliktfeld Ernährung gilt die Aufmerksamkeit dem Spannungsverhältnis zwischen der Nutzung nachwachsender Rohstoffe für biobasierte Produkte oder Energien und dem Ziel der Ernährungssicherung. Hier wird die Frage gestellt, wie das Food First-Prinzip gegen industrielle Nutzungsansprüche zu verteidigen ist, und davor gewarnt, das Menschenrecht auf Nahrung durch die Bioökonomie in Gefahr zu bringen. Die Agenda im Konfliktfeld Entwicklungsländer wird bestimmt von Gerechtigkeitsproblemen sowie den ökologischen, sozialen und ökonomischen Folgen der Bioökonomie. Diagnosen bezüglich der Zunahme lokaler und globaler Konflikte um Biomasse im Rahmen eines steigenden Nutzungsdrucks auf die Landressourcen werden von Befürchtungen einer unfairen Verteilung der Landinanspruchnahme zugunsten der Industrieländer sowie Menschenrechtsverletzungen im Zuge von illegaler Landaneignung (Land Grabbing) begleitet. Es wird befürchtet, dass der forcierte Anbau von Energiepflanzen mit Hightech-Methoden der industriellen Landwirtschaft zu Umweltschäden, der Steigerung von Lebensmittel- und Landpreisen sowie als Folge zu gravierenden sozialen Fehlentwicklungen führen wird. Dem wird gegenübergestellt, dass nicht die intensive Agrarproduktion, sondern die kleinteilig-lokale Low B udget-Landwirtschaft den Hunger langfristig zu bekämpfen in der Lage ist. Die Argumentationsmuster in den Konfliktfeldern Ernährung und Entwicklungsländer führen schließlich zu der Erkenntnis, dass in der Debatte zur Bioökonomie zugleich gesellschaftspolitische Konzeptionen einer nachhaltigen Entwicklung verhandelt werden. Auf dem Prüfstand steht unter anderem, wie die Bioökonomie in eine endliche Welt der planetaren Grenzen integrierbar ist und wie die Machtbalance aufgrund von Monopolisierung, Zentralisierung und der Vergabe von Patenten im Lebensmittelbereich verschoben wird. Daneben werden gerade von zivilgesellschaftlichen Akteuren auch ethische Fragen adressiert, etwa was Leben ist, inwieweit der Mensch auf Leben gestaltend einwirken darf und ob die Bioökonomie letztlich nicht zu einer Ökonomisierung des Lebendigen führt. Auch wird thematisiert, inwieweit der Bioökonomiediskurs zur Verdrängung weiterer Transformationsformen wie zum Beispiel Dezentralisierung, soziale Innovationen in Lebensstilen und Konsummustern oder Degrowth führt.
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Internationales Die unter dem Gesichtspunkt internationale Aspekte der Bioökonomie behandelten Themen umfassen die Bereiche globale Verantwortung, Entwicklungsländer und Ernährung. Die stetig intensivierte Erschließung nachwachsender Rohstoffe für eine postfossile Bioökonomie befördert potentielle Nutzungskonkurrenzen zwischen Flächen und Ressourcen sowie Konflikte zwischen nachhaltigkeitsbezogenen Politikzielen wie Bodenschutz, Tierwohl oder Natur- und Klimaschutz. Charakteristisch für diese potentiellen Nutzungsund Zielkonflikte ist ihre internationale Dimension. Deutschland verfügt nicht über das notwendige Flächen- und Biomassepotential für eine im großen Maßstab etablierte Bioökonomie und ist insofern auf globale Wertschöpfungsketten angewiesen, in deren Rahmen die benötigten nachwachsenden Rohstoffe in anderen Ländern produziert und von dort importiert werden. In welchem Ausmaß Biomasse für stoffliche und energetische sowie Ernährungszwecke eingesetzt und nach Maßgabe welcher Kriterien dies von welchen Akteuren entschieden wird, bedarf somit eines Bezugsrahmens, der den nationalen Interessenausgleich mit globaler Verantwortung verschränkt. Der Blick auf die internationale Ebene richtet sich dabei auf die Ressourcenpotentiale, sozio-ökonomischen Verhältnisse oder Machtstrukturen insbesondere der Entwicklungs- und Schwellenländer, die eine Schlüsselrolle in global verflochtenen Wertschöpfungssystemen der Bioökonomie einnehmen. Im Zuge von Ziel- und Nutzungskonflikten wird zudem die Frage aufgeworfen, welchen Leitlinien und Werten der Weg in die postfossile Ökonomie verpflichtet sein sollte und wie diese zum Beispiel regionale Arrangements oder die internationale Arbeitsteilung der Bioökonomie beeinflussen. Mehrfach wird auf die UN-Nachhaltigkeitsziele hingewiesen, die sowohl als Maßstab der Bioökonomiepolitik dienen als auch von einer nachhaltigen Umsetzung der Bioökonomie profitieren können. Skeptischer äußern sich zivilgesellschaftliche Akteure. Deren Augenmerk liegt eher auf der Einschätzung sich verschärfender regionaler und globaler Konkurrenzen um Agrarland, Biomasse und Inputfaktoren der Agrarproduktion wie Phosphor oder Wasser, bei denen die Entwicklungsländer mehr verlieren als gewinnen können. So wird zwar einerseits gefordert, die Gewinnung von Biomasse so zu gestalten, dass für die Ärmsten der Armen Beiträge zur Armutsreduzierung geleistet werden. Auf der anderen Seite sieht man aber durch die Nachfrage nach großen homogenen Massen einer industriellen Bioökonomie die Existenz kleinbäuerlicher Familienbetriebe bedroht. Von politischen und wissenschaftlichen Akteuren wird in diesem Zusammenhang auf den hohen Stellenwert der internationalen Vernetzung und Kooperation
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hingewiesen, in deren Rahmen soziale Kriterien und Standards vereinbart sowie Gerechtigkeitsfragen im Verhältnis zu ärmeren Ländern behandelt werden. Politische Akteure sehen die Bioökonomie global in der Pflicht, das Recht auf angemessene Nahrung zu wahren und die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung durch ausreichende und gesunde Nahrungsmittel sicherzustellen. Zivilgesellschaftliche Akteure erheben diese Forderungen ebenfalls, halten die Bioökonomie aber für den falschen Ansatz, der das Recht auf Nahrung eher bedroht als fördert und die Hungerproblematik eher verschärft als mildert.
3.3.6 Das „Produkt“ der Bioökonomie: Materialisierung als Zwischen- oder Endprodukt Während der Analyse des Zukunftsdiskurses Bioökonomie wurde auch die Thematisierung der Produktperspektive untersucht. Zwischenprodukte oder auch Endprodukte vollständig aus oder mit bestimmten Anteilen von biogenen Ressourcen mit physikalischen, chemischen und biotechnologischen Verfahren zu produzieren beziehungsweise zu veredeln, stellt letztendlich das „Gesicht“ einer Bioökonomie dar. Erst darin zeigt sich der Übergang von einer fossilen zur postfossilen Wirtschaftsweise. Letztendlich entscheidend für die Bioökonomie ist daher eine Produktperspektive, an der sich die Idee beziehungsweise Vision einer Bioökonomie gewissermaßen manifestiert und materialisiert. Insbesondere in ihrer Rolle als Verbraucher werden Bürger über eine gesteigerte Nachfrage nach biobasierten Produkten eine treibende Kraft der Transformation werden müssen. Inwieweit Verbraucher nachfrageseitig die Transformation unterstützen, hängt nicht zuletzt vom wahrgenommenen individuellen und kollektiven Nutzen der Produkte ab. Chancen und Herausforderungen biobasierter Produkte hängen dabei von einer Vielzahl von Faktoren ab: Funktionalität und Komfort, Preisniveau, Markenreputation, Substitutionsfähigkeit herkömmlicher Produkte, Umstellung des Kaufverhaltens und mit Produkten und ihren Wertschöpfungsketten assoziierte Wertvorstellungen. Die Produktperspektive muss aber auch angebotsseitig aufgegriffen und in bestehende Wertschöpfungsketten integriert beziehungsweise in neu zu gestaltenden Wertschöpfungsketten eingebettet werden. Biobasierte Produktinnovation und -realisation als Marktangebot kommt deshalb eine besondere Bedeutung zu. Vor diesem Hintergrund bildet das „Produkt“ der Bioökonomie die abschließende Themenlinie des Zukunftsdiskurses Bioökonomie. Zunächst lassen sich die drei Produktgruppen Nahrung, stoffliche Nutzung (Materialien) sowie energetische Nutzung unterteilen. Diese Reihenfolge ist im Sinne einer Nutzungs-
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hierarchie mit abnehmender Priorität zu verstehen, sodass ceteris paribus und ausgehend von dem Food First-Prinzip die Verwendung von Biomasse für Nahrungsmittel den höchsten, für stoffliche Nutzung einen mittleren und für energetische Nutzung den niedrigsten Stellenwert hat. Tab. 3.3 zeigt exemplarisch einige (Zwischen-)Produkte der Bioökonomie zur Illustration – damit ist aber keinesfalls auch nur annähernd eine vollständige Auflistung von existenten und möglichen Bioökonomieprodukten abgedeckt. Wie Tab. 3.3 zeigt, kann innerhalb der drei Produktgruppen nach der Konventionalität und einem hohen Innovationsgrad von Bioökonomieprodukten unterschieden werden. Zum einen existieren in allen drei Bereichen seit jeher Produktangebote, die als konventionelle Bioökonomieprodukte bezeichnet werden können: im Nahrungsbereich etwa landwirtschaftliche Lebensmittelprodukte oder auch Futtermittel, bei der stofflichen Nutzung bspw. Baumaterialien, Dämmstoffe oder Möbel und Verpackung und bei der energetischen Nutzung das Verbrennen von Holz zur Wärmegewinnung. Zum anderen zielt gerade der in Deutschland forcierte Ansatz einer wissensbasierten Bioökonomie auf neue Produkt- und Prozessinnovationen. Im Bereich der Nahrung treten zum Beispiel Mikroalgen zur ressourcenschonenden Erzeugung von hochwertigen Produkten für den Lebensmittel- und Futtermittelsektor in den
Tab. 3.3 Produktkategorien und exemplarische Produkte der Bioökonomie Nahrung konventionell
innovativ
• Lebensmittel: landwirtschaftliche Produkte • Lebens- und Futtermittel aus Algen • Tierfutter: Soja- und Getreideanbau • Funktionelle Lebensmittel Stoffliche Nutzung konventionell
innovativ
• Bio-basierte Kunststoffe • Holzwerkstoffe • Waschmittel • Schnittholz • Graphische Papiere, Verpackung, Hygiene • Schmierstoffe • Chemische Grundstoffe • Wood-Plastic Composites (WPC) Energetische Nutzung konventionell
innovativ
• (Mit-)Verbrennung: Scheite, Hackgut, Häcksel, Pellets, Späne
• Gaserzeugung und -verflüssigung: Biomethan (Gasnetz, PtX), Biokraftstoffe 2. Generation, Energiepflanzen
Quelle: Eigene Darstellung
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Blickpunkt. Bei der stofflichen Nutzung sind insbesondere Produkt- und Verfahrensinnovationen zur Produktion und Bereitstellung von Biomasse, für Aufschluss, Konditionierung und Konversion von Biomasse sowie für die Entwicklung neuer Produkte im Fokus. Dabei rücken sogenannte Plattformchemikalien zunehmend in den Blick. Innovative energetische Nutzungsoptionen umfassen bspw. im Bereich der Gaserzeugung die Herstellung von Bio- oder synthetischem Methan zur Einspeisung in das Gasnetz oder zur Nutzung in chemischen Speichern (power to X). Generell gelten bei der Verflüssigung insbesondere Biokraftstoffe der zweiten (vollständige Pflanze) und dritten (Algen) Generation als weitreichende Innovationsprodukte. Eine auf Dauer erfolgreiche Bioökonomie wird sich vor allem im Bereich der innovativen Produkte etablieren müssen.
3.4 Fazit Das Konzept einer Bioökonomie hat sich in den letzten Jahren als ein wichtiges Narrativ und Handlungsfeld entwickelt. Die Etablierung postfossiler Wachstumspfade im Rahmen einer Bioökonomie wird in Deutschland als strategisches Projekt von Akteuren des politischen, ökonomischen und wissenschaftlichen Systems maßgeblich vorangetrieben. Im Zuge weitgreifender nationaler und regionaler Politik- und Forschungskonzepte wurde die Bioökonomie als Querschnittsthema auf die politische Tagesordnung von Bund und Ländern, aber auch im internationalen Kontext gesetzt. Dieser starke Politikimpuls wurde vom Wissenschaftssystem in einer Vielzahl von Studien und Projekten aufgegriffen und mit dem Aufbau bioökonomischer Kompetenz- und Forschungszentren institutionalisiert. Verständnis, Konzept und Umsetzungsstrategien der Bioökonomie sind dabei durchaus heterogen und werden teilweise auch in Gesellschaft und Politik kontrovers diskutiert. Im Mittelpunkt des Beitrags standen eine explorierende Analyse der thematischen Schwerpunkte des gegenwärtigen Zukunftsdiskurses der Bioökonomie auf Basis einer qualitativen Dokumentenanalyse und eine anschließende Strukturierung in sechs Themenlinien. Die transformative Ausrichtung auf Nachhaltigkeit mit einem hohen Maß an Klima- und Umweltverträglichkeit sowie ökonomische und soziale Mehrwerte ist von zentraler Bedeutung für die Bioökonomie. Darauf muss vor allem die Ressourcenstrategie ausgerichtet und über ein begleitendes Monitoring überprüft werden. Das spezifische der Bioökonomie wird über Prinzipien wie geschlossene Kreisläufe (z. B. Koppelprodukte und Kaskadennutzung) sowie die Formulierung einer Nutzungshierarchie mit „Food First“ und die Identifizierung prioritärer Branchen und Wirtschaftsbereiche
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herausgestellt. Auf instrumenteller Ebene werden insbesondere Methoden der Nachhaltigkeitsbewertung sowie die Implementierung von Nachhaltigkeitsstandards in Wertschöpfungsketten adressiert. Im Kontext der Themenlinie „Bioökonomie integrativ“ wird die notwendige Integrationsleistung bei Politik und Markt für eine erfolgreiche bioökonomische Transformation hervorgehoben. Ohne koordinierende Politikintegration zwischen einzelnen Ressorts und der Festlegung von unterstützenden politischen Rahmensetzungen und Anreizsystemen wird eine Bioökonomie kaum zu realisieren sein. Denn insbesondere die Kosten- und Preisstruktur bevorteilt derzeit noch die etablierten fossilen Produktstrategien. Eine erfolgreiche Marktintegration über bspw. Ansätze des Nischenmanagements wie etwa Öffnungs- und Experimentierklauseln setzt eine Politikintegration voraus. Ein zentraler Ansatzpunkt des Bioökonomiediskurses stützt sich auf den Umbau bestehender beziehungsweise Etablierung neuer Wertschöpfungsketten über ein wissensbasiertes Innovationsmanagement, welches postfossile Produktstrategien generiert. Wissensmanagement, Innovationssysteme, Integration der Nutzerperspektive sowie ein gesellschaftlicher Dialog zur Bioökonomie werden im Diskurs besonders betont. Letztlich geht es darum, die Bioökonomie über konkrete Produkte und Produkt-Dienstleistungssysteme umzusetzen und erfolgreich im Markt zu positionieren. Neben herkömmlichen bioökonomischen Produkten kommt insbesondere wissensbasierten, innovativen Produktideen eine große Bedeutung zu. Der Zukunftsdiskurs basiert allerdings nicht nur auf einem einvernehmlichen Verständnis der Bioökonomie, sondern zeichnet sich durch mehrere Konfliktlinien aufgrund von Ziel- und Wertdifferenzen aus. Nutzungskonkurrenzen in der Landwirtschaft, Gerechtigkeitsdefizite in der internationalen Arbeitsteilung sowie erhebliche Umweltbelastungen bei großen Stoffströmen sind Beispiele für zentrale Konfliktfelder der Bioökonomie. Insgesamt zeigt der gegenwärtige Zukunftsdiskurs Bioökonomie eine facettenreiche, multidimensionale Themenlandschaft und verweist damit auf die in den Diskurs eingewobene Komplexität und Ambivalenz. Die Debatte ist geprägt durch eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten an politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und wissenschaftliche Frage- und Problemstellungen. Dabei werden bestimmte Themen von unterschiedlichen Akteuren verschieden bewertet und priorisiert. Auf Basis dieser systematischen Strukturierung kann der gegenwärtige Zukunftsdiskurs Bioökonomie in seiner Komplexität besser verständlich und nachvollziehbar gemacht werden. Zum anderen können daran anknüpfend notwendige wissenschaftliche, regulatorische sowie partizipative und kommunikative Maßnahmen für eine bioökonomische Zukunftsgestaltung aufbauen.
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Dank Die Autoren danken dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) für die Förderung der diesem Aufsatz zugrunde liegenden und durch die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) finanzierten Auftragsforschung. Die inhaltlichen Arbeiten des Beitrags sind im Rahmen des Auftrags „Konzept: gesellschaftlicher Dialog zum Thema Bioökonomie“ entstanden. Unser Dank gilt MinR Dr. Hans-Jürgen Froese und Dr. Tilman Schachtsiek vom BMEL sowie Dr. Andreas Schütte und Mathias Sauritz von der Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe (FNR) für die Unterstützung und kritische Diskussion der Forschungsergebnisse.
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Teil II Bioökonomie als sozio-technisches System: Akteure, Visionen, Governance
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Wissen für den Wandel – Wissenstheoretische Grundlagen einer nachhaltigen Bioökonomiepolitik Sophie Urmetzer, Michael P. Schlaile, Kristina Bogner, Matthias Mueller und Andreas Pyka Zusammenfassung
Eine Strategie zur Umsetzung einer nachhaltigen Bioökonomie muss neben disziplinären und technischen Zielvorstellungen auch den gesellschaftlichen Wandel einplanen und vorbereiten. Eine zukunftsfähige politische Strategie muss also neben dem techno-ökonomischen Wissen ebenso solches Wissen fördern, welches es Produzenten und Konsumenten ermöglicht, nicht- nachhaltige Verfahren und Verhaltensweisen nicht nur zu reduzieren, sondern radikal zu verändern. Dazu gehören neben den technologischen Fertigkeiten auch ein interdisziplinäres Verständnis systemischer Zusammenhänge, demokratisch legitimierte Zielvorstellungen sowie die notwendigen Fähigkeiten, um diese Ziele partizipativ umzusetzen. Nur durch die Anerkennung und gezielte Förderung dieses als dediziert bezeichneten Wissens können nachhaltige S. Urmetzer (*) · M. P. Schlaile · K. Bogner · M. Mueller · A. Pyka Fachgebiet VWL insb. Innovationsökonomik (520i), Universität Hohenheim, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] M. P. Schlaile E-Mail: [email protected] K. Bogner E-Mail: [email protected] M. Mueller E-Mail: [email protected] A. Pyka E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Konrad et al. (Hrsg.), Bioökonomie nachhaltig gestalten, Technikzukünfte, Wissenschaft und Gesellschaft / Futures of Technology, Science and Society, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29433-5_4
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Veränderungen erwachsen. Der Beitrag ergänzt das evolutionsökonomische Konzept des wissensbasierten Wandels durch Ansätze aus den Nachhaltigkeitswissenschaften. Konkret werden die besonderen Eigenschaften dieses dedizierten Wissens diskutiert, wodurch nicht zuletzt eine Grundlage für neue Ansätze in der Bioökonomiepolitik geschaffen wird. Schlüsselwörter
Nachhaltige wissensbasierte Bioökonomie · Transformation · Innovationspolitik · Dediziertes Wissen · Innovationssystem · Transformative Innovation
4.1 Einführung Die Welt steckt in der Krise. Mehr und mehr Wissenschaftler weisen darauf hin, dass die globalen Probleme wie Klimawandel, Biodiversitätsverlust, Umweltverschmutzung und -zerstörung und Ungleichheit unseren Planeten und unsere Gesellschaften massiv bedrohen. Diese Phänomene sind eng miteinander verwoben und haben mittlerweile eine solche Eigendynamik entwickelt, dass es kaum möglich sein wird, mithilfe von inkrementellen Verbesserungen die katastrophalen Auswirkungen zu verhindern. Vielmehr sind Experten zufolge fundamentale Veränderungen in Produktions- und Konsummustern notwendig, um unsere Lebensgrundlagen auf längere Sicht zu erhalten (Schot und Steinmueller 2018; WBGU 2011; Weber und Rohracher 2012). Einen relativ neuen und derzeit sehr populären Ansatz für solche systemischen Veränderungen verspricht die Etablierung einer bio-basierten Wirtschaftsweise. Die Bioökonomie fußt auf neuen und zukunftsträchtigen Verfahren, um biologische Materialien und Prozesse intelligent und effizient zu nutzen. Im europäischen Kontext spricht man aus diesem Grund auch häufig von der wissensbasierten Bioökonomie (Pyka und Prettner 2018; Virgin et al. 2017). Sie soll langfristig sämtliche fossilen Materialien durch nachwachsende Rohstoffe und biologische Verfahren ersetzen. Während die Idee der Bioökonomie in der Politik wie auch in der Wissenschaft Bedeutung erlangt hat, gibt es bis heute keine eindeutige Definition oder Übereinkommen, was wir uns unter einer Bioökonomie tatsächlich vorstellen. Unklar ist auch, wie sie erreicht werden kann und welche Rolle sie in der Klimapolitik oder für das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung allgemein spielen kann und muss (Bugge et al. 2016; Staffas et al. 2013). Denn
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wenngleich die Entwicklung neuer Technologien für die Ablösung erdöl- und erdgasbasierter Produkte und Prozesse für eine klimafreundlichere Wirtschaftsweise unabdingbar ist, so wird ein rein produktionsseitiger Wandel allein kaum für die Lösung der komplexen globalen Herausforderungen sorgen können (Patterson et al. 2017; Pyka 2017; Schlaile et al. 2017). Vielmehr ist eine systemische Herangehensweise an die globalen Probleme vonnöten, die den Ursachen und deren gegenseitigen Wechselwirkungen auf den Grund geht, anstatt lediglich die Symptome abzumildern. Dabei ist unbedingt zu beachten, dass die Bioökonomie zwar ein wichtiger Baustein in einer Transformation zur Nachhaltigkeit sein kann, aber nicht zwingend eine solche antreibt. Nicht-nachhaltige Ausprägungen einer Bioökonomie sind durchaus vorstellbar und, wenn solchen nicht explizit entgegengewirkt wird, sogar relativ wahrscheinlich. Wissenschaftler warnen insbesondere vor den Folgen einer Intensivierung der Landwirtschaft für die Produktion bioökonomischer Rohstoffe mit Auswirkungen auf Wasser, Boden, Biodiversität und die menschliche Gesundheit (Pfau et al. 2014). Als umso dringlicher erachten wir die Notwendigkeit, auf die bereits einsetzende Transformation zur Bioökonomie entsprechend einzuwirken (Pyka et al. 2019). Doch wie können solche systemischen Veränderungsprozesse konzeptualisiert werden, um einerseits retrospektiv die Evolution des Status quo besser zu verstehen und um andererseits die zukünftigen Entwicklungen besser einzuschätzen und zu steuern? Diesbezüglich hat sich das Konzept der Innovationssysteme (IS) (Freeman 2008; Lundvall 2010; Nelson 1993) sowohl in der Forschung als auch in der Politik bewährt. Die Abkehr von einer rein linearen Betrachtungsweise von Innovationsprozessen (Forschung – Entwicklung – Vermarktung) hin zu einer vernetzten, systemischen Perspektive der Produktion und Diffusion von neuem Wissen hatte zur Folge, dass wir heute die für Innovationen und K reativität günstigen Bedingungen besser verstehen. Laut Gregersen und Johnson (1997) stellt das IS „ein System dar, das Wissen sowohl schafft und verteilt als auch anwendet, um es in Form von Innovationen in die Wirtschaft einzubringen. Schließlich wird dieses Wissen durch die Dynamik innerhalb des Systems in Wert gesetzt, beispielsweise in Form von gesteigerter internationaler Wettbewerbsfähigkeit oder Wirtschaftswachstum“1 (Gregersen und Johnson 1997, S. 482). Insbesondere im Kontext einer wissensbasierten Bioökonomie ist diese Zentralität von Wissen in der Idee von IS von herausragender Bedeutung. Im vorliegenden
1Sämtliche
wörtlichen Zitate aus englischsprachigen Publikationen wurden von den Autorinnen selbst übersetzt.
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Beitrag wollen wir deswegen die Rolle und die Besonderheiten dieses systemisch geschaffenen und genutzten Wissens für eine Transformation hin zu einer nachhaltigen Bioökonomie genauer betrachten. Dabei gehen wir davon aus, dass Wissen im Kontext einer Transformation nicht nur in Wirtschaftssystemen nützlich und gestaltend wirkt, sondern grundsätzlich auch Gesellschafts- und Ökosysteme beeinflusst (und von diesen beeinflusst wird). Folglich ändert sich bei der Betrachtung einer Transformation hin zu einer nachhaltigen wissensbasierten Bioökonomie (NWB) auch die Definition dessen, was als „Wert-voll“ erachtet wird, indem hier nicht ausschließlich ökonomische Maßstäbe angesetzt werden (Martin 2016). Durch diese Argumentation wird offensichtlich, dass die Wissensbasis für eine NWB nicht rein techno-ökonomischer Natur sein kann. Stattdessen halten wir die genaue Untersuchung weiterer Wissensarten und ihrer Eigenschaften für die Erforschung wahrhaft transformativer Innovation als Ergebnis eines zielorientierten oder dedizierten Innovationssystems (Pyka 2017) für unerlässlich. Die Nachhaltigkeitsforschung erachtet mindesten drei Arten von Wissen als notwendig, um komplexe Problemstellungen in Bezug auf Nachhaltigkeitstransformationen zu bearbeiten: Diese sind Systemwissen, normatives Wissen und transformatives Wissen (Abson et al. 2014; Grunwald 2016; ProClim- 1997; von Wehrden et al. 2017; Wiek und Lang 2016). Diese drei Wissensarten müssen berücksichtigt und aktiv gefördert werden, wenn es darum geht, eine Transformation hin zu einer NWB zu erreichen. Der vorliegende Beitrag soll dazu dienen, die Bedeutung und die Eigenschaften solchen Wissens zu veranschaulichen. Dazu leiten uns die folgenden Forschungsfragen: • Was sind – basierend auf einer Kombination von Erkenntnissen der Innovationssystemforschung und der Nachhaltigkeitswissenschaften – die Eigenschaften von Wissen, welches die Transformation hin zu einer nachhaltigen wissensbasierten Bioökonomie befördert? • Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die wissenstheoretischen Grundlagen einer auf transformative Innovationen ausgerichtete, nachhaltigen Bioökonomiepolitik? Im folgenden Abschn. 4.2 werden wir zunächst das Verständnis von Wissen in der Volkswirtschaftslehre zusammenfassen. Wir erörtern, inwieweit die Betrachtung der Eigenschaften von ökonomisch relevantem Wissen die Innovationspolitik weltweit beeinflusst, und stellen die drei genannten Wissensarten für eine Nachhaltigkeitstransformation vor (Systemwissen, normatives Wissen und transformatives Wissen). Abschn. 4.3 klärt die Bedeutung dieser Wissensarten, untersucht ihre Relevanz und ihren Wert für Transformationen hin zu einer
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NWB und stellt Überlegungen zu deren Eigenschaften an. Im Anschluss daran ziehen wir in Abschn. 4.4 die Schlussfolgerungen zur Verbesserung der wissenstheoretischen Grundlage einer für die Bioökonomie förderlichen Innovationspolitik. Eine Zusammenfassung und einen Ausblick auf lohnenswerte weitere Forschung liefern wir in Abschn. 4.5.
4.2 Wissen und Innovationspolitik Die Auffassungen darüber, was Wissen ist und welche Eigenschaften es besitzt, unterscheiden sich zum Teil sehr stark von Fachgebiet zu Fachgebiet. Der Duden definiert Wissen ganz allgemein als die „Gesamtheit der Kenntnisse, die jemand (auf einem bestimmten Gebiet) hat“ (Duden 2019). Das Gabler Wirtschaftslexikon betrachtet Wissen darüber hinaus als Mittel zur Lösung von Problemen (Gabler Wirtschaftslexikon 2019). Noch subtiler liest sich die Definition der Philosophin Linda Zagzebski, die Wissen als Beziehung betrachtet. „Die eine Seite der Beziehung bildet das bewusste Subjekt, die andere Seite bildet ein Teil der Realität, mit welcher die wissende Person direkt oder indirekt verbunden ist“ (Zagzebski 1999, S. 92). Trotz der sehr verschiedenen Auffassungen von Wissen sind sich jedoch die meisten Wissenschaftlerinnen und Politikerinnen darüber einig, dass Wissen eine zentrale wirtschaftliche Ressource darstellt (Lundvall und Johnson 1994, S. 27). Aus diesem Grund beeinflusst das jeweilige Verständnis von Wissen und die Einschätzung seiner Eigenschaften auf fundamentale Weise die Wahl der Strategien und Maßnahmen, wie mit dieser Ressource am besten umzugehen ist und wie man sie am effektivsten nutzen kann. Politikerinnen haben die Möglichkeit, mit bestimmten Maßnahmen die Schlüsselprozesse der Generierung, der Diffusion und der Anwendung (und In-Wert-Setzung) von Wissen innerhalb eines IS zu verbessern. Das bedeutet gleichzeitig, dass ein unvollständiges Verständnis von Wissen diese innovationsförderlichen Wissensflüsse in IS nicht verbessern und seine In-Wert-Setzung sogar behindern kann.
4.2.1 Wissen neu verstehen Als Ausgangspunkt für eine genauere Betrachtung von Wissen in einem volkswirtschaftlichen Kontext beeinflusste die Auffassung der etablierten neoklassischen Ökonomik sehr lange die Wahl politischer Strategien und Maßnahmen. Traditionelle neoklassische Ökonominnen beschreiben Wissen
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als immaterielle Ressource mit den typischen Eigenschaften öffentlicher Güter, von deren Nutzung niemand ausgeschlossen werden kann (non-excludability) und deren Nutzung durch eine Person die Nutzung durch eine andere Person nicht ausschließt (non-rivalry). Ein typisches öffentliches Gut ist beispielsweise die frische Luft. Wendet man diese Eigenschaften also auf Wissen an, muss man davon ausgehen, dass Wissen zwischen den Akteuren frei hin und her fließt. In einer solchen Welt ist Lernen überflüssig, da Wissen unmittelbar von Person zu Person diffundiert und der Wissenstransfer weder Kosten noch Mühen bedeutet. Im Gegensatz zu der vorherrschenden neoklassischen Ökonomik verstehen Innovationsökonominnen der neo-Schumpeterianischen oder evolutorischen Schule wie auch Managementwissenschaftlerinnen Wissen als ein sogenanntes latent-öffentliches Gut (Nelson 1989), da es sowohl Eigenschaften öffentlicher als auch nicht-öffentlicher Güter besitzt. Viele der Eigenschaften nicht-öffentlicher Güter haben insbesondere Auswirkungen auf die Weitergabe und die Diffusion von Wissen. Aus diesem Grund ist diese Betrachtungsweise für eine Steuerung oder Beeinflussung der zentralen Prozesse in IS (Generierung, Diffusion und Anwendung/in-Wert-Setzung von Wissen, s. o.) und damit für die Innovationspolitik besonders relevant. Welches aber sind die nicht-öffentlichen Eigenschaften von Wissen und welche Bedeutung haben sie für die genannten zentralen Prozesse in IS? Die Eigenschaften von Wissen, die insbesondere bei der Generierung neuen Wissens von Bedeutung sind, sind dessen kumulativer Charakter (Boschma 2005; Foray und Mairesse 2002), dessen Pfadabhängigkeit (Dosi 1982; Rizzello 2004) sowie dessen Verbundenheit mit anderem Wissen (Morone und Taylor 2010; Vermeulen und Pyka 2017). Diese Eigenschaften erklären unter anderem, dass die Schaffung von neuem Wissen und Innovationen häufig auf der (Re-)Kombination von bislang unverbundenem Wissen beruhen (Arthur 2007; Schumpeter 1911). Durch seinen kumulativen Charakter kann Wissen nur dann neu geschaffen werden, wenn bereits ein Maß an Wissen vorhanden ist, welches es der Wissensträgerin ermöglicht, Wissen von außen damit zu verbinden und aus dieser Verbindung bislang nicht existierendes Wissen zu schaffen (Morone und Taylor 2010; Schlaile et al. 2018). In Bezug auf die Diffusion, also die Verbreitung von neuem Wissen durch das IS, sind insbesondere die folgenden Eigenschaften von Wissen relevant: es ist häufig implizit oder auch tazit (tacit), also nicht kodifizierbar, es kann schwer bewegbar (sticky) sein und bisweilen ist es zerstreut (dispersed). Implizites Wissen (Polanyi 1966) kann nicht niedergeschrieben und dann weitergegeben werden (Galunic und Rodan 1998). Somit ist es einfach, andere vom Gebrauch dieses Wissens auszuschließen, wodurch Wissen eine wichtige Eigenschaft öffentlicher Güter ver-
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liert (non-excludability) (Antonelli 1999). Selbst wenn die Wissensträgerin dazu bereit ist, ihr Wissen zu teilen, macht es diese Eigenschaft zuweilen unmöglich, es anderen zu vermitteln (Nonaka 1994). Außerdem kann Wissen schwer bewegbar sein (Szulanski 2003; von Hippel 1994). Eine Übermittlung von Wissen an eine andere Person kann also in diesem Fall erheblich mehr Aufwand erfordern als in anderen Fällen. Diese Eigenschaft kann von mehreren Faktoren abhängen, einschließlich Wissensmenge und -art sowie auch den individuellen Charakteristiken der Wissensträgerin. Schließlich kann die Zerstreutheit von Wissen die Bedingungen der Wissensdiffusion beeinflussen. Galunic und Rodan (1998) ziehen zur Abgrenzung zwischen verteiltem (distributed) und zerstreutem (dispersed) Wissen den Vergleich zu einem Puzzle: Wissen kann als verteilt bezeichnet werden, wenn jeder Akteur eine Kopie des gesamten Puzzles besitzt. Im Gegensatz dazu ist Wissen zerstreut, wenn jeder nur ein Puzzleteil besitzt. In dieser Situation verfügt jeder Akteur nur über einen Teil des Wissens, kann sich aber ohne das Wissen der anderen kein Gesamtbild machen. Die Wissensdiffusion wird somit erschwert. Wenn es darum geht, das Wissen anzuwenden und in etwas Wertvolles zu verwandeln, sind wiederum nochmals andere Eigenschaften des Wissens (und der Wissensträgerin) bedeutend: hier spielen die Kontext-Abhängigkeit und die Ortsbezogenheit von Wissen eine Rolle. Denn selbst wenn Wissen im IS frei verfügbar ist, sind diese dem öffentlichen Gut vergleichbaren Eigenschaften irrelevant in Fällen, in denen es für die Empfängerin des Wissens nicht von Nutzen ist. Wissen an sich hat keinen eigenen Wert. Erst wenn das Wissen von jemandem genutzt werden kann, beispielsweise um ein bestimmtes Problem zu lösen, wird es (in diesem speziellen Zusammenhang) wertvoll (Potts 2001). Wenn wir also davon ausgehen, dass Wissen für jeden Akteur einen unterschiedlichen Wert hat, folgt daraus, dass mehr Wissen zu besitzen nicht automatisch von Vorteil ist. Man benötigt das richtige Wissen im richtigen Zusammenhang zur richtigen Zeit und muss gleichzeitig dieses Wissen richtig kombinieren, um es nutzen und anwenden zu können. Die „Ressource“ Wissen ist also zumeist nur in dem Rahmen nützlich, in dem und für den es geschaffen wurde (Galunic und Rodan 1998). Darüber hinaus benötigen Akteure die entsprechenden absorptiven Fähigkeiten (absorptive capacities), um neues Wissen zu verstehen und zu nutzen (Cohen und Levinthal 1989, 1990). Die Bedeutung dieser absorptiven Fähigkeiten wächst, je verschiedener die Akteure voneinander sind: Wissensträgerinnen, die eine sehr unterschiedliche Wissensbasis haben, also eine hohe kognitive Distanz (cognitive distance) zueinander aufweisen, müssen umso mehr absorptive Fähigkeiten besitzen, um dieses Wissen auszutauschen und zu internalisieren. Wissen zu erlernen und anzuwenden ist selbstverständlich einfacher, je näher oder ä hnlicher
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das neue Wissen dem bereits vorhandenen Wissen ist (Bogner et al. 2018; Nooteboom et al. 2007). An dieser Stelle ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass die Prozesse der Generierung, Diffusion und Anwendung von Wissen in IS in der Realität nicht einer linearen Sequenz folgen, wenngleich sie hier als diskrete Prozesse beschrieben und charakterisiert werden. Ganz im Gegenteil: Die Wissensschaffung, -diffusion und -anwendung und die jeweils relevanten Eigenschaften von Wissen sind auf vielfältige Weise miteinander verschränkt und beeinflussen sich gegenseitig. Da Innovation stets einen experimentellen Charakter hat und mit fundamentaler Unsicherheit einhergeht, ergeben sich beispielsweise während der Weitergabe von Wissen immer wieder Feedback-Schleifen in Form von Rückfragen, Anpassungen oder Neu-Orientierungen. Zudem können Pfadabhängigkeiten in kognitive Sackgassen, sogenannte Lock-in-Situationen führen, da es Menschen stets schwerfällt, einmal beschrittene Wege zu verlassen. Gewohnte Denkmuster oder Einstellungen stehen daher häufig der logischen Abfolge von Lernen, Weitergeben und Umsetzen entgegen. Die Dreifaltigkeit von Generierung, Diffusion und Anwendung von Wissen soll also nicht bedeuten, dass Wissen ganz selbstverständlich in etwas Wertvolles verwandelt wird, solange nur die Rahmenbedingungen für seine Diffusion stimmen.
4.2.2 Wissensbasierte Innovationspolitik Die unterschiedlichen Auffassungen von Wissen haben seit jeher Ziele und Maßnahmen der Innovationspolitik geprägt (Lundvall 2001; Nyholm et al. 2001). Folgt man der Logik neoklassischer Ökonomik, erwartet man durch die einem öffentlichen Gut gleichenden Eigenschaften von Wissen Marktversagen in Form von negativen Externalitäten, Anreizproblemen und privaten Investitionen in Forschung und Entwicklung (F&E), die unterhalb des sozialen Optimums liegen. Von diesen Annahmen geleitet, hat sich die Politik lange Zeit hauptsächlich darauf konzentriert, Externalitäten zu internalisieren, private Akteure zu mehr Forschung und Entwicklung zu motivieren und staatliche Forschung und Entwicklung zu initialisieren. Typische Maßnahmen waren dabei die Stärkung geistiger Eigentumsrechte, staatliche Subventionen für F&E Aktivitäten in Privatunternehmen, sowie staatliche Investitionen in öffentliche Forschungseinrichtungen (Chaminade und Edquist 2010). Maßnahmen wie „die Blockfinanzierung von Universitäten, Subventionen oder Steuergutschriften für Forschung und Entwicklung etc. [waren] die hauptsächlich eingesetzten
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Instrumente der Wissenschafts- und Technologiepolitik der Nachkriegszeit in OECD Ländern“ (Smith 1994, S. 8). Diese Art der Politik änderte sich zu einem gewissen Grad durch eine veränderte Auffassung von Wissen. Wenn man nämlich Wissen als ein nur latentöffentliches Gut betrachtet, ändert sich auch die logische Grundlage für ein politisches Eingreifen: nicht das (laut dieser Definition so nicht stattfindende) Marktversagen rechtfertigt eine Intervention durch die öffentliche Hand, sondern systemisches Versagen (Chaminade und Edquist 2010) bei der Generierung, Diffusion und Anwendung neuen Wissens. So ist Innovationspolitik westlicher Länder heute häufig von diesem eher ganzheitlichen Verständnis von Wissen und den entsprechenden Rückschlüssen für Innovationsförderung auf Basis der IS-Theorie geleitet. Während eine neoklassisch geprägte Innovationspolitik auf die quantitative Verbesserung und Distribution der einzelnen Prozesse in der Wissensgenese abzielt, ist die systemisch orientierte Innovationspolitik zusätzlich darauf ausgerichtet, die oben beschriebenen Barrieren innerhalb und zwischen den Prozessen (Generierung, Diffusion und Anwendung von Wissen) im IS abzubauen, um das neue Wissen besser zu nutzen (Lundvall 2001; Nyholm et al. 2001). Diese Barrieren können häufig auf systemische Ineffizienz zurückgeführt werden, welche wiederum durch infrastrukturelle oder institutionelle Anpassungen, durch Bildung, Netzwerkförderung oder andere Maßnahmen abgebaut oder gemindert werden können (Chaminade und Edquist 2010). Über die vergangenen Jahrzehnte hat sich Innovationspolitik also dahingehend verändert, dass ihr ein umfassenderes Verständnis von Wissen zugrunde liegt und damit Innovationsprozesse heute durchaus realistischer betrachtet werden (Edler und Fagerberg 2017). Dennoch gelingt es der Politik bis heute häufig nicht, die Schaffung, Diffusion und Anwendung von allen relevanten Arten von Wissen angemessen zu fördern. Wenngleich viele Politikerinnen sich klar zu diesem fortschrittlichen Verständnis von Wissen und Innovation bekennen, ist nach einem Vierteljahrhundert Smiths Mahnung noch immer aktuell, dass „in der Politik nach wie vor ein lineares Denken vorherrscht, wenngleich in einem neuen Innovationskontext“ (Smith 1994, S. 8).
4.2.3 Wissen in der transformativen Nachhaltigkeitswissenschaft Die Orientierung an neuen Wissenskonzepten aus den Wirtschaftswissenschaften hat der Innovationspolitik durchaus zu Erfolg verholfen. Die gezielte
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Unterstützung von IS auf verschiedenen geographischen Ebenen (insbesondere regional und national) verbesserte die Innovationskraft allgemein (Asheim et al. 2011; Smits und Kuhlmann 2004). Doch zu welchem Zweck? Bislang ging man zumeist selbstverständlich davon aus, dass Innovation per se wünschenswert ist (Schlaile et al. 2017; Soete 2013) und automatisch Wert schafft. Wenn Forschung im IS jedoch zur Entwicklung globaler Problemlösungen beitragen soll, reicht es nicht, lediglich die Innovationskapazität zu erhöhen. Es wird nicht genug sein, den Austausch von ökonomisch relevantem Wissen zu verbessern (Schlaile et al. 2017). Der Grund hierfür liegt in der Natur der global wirkenden Bedrohungen, mit denen wir uns konfrontiert sehen, allen voran der Klimawandel, aber auch die Übernutzung der natürlichen Ressourcen, Ungleichheit, Artenschwund und viele andere. Diese komplexen Probleme werden im aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs häufig als „bösartig“ bezeichnet (wicked problems nach Rittel und Webber 1973), da sie als Teil eines immer komplexer werdenden Gefüges kaum voneinander abgrenzbar, in ihrem Ursache-Wirkungs-Prinzip undurchschaubar, von niemandem allein zu verantworten und aus diesen Gründen extrem schwierig zu greifen und zu lösen sind. Solchen Problemen ist weder mit rein techno-ökonomischen Lösungen noch mit regulativer Politik oder Ideologie allein beizukommen, da ihre Ursachen stets in einer Vielzahl von Aktivitäten, Prozessen und Zusammenhängen zu finden sind. Die Entwicklung von wirksamen Lösungsansätzen und die Schaffung von entsprechendem Wissen kann also nicht den Ökonominnen, den Ingenieurinnen oder anderen isolierten Disziplinen überlassen werden (Lahsen 2010). Vielmehr werden zusätzliche, inter- und transdisziplinär fundierte Arten von Wissen notwendig, um zu langfristigen Lösungen zu gelangen. Die Nachhaltigkeitswissenschaften und insbesondere die Transformationswissenschaften liefern hier einen Ansatz (Wiek und Lang 2016), der die folgenden drei Arten von Wissen in den Vordergrund stellt: 1) Systemwissen als grundlegendes Verständnis der Prozesse und der Dynamik in Ökosystemen und sozialen Systemen (inklusive IS); 2) Normatives Wissen, welches die wünschenswerte Zielvorstellung umfasst; und 3) Transformatives Wissen, durch welches – basierend auf Systemwissen und normativem Wissen – Entwicklungsstrategien für Systeme in Richtung der gewünschten Zielvorstellung entwickelt werden (Abson et al. 2014; ProClim- 1997; von Wehrden et al. 2017; Wiek und Lang 2016). Welche spezifischen Eigenschaften insbesondere diese Arten von Wissen haben und welche Besonderheiten zu beachten sind, um es in IS zu generieren, zu verbreiten und in Wert zu setzen, wurde bislang nicht untersucht. Vor dem
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Hintergrund einer dedizierten Transformation hin zu einer NWB wollen wir im Folgenden diese Eigenschaften genauer beleuchten.
4.3 Dediziertes Wissen für eine Transformation zur nachhaltigen wissensbasierten Bioökonomie Eine Transformation, die sich an dem Ziel einer NWB orientiert, kann aus der Perspektive des relativ neu entwickelten Konzepts eines dedizierten Innovationssystems (dedicated innovation system, DIS) betrachtet werden (Pyka 2017; Schlaile et al. 2017; Urmetzer und Pyka 2019). DIS orientieren sich ausdrücklich weniger an den dominanten ökonomischen Zielen wie Wirtschaftswachstum und Wettbewerb, sondern stellen die transformative Innovation in den Mittelpunkt. Transformative Innovation bedeutet eine Erneuerung nicht nur in technologischer Hinsicht. Sie schließt vielmehr auch die notwendigen systemischen Veränderungen unserer Lebensweise und unserer Wirtschaftsprinzipien mit ein (Steward 2008, 2012). Gleichzeitig relativiert sich im DIS der Selbstzweck von Innovation. Nur wenn sie einen Beitrag zur Nachhaltigkeitstransformation leistet, qualifiziert sich Innovation als erstrebenswert (Schlaile et al. 2017). Um den systemischen Stillstand und den Widerstand etablierter Unternehmen zu überwinden, werden in einem DIS neue Formen der Generierung, Diffusion und Anwendung von Wissen wie auch ganz neue Wissensinhalte notwendig. Im Folgenden erläutern wir, inwieweit das „herkömmliche“ Verständnis von Wissen in IS ergänzt werden muss, um eine dedizierte Wissensbasis zu liefern, auf deren Grundlage die Transformation zu einer NWB stattfinden kann. Es ist nämlich nicht ausreichend, die Erschließung nachwachsender Rohstoffe zu optimieren und die Technologien biologischer Verfahren weiterzuentwickeln. Gleichzeitig müssen Rückkopplungseffekte und Wechselwirkungen verstanden, Zielvorstellungen verhandelt und Entwicklungspfade entwickelt werden, um die Bioökonomie nachhaltig zu gestalten. Dediziertes Wissen muss also eine Kombination aus ökonomisch relevantem oder techno-ökonomischem Wissen und Systemwissen, normativem Wissen und transformativem Wissen enthalten. Da über die Bedeutung und die Eigenschaften dieser letzten drei Wissensarten wenig bekannt ist, werden wir sie nun ausführlich beschreiben und ihre zentralen Eigenschaften in Zusammenhang mit ihrer Generierung, Diffusion und Anwendung genauer beleuchten. Die Ausführungen dienen dann als Grundlage für eine wissenstheoretisch fundierte Perspektive, aus welcher wir im nachfolgenden Abschnitt die aktuelle Bioökonomiepolitik diskutieren.
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4.3.1 Systemwissen Betrachtet man die Komplexität und Interdependenz von Transformationsprozessen auf verschiedenen Ebenen genauer, wird schnell klar, dass Grenzen zwischen verschiedenen Subsystemen an Bedeutung verlieren. In einer vernetzten Welt, in der technologische, soziale und natürliche Systeme ineinandergreifen und voneinander abhängig sind, gibt es keine exogenen Einflüsse mehr. Nicht einmal das Klima kann mehr als unabhängige Größe verstanden werden. Also muss auch im Kontext einer NWB Systemwissen über das traditionelle Verständnis eines IS im Sinne von Akteuren, Institutionen und deren Interaktionen hinausgehen. Schon früh erkennt Grunwald, dass „ein ausreichendes Verständnis von natürlichen und sozialen Systemen wie auch die Kenntnis der Interaktionen zwischen Gesellschaft und der natürlichen Umwelt notwendige Bedingungen sind, um nachhaltige Entwicklung zu erreichen“ (Grunwald 2004, S. 154). Tatsächlich hat die IS-Literatur viel zum allgemeinen ökonomischen Systemwissen beigetragen. So untersucht die IS-Forschung beispielsweise systemische Innovationsprozesse auf verschiedenen Ebenen, wie Technologien, Sektoren, Regionen, Nationen und der Welt. Allerdings müssen wir für eine Transformation hin zu einer NWB zusätzlich das Zusammenspiel zwischen IS und dem Erdsystem (Biermann et al. 2010) und anderen relevanten Subsystemen (Almudi und Fatas-Villafranca 2018; Boulding 1985) verstehen. In diesem Zusammenhang betonen verschiedene Autoren die Bedeutung systemischer Schwellenwerte und sogenannter Kipppunkte (tipping points; vgl. bspw. Young 2017) und Netzwerkstrukturen (vgl. bspw. Morone et al. 2015; Scheiterle et al. 2018). Diese Aspekte müssen als wichtige Elemente bioökonomischen Systemwissens betrachtet werden, da sie verdeutlichen, dass Systeme emergente Ergebnisse produzieren, die niemals rein auf die Summe der Eigenschaften der einzelnen Teile zurückzuführen sind. Ein prominentes Beispiel für einen offenkundigen Mangel an Systemwissen in der Bioökonomiepolitik ist der Fall der Biokraftstoffe und ihr negativer Effekt auf Landnutzung und Nahrungsmittelversorgung in einigen der am wenigsten entwickelten Länder der Erde (Leemans et al. 1996; Searchinger et al. 2008). Das Problem, das hier eigentlich gelöst werden sollte, war der durch die hohen CO2-Emissionen hervorgerufene Klimawandel. Der Lösungsansatz sah vor, die Kohlenstoffintensität des Verkehrs durch die verstärkte Subventionierung von Biokraftstoffen zu reduzieren. Leider stellte sich nach dem ersten Boom heraus, dass die CO2-Einsparungen enttäuschend gering ausfielen oder insgesamt sogar mehr CO2 ausgestoßen wurde, da die ursprünglichen Rechenmodelle für die
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CO2-Einsparung die Effekte der Biokraftstoff-Politik auf Märkte und Produktion nur unzureichend berücksichtigt hatten: Zwar war die Kohlenstoffintensität des Nutzpflanzenanbaus einberechnet, nicht jedoch die Ausdehnung der landwirtschaftlich genutzten Fläche und die Umwandlung von ehemaligem Grasland und Waldgebieten in Agraranbaufläche (Leemans et al. 1996; Searchinger et al. 2008). Die Auswirkungen dieser indirekten Veränderungen in der Landnutzung (indirect land-use change, ILUC) auf das Klima sind so gravierend, dass sie die positiven Effekte von Biokraftstoff aufheben oder gar umkehren. Hier wurden also politische Entscheidungen auf der Grundlage linearen Wirkung-Ursache-Denkens getroffen. Eine systemische Betrachtung und die Berücksichtigung indirekter Effekte und ungeplanter Anreize war vor Umsetzung der Maßnahmen nicht erfolgt – mit verheerenden Folgen für die Nachhaltigkeit. Doch wie erlangen wir dieses so fundamental wichtige Wissen über das bioökonomische System und seiner Funktionsweisen? Die meisten der Eigenschaften latent-öffentlicher Güter (vgl. Abschn. 4.2.1) gelten auch für Systemwissen: Es besitzt Querverbindungen zu anderem Wissen, hat kumulative Eigenschaften und ist häufig schwer zu kodifizieren. Für die Transformation hin zu einer NWB bedeutet das zweierlei: Erstens kann Systemwissen ziemlich schwer bewegbar sein, es wird also großen Aufwand erfordern, es weiterzugeben. Der Grund dafür ist grundsätzlich, dass die Aneignung einer systemischen Denkweise einen großen intellektuellen Sprung in unserem vorherrschend mechanistischen Weltbild bedeutet (Capra und Luisi 2014). Zweitens können wir davon ausgehen, dass Systemwissen unter den verschiedenen Disziplinen und Wissensbasen extrem zerstreut ist. Das Problem, das zum erwähnten ILUC-Effekt führte, könnten also durchaus die unterschiedlichen Teile des Puzzles gewesen sein, die Agrarierinnen, Ökonominnen, Naturwissenschaftlerinnen und Sozialwissenschaftlerinnen nicht vollständig ineinandergefügt hatten.
4.3.2 Normatives Wissen Folgt man Abson und seinen Kolleginnen (Abson et al. 2014), umfasst normatives Wissen einerseits das Wissen um einen erstrebenswerten Systemzustand (normative Ziele oder Zielwissen) und andererseits die Fähigkeit, diese Ziele rational zu bewerten und vor dem Hintergrund des Systemwissens entsprechend einzuordnen. Für eine Transformation hin zu einer NWB geht es dabei offensichtlich nicht nur um Fragen der Zielrichtung, Verantwortung oder Legitimität von Innovationen in IS (Schlaile et al. 2017). Darüber hinaus spielen auch
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die Ziele der mit den IS verbundenen physikalischen, biologischen, sozialen, politischen und anderen Systeme eine große Rolle (Boulding 1985). Folglich muss die in-Wert-Setzung von Wissen in IS für DIS eine neue Dimension erhalten: Die traditionellen Ziele wie internationale Wettbewerbsfähigkeit und Wirtschaftswachstum müssen dahingehend ergänzt oder vielmehr verändert werden, dass sie auch für die assoziierten (Sub-)Systeme Wert schaffen, also beispielsweise für soziale und natürliche Systeme (zur Diskussion über Zielorientierung vgl. auch Daimer et al. 2012; Lindner et al. 2016). In diesem Zusammenhang stoßen bisherige systemische Transformationsansätze jedoch bislang an ihre Grenzen: Die Komplexität von normativem Wissen und Wertesystemen wird dahingehend unterschätzt, dass gewöhnlich ein Konsens über die Dringlichkeit und die Bedeutung von Nachhaltigkeitszielen angenommen wird (Almudi et al. 2016). Eine tiefere Auseinandersetzung mit den Werten findet in der Nachhaltigkeitsforschung normalerweise nicht statt (Miller et al. 2014). Dabei ist Nachhaltigkeit ein durch und durch normatives Phänomen (Grunwald 2007). Wissen über Normen, Werte und Ziele ist notwendig, um sich über die Dringlichkeit und die Richtung des Wandels bewusst und einig zu werden. Denn jenseits des Konsens, dass nicht mehr Ressourcen verbraucht werden sollen als für zukünftige Generationen nachwachsen können, besteht keine Einigkeit darüber, was Nachhaltigkeit wirklich bedeutet und wie sie erreicht werden kann (Peterson 2009). Normen, Werte und Narrative der Nachhaltigkeit beruhen auf sehr unterschiedlichen Weltbildern, sind selten konsensfähig und werden vielerorts heftig debattiert oder geradewegs abgelehnt (Almudi et al. 2016; Beddoe et al. 2009; Brewer und Karafiath 2013; Leach et al. 2010; Schlaile et al. 2017). Über diese Tatsache können auch global vereinbarte Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen (UN 2015) nicht hinwegtäuschen, welche spätestens bei ihrer Umsetzung in den unterschiedlichen geographischen Kontexten normative Debatten auslösen (Schneider et al. 2019). Ähnlich uneindeutig sind die Vorstellungen bei der Umsetzung der Bioökonomie (Bugge et al. 2016; Hausknost et al. 2017). So existiert keine gemeinsame Vorstellung darüber, wie eine NWB tatsächlich funktioniert jenseits der vagen Zielsetzung, fossile durch biogene Rohstoffe zu ersetzen und dadurch Emissionen und Abfall zu vermeiden. Nimmt man die Komplexität normativen Wissens wirklich ernst, so mag es sogar ganz und gar unmöglich sein, global geltende Regeln, Normen und Werte auszuhandeln und ein universelles Paradigma für eine NWB-Transformation zu definieren (vgl. dazu bspw. Pfau et al. 2014). Stattdessen könnte es sinnvoller sein, die Wirtschaftsakteure im IS dazu zu befähigen, „Normen und Prinzipien auf Grundlage der Erwartungen und Beiträge verschiedener Interessengruppen auszuhandeln“ (Blok et al. 2016, S. 12). Für eine NWB würde das beispielsweise
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bedeuten, dass für die Beschaffung von Rohstoffen weltweit bestimmte Kriterien ausgehandelt werden, die eben nicht nur auf ihre CO2-Bilanz abstellen, sondern auch soziale und ökologische Kriterien berücksichtigen. Somit müssen bei der Schaffung von normativem Wissen für eine NWB kulturelle, sozioökonomische und weltanschauliche Grenzen überwunden werden. Die einzelnen Bausteine normativen NWB-Wissens sind also äußerst ortsbezogen, trotz der Tatsache, dass der Verbrauch fossiler Rohstoffe selbstverständlich globale Auswirkungen hat. Wir müssen daher davon ausgehen, dass normatives Wissen sich parallel zu anderen kulturellen Eigenheiten in unterschiedlichen Nationen, Industrien oder politischen Umfeldern unterschiedlich entwickelt (Breslin 2014; Wuketits 1993). Insofern versteht sich die NWB-Transformation ebenso wie die nachhaltige Entwicklung als ein zu verhandelnder Weg, bei dem es kein Richtig oder Falsch gibt, sondern lediglich ein – aus verschiedenen Perspektiven unterschiedlich bewertetes – Besser oder Schlechter (Peterson 2009). Folglich ist auch die Verbreitung von normativem Wissen immer kontextabhängig. Die Herausforderungen, mit welchen uns die Verbreitung und Umsetzung von normativem Wissen und Wertesystemen konfrontiert, sind also zweierlei: Offensichtlich besteht einerseits ein Wettbewerb in der Herausbildung verschiedener Normen und Weltbilder zwischen den gesellschaftlichen Subsystemen Konsum, Markt, Staat, Zivilgesellschaft, und natürlicher Raum (Almudi und Fatas-Villafranca 2018). Hinzu kommen jedoch auch innerhalb der Subsysteme kognitive Distanzen (vgl. Abschn. 4.2.1), also kulturell bedingte Unterschiede in den Wissensgrundlagen, was die Verhandlungen darüber, was wünschenswert ist, und damit die Übereinkunft einer gemeinsamen normativen Wissensbasis extrem erschweren kann. Diese komplexe Gemengelage kann somit nur aus einer systemischen Perspektive heraus betrachtet und verstanden werden, die die Wechselwirkung zwischen verschiedenen Weltbildern, Visionen, Paradigmen, dem Erdsystem, den vorherrschenden Regimen und den Nischen berücksichtigt (Göpel 2016).
4.3.3 Transformatives Wissen Im Rahmen des vorliegenden Beitrages verstehen wir transformatives Wissen als Wissen darüber, wie die bereits einsetzende Transformation hin zu einer NWB beeinflusst und beschleunigt werden kann. Laut Abson und Kolleginnen benötigen wir transformatives Wissen, um konkrete Strategien für eine Systemtransformation (basierend auf Systemwissen) hin zu den normativen Zielen (basierend auf normativem Wissen) zu entwickeln (Abson et al. 2014). Dazu ist sowohl
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theoretisches als auch praktisches Wissen vonnöten, welches sich aus impliziten und kodifizierten Elementen zusammensetzt. Transformatives Wissen umfasst die Fähigkeit, einen Wandel im System hervorzurufen. Denn obwohl die komplexen Probleme, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen, meist globaler Natur sind, werden die Lösungsansätze an die jeweils lokalen Verhältnisse angepasst werden müssen (Steward 2008). Während beispielsweise die grundsätzlichen Ziele einer Bioökonomie relativ unbestritten sind, werden die konkreten Maßnahmen und die Verteilung der Ressourcen auf regionaler und lokaler Ebene jeweils gesondert ausgehandelt werden müssen (Schaper-Rinkel 2012). So bedarf der global gesteigerte Einsatz von biogenen Rohstoffen in agrarisch geprägten Regionen produktionsseitige Maßnahmen, wohingegen im urbanen Bereich vor allem neue Konzepte des Konsums, der Stadtplanung und der Mobilität gelernt und umgesetzt werden müssen. Somit ist transformatives Wissen ausnehmend ortsbezogener Natur. Da wir davon ausgehen, dass sich für eine echte Transformation die Ziele und Werte einer Gesellschaft ändern müssen, gehen Erziehungswissenschaftlerinnen davon aus, dass auch bei den Wissensträgerinnen selbst eine Überprüfung der übernommenen individuellen Wertesysteme und Grundannahmen stattfinden muss (Banks 1993). Betrachten wir also eine solche fundamentale Infragestellung ganz persönlicher Überzeugungen als notwendige Leistung, um sich transformatives Wissen anzueignen, so müssen wir davon ausgehen, dass dieses Wissen extrem schwer bewegbar ist und höchst gefährdet durch Pfadabhängigkeiten und alte Gewohnheiten. In Zusammenhang mit einem Wandel von einer fossilen hin zu einer bio-basierten Wirtschaftsweise bedeutet das konkret, dass gewisse kollektive Selbstverständlichkeiten überwunden werden müssen, also beispielsweise das Vertrauen auf die scheinbar unerschöpfliche Verfügbarkeit von billigem Erdöl und auf die scheinbar unendliche Kapazität unserer Ökosysteme, Müll und Emissionen aufzunehmen. Die Forschung über Bildung für Nachhaltigkeit zeigt, dass das menschliche Handeln nicht allein durch kognitives Wissen gesteuert wird, sondern ebenso durch „tiefere“ Wissensebenen wie Normen, Grundannahmen, Werte oder den Glauben (Sterling 2011). Daraus folgt, dass transformatives Wissen in der Wissensträgerin nur dann eine dauerhafte Verhaltensänderung bewirken kann, wenn es auf diesen verschiedenen Wissensebenen wirksam ist. Fundiertes transformatives Wissen benötigt also neben der genauen Kenntnis der Systemfunktionen (Systemwissen) und der Ziele der Transformation (normatives Wissen) die Fähigkeit, tiefere Ebenen des Wissens zu beeinflussen, um die direkteren und bewussten Ebenen der Regeln, Ideen und Handlungen zu beeinflussen (Dirkx 1998; Mezirow 1991).
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Transformatives Wissen erfordert also ein Lernen auf verschiedenen Ebenen. Dabei ist wichtig, dass es nur dann aufgenommen werden kann, wenn das systemische Problemverständnis und Wertevorstellungen über den angestrebten Transformationspfad vorhanden sind. Das Systemwissen und das normative Wissen bilden also die Grundlage für die Bildung absorptiver Fähigkeiten (vgl. Abschn. 4.2.1), um transformatives Wissen zu schaffen und zu verteilen. Dabei ist zu beachten, dass die notwendigen Wissensbasen niemals statisch sein können, da sie mit Unsicherheit und nicht-linearen Entwicklungen konfrontiert sind. Im Bereich der Bioökonomie erweitert sich systemisches Wissen durch Forschung und Entwicklung, aber auch durch Erfahrung in der Umsetzung rasant. Ebenso ändert sich auch normatives Wissen, also die Vorstellung davon, was eine Gesellschaft und jeder einzelne für gut und erstrebenswert hält, immer wieder. So können zufällige Vorfälle wie die Atomkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011oder die durch die Ausbreitung des neuartigen Corona-Virus ausgelöste Pandemie 2020 sowie durch aktuelle politische Strömungen wie die von Greta Thunberg inspirierten Klimaproteste durchaus Stimmungen in der Gesellschaft hervorrufen, die bestimmte politische Maßnahmen leichter umsetzbar machen und andere erschweren (Cox und Béland 2013; Jahn und Korolczuk 2012). Für alle drei Arten von Wissen, aber insbesondere für das transformative Wissen, das sich ja aus den vorigen gleichsam speist, gilt deswegen das Gebot der Reflexivität (Grunwald 2007; Lindner et al. 2016). Das bedeutet, dass bei der Generierung und Verbreitung des für eine Transformation notwendigen Wissens stets ein Abgleich mit den aktuellen Bedarfen, Entwicklungen und Machbarkeiten stattfinden muss. Die Umsetzung transformativen Wissens kann deswegen auch nur kontextspezifisch erfolgreich sein und zudem nur unter der Voraussetzung, dass die Wissensträgerin dazu bereit ist, nicht nur ihre kognitiven Kapazitäten zu nutzen, sondern dass sie auch auf tieferen Ebenen wie im Bereich der Wertevorstellungen, Grundannahmen und Paradigmen absorptive Kapazitäten aufweist.
4.4 Was das für eine erfolgreiche Bioökonomiepolitik bedeutet 4.4.1 Wissenslücken in aktuellen Bioökonomiestrategien Die Transformation hin zu einer NWB muss also auf transformativem Wissen beruhen, welches sich wiederum per Definition aus den anderen Wissensarten des dedizierten Wissens speist. In diesem Kontext vermuten wir, dass die Entwicklung und Implementierung aktueller europäischer Bioökonomiepolitik bis-
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lang die Besonderheiten dedizierten Wissens nicht ausreichend berücksichtigte und dass dies ein Grund dafür ist, dass die daraus entstandenen Strategien in gewisser Hinsicht nicht wirklich transformativ wirken konnten. Um diese Vermutung zu begründen, greifen wir exemplarisch zwei häufig angeführte Kritikpunkte an der aktuellen Bioökonomiepolitik auf, um diese wissenstheoretisch zu beleuchten. Daraus leiten wir Ausgangspunkte für politische Entscheidungsträgerinnen ab, anhand welcher sie durch gezielte Unterstützung zur Entwicklung, Verbreitung und Anwendung von Systemwissen und normativem Wissen wirksamere politische Strategien entwickeln können. Bioökonomiepolitik wird häufig vorgeworfen, (i) sie verfolge hauptsächlich rein ökonomische Ziele und nehme dadurch zu wenig Bezug auf die beiden anderen Säulen der Nachhaltigkeit, die soziale und die ökologische Dimension (Birch et al. 2010; Bogner 2019; McCormick und Kautto 2013; Pfau et al. 2014; Ramcilovic-Suominen und Pülzl 2018; Schmid et al. 2012). Außerdem (ii) integriere sie relevante Interessengruppen und Betroffene nicht oder nur sehr oberflächlich in die politischen Entscheidungsprozesse (Albrecht et al. 2012a; Bogner 2019; Fatheuer et al. 2015; Pfau et al. 2014; Raghu et al. 2011; Schmid et al. 2012; Schütte 2018).
4.4.1.1 Ökonomische Ziele im Fokus Politische Initiativen für die Bioökonomie haben im Allgemeinen einen stark techno-ökonomischen Fokus. Obwohl die Nachhaltigkeit häufig als Attribut in der Liste der Ziele und Maßnahmen genannt wird, findet nach wie vor eine Überbetonung der ökonomischen Säule der Nachhaltigkeit statt, so etwa auch in den EU Papieren für die Bioökonomie. Ein Indikator dafür ist beispielsweise, dass die priorisierten Tätigkeitsbereiche der Bioökonomie verschiedener europäischer Bioökonomie-Dokumente hauptsächlich Schlüsselbegriffe wie Biotechnologie, Öko-Effizienz, Wettbewerbsfähigkeit, Innovation, Produktionsmenge und Industrie enthalten (Ramcilovic-Suominen und Pülzl 2018). Gleiches gilt für die Mehrzahl nationaler und regionaler Strategien (Staffas et al. 2013). Obgleich die Kommission selbst Nachholbedarf in der Herangehensweise an verschiedene globale Herausforderungen in Zusammenhang mit Nachhaltigkeit, Naturschutz, Klimawandel und Ernährungssicherheit sieht (European Commission 2017), überwiegt hier doch die ökonomische Zielsetzung. Dieses Ungleichgewicht kann auf einen unvollständigen Fundus an Systemwissen zurückgeführt werden. Denn wenn die Bioökonomie wirklich in den grundlegenden Wirtschaftsprozessen Produktion, Konsum, Verarbeitung, Lagerung, Recycling und Entsorgung eine „radikale Veränderung“ anstrebt (European Commission 2012, S. 8) und langfristig den Wohlstand der modernen Gesellschaft garantieren möchte (BMBF und
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BMEL 2015), so müssen die soziale (Wohlstand für alle!) und die ökologische (langfristiger Erhalt der natürlichen Ressourcen!) Dimension eine ebenso wichtige Rolle spielen. Dazu muss mit Hilfe von Systemwissen das Zusammenspiel dieser drei Dimensionen für Politikerinnen greifbar und umsetzbar gemacht werden. Während Systemwissen innerhalb der einzelnen Disziplinen relativ problemlos geschaffen werden kann (man denke beispielsweise an die Fortschritte in der Landwirtschaft, Politikwissenschaft und Erdsystemwissenschaft), scheint die Verbreitung des Wissens über Disziplingrenzen hinweg sowie in die Praxis hinterherzuhinken (Brewer 2015). Die entscheidenden Barrieren gegen die Verbreitung von Systemwissen sind laut unseren Ausführungen in Abschn. 4.3.1 dessen schwere Bewegbarkeit und Zerstreutheit. Um die Wissensdiffusion und -weitergabe zu beschleunigen, ist es daher notwendig, langfristig die Grundprinzipien der Bildung quer durch die Disziplinen und Bildungseinrichtungen zu hinterfragen: lineares Ursache-Wirkung-Denken ist nach wie vor omnipräsent. Stattdessen müssen mehr systemische Denkansätze vermittelt werden. Die Bildungswissenschaftler Jacobson und Wilensky (2006) fordern beispielsweise eine stärkere Einbindung von Elementen der Komplexitätstheorie in verschiedene Bereiche der schulischen und universitären Ausbildung. Sie sind davon überzeugt, dass zukünftige Politikerinnen, Wissenschaftlerinnen und Bürgerinnen notwendigerweise systemische Phänomene wie beispielsweise Interdependenz, Emergenz oder die Interaktion von Systemen mit der Umwelt erkennen und begreifen müssen, um die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts in ihrer Komplexität zu bewältigen. Als Lösungsansatz gegen die Zerstreutheit von bioökonomisch relevantem Systemwissen über die verschiedenen Disziplinen und Industriezweige hinweg kann die Politik verstärkt inter- und transdisziplinäre Forschung unterstützen und die Diffusion von Wissen über mentale Grenzen hinweg koordinieren. Dazu sind Strategien notwendig, die Forscherinnen untereinander und mit Menschen aus der Praxis und der Zivilgesellschaft verbinden und entsprechende Ergebnisse für die Allgemeinheit verständlich und zugänglich aufbereiten (Bennet und Bennet 2007). Nur so kann Systemwissen schließlich dafür genutzt werden, transformatives Wissen zu schaffen.
4.4.1.2 Fehlende Partizipation Ein weiteres Problem der Bioökonomiepolitik scheint die zu geringe Einbindung aller Interessengruppen in einen offenen Diskurs über Ziele und Wege der (nachhaltigen) Bioökonomie zu sein (Albrecht et al. 2012a; Fatheuer et al. 2015; Schütte 2018). Dabei ist eine solch umfassende Partizipation zu einem frühen Zeitpunkt in der Transformation weit mehr als nur ein Mittel, um die nötige
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Akzeptanz für neue Technologien zu erhalten und die Nachfrage zu sichern (Albrecht et al. 2012a; McCormick und Kautto 2013). Da die Bioökonomie so viele Fragen und Zielkonflikte aufwirft und wegweisende Entscheidungen verlangt, müssen die breite Öffentlichkeit und zentrale Interessengruppen auch in die Entwicklung und Ausgestaltung der Bioökonomie zwingend mit eingebunden werden (und nicht nur zur Akzeptanz dieser motiviert werden). Dies muss auf Basis ergebnisoffener und wohlinformierter Dialogprozesse erfolgen (McCormick und Kautto 2013). Nach der Logik des dedizierten Wissens ist der Erfolg einer Transformation ernsthaft gefährdet, wenn es nicht gelingt, das Wissen, die Werte und Weltanschauungen der betroffenen Menschen zu berücksichtigen und einzubinden: Sowohl die Generierung wie auch die Verbreitung und die Anwendung von normativem Wissen und von transformativem Wissen hängen direkt von dem Beitrag derjenigen Menschen ab, die früher oder später von der Transformation betroffen sind. In den Abschn. 4.3.2 und 4.3.3 haben wir hergeleitet, dass die Umsetzung von normativem Wissen (also die Übereinkunft über gemeinsame Werte) wie auch die Umsetzung von transformativem Wissen (also die Ausarbeitung von Strategien für die Transformation) sehr ortsbezogen und kontextabhängig sind. Eine Politik, die diese Eigenarten des Wissens berücksichtigt, muss also Maßnahmen festlegen, die die Bürgerinnen in den gesellschaftlichen Dialog einbindet. Dazu bedarf es dreierlei: Man muss passende partizipatorische Formate anbieten, den Menschen das notwendige bürgerschaftliche Know-how vermitteln sowie die transdisziplinären Fähigkeiten trainieren, um kognitive Distanzen zwischen verschiedenen Weltbildern und zwischen lokalen und globalen Ansprüchen zu überwinden. Eine solche Politik erfordert Ergebnisoffenheit und die Möglichkeit für die Zivilgesellschaft, tatsächlich Einfluss zu nehmen. Diese Anforderungen relativieren konkrete Zielvorgaben und legen damit ein dynamisches Verständnis von Transformationsprozessen zugrunde. Im Widerspruch dazu setzt die Bundesregierung bei der Umsetzung der Bioökonomie auf ein Expertengremium, welches zum Ziel hat, „optimale wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen für eine biobasierte Wirtschaft zu schaffen“ (Bioökonomierat 2019), ohne dazu die Expertise der Gesellschaft wirklich zu nutzen (vgl. dazu auch Schaper-Rinkel 2012). Ebenso werden die staatlich geförderten Forschungsprojekte beinahe ausschließlich in relativ homogenen Netzwerken von Akteuren aus Wissenschaft und Privatwirtschaft bearbeitet, wie jüngst eine Analyse des Förderkatalogs des Bundes ergab (Bogner 2019). Mit der Fördermaßnahme „Bioökonomie als gesellschaftlicher Wandel“ (BMBF 2014) legte das Bundesministerium für Bildung und Forschung ein Programm auf, das der Berücksichtigung gesamtgesellschaftlicher Veränderungsprozesse besser
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Rechnung tragen soll. Auch auf europäischer Ebene zeigen sich erfreuliche Entwicklungen: Im relativ neuen European Bioeconomy Panel ist eine ausgewogene Mischung von gesellschaftlichen Gruppierungen vertreten, nämlich Unternehmen und Produzenten, Politikerinnen, Forscherinnen und zivilgesellschaftliche Organisationen (European Commission 2017, S. 13). Wie zu erwarten, spiegeln die Empfehlungen des Panels deutlich die Interessen der breiten Öffentlichkeit wider, beispielsweise in den Bereichen Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit oder Ökosystemdienstleistungen (The European Bioeconomy Stakeholders Panel 2017).
4.4.2 Wege in eine dedizierte Bioökonomiepolitik Es ist kaum zu erwarten, dass partizipative Maßnahmen automatisch die kognitiven Distanzen zwischen Stakeholdern verringern, noch, dass die durch partizipative Verfahren erarbeiteten Lösungsstrategien unbedingt die objektiv besten sind (Rydin 2007) und zu mehr Nachhaltigkeit führen. Trotzdem machen die Ausführungen über die notwendigen Wissensarten und die Bedingungen, unter denen sie entstehen, verbreitet und angewendet werden, klar, dass eine NWB nicht top-down implementiert werden kann. Dadurch verändert sich die Rolle der Politikerinnen, die durch die Einbindung verschiedener Stakeholder mehr vermittelnde Koordinationsaufgaben übernehmen müssen (Bennet und Bennet 2007; Jacobson et al. 2003; Meyer 2010; Mitton et al. 2007). Wird die systemische Perspektive konsequent weitergedacht, so verschwimmt die traditionell klar abgrenzbare Rollenverteilung zwischen Staat, Nicht-Regierungs-Organisationen, Unternehmen und Konsumenten (Castells 2010a, b, c). Dieses Phänomen wurde bereits in der Umweltpolitik beobachtet und hat westliche Demokratien dazu veranlasst, vermehrt auf partizipatorische Instrumente zu setzen (Copagnon et al. 2012). Konzepte wie adaptive governance (Folke et al. 2005), reflexive governance (Lindner et al. 2016; Voß und Kemp 2006) und Earth system governance (Biermann et al. 2010) wurden in den vergangenen Jahren (weiter-)entwickelt und getestet. Auch jenseits der direkten politischen Einflussnahme erhalten transdisziplinäre Forschung und partizipative Planungsverfahren wie zum Beispiel Co-Design und Co-Produktion von Wissen seit kurzer Zeit viel Aufmerksamkeit (von Wehrden et al. 2017). Ohne die jeweiligen Ansätze hier stärker zu beleuchten, können wir an dieser Stelle bereits zusammenfassen, dass die Gesellschaft nicht nur Teil des Problems ist, sondern auch Teil der Lösung sein kann und muss, gerade weil die Ursachen wie auch die Auswirkungen vieler komplexer Probleme tief in der Gesellschaft verwurzelt sind
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(Pyka et al. 2019). Dies gilt natürlich auch und ganz besonders für die Herausforderungen, die eine NWB zu lösen versucht. Daher ist es wenig verständlich, dass Bioökonomiepolitik sich dieser partizipatorischen Maßnahmen und der Einbindung der Stakeholder so wenig bedient (Albrecht et al. 2012a, b). Eine Kombination aus den folgenden drei bisher fragmentarischen, jedoch durchaus zentralen Forschungsansätzen könnte als Ausgangspunkt für eine Bioökonomiepolitik dienen, die die Eigenschaften von dediziertem Wissen besser berücksichtigt. Diese Auflistung ist mit hoher Wahrscheinlichkeit lückenhaft und soll aus diesem Grund nur als erster Aufschlag gedacht sein. Erfolgreiche, wissensbasierte Bioökonomiepolitik sollte… 1. … die Rolle der Politikerinnen und der politischen Agenden aus einer koevolutiven Perspektive betrachten (vgl. bspw. Breslin 2014). Hier wird der Staat als eines von mehreren Sub-Systemen verstanden (bspw. neben Individuen, Zivilgesellschaft, Markt, Natur), die gemeinsam unsere kapitalistische Gesellschaft gestalten (Almudi und Fatas-Villafranca 2018). Anhand von speziellen Mechanismen kann ein Sub-System gezielt die Ausbreitung von bestimmtem Wissen, Werten oder Gewohnheiten innerhalb anderer Sub-Systeme (bspw. der Gesellschaft) fördern oder verhindern. Dadurch bewirkt es eine Veränderung im gesamten System (Almudi und Fatas-Villafranca 2018). So könnte beispielsweise staatliche Politik durch eine Steigerung der Attraktivität des öffentlichen Nahverkehrs (Preise, Zuverlässigkeit, Komfort) und durch eine Einschränkung des Individualverkehrs (Tempolimits, Fahrverbote) das Mobilitätsverhalten der Gesellschaft dahingehend verändern, dass durch den insgesamt reduzierten Bedarf der Umstieg von fossilen auf Bio-Kraftstoffe wesentlich besser zu bewerkstelligen wäre. 2. … Erkenntnisse aus dem Kulturdesign (Beddoe et al. 2009; Brewer 2015; Costanza 2016; Wilson et al. 2014) und aus der kulturellen Evolution (Mesoudi 2016, 2017) für sich nutzen. Diese Forschungsstränge liefern möglicherweise Ansätze dafür, die Unbeweglichkeit und Ortsbezogenheit von Systemwissen und normativem Wissen zu überwinden und die absorptiven Fähigkeiten der Akteure im DIS zu verbessern. Dabei geht es beispielsweise um Methoden, den Einfluss unterschiedlicher kultureller Neigungen, Heuristiken und Urteilsverzerrungen (biases) besser zu verstehen und damit professionell umzugehen, im besten Falle sogar für die Verankerung der Bioökonomie in der Gesellschaft zu nutzen. Eine gezielte positive Einwirkung auf kulturelle „Biases“, beispielsweise durch Kampagnen oder die Popularisierung biobasierter und nachhaltiger Konsumgewohnheiten, kann sich durchaus als wirkungsvoller herausstellen als Verbote oder Verunglimpfung von bestimmten Verhaltensweisen oder Lebens-
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stilen. Die schwedische Organisation Sustainable Influencers bietet etwa eine Plattform für Soziale Netzwerkerinnen, die zu nachhaltigeren Praktiken in allen Bereichen des Alltags inspirieren und ermutigen (Sustainable Influencers 2019). Für eine stärkere Verbreitung biobasierter Lösungen wären ähnliche Formate denkbar, um negative Einstellungen der Bioökonomie gegenüber aufzugreifen und aktiv zu entkräften. Studien in Österreich und Deutschland zeigen, dass verschiedene gesellschaftliche Schichten unterschiedliche Bedenken gegenüber der Bioökonomie hegen (Hempel et al. 2019; Stern et al. 2018). Entsprechend müsste zielgruppenorientiert einerseits die Machbarkeit einer Bioökonomie demonstriert werden (z. B. durch die Popularisierung von Anwendungsbeispielen und Pilotprojekten) und andererseits Ängste vor dem Wandel abgebaut werden (z. B. durch die gezielte Verbreitung von Erfolgsgeschichten). 3. … sich den Vorschlägen aus der adaptive governance Literatur (Boyd und Folke 2012; Folke et al. 2005) und den Instrumenten der reflexive governance (Lindner et al. 2016; Voß und Kemp 2006) öffnen. Dies umfasst die Akzeptanz für und Unterstützung von transdisziplinärer Forschung, experimenteller Forschung und Antizipationsverfahren (um Systemwissen zu generieren), partizipative Zielfindung (für normatives Wissen) und interaktive Strategieentwicklung (durch Anwendung von transformativem Wissen) für eine Bioökonomie-Transformation. Dabei geht es beispielsweise darum, indigenes Wissen mit wissenschaftlichen Erkenntnissen zu verknüpfen (um Pfadabhängigkeiten zu schwächen), kontinuierlich die neuesten Erkenntnisse aus dem Systemwissen in Transformationsstrategien (transformatives Wissen) einzuspeisen (um Lock-ins zu vermeiden), Unsicherheiten zu begegnen und die Selbstorganisation der Bürgerschaft zu unterstützen. Am Beispiel der finnischen Forstwirtschaft fordert in diesem Zusammenhang Mustalahti (2018) einen interaktiven Politikansatz im Sinne einer responsiven Bioökonomie. Nur durch den direkten und ständigen Dialog mit den vom Wandel betroffenen Bürgerinnen kann Politik entsprechend auf unvorhergesehene Auswirkungen auf die Lebenswelt (wie bspw. Beeinträchtigungen der Wasserqualität, Biodiversität oder des Zugangs zu gemeinschaftlichen Gütern) reagieren.
4.5 Fazit Bislang fließen die Erkenntnisse und Erfahrungen der Nachhaltigkeitsforschung nicht substanziell in Bioökonomiepolitik mit ein. So läuft die Transformation hin zu einer Bioökonomie Gefahr, zu einem nicht nachhaltigen, rein
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technologisch-ökonomischen Projekt zu werden. Daher sind mutige politische Strategien erforderlich, die Transformationsprozesse als Revolution der Wissensgenerierung, -verbreitung und -anwendung begreifen. Da wir nachhaltige Lösungen brauchen, reicht es nicht mehr aus, das IS dahingehend zu verbessern, dass es ökonomisch relevantes Wissen immer effektiver generiert, verbreitet und anwendet. Stattdessen muss sich Innovation an Nachhaltigkeitszielen orientieren und das IS gänzlich der Transformation hin zu einer NWB widmen, um Lösungen für die komplexen globalen Probleme zu liefern (Fagerberg 2017; Schlaile et al. 2017). Dazu muss die Politik die Generierung, Verbreitung und Anwendung von dediziertem Wissen unterstützen, also eine Kombination aus ökonomisch relevantem Wissen, Systemwissen, normativem Wissen und transformativem Wissen fördern. Die Erkenntnisse aus dem vorliegenden Beitrag helfen zu verstehen, warum heutige Politik es bislang nicht geschafft hat, die Bioökonomie auf einen nachhaltigen Kurs zu bringen. Wir erkennen jüngste Anstrengungen der Politik an, effektiver und demokratischer zu werden (Bioökonomierat 2016; BMEL 2016; European Commission 2017; Imbert et al. 2017; Schütte 2018; The European Bioeconomy Stakeholders Panel 2017). Insbesondere die Fördermaßnahme des Bundesministeriums für Bildung und Forschung „Bioökonomie als gesellschaftlicher Wandel“ (BMBF 2014), die Berücksichtigung verschiedener Interessengruppen und Anstrengungen zur besseren Abstimmung zwischen den Politikressorts (BMEL 2016) weisen in die richtige Richtung. Trotzdem empfehlen wir eine noch stärkere Anerkennung der Bedeutung von allen Elementen dedizierten Wissens für die Bioökonomietransformation und eine bessere Berücksichtigung der Eigenschaften dieses Wissens insbesondere in Bezug auf dessen Generierung, Verbreitung und Anwendung in DIS. Diese Eigenschaften umfassen die schwere Bewegbarkeit, Ortsbezogenheit, Kontextbezogenheit, Zerstreutheit und Pfadabhängigkeit. Ein Bekenntnis zu dediziertem Wissen erfordert auch ein Umdenken bei den derzeit einflussreichen Bioökonomie-Akteuren (hauptsächlich aus Politik, Industrie und Wissenschaft) und eine Öffnung des Diskurses und der Strategieprozesse für alle Betroffenen in DIS. Dazu ist es für die Zukunft wichtig zu erforschen, wie Wissen am besten mobilisiert werden kann, welche Rolle wissensvermittelnde Organisationen (knowledge broker) in der Generierung, Verbreitung und Anwendung von dediziertem Wissen spielen und wer diese Rolle am besten übernehmen könnte. Außerdem muss eruiert werden, um welche Inhalte akademische und praxisorientierte Curricula ergänzt werden müssten, um ein Bioökonomie-Verständnis zu vermitteln, das über techno-ökonomische Paradigmen hinausgeht. Und obgleich wir in diesem Beitrag einen starken Fokus auf die Rolle von Wissen
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setzen, ist uns bewusst, dass es noch weitere Möglichkeiten gibt, die Transformation zur NWB zu beeinflussen, die in Zukunft ebenfalls weiterer Forschung bedürfen (Abson et al. 2017; Meadows 2008).
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Herausforderungen des systemischen Ansatzes in der Bioökonomie Rolf Meyer und Carmen Priefer
Zusammenfassung
In verschiedenen Bioökonomie-Strategien wird ein systemischer Ansatz für die Entwicklung und Untersuchung der Bioökonomie gefordert, was angesichts der vielfältigen Zusammenhänge und Aspekte eine Herausforderung darstellt. Zielsetzung dieses Beitrages ist, wesentliche Aspekte der komplexen Zusammenhänge in der Bioökonomie herauszuarbeiten, die für den systemischen Ansatz konstitutionell sind. Diese Aspekte sind: vielfältige Verwendungsmöglichkeiten von Biomasse, offene Wertschöpfungsketten, multidimensionale Akteursmatrix, fragmentierte Diskurse, multisektorale und Mehrebenen Governance sowie das Auftreten von Wechselwirkungen und Rückkopplungen. Der Beitrag kommt zu dem Schluss, dass der systemische Ansatz in der Bioökonomie stärker im Bewusstsein der Grenzen und Schwierigkeiten, die mit ihm verbunden sind, weiter verfolgt werden sollte. In der Bioökonomie-Politik ergibt sich die Notwendigkeit, die Lern- und Korrekturfähigkeit zu stärken.
R. Meyer (*) Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Priefer Institut für Ernährungsverhalten, Max-Rubner-Institut, Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Konrad et al. (Hrsg.), Bioökonomie nachhaltig gestalten, Technikzukünfte, Wissenschaft und Gesellschaft / Futures of Technology, Science and Society, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29433-5_5
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Schlüsselwörter
Bioökonomie · Systemischer Ansatz · Akteure · Diskurse · Governance · Wert schöpfungsketten
5.1 Einleitung Der systemische Ansatz wird als Leitprinzip in der Bioökonomie-Strategie der EU gefordert und insbesondere in den deutschen Bioökonomie-Strategien stark betont. Dieser wird als eine wichtige Voraussetzung betrachtet, um die gewünschte Nachhaltigkeit in der Bioökonomie zu erreichen. Die geforderte systemische Betrachtung ist allerdings wenig konkretisiert. Es werden einzelne Elemente benannt, aber ein Gesamtverständnis fehlt bisher. Zielsetzung dieses Beitrages ist, wichtige Elemente eines systemischen Ansatzes sowie die damit verbundenen Herausforderungen herauszuarbeiten. Dabei wird auf die europäische und deutsche Diskussion eingegangen. Die Analyse erfolgt an einigen Stellen mit Bezug auf die Beispiele „Nachhaltige Wertschöpfungsketten für Biogas in Baden-Württemberg“, „Lignozellulose als Ressource für neue Materialien“ und „Mikroalgen als neue Quelle für Nahrungs- und Futtermittel“, die im Rahmen des baden-württembergischen Forschungsprogramms Bioökonomie näher untersucht wurden und drei in ihrem Charakter unterschiedliche Anwendungsfelder der Bioökonomie darstellen. Zunächst wird aufgezeigt, in welchem Kontext ein systematischer Ansatz in europäischen Bioökonomie-Strategien gefordert wird, und welche Zielsetzungen damit verbunden werden. Anschließend wird analysiert, welche wichtigen Aspekte die Komplexität der Bioökonomie kennzeichnen und in einen systemaren Ansatz zu integrieren sind. Diskutiert werden die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten von Biomasse, die Offenheit vieler Wertschöpfungsketten, die multidimensionale Akteursmatrix, die fragmentierten Diskurse, die multisektorale und Mehrebenen Governance sowie die Bedeutung von Wechselwirkungen und Rückkopplungen. Aus dieser Analyse werden abschließend Schlussfolgerungen zur Realisierbarkeit systemischer Ansätze und zur Gestaltung der BioökonomiePolitik gezogen.
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5.2 Der systemische Ansatz in europäischen Bioökonomie-Strategien Ursprünglich ausgehend von einer Biotechnologie-zentrierten Vision der Bioökonomie, hat zwischen den Jahren 2000 und 2010 in der EU und Deutschland in einem längeren Prozess eine Entwicklung hin zu Bioökonomie-Strategien stattgefunden, die den Wandel von einer erdöl-basierten zu einer bio-basierten Wirtschaft und die Bewältigung großer globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Ernährungssicherung und Unabhängigkeit von fossilen Rohstoffen in den Mittelpunkt stellen (Meyer 2017). In die Bioökonomie werden in Folge dieses veränderten Fokus alle Wirtschaftssektoren einbezogen, die in die Erzeugung und Nutzung von biologischen Ressourcen involviert sind. Damit verbunden ist, dass ein systemischer beziehungsweise ganzheitlicher Ansatz eine verbreitete Vorstellung beziehungsweise Zielsetzung in Bioökonomie-Strategien darstellt, insbesondere in den Strategien der EU, Deutschlands und Baden-Württembergs (Meyer und Priefer 2018, S. 55). Zum ersten soll sich die Bioökonomie selbst in einer systemischen Weise entwickeln. Eine zentrale Rolle soll dabei das Denken in Wertschöpfungsketten einnehmen. Im deutschen Kontext ist die Zielsetzung, integrierte, systemische und innovative Lösungswege mit Blick auf die gesamten Wertschöpfungsbeziehungsweise Prozessketten zu entwickeln, um die Möglichkeiten und Potenziale der Bioökonomie optimal auszuschöpfen (BMBF 2010, S. 13; BMEL 2014, S. 27). Einen etwas anderen Akzent setzte die EU-Kommission, die in der Bioökonomie-Strategie von 2012 die Bedeutung der Wissensbasis und eines Spektrums von Technologien entlang der gesamten Wertschöpfungskette betonte (EC 2012, S. 6). Im Update der EU-Bioökonomie-Strategie von 2018 ist vorgesehen, dass die EU-Kommission die Entwicklung der Bioökonomie auf lokaler Ebene mit einem systemischen Ansatz fördern will (EC 2018, S. 12). Zum zweiten soll die Bioökonomieforschung eine systemische Struktur aufweisen. Anstelle der noch immer weitgehend disziplinär orientierten Forschungslandschaft erfordere die Bioökonomie, die ein breites Spektrum an Themenfeldern umfasst, eine Gesamtbetrachtung und Vernetzung aller Bereiche und Akteure (Bioökonomierat 2009, S. 14). In Kooperationen und Netzwerken soll zusammengearbeitet werden, um Wissen ganzheitlich (systemisch) zu integrieren und in Innovationen zu überführen (BMBF 2010, S. 6). Deshalb ist eine interdisziplinäre Ausrichtung der bioökonomischen Forschung ein breit geteilter Standpunkt (Bioökonomierat 2009, 2010; BMBF 2010; EC 2012;
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Formas 2012; MIWF NRW o. J.; MWK BW 2013; The White House 2012). Ebenso stellt der Ausbau der internationalen Kooperationen in den meisten Strategien eine wichtige Orientierung dar. In Baden-Württemberg wird der systemische Charakter der Forschungsstrategie Bioökonomie zusätzlich durch übergreifend angelegte strukturelle Maßnahmen zur Vernetzung der Forschung umgesetzt (MWK BW 2013, S. 3). Zum dritten wird eine systemische Forschung zu den Veränderungen und Auswirkungen der Bioökonomie im gesamten System gefordert. Es wird erwartet, dass sich die Bioökonomie vor allem über komplexe Substitutions- und Synergieeffekte im System entfalten wird, da nicht nur einzelne innovative Wertschöpfungsketten, sondern vor allem die Verknüpfung dieser Ketten im System einen wesentlichen Innovationsbeitrag leisten soll (Bioökonomierat 2010, S. 7, 19). Gleichzeitig droht angesichts eines steigenden Bedarfs an biologischen Ressourcen eine Verschärfung von Nutzungskonflikten, zum Beispiel zwischen der Nahrungsmittelproduktion, der Produktion bio-basierter Rohstoffe und Energieträger sowie dem Naturschutz. Dazu werden ganzheitliche Forschungsansätze beziehungsweise systemische Begleitforschung gefordert, die wirtschaftliche, ökologische und gesellschaftliche Belange – im Sinne des Leitbilds einer nachhaltigen Entwicklung – gleichermaßen berücksichtigen (BMBF 2010, S. 17, 40; MWK BW 2013, S. 4 f.), um frühzeitig mögliche Ziel- und Interessenkonflikte erkennen und moderieren zu können. Im Folgenden wird diskutiert, welche Elemente unter einem systemischen Blickwinkel relevant für die Entwicklung der Bioökonomie sind und welche Problemstellungen sich für eine systemische Untersuchung der Veränderungen und Auswirkungen der Bioökonomie ergeben. Dabei wird insbesondere an den zuvor beschriebenen ersten und dritten Aspekt angeknüpft.
5.3 Aspekte eines systemischen Ansatzes in der Bioökonomie Die Forderung nach systemischen Ansätzen ist konfrontiert mit einem begrenzten Verständnis, welche relevanten Zusammenhänge beziehungsweise Dimensionen zu berücksichtigen sind und welche Herausforderungen sich ergeben. Die Abb. 5.1 gibt einen Überblick über die wichtigsten Aspekte der Komplexität in der Bioökonomie, die im Folgenden diskutiert werden.
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Abb. 5.1 Wichtige Herausforderungen systemischer Ansätze in der Bioökonomie. (Quelle: Eigene Darstellung)
5.3.1 Vielfältige Quellen und Verwendungsmöglichkeiten von Biomasse Zunächst kann ein spezifischer Konversionspfad in der Bioökonomie fast immer auf verschiedenen Biomasse-Ressourcen basieren. Im Fall Biogas ist eine erste wichtige Unterscheidung die zwischen landwirtschaftlichen und abfallwirtschaftlichen Wertschöpfungsketten (Meyer und Priefer 2018, S. 209 ff.). Diese unterscheiden sich grundsätzlich im Hinblick auf eingesetzte Biomasse, technische Ausgestaltung der Biogasanlage, involvierte Akteure, rechtlichen Rahmen, Förderung nach dem Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) und Konkurrenzen zu alternativen Verwertungswegen. Landwirtschaftliche Biogas-Wertschöpfungsketten können beispielsweise auf einem breiten Spektrum von Biomassesubstraten beruhen. Mögliche Varianten sind der überwiegende Einsatz von Wirtschaftsdünger (insbesondere in Gülle-Kleinanlagen bis 75 KW mit
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spezieller EEG-Einspeisevergütung), der ausschließliche Einsatz von Energiepflanzen (wobei potentiell viele landwirtschaftliche Kulturpflanzen, von Mais bis Kleegrassilage, infrage kommen) sowie der Einsatz eines Substratmixes (Energiepflanzen, Wirtschaftsdünger, Grassilage, organische Abfälle) in unterschiedlicher Zusammensetzung (Meyer und Priefer 2018, S. 213). Allerdings hat sich hier gezeigt, dass sich aufgrund ökonomischer Vorteilhaftigkeit – bedingt durch die EEG-Förderbedingungen und agrarwirtschaftliche Gegebenheiten – in der Vergangenheit eine starke Konzentration auf den Energiemais herausgebildet hat (DBFZ 2015, S. 24 ff.). Mit einer veränderten Regulierung, der Einführung eines sogenannten „Maisdeckels“, ist darauf reagiert worden (Herbes et al. 2014). Ebenso kann im Falle innovativer Lignozellulose-Wertschöpfungsketten mittels Bioraffinerie die Lignozellulose-haltige Biomasse aus sehr verschiedenen Quellen stammen (Meyer und Priefer 2018, S. 215): • Landwirtschaftliche Anbaubiomasse (z. B. Kurzumtriebsplantage, Miscanthus) • Landwirtschaftliche Reststoffe (z. B. Stroh, Maisspindeln) • Forstwirtschaftliches Holz (z. B. Stamm- und Industrieholz, Plantagenholz) • Forstwirtschaftliche Reststoffe (z. B. Waldrestholz) • Landschaftspflegeholz • Biogene Reststoffe aus der Holzindustrie (z. B. Sägenebenprodukte, Reststoffe aus der Holzverarbeitenden Industrie) • Andere industrielle biogene Reststoffe (z. B. Reststoffe aus der Papierherstellung) • Biogene Abfallstoffe (z. B. Altholz, Grünabfälle). Welche Biomassequellen sich zukünftig bei innovativen LignozelluloseWertschöpfungsketten durchsetzen werden, ist derzeit noch offen. Potentiell könnten neue Verknüpfungen zwischen Land- und Forstwirtschaft entstehen. Auf betrieblicher Ebene besteht traditionell eine Verbindung, insofern landwirtschaftliche Betriebe Waldbesitz haben. Dies gibt es in erheblichen Umfang in Österreich und Schweden, aber auch im Südwesten Deutschlands, besonders im Schwarzwald. Mit der Realisierung innovativer Wertschöpfungsketten kann es zukünftig dazu kommen, dass Land- und Forstwirtschaft auch auf der Marktebene verknüpft werden, indem sie um Absatzmärkte für LignozelluloseBiomasse konkurrieren. In der Folge könnten Rückwirkungen auf die Entwicklung der beiden Sektoren eintreten, die bisher nicht diskutiert wurden.
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Gleichzeitig kann eine spezifische Biomasse-Ressource in der Regel für verschiedene Konversionspfade und Wertschöpfungsketten genutzt werden. Beispielsweise können aus Körnermais Maismehlprodukte für eine Verwendung in Lebensmitteln, Bioethanol als Biokraftstoff oder bio-basierte Kunststoffe über einen Bioraffinerie-Prozess hergestellt werden. Gerade L ignozellulose-Biomasse kann vielfältig genutzt werden, von energetischen Verwendungen über verschiedene traditionelle Holznutzungen bis hin zu neuen Konversionswegen für innovative bio-basierte Produkte. Welche Verwendungen der Biomasse sich auf der Ebene der Konversion durchsetzen, wird neben technisch-ökonomischen Faktoren durch komplexe Akteursnetzwerke, institutionelle Strukturen, Förderbedingungen und den breiteren gesellschaftlichen Kontext bestimmt (Meyer und Priefer 2018, S. 235 ff.). Noch komplexer wird es, wenn die möglichen Orte, räumlichen Verknüpfungen und Skalen neuer bio-basierter Wertschöpfungsketten berücksichtigt werden. Aus dem Spektrum möglicher Kombinationen stellt die Möglichkeit zentraler oder dezentraler Biomassekonversion eine wichtige Alternative dar. Deutliche Skaleneffekte bestehen sowohl bei den Konversionstechnologien für Lignozellulose und Biogas als auch bei Mikroalgen. Dies gilt ausgeprägt bei der Synthesegas-Bioraffinerie (Bundesregierung 2012, S. 92), aber auch bei Biogasanlagen nehmen die Gestehungskosten pro kWh mit zunehmender Anlagegröße ab (Blumenstein et al. 2016). Bei der Mikroalgen-Kultivierung reduzieren sich nach Modellkalkulationen die Produktionskosten pro Einheit Mikroalgen-Biomasse von einer 1 ha Anlage zu einer 100 ha Anlage um den Faktor 3 bis 4 (Spruijt et al. 2014, S. 38 f.). Mit der Anlagenkapazität von Biogasund Lignozellulose-Konversionsanlagen steigt entsprechend der Biomassebedarf, die notwendige Anbau- beziehungsweise Gewinnungsfläche für die Biomasse sowie der Transportaufwand. Im Fall der Mikroalgen-Kultivierung werden mit zunehmender Anlagengröße zumindest im dichtbesiedelten Deutschland weniger Standorte verfügbar sein, die geeignet sind und in der Bevölkerung Akzeptanz finden (Skarka 2015). Schließlich konkurriert eine inländische Konversion mit internationalen Konversionsstandorten. Wichtige Einflussgrößen sind hier die verfügbaren Biomassepotentiale und die Biomasseproduktionskosten verschiedener Standorte sowie die jeweils bestehenden Fördermaßnahmen, rechtlichen Rahmenbedingungen (z. B. umweltrechtliche Regelungen) und der bestehende Außenschutz für bio-basierte Produkte (z. B. Importzölle wie für Bioethanol).
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Insgesamt ergeben sich somit vielfältige Kombinationsmöglichkeiten und Konkurrenzbeziehungen, die durch zahlreiche ökologische, ökonomische, soziale, politische und rechtliche Faktoren beeinflusst werden. Es gibt zwar viele Potentialabschätzungen und Szenarienstudien zur Biomassebereitstellung und -verwendung. Diese sind in ihrer Aussagekraft jedoch limitiert, beispielsweise im Hinblick auf die berücksichtigten Biomassearten und den untersuchten räumlichen Bereich. Kritische Punkte bei der Analyse von Biomasseverfügbarkeit und möglichen Verwendungswegen sind insbesondere: Wahl der Systemgrenzen, Einbezug von relevanten Einflussfaktoren jenseits technisch-ökonomischer Größen sowie eine angemessene Berücksichtigung der Veränderungsdynamik von Rahmenbedingungen.
5.3.2 Offene Wertschöpfungsketten Im Gegensatz zu den etablierten Biogas-Wertschöpfungsketten befindet sich die Technikentwicklung im Forschungsfeld zur Entwicklung innovativer Nutzungsmöglichkeiten von Lignozellulose noch größtenteils im Labor- und Demonstrationsstadium und vollständige Wertschöpfungsketten sind in der Regel noch nicht realisiert. Bisher konzentriert sich die Bioökonomie-Forschung hier auf Konversionstechnologien und -pfade. Deshalb stellt sich die Frage, welche Wertschöpfungsketten sich an die ersten Konversionsschritte anschließen könnten. Beim Drop-In-Ansatz sollen die bio-basierten Basischemikalien auf der Basis von Lignozellulose die analogen fossilen Basischemikalien beziehungsweise fossile Basischemikalien mit vergleichbaren Eigenschaften ersetzen, sodass die existierenden Wertschöpfungsketten und –netzwerke der chemischen Industrie unverändert weiter genutzt werden können (Kovacs 2015, S. 62). Mit bio-basierten Drop-In-Chemikalien sind potentiell große Marktvolumen realisierbar, wenn sie wirtschaftlich konkurrenzfähig gegenüber den zu ersetzenden fossilen Basischemikalien werden (Philp 2015). Durch die komplexe Struktur der chemischen Industrie kann aus bio-basierten Grundchemikalien potentiell eine große Anzahl von Wertschöpfungsketten mit vielfältigen Endprodukten resultieren. Häufig werden beim gegenwärtigen Stand der Bioraffinerie-Forschung und -Entwicklung nur allgemeine Produktkategorien wie Biokunststoffe und Biotenside als Zielprodukte genannt. Analoges gilt für stoffliche Nutzungen von Biogas. Die Alternative der innovativen bio-basierten Wertschöpfungsketten soll zu bio-basierten Spezialchemikalien mit neuen Eigenschaften für spezielle Anwendungen führen und die komplexen Strukturen der Biomasse besser nutzen
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(Kovacs 2015, S. 62). Vorteile dieses Ansatzes sind höhere erzielbare Produktpreise, was allerdings auch den Aufbau neuer Prozessketten und Produktionskapazitäten sowie eine Markterschließung über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg erfordert. Auch hier sind prinzipiell eine große Zahl von Stoffen, Produkten und Anwendungsbereichen erschließbar. Beschreibungen und Bewertungen der Wertschöpfungs- beziehungsweise Prozessketten der Lignozellulosenutzung in Bioraffinerien enden in der Regel mit den Intermediaten beziehungsweise Basischemikalien (z. B. Haase 2012; Michels 2014). Ökologische Bewertungen von bio-basierten Endprodukten fehlen verständlicher Weise noch weitgehend. Die Erwartungen der Konsumenten an bio-basierte Produkte und ihre möglichen Kaufentscheidungen sind zentrale Größen für den Markterfolg von Endprodukten und die Etablierung von Wertschöpfungsketten. Bisher sind bio-basierte Produkte und deren Eigenschaften in privaten Haushalten (Sijtsema et al. 2016), aber auch in der Industrie noch weitestgehend unbekannt und wesentliche Einflussgrößen für Kaufentscheidungen bislang nicht ausreichend untersucht. Weiterhin ist unklar, inwieweit die Nachfrage nach neuen biobasierten Produkten eine Substitution fossiler Produkte oder eine zusätzliche Nachfrage darstellen wird. Beim gegenwärtigen Stand der Entwicklung ist schwierig abzuschätzen, welche Wertschöpfungsketten zukünftig realisiert werden. Damit stellt die weitere Gestaltung der Wertschöpfungsketten bei Bioraffinerien auf der Basis von Lignozellulose und bei einer stofflichen Nutzung von Biogas ein noch offenes und unbestimmtes Feld dar. Daraus resultieren zwangsläufig Unsicherheiten bei der Folgenabschätzung.
5.3.3 Multidimensionale Akteursmatrix Die Akteure der Bioökonomie sind äußerst vielfältig. Sie bilden eine multidimensionale Akteursmatrix, die sich zusammensetzt aus (Meyer und Priefer 2018, S. 163 ff.): • Akteuren der verschiedenen Stufen der Wertschöpfungsketten: Von den Biomasseproduzenten über Konversion und Verarbeitung sowie den Herstellern von Endprodukten bis hin zu Konsumenten und Entsorgern beziehungsweise Recyclern;
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• Akteuren verschiedener räumlicher Ebenen: Von lokal beziehungsweise regional bis zu global agierenden Akteuren; • Akteuren der verschiedenen gesellschaftlichen Funktionsbereiche: Bioökonomie-Engagierte aus Forschung und Entwicklung, Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft; • Akteuren der traditionellen und innovativen Bioökonomie: Beteiligte in den etablierten Wertschöpfungsketten und Akteure, die innovative Ansätze der Bioökonomie entwickeln und umsetzen; • Akteuren mit verschiedenen Visionen und präferierten Umsetzungspfaden der Bioökonomie: Verantwortliche und Unterstützer der offiziellen Bioökonomie-Strategien versus Vertreter einer alternativen, sozialökologischorientierten Vision (vgl. Abschn. 5.3.4). Auf jeden Akteur entfallen potentiell mehrere dieser Zuordnungen. Innerhalb dieser komplexen Akteursmatrix gibt es verschiedene spezifische Vernetzungen, Kooperationen und Interessenkoalitionen, aber auch Konfliktpotentiale. Diese sind nicht als starr zu verstehen, sondern in der Zeit dynamischen Veränderungen unterworfen. Solche Dynamiken sind bisher insbesondere im Kontext der deutschen Biokraftstoffpolitik aufgetreten (Beneking 2011; Kaup und Selbmann 2013). Die Kritik an der Förderung von Biokraftstoffen konzentriert sich auf ökologische Argumente wie Landnutzungsänderungen, Intensivierung der Landbewirtschaftung und geringe Reduktion der Klimagasemissionen sowie soziale Argumente wie Land Grabbing und Nachteile für Kleinbauern. Diese Argumente und Positionierungen beziehungsweise Diskurs- und Akteurskoalitionen können auch für zukünftige Diskurse um neue Entwicklungen in der Bioökonomie relevant sein. Die Akteure der Lebensmittelkette sowie der Holzwirtschaft sind in BadenWürttemberg (Meyer und Priefer 2018, S. 124 ff.) ebenso wie in Deutschland (Efken et al. 2016) und Europa (Scarlat et al. 2015) nach wie vor die dominierenden Akteure der Bioökonomie, im Hinblick auf Anzahl der Unternehmen und der unterstützenden Akteure, der wirtschaftlichen Bedeutung und etablierten Vernetzungen. Biomasseproduktion und -verarbeitung in diesen Bereichen sind durch einen kontinuierlichen Strukturwandel hin zu größeren Einheiten gekennzeichnet. Insbesondere die Landwirtschaft und mittelständische Nahrungsmittelverarbeiter sind zwischen den vorgelagerten Bereichen der landwirtschaftlichen Produktionsmittelhersteller und dem Einzelhandel am Ende der Lebensmittelkette, die beide eine hohe Unternehmenskonzentration aufweisen, „eingezwängt“. Als Gegenbewegung haben in den letzten Jahren regionale Lebensmittel und die Direktvermarktung an Bedeutung gewonnen, allerdings bei
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weiterhin geringen Marktanteilen trotz großer gesellschaftlicher Aufmerksamkeit. Daneben ist gerade im Nahrungsmittelbereich auch zukünftig von erheblichem Konfliktpotential, wie beispielsweise um Fragen des Tierwohls bei tierischen Lebensmitteln oder Umweltverträglichkeit der Agrarproduktion, auszugehen. Die Entwicklung und Markteinführung neuer Technologien und Wertschöpfungsketten in der Bioökonomie erfolgt sowohl durch neue Akteure (z. B. Start-ups) und Umstrukturierungen in mittelständischen Unternehmen als auch durch multinationale Unternehmen (Meyer und Priefer 2018, S. 167). Die bisherigen Erfahrungen bei innovativer Biotechnologie für medizinische Anwendungen zeigen, dass oftmals erfolgreiche Start-ups von großen Konzernen übernommen wurden und der Prozess der Unternehmenskonzentration durch Übernahmen und Fusionen zwischen multinationalen Unternehmen eher verstärkt wurde. Ebenso hat die Einführung von Biokraftstoffen nicht zu einer grundlegenden Veränderung der Unternehmensstrukturen im Kraftstoffsektor geführt. Für zukünftige innovative bio-basierte Wertschöpfungsketten ist es deshalb wahrscheinlich, dass trotz zunächst teilweise neuer und vielfältigerer Akteure bei Erreichen von Marktrelevanz wiederum Konzentrationsprozesse und Übernahmen stattfinden. Insgesamt kann eine konfliktfreie Bioökonomie-Entwicklung nicht erwartet werden. Potentielle Konflikte können auftreten innerhalb von Wertschöpfungsketten, zwischen traditioneller und innovativer Bioökonomie, zwischen verschiedenen innovativen Wertschöpfungsketten, zwischen Akteuren verschiedener räumlicher Ebenen, mit der Bevölkerung vor Ort sowie zwischen ökonomischen Akteuren und Zivilgesellschaft und sind noch nicht ausreichend untersucht (Meyer und Priefer 2018, S. 169 ff.). Partizipationsansätze sollen dazu beitragen, solche Konflikte zu moderieren und möglichst abzumildern. Viele Partizipationsaktivitäten konzentrieren sich bisher auf Stakeholder, die an Bioökonomie-Aktivitäten interessiert oder in diesem Feld bereits aktiv involviert sind. Indirekt und längerfristig betroffene Akteure sowie Vertreter der Zivilgesellschaft sind bisher sehr unzureichend in die Dialoge zur Bioökonomie einbezogen worden. Ausweitung und Verstetigung von Partizipation sowie transdisziplinäre Forschung könnten dazu beitragen, gesellschaftliche Unterstützung zu fördern und Konflikte zu vermeiden.
5.3.4 Fragmentierte Diskurse In Wissenschaft und Gesellschaft werden konkurrierende Visionen, Leitbilder und Entwicklungspfade für die Bioökonomie diskutiert. Dem Technik-zentrierten Verständnis der offiziellen Bioökonomie-Strategien von Regierungen beziehungsweise
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Ministerien und der EU-Kommission wird in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskursen ein sozial-ökologischer Ansatz gegenüber gestellt (Priefer et al. 2017). Anstelle von Biotechnologie und/oder Konversionstechnologien für neue Wertschöpfungsketten wird in der sozial-ökologischen Vision der technische Fokus auf agrarökologische Techniken und Methoden wie Erhöhung der pflanzengenetischen Diversität, Verbesserung des Nährstoffrecyclings, Erhöhung der Biodiversität und verbesserte Gesundheit von Böden, Pflanzen und Tieren gelegt (Levidow et al. 2012a). Zielsetzung des sozial-ökologischen Ansatzes ist, den Einsatz externer Inputs zu minimieren und auf ökologische Mechanismen der Selbstregulierung zu setzen, im Gegensatz zu reinen Effizienzsteigerungen in den offiziellen Bioökonomie-Strategien. Nicht eine einheitliche Landnutzung, bei der Biomasse für verschiedene Zwecke produziert wird, sondern eine vielfältige Landnutzung, auch unter dem Konzept der Multifunktionalität gefasst, soll angestrebt werden (Shortall et al. 2015). Landwirte werden nicht nur als Produzenten von kommerziellen Rohstoffen, sondern auch als Erzeuger hochwertiger Lebensmittel und Manager von Ökosystemen gesehen. Damit wird gefordert, dass sich die Bioökonomie an der Bereitstellung von öffentlichen Gütern orientiert (Schmid et al. 2012). Diese sozial-ökologischen Ansätze in der landwirtschaftlichen Produktion sollen ergänzt und unterstützt werden durch nachhaltige Konsummuster, mit dem Ziel Ressourcenverbräuche und Umweltbelastungen zu reduzieren und Möglichkeitsräume für neue Nutzungen in der Bioökonomie zu schaffen. Dagegen spielen Fragen des nachhaltigen Konsums in den offiziellen Bioökonomie-Strategien kaum oder keine Rolle. In der alternativen, sozial-ökologischen Vision der Bioökonomie wird die Bedeutung lokalen Wissens betont (Schmid et al. 2012). Die Wissensproduktion sollte auf den Kenntnissen von Landwirten, lokalen Gemeinschaften und wissenschaftlichen Erkenntnissen der Agrarökologie basieren. In diesem Zusammenhang werden soziale Innovationen als ein wichtiges Instrument zur Realisierung nachhaltiger Lösungen und Steigerung gesellschaftlicher Teilhabe an der Bioökonomie-Transformation gesehen. Die offiziellen Strategien legen den Schwerpunkt auf eine enge Zusammenarbeit von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik sowie internationale Kooperationen. Insbesondere kurze Nahrungsmittelketten sowie lokal beziehungsweise regionale Netzwerke von Wertschöpfungsketten werden angestrebt. Wachstum im ländlichen Raum soll durch die Produktion von hochwertigen Lebensmitteln mit Herkunftsidentität erzielt werden (Bugge et al. 2016; Levidow et al. 2012b). In Ergänzung wird die energetische Nutzung von landwirtschaftlichen Rest- und Abfallstoffen in kleinen Konversionsanlagen von landwirtschaftlichen Betrieben favorisiert (Schmid et al. 2012; Shortall et al. 2015). Im Gegensatz dazu stehen
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in den offiziellen Strategien eindeutig innovative stoffliche und energetische Nutzungen von Biomasse im Mittelpunkt. Insgesamt besteht eine starke Asymmetrie in den gesellschaftlichen Debatten um die Bioökonomie (Meyer 2017): Die sozial-ökologische Vision stellt weitreichende Veränderungen in der Landwirtschaft in den Mittelpunkt, während die offiziellen Bioökonomie-Strategien eine Fortführung der gegenwärtigen Entwicklungsrichtung für diesen Sektor anstreben. Umgekehrt legen die offiziellen Strategien den Fokus auf neue Wertschöpfungsketten für innovative bio-basierte Produkte und Bioenergie, während die alternative Bioökonomie-Vision dem Sektor der bio-basierten Chemikalien und Produkte keine Priorität einräumt. Der vorherrschende Technik-zentrierte Ansatz vernachlässigt schließlich soziale Innovationen in diesem Feld (Meyer 2017). Ohne direkten Bezug zur Bioökonomie-Diskussion finden parallel Diskurse mit hoher Relevanz für die Bioökonomie statt, wie zum Beispiel zur Zukunft der Landwirtschaft, zu nachhaltiger Ernährung oder Kreislaufwirtschaft. Ein aktuell intensiv diskutiertes Politikfeld, das unmittelbare Auswirkungen auf die Entwicklung der Bioökonomie haben könnte, ist die zukünftige Ausgestaltung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU. Insbesondere die Fortführung und Gestaltung der flächengebundenen Direktzahlungen (vgl. Wissenschaftlicher Beirat Agrarpolitik 2018) und der Agrarumweltprogramme (vgl. Wissenschaftlicher Beirat Biodiversität 2018) könnten die Umsetzbarkeit einer bio-basierten Wirtschaft und deren Ausrichtung an Umweltstandards wesentlich beeinflussen.
5.3.5 Multisektorale und Mehrebenen Governance Auf politischer Ebene existieren zahlreiche Rahmenbedingungen, die die Entwicklung der bio-basierten Wirtschaft bereits heute stark beeinflussen. Dabei sind zahlreiche Politikfelder relevant: Forschungs- und Innovationspolitik, Energiepolitik, Stoff- und Chemiepolitik, Agrar- und Forstpolitik, Gentechnikpolitik, Abfall- und weitere Umweltpolitik, Ernährungspolitik sowie Bildungsund Wissenschaftspolitik (vgl. detaillierte Analyse in Meyer und Priefer 2018). Dementsprechend werden in verschiedenen Bioökonomie-Strategien eine Koordination der Fachpolitiken und ein kohärenter Politikrahmen gefordert (z. B. BMEL 2014). Aber die Schwierigkeiten einer Abstimmung über die Fachministerien hinweg (OECD 2009) sowie die unabhängig voneinander verlaufenden Diskurse und Entscheidungen in den verschiedenen Sektoren beziehungsweise Politikfeldern stellen eine große Herausforderung dar. Sektorübergreifende Politiken in der Bioökonomie fehlen nach wie vor (EC 2014).
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Hinzu kommt, dass die Governance der Bioökonomie auf mehrere Ebenen verteilt ist: In den meisten Politikfeldern reichen die Gestaltungskompetenzen von der europäischen über die nationale bis zur regionalen Ebene. Unterstützende Politikgestaltung für den Aufbau der Bioökonomie besteht insbesondere mit der Förderung von Strom-, Wärme- und Kraftstofferzeugung aus Biomasse. Die Erneuerbare-Energie-Politik der EU setzt hier den Rahmen (Scarlat et al. 2015). Aktuelle Entwicklungen zeigen, dass in Deutschland die Rolle von Biomasse für die Stromerzeugung über das Erneuerbare-Energien-Gesetz abnehmend ist. Bei der Wärmeerzeugung spielt die Biomassenutzung über das nationale Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz und das baden-württembergische Erneuerbare-Wärme-Gesetz hingegen noch eine größere Rolle. So wurde beispielsweise durch Aufgabe der Solarthermie als Ankertechnologie im Rahmen der Novellierung der baden-württembergischen Bestimmungen die Möglichkeit der Nutzung einer Bandbreite von Wärmeoptionen eröffnet, darunter auch die Verfeuerung fester Biomasse (Landesregierung BW 2013). Die über die Zeit erfolgten Novellierungen der Gesetze zeigen, dass Bedenken gegenüber nicht intendierten Umweltfolgen energetischer Nutzungspfade die allmähliche Reduktion des Einsatzes von pflanzlicher Primärbiomasse und die Einführung von Nachhaltigkeitsbestimmungen für den Biomasseeinsatz zur Folge hatten. Diskussionen bestehen zum Beispiel über die Biokraftstoffproduktion auf Basis von Nahrungs- und Futtermittelpflanzen, die zu indirekten Landnutzungsänderungen und damit in großem Umfang zur Freisetzung von Kohlenstoff sowie zur Nutzungskonkurrenz mit der Nahrungsmittelproduktion führen kann (z. B. WBGU 2009). Daraus leitet sich ein für die Bioökonomie zentraler Zielkonflikt zwischen der Schaffung günstiger Bedingungen für Biomasseanbau beziehungsweise –nutzung und den Ansprüchen an eine ökologische Ausrichtung der Biomasseproduktion ab, der auch im Zentrum der Debatte um die zukünftige Gestaltung der europäischen Agrarpolitik steht. Um diesem Dilemma zu entgehen, wird in den entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen vermehrt auf den Einsatz von Abfällen und Reststoffen aus Land- und Forstwirtschaft gesetzt. Jedoch sind die vorhandenen Potenziale dieser Einsatzstoffe begrenzt (Brosowski et al. 2016) und deren Nutzung führt zu Interessenskonflikten mit bereits etablierten Verwertungspfaden oder dem Naturschutz. Die stoffliche Nutzung von Biomasse stellt ein Feld mit großem Innovationspotenzial dar, das im Fokus der offiziellen Bioökonomie-Strategien steht. Untersuchungen der ökologischen Wirkungen von bio-basierten Produkten deuten an, dass diese aufgrund der erreichbaren, hohen Ressourceneffizienz Vorteile gegenüber energetischen Verwendungen aufweisen können. Trotzdem spielen stoffliche Biomassepfade in der Praxis eine untergeordnete Rolle. Hauptgrund dafür
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sind das noch frühe Entwicklungsstadium von Konversionstechnologien und die fehlende Wettbewerbsfähigkeit gegenüber fossilen Syntheserouten. Die Marktanreizprogramme zur Förderung bio-basierter Schmier- und Dämmstoffe sind zwischenzeitlich ausgelaufen, weil sie nicht zur gewünschten Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit und Etablierung am Markt geführt haben. Ursachen hierfür sind die hoch komplexen Wertschöpfungsketten und die Vielzahl möglicher Endprodukte, die aufgrund ihrer Heterogenität deutlich schwieriger am Markt zu etablieren sind als die Standardprodukte Wärme oder Strom (BMELV 2009). Mit dem öffentlichen Beschaffungswesen besteht ein Förderinstrument für bio-basierte Produkte, das zurzeit jedoch auch nur sehr begrenzt zu einer verstärkten Nachfrage führt. Dies liegt zum einen an administrativen Hürden, die eine Ausrichtung des derzeitigen Beschaffungssystems an ökologischen und sozialen Kriterien erschweren (FNR 2016). Zum anderen ist die Eigenschaft „bio-basiert“ in vielen Fällen nicht ausreichend, um eine Vorzüglichkeit solcher Produkte zu begründen (Peuckert und Quitzow 2016). Bisher steht der Nachweis von positiven ökologischen und sozialen Wirkungen für eine Vielzahl bio-basierter Produkte und die Integration in die Systematik vorhandener Produktlabel noch aus. Außerdem sind die lokalen beziehungsweise regionalen Beschaffungsentscheidungen von nationalen beziehungsweise EU-weiten Fortschritten bei entsprechenden Zertifizierungssystemen und Labeln abhängig. Die fehlende Wettbewerbsfähigkeit gegenüber fossilen Gütern stellt das Haupthemmnis für den Aufbau der Bioökonomie dar. Diese Situation wird durch Subventionen fossiler Rohstoffnutzung noch verstärkt. Unter dem Stichwort „umweltschädliche Subventionen“ wird insbesondere die Förderung fossiler Energieträger kritisch diskutiert. Erste Maßnahmen, Subventionen in diesem Bereich abzubauen, wurden in Folge der G20-Verpflichtung von Pittsburgh aus dem Jahr 2009 ergriffen. Die bisherige Umsetzung wird jedoch als schleppend erachtet (Köder und Burger 2016). Aufgrund der großen Eingriffstiefe in bereits etablierte Systeme und der Notwendigkeit zur Berücksichtigung nicht intendierter Folgen, handelt es sich beim Abbau von Subventionen um sehr langfristige Prozesse. Es ist davon auszugehen, dass Subventionen, die auf die Realisierung der Bioökonomie hemmend wirken, nicht zügig abgeschafft werden können. Zahlreich sind die gesetzlichen Regelungen, die gestaltend auf die Bioökonomie wirken. Dazu zählen die Bestimmungen der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der EU und das allgemeine Umweltrecht, das Waldrecht und seine Umsetzung auf Länderebene, das Gentechnikrecht sowie die Novel-Food-Verordnung zum Inverkehrbringen neuartiger Lebensmittel. Für die Nutzung landwirtschaftlich und forstwirtschaftlich erzeugter Biomasse im Rahmen der Bioökonomie bestehen damit verschiedene Ansatzpunkte, um
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sicherzustellen, dass die Rohstoffproduktion im Einklang mit Mensch und Umwelt stattfindet. Jedoch existieren erhebliche Zweifel an der Tragweite und praktischen Umsetzung der gesetzlichen Bestimmungen. So wird kontrovers diskutiert, inwiefern die derzeitige Ausrichtung der Agrarförderung an Umwelt- und Gemeinwohlleistungen und Grundsätze zur Bewirtschaftung von Wäldern ausreichend sind, um eine umweltverträgliche Produktion zu gewährleisten (Meyer und Priefer 2018, S. 331 ff.). Die Förderung der Bioökonomie steht aufgrund potentieller, negativer Auswirkungen eines zunehmenden Biomasseanbaus im Konflikt mit dem Naturschutz. Der Großteil der gesetzlichen Rahmenbedingungen fällt in den Geltungsbereich des europäischen und nationalen Rechts. Die Möglichkeiten zur aktiven Förderung einer bio-basierten Wirtschaft auf Landesebene sind begrenzt (Meyer und Priefer 2018, S. 358 ff.). Über Maßnahmen im Bereich der Umweltbestimmungen wie die Ausweisung von Naturschutzgebieten und Programme zur Förderung des ländlichen Raums kann jedoch auch auf die regionale Ausgestaltung der Bioökonomie Einfluss genommen werden. Die direkte Förderung von bioökonomischen Innovationen beschränkt sich eher auf Nischen wie Wissenschaftsförderung, Bildungsinitiativen und öffentliche Beschaffung. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Entwicklung der Bioökonomie von einer ganzen Reihe von Politikfeldern und rechtlichen Rahmenbedingungen bestimmt wird, wobei gleichzeitig Gestaltungskompetenzen von der europäischen bis zur regionalen Ebene reichen. Ansätze der politischen Koordination dieser verschiedenen Felder und Ebenen der Bioökonomie-Governance werden in ihrer Wirksamkeit begrenzt bleiben. Eine kohärente Bioökonomie-Politik in einem umfassenden Sinne kann somit nicht erwartet werden.
5.3.6 Wechselwirkungen und Rückkopplungen Es bestehen vielfältige Wechselwirkungen in der Bioökonomie, die sich in den kontinuierlich stattfindenden Konkurrenzen der Wirtschaftsakteure um Biomasse, Technologie- und Wertschöpfungspfade sowie Endproduktmärkte ausdrücken (Meyer und Priefer 2018, S. 229 ff.). Die Ausprägungen dieser Konkurrenzbeziehungen entscheiden darüber, in welche Richtung sich bioökonomische Aktivitäten zukünftig entwickeln. Der Aufbau von Wertschöpfungsketten und entstehende Konkurrenzbeziehungen bestimmen wesentlich den Ressourcenbedarf sowie die Wirkungen auf Umweltgüter und damit auch die potentiellen Auswirkungen von Bioökonomie-Entwicklungen (systematischer Überblick zu potentiellen Wirkungen der Bioökonomie in Meyer und Priefer 2018). Einen
Anmerkung: ↔ = Konkurrenzbeziehung innerhalb eines Nutzungsbereichs, zwischen Nutzungsbereichen Quelle: Meyer und Priefer (2018, S. 230)
Tab. 5.1 Potentielle Konkurrenzbeziehungen in der Bioökonomie
= Konkurrenzbeziehung
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systematischen Überblick über die potentiellen Konkurrenzbeziehungen auf den Ebenen Endprodukte, Konversion und Biomasseproduktion sowohl innerhalb als auch zwischen energetischer Nutzung, stofflicher Verwendung und Nahrungsmitteln gibt die Tab. 5.1. Zwischen einzelnen Konkurrenzbeziehungen auf den verschiedenen Stufen der Wertschöpfungsketten bestehen kausale Zusammenhänge. Beispielsweise ist die Konkurrenzfähigkeit der bio-basierten Endprodukte unter anderem von der Ausprägung der Konkurrenzen auf der Ebene der Biomasseerzeugung abhängig. Ebenso haben die konkreten Orte, an denen sich Wertschöpfungsketten realisieren, einen erheblichen Einfluss auf die Nutzungskonkurrenz um Flächen sowie auf die Ressourcenbeanspruchung und die Auswirkungen auf Umweltgüter (Meyer und Priefer 2018, S. 229). Diese beiden Aspekte werden in der Tabelle nicht abgebildet. Auf der Ebene der Endprodukte bestehen Konkurrenzen nur jeweils innerhalb der drei Nutzungsbereiche, da die Konsumentscheidungen der Verbraucher nicht zwischen stofflichen Produkten, Energienachfrage und Nahrungsmitteln stattfinden (Meyer und Priefer 2018, S. 231 ff.). Bio-basierte Endprodukte, ebenso wie die Bioenergie, stehen vor allem in Konkurrenz zu fossilen Produkten. Aber zusätzlich gibt es verschiedene Konkurrenzbeziehungen zwischen verschiedenen innovativen bio-basierten Produkten sowie mit traditionellen bio-basierten Produkten. Die Ausprägung dieser Konkurrenzbeziehungen wird zunächst von den Preisrelationen zwischen fossil und bio-basiert bestimmt, die von den jeweiligen Produktionskosten über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg abhängig sind. Neben der wirtschaftlichen Vorzüglichkeit gibt es weitere wichtige Einflussfaktoren wie staatliche Fördermaßnahmen, Erkennbarkeit von bio-basierten Produkten durch Kennzeichnung beziehungsweise Labels, Verbraucherwahrnehmung der ökologischen Vorteile bio-basierter Produkte und Wertschätzung neuer Produkteigenschaften. Auf der Ebene der Konversion konkurrieren Bioraffinerien auf der Basis von Lignozellulose mit Zucker/Stärke-Bioraffinerien, also zumindest teilweise etablierten Konversionspfaden ausgehend von landwirtschaftlicher Biomasse, sowie zusätzlich potentiell mit weiteren Bioraffineriekonzepten. Wirtschaftliche Vorteile bestehen, wenn Bioraffinerie-Prozesse in Ergänzung zu einer bestehenden Zucker- beziehungsweise Stärkeproduktion oder einer bestehenden Zellulose- und Papierproduktion etabliert werden. In Abhängigkeit vom Bioraffinerie-Konzept und seinem Entwicklungsstand sind außerdem unterschiedliche Lernkurven und Kostensenkungspotentiale zu erwarten. Neben technisch-ökonomischen Faktoren wirken komplexe Akteursnetzwerke, institutionelle Strukturen und der breitere Kontext auf die Konkurrenzbeziehungen. Die Erzeugung landwirtschaftlicher Biomasse kann auf eine Nutzung als Nahrungsmittel, eine energetische oder stoffliche Nutzung zielen (Meyer und
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Priefer 2018, S. 235 ff.). Bei forstwirtschaftlicher Biomasse ist die Konkurrenz auf energetische und stoffliche Nutzungen begrenzt. Direkte Konkurrenzbeziehungen bestehen immer dann, wenn ein Agrar- oder Forstprodukt über mehr als einen Nutzungspfad verwertet werden kann. Eine indirekte Konkurrenz besteht, wenn ein land- oder forstwirtschaftlicher Rohstoff zwar nur über einen einzigen Nutzungspfad verwertet werden kann, aber mit anderen Nutzungspfaden um Flächen konkurriert. Dies gilt beispielsweise für den Anbau von Lignozellulose-haltigen Pflanzen (z. B. Miscanthus, Kurzumtriebsplantagen), die nicht als Nahrungsmittel genutzt werden können, aber über die Konkurrenz um Flächen mit der Nahrungsmittelerzeugung verknüpft sind. Ein wichtiges Charakteristikum von Flächenkonkurrenzen ist, dass sich diese über verschiedene räumliche Ebenen fortpflanzen und dort jeweils spezifische Wirkungen entfalten können. Ein Anbau für stoffliche oder energetische Nutzungen kann zunächst in den Regionen Konkurrenzen bewirken, in denen er wirtschaftlich ist. Flächenkonkurrenzen auf regionaler Ebene sind relevant im Hinblick auf ihren Einfluss auf regionale Wertschöpfungsketten und ökologische Wirkungen der Landbewirtschaftung vor Ort. Ob die Nahrungsmittelversorgung von derartigen regionalen Verschiebungen beeinträchtigt wird, hängt davon ab, wie weit auf nationaler und internationaler Ebene ein Ausgleich stattfindet. Angesichts offener Märkte können Fernwirkungen in den globalen Landnutzungssystemen (Haberl et al. 2012) auftreten, wenn eine zunehmende Flächennutzung für stoffliche oder energetische Nutzungen durch den Import von Agrarprodukten (Nahrungsmitteln) aus anderen Ländern kompensiert oder sich der Anbau von Energie- und Industriepflanzen in andere Weltregionen verlagert. Diese Fernwirkungen können in entgegengesetzte Richtungen wirken, als Ausgleich regionaler oder nationaler Engpässe oder als Verlagerung und gegebenenfalls Verschärfung von Versorgungsproblemen und negativen ökologischen Effekten (Meyer und Priefer 2015). Konkurrenzbeziehungen sind nicht statisch, sondern dynamisch, das heißt sie verändern sich über die Zeit. Verschiedene Rückkopplungsmechanismen können Konkurrenzen entgegensteuern und sie damit wieder abmildern. Gleichzeitig können sich die Rahmenbedingungen, die auf Konkurrenzbeziehungen wirken, im Zeitverlauf verändern. Diese Einflüsse können auf verschiedenen räumlichen Ebenen auftreten, von regional bis global, und sowohl zu einer Erhöhung als auch zu einer Einschränkung des Biomasseangebots führen. Sie reichen von wirtschaftlichen Mechanismen über sich ändernde ökologische und gesellschaftliche Bedingungen bis zu politischen Gestaltungsmaßnahmen. Wichtige Rückkopplungen und Einflussfaktoren, die die Chancen innovativer bioökonomischer Wertschöpfungsketten beeinflussen, sind beim Angebot von Biomasse (Meyer und Priefer 2018, S. 239 f.):
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• Längerfristige Entwicklung der landwirtschaftlichen Produktivität • Kurzfristige Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion • Auswirkungen des Klimawandels • Klimaschutzpolitik und Maßnahmen zur Reduktion von Klimagasemissionen • Klimawandelanpassung in der Land- und Forstwirtschaft • Agrarumweltpolitik • Waldstrukturveränderung • Naturschutzpolitik • Mobilisierung von noch nicht erschlossenen Holzreserven (z. B. aus Kleinprivatwald) Bei der Nachfrage nach Biomasse sind insbesondere von Bedeutung (Meyer und Priefer 2018, S. 241 f.): • Bevölkerungsentwicklung und steigender Nahrungsmittelbedarf • Entwicklung der Nahrungsmittelnachfrage • Entwicklung des Konsums tierischer Lebensmittel in Entwicklungs- und Schwellenländern sowie in Industrieländern • Reduktion von Lebensmittelverlusten • Nachfrage nach Holzprodukten und Entwicklung des Holzbaus Insgesamt ergibt sich ein komplexes Bild von Einflussfaktoren, Wechselwirkungen und Rückkopplungen, die sich insbesondere auf ökonomische Zusammenhänge, Stoffflüsse, Akteurskonstellationen und ökologische Folgen auswirken. Diese Wirkungszusammenhänge sind bisher unzureichend untersucht. Allerdings können wissenschaftliche Untersuchungen in der Regel nur Ausschnitte betrachten und müssen eine Auswahl bei den möglichen Annahmensetzungen treffen, sodass Unsicherheiten über zukünftige Entwicklungen und Wirkungen bestehen bleiben.
5.4 Fazit Die Analyse der wesentlichen Elemente und Herausforderungen für eine systemische Betrachtung der Bioökonomie hat gezeigt, dass ein solcher Ansatz, wie er in der Bioökonomie-Politik und für die Bioökonomie-Entwicklung gefordert wird, zwar erstrebenswert erscheint, sich jedoch mit fragmentierten Realitäten konfrontiert sieht. Das bedeutet, dass eine über Einzelaspekte hinausgehende, systemische Untersuchung und Gestaltung der Bioökonomie an
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Grenzen stößt und schwierig zu realisieren ist. Dies wird in erster Linie bedingt durch den hohen Komplexitätsgrad realer Sachverhalte und der Bioökonomie an sich, zahlreicher systemarer Wechselwirkungen und nicht vorhersehbare Entwicklungen sowie bestehende Pfadabhängigkeiten. Es ist davon auszugehen, dass fragmentierte Realitäten und Politiken auch zukünftig bestehen bleiben. Dies bedeutet, dass der systemische Ansatz in der Bioökonomie im Bewusstsein der Grenzen und Schwierigkeiten, die mit ihm verbunden sind, weiter verfolgt werden sollte. Aus unserer Sicht ergibt sich angesichts der identifizierten Schwierigkeiten für eine systemische Betrachtung die Notwendigkeit, die Transformation so zu gestalten, dass jederzeit Anpassungen der sich entwickelnden Bioökonomie, zum Beispiel an sich verändernde Rahmenbedingungen, möglich sind. Damit kommt der verbesserten Lern- und Korrekturfähigkeit in der B ioökonomie-Politik und -Gestaltung eine zentrale Bedeutung zu (Meyer und Priefer 2018, S. 382). Es bestehen für die Politik verschiedene Handlungsoptionen, um Lern- und Korrekturfähigkeit in der Bioökonomie zu fördern. Beispiele sind (Meyer und Priefer 2018, S. 383 ff.): • Breit angelegter, kontinuierlicher Stakeholder-Dialog, um potentielle Konflikte zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren frühzeitig zu erkennen, unterschiedliche und sich wandelnde Interessen und Werte zu erfassen sowie einen Meinungsaustausch zu ermöglichen; • Ausbalancierung zwischen Pfadfestlegungen einerseits, das heißt einer längerfristig angelegten und verlässlichen Politikfestlegung für die Schaffung von Innovationen und Investitionssicherheit, und Möglichkeiten der Pfadkorrektur andererseits, damit es weder zu unumkehrbaren, unerwünschten Entwicklungen noch zu einer Blockade von zukünftig neu hinzukommenden innovativen technologischen Lösungen oder anderen Innovationen kommt; • Stärkung einer kontinuierlichen Forschung zu den ökologischen, sozialen und ökonomischen Auswirkungen von Bioökonomie-Innovationen und -Entwicklungen sowie Fortschritte bei der integrierten Nachhaltigkeits bewertung, um positive als auch negative Wirkungen der Bioökonomie zu erfassen und die systemaren Wechselwirkungen besser zu verstehen; • Entwicklung und Implementierung eines umfassenden BioökonomieMonitorings auf Landes-, Bundes- und EU-Ebene, um nicht intendierte Folgen der Bioökonomie für Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft frühzeitig zu identifizieren und die Wirkungen von Gegenmaßnahmen zu beobachten; • Aufbau eines dauerhaften Austausches zwischen Akteuren entlang von Wertschöpfungsketten sowie zwischen Wertschöpfungsketten mit wechselseitigen Beziehungen, um gegenseitiges Lernen zu ermöglichen, Synergien zu nutzen
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(z. B. im Bereich Rohstoffnutzung) und Mechanismen der Umsteuerung zu etablieren. Insbesondere für die Erreichung eines nachhaltigen Wandels stellen Lern- und Korrekturfähigkeit wichtige Voraussetzungen dar. Auch wenn es in der Praxis bereits zahlreiche Ansatzpunkte gibt, um solche Strategien zu fördern, ist dieses Feld in der Bioökonomie-Debatte und -Forschung noch weitestgehend unbeleuchtet. So stellt sich zum Beispiel die Frage, welche Konstellationen im sozio-technischen Setting der bio-basierten Wirtschaft relevante Akteure dazu befähigen, die Lern- und Korrekturfähigkeit als wichtige Elemente einer nachhaltigen Bioökonomie zu fördern und langfristig sicherzustellen. Die Betrachtung konnte zeigen, dass Grenzen für die systemische Betrachtung in der Bioökonomie bestehen, die nicht überwindbar sind, mit denen jedoch durch gezielte Maßnahmen ein guter und souveräner Umgang möglich ist. Dies in der Praxis zu realisieren und umzusetzen ist ein noch offener Entwicklungsprozess.
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Nächste Ausfahrt Bioökonomie? Facetten einer Good Governance Wilfried Konrad und Dirk Scheer
Zusammenfassung
Das Konzept der Bioökonomie zielt auf eine langfristige Transformation, die tiefgreifende Restrukturierungen von Wertschöpfungsketten und intensive gesellschaftliche Debatten voraussetzt. Technische Machbarkeit und ökonomische Effizienz sind dabei ebenso in den Blick zu nehmen wie soziale, politische und ökologische Dimensionen. Angesichts der Komplexität eines Strukturwandels zur Bioökonomie hat sich die Frage einer Governance der Bioökonomie zu einem wichtigen Forschungsthema herausgebildet. Daran schließt dieser Beitrag an und setzt dabei den Fokus auf die Analyse von Governance-Themen und Governance-Maßnahmen im Kontext bioökonomischer Innovationen im Ressourcen- sowie stofflichen und energetischen Bereich. Auf der Basis einer qualitativen Auswertung von Experteninterviews werden zunächst Themen und Maßnahmen in den fünf Governance-Bereichen Wissenschaft und Technik, Politik und Recht, Markt und Ökonomie, Ökologie sowie Gesellschaft spezifiziert. Auf dieser Grundlage wird mit Blick auf die Differenzierung von Ermöglichungs- und Beschränkungsfunktionen die Rahmensetzung für eine „Good Governance Bioökonomie“ ausgearbeitet. W. Konrad (*) DIALOGIK gemeinnützige Gesellschaft für Kommunikations- und Kooperationsforschung mbH, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Scheer Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Konrad et al. (Hrsg.), Bioökonomie nachhaltig gestalten, Technikzukünfte, Wissenschaft und Gesellschaft / Futures of Technology, Science and Society, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29433-5_6
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W. Konrad und D. Scheer
Schlüsselwörter
Governance-Forschung · Bioökonomie-Innovationen · Good Governance · Experteninterviews · Qualitative Sozialforschung
6.1 Einleitung Das Streben nach einer auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Wirtschaftsweise hat zu einer Vielzahl alternativer Entwürfe für zukunftsfähige Strukturen geführt. Hierfür stehen Begriffe wie Kreislaufwirtschaft, Neue Nutzungskonzepte, Langlebigkeit, ökoeffiziente Dienstleistungen, Sharing Economy, Green Economy, Green Growth, Post-Wachstum, Degrowth oder Low-carbon-Economy. Auch das Konzept der Bioökonomie ist mit dem Anspruch verbunden, Entwicklungskorridore zu einer nachhaltig tragbaren Wirtschaftsweise zu öffnen. Dabei werden einerseits Elemente aus den Diskursen zu Green Economy oder Kreislaufwirtschaft inkorporiert, andererseits zeichnet sich die Bioökonomie durch einen konsequenten Fokus darauf aus, industrielle Inputs an Materialien, Chemikalien oder Energie aus erneuerbaren, biologischen Ressourcen zu gewinnen (D’Amato et al. 2017). Damit ist eine Vielfalt an Technologiefeldern und Branchen für eine Bioökonomie konstitutiv, zu denen etwa Land- und Forstwirtschaft, Nahrungsmittel- und Chemieindustrie, biotechnische Verfahren, Life Sciences oder Energiewirtschaft zählen. Auch wenn sich bislang kein einheitliches Verständnis zur Bioökonomie und der sie konstituierenden Wissensgebiete und Wirtschaftssektoren durchgesetzt hat, zeichnet sich ein Konsens ab, der die Aspekte Nachhaltigkeit und Innovation beinhaltet. Dies spiegelt zum Beispiel die Definition des deutschen Bioökonomierats. Danach gilt Bioökonomie „als die Erzeugung und Nutzung biologischer Ressourcen (auch Wissen), um Produkte, Verfahren und Dienstleistungen in allen wirtschaftlichen Sektoren im Rahmen eines zukunftsfähigen Wirtschaftssystems bereitzustellen“ (BÖ-Rat o. J.; Global Bioeconomy Summit 2015; WD 2016). Es ist evident, dass es sich bei der Bioökonomie um einen komplexen, langfristigen Transformationsprozess handelt, dessen Umsetzung tiefgreifende Restrukturierungen von Wertschöpfungsketten und intensive gesellschaftliche Debatten voraussetzt. Ziele und Fortschritte einer Bioökonomie können daher nicht nur nach Kriterien technischer Machbarkeit und ökonomischer Effizienz festgelegt und bewertet werden. Mit Blick auf die Zielorientierungen Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Akzeptanz bioökonomischer Innovationen sind ebenso Untersuchungen und Reflexionen notwendig, die soziale, ökologische
6 Nächste Ausfahrt Bioökonomie? Facetten einer Good Governance
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oder ethische Dimensionen in den Blick nehmen. Ein wichtiges Instrument hierzu sind sozialwissenschaftliche Studien, die an der Analyse bioökonomischer F&E-Projekte ansetzen und Erkenntnisse zur Bandbreite der damit verbundenen sozio-technischen Implikationen, Akteurskonstellationen und GovernanceAnforderungen generieren. Der Beitrag greift diese Perspektive am Beispiel von Arbeitsgebieten auf, die im Rahmen der Forschungsverbünde „Lignozellulose – Alternativer Rohstoff für neue Materialien und Produkte“ und „Nachhaltige und flexible Wertschöpfungsketten für Biogas in Baden-Württemberg“ des Forschungsprogramms Bioökonomie Baden-Württemberg (BW 2013) untersucht wurden. Dazu wird zunächst in Abschn. 6.2 der Stand der Forschung zur Governance der Bioökonomie exploriert. Abschn. 6.3 grenzt das Untersuchungsgebiet der Studie ein und erläutert das methodische Forschungsdesign. Im Mittelpunkt von Abschn. 6.4 stehen die Resultate zur Governance bioökonomischer Innovationen, woraufhin Abschn. 6.5 eine Zusammenführung in Richtung einer Rahmensetzung für eine „Good Governance Bioökonomie“ leistet. Abschn. 6.6 schließt den Beitrag mit einem zusammenfassenden Ausblick ab.
6.2 Governance der Bioökonomie Seit den ersten Initiativen der Europäischen Kommission in den frühen 2000er Jahren, das Konzept einer Bioökonomie als Politikstrategie für ein wissensbasiertes, nachhaltiges Wachstum zu etablieren (Patermann und Aguilar 2018; Scarlat et al. 2015), ist hierzu eine immense Anzahl von Publikationen im deutschsprachigen und internationalen Raum erschienen. Deren Themenspektrum reicht von regionalen und nationalen Bioökonomiestrategien (z. B. Overbeek et al. 2018) über Verarbeitungstechniken biobasierter Ressourcen (z. B. Loeffler et al. 2018) und wirtschaftlichen Effekten einer Bioökonomie (z. B. Pannicke et al. 2015) bis hin zu Kritik am Konzept der Bioökonomie (z. B. Birch et al. 2010). Angesichts der Komplexität und Reichweite der Transformation zu einer maßgeblich auf erneuerbaren Rohstoffen basierenden Produktions- und Konsumstruktur hat sich die Governance der Bioökonomie seit einigen Jahren als weiterer Forschungsschwerpunkt herausgebildet. Governance ist ein seit den 1990er Jahren im politikwissenschaftlichen Kontext entwickelter Begriff zur Bezeichnung „nicht-hierarchischer und nicht lediglich staatlicher“ (Mayntz 2004, S. 66) Formen der politischen Steuerung. Allgemein kann Governance definiert werden „as the interactive processes through which society and the economy are steered towards
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collectively negotiated objectives. The crucial insight is that no single actor has the knowledge, resources and capacities to govern alone in our complex and fragmented societies“ (Ansell und Torfing 2016, S. 4). Vor diesem Hintergrund fragt die Forschung zur Governance nach den Regelungsstrukturen als spezifischen Sets von Interaktionen, Institutionen und Akteuren zur politischen Steuerung gesellschaftlicher Bereiche (Mayntz 2006; Scheer 2006; Scheer und Rubik 2006). Im Zentrum der Forschung zur Governance der Bioökonomie stehen Regelungsstrukturen, in deren Rahmen die Transformation zur Bioökonomie vorangetrieben werden kann und sich potentielle bioökonomische Konfliktfelder (z. B. Nahrung vs. Energie) und unerwünschte Nebenfolgen (z. B. intensivierte Flächennutzung) bearbeiten lassen. Dabei liegt ein Schwerpunkt auf der Bestandsaufnahme, Analyse und Konzeptionierung von GovernanceSystemen auf nationaler, regionaler oder sektoraler Ebene. So werden von Bosman und Rotmans (2016) die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Strategien für eine Governance des Übergangs zur Bioökonomie für Finnland und die Niederlande in den Blick genommen. Aus der analytischen Perspektive des Transitionsmanagements wird die Implementierung netzwerkorientierter Ansätze als Treiber des bioökonomischen Strukturwandels, die Bottom-up- mit Top-down-Elementen kombinieren, empfohlen. Eine qualitative Inhaltsanalyse von 41 nationalen Bioökonomiestrategien aus dem Blickwinkel von Nachhaltigkeit legen Dietz et al. (2018) vor. Dabei können sie zeigen, dass viele Länder bereit sind, durch umfassende politische Maßnahmen eine Bioökonomie zu fördern. Dagegen werden Risiken und Zielkonflikte einer Bioökonomie in diesen Strategien nur am Rande thematisiert; nur wenige Strategien verweisen auf potentielle negative Implikationen für eine nachhaltige Entwicklung. Eine komparative Perspektive, die sich auf nationale und regionale sowie sektorale Konzepte bezieht, nehmen de Besi und McCormick (2015) ein. Sie vergleichen die Bioökonomiestrategien verschiedener europäischer Länder (Schweden, Deutschland, Finnland) und Regionen (z. B. Flandern, Baden-Württemberg) sowie Industriebranchen (Energie, Holzfasern, Biotechnologie) und fragen nach den hier vorhandenen Merkmalen von Governance-Mechanismen und -Konstellationen. Als zentrale Gemeinsamkeit der untersuchten Strategien arbeiten sie das Ziel und die Anforderung heraus, „to create a coherent and supportive policy framework for the development of the bioeconomy“ (de Besi und McCormick 2015, S. 10469). Auf einzelne Bioökonomiesektoren konzentrierte Governance-Studien liegen für verschiedene Bereiche wie die Forst- und Holzwirtschaft (Johansson 2018;
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Mustalahti 2018; Gawel et al. 2018), das Agrar- und Ernährungssystem (von Braun und Birner 2017), die Bodennutzung (Jürges und Hansjürgens 2018) oder biobasierte Kraftstoffe (McCormick 2011) vor. Auch hier stehen die Analyse bestehender Governance-Strukturen sowie Erkenntnisse und Empfehlungen für deren Weiterentwicklung im Zentrum. So wird am Beispiel des deutschen Holzsektors darauf hingewiesen, das „an efficient path transition towards a sustainable bioeconomy requires a clear governance framework with an active role of the state to provide fair competitive framework conditions for bio-based products, foster innovation and safeguard sustainability“ (Gawel et al. 2018, S. 532). Johansson (2018) geht der Frage nach, wie in Skandinavien die Interessen verschiedener Stakeholder im Rahmen nationaler Forstprogramme ausbalanciert werden. Um gegenwärtige Fehlfunktionen der globalen Lebensmittel-Governance zu überwinden, schlagen von Braun und Birner (2017) den Aufbau einer internationalen Plattform als politische Arena zur Verabredung institutioneller Arrangements für die Bewirtschaftung natürlicher Ressourcen, die Handels- und Wettbewerbspolitik oder das Management von Ernährungskrisen vor. Schließlich identifiziert McCormick (2011) in seiner auf Biotreibstoffe fokussierten Studie ein Set von Schlüsselherausforderungen für eine Bioökonomie-Governance und rekurriert dabei unter anderem auf Netzwerke öffentlicher und privater Akteure oder interlokale und -regionale Kooperationen. Governance-Studien zu politischen und branchenbezogenen Bioökonomiestrategien basieren in der Regel auf einem konzeptionellen Governance-Ansatz als analyseleitendem Rahmen. Eine besondere Rolle spielen hierbei die Konzepte einer Collaborative Governance und Transition Governance. Beide Konzepte gehen davon aus, dass der Pfadwechsel zu einer Bioökonomie als ein komplexer Prozess zu verstehen ist, der eine große Bandbreite an ökonomischen, technischen, institutionellen, kulturellen und ökologischen Veränderungen auf verschiedenen Ebenen erfordert. Dies gilt gerade für eine dem Nachhaltigkeitsgedanken verpflichtete Bioökonomie, womit das Ausmaß unterschiedlicher gesellschaftlicher Perspektiven auf Ziele, Reichweite oder Konfliktpotentiale des Strukturwandels noch einmal erhöht wird (Bosman und Rotmans 2016). Vor diesem Hintergrund liegt der Fokus einer Collaborative Governance auf Strukturen und Prozessen, die es allen in die Bioökonomie involvierten öffentlichen und privaten Stakeholdern ermöglichen, an der Debatte und Entscheidungsfindung über bioökonomische Entwicklungen teilzunehmen. Dabei wird es als Ausdruck einer elementaren Gerechtigkeit verstanden, eine Chancengleichheit herzustellen, die allen Akteuren vergleichbare Beteiligungsspielräume zugesteht. Diese Forderung wird insbesondere mit Blick auf Bürger und Konsumenten erhoben, um deren Werte, Interessen und Wissensbestände als
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Schlüsselaspekte in die Gestaltungsprozesse einer nachhaltigen Bioökonomie zu integrieren (de Besi und McCormick 2015; Johansson 2018; McCormick 2011; Mustalahti 2018). Im Rahmen einer Transition Governance wird die Netzwerk- und Partizipationsthematik in den Mittelpunkt gerückt und in ein umfassenderes Referenzsystem mit Bezügen zu Innovationstheorie, Evolutionsökonomik oder Theorien sozialen Lernens eingeordnet. So fokussiert Transition Governance für eine Bioökonomie einerseits auf radikale Innovationen und Nischen für Pioniere zur geschützten Entwicklung innovativer Konzepte. Andererseits stehen langfristiges Denken als Grundlage für kurzfristige Maßnahmen und Politiken und Lernprozesse hinsichtlich unterschiedlicher Akteursperspektiven und Entwicklungsoptionen im Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund werden partizipative Entscheidungsprozesse sowie die Interaktion zwischen Stakeholdern als notwendige Voraussetzungen konzeptualisiert „in order to develop support for policies and to engage actors in reframing problems and solutions through social learning“ (Bosman und Rotmans 2016, S. 1020). Über regionale und nationale Grenzen hinaus blicken Ansätze einer Global Governance. Sie diagnostizieren eine Überforderung traditioneller transnationaler Institutionen, die mit der zunehmenden Geschwindigkeit und Komplexität globaler Entwicklungen strategisch, programmatisch oder regulatorisch nicht Schritt halten. Dieser Befund wird auch für die derzeitige globale B ioökonomie-Governance konstatiert. Hier sind effektive und effiziente Governance-Strukturen etwa zur Vereinbarung internationaler Nachhaltigkeitsstandards erst noch zu entwickeln (Birner 2018; von Braun und Birner 2017). Allerdings sind zumindest für die grundlegenden Prinzipien einer Governance für eine global nachhaltige Entwicklung Fortschritte zu verzeichnen. Ausgehend von der Idee einer Good Governance im Rahmen des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP 1997, 1998) wurden Brücken zur Bioökonomie geschlagen (Devaney et al. 2017; von Braun 2017). Dabei hat sich ein Prinzipienkatalog einer Good Governance der Bioökonomie herauskristallisiert, der insbesondere die folgenden Anforderungen umfasst: Monitoring bioökonomischer Entwicklungen und die Evaluation von Politikprogrammen („Verantwortlichkeit“); Kommunikation mit der Öffentlichkeit („Transparenz“); Einbindung von Stakeholdern und Bürgern in die Erarbeitung von Leitbildern, Visionen oder Strategiekonzepten („Partizipation“); Einrichtung inter-ministerieller und -regionaler Koordinierungsgremien („Politikkohärenz und Effektivität“); und internationale Zusammenarbeit für Capacity Building, Wissensaustausch oder Technologietransfer („Fairness“) (BÖ-Rat 2018; von Braun 2017).
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Die Literatur zur Bioökonomie-Governance erschließt somit ein breites Spektrum an Herausforderungen und Schlussfolgerungen für eine Transformation in Richtung Bioökonomie. Die essentielle Rolle von Forschung und Entwicklung wird dabei klar herausgestellt, ohne allerdings die Bedeutung der Governance-Thematik aus der Perspektive einer sozialwissenschaftlichen Technologiebewertung heraus zu beleuchten. Hier setzt dieser Beitrag an, indem er auf die sozio-technischen Implikationen bioökonomischer Innovationen im Ressourcen- sowie stofflichen und energetischen Bereich fokussiert und darauf abgestimmte Governance-Maßnahmen spezifiziert. Eine solche innovationsbezogene Analyse ermöglicht eine frühzeitige Folgenabschätzung und eröffnet Spielräume für die Integration gesellschaftlicher Anforderungen.
6.3 Untersuchungsgegenstand und -methode Es wird erwartet, dass ein bioökonomischer Strukturwandel auf Innovationen basiert, die die Ressourcengewinnung und Produktangebote für stoffliche und energetische Nutzung auf neue Grundlagen stellen. Exemplarisch wurden für diesen Beitrag daher die folgenden auf diese Segmente zugeschnittenen Innovationsfelder untersucht: • Innovationsfeld „Ressourcen“: Miscanthus und Kurzumtriebsplantagen als nachwachsende Rohstoffe. • Innovationsfeld „stoffliche Nutzung“: Biobasierte Produkte aus Lignozellulose. • Innovationsfeld „energetische Nutzung“: Biologische Methanisierung für Power-to-Gas. Die drei Innovationsfelder repräsentieren Themen, die im Rahmen des Forschungsprogramms Bioökonomie Baden-Württemberg von Projekten der Forschungsverbünde „Lignozellulose“ und „Biogas“ bearbeitet wurden. Ihre Auswahl basiert auf einer multidimensionalen Charakterisierung aller in diesen beiden Förderbereichen durchgeführten Projekte (vgl. Scheer et al. 2018 für Details zu dieser vergleichenden Analyse). Im Folgenden werden zunächst grundlegende Merkmale zu den drei Innovationsfeldern präsentiert. Sodann wird die angewendete Untersuchungsmethode erläutert.
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6.3.1 Fokus Ressourcen: Miscanthus und Kurzumtriebsplantagen Als Ressourcenbasis einer Bioökonomie spielen nachwachsende Rohstoffe die Schlüsselrolle. Nachwachsende Rohstoffe sind „land- und forstwirtschaftlich erzeugte Produkte, die nicht als Nahrungs- oder Futtermittel Verwendung finden, sondern stofflich oder zur Erzeugung von Wärme, Strom oder Kraftstoffen genutzt werden“ (FNR o. J.). Im Jahr 2017 wurden in Deutschland auf einer Fläche von 2,65 Mio. Hektar nachwachsende Rohstoffe angebaut, die damit etwa 23 % des gesamten Ackerlandes in Anspruch nahmen. Die agrarisch erzeugte Biomasse wird ergänzt durch biogene Abfallprodukte sowie Holz aus der Waldbewirtschaftung. Mit gut elf Millionen Hektar ist etwa ein Drittel der Fläche Deutschlands mit Wald bedeckt (FNR o. J.). Über bereits etablierte nachwachsende Rohstoffe (z. B. Mais, Raps, Sonnenblumen) hinaus richtet sich das Augenmerk der Bioökonomie zusehends auf neue landwirtschaftliche Produktionssysteme. Hier stehen insbesondere Miscanthus und Holz aus Kurzumtriebsplantagen (KUP) im Fokus, die mit Anbauflächen von jeweils weniger als 10.000 Hektar derzeit noch als Nischenprodukte einzuordnen sind (FNR o. J.; Klabunde 2016). Werden diese Biomassen bislang vorwiegend der energetischen Verwertung zugeführt, setzten die Projekte im Forschungsprogramm Bioökonomie Baden-Württemberg hauptsächlich auf die Entwicklung von Verfahren für die stoffliche Nutzung der in Miscanthus und KUP-Hölzern vorhandenen Lignozellulose für neue Materialien und Produkte. Miscanthus ist ein mehrjähriges Süßgras, das ein hohes Ertragspotential mit einem geringen Bedarf an Düngern und Pflanzenschutzmitteln vereint. Miscanthus-Anpflanzungen können bis zu 20 Jahre genutzt werden; die Erntezeit ist Februar bis März (Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen 2012). Bei einer Kurzumtriebsplantage handelt es sich um eine Anlage mit rasch wachsenden Bäumen, zum Beispiel Pappeln oder Weiden, zur Produktion von Holz als nachwachsendem Rohstoff. KUPs werden auf landwirtschaftlichen Flächen angelegt und sind laut Bundeswaldgesetz kein Wald, sondern Dauerkulturen mit dem Flächenstatus Acker. Die Umwandlung von Wald zu einer KUP ist rechtlich nicht zulässig. KUPs werden einmalig gepflanzt und ermöglichen mehrmalige Ernten. Üblich sind Umtriebszeiten (Zeitspanne zwischen Pflanzen und Ernten) zwischen drei und zehn Jahren, wobei aus wirtschaftlicher Perspektive eine Gesamtstandzeit von mindestens fünf Ernteintervallen angestrebt wird. Bei einer anschließenden Nutzungsänderung sind Rekultivierungsmaßnahmen notwendig (Bärwolff 2014; Landwirtschaftskammer Nordrhein-Westfalen 2012).
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6.3.2 Fokus stoffliche Nutzung: Biobasierte Produkte aus Lignozellulose Speziell die Chemieindustrie setzt bereits seit langem biobasierte Ressourcen und biotechnologische Verfahren ein, um Produkte wie Kunststoffe, Fasern, Waschmittel, Kosmetika, Farben, Lacke, Druckfarben, Klebstoffe, Baustoffe, Hydrauliköle, Schmiermittel oder Arzneimittel herzustellen. Im Jahr 2016 hatten nachwachsende Rohstoffe einen Anteil von 13,1 % (2,69 Mio. Tonnen; davon Importe: 70 %) am Rohstoffstoffmix der deutschen chemischen Industrie (FNR 2018). Im Forschungsprogramm Bioökonomie Baden-Württemberg wurde untersucht, wie Holz und andere pflanzliche Lignozellulose (z. B. Miscanthus) in Ausgangsmaterialien für Produkte wie Biokunststoffe oder Reinigungsmittel umgewandelt werden können. Hierzu muss die Lignozellulose in speziellen Aufschluss-, Konversions- und Aufbereitungsprozessen bearbeitet werden, um sie in Plattformchemikalien zu transformieren, die sich in unterschiedlichen Anwendungen weiterverwenden lassen.
6.3.3 Fokus energetische Nutzung: Biologische Methanisierung für Power-to-Gas Bei Power-to-Gas (PtG) handelt es sich um eine Technologie zur Erzeugung von Sekundärenergieträgern für die energetische oder stoffliche Verwendung in den Bereichen Strom, Wärme, Mobilität und Industrie. Dabei wird Strom aus erneuerbaren Quellen dazu genutzt, die Energieträger Wasserstoff oder Methan zu produzieren, die zum Beispiel im Erdgasnetz gespeichert werden können. PtG hat nicht per se bioökonomische Bezüge, sondern rückt erst dann in den Horizont der Bioökonomie, wenn der durch Elektrolyse erzeugte Wasserstoff durch M ikroorganismen in Methan umgewandelt wird. Hierzu ist Kohlendioxid (CO2) notwendig, wobei als CO2-Lieferant Biogas dienen kann, das im Wesentlichen aus Methan und CO2 besteht (Bundesnetzagentur 2011; FNR 2016). Die PtG-Technologie bietet damit die Chance auf neue Wertschöpfungsmöglichkeiten für den Biogassektor, von dem in Deutschland über 9.000 Biogasanlagen betrieben werden. Neben dem auf Mikroorganismen basierenden biologischen Verfahren kann die Methanisierung von Wasserstoff auch katalytisch (Sabatier-Prozess) erfolgen (Krautwald und Baier 2016). Beide Ansätze befinden sich derzeit noch auf dem Entwicklungsniveau von Forschungs- und Demonstrationsprojekten (Weltenergierat Deutschland
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2018). Im Forschungsprogramm Bioökonomie Baden-Württemberg wurden verschiedene Ansätze zum Einsatz der biologischen Methanisierung in Power-toGas-Konzepten bearbeitet.
6.3.4 Methode Die oben beschriebenen drei Innovationsfelder wurden im Rahmen von drei Fallstudien untersucht, für die jeweils sechs beziehungsweise fünf leitfadengestützte Interviews geführt wurden. Die insgesamt 17 Interviews fanden von April bis Juni 2017 statt und umfassten Gespräche mit Experten aus Projekten des Forschungsprogramms Bioökonomie Baden-Württemberg sowie weiteren Facheinrichtungen und Unternehmen. Die Gesprächsführung basierte auf einem Leitfaden, der in Anlehnung an die von der STEEP-Methode differenzierten Sektoren zur Analyse des externen Umfelds von Unternehmen, Institutionen oder Systemen entwickelt wurde. STEEP steht für „Social, Technological, Economical, Environmental, Political“. Das Analyse-Tool ist im Marketing und strategischen Management verwurzelt und wird mittlerweile auch in einer Vielzahl weiterer Kontexte, wie der Nachhaltigkeitsforschung oder szenariobasierten Zukunftsanalyse, angewendet (IVTO o. J.; Lietzke 2014; Steinmüller 2014). Den fünf STEEP-Bereichen entsprechend adressierte der Gesprächsleitfaden in jedem Innovationsfeld die Perspektiven der befragten Experten zu den folgenden Governance-Bereichen: • Wissenschaft und Technik, • Politik und Recht, • Markt und Ökonomie, • Ökologie sowie • Gesellschaft. Dabei wurden Fragen nach den förderlichen und hinderlichen Rahmenbedingungen für die Entfaltung der Bioökonomie-Innovation jeweils durch die Diskussion darauf abgestimmter umsetzungsorientierter Maßnahmen ergänzt. Alle Interviews wurden mit Zustimmung der Gesprächspartner digital aufgezeichnet und wortwörtlich transkribiert. Für die Auswertung der Fallstudien wurden die qualitativen Interviewdaten mithilfe der Analysesoftware MAXQDA codiert und interpretiert. Dazu wurde anhand der Transkripte induktiv ein Code-Baum erarbeitet, der in einem weiteren Schritt zur Codierung und Auswertung der Interviews in MAXQDA diente.
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6.4 Governance bioökonomischer Innovationen: Bereiche, Themen, Maßnahmen In diesem Kapitel werden die Ergebnisse der qualitativen Analyse der Interviews zu den drei oben beschriebenen Innovationsfeldern dargestellt. Die Gliederung orientiert sich dabei an den oben erwähnten fünf Governance-Bereichen. Für diese werden jeweils zunächst die hierzu identifizierten G overnance-Themen herausgearbeitet und sodann in einer Tabelle Governance-Maßnahmen zusammengestellt, die zur Umsetzung der Bioökonomie-Innovationen beitragen können. Die Themenanalyse basiert vollständig auf der Auswertung der transkribierten Interviews, das heißt alle hier angeführten Aussagen repräsentieren Kenntnisse und Einschätzungen der befragten Experten. Dabei wird nicht jeder Inhalt durch den Verweis auf die zugehörige Gesprächsstelle belegt. Stattdessen werden zur Illustration der Argumente ausgewählte Expertenaussagen unter Angabe der laufenden Interviewnummer wortwörtlich zitiert. Bei den tabellarisch aufgelisteten Governance-Maßnahmen handelt es sich um Schlussfolgerungen, die von den Autoren dieses Beitrags aus der Themenanalyse abgeleitet wurden.
6.4.1 Bereich Wissenschaft und Technik: Bioökonomie realisierbar Ein wesentlicher Themenschwerpunkt im Governance-Bereich Wissenschaft und Technik ergibt sich aus dem Umstand, dass sich die im Forschungsprogramm Bioökonomie Baden-Württemberg untersuchten Innovationen in den beschriebenen Arbeitsgebieten noch weitgehend auf einer vormarktlichen Labor- und Versuchsstufe befinden, während Schritte in den Markt erst in Ansätzen erkennbar sind. Die Frage der Machbarkeit betrifft neue Anbau-, Ernte- und Verarbeitungstechniken von Miscanthus und im Kurzumtrieb angepflanzter Weiden und Pappeln. So erfordert die Ernte von letzteren spezielle Erntemaschinen, deren Produktion in größeren Maßstäben erst bei einer beträchtlichen Ausweitung des Anbauvolumens zu erwarten ist. Die Weiterverarbeitung von lignozellulosehaltigem Miscanthus und KUP-Holz ist ebenfalls auf neue Lösungen angewiesen, die technisch aufwendiger sind als Verfahren zur Aufspaltung von zucker- und stärkehaltigen Pflanzen. Für diese Anwendungen besteht noch beträchtlicher Entwicklungsbedarf. Dieser Befund gilt auch für die in lignozellulosehaltigen Pflanzen vorhandenen Zuckerarten, insofern geeignete Aufschlussverfahren
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benötigt werden, um Zucker wie Arabinose, Galactose, Mannose oder Xylose wirtschaftlich nutzbar zu machen. Der Entwicklungsstand der Methanisierung1 von Wasserstoff ist durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Einerseits ist die Technologie sowohl in der katalytischen als auch der biologischen Variante so weit ausgereift, dass funktionsfähige Lösungen verfügbar sind und auch von Anlagenbauern angeboten werden. Andererseits wird die Situation sowohl unter technischen Aspekten wie mit Blick auf die Marktreife als weiterhin entwicklungs- und erprobungsbedürftig beurteilt. Ein Ansatzpunkt ist dabei die Untersuchung verfahrenstechnischer Fragen zur Steuerung der Belastung der Mikroorganismen, die Bestimmung geeigneter Futterstoffe oder der Umgang mit der Toxizität von Wasserstoff im Biogasprozess. Ein weiterer Aspekt der technischen Machbarkeit betrifft die Erzeugung von Methan, das der Qualität eines Austauschgases entspricht, also einem Gas, dessen Methankonzentration weder zu hoch noch zu niedrig ausfällt und dessen Anteile an unerwünschten Spurengasen (z. B. Schwefelwasserstoff) die Grenzwerte nicht überschreiten. Neben Aspekten der Machbarkeit liegt ein weiteres starkes Augenmerk im Bereich Wissenschaft und Technik auf der Verbesserung der technisch- ökonomischen Effizienz. Mit Blick auf die Methanisierung lässt sich zwar einerseits feststellen, dass dieser Technologie konversionsbedingte Wirkungsgradverluste inhärent sind. Andererseits existiert die Überzeugung, dass durch Verbesserungen bei der Elektrolyse oder die verfahrenstechnische Integration von Elektrolyse und Methanisierung noch Effizienzspielräume zu gewinnen sind. Auch wird in einer optimierten Kombination von Reaktoren und Aufbereitungseinheiten ein Weg gesehen, die Methanisierung ökonomischer zu gestalten: „Die Frage ist: was ist günstiger? Sehr viel Hirnschmalz und auch Geld in einen ausgefuchsten Reaktor zu stecken? Oder mache ich den Reaktor lieber viel einfacher und habe dann eine dahinter geschaltete Aufbereitungseinheit, die mir die Methankonzentration anreichert, und das kombiniere ich dann zu einem Gesamtprozess, der in der Summe kostengünstiger ist?“ (Interview 12). Mit Blick auf Miscanthus und Kurzumtriebsplantagen sind ebenfalls Bemühungen zu registrieren, diese in größeren Maßstäben anzubauen. Aber auch hier steht die Frage nach einer Erhöhung der Effizienz von Anbau und Ernte als Vorrausetzung zur Etablierung umfangreicherer Marktstrukturen im Raum.
1Der Begriff „Methanisierung“ wird im Folgenden als Kurzform für das Innovationsfeld „Biologische Methanisierung für Power-to-Gas“ verwendet. Bezüge zur katalytischen Methanisierung, die von den befragten Experten ebenfalls angesprochen wurde, werden jeweils explizit benannt.
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Tab. 6.1 Themen und Maßnahmen „Bioökonomie realisierbar“ Governance-Themen
Governance-Maßnahmen
Machbarkeit
• Förderung von Pilotprojekten auf dem Weg von Labor- und Versuchsanordnungen zu industriellen Maßstäben • Durchführung von ökonomischen Machbarkeitsstudien zur Eruierung wirtschaftlich tragfähiger Lösungen
Effizienz
• Forschung und Entwicklung für Ressourcen-, Stoff- und Energieinnovationen mit optimierten Input-Output-Relationen, z. B. Verbesserung des Wirkungsgrades von PtG-Prozessketten
Innovationsallianzen
• Initiierung und Förderung von F&E-Verbünden von Industrie und Wissenschaft zur kooperativen Erzeugung bioökonomischer Innovationen
Quelle: Eigene Darstellung
Als zentral für Fortschritte auf dem Weg vom Versuchs- und Pilotstadium zu großflächigen beziehungsweise industriellen Anwendungen wird die Bildung von Innovationsallianzen thematisiert. Von den Befragten wird bemängelt, dass bisher zu wenig Netzwerke und Kooperationen zwischen Forschungseinrichtungen und privatwirtschaftlichen Unternehmen existieren. In solchen Innovationsallianzen wird das Potential gesehen, die Herstellung biobasierter Produkte gemeinsam mit Unternehmen voranzutreiben und einen grundlegenden Rahmen zu schaffen, „um mal etwas Größeres aufzubauen, wo man das Ganze dann wirklich mal final umsetzen könnte“ (Interview 4). So könnte die verstärkte Vernetzung und Zusammenarbeit gewährleisten, dass Verfahren oder Produkte abseits von Labormaßstäben getestet und die Ergebnisse auf größere Maßstäbe übertragen werden können. Mit Blick auf Miscanthus wird eine engere Kooperation mit Züchtern vorgeschlagen, um effizientere Anbaumethoden oder verbessertes Saatgut zu entwickeln. In Tab. 6.1 werden die aus dieser Themenanalyse abgeleiteten G overnanceMaßnahmen für den Bereich „Wissenschaft und Technik: Bioökonomie realisierbar“ zusammengestellt.
6.4.2 Bereich Politik und Recht: Bioökonomie regelbar Ein zentrales Thema im Governance-Bereich Politik und Recht ist die Neubewertung von bestehenden Gesetzen und Vorschriften. So ist das in Baden-Württemberg geltende Grünlandumbruchsverbot ein wesentlicher Diskussionsgegenstand der
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Regulierung bioökonomischer Innovationen. Das Verbot habe gute ökologische Gründe, um etwa die durch intensive landwirtschaftliche Nutzung hervorgerufene Erosion an Hängen zu verhindern. Zudem beherberge gerade extensives Grünland spezifische Tier und Pflanzenarten. Andererseits könnten sich „manche Landwirte – das habe ich in Gesprächen erfahren – durchaus vorstellen, Grünland in Miscanthusflächen umzuwandeln. Das geht jetzt aber nicht oder beziehungsweise das wäre rechtlich zu klären, ob man das zulassen will“ (Interview 10). Die EU-Agrarpolitik ist ein weiterer Bereich, der für eine Reevaluierung bestehender Vorschriften infrage kommt. Konkret beziehen sich die Befragten auf die Greening-Prämie, die Landwirte dann erhalten, wenn sie zusätzliche Umweltleistungen erbringen, zum Beispiel den Erhalt von Dauergrünlandflächen. In diesem Kontext wird von den befragten Experten bemängelt, dass KUP- und Miscanthus-Anpflanzungen nicht als Greening-Flächen zugelassen werden. Ein Problemschwerpunkt im Kontext der Methanisierung berührt die Frage nach der regulatorischen Einordnung von aus Biogas gewonnenem Methan. Der aktuelle rechtliche Rahmen wird dabei als grundsätzliches Hemmnis zur Einspeisung und Entnahme von Biomethan aus dem Erdgasnetz beschrieben: „Wenn ich Biogas auf Erdgasqualität bringe, dann möchte ich es ins Erdgas einspeisen. Und dann muss ich es irgendwann wieder entnehmen. Und da stellt sich schon die Frage, um welches Gas handelt es sich hierbei, ist das ein erneuerbares Gas, gibt es dort eine Einspeisevergütung?“ (Interview 13). Der daraus resultierende Klärungs- und Handlungsbedarf wird insbesondere auf zwei Themen fokussiert. Das erste Thema erwächst aus dem sektorübergreifenden Charakter der Power-to-Gas-Technologie, die je nach der spezifischen Verwendung von Biomethan Bezüge in die Bereiche Strom, Wärme oder Treibstoffe aufweist. Jeder dieser Sektoren ist mit eigenen energiewirtschaftlichen Regeln ausgestattet, sodass PtG-basierte Geschäftsmodelle in ein multiples Regulierungsumfeld einzupassen sind. Als zweites Problemfeld wird die Belastung des für die Elektrolyse eingesetzten erneuerbaren Stroms durch die Letztverbrauchsabgabe des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) angeführt, die dazu beitrage, dass die Gestehungskosten von Biomethan auf den Massenmärkten für Wärme oder Kraftstoffe nicht konkurrenzfähig seien. Die Schaffung von Grundlagen für die Planung von Rohstoffpotentialen und Entwicklungspfaden ist ein weiteres zentrales Governance-Thema im Bereich Politik und Recht. Dies betrifft die Untersuchung, wie für eine Bioökonomie in Deutschland das Verhältnis von einheimischen zu auf ausländischen Märkten bezogenen nachwachsenden Rohstoffen gestaltet werden kann. Dabei wird von
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Tab. 6.2 Themen und Maßnahmen Bioökonomie „regelbar“ Governance-Themen
Governance-Maßnahmen
Regulierung
• Überprüfung, Anpassung, Neugestaltung gesetzlicher Rahmenbedingungen, z. B. Reevaluierung des Grünlandumbruchverbots hinsichtlich Miscanthus-Anbau oder Neubewertung der energiewirtschaftlichen Regulierung von Power-to-Gas
Planung
• Erarbeitung von Zukunftsszenarien zur Identifikation potentieller Entwicklungskorridore der Methanisierung im Energiewendekontext • Durchführung neuer und Bündelung vorhandener Flächenanalysen zur Ermittlung des Anbaupotentials neuer landwirtschaftlicher Produktionssysteme
Steuerung
• Schaffung von Anreizsystemen zur Stärkung von Angebot und Nachfrage bioökonomischer Produkte, z. B. Quoten, Kaufprämien oder Steuererleichterungen • Einführung eines Labels „aus bioökonomischer Herstellung“ zur Erhöhung der Sichtbarkeit biobasierter Produkte für Verbraucher
Quelle: Eigene Darstellung
den befragten Experten darauf hingewiesen, dass sich Deutschland durch die Nutzung einheimischer Ressourcen von anderen Ländern unabhängiger machen kann. Dies hätte vor allem autarkiepolitische Vorteile, da die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse vieler Länder, aus denen Deutschland Erdöl und Erdgas bezieht, sehr kritisch zu beurteilen seien. Die Gewinnung von Erkenntnissen zu potentiellen Entwicklungspfaden der Methanisierung im Kontext von Zukunftsszenarien für Energiemärkte im Strom- oder Wärmesektor ist eine weitere relevante Planungsaufgabe. In diesem Zusammenhang wäre auch in den Blick zu nehmen, welche Rolle die Erzeugung von Biomethan für den (Weiter-)Betrieb von Biogasanlagen spielen kann, die das Ende ihrer EEG-Förderperiode erreichen. Schließlich beziehen die Experten Fragen der Steuerung in ihre Argumentation mit ein. Dabei wird insbesondere davon ausgegangen, dass Instrumente wie Quoten, Kaufprämien oder Steuererleichterungen einen wesentlichen Beitrag zur Marktetablierung bioökonomischer Produkte zu leisten imstande sind. In Tab. 6.2 werden die aus dieser Themenanalyse abgeleiteten G overnanceMaßnahmen für den Bereich „Politik und Recht: Bioökonomie regelbar“ zusammengestellt.
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6.4.3 Bereich Markt und Ökonomie: Bioökonomie verwertbar Angesichts der weitgehend auf einer vormarktlichen Stufe befindlichen Entwicklung der hier betrachteten bioökonomischen Innovationen liegt im Thema Marktzugang eine der zentralen Herausforderungen im Governance-Bereich Markt und Ökonomie. So bewegen sich Landwirte mit der Erzeugung von Nahrungspflanzen auf einem etablierten Markt, bei dem die Absatzpotentiale klar kalkulierbar sind. Dagegen besteht bei Miscanthus und KUPs das Risiko der Erzeugung „versunkener Kosten“, da zum Beispiel Kurzumtriebs-Hölzer nur alle drei bis fünf Jahre geerntet werden und sich in dieser Zeit Absatzmärkte verändern können: „Der eine sagt: ‚Ich produziere nicht, weil ich nicht sicher bin, einen Abnehmer zu finden‘. Und der Abnehmer sagt: ‚Ich stelle so eine Anlage nicht hin, weil ich noch nicht weiß, wie der Markt für Biomasse aussieht‘“ (Interview 11). Von den Experten wird als erste Priorität die Erschließung von Nischenmärkten für neue biobasierte Produkte mit neuen Eigenschaften genannt. Diese wären parallel zu den etablierten Märkten für herkömmliche Produkte zu konzipieren und sollten sich durch das Angebot höherwertigerer Produkte aus lignozellulosebasierten Rohstoffen differenzieren. Denn wenn diese „nur ein Ersatz sind für bisherige Produkte, werden die keine Chance am Markt haben. Die müssen auch besser sein und am Anfang eine Spezialnische einnehmen, wo das Verkaufsargument eben nicht die Biobasiertheit ist, sondern tatsächlich die bessere Performance“ (Interview 2). Die hierfür notwendige Kreativität, Flexibilität und Risikobereitschaft wird insbesondere von Start-up-Unternehmen erwartet. Auch die Vermarktung von durch Methanisierung erzeugtem Biomethan steckt noch in den Kinderschuhen und ist durch eine überschaubare Anzahl von Produkten weniger Anbieter gekennzeichnet. Hierzu zählt zum Beispiel das vom Automobilhersteller Audi in Werlte katalytisch hergestellte Biomethan, das in das Erdgasnetz eingespeist und als Kraftstoff („Audi e-gas“) vertrieben wird. Auch wenn der deutsche Markt sich erst noch entwickeln muss, richten die Experten bereits den Blick auf ausländische Absatzgebiete. So werde etwa in Schweden Biogas grundsätzlich auf Erdgasqualität gebracht und als Kraftstoff eingesetzt. Deshalb wäre die Methanisierung für diesen Markt „hervorragend geeignet, denn dort könnten wir die Aufbereitungskosten des Biogases auf Erdgasqualität deutlich senken“ (Interview 13). Eine wesentliche Rolle für den Marktzugang bioökonomischer Rohstoffe und Produkte spielt das Marktumfeld. Ein wichtiger Umfeldfaktor ist die Entwicklung
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der Rohölpreise. Deren im Untersuchungszeitraum niedriges Niveau wird als starkes Hemmnis für Investitionen in Anbau und Verarbeitung nachwachsender Rohstoffe angesehen. Bei der Methanisierung wird als zentrale Hürde für die Marktentwicklung die rechtliche Behandlung von Power-to-Gas-Anlagen als Letztverbraucher von Strom bewertet, auf die eine ganze Reihe von Hemmnissen zurückgeführt werden. Hierzu zählen die Unwirtschaftlichkeit des Betriebs, kein Zubau neuer oder größerer Anlagen, keine Lerneffekte bei Anlagenbauern, Mangel an Betriebserfahrung, nicht konkurrenzfähige Gasgestehungskosten und keine Anreize für Investoren. Im Vergleich zu einer Beschränkung der Power-to-Gas-Wertschöpfung auf die Elektrolyse wird mit der zusätzlichen Stufe der Methanisierung von Wasserstoff der Vorteil verbunden, dass daraus hergestellte Biomethan in praktisch unbegrenzter Menge in das Erdgasnetz einspeisen zu können. Daraus ergeben sich Vorteile auf der Ebene von Standortwahl und Netzanbindung, da Biomethan im Vergleich zu Wasserstoff eine deutlich weitflächigere Koppelung an die Gasinfrastruktur ermöglicht. So kann die Erweiterung von Biogasanlagen durch eine Methanisierungsstufe zu neuen Nutzungs- und Wertschöpfungsoptionen führen, was allerdings die Bereitschaft zu Investitionen voraussetzt. Um auf Märkten und dem sie prägenden Umfeld erfolgreich agieren zu können, sind Geschäftsmodelle erforderlich, die Ziele und Maßnahmen der Markttätigkeit definieren. Ein attraktives Geschäftsmodell für Miscanthus und KUPs könnte der Anbau dieser nachwachsenden Rohstoffe im Nebenerwerb sein, da eine Bewirtschaftung mit geringem Aufwand verbunden ist. Miscanthus, Weiden und Pappeln sind im Vergleich zu Nahrungspflanzen relativ anspruchslos, was Boden- und Umweltbedingungen anbelangt, und können auch auf marginalen Flächen angepflanzt werden, die sich für Nahrungspflanzen nicht eignen. Zudem kann die Ernte durch Lohnunternehmer erfolgen, um den Aufwand weiter zu verringern. Herausforderungen könnten durch die räumlich eher geringe Verfügbarkeit von Lohnunternehmern entstehen. Hierbei kommt es auch darauf an, zu welchem Preis eine Ernte verkauft werden kann. Für die Methanisierung wird allgemein die Herausforderung darin gesehen, Geschäftsmodelle zu entwickeln, die auch ohne preisgünstigen, aber nur temporär verfügbaren Überschussstrom aus besonders ertragreichen Phasen der Erzeugung von Wind- und PV-Strom profitabel sind, denn „wenn ich diese technische Einrichtung – überspitzt formuliert – nur für wenige Stunden im Jahr nutze, wird sie definitiv unwirtschaftlich sein“ (Interview 17). In Tab. 6.3 werden die aus dieser Themenanalyse abgeleiteten G overnanceMaßnahmen für den Bereich „Markt und Ökonomie: Bioökonomie verwertbar“ zusammengestellt.
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Tab. 6.3 Themen und Maßnahmen Bioökonomie „verwertbar“ Governance-Themen
Governance-Maßnahmen
Marktzugang
• Unterstützung landwirtschaftlicher Betriebe oder Start-upUnternehmen bei der in- und ausländischen Vermarktung bioökonomischer Produkte
Marktumfeld
• Anfertigung von Bestandsaufnahmen und Analysen von Rahmenbedingungen, z. B. hinsichtlich Standortbedingungen oder ökonomischer Implikationen regulierungspolitischer Vorgaben
Geschäftsmodelle
• Förderung der Entwicklung von Erlös- und Ertragskonzepten, z. B. mit Blick auf Anbau und Absatz von Miscanthus oder von Überschussstrom unabhängigen PtG-Verwertungspfaden
Quelle: Eigene Darstellung
6.4.4 Bereich Ökologie: Bioökonomie verantwortbar Das Meinungsbild im Governance-Bereich Ökologie ist dadurch gekennzeichnet, dass die Interviewpartner über alle Fallstudien hinweg davon ausgehen, dass nach heutigem Wissensstand von keiner der hier betrachteten bioökonomischen Innovationen spezifische Umwelt- und Klimarisiken ausgehen. Vielmehr wird mit Blick auf die Umweltwirkungen des Anbaus von Miscanthus und KUPs auf eine Vielzahl positiver Aspekte für die Biodiversität, die Zusammensetzung des Mikrobioms, die Wasserqualität oder den Schutz vor Winderosion hingewiesen: „Wir haben so etwas wie Bodenruhe, positive Humusbilanz. Wir haben, was die Ressource Wasser betrifft, eine signifikant bessere Schonung des Grundwassers, weil wir keine Düngemittel einsetzen und keine Herbizide. Das heißt, ökologisch gesehen sind Miscanthus und KUPs signifikant besser als alles, was im Ackerbau existent ist mit Monokulturen“ (Interview 8). Einschränkend merken die Experten jedoch an, dass die Umweltfolgen eines ausgedehnten Anbaus von Miscanthus und KUPs noch nicht hinreichend bekannt sind. Monokulturen könnten sich nachteilig auf die Zusammensetzung des Boden-Mikrobioms auswirken. Problematische Folgen könnten auch aus dem wiederkehrenden Zyklus von Neuwachsen und Abernten der KUP-Hölzer entstehen. Das Thema Klimaschutz wird insbesondere von den Experten zur biologischen Methanisierung für Power-to-Gas angesprochen. Dabei werden die damit verbundenen positiven Effekte auf CO2-Emissionen betont. So wird der Umstand hervorgehoben, dass das bei der Biogasproduktion entstehende, bislang nicht nutzbare CO2 durch die Methanisierung zu einer stofflichen Ressource zur
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Methangewinnung wird. Gehe man von einem CO2-Anteil im Biogas von 50 % aus, führe die Methanisierung zu einer doppelt so effizienten energetischen Nutzung der eingesetzten Biomasse wie im herkömmlichen Biogasprozess. Auch die Klimabilanz der Methanisierung wird grundsätzlich unkritisch gesehen, vorausgesetzt die dafür eingesetzten Inputfaktoren Biomasse, Strom und CO2 stammen aus nachhaltigen Quellen: „Angenommen sie haben eine Biogasanlage die mit nachwachsenden Rohstoffen oder auch mit Abfällen betrieben wird – dann ist das CO2 klimaneutral. Wenn sie dann erneuerbaren Strom einsetzen, ist der Strom auch klimaneutral. Das heißt, das produzierte Methan ist klimaneutral“ (Interview 15). Dabei gilt den Interviewten als sicher, dass Anlagen und Infrastruktur zur Herstellung und Speicherung von Methan hochverlässlich verhindern, dass dieses Gas in die Atmosphäre diffundiert. Auch der prozessbedingte Energiebedarf wird unter Klimagesichtspunkten nicht problematisiert, „da es nur ein sehr, sehr geringer Energieanteil ist, den man für den Prozess selbst benötigt“ (Interview 13). Auch hinsichtlich der Emissionen von Schadstoffen durch die biologische (sowie auch die katalytische) Methanisierung betonen die Interviewten nachdrücklich, dass diese Verfahren nicht mit besonderen Risiken verbunden sind. Im Rahmen des hier verwendeten Argumentationsmusters wird zwar zunächst eingeräumt, dass verschiedene Abfallströme verursacht werden, zum Beispiel Abwässer, zur Wärmeabfuhr genutzte Öle oder verbrauchte, nickelhaltige Katalysatoren. Einerseits seien damit aber keine „wirklich gefährlichen, ökologisch bedenklichen Emissionen“ (Interview 16) verbunden. Andererseits wird auf die permanente Suche nach technischen Vorkehrungen und Innovationen hingewiesen, um Umweltrisiken einzudämmen oder gar nicht erst entstehen zu lassen. „Wir haben jetzt ein Öl gefunden, das ist überhaupt nicht wassergefährdend, überhaupt nicht gesundheitsgefährdend. Das ist dann ein bisschen teurer, aber das hat keinerlei ökologische Nachteile“ (Interview 15). Dieses Muster der Einordnung von Umweltrisiken der biologischen (wie katalytischen) Methanisierung als nur schwach ausgeprägt und gegebenenfalls beherrschbar findet sich analog bei den Ausführungen der Befragten zu Lärm- und Geruchsemissionen, der Belastung durch Transportverkehr und des verfahrensbedingten Gefährdungspotentials. Für keinen dieser Bereiche wird ein negativer Einfluss auf Umgebung und Anwohner erwartet, denn „aus dem Verfahren selbst entsteht keine nennenswerte zusätzliche Belastung durch Geruchsemission oder durch Lärmemission. Und Transporte sind eigentlich nur in einem minimalen Umfang notwendig“ (Interview 14). Im Kontext ökologischer Implikationen werden von den Befragten allerdings die mit PtG-Verfahren einhergehenden Wirkungsgradverluste angesprochen. Wie bei allen Umwandlungsverfahren seien diese zwar letztlich unvermeidlich, könnten aber
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Tab. 6.4 Themen und Maßnahmen Bioökonomie „verantwortbar“ Governance-Themen
Governance-Maßnahmen
Umweltwirkungen
•U ntersuchung und Bewertung der ökologischen Folgen bioökonomischer Ressourcen- und Produktinnovationen insb. hinsichtlich wachsender Marktvolumina
Klimaschutz
•B ilanzierung der Treibhausgaseffekte z. B. der Methanisierung oder der Anpflanzung von KUP-Hölzern und Miscanthus
Emissionen
•D urchführung von Risikoanalysen zu Schadstoffen, Lärm, Geruch und Verkehr aus Anbau nachwachsender Rohstoffe und Herstellung biobasierter Produkte
Quelle: Eigene Darstellung
durch inkrementelle technische Verbesserungen oder die zusätzliche Verwertung der Abwärme des Elektrolyse- und Methanisierungsprozesses zumindest begrenzt und gemildert werden. In Tab. 6.4 werden die aus dieser Themenanalyse abgeleiteten G overnanceMaßnahmen für den Bereich „Ökologie: Bioökonomie verantwortbar“ zusammengestellt.
6.4.5 Bereich Gesellschaft: Bioökonomie akzeptierbar Ein Ankerpunkt im Kontext der Reflexion gesellschaftlicher Implikationen der untersuchten bioökonomischen Innovationen sind die damit verbundenen Wertschöpfungspotentiale für den ländlichen Raum. Der Anbau nachwachsender Rohstoffe wie Miscanthus und KUPs, die Entwicklung und Produktion biobasierter Produkte sowie die Möglichkeit, vorhandene Biogasanlagen im ländlichen Raum durch eine Methanisierungsstufe zu erweitern, eröffne für strukturschwache Standorte die Möglichkeit, Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen und damit Impulse für eine zukunftsfähige soziale und wirtschaftliche Entwicklung auf lokaler und regionaler Ebene zu generieren. Die Experten sehen hier nicht zuletzt neue Chancen für sich auf innovative Produkte spezialisierende kleine und mittelständische Betriebe, „die momentan eher Produkte herstellen, die nicht so eine hohe Wertigkeit haben“ (Interview 5). Die Experten sprechen allerdings ebenso eine Reihe von Problemstellungen an, die die gesellschaftliche Akzeptanz nachwachsender Rohstoffe und bioökonomischer Produkte berühren. Zunächst ist hier die Tank vs. Teller-Kontroverse
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zu nennen. Darauf bezogen sind die Befragten einerseits der Ansicht, dass Miscanthus und KUPs von dieser Diskussion nicht betroffen sind, da lignozellulosebasierte Pflanzen auf marginalen Standorten angebaut werden können und somit in keiner direkten Konkurrenz zu Nahrungspflanzen stehen. Andererseits wird die Position vertreten, dass diese Debatte notwendig ist und nicht ignoriert werden sollte, denn „diese grundlegende Konkurrenz bleibt, die kriegt man nicht einfach weg. Wir können die Flächen nicht vermehren, diese Möglichkeit haben wir nicht. Und man sollte dann einen Konflikt, der objektiv besteht, auch im Sinne einer fairen, offenen Argumentation nicht versuchen zu kaschieren“ (Interview 10). Auch der hohe Wuchs von Miscanthus, Weiden und Pappeln könnte zu Debatten führen, wenn dadurch Sichtbehinderungen entstehen und diese als negative Veränderung des Landschaftsbildes wahrgenommen werden. Hinsichtlich der gesellschaftlichen Akzeptanz der Methanisierung sind die Befragten der Ansicht, dass diese Technologie eigentlich keine Angriffsfläche für eine kritische Haltung der Öffentlichkeit bieten sollte, insofern damit keine bedenklichen Umweltrisiken oder Flächenbedarfe verbunden seien. Dennoch sind sich die Experten einer positiven Bewertung durch die Bürger nicht sicher, weil es in Deutschland üblich geworden sei, Protestaktionen gegen neue Technologien zu organisieren. Kritische Stimmen könnten auch aus Perspektive der Energiewende laut werden und die Forderung erheben, erneuerbaren Strom nicht dafür zu nutzen, um Gas für Heizenergie oder Autoantriebe zu erzeugen. Das zentrale Einfallstor für eine ablehnende Technikwahrnehmung wird allerdings nicht in der Methanisierung, sondern der Wasserstoffthematik gesehen. Hier gilt speziell die Wasserstofferzeugung beziehungsweise die Elektrolysestufe von Power-to-Gas-Anlagen als Akzeptanzhindernis, denn viele Menschen hätten eine Grundangst vor Wasserstoff und hielten diesen für gefährlich, zum Beispiel aufgrund von Explosionsgefahren. Unter den Experten bestand Konsens, dass dem Thema Kommunikation eine Schlüsselrolle für die gesellschaftliche Bewertung einer Bioökonomie zukommt. Dies betrifft eine breite Information darüber, welche Prinzipien von einer Bioökonomie verfolgt werden, welche Bereiche und Fragestellungen davon betroffen sind und „was mit dieser ganzen Fragestellung der nachwachsenden Rohstoffe und einer darauf aufbauenden Gesellschaft wirklich gemeint ist“ (Interview 4). Ebenso wie das allgemeine Wissen der Bevölkerung sei auch das Bewusstsein der Endverbraucher, welche Alternativen es zu erdölbasierten Produkten gibt, noch deutlich verbesserungswürdig. Hinsichtlich der Methanisierung wird davor gewarnt, die gleichen Fehler wie beim Biogas zu begehen und zuzulassen, diesen
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Tab. 6.5 Themen und Maßnahmen Bioökonomie „akzeptierbar“ Governance-Themen
Governance-Maßnahmen
Ländlicher Raum
• Gesamtbetrachtung der mit bioökonomischen Innovationen verbundenen strukturellen, wirtschaftlichen, ökologischen oder demografischen Chancen und Risiken für ländliche Kommunen und Regionen • Handlungsempfehlungen und Beratungskonzepte für kommunale und regionale Akteure, z. B. bei Entscheidungen für großflächigen Miscanthus-Anbau
Akzeptanz
• Beteiligungskonzepte für Stakeholder, Bürger und Anwohner bei bioökonomischen Planungs- und Entscheidungsprozessen
Kommunikation
• Information der Öffentlichkeit zu Konzepten, Ressourcen, Produkten und Konfliktpotentialen bioökonomischer Innovationen
Quelle: Eigene Darstellung
Pfad als Irrweg von Vermaisung der Landschaft, Nahrungsmittelkonkurrenz und Diversitätsverlusten zu brandmarken. In Tab. 6.5 werden die aus dieser Themenanalyse abgeleiteten GovernanceMaßnahmen für den Bereich „Gesellschaft: Bioökonomie akzeptierbar“ zusammengestellt.
6.5 Rahmensetzung für eine „Good Governance Bioökonomie“ In dieser Studie wurden bioökonomische Innovationsfelder in den Schwerpunkten Ressourcen sowie stoffliche und energetische Nutzung mit Blick auf Governance-Aspekte untersucht. Im Zuge der auf Basis der Expertengespräche durchgeführten Bestandsaufnahmen in den einzelnen Governance-Bereichen wurden Governance-Themen herausgearbeitet, in denen sich fördernde und hemmende Strukturen verdichten und die Ansatzpunkte für die Formulierung von Governance-Maßnahmen bieten. Wie lassen sich diese zu einer Rahmensetzung für eine „Good Governance Bioökonomie“ zusammenführen? Die Bioökonomie ist kein neuer Wirtschaftszweig, sondern das „Zeugnis des Umdenkprozesses, der in vielen Industrien und wirtschaftlichen Sektoren bereits in vollem Gange ist“ (BÖ-Rat o. J.) und der politisch als Nachhaltig keitsinnovation angesehen und gefördert wird. In dieser Perspektive soll die
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Bioökonomie „neue, nachhaltig erzeugte Produkte und Dienstleistungen unter Einsatz von biologischen Ressourcen und Wissen hervorbringen und damit Wirtschaftswachstum mit ökologischer Verträglichkeit vereinen“ (Zinke et al. 2016, S. 3; vgl. auch BMEL 2014; Global Bioeconomy Summit 2015). Die Herausforderung einer nachhaltigen Bioökonomie besteht mithin darin, im Transformationsprozess von der erdölbasierten zur post-fossilen Gesellschaft wirtschaftliche Entwicklung und die Bewahrung der ökologischen Lebensgrundlagen in Einklang zu bringen. Aus Governance-Sicht ist damit die Anforderung verbunden, diesen Pfadwechsel voranzutreiben und zugleich darauf zu achten, dass er dem zentralen Stellenwert der Nachhaltigkeit gemäß umgesetzt wird. Für Gawel et al. (2016) ist vor diesem Hintergrund ein „wirksamer GovernanceRahmen, der den Pfadübergang angemessen steuert und die Nachhaltigkeit von Produktions- und Konsumprozessen befördert, aus ökonomischen und ökologischen Gründen zwingend notwendig“ (Gawel et al. 2016, S. 3 f.). Die Autoren unterscheiden dabei eine Ermöglichungs- und Beschränkungsfunktion: „Die ‚Ermöglichungsfunktion‘ muss einen effizienten Pfadübergang weg von einer auf fossilen Rohstoffen basierenden Durchflusswirtschaft unterstützen, während die ‚Beschränkungsfunktion‘ sicherstellen muss, dass dieser Übergang tatsächlich zu einer größeren Nachhaltigkeit der wirtschaftlichen Aktivitäten führt“ (Gawel et al. 2016, S. 8). Dies bedeutet mit Blick auf die in dieser Studie identifizierten GovernanceThemen, dass diese in einen Governance-Rahmen einzuordnen sind, der bioökonomische Innovationen von Ressourcen sowie stofflichen und energetischen Produkten und Prozessen fördert und dabei zugleich deren Sozial- und Umweltverträglichkeit sicherstellt. An dieser doppelten Zielsetzung haben sich zunächst die Governance-Maßnahmen im Kontext der einzelnen Governance-Themen auszurichten. So könnte zum Beispiel im Themenbereich „Marktumfeld“ eine Bestandsaufnahme potentieller Flächen für Miscanthus und KUP-Hölzer durchgeführt werden, die sowohl ökonomische Indikatoren wie mögliches Anbauvolumen, notwendige Investitionsbedarfe oder erzielbare Erlöse einbezieht als auch Faktoren wie Landschaftsbild oder Nutzungskonkurrenzen in den Blick nimmt. Oder im Themenfeld „Kommunikation“ wäre eine ausgewogene Informationspolitik umzusetzen, die die Vorteile eines Pfadübergangs zur Bioökonomie mit einer aktiven Adressierung daraus resultierender Konfliktpotentiale verknüpft. Haben so prinzipiell alle Governance-Themen Ermöglichungs- und Beschränkungsfunktionen zu erfüllen, kann andererseits zwischen Themen unterschieden werden, die hauptsächlich entweder auf die Erschließung innovativer Wertschöpfungspotentiale oder darauf ausgerichtet sind, die Rohstoffbasis der Bioökonomie ebenso wie biobasierte stoffliche und energetische Produkte
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Abb. 6.1 Ermöglichungs- und Beschränkungsfunktion einer „Good Governance Bioökonomie“. (Quelle: Eigene Darstellung)
wirtschaftlich, sozial und ökologisch nachhaltig zu entwickeln. In Abb. 6.1 werden die jeweils dominierenden Funktionen der einzelnen Governance-Themen durch Pfeile verdeutlicht. Maßnahmen, die schwerpunktmäßig dem Strukturwandel zu einer Bioökonomie dienen, finden vor allem in den Bereichen Wissenschaft und Technik, Politik und Recht sowie Markt und Ökonomie statt. Bei den Themen Machbarkeit und Innovationsallianzen geht es zuvorderst darum, die für eine Bioökonomie erforderlichen Ressourcen- und technischen Grundlagen zu erforschen und damit die Voraussetzungen für die Entwicklung von Prozessen und Produkten zu schaffen. Im Kontext der Themen Planung und Steuerung sowie Marktzugang, Marktumfeld und Geschäftsmodelle werden Bestandsaufnahmen und Zukunftsanalysen durchgeführt, angebots- und nachfrageseitige Anreizsysteme und Vermarktungsstrategien entwickelt und in unternehmerischen Konzepten für Produktion und Verkauf bioökonomischer Produkte konkretisiert. Informationsund Kommunikationsaktivitäten tragen dazu bei, die Idee der Bioökonomie in der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Der Fokus der Governance-Themen Effizienz, Umweltwirkungen, Klimaschutz und Emissionen liegt darauf, die Nachhaltigkeit des bioökonomischen Transformations- und Innovationsgeschehens sicherzustellen. Dies betrifft Wirtschaftlichkeit und Wirkungsgrad von Ressourcenverbrauch und Neuentwicklungen sowie
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Analysen und Maßnahmen zur Vermeidung oder Minderung nachteiliger ökologischer und sozialer Folgen bioökonomischer Wertschöpfungsketten. Schließlich erscheint eine eindeutige Zuordnung zur Governance-Funktion „Ermöglichung“ oder „Beschränkung“ bei den Themen Regulierung sowie ländlicher Raum und Akzeptanz nicht sinnvoll. So stehen Regulierungsentscheidungen etwa im Falle neuartiger nachwachsender Rohstoffe oder der Biogas-Methanisierung immer vor der Herausforderung, Machbarkeitspotentiale mit Erkenntnissen zu Umweltfolgen oder den Interessen lokaler Akteure sowie dem bestehenden System von Gesetzen und Vorschriften abzustimmen. Auch bei der Förderung der ländlichen Entwicklung durch bioökonomische Innovationen geht es darum, die Aufwertung ländlicher Räume durch neue Beschäftigung, Bevölkerungszuwachs oder Infrastrukturinvestitionen im Kontext von möglichen Flächenverlusten oder negativ empfundenen Veränderungen des Lebensumfeldes zu bewerten und umzusetzen. Maßnahmen zur Stakeholder- und Bürgerbeteiligung bieten dabei den Rahmen für einen ergebnisoffenen gesellschaftlichen Dialog, im Zuge dessen akzeptable Gestaltungsoptionen für die Transformation zur Bioökonomie herausgearbeitet werden können.
6.6 Fazit und Ausblick Sowohl auf Ressourcenebene als auch im Bereich der stofflichen und energetischen Nutzung implizieren bioökonomische Innovationen komplexe Governance-Herausforderungen. Dieser Beitrag hat gezeigt, dass die Entwicklung neuartiger nachwachsender Rohstoffe und biobasierter Produkte mit einem ausgedehnten Spektrum sozio-technischer Governance-Herausforderungen einhergeht, bei denen technische, ökonomische und politische sowie ökologische und soziale Aspekte zusammenfließen. Eine Governance für BioökonomieInnovationen fokussiert nicht nur auf deren Realisier- und Verwertbarkeit, sondern implementiert ebenso Maßnahmen mit Blick auf Regulierung, Verantwortlichkeit und Akzeptanz. Ein Governance-Rahmen, der diesem Anspruch gerecht werden will, verknüpft die Aufgabe, Bioökonomie-Innovationen zu ermöglichen mit der Aufgabe, diese mit Leitplanken der Nachhaltigkeit und gesellschaftlichen Verträglichkeit zu versehen. Hier dominieren komplexe sozio-technische Herausforderungen, sodass Bioöko nomie-Innovationen konstitutiv auf eine breite Akteursbeteiligung angewiesen sind, um erfolgreich umgesetzt zu werden. Gerade die kontinuierliche Einbindung von Stakeholdern und Betroffenen ist zentral, um zu verhindern, dass der Richtungswechsel zur Bioökonomie in die Sackgasse
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einer weiteren Technikutopie führt, die Nachhaltigkeitspotentiale nicht ausschöpft und von mangelnder gesellschaftlicher Zustimmung geprägt ist. Auf der Grundlage unserer Forschungsergebnisse sind dabei die folgenden drei Themen einer partizipativen Good Governance zentral für die zukünftige bioökonomische Entwicklung. Erstens kommt der Ressourcenfrage eine entscheidende Bedeutung dafür zu, ob eine Bioökonomie die traditionelle Kohlenstoffwirtschaft zu einem maßgeblichen Grad ersetzen oder gar gänzlich an ihre Stelle treten kann. Aus diesem Grund ist ein gesellschaftlicher Konsens über den Umfang des Potentials an nachwachsenden Rohstoffen anzustreben, der für eine Bioökonomie zur Verfügung gestellt werden kann. Dies betrifft Faktoren wie nutzbare Fläche, Pflanzensorten, Anbaumethoden, Ernteanteile oder Importquoten, für die eine gemeinsame Datengrundlage und darauf basierende Zielkorridore, zum Beispiel zur Bewirtschaftung von Ackerland für Biomasse, zu vereinbaren sind. Zweitens sollten die Konfliktpotentiale, die unmittelbar mit dem Umstieg von fossil-endlichen auf biologisch-nachwachsende Rohstoffe verbunden sind, in partizipativen Diskursen thematisiert werden. Im Zentrum stehen hier die Nutzungskonkurrenzen zwischen Flächen und Ressourcen im Spannungsfeld der Produktion von Nahrungsmitteln vs. nachwachsende Rohstoffe, der Beitrag der Bioökonomie zur Energiewende (stoffliche vs. energetische Verwertung) oder die Ausbalancierung des Rohstoffbedarfs der Industrieländer mit einem nachhaltigen Wachstum in den Exportländern. Drittens sollten mit Blick auf eine allgemeine Wissensbasis einer partizipativen Governance von Bioökonomie-Innovationen kontinuierlich Studien zur Technikfolgenabschätzung und Nachhaltigkeitsbewertung durchgeführt werden. Neben der Betrachtung spezifischer F&E-Projekte, wie den in diesem Beitrag untersuchten Rohstoff-, Produkt- und Verfahrensinnovationen, wären hier auch Fragen von übergeordneter gesellschaftlicher Relevanz, wie etwa Anwendung oder Vermeidung der Gentechnik (vgl. Aktionsforum BÖ 2019; BÖ-Rat 2019) im Pfadwechsel zur Bioökonomie, für den Governance-Diskurs aufzubereiten.
Dank Die Autoren danken dem Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst Baden-Württemberg für die Förderung des diesem Aufsatz zugrunde liegenden Forschungsvorhabens (FKZ 7533-10-5-147) sowie der Landesgeschäftsstelle Bioökonomie Baden-Württemberg für die Organisation des projektübergreifenden
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Austauschs im Forschungsprogramm Bioökonomie Baden-Württemberg. Tim Sippel war maßgeblich an der Interviewauswertung beteiligt, Regina Schröter hat an der Untersuchungs- und Analysekonzeption des Forschungsvorhabens mitgewirkt und einen Großteil der Expertengespräche durchgeführt. Hierfür gebührt beiden unser herzlicher Dank. Last not least danken wir unseren Gesprächspartnern für ihre großzügige Bereitschaft, uns ihre Fachexpertise zu vermitteln und damit ganz wesentlich zur empirischen Fundierung unserer Forschungsarbeit beizutragen.
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von Braun, J., & Birner, R. (2017). Designing Global Governance for Agricultural Development and Food and Nutrition Security. Review of Development Economics 21, 265–284. WD (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages) (2016). Sachstand Bioökonomie. WD 5 – 3000 – 013/16. Berlin. Weltenergierat Deutschland (2018). Energie für Deutschland. Fakten, Perspektiven und Positionen im globalen Kontext. Berlin. Zinke, H., El-Chichakli, B., Dieckhoff, P., Wydra, S., & Hüsing, B. (2016). Bioökonomie für die Industrienation. Ausgangslage für biobasierte Innovationen in Deutschland verbessern. Berlin: Bioökonomierat.
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Übergang zu einer forstbasierten Bioökonomie? Ein Vergleich von Deutschland und Finnland Alexandru Giurca und Daniela Kleinschmit
Zusammenfassung
Der Forst- und Holzsektor ist ein wichtiger Baustein der Bioökonomie. Die nordeuropäischen Länder sehen die Ressource Wald und die starke Forstindustrie als wesentlichen Faktor für die Entwicklung einer wettbewerbsfähigen, bio-basierten Ökonomie und haben den Begriff „forstbasierte Bioökonomie“ geprägt. Ob eine forstbasierte Bioökonomie in anderen Teilen Europas, in denen der Forstsektor politisch und wirtschaftlich eine geringere Rolle spielt, ebenfalls möglich ist, bleibt jedoch unklar. Zwar ist die Forst- und Holzwirtschaft in Deutschland ein wichtiger Wirtschaftszweig, im Vordergrund der Diskussion steht jedoch eine technologie-fokussierte „lignozellulosebasierte Bioökonomie“, die insbesondere auf chemische und biotechnologische Prozesse abzielt. Anhand eines akteurszentrierten Vergleichs der Bioökonomie in Deutschland und Finnland fokussiert dieser Beitrag auf die politische Dimension der forstbasierten Bioökonomie. Konkret fragen wir dabei nach den Akteuren, die an einer forstbasierten Bioökonomie beteiligt sind und nach ihren Überzeugungen und Visionen hinsichtlich der Bioökonomie. Der Vergleich der beiden Länder ermöglicht uns auf Lücken in
A. Giurca (*) · D. Kleinschmit Professur für Forst- und Umweltpolitik, Uiversität Freiburg, Freibug im Breisgau, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Kleinschmit E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Konrad et al. (Hrsg.), Bioökonomie nachhaltig gestalten, Technikzukünfte, Wissenschaft und Gesellschaft / Futures of Technology, Science and Society, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29433-5_7
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den Netzwerken hinzuweisen und damit gleichermaßen die Möglichkeiten und Grenzen einer forstbasierten Bioökonomie auszuloten. Schlüsselwörter
Forst- und Holzsektor · Forstbasierte Bioökonomie · Akteursnetzwerkanalyse
7.1 Die forstbasierte Bioökonomie Das Interesse an einer Bioökonomie ist in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen, was unter anderem daran abzulesen ist, dass bis zum Jahr 2018 fast 50 Länder eine nationale politische Strategie zur Bioökonomie entwickelt haben. Diese Strategien berücksichtigen landesspezifische Bedingungen, wie zum Beispiel die Verfügbarkeit von Rohstoffen und Ressourcen, Forschungsinstitutionen und Expertise. Sie setzen politische Ziele, zum Beispiel hinsichtlich des Wirtschaftswachstums oder der Bewältigung des Klimawandels (Staffas et al. 2013). Neben der öffentlichen Politik hat auch eine steigende Anzahl an gesellschaftlichen Stakeholdern, einschließlich Forschungsinstituten, Businessnetzwerken und Nichtregierungsorganisationen (NRO) begonnen, Initiativen im Bereich der Bioökonomie zu fördern. Dementsprechend beinhalten die Programme und Strategien zur Bioökonomie unterschiedliche Schwerpunkte von unternehmensorientierten Ansätzen, das heißt einer „Innovations-Bioökonomie“, bis zu Forschungs- und Entwicklungsperspektiven, das heißt einer „wissensbasierten Bioökonomie“. Zudem finden sich Strategien, die entweder Prozesse oder die Rohstoffe in den Mittelpunkt stellen. Zu letzteren zählen eine „lignozellulosebasierte“ (z. B. Michels und Wagemann 2010) oder „holzbasierte“ (z. B. Hagemann et al. 2016) Bioökonomie. Während der Biotechnologiesektor die Bioökonomie als eine natürliche Entwicklung der jahrzehntelangen Forschung und Entwicklung betrachtet (die Bioökonomie hat ihre Wurzeln im biotechnologischen Wissen der 1970er und 1980er – vgl. auch Birch und Tyfield 2013 sowie Patermann und Aguilar 2017), setzen sich andere Sektoren und Akteure erst seit kürzerer Zeit mit den Möglichkeiten und Auswirkungen dieses Konzeptes auseinander. Hetemäki (2014) beschreibt die Situation, in der sich traditionelle Sektoren wie der Forstsektor, die mit dem Management und der Bereitstellung von natürlichen Ressourcen befasst sind, als einen Zustand der „kreativen Destruktion“: Ein Prozess der industriellen Wandlung, der ökonomische Strukturen von Innen revolutioniert. Diese Veränderungen setzen voraus, dass auf der einen Seite ökonomischen Aktivitäten
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und auch ganze Sektoren verlorengehen und auf der anderen Seite neue Technologien, Produkte und Businessmodelle entstehen. Hetemäki (2014) weist auf die Möglichkeiten und Herausforderungen der natürlichen Ressourcennutzung (Forst, Landwirtschaft, Fischerei) durch die „klassischen“ Sektoren hin, die der Übergang zur Bioökonomie mit sich bringen wird. Als Folge der Konfrontation mit den Zukunftsperspektiven haben die entsprechenden Sektoren in den letzten Jahren begonnen, ihre Positionen in der politischen Bioökonomie-Debatte geltend zu machen. In diesem Zusammenhang ist das Konzept „forstbasierte Bioökonomie“ entstanden, das insbesondere in Nordeuropa geprägt wurde. Das Konzept rückt Wälder und den Forstsektor in den Mittelpunkt der nationalen Bioökonomiestrategien (vgl. z. B. Hetemäki 2014; Hetemäki et al. 2017). Insbesondere in Finnland kommt der forstbasierten Industrie eine bedeutende Rolle zu. Dementsprechend ist es nicht überraschend, dass dort eine auf Waldressourcen basierende Bioökonomie als neuer Weg zu einer nachhaltigen, grünen Wirtschaft gesehen wird (vgl. TEM 2014). Sie wird insbesondere durch die starke Koalition aus Forstindustrie und Politik getragen, die gemeinsam nach dem Vorbild „Nokia“ eine finnische wirtschaftliche Erfolgsgeschichte erschaffen wollen (Mustalahti 2017). Der aktuelle Diskurs in Finnland geht von unbegrenzten Waldressourcen aus und betrachtet diese gemeinsam mit dem Einsatz von (Bio)Technologie als Garant für ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum. Im Vergleich dazu spielt der Forstsektor in der nationalen Bioökonomie Strategie Deutschlands eine weniger zentrale Rolle (vgl. Kleinschmit et al. 2017). Zudem wird in Deutschland eine vermehrte Nutzung von Ressourcen aus dem Forst- und Agrarsektor zugunsten einer Bioökonomie kontrovers diskutiert. Zum einen hat die „Tank oder Teller“-Debatte zur kritischen Diskussion der Nutzung von Agrarflächen für Nicht-Nahrungsmittel geführt. Zum anderen wird die Möglichkeit der Ausweitung einer nachhaltigen forstlichen Nutzung im eigenen Land als begrenzt angesehen und eine Kompensation durch internationale Importe in Bezug auf die Standards der Nachhaltigkeit kritisch diskutiert. Diese Kontroversen spiegeln sich in der deutschen Bioökonomiestrategie wider, die im Vergleich zu Finnland einen geringen Fokus auf die biologischen Ressourcen legt und vermehrt auf die Prozesse der Biotechnologie setzt (vgl. Kleinschmit et al. 2017). Trotz der Stärken der forstbasierten Industrie in Deutschland und Finnland bleibt unklar, ob auch beide Länder eine forstbasierte Bioökonomie verfolgen können oder sollten. Die wissenschaftliche Literatur hat sich bislang vornehmlich der technischen und ökonomischen Umsetzbarkeit dieser Idee gewidmet (vgl. z. B. Maack et al. 2017; Scarlat et al. 2015; Sikkema et al. 2016). Ziel
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dieses Beitrags ist es, sich mit Hilfe einer akteurszentrierten Analyse der forstbasierten Bioökonomie in Deutschland und Finnland vergleichend auseinanderzusetzen. Konkret fragen wir dabei nach den Akteuren, die an einer forstbasierten Bioökonomie beteiligt sind, nach ihren Beziehungen zueinander und nach ihren Überzeugungen und Visionen hinsichtlich der Bioökonomie. Zu diesem Zweck beginnen wir mit der Darlegung der Hauptakteursnetzwerke, die den Bioökonomie-Diskurs in Deutschland und Finnland formen. Darauf basierend widmen wir uns der Frage wie diese Akteure die Bioökonomie wahrnehmen. Zuletzt diskutieren wir, basierend auf dem Vergleich, inwieweit die forstbasierte Bioökonomie eine Möglichkeit für Deutschland darstellt.
7.2 Empirisches Forschungsdesign Im Folgenden wird das methodische Design der Studien, die die Grundlage für diesen Beitrag bilden, dargestellt. Dieses Design umfasst drei Schritte (s. Abb. 7.1). Die Ergebnisse und Diskussion basieren zum Teil auf dem Dissertationsprojekt des Erstautors dieses Beitrags. Im ersten Schritt wurde eine umfangreiche Literaturanalyse durchgeführt, um die wichtigsten Akteure der forstbasierten Bioökonomie in Deutschland und
Abb. 7.1 Das methodische Design der Studien. (Quelle: Eigene Darstellung)
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Finnland zu identifizieren. Als „Akteure“ werden sowohl staatliche als auch private komplexe Akteure, das heißt kollektive oder korporative Akteure verstanden (Scharpf 1997). Dazu gehören Firmen, Industriekonzerne sowie Forschungseinrichtungen, Universitäten, Netzwerkorganisationen, Bundesministerien und NROs. Anschließend wurde eine Liste von Experten und Ansprechpartnern für jede der identifizierten finnischen und deutschen Organisationen erstellt. Diese Liste umfasst sowohl einzelne organisatorische Netzwerke als auch regierungsgeförderte Cluster, die zu dem Zeitpunkt in Deutschland und Finnland aktiv waren (für Näheres vgl. auch Giurca und Metz 2017; Korhonen et al. 2018). Die drei zu erfüllenden Kriterien zur Auswahl der Organisationen und potentiellen Ansprechpartner waren: • Erstens: Die Organisation ist Teil des Forst- und Holzsektors oder eines Sektors, der eng mit dem Forstsektor zusammenarbeitet und/oder holzbasierte Rohstoffe, Produkte und Dienstleistungen nutzt, das heißt andere Industrien (z. B. chemische oder pharmazeutische Industrien), politische Gremien, Beratungsfirmen oder andere Organisationen. • Zweitens: Die Organisation steht durch ihre Arbeit mit der Bioökonomie in Verbindung. Als Indikator hierzu wurden öffentliche Aussagen oder Medien der Öffentlichkeitsarbeit herangezogen, zum Beispiel Vorträge, Tagungsberichte, Stellungnahmen, Pressemitteilungen, organisatorische Positionspapiere oder wissenschaftliche Veröffentlichungen. • Für individuelle Ansprechpartner basierte die Auswahl auf Kriterien wie zum Beispiel Berufsbezeichnung oder Jobbeschreibung sowie Mitgliedschaft in bioökonomischen Komitees, Arbeitsgruppen oder professionellen Clustern. Im zweiten Schritt, nach der Identifikation der Hauptakteure, wurden Fragen entwickelt, die im Rahmen der Akteursnetzwerkbefragung sowohl die Beziehungen zwischen den Akteuren als auch deren Wahrnehmungen analysieren. Aus diesem Grund wurden die Teilnehmer gebeten, ihre am häufigsten frequentierten Kontakte zu nennen und die für die Bioökonomie relevantesten Themen (z. B. Umweltaspekte, Klimawandel, Wirtschaftsaspekte, Ressourcenvorkommen, technologische Entwicklung) zu bewerten. Weiterhin sollten Themenbereiche angegeben werden, die politische Unterstützung benötigen und die zu priorisierenden, zentralen Industriezweige der jeweiligen Länder identifizieren. In Deutschland wurde die Onlineumfrage Anfang 2017 ausgeführt. Von den 187 Akteuren, an die sich die Umfrage richtete, beteiligten sich 67, was einer Rücklaufquote von 35 % entspricht. In Finnland wurde die Umfrage ein Jahr später,
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in 2018, durchgeführt. Hier wurde der Fragebogen an 57 Akteure geschickt, von denen 23 antworteten, womit eine Rücklaufquote von 40 % erreicht wurde. Im letzten Schritt, um die bestehende Netzwerkanalyse zu ergänzen, wurden teilstrukturierte qualitative Interviews mit zehn zentralen Organisationen des deutschen Netzwerks durchgeführt (vgl. Giurca 2020). Diese befassen sich mit der Bioökonomie und repräsentieren Forschung, Industrie und Politik in den Bereichen Biotechnologie, Biochemie sowie Holzbau und Biomasseforschung. Die qualitativen Interviews fokussierten auf Themen wie die Relevanz und Bedeutung der Bioökonomie (insbesondere der forstbasierten Bioökonomie) und die wichtigsten Organisationen, die die Bioökonomie in Deutschland vorantreiben. Darüber hinaus wurden die Interviewpartner nach der Rolle der eigenen Organisation bei dieser Entwicklung gefragt, und ob sie mit der allgemeinen Entwicklung der Bioökonomie in Deutschland einverstanden sind. Zusätzlich zu diesen Interviews mit Repräsentanten von Forschungseinrichtungen aus den Bereichen Biotechnologie und Chemieingenieurwesen wurden 17 qualitative teilstrukturierte Experteninterviews mit zentralen Vertretern der Forst- und Holzindustrie in Deutschland durchgeführt, zum Beispiel Forstwirtschaft, Holzwirtschaft, Forschung und NROs (vgl. Stein et al. 2018). Ziel dieser Studie war es, die Wahrnehmung des Bioökonomiekonzeptes durch Akteure aus dem Forst- und Holzsektor näher zu untersuchen (vgl. Stein et al. 2018). Die unterschiedlichen methodischen Herangehensweisen (quantitativ – qualitativ) sowie die verschiedenen Zielgruppen der qualitativen Interviews erlauben eine Datentriangulation, die potentielle Diskrepanzen aufdecken kann.
7.3 Akteure und ihre Wahrnehmungen zur forstbasierten Bioökonomie 7.3.1 Wer gestaltet den Bioökonomie-Diskurs? Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Akteursnetzwerke der Bioökonomie in Deutschland und Finnland ähnlich aufgebaut sind, da sie von den jeweiligen Regierungen zentral gesteuert werden und einer Top-Down-Führungsstruktur folgen. Die Abb. 7.2 und 7.3 zeigen beide Bioökonomie-Akteursnetzwerke im Vergleich. In beiden Fällen halten Ministerien zentrale Positionen und fungieren als Vermittler zwischen den verschiedenen Bereichen der beiden Netzwerke. Großen Industrieunternehmen, vor allem der Chemieindustrie, kommt in beiden Ländern eine zentrale Rolle zu. Nichtstaatliche Akteure, die nicht zu den
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Abb. 7.2 Akteursnetzwerk der forstbasierten Bioökonomie in Deutschland. (Quelle: Giurca und Metz 2017; Giurca 2020)
zentralen Industrieakteuren gehören (z. B. Umwelt-NROs und Entrepreneure), sind in beiden Netzwerken nur im geringen Maße beteiligt. Obwohl beide Akteursnetzwerke auf die Biomasse des Forstsektors angewiesen sind, liegt der Hauptunterschied in der Position der forstbasierten Industrie in den beiden Netzwerken. Während Akteure der Forstwirtschaft (z. B. internationale forstwirtschaftliche Unternehmen) in dem finnischen Bioökonomienetzwerk eine zentrale Rolle spielen, sind Vertreter der Forstund Holzindustrie weniger präsent in Deutschlands Bioökonomienetzwerk. Die Begründung liegt im Folgenden: Bei der Beschreibung des Schwerpunkts ihres jeweiligen Netzwerks identifizieren finnische Akteure ihr Netzwerk als „forstbasiert“, wohingegen sich deutsche Akteure für das technische,
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Abb. 7.3 Akteursnetzwerk der forstbasierten Bioökonomie in Finnland. (Quelle: Korhonen et al. 2018)
„lignozellulosebasierte“ Bioökonomiekonzept entscheiden. Während das deutsche Akteursnetzwerk eher auf Forschung und Entwicklung ausgerichtet ist (s. Abb. 7.2), ist das Netzwerk in Finnland eindeutig forstwirtschaftlich orientiert (s. Abb. 7.3) und durch eine starke Präsenz der forstwirtschaftlichen Industrie geprägt. In den Abbildungen sind die einzelnen Organisationen als Knoten dargestellt. Je größer ein Knoten ist, desto mehr Kontakte hat er. Generell gilt, dass Organisationen mit mehr Kontakten zentraler für das Netzwerk sind. Vier Vertreter der finnischen Forstindustrie sind zentral im Akteursnetzwerk verankert. Zudem umgeben drei „Broker“ den stark verbundenen zentralen Bereich des Netzwerks. Broker-Organisationen fungieren als Hauptvermittler zwischen
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Einzelpersonen oder Gruppen, die keinen direkten Zugang zueinander haben. Ihre zentrale Position erlaubt ihnen, den Informationsfluss und die Kommunikation zwischen isolierten Gruppen oder Einzelpersonen zu steuern. Diese drei Organisationen bilden ein „Broker-Dreieck“, das aus dem Verband der Chemieindustrie Finnland, dem Ministerium für Wirtschaft und Arbeit und großen Forschungsinstituten, die auf bioökonomische Entwicklung fokussiert sind, besteht. In Deutschland hingegen hat sich ein Netzwerk aus etablierten Industrieakteuren und Forschungsinstitutionen formiert (s. Abb. 7.2). Viele der identifizierten Forschungsinstitutionen gehören dem Bereich des Ressourcenmanagements und der Ressourcenbereitstellung oder dem chemischen und technischen Ingenieurswesen an. Die Holzproduzenten als Ressourcenanbieter der tatsächlichen Biomasse sind dagegen im deutschen Netzwerk wenig präsent. Die Akteure aus dem Forst-und Holzbereich werden ebenfalls in erster Linie durch verschiedene Forschungseinrichtungen (z. B. Universitäten, die sich auf Umwelt und natürliche Ressourcen fokussieren) oder durch einige wenige Verbände vertreten (z. B. Deutscher Forstverein, Deutscher Forstwirtschaftsrat etc.). In beiden Netzwerken, dem finnischen und dem deutschen, sind nur vereinzelt Repräsentanten der Zivilgesellschaft und von Umwelt-NROs integriert. Die geringe Beteiligung von Ressourcenanbietern im deutschen Netzwerk widerspricht der Wahrnehmung der Vertreter der Forstwirtschaft in Deutschland, die sich selbst als zentral und unverzichtbar für die Bioökonomie sehen. Befragungsergebnisse der Experteninterviews mit zentralen Vertretern der Forst- und Holzindustrie zeigen, dass diese Akteure das Bioökonomiekonzept als sehr wichtig für den Forst- und Holzsektor einschätzen. Auf der einen Seite wird der Forst- und Holzsektor als eine Schlüsselbranche für die Bioökonomie gesehen, auf der anderen Seite wird Bioökonomie als Entwicklungschance für den Sektor betrachtet. Zu diesen Chancen zählen die Eröffnung neuer Märkte und die Erweiterung des Produkt-Portfolios. Zusätzlich betonen viele Akteure die rhetorische Chance des forstbasierten Bioökonomiediskurses, die es ihnen ermöglicht, die Bedeutung des Forst- und Holzsektors besser nach außen gegenüber politischen Entscheidungsträgern und der Gesellschaft kommunizieren zu können (Stein et al. 2018). Diese ressourcenzentrierte Sichtweise wird jedoch in erster Linie von Akteuren aus dem Forst- und Holzsektor vertreten. Wie im Folgenden vorgestellt wird, führen die Akteure des Bioökonomienetzwerks in Deutschland einen Diskurs, in dem der Forst- und Holzsektor wenig Berücksichtigung findet.
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7.3.2 Sichtweisen und politische Überzeugungen Im Folgenden werden die Sichtweisen und Überzeugungen der Akteure im finnischen und deutschen Netzwerk untersucht. Obwohl beide Akteursnetzwerke hauptsächlich von Industrie- und Forschungsakteuren dominiert werden, sind sie, wie Bioökonomienetzwerke generell, nicht nur industriell oder technisch, sondern auch politisch geprägt (vgl. Goven und Pavone 2015). Akteure beider Netzwerke beabsichtigen die politischen Prozesse in ihren jeweiligen Politikfeldern zu beeinflussen. Dementsprechend können sie als strategische „Themennetzwerke“ betrachtet werden. Die Hoffnung, politische Prozesse beeinflussen zu können, ist einer der Hauptbeweggründe, Teil des politischen Bioökonomienetzwerks zu sein. Allerdings ist dieses Ziel auf Grund der Meinungs- und Überzeugungsvielfalt schwer zu erreichen. Durch die Betätigung innerhalb des Themennetzwerks steigen die Chancen, dass die politische Überzeugung der Akteure gehört wird (vgl. Blom-Hansen 1997). Die Akteure berichten mehrheitlich von einem Austausch von Informationen und Wissen untereinander. Das deutsche Bioökonomienetzwerk kann dabei als eine Interessengemeinschaft verstanden werden, die allgemeine politische Ambitionen im Zusammenhang mit der Bioökonomie vereint. Die gemeinsamen Ambitionen sind eher allgemein und beruhen auf Positionen, auf die sich die verschiedenen Akteure leicht einigen können. Dazu zählen die Notwendigkeit eines wettbewerbsfähigen (biobasierten) Marktes, Forderungen nach besserer Kommunikation sowie Kooperation zwischen den teilnehmenden Organisationen und der allgemeinen Öffentlichkeit (vgl. Giurca 2020). Beim deutschen Netzwerk und den Akteuren aus verschiedenen Sektoren (z. B. Biotechnologie, Chemieindustrie, Forstbereich) besteht zudem Konsens bezüglich der Ablehnung der Nutzung von Holz zur Energiegewinnung in Deutschland. Neben den gemeinsamen Positionen gibt es innerhalb des Akteursnetzwerks auch eine Reihe von widersprüchlichen Ansichten (Tab. 7.1). Diese beziehen sich auf die unterschiedliche Wahrnehmung dessen, was Bioökonomie bedeutet, sowie darauf, inwieweit der traditionelle Holzsektor als Teil der Bioökonomie zu betrachten ist. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage nach der Verfügbarkeit der Ressource Holz unterschiedlich diskutiert. Ob der Rohstoff ausreichend vorhanden ist oder ob zukünftig mit Knappheiten zu rechnen ist, findet dabei keine eindeutige Meinung. Auch in Bezug auf die Nachhaltigkeit der Bioökonomie sind die Meinungen gespalten. Das Akteursnetzwerk der Bioökonomie in Finnland hingegen stellt sich vergleichsweise konsensual dar. Die meisten Akteure teilen ähnliche Ansichten und fordern hauptsächlich Maßnahmen, die eng mit der Forstwirtschaft und
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Tab. 7.1 Ansichten und Hauptargumente im Bioökonomienetzwerk Deutschland Identifizierte Positionen
Zusammenfassung der Hauptargumente
• Die Definition von Bioökonomie hat Widersprüchlich Holz- vs. schon immer Holz beinhaltet lignozellulosebasiert (Entgegengesetzte Ansichten • Der Holz- und Waldsektor sollte in der Definition und im Namen der Bioökozur Definition der Bioökonomie nicht zu stark hervorgehoben nomie als „auf Holz“ oder werden auf „lignozellulosebasiert“) Verfügbarkeit der Ressourcen (Gibt es genug Holz für alle?)
• Deutschland ist eines der waldreichsten Länder Europas und verfügt über relativ große Holzressourcen für die Bioökonomie • Deutschland verfügt nicht über die für die Bioökonomie benötigten Holzmengen
Bioökonomie ist nachhaltig • Zu viele Nachhaltigkeitsanforderungen und -regeln, die der Mobilisierung von (Debatten über die Biomasse entgegenstehen Bedeutung von Nachhaltig• Deutschland verfügt über hochkeit) produktive Wälder, die nachhaltig bewirtschaftet werden • Die Bioökonomie ist nicht per se nachhaltig und kann ein Risiko für die Umwelt darstellen Zustimmend
Energetischer Holzverbrauch
• Die Verbrennung von Holz zur Energiegewinnung ist eine Verschwendung im Zeitalter der nachhaltigen Energiewende • Fördermittel für die energetische Nutzung von Holz sollten gestrichen werden
Marktwettbewerb
• Materialien und Produkte aus fossilen Brennstoffen dominieren den Markt • Weitere politische Unterstützung für biobasierte Produkte ist notwendig • Der Markt für biobasierte Produkte ist schwach
Kommunikation und Zusammenarbeit
• Verbraucher müssen über biobasierte Produkte informiert werden • Mehr Networking, Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit sind erforderlich
Quelle: Giurca 2020
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der Verfügbarkeit von Biomasse verbunden sind. Umfrageteilnehmer bewerten die Rolle der Entwicklung neuer Technologien und der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit als wichtige Aspekte der finnischen Bioökonomiestrategie. Teilnehmer aus der Forstindustrie und deren engste Kontakte bewerten die Integration des Forstsektors in eine umfassende Bioökonomiepolitik als wichtig. Während technologische und wirtschaftliche Aspekte als zentral eingestuft werden, werden Ziele der Minimierung von Umweltbelastungen oder die Schaffung neuer Arbeitsplätze als weniger bedeutend angesehen. Insgesamt verfolgen die befragten Akteure in Deutschland und Finnland einen eher instrumentellen Ansatz der Bioökonomie, indem sie hauptsächlich technologische und wirtschaftliche Aspekte der Transformation betonen. Anliegen, die Umwelt und Gesellschaft betreffen, sind dagegen in beiden Netzwerken zweitrangig. Ein Vergleich der wichtigsten Ergebnisse in den einzelnen Ländern ist in Tab. 7.2 dargestellt.
7.4 Die forstbasierte Bioökonomie in Deutschland: eine Diagnose Im Folgenden werden zunächst die zentralen Ergebnisse aus unserer Untersuchung der finnischen und deutschen Akteursnetzwerke diskutiert, bevor wir uns der Frage widmen, welche Konsequenzen diese für eine forstbasierte Bioökonomie in Deutschland haben können.
7.4.1 Vergleichende Diskussion der zentralen Ergebnisse Die Ergebnisse zeigen sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede zwischen dem finnischen und deutschen Bioökonomienetzwerk. Zu den Gemeinsamkeiten zählt die zentrale Rolle der Ministerien. Die Bedeutung der öffentlichen Politik als Netzwerkvermittler ist typisch für politische, von Regierungen gesteuerte Transformationen (vgl. Geels 2010). In beiden Akteursnetzwerken fungiert die Regierung als „Direktor“ der Übergangsphase (vgl. Bosman und Rotmans 2016). Weil die Regierungen hinsichtlich der Schaffung von Arbeitsplätzen und des Wirtschaftswachstums von der Industrie abhängig sind, bieten sie diesen günstige Bedingungen und Schutz (vgl. Geels 2010). Akteure mit weniger politischer und wirtschaftlicher Schlagkraft sind in einem solchen Netzwerk in der Regel auch weniger einflussreich (vgl. Geels 2010).
Quelle: Eigene Darstellung
– Bundesministerien, Forschungseinrichtungen und Industrie (hauptsächlich Vertreter der Forstindustrie)
– Bundesministerien und Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen (hauptsächlich im Bereich Ressourcenmanagement und -bereitstellung oder dem chemischen und technischen Ingenieurswesen) – Industrievertreter (hauptsächlich im Bereich der chemischen Industrie)
– Akteure der chemischen und biotechnologischen Industrie bevorzugen ein von der Ressourcenproduktion entkoppeltes „lignozellulosebasiertes“ Bioökonomiekonzept – Akteure der Forst- und Holzindustrie setzen auf eine forstbasierte Bioökonomie mit zentraler Rolle für Ressourcenbereitstellung und damit Entwicklungschancen für den Sektor
Beide Länder fördern hauptsächlich technologische und wirtschaftliche Aspekte des Übergangs. Anliegen, die Umwelt und Gesellschaft betreffen, sind in beiden Fällen zweitrangig.
Sichtweisen und politische Überzeugungen
– Akteure fordern hauptsäch– Fokussiert auf lich Maßnahmen, die eng mit Optimierung der der Forstwirtschaft und der bestehenden Lieferketten Verfügbarkeit von Biomasse – Forschungs- und entwicklungs-orientiert, aber verbunden sind – Die Entwicklung neuer mit Schwerpunkt auf Technologien und der Ressourcennutzung wirtschaftlichen Wett– Forstwirtschaftliche bewerbsfähigkeit sind hier Industrieakteure stärken zentral Netzwerk
– Entwicklung neuer In beiden Prozesse und Produkte Akteursnetzdurch Forschung und werken steuert Entwicklung die Regierung die Übergangsphase zu einer Bioökonomie
Fallstudie Wer gestaltet den Bioökonomie-Diskurs? Hauptstruktur-merkmale des Akteursnetzes
Tab. 7.2 Vergleich der wichtigsten Ergebnisse in den einzelnen Ländern
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Ein deutlicher Unterschied zwischen den Akteursnetzwerken lässt sich in der Rolle der Akteure aus der Forstwirtschaft erkennen. Im Gegensatz zu Finnland ist die Forst- und Holzindustrie im deutschen Akteursnetzwerk nicht so stark vertreten. Dieser Unterschied spiegelt sich auch in der Beschreibung des Schwerpunkts des jeweiligen Netzwerks. Während finnische Akteure ihr Netzwerk als „forstbasiert“ definieren, sehen die deutschen Akteure eher ein technisches „lignozellulosebasiertes“ Bioökonomiekonzept. Neben dem Fokus auf die Ressourcenherkunft in Finnland (Forstwirtschaft), die in Deutschland weiter gefasst wird (Forst und Agrar), verweist diese Unterscheidung auch auf den Fokus des Netzwerks. Während sich Finnland primär am Ressourceninput orientiert, macht dieser in Deutschland nur ein Detail in einem technischen Prozess aus. Der Ressourceninput ist in Deutschland zwar ebenfalls relevant, jedoch nicht zentral. Das deutsche Bioökonomie-Akteursnetzwerk wird von den Akteuren in erster Linie als Austausch von Informationen und Wissen gesehen und erzielt in dieser Hinsicht großen Konsens. Hinsichtlich der Nachhaltigkeitsdebatte besteht allerdings Uneinigkeit. Befeuert wird die Diskussion insbesondere durch den Einsatz biologischer Ressourcen für die energetische Nutzung (vgl. Steinhäußer et al. 2015). Hagemann et al. (2016) merken an, dass die Konkurrenz zwischen energetischer und materieller Holznutzung durch staatliche Subventionen zugunsten energetischer Holznutzung beeinflusst wird. Einspeisetarife und -prämien sind im deutschen Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) festgelegt, zudem gilt für Brennholz eine reduzierte Mehrwertsteuer. Die Nachfrage anderer Biomasse nutzender Sektoren wie des Bioenergiesektors wirkt sich auf das Marktgleichgewicht aus. Die Ablehnung einer weiteren politischen Unterstützung für die energieproduzierende Nutzung von Holz vereint Akteure aus verschiedenen Sektoren (z. B. Biotechnologie, Chemieindustrie, Forstbereich), die im deutschen Bioökonomienetzwerk vertreten sind. Die Nachhaltigkeit der Bioökonomie wird auch über die Diskussion der energetischen Nutzung hinaus in Frage gestellt. Ein Akteur bemerkt, dass das Bioökonomiekonzept nicht „nachhaltig per se“ ist. Solch widersprüchliche Ansichten könnten zu Nullsummenspielen führen, in denen es unmöglich ist, gemeinsame Interessen und Vorteile der Zusammenarbeit zu identifizieren. Tatsächlich sind viele dieser Themen, wie die Verfügbarkeit von Biomasse (vgl. Scarlat et al. 2015) oder der Zusammenhang zwischen Bioökonomie und Nachhaltigkeit, nicht nur spezifisch für das forstbasierte Bioökonomienetzwerk bedeutend, sondern finden sich sowohl in anderen Sektoren (z. B. im Agrarnetzwerk) als auch auf EU- und internationaler Ebene (vgl. Kröger und Raitio 2016; Priefer et al. 2017; Ramcilovic-Suominen und Pülzl 2017). Derzeit verhindern die
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Einflüsse von unterschiedlichen Interessengruppen die Formulierung von klaren politischen Zielen in Deutschland. Das propagierte Ziel der Bioökonomie in Bezug auf Nachhaltigkeit scheint sowohl in Deutschland als auch in Finnland eher als „Verkaufsargument“ für verschiedene Agenden und Ziele des Privatsektors zu dienen (vgl. Ramcilovic-Suominen und Pülzl 2017). Der Fokus liegt in beiden Ländern eher auf einem technischen Ansatz für die Bioökonomie, die auch die wirtschaftlichen Aspekte einbezieht. Anliegen, die Umwelt und Gesellschaft betreffen, finden zwar rhetorische Nutzung in den Strategien der Bioökonomie, werden aber von den Organisationen nicht als zentrales Ziel angesehen. Trotzdem sind kritische Positionen, zum Beispiel hinsichtlich der Nachhaltigkeit der Bioökonomie in Deutschland, zu vernehmen. In Finnland hingegen stellt sich das Akteursnetzwerk der Bioökonomie vergleichsweise konsensual dar. Debatten über Nachhaltigkeit werden nicht oder kaum geführt, was möglicherweise das Resultat der dominierenden Stellung der finnischen Forstindustrie im Netzwerk sein kann.
7.4.2 Die Begrenzungen einer forstbasierten Bioökonomie in Deutschland Anhand des Vergleichs von Deutschland und Finnland bzgl. der an den Bioökonomienetzwerken beteiligten Akteure und ihrer Wahrnehmung des Bioökonomiekonzeptes wird im Folgenden die Bedeutung der forstbasierten Bioökonomie in Deutschland diskutiert. Das umfassende Konzept der Bioökonomie kann je nach Werten und Interessen der Akteure verschiedene Bedeutungen annehmen (Hodge et al. 2017). Forstbasierte Akteure sind dem Bioökonomiekonzept eng verbunden. Für sie ist die Waldwirtschaft beziehungsweise der forstbasierte Sektor gleichbedeutend mit der Bioökonomie, was von einem Interviewpartner durch den Satz „Wir sind die Bioökonomie“ bestätigt wird (Stein et al. 2018). Diesen Akteuren bietet das Bioökonomiekonzept eine Gelegenheit, die Öffentlichkeit über den Forstsektor zu informieren und ihn gleichzeitig zu fördern (vgl. Hodge et al. 2017). Dementsprechend sind und waren Waldressourcen und -produkte schon immer Teil der Bioökonomie. Das Bioökonomiekonzept stellt sich daher aus Sicht der Forstwirtschaft als etwas Altbewährtes und fest im Sektor verankertes dar. Tatsächlich ist die Forstwirtschaft ein traditionsreicher Sektor und einer der ältesten und wichtigsten Wirtschaftszweige in Europa. Die Europäische Kommission hofft, dass diesen älteren Wirtschaftszweigen mit Hilfe der
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iowissenschaft und Biotechnologie neues Leben eingehaucht wird, neue B Arbeitsplätze geschaffen werden und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit gestärkt werden kann (vgl. European Commission 2012). Diese Verbindung zwischen Akteuren, die neue Prozesse und Technologien voranbringen und den Akteuren, die zur Produktion von erneuerbaren, biobasierten Rohstoffen beitragen, ist jedoch im Bioökonomienetzwerk in Deutschland bislang nicht zu finden. Obwohl Forstakteure behaupten, ein wesentlicher Teil der Bioökonomie zu sein, sind sie im deutschen Akteursnetzwerk eine eher randständige Größe. Vielmehr sind es Forschungsinstitute und Vertreter der Chemie- und Biotech-Industrie, die dieses Netzwerk formen. Das Hauptinteresse letzterer Akteure ist die Entwicklung neuer Prozesse und Produkte und nicht die Verbindung zu traditionellen Ressourcenanbietern. Auch wenn die Bereitstellung von Biomasse ein wichtiger Bestandteil der Debatte ist, spielt die Herkunft der Ressourcen (z. B. Holz aus Wäldern oder Plantagen, Ernterückstände oder Miscanthus-Gras) für die Technologieentwicklung nur eine untergeordnete Rolle, solange die erforderlichen Mengen an Lignozellulose zur Verfügung gestellt werden. Es ist daher keine Überraschung, dass der forstbasierte Sektor in einigen Bioökonomiestrategien nur oberflächlich behandelt wird (vgl. Kleinschmit et al. 2017; Pülzl et al. 2017). Der EU-Aktionsplan von 2012 erwähnt die Forstindustrie zum Beispiel ausschließlich als Teil der Biomasse-Industrie (vgl. Ollikainen 2014). Der neu überarbeitete EU-Aktionsplan von 2018 verleiht der holzverarbeitenden Industrie hingegen mehr Bedeutung (European Commission 2018). Abhängig von den Ländern befassen sich einige nationale Strategien mit Wäldern ausschließlich hinsichtlich einer Möglichkeit der Biomasseversorgung. Im Vergleich dazu stellt die „Wald-Bioökonomie“ in Finnland, aber auch in anderen skandinavischen Ländern, wie zum Beispiel Schweden, ein komplexes Konzept dar, das sich nicht nur auf Rohmaterialien, sondern auch auf Produkte, Dienstleistungen und die Funktionen des Ökosystems Wald bezieht. In Ländern, in denen der Forst eine weniger zentrale Rolle spielt, ist die Debatte um eine forstbasierte Bioökonomie hingegen weniger präsent, wie unter anderem Vergleiche verschiedener nationaler Bioökonomiestrategien gezeigt haben (Kleinschmit et al. 2017). Ein Grund für Akteure aus der Bioökonomie, die Bedeutung des Waldes nicht zu sehr in den Fokus zu rücken, kann in dem steigenden ökologischen Druck der Ressourcenanforderungen an das Waldökosystem gesehen werden (vgl. Stutz und Lang 2017). Dieser entsteht unter anderem durch die deutsche Energiepolitik, die dazu führt, dass Holz als erneuerbarer Rohstoff sowohl den traditionellen
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Holzmarkt für Sägebetriebe aber auch den Bioenergiemarkt bedienen muss (vgl. Steinhäußer et al. 2015). Eine Wald- oder forstbasierte Bioökonomie fokussiert sich dementsprechend nach Ansicht einiger Akteure (Vertreter der chemischen Industrie) zu sehr auf einen Sektor, während andere wichtige Wirtschaftszweige (z. B. Agrarsektor) davon abgehalten werden zur Bioökonomie beizutragen. Eine lignozellulosebasierte Bioökonomie dagegen lässt die Herkunft der Ressource offen und erlaubt damit eine Trennung der Ressource vom Produktionsort (in diesem Fall Wald) und distanziert sich so von den möglicherweise in Konflikt stehenden Interessen. Gleichzeitig damit werden aber auch die Akteure aus der Ressourcenproduktion (in diesem Fall die waldrelevanten Akteure) aus dem Netzwerk ausgeklammert, mit dem Resultat einer Fokussierung der Bioökonomie auf den technologischen Prozess. Auch innerhalb des Forstsektors wurde bislang kein einhelliges Konzept für eine forstbasierte Bioökonomie entwickelt. Eine akzeptierte Definition fehlt ebenso wie ein gemeinsames Verständnis, ob alle forstwirtschaftlichen Aktivitäten unter das Bioökonomielabel fallen können oder sollten. Im Allgemeinen umfasst dieser Sektor alle wirtschaftlichen Aktivitäten, die von Produkten und Dienstleistungen des Waldes abhängig sind. Dazu gehören kommerzielle Aktivitäten, die von der Holzproduktion abhängig sind (d. h. die Produktion von industriellem Rundholz, Brennholz und Holzkohle; Schnittholz und Holz-Paneelen; Zellstoff und Papier), sowie die kommerzielle Produktion und Verarbeitung von Waldprodukten, die nicht aus Holz bestehen (z. B. Pilze, Tiere und Pflanzen bzw. Erzeugnisse aus diesen) aber auch andere Ökosystemleistungen (Erholung, Wassermanagement, Landschaft, usw.) (vgl. Hetemäki 2014; Lebedys 2004). Der Bioökonomiediskurs in Deutschland konzentriert sich bzgl. der Forstwirtschaft ausschließlich auf die Produktion von Holzprodukten, während Debatten über Entwaldung, nachhaltige Forstwirtschaft, Artenvielfalt und illegale Abholzung in den Hintergrund treten (vgl. Pülzl et al. 2014). Die Frage der Nachhaltigkeit wird dabei wenig thematisiert oder als automatisches Resultat der Forstwirtschaft vorausgesetzt. Es überwiegt ein eher technokratischer und effizienzorientierter Nachhaltigkeitsansatz, der die ursprüngliche Idee der nachhaltigen Entwicklung mit ihren ausgewogenen wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Dimensionen einschränkt (vgl. Kleinschmit et al. 2017). In Finnland und anderen skandinavischen Ländern wird der Diskurs in einer Weise gerahmt, die ein „mehr von allem“ verspricht (vgl. Kröger und Raitio 2016; Lindahl et al. 2017). In Finnland hat dies zur Legitimierung forstpolitischer Ziele geführt, die bereits aus den vergangenen Zeiten der industriellen Forstwirtschaft stammen (vgl. Kröger und Raitio 2016). Allerdings wird die Debatte der forstbasierten
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ioökonomie in Finnland von einigen wenigen, mächtigen Sektoren dominiert, B die damit eine Legitimierung ihrer privatwirtschaftlichen Interessen vorantreiben. Nicht zuletzt da der Forstsektor in Deutschland stärker fragmentiert ist und nicht so sehr geübt in gemeinsamer Kommunikation und Strategie wie in den Ländern mit starken Forstindustrien, steht auch in Zukunft keine starke, übergreifende forstbasierte Bioökonomie in Deutschland zu erwarten. Die geringe Bedeutung, die den Ressourcen in der Bioökonomie beigemessen wird und sich im deutschen Akteursnetzwerk widerspiegelt, trägt zu einer Reproduktion und damit Verstärkung der Technologiefokussierung bei. Damit werden weder die Ressourcen produzierenden Sektoren in der politischen Diskussion mitgenommen und mobilisiert (womit auch Möglichkeiten vergeben werden), noch werden durch eine pure Technologie- oder auch Chemiefokussierung alle Ziele der Bioökonomie eingelöst, wie zum Beispiel die Entwicklung und Schaffung neuer Arbeitsplätze in ruralen Räumen.
7.5 Fazit Dieser Beitrag befasst sich mit einer kritischen Analyse des Konzepts der forstbasierten Bioökonomie basierend auf einer vergleichenden Analyse zweier Länder, die als Vorreiter der Bioökonomie in Europa betrachtet werden können. Die zentralen Akteure der Bioökonomienetzwerke in Deutschland und Finnland sowie ihre Wahrnehmung des Bioökonomiekonzepts wurden identifiziert und gegenübergestellt. Akteursnetzwerke der Bioökonomie setzen sich hauptsächlich aus Bundesministerien, Industrie- und Forschungsakteuren zusammen. In Deutschland repräsentieren Forschungsinstitute, der Chemie- und Biotechnologiesektor den größten Teil des Akteursnetzwerks. In Finnland wird dagegen das Akteursnetzwerk hauptsächlich durch die Forstindustrie vertreten. Entsprechend der Zusammensetzung der Netzwerke bevorzugen Akteure im deutschen Netzwerk einen offeneren Interpretationsrahmen der Bioökonomie und das von der speziellen Ressourcenproduktion entkoppelte lignozellulosebasierte Konzept. Damit stellt die Forstwirtschaft in Deutschland auch keinen zentralen Sektor für die Bioökonomie dar. In Finnland hingegen nimmt die Forstwirtschaft eine zentrale Position im Akteursnetzwerk ein. Daraus ergibt sich ein Verständnis der Bioökonomie als „forstbasiert“. Die Akteursnetzwerke sind in beiden Ländern eher geschlossen und konzentrieren sich auf wenige politisch und wirtschaftlich einflussreiche Akteure.
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Die Forstwirtschaft ist zweifellos ein wichtiger Teil einer umfassenderen Bioökonomie. Allerdings ist das Konzept der Bioökonomie als sektorübergreifende Strategie gedacht. Dies ist derzeit weder in Deutschland der Fall, da hier chemische- und biotechnologische Akteure dominieren und den Produzenten der Biomasse kaum Beachtung geschenkt wird, noch in Finnland, wo Forstakteure die Bioökonomiestrategie zentral steuern. In beiden Ländern ist die Frage der Nachhaltigkeit des Bioökonomiekonzepts bislang nur unzureichend beantwortet. Um diesen Aspekt stärker in den Blick nehmen zu können, sollten die Netzwerke über Forst-, Chemie- oder Biotechnologieakteure hinaus auch für weitere Akteure, wie zum Beispiel Bürger und Konsumenten, geöffnet werden.
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Teil III Auf dem richtigen Weg? Zukunftspfade und Szenarien der Bioökonomie
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Zukünfte der Bioökonomie: eine modellbasierte Analyse möglicher Transformationspfade Witold-Roger Poganietz, Elisabeth Angenendt, Markus Blesl, Eckart Petig, Hyung Sik Choi und Harald Grethe Zusammenfassung
Die Transformation einer Volkswirtschaft zu einer Bioökonomie impliziert eine umfassende Änderung der heute bekannten Beziehungen zwischen Ressourcen, Produktion, Konsum, Märkten und Branchen auf unterschiedlichen geographischen Skalen. Die Änderungen von monetären, stofflichen und energetischen Wechselwirkungen beeinflussen ebenso die Inanspruchnahme der Umwelt und damit auch die Umweltbelastungen. Als etabliertes Instrument, um mit den sich ergebenden Unsicherheiten über Ausmaß und Struktur möglicher zukünftiger Änderungen umgehen zu können, gelten
W.-R. Poganietz (*) Institut für Technologie und Systemanalyse (ITAS), Karlsruher Institut für Technologie (KIT), Karlsruhe, Deutschland E-Mail: [email protected] E. Angenendt · E. Petig Institut für Landwirtschaftliche Betriebslehre, Universität Hohenheim, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] E. Petig E-Mail: [email protected] M. Blesl Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER), Universität Stuttgart, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 W. Konrad et al. (Hrsg.), Bioökonomie nachhaltig gestalten, Technikzukünfte, Wissenschaft und Gesellschaft / Futures of Technology, Science and Society, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29433-5_8
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modellbasierte Szenarien. Basierend auf vier Szenarien werden ausgewählte Facetten einer Transformation zu einer Bioökonomie diskutiert. Im Vordergrund steht die Untersuchung der möglichen Auswirkungen einer verstärkten stofflichen und energetischen Nutzung von Biomasse auf den europäischen Agrarsektor. Diese wird durch vertiefte Analysen der Konsequenzen für den Bioenergiesektor in Deutschland sowie für die regionalen Anbaustrukturen am Beispiel Baden-Württembergs ergänzt. Weiterhin werden die möglichen Umweltwirkungen der in den Szenarien dargestellten Veränderungen beispielhaft für Deutschland aufgezeigt. Schlüsselwörter
Modellierung · Transformationspfade · Landwirtschaft · Energiemärkte · Umweltbewertung
8.1 Einleitung In den nächsten Jahrzehnten wird die globale Nachfrage nach Energie, Waren und Dienstleistungen voraussichtlich weiter zunehmen (Guillemette und Turner 2018). Diese wachsenden Bedarfe können nach heutigen Erkenntnissen mit den gegenwärtig und perspektivisch zur Verfügung stehenden fossilen und metallischen Ressourcen nur bedingt gedeckt werden (OECD 2018). Dieses Ergebnis ändert sich prinzipiell auch dann nicht, wenn man Strategien zur Etablierung einer Kreislaufwirtschaft berücksichtigt, die darauf abzielen, verstärkt Sekundärressourcen in den Produktionskreislauf einzubinden (OECD 2018). Daher könnten zukünftig aus Biomasse hergestellte Produkte und Energieträger eine größere wirtschaftliche Rolle spielen (Scarlat et al. 2015; Philp 2018).
H. S. Choi Department of Economics, Swedish University of Agricultural Science, Uppsala, Schweden E-Mail: [email protected] H. Grethe Albrecht Daniel Thaer – Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected]
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Neben der Verknappung fossiler und metallischer Ressourcen sind auch andere Überlegungen zu nennen, die eine Transformation von Volkswirtschaften zu einer Bioökonomie begünstigen könnten. So wird mit der Bioökonomie auch die Hoffnung verbunden, einen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten und damit die Folgen des anthropogen verursachten Klimawandels abzumildern (European Commission 2012). Darüber hinaus kann die Bioökonomie durch dezentrale Wirtschaftsstrukturen speziell im ländlichen Raum zusätzliche Erwerbsmöglichkeiten generieren (Europäische Kommission 2009). Mit der möglichen Transformation sind auch (durchaus gewollte) ökonomische Strukturänderungen verbunden, die aber für diejenigen mit nennenswerten ökonomischen Verlusten einhergehen können, die ihre Einkommen und Vermögen aus den an Bedeutung verlierenden Sektoren erhalten. Da eine Transformation immer zukunftsgerichtet ist, ergeben sich eine Vielzahl von Unsicherheiten hinsichtlich der zukünftig ablaufenden Prozesse und der geltenden Rahmenbedingungen (Grunwald 2011). Ein etabliertes Instrumentarium mit Zukunftsunsicherheiten umzugehen, ist die Entwicklung von Szenarien. Die Darstellung möglicher szenarienbasierter Entwicklungspfade zu einer Bioökonomie oder einer „Industrie 5.0“, wie die Bioökonomie von einigen auch schon genannt wird (Schütte 2018), kann dabei mögliche notwendige und hinreichende Randbedingungen, aber auch Risiken von Transformationsprozessen aufzeigen (Grunwald 2011). Im Kontext der Diskussion um Entwicklungsoptionen der Bioökonomie ist die Nutzung modellbasierter Ansätze weit verbreitet (Poganietz et al. 2000). Modelle können die Analyse von komplexen Systemen, wie sie die Bioökonomie darstellt, erleichtern, da die Wechselwirkungen zwischen Ressourcen, Produktion, Konsum, Märkten und Branchen sowie der Umweltwirkungen systemanalytisch dargestellt werden können (O’Brien et al. 2017; Wicke et al. 2015). Einen Überblick über die verschiedenen Modellansätze, die für eine solche ganzheitliche Betrachtung der Bioökonomie benötigt werden, geben Angenendt et al. (2018). Das Ziel des vorliegenden Beitrags ist eine modellbasierte Analyse ausgewählter Facetten der Transformation einer Volkswirtschaft zu einer Bioökonomie. Im Vordergrund steht die Untersuchung der Wirkungen einer verstärkten stofflichen und energetischen Nutzung von Biomasse auf den europäischen Agrarsektor. Diese wird durch vertiefte Analysen der Konsequenzen für den Bioenergiesektor in Deutschland sowie für die regionalen Anbaustrukturen am Beispiel von Baden-Württemberg ergänzt. Weiterhin werden die Umweltwirkungen einer Transformation der Volkswirtschaft beispielhaft für Deutschland aufgezeigt. Der Beitrag basiert hierbei auf Arbeiten, die im Rahmen des
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„Kompetenznetzwerk Modellierung“1 durchgeführt wurden. Das Kompetenznetzwerk soll mögliche Entwicklungen der Bioökonomie für verschiedene Formen der Biomassebereitstellung, Nutzungspfade und Sektoren analysieren. Hierfür werden allgemeine und partielle Gleichgewichts-, Energiesystem-, Materialfluss-, Ökobilanz- und landwirtschaftliche Betriebsmodelle sowie Standortoptimierungsansätze für Biomassekonversionsanlagen verknüpft und eingesetzt (Angenendt et al. 2018). Die Vielfalt der Modelle erlaubt die Betrachtung möglicher Transformationsprozesse aus unterschiedlichen Perspektiven: so können beispielsweise die Wirkungen einer Transformation auf den Agrarsektor aus einer Marktsicht aber auch aus einer betrieblichen Sicht analysiert werden; ebenso besteht die Möglichkeit den Bioenergiesektor detailliert zu untersuchen sowie Standortentscheidungen von dem Agrarsektor nachgelagerten Produktionsstätten, wie Bioraffinerien, zu erfassen. Die Vielfalt der vorhandenen Modellansätze äußert sich nicht nur in den unterschiedlichen Modelltypen, sondern auch in den unterschiedlichen geographischen Systemgrenzen, die von Baden-Württemberg bis zur Europäischen Union (EU) reichen. Die Berücksichtigung von unterschiedlichen geographischen Systemgrenzen in den Modellen trägt der Einbindung der baden-württembergischen Wirtschaft in den nationalen und internationalen Austausch von Waren und Dienstleistungen Rechnung. Die Zusammenführung der unterschiedlichen Ansätze erfolgt zum einen durch die Entwicklung von gemeinsamen Szenarien, die die unterschiedlichen geographischen Systemgrenzen, das heißt Baden-Württemberg, Deutschland und die EU explizit berücksichtigen. Zum anderen werden zur Berechnung der Szenarien die unterschiedlichen Modelle miteinander gekoppelt. Die Kopplung der Modelle erfolgt mit sogenannten „soft links“, das heißt die Modellergebnisse des einen Modells, beispielsweise des Agrarsektormodells ESIM (European Simulation Model), werden als Modellinput in anderen Modellen eingesetzt, beispielsweise dem landwirtschaftlichen Angebotsmodell EFEM (Economic Farm Emission Model). Diese Modellkopplung erfolgt operativ über mehrere iterative Abstimmungsprozesse (Petig et al. 2019). Der Beitrag ist folgendermaßen aufgebaut. Die Skizzierung der Szenarien und die Identifikation der für die Szenarien notwendigen Kenngrößen erfolgt in Abschn. 8.2. Der Fokus von Abschn. 8.3 liegt auf der Darstellung der Kopplung der Modelle zur Abbildung von integrativen Modellierungsszenarien sowie
1In
Baden-Württemberg hat die Landesregierung das Forschungsprogramm Bioökonomie Baden-Württemberg initiiert, aus dem das übergreifende Kompetenznetzwerk Modellierung hervorgegangen ist (vgl. https://biooekonomie-bw.uni-hohenheim.de).
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der für diesen Beitrag relevanten Modelle. In Abschn. 8.4 werden ausgewählte Ergebnisse präsentiert, die sich zunächst auf den europäischen Agrarsektor beziehen (Abschn. 8.4.1). Daran schließt sich eine vertiefte Analyse des europäischen und des inländischen Bioenergiesektors (Abschn. 8.4.2) und der baden-württembergischen Landwirtschaft an (Abschn. 8.4.3). Den Abschluss von Abschn. 8.4 bildet eine Analyse ausgewählter Umweltwirkungen der analysierten Transformationspfade (Abschn. 8.4.4). Abschn. 8.5 fasst die zentralen Erkenntnisse für eine mögliche Transformation zu einer Bioökonomie zusammen.
8.2 Konzeption von bioökonomischen Transformationspfaden Ausgangspunkt der Analysen möglicher Transformationspfade zu einer Bioökonomie bilden vier Szenarien. Für alle vier Szenarien wird unterstellt, dass die Klimaschutz- und Energiepolitiken des Landes Baden-Württemberg, Deutschlands und der EU umgesetzt werden. Diese sehen eine signifikante Verminderung der Treibhausgasemissionen bis zum Jahr 2050 sowie Zielwerte für den Anteil von erneuerbaren Energien an der Gesamtbereitstellung von Energie vor (s. Tab. 8.1). Hierbei ist zu beachten, dass sich das Land Baden-Württemberg von der nationalen Politik abweichende, insgesamt ambitioniertere, Ziele gesetzt hat. Für die Szenarienberechnungen wird als klimapolitisches Ziel für Deutschland eine Reduktion der Treibhausgasemissionen um 80 % bis zum Jahr 2050 gegenüber dem Jahr 1990 angenommen. Das Basisjahr für alle Szenarien bildet das Jahr 2010; als Zieljahre gelten die Jahre 2030 und 2050. Die vier Szenarien unterscheiden sich nach Art und Umfang der Biomassenutzung. Es werden die drei Nutzungstypen stoffliche und energetische Nutzung sowie Nahrungs- und Futtermittelnutzung unterschieden. Das Szenario Business as Usual (BAU) unterstellt eine Weiterführung bestehender Klimaschutz- und Energiepolitiken. Diese sehen als wesentliches Instrument eine Dekarbonisierung des Energiesystems vor, auch unter Nutzung biogener Ressourcen beispielsweise im Verkehrssektor. Die stoffliche Nutzung von Biomasse in der traditionellen Holz- und Papierindustrie bleibt unverändert. Innovative biogene Produkte2 können sich mit wenigen Ausnahmen,
2Innovative
biogene Produkte umfassen diejenigen Produkte, die mit Hilfe von chemischen Verfahren produziert werden. Dazu gehören Tenside aber auch biogene Kunststoffe wie Polyactide (PLA) (Fachagentur Nachwachsende Rohstoffe 2014).
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Tab. 8.1 Überblick über Ziele der Klimaschutz- und Energiepolitik in BadenWürttemberg, Deutschland und EU Politikfeld
Baden-Württemberg
Treibhausgasreduktionziele −90 % Veränderungen zwischen 1990 und 2050, in %
Deutschland
EU
−80–95 %
−80–95 %
Anteil erneuerbarer Energien an der Stromgestehung in 2050 in %
keine Vorgabe
80 %
80 %
Anteil erneuerbarer Energien an Brutto- und Nutzenergie in 2050 in %
80 %
60 %
60 %
Biogasbasierte Stromgestehung zugesicherte Vergütunga
Anlagegröße