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German Pages 114 [116] Year 1960
WOLFGANG MÜLLER-LAUTER
MÖGLICHKEIT UND WIRKLICHKEIT BEI MARTIN HEIDEGGER
WALTER D E G R U Y T E R & C O . / B E R L I N W 3 5 V O R M A L S G. J. GÖSCHEN'SCHE V E R L A G S H A N D L U N G — J. G U T T E N T A G , V E R L A G S B U C H H A N D L U N G — GEORG R E I M E R — K A R L J. T R Ü B N E R — V E I T & COMP.
1960
Ardliv-Nr. 34 95 60 Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Spradien vorbehalten. Ohne die ausdrüddidie Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet» dieses Buch, oder Teile daraus, auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. ©
1960 by Walter de Gruyter & Co., Berlin W 35 (Printed in Germany) Satz und Drude : Thormann & Goetsch, Berlin
D 188
FÜR ERIKA MÜLLER-LAUTER
Vorwort Die Vielzahl der VeröfFentlidiungen über Martin Heidegger läßt sidi kaum noch überblidcen. Gleichwohl stehen Analyse und Diskussion der tragenden Begriffe seines Denkens noch weithin aus. Einen Beitrag dazu wollen die hier vorgelegten Untersuchungen leisten. In ihnen wird der Begriff der Möglichkeit ins Thema gerückt, weil seine Erörterung in besonderem Maße geeignet ist, die Grundproblematik des Heideggerschen Denkens aufzuhellen. Hierbei verbietet sich freilich eine isolierte Darstellung und Erörterung des Möglichkeitsbegriffes. Was August Faust in seiner historischen Monographie dieses Begriffes schreibt, gilt auch, und in vorzüglicher Weise, für Heidegger: „Der Möglichkeitsbegriff gewinnt . . . im allgemeinen erst dann eine grundlegende Bedeutung für das Philosophieren, wenn er zum mindesten mit einem Begriff der Wirklichkeit oder der Notwendigkeit irgendwie ins Einvernehmen gesetzt worden ist" (MG 1 ). Grundlegend für Heidegger ist die eigentümliche Vorzugsstellung, die er dem Begriff der Möglidikeit gegenüber dem der Wirklichkeit einräumt. Ihr gilt — in Darstellung und Kritik — die hier vorgelegte Untersuchung. Mein ganz besonderer Dank gebührt meinem philosophischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Wilhelm Weischedel, dessen Anregungen und Kritik das Entstehen dieser Untersuchung geleitet und begleitet haben und der mir darüber hinaus in schwierigen persönlichen Situationen, insbesondere in der Zeit langwieriger Krankheit, mit Rat und Hilfe beigestanden hat. Für solche Hilfe und für finanzielle Unterstützung, ohne die ich diese Untersuchung nicht so bald hätte abschließen können, schulde ich weiter der Studienstiftung des Deutschen Volkes, Frau Ursula Küpper, München, und Herrn Dipl.-Ing. Ulridi Knick, Berlin, persönlichen Dank. Mein Dank gilt schließlich dem Verlag Walter de Gruyter, der sich der Veröffentlidiung dieser Untersuchung in großzügiger Weise angenommen hat. Berlin, im Dezember 1959 Wolfgang Müller-Lauter
Inhaltsverzeichnis Seite Einleitung
1
Erster Abschnitt: Entfaltung eines zureidienden Horizontes für Analyse des Heideggerschen Möglidikeitsbegriffes
die 4
§ 1. Die Bedeutung der Möglidikeit als Existenzial innerhalb der Fundamentalanalyse des Daseins
4
§ 2. Die Notwendigkeit der Entfaltung der vollen Strukturganzheit Daseins für die Frage nadi der existenzialen Möglichkeit
6
des
§ 3. Das Verstehen a) D e r Entwurfscharakter des Verstehens b) D i e Ganzheit des Verstehens c) Die Vor-Struktur des Verstehens d) Die Auslegung und der Zirkel des Verstehens e) Das Sein als das im primären Entwurf Verstandene
7 7 7 8 9 10
§ 4. Die Befindlidikeit a) D e r Ersdiließungsdiarakter der Stimmungen b) Entwurf und Geworfenheit
11 11 12
§ 5. Die Rede
13
§ 6. Das Verfallen
14
§ 7. Sorge und Zeitlichkeit
15
Zweiter Abschnitt: des Daseins
Der T o d als ursprüngliche und reine Möglitiikeit 17
§ 8. Abgrenzung und Vorrang der existenzialen Möglidikeit gegenüber den kategorialen Möglidikeitsbegrifien § 9. D e r T o d als Grenze und der T o d als Ende
VI
17 18
§ 10. Die Ganzheit des Daseins und das Sein des Todes
19
§ 11. Sterben, Ableben, Verenden
21
§ 12. Der Möglichkeitsdiarakter des Todes
22
§ 13. Die Möglichkeit des Todes als die Ur-Möglichkeit des Daseins
24
§ 14. Endlichkeit und eigentliche Sorge
26
§ 15. Die Ekstasen der Zeitlichkeit und die Modalitäten
27
§ 16. Die Ur-Möglichkeit als reine Möglichkeit
31
§ 17. D i e Jemeinigkeit des Todes
34
§ 18. Verschärfte Analyse des Ablebens
37
§ 19. Verschärfte Analyse des ursprünglichen Begriffs des T o d e s : die U n b e stimmtheit des Wann
39
§ 2 0 . Un-Möglichkeit und Wirklichkeit
43
§ 2 1 . D i e Un-Möglichkeit als Voraussetzung
46
§ 22. Die endliche Zeitlidikeit und ihre un-endliche Voraussetzung
48
Seite Dritter
Abschnitt:
Zeitlidikeit und Modalität des Existentials der Rede
54
S 23. Die problematische Stellung des Redeexistenzials innerhalb der Strukturanalysen von ,Sein und Zeit' § 24. Zeitlichkeit und Räumlichkeit der Spradie §25. Das Artikulieren der Sprache
54 57 61
§ 26. Der Rufcharakter des Gewissens. Artikulation und Fest-stellung
62
§ 27. Wirklichkeit und Rede
64
V i e r t e r A b s c h n i t t : Modalität und Zeitlidikeit des Seins beim nichtdaseinsmäßigen Seienden und des Verfallens an das Man
67
§ 28. Das Sein zum Tode und die faktisch erschließbaren Möglichkeiten der Existenz § 29. Die Indifferenz des besorgenden Seins b e i . . hinsichtlich von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit
68
§ 30. Verschärfte Analyse des Verfallens § 31. Zeitlidikeit und Modalität des Verfallens an das Man
70 74
§ 32. Zeitlichkeit und Modalität des Aufgehens beim Seienden § 33. Zuhandenheit und Vorhandenheit
76 78
Fünfter Abschnitt: Verhaltens des Daseins
67
Zeitlichkeit und Modalität des wissenschaftlichen 84
§ 34. Die Zeitlichkeit des wissenschaftlichen Verhaltens des Daseins
84
§ 35. Wissensdiaft und Wirklichkeit
86
Sechster
Abschnitt:
Modalität des Seins des Kunstwerkes
89
§ 36. Die konstitutive Bedeutung der Modalität der Wirklichkeit f ü r das Sein des Kunstwerkes § 37. Die Voraus-setzung des Seins des Kunstwerkes § 38. Das Kunstwerk als das Eröffnende von Welt § 39. Heideggers und Weischedels Deutung der Kunst. Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit des Kunstwerkes Offene Fragen
der Untersuchung
Bibliographische
Anmerkung
89 91 94
98 104 106
VII
Einleitung Am Beginn seiner Untersuchungen in ,Sein und Zeit', anläßlidi der Darlegung des „Vorbegrifies der Phänomenologie", sdireibt Heidegger: „Höher als die Wirklichkeit steht die Möglichkeit" (SuZ 38). Im Zusammenhang des Textes scheint dieser Satz nur methodologische Bedeutung zu haben, insofern er den Charakter der Phänomenologie kennzeichnet, deren Verständnis „einzig im Ergreifen ihrer als Möglichkeit" liege und die nicht darauf ziele, „als philosophische .Richtung' wirklich zu sein" (SuZ 38). Aber der hier ausgesprochene Vorrang des Möglichen vor dem Wirklichen enthüllt sich darüber hinaus schon bald als ein Grundmotiv, das das Denken Heideggers maßgebend bestimmt und trägt. So spielt für die in ,Sein und Zeit' vorgelegte Fundamentalanalyse des Daseins der existenziale Begriff der Möglichkeit die entscheidende Rolle: „Die Möglichkeit als Existenzial . . . ist die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins" (SuZ 143 f.). Die Begründung für diesen Satz gibt eben diese Fundamentalanalyse im schrittweisen Vordringen von der ersten vorbereitenden Herausstellung der Grundverfassung des Daseins als In-derWelt-sein über die Analysen der Erschlossenheit, deren Strukturen (Verstehen, Befindlichkeit, Rede und Verfallen) in die Strukturganzheit der Sorge, des Seins des Daseins, überführt werden, bis zum Aufweis der Zeitlichkeit als des Sinnes der Sorge. Auf der Basis des Vorranges der Möglichkeit, die alle diese Analysen trägt, arbeitet Heidegger schließlich den Vorrang der Zukunft in der ,ursprünglichen Zeit', der eigentlichen Zeitlichkeit des Daseins, heraus. Der Vorrang der Möglichkeit vor der Wirklichkeit behält seine grundlegende Bedeutung auch in den späteren Veröffentlichungen Heideggers, ob er sie nun unausdrücklich leitet oder ob er ausdrücklich herausgestellt wird'· Schließlich wird, aus der gewandelten Blickrichtung der ,Kehre' her, das Sein selbst als das ,Mög-liche' bestimmt (P-H 57). Davon soll aber erst bei Gelegenheit einer sich an das hier Vorgelegte anschließenden weiteren Untersuchung des Verfassers die Rede sein (vgl. S. 104 f.). Hier wird zunächst die die späteren Darlegungen Heideggers vorbereitende — über diese freilich auch schon vor^ „,Höher als die Wirklidikelt steht die Möglichkeit': dieser Grundsatz durchzieht Heideggers Werk von Anfang bis zu Ende" (E 85), schreibt Christian Graf v o n K r o c k o w zutreffend. ^ Zur ausdrücklichen Erörterung des Vorranges der Möglichkeit im späteren Werk Heideggers vgl. insbes. E H 106 ff., W D 1-5, P - H 56-58. 1 1
Müller-Lauter, Möglidikeil u n d Wirklidikeit
entscheidende — Ausarbeitung des existenzialen Möglichkeitsbegriffes, wie sie im Zusammenhang der fundamentalontologisdien Analyse des Daseins erfolgt, in den Blick genommen werden, wobei allerdings auch Erörterungen des späteren Heidegger in die Untersuchungen einbezogen werden (vgl. insbes. den 5. und 6. Abschnitt). In ihnen soll nun nidit gefragt werden, inwieweit der existenziale Möglichkeitsbegrifi etwa Aristoteles oder Kierkegaard verpflichtet ist oder ob etwa die Vorzugsstellung der Möglichkeit vor der Wirklichkeit eine typische Ersdieinung romantischer Geisteshaltung darstellt (vgl. hierzu v o n K r o c k o w s Ausführungen in E, insbes. 82—86). Solche und ähnliche geistesgeschichtlich orientierten Fragen sollen beiseite gelassen werden'. Hier geht es allein um die Rechtmäßigkeit der Behauptung jenes Vorranges durdi Heidegger. Nadi dieser soll in der Weise immanenter Kritik gefragt werden. Das besagt, daß nicht beabsichtigt ist, an das Heideggersche Denken irgendwelche diesem fremde Maßstäbe anzulegen. Es soll im folgenden aus ihm selbst heraus verstanden und von seinen eigenen Fundamenten her kritisch betrachtet werden. Hierbei wird zu zeigen sein, daß Heidegger, in dem Bemühen, der Möglichkeit bzw. der Zukunft den ontologischen Vorrang innerhalb der ,Modalitäten' bzw. innerhalb der Ekstasen der Zeitlichkeit einzuräumen, bei der Interpretation existenzialer Phänomene die konstitutive Bedeutung der Wirklichkeit und ihres zeitlichen ,Sinnes', der Gegenwart, in einer Weise unberücksichtigt läßt oder abdrängt, die den seinem eigenen Ansatz zugrunde liegenden Voraussetzungen nicht gerecht zu werden vermag. Mit besonderer Deutlichkeit wird dies bei der Erörterung von Zeitlichkeit und Modalität des Verfallens an das Man (§ 31), sowie anläßlich der Fragen nach der Zeitlichkeit der Rede und nach dem ,Ort' dieses ursprünglichen Existenzials innerhalb der Strukturganzheit der Sorge (vgl. §§ 23—27) zutage treten. In diesen und in den anderen Analysen der Abschnitte 3—6 erfährt das Ergebnis der Überlegungen des 2. Abschnittes, in welchen die Ur-Möglichkeit des Daseins, das Sein zum Tode, als ontologisch in der totalen Wirklichkeit gründend aufgewiesen wird und die zur Umkehrung der These vom Vorrang der Möglichkeit vor der Wirklidikeit führen, seine Bestätigung und seine weitere Ausarbeitung. Im Versuch des Vorstoßens zu den erwähnten Voraussetzungen dringt nun diese Untersuchung immer wieder über das von Heidegger Aufgezeigte hinaus. Wird damit nidit die Methode der immanenten Kritik aufgegeben? Keineswegs. Denn dieses Hinausdringen über Heidegger ist recht besehen nichts anderes als ein radikaleres Eindringen in Heidegger. Wenn hier die totale Wirklichkeit als die primäre ontologische Bestimmung herausgearbeitet wird, so gerät nur in den Blick, worauf als auf das ursprüngliche Konstituens des Daseins Heideggers Fundamentalanalyse zuläuft, zu dem sie freilich nidit vordringt. Immanente ® Die Dringlichkeit solcher Fragen wird damit so wenig bestritten, daß der Verfasser zu ihrer Vorbereitung einiges beizutragen glaubt.
Kritik in dem hier verstandenen weiten Sinne ist es audi durchaus noch, wenn Untersuchungen Wilhelm W e i s c h e d e l s zur Metaphysik der Kunst in die Überlegungen zum Sein des Kunstwerkes (6. Abschnitt) einbezogen werden; geschieht dies doch lediglich insoweit, als es der Sichtbarmachung des bei Heidegger im Verborgenen bleibenden Ursprungs der ontologischen Genesis des Daseins dient.
Erster
Abschnitt
Entfaltung eines zureichenden Horizontes für die Analyse des Heideggersdien Möglidikeitsbegrifies § 1. Die Bedeutung der Möglichkeit als Existenzial innerhalb der F u n d a m e n t a l a n a l y s e des Daseins Aus der Struktur der die Untersudiungen in ,Sein und Zeit' leitenden Frage nadi dem Sinn von Sein erwädist die Notwendigkeit — „da Sein besagt Sein von Seiendem" (SuZ 6), und Seiendes sich in mannigfadier Weise findet —, ein bestimmtes Seiendes als das primär zu befragende auszuwählen. Hierbei stößt Heidegger auf den „ontisch-ontologisdien Vorrang" (SuZ 14) des Seienden, „das wir selbst je sind" (SuZ 7), vor anderem Seienden. Der Vorrang des Daseins, wie dieses Seiende von nun an genannt wird, ist ein dreifacher: erstens geht es „diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst" (SuZ 12), d. h. es ist durch Existenz ausgezeidinet. Zweitens hat das Dasein ein bestimmtes Verständnis des Seins, um das es ihm geht, sei dies auch noch so vage. Und in eins damit hat es drittens immer audi ein Verständnis „des Seins alles nicht daseinsmäßigen Seienden" (SuZ 13). Dem im weiteren unternommenen Versudi Heideggers, die wesenhaflen Strukturen des Daseins herauszuarbeiten, stellt sidi nun eine besonders geartete Sdiwierigkeit in den Weg. Das sich auf sidi selbst hin befragende Dasein muß sich nämlich gegen eine « Tendenz" seiner selbst durchsetzen, „das eigene Sein aus dem Seienden her zu verstehen, zu dem es sidi wesenhafl ständig und zunächst verhält, aus der ,Welt'" (SuZ 15). Diese „ontologische Rückstrahlung des Weltverständnisses auf die Daseinsauslegung" (SuZ 16) verführt dazu, das Dasein als ein Vorhandenes anzusetzen, dem bestimmte Eigenschaften zugerechnet werden können. Heidegger will nun „das Sein dieses Seienden gegen seine eigene Verdeckungstendenz" (SuZ 311) gewinnen. Er betrachtet es als eine der wesentlichen Aufgaben der existenzialen Analytik, „zu erweisen, daß der Ansatz eines zunächst gegebenen Ich und Subjekts den phänomenalen Bestand des Daseins von Grund aus verfehlt" (SuZ 46). In einer „prohibitiven Charakteristik" (SuZ 45 ff.) wird eine solche, dem Schema Substanz — Akzidenz verpflichtete Voraussetzung als Ausgangspunkt für die Daseinsanalytik abgelehnt. Aber auch ein Versuch wie der Max S c h e l e r s , das Sein der ,Person' ausdrücklich als nichtdinglich, als nichtsubstanziell zu begreifen, erweist sich als Grundlage für sie als unzureichend. Zwar ergibt sidi im Negativen, in der Abwehr des Substanz-
begrifíes, Übereinstimmung. Unbeantwortet jedoch, so findet Heidegger, bleibt die entscheidende Frage, die an den Personalismus gerichtet werden muß: „wie ist positiv ontologisdi die Seinsart der Person zu bestimmen?" (SuZ 48). Von der Folie einer solchen prohibitiven Charakteristik hebt sich der positive Ertrag von Heideggers ,Fundamentalanalyse des Daseins' deutlich ab. In ihr und für sie, so kann vorgreifend gesagt werden, spielt der existenziale Begriff der Möglichkeit eine ähnlich zentrale und konstitutive Rolle wie der Begriff der Substanz in der traditionellen Dingauslegung. So sagt Heidegger selbst öfters: „Die Substanz des Menschen ist die Existenz" (SuZ 212, 314, P - H 74; vgl. auch SuZ 117,42). Existieren aber heißt, im Sinne Heideggers formuliert: sich in Möglichkeiten halten (vgl. insbes. SuZ 12, 42 f.). Und wenn Heidegger die ontologischen Strukturen des Daseins als ,Existenzialien' und ihren Zusammenhang als ,Existenzialität' bestimmt, so findet in dieser Begriffsgebung die bevorzugte Stellung der Möglichkeit in der Daseinsanalytik einen ersten Niedersdilag. Schon in der ersten Vorzeichnung der Struktur des Daseins (SuZ 41 ff.) wird die Bedeutung der ,existenzialen Möglichkeit' herausgestellt, wobei wieder das mögliche Mißverständnis einer Orientierung am Sdiema von Vorhandenheit abgewehrt wird: „Dasein ist je seine Möglichkeit und es ,hat' sie nicht nur noch eigenschafllidi als ein Vorhandenes" (SuZ 42). Aber wie ist dieser Möglichkeitscharakter des Daseins schärfer zu fassen? Den ersten Hinweis hierfür gibt Heidegger ebenfalls am Anfang der Daseinsanalytik: „Das Dasein bestimmt sich als Seiendes je aus einer Möglichkeit, die es ist und in seinem Sein irgendwie versteht. Das ist der formale Sinn der Existenzverfassung des Daseins" (SuZ 43). Das hier scheinbar nur beiläufig hinzugefügte Verstehen der Möglichkeit erweist sich im Fortgang der Untersuchungen in ,Sein und Zeit' als der Horizont, innerhalb dessen Heidegger die Problematik der existenzialen Möglichkeit überhaupt erörtern kann. So rückt diese erst wieder anläßlich der Darlegung des Verstehens (SuZ § 31, 142 — 148) ausdrüciilich ins Thema, obgleich sie auch sciion die vorangegangenen Analysen durchschwingt. Hier wird die Möglichkeit als Existenzial — die von der „modalen Kategorie der Vorhandenheit" streng geschieden wird (vgl. SuZ 143); zur Seinsart des Daseins gehört „das Möglichsein in eigener Weise" (SuZ 248) — als „die ursprünglichste und letzte positive ontologische Bestimmtheit des Daseins" (SuZ 143 f.) herausgestellt. Mit deren Ausarbeitung wäre demnach der Mangel der „ontologischen Unbestimmtheit" (SuZ 48), der Heidegger zufolge dem Schelerschen Personbegriff anhaftet, zu überwinden. Auf die Schwierigkeiten, die einem solchen Vorhaben entgegenstehen, weist Heidegger hin, wenn er dem eben zitierten Satz hinzufügt: „. . . zunächst kann sie" (seil, die Möglichkeit als Existenzial) „wie Existenzialität überhaupt lediglich als Problem vorbereitet werden. Den phänomenalen Boden, sie überhaupt zu sehen, bietet das Verstehen als erschließendes Seinkönnen" (SuZ 144). Dem in diesem Satze liegenden Hinweis soll gefolgt und die Frage nadi dem Verstehen gestellt werden.
§ 2. Die Notwendigkeit der Entfaltung der vollen Strukturganzheit des Daseins für die Frage nach der existenzialen Möglichkeit Nun zeigt sidi jedodi, daß mit dem Verstehen kein ausgrenzbarer Bezirk gegeben ist, auf den sidi die Untersudiung besdiränken könnte. Es handelt sich bei Heideggers Verstehensanalysen nidit um die Anwendung einer Methodik geisteswissensdiafllicher Forsdiung etwa im Sinne D i l t h e y s, die man dem Erklären als Erkenntnisart der Naturwissensdiaften gegenüberstellen könnte. Beide sind vielmehr — wie „jedes Erkennen im Sinne des thematisdien Erfassens" (SuZ 336) oder wie etwa audi das Phänomen der Einfühlung (vgl. SuZ 124 f.) als vermeintlidi ursprünglidie Eröffnung eines verstehensmäßigen Zugangs zum anderen Mensdien — im primären Verstehen fundiert, um dessen Ausarbeitung es Heidegger geht. Dieses Verstehen ist „ein Grundmoment des Existierens überhaupt" (K 210) und konstituiert als soldies gleidiursprünglidi mit Befindlichkeit, Rede und Verfallen die Erschlossenheit des Daseins, die einer Ausarbeitung des In-der-Welt-seins erwädist. Verstehen, Befindlichkeit, Rede und Verfallen stellen nun nidit Elemente dar, aus denen die Erschlossenheit zusammengesetzt wäre. Vielmehr ist z. B. Verstehen immer gestimmt und Befindlichkeit verstehend. Was Heidegger von den Verfassungsmomenten des In-der-Welt-seins sagt, gilt auch von denen der Erschlossenheit: „Jede Hebung des einen dieser Verfassungsmomente bedeutet die Mithebung der anderen, das sagt: jeweilig des ganzen Phänomens" (SuZ 53). Für die Problematik des Verstehens bedeutet das, daß zugleich mit ihrer Ausarbeitung notwendig die volle Struktur der Ersdilossenheit ins Lidit rücken muß. Aber mit dieser Ausweitung des Themas ist es nodi nicht genug. Die Erörterung der Erschlossenheit nämlich hat im Rahmen der Fundamentalanalyse des Daseins weitgehend eine nur vorbereitende Bedeutung. Das in ihr Gewonnene wird in die Strukturganzheit der Sorge überführt. So taucht das in den Verstehensanalysen herausgearbeitete und als ,Entwurf' charakterisierte ,Seinkönnen' in der Sorge als das Moment des ,Sich-vorweg' auf. Als der Seinssinn der Sorge enthüllt sich schließlich die Zeitlichkeit. In den geschilderten Phasen wird immer dieselbe Strukturganzheit — die des Daseins — in den Blick genommen und in jeweils verschiedener Hinsicht entfaltet. Damit erweitert und differenziert sich im Fortschreiten der Analysen Heideggers ständig der Horizont, der sidi hier im Blick auf das Phänomen des Verstehens öffnet. Aber gerade auf den Gewinn des vollen Horizontes, auf „die phänomenale Vielfältigkeit der Verfassung des Strukturganzen" (SuZ 180) muß es einer Untersuchung ankommen, die ein so fundamentales Prinzip, wie es die Möglichkeit für das Denken Heideggers darstellt, in den Griff bekommen will. Sie kann sich deshalb nidit damit begnügen, nur die Struktur des Verstehens herauszuarbeiten, sondern sie muß versuchen, sich die Strukturganzheit in ihrem vollen Gehalt durchsiditig zu machen. Gleichwohl soll im folgenden von jener ausgegangen werden.
§ 3. Das Verstehen a) D e r E n t w u r f s c h a r a k t e r d e s
Verstehens
Zum Zwecke einer ersten Kennzeichnung des existenzialen Verstehens verweist Heidegger auf „den Ausdruck ,etwas verstehen' in der Bedeutung von ,einer Sache vorstehen können', ,ihr gewachsen sein', ,etwas können'" (SuZ 143). Insofern das im primären Verstehen Gekonnte „kein Was, sondern das Sein als Existieren" (SuZ 143) ist, kann dieses Verstehen als ein „Seinkönnen" (SuZ 143) begriffen werden. „Verstehend ist das Dasein je, wie es sein kann" (SuZ 336). Die schon in diesem ,Können'-Charakter zutage tretende Möglichkeitsproblematik wird noch verschärft durdi die Bestimmung des Verstehens als Entwurf. Daß das Verstehen entwerfend ist, heißt: es „dringt. . . nach allen wesenhaften Dimensionen des in ihm Erschließbaren immer in die Möglichkeiten" (SuZ 145). Die Möglichkeiten sind es, „woraufhin es entwirft" (SuZ 145). „Das Entwerfen erschließt Möglichkeiten" (SuZ 324). Die Frage nach der Möglichkeit kann hier noch nicht voll entfaltet werden. Von der formalen Allgemeinheit, die der existenziale Möglichkeitsbegriff im Zuge einer ersten Vorzeichnung erhält, wird abzugehen sein. Wie sich nodi zeigen wird, ist er überhaupt nicht in abstrahierender oder generalisierender Weise zureichend zu erörtern. Es wird bei seiner Ausarbeitung vielmehr darauf ankommen, den ontologisdien Ursprung des Möglichseins des Daseins aufzuzeigen und von ihm her ein Verständnis dafür zu gewinnen, inwiefern das Dasein primär Möglichkeit ist. Für die nächsten Schritte jedoch genügt die gegebene flüchtige Skizzierung. Festgehalten werden muß zunächst nur, daß Möglichkeit bei Heidegger ihren ontologischen Ort im Verstehen hat. Möglichkeit ist das im Verstehen Entworfene und nur das. Es gilt nun, das entwerfende Verstehen hinsichtlidi der für es konstitutiven Strukturen zu enthüllen. b) D i e G a n z h e i t
des
Verstehens
Worauf sich das primäre Verstehen entwirft, das ist kein bestimmtes ,Was', weder ein einzelnes Seiendes, noch ein Bereich von Seienden, sondern das Ganze des In-der-Welt-seins^. Wie ist die Ganzheit dieses Ganzen zu begreifen? Oder, um schärfer zu fragen, da diese Ganzheit sich in der Stimmung anders repräsentiert als im Verstehen: Wie enthüllt sich die Ganzheit des In-der-Welt-seins im entwerfenden Verstehen? Das Verstehen „entwirft das Sein des Daseins auf sein Worumwillen ebenso ursprünglich wie auf die Bedeutsamkeit als die Weltlidikeit seiner jeweiligen Welt" (SuZ 145). Dies besagt nun nicht, daß der eine Entwurf sich auf Worumwillen und Bedeutsamkeit der Welt als auf zwei voneinander geschiedene Bereidie erstreckt. Vielmehr ist „in jedem Verstehen von Welt . . . Existenz mit^ „Das Verstehen betrifft als die Ersdilossenheit des D a immer das Ganze des In-der-Welt-seins" (SuZ 152).
verstanden und umgekehrt" (SuZ 152). Worumwillen und Bedeutsamkeit sind wesenhaft als ganzheitlicher Zusammenhang entworfen, oder, wie Heidegger sagt, die Bedeutsamkeit erweist sich „als verklammert mit dem, worauf sich das wesenhaft zur Ersdilossenheit gehörige Verstehen entwirft, mit dem Seinkönnen des Daseins, worumwillen es existiert" (SuZ 334). Diese Verklammerung nun ist „der phänomenale Ausdruck der ursprünglich ganzen Verfassung des Daseins" (SuZ 192). So zeigt sich die im Verstehen entworfene Ganzheit des In-der-Welt-seins als Einheit von Worumwillen und Bedeutsamkeit. Diese Ganzheit ist nun unaufhebbar. Zwar kann sich das Verstehen „primär in die Erschlossenheit der Welt legen, das heißt, das Dasein kann sidi zunächst und zumeist aus seiner Welt her verstehen. Oder aber das Verstehen wirft sich primär in das Worumwillen, das heißt, das Dasein existiert als es selbst" (SuZ 146). Das jeweilige „Sichverlegen in eine dieser Grundmöglichkeiten des Verstehens legt aber die andere nidit ab", sondern stellt „eine existenziale Modifikation des Entwurfs als ganzen" (SuZ 146) dar. Bleibt noch zu fragen, was denn jenen Zusammenhang zwisdien Worumwillen und Bedeutsamkeit stiftet. Heidegger weist darauf hin, daß „die Verklammerung des Verweisungsganzen, der mannigfaltigen Bezüge des ,Um-zu', mit dem, worum es dem Dasein geht, . . . kein Zusammenschweißen einer vorhandenen ,Welt' von Objekten mit einem Subjekt" (SuZ 192) bedeutet. Vielmehr ist „das Verweisungsganze der Bedeutsamkeit . . . ,festgemadit' in einem Worum-willen" (SuZ 192). Das heißt aber: Vom Worumwillen her bestimmt sich die jeweilige Bedeutsamkeit der Welt. „Das Verstehen der Bedeutsamkeit als Erschlossenheit der jeweiligen Welt gründet . . . im Verstehen des Worumwillen, darauf alles Entdecken der Bewandtnisganzheit zurückgeht" (SuZ 297). „Der Verweisungszusammenhang der Bedeutsamkeit ist festgemacht im Sein des Daseins zu seinem eigensten Sein, damit es wesenhaft keine Bewandnis haben kann, das vielmehr das Sein ist, worumwillen das Dasein selbst ist, wie es ist" (SuZ 123). Das Sein des Daseins zu seinem eigensten Sein ist das ,äußerste' Worumwillen. Es kann erst im zweiten Abschnitt dieser Untersuchung erörtert werden. Für ein erstes Verständnis des von Heidegger mit dem Worumwillen Gemeinten genügt es, auf die freilich nicht ursprünglichen Umwillen zu verweisen, von denen her sich das Dasein in seiner Alltäglichkeit versteht: „Das Umwillen des Unterkommens, des Unterhalts, des Fortkommens sind nädiste und ständige Möglichkeiten des Daseins, auf die sich dieses Seiende, dem es um sein Sein geht, je schon entworfen hat" (SuZ 297). Weil das Verstehen des In-der-Welt-seins als eines Ganzen durch den Primat des Worumwillen ausgezeichnet ist, kann Heidegger sügcn I )) Ursprünglidi existenzial gefaßt, besagt Verstehen: entwerfend-sein zu einem Seinkönnen, worumwillen je das Dasein existiert" (SuZ 336). c) D i e V o r - S t r u k t u r
des
Verstehens
Das entwerfende Verstehen ist nun nichts, was das Dasein nur gelegentlich vollzieht, es hat auch „nichts zu tun mit einem ausgedachten Plan, gemäß dem 8
das Dasein sein Sein einrichtet, sondern als Dasein hat es sidi schon entworfen und ist, solange es ist, entwerfend" (SuZ 145). Darin liegt, daß das Dasein „wesenhaft Verstehen" (SuZ 144) ist. „Wesenhaft ihm selbst vorweg, hat es sich vor aller bloßen und nachträglichen Betrachtung seiner selbst auf sein Seinkönnen entworfen" (SuZ 406). Dieser primäre Entwurf liegt auch vor allem Planen, vor jedem konkreten Verhalten, vor jeder ausdrücklichen Thematisierung. Das ,Vor' hat, wie Heidegger noch in den frühen Veröffentlichungen sagt, den Charakter des Apriori. Für die schärfere Bestimmung der „Vor-Struktur des Verstehens" (SuZ 151) ist freilich noch nidit viel getan, „wenn man formal ,apriori' sagt" (SuZ 150). Eine solche Bestimmung legt sogar Mißverständnisse nahe. So muß beachtet werden, daß Apriorität für Heidegger „nicht so etwas wie vorgängige Zugehörigkeit zu einem zunächst noch weltlosen Subjekt" (SuZ I I I ) bedeutet. Mit einer solchen Auffassung würde „gerade das Apriori des nur ,tatsächlichen' Subjekts, des Daseins, verfehlt" (SuZ 229). Das ,Vor' ist auch nichts Überzeitliches. Freilich, „das ,Vor' meint nicht das ,Vorher' im Sinne des ,Noch-nicht-jetzt — aber später'" (SuZ 327): das Apriori hat nichts zu tun „mit der Zeit, die das vulgäre Zeitverständnis kennt" (K 217). Mit einer solchen Feststellung ist jedoch sein „Zeitcharakter" nicht „beseitigt", er stellt sich vielmehr „als verschärftes Problem" (K 217). Dem ist hier jedoch noch nicht nachzugehen. Zunächst gilt es, das „vorgreifend-umgreifende Verstehen" (WG 34), das sich in den bisherigen Analysen enthüllt hat, deutlicher herauszustellen. Dies soll in der folgenden Darstellung des Phänomens der Auslegung geschehen. d) D i e A u s l e g u n g
und
der Z i r k e l
des
Verstehens
Unter ,Auslegung' begreift Heidegger nicht nur und nicht primär die Interpretation, etwa von Texten. Sie hat ihren Ort auch nidit erst in der Aussage. Diese ist vielmehr nur „ein extremes Derivat der Auslegung" (SuZ 160).,Früher' als in ihr geschieht Auslegung im alltäglichen Umgang mit Zuhandenem. Ein verwendetes Werkzeug erweist sich beispielsweise als ungeeignet. In diesem Falle liegt „der ursprüngliche Vollzug der Auslegung . . . im umsichtig-besorgenden Weglegen bzw. Wechseln des ungeeigneten Werkzeugs, ,ohne dabei ein Wort zu verlieren'. Aus dem Fehlen der Worte darf nicht auf das Fehlen der Auslegung geschlossen werden" (SuZ 157). Wie aber läßt sich das Wesen der Auslegung positiv charakterisieren? Die Störung des besorgenden Umgangs z. B. bringt das Zuhandene „ausdriickliò in die verstehende Sidit" (SuZ 148). Auslegung ist der Vorgang solchen Ausdrücklich-wer dens, wobei „zwischen der im besorgenden Verstehen noch ganz eingehüllten Auslegung und dem extremen Grenzfall einer theoretischen Aussage über Vorhandenes . . . mannigfache Zwischenstufen" (SuZ 158) aufgewiesen werden können. In der Ausdrücklichkeit liegt, daß ,etwas als etwas' eigens hervortritt: Die Struktur der Auslegung ist das ,hermeneutische Als'^. ^ So zum Unterschied von dem in ihm fundierten .apophantisdien Als' der Aussage bezeichnet (vgl. SuZ 158, 223).
Was aber wird in der Auslegung ausdrücklidi? Das sdion im primären E n t wurf unausdrücklidi Vorverstandene. In ihm gründet alle Auslegung, sodaß Heidegger diese als „Ausbildung des Verstehens" (SuZ 148), als „Ausarbeitung der im Verstehen entworfenen Möglichkeiten" (SuZ 148) oder als „Zueignung des Verstandenen" (SuZ 160) bestimmen kann. Vor jeder Ausdrücklichkeit ist über sie selbst schon entschieden. Jede ausdrückliche Begegnung mit Seiendem zum Beispiel kann sidi nur als Näherung dieses Seienden aus der worentworfenen Ganzheit von Welt her vollziehen®. Der Begriff der Näherung, den H e i d egger häufig verwendet, charakterisiert wohl am treffendsten das Geschehen der Auslegung. Ist mit dem Entwurf des primären Verstehens schon über die Auslegung verfügt, so ist diese „nie ein voraussetzungsloses Erfassen eines Vorgegebenen" (SuZ 150). Vielmehr muß „alle Auslegung . . . sdion das Auszulegende verstanden haben" (SuZ 152). Der so zutage tretende .Zirkel des Verstehens' ist kein circulus vitiosus. „Was mit dem unangemessenen Ausdruck ,Zirkel' bemängelt w i r d " ^ gehört vielmehr „zum Wesen und zu der Auszeichnung des Verstehens selbst" (SuZ 314). Was aber das Wesen des Verstehens ausmacht, kann nicht ein vermeidbarer,Fehler' dieses Verstehens sein. So ist mit den Strukturen der Ganzheit und des Vor ein Horizont des Verstehens eröffnet, in dem jede mögliche Erfahrung schon eingefangen ist. Was auch begegnet, es begegnet immer als in ihm vermittelt. e) D a s S e i n
als
das
im p r i m ä r e n
Entwurf
Verstandene
Das bisher als ,ganz' und ,vorgängig' charakterisierte ursprüngliche Verstehen rückte anläßlich seiner Abhebung von der in ihm fundierten Auslegung in eine unbestimmte und ungreifbare Dunkelheit. Alles konkrete Verständnis von Seiendem wurde auf den primären Entwurf als auf seinen Grund zurückgeführt. Was aber ist nun in diesem das als Möglichkeit Verstandene? Heidegger antwortet: das Sein. „Enthiilltheit des Seins ermöglicht erst Offenbarkeit von Seiendem" (WG 13). Nach dem bisher Dargestellten leuchtet ein, daß das primäre Verstehen von Sein „weder ein Erfassen des Seins als solchen, noch gar ein Begreifen des so E r f a ß t e n " (WG 13) ist. Es liegt vor jeder Thematisierung von Sein. Aber verstanden ist Sein schon in jedem konkreten Verhalten zu Seiendem. Hierbei vollzieht sich das Verstehen von Sein in fragloser Selbstverständlichkeit u n d vorbegrifflicher Unbestimmtheit. „Sein ist im Entwurf verstanden, nicht ontologisch begriffen" (SuZ 147). Deshalb spricht Heidegger vom vorontologischen Seins' Dies trifft selbst für das „vorprädikative schlichte Sehen des Zuhandenen" (SuZ 149) zu. Dieses birgt schon in sich „die Ausdrücklichkeit der Verweisungsbezüge (des Um-zu), die zur Bewandnisganzheit gehören, aus der her das schlicht Begegnende verstanden ist" (SuZ 149). * Unangemessen deshalb, weil der Begriff ,Zirkel' „ontologisch einer Seinsart von Vorhandenheit (Bestand) zugehört" (SuZ 153). Die dem Zuhandenen und dem Vorhandenen gemäßen kategorialen Bestimmungen sind für die existenziale Analytik des Daseins unverwendbar (vgl. SuZ 44 f.).
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Verständnis. Aus ihm, als seinem Grund, entfaltet sich alle Auslegung, geschehe sie nun unbegriíílich im alltäglichen Umgang mit Zuhandenem, thematisiere sie als Wissenschaft einen Bereich des Seienden oder stelle sie gar — was Heideggers Anliegen ist — die Frage nadi dem Sinn von Sein. „Die Seinsfrage i s t . . . nidits anderes als die Radikalisierung einer zum Dasein selbst gehörigen wesenhaften Seinstendenz, des vorontologischen Seinsverständnisses" (SuZ 15). In diesem ist „schon die erst-letzte Urantwort für alles Fragen" (WG 45) verwahrt. § 4. Die Befindlichkeit Das primäre Verstehen enthüllt sich in der existenzialen Analyse — wird das im § 3 Ausgeführte zusammengefaßt — als das vorgängige Entwerfen des Ganzen des In-der-Welt-seins auf Möglichkeiten hin. Das in ihm Verstandene ,ist' das Sein. Dieses Verstehen ist aber nur eine (wenn auch, wie sich zeigen wird, die primäre) der existenzialen Strukturen, die die volle Erschlossenheit des Daseins ausmachen. Gleichursprünglich mit jenem wird diese durch die Befindlichkeit konstituiert. a) D e r E r s c h l i e ß u n g s c h a r a k t e r
der
Stimmungen
Die Befindlichkeit ist das existenziale Fundament der Phänomene, die existenziell als Stimmungen erfahren werden. Sie ist nun nicht etwas, was im quantitativen Sinne zum Verstehen noch hinzukäme. Vielmehr ist das Verstehen „nie freischwebend, sondern immer befindliches" (SuZ 339). So ist auch die oben charakterisierte Auslegung immer schon durch Befindlichkeit mitkonstituiert^. Und umgekehrt könnte das Dasein „nicht als Seiendes von Seiendem durdistimmt . . . sein, . . . wenn nicht mit dieser Eingenommenheit vom Seienden ein Aufbruch von Welt, und sei es auch nur ein Weltdämmer, mitginge" (WG 42 f.). Bilden Verstehen und Befindlichkeit, wesenhaft zueinander gehörend, die Einheit der Erschlossenheit, so überrascht es nicht, wenn die für das erstere gewonnenen Strukturen der Ganzheit und des Vor sich auch für die letztere als konstitutiv aufweisen lassen. Die Stimmung „steigt als Weise des In-der-Welt-seins aus diesem selbst auf" (SuZ 136). Soldierart hat sie auch „je schon das In-der-Welt-sein als Ganzes erschlossen" (SuZ 137), das heißt: „nach allen seinen konstitutiven Momenten" (SuZ 190). Der Wechsel der Stimmungen zeigt an, „daß das Dasein je schon immer gestimmt ist" (SuZ 134). Denn es wird einer Stimmung mächtig immer nur „aus einer Gegenstimmung" (SuZ 136). In der Stimmung ist das Dasein „ihm selbst vor allem Erkennen und Wollen und über deren Erschließungstragweite hinaus erschlossen" (SuZ 136). Neben den Strukturen der Ganzheit und des Vor tritt schließlich der konstitutive Charakter auch der Stimmung für alles konkrete, ausdrückliche Verhalten zutage: Sie „macht ein Sichrichten auf.. allererst mogliò" (SuZ 137). ^ „Das Fundament der Auslegung bildet je ein Verstehen, das immer auch befindlidies, das heißt gestimmt ist" (SuZ 252).
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Betrifft die Befindlichkeit, ebenso wie das Verstehen, vorgängig das Ganze des In-der-Welt-seins, so ist doch ihr Woraufhin des Erschließens ein anderes. Das Verstehen ist der Entwurf von Möglichkeiten. Die Befindlichkeit erschließt das Dasein auf seine Geworfenheit hin. Das Dasein „.findet sich' immer nur als geworfenes Faktum" (SuZ 328). Die Geworfenheit offenbart sich in der Stimmung. Dieses Offenbaren vollzieht sich nun primär nicht als Begreifen von Stimmungsgehalten, sondern „als A n - und Abkehr" (SuZ 135) zu und von der in ihr zutage tretenden „Last des Daseins" (SuZ 134). Dies besagt, dem Dasein bridit in der Stimmung auf: „ D a ß es ist und zu sein h a t " (SuZ 134, 135, 284). Die Last des ,Zu-sein-habens' liegt allen Stimmungen zugrunde. Z w a r „kann die gehobene Stimmung der offenbaren Last des Seins entheben"; aber „auch diese Stimmungsmöglidikeit erschließt, wenngleich enthebend, den Lastcharakter des Daseins" (SuZ 134). Die die Geworfenheit ursprünglich erschließende Stimmung ist dann jedoch die, in der die Last als solche erfahren wird: die ,Grundbefindlichkeit' der Angst. In ihr ist das Dasein, wie noch zu zeigen sein wird, vor seine eigenste Möglichkeit gebradit (vgl. S. 19 f.). Doch auch wenn es, in anderen Stimmungen aufgehend, sich von der Angst wegkehrt: „Ihr Atem zittert ständig durch das Dasein" (WM 34). In eins mit der Last seines Seins erfährt das Dasein in der Stimmung sich als „inmitten von Seiendem" (WG 33, Anm. 55; vgl. auch W G 42, W M 27) befindlich. Es ist in ihr vor einen „bestimmten Umkreis von bestimmten innerweltlichen Seienden" (SuZ 221) gebracht. „In sein ,Da' geworfen, ist das Dasein je auf eine bestimmte — seine — ,Welt' angewiesen" (SuZ 297). In der Stimmung enthüllt sich die dem Dasein wesenhafle „Angewiesenheit auf Welt, aus der her Angehendes begegnen kann" (SuZ 137 f.). Die „durdi Stimmungen vorgezeichnete Angänglichkeit durch das innerweltlidie Seiende" (SuZ 137; Hervorheb. v. Verf.) ist ihrerseits Bedingung f ü r das Betroffenwerden durch Seiendes. Mittels dieser ontologischen Zwisdienglieder versucht Heidegger z. B. die Affektionen als ontologisch in der Befindlichkeit gründend aufzuzeigen (vgl. SuZ 137 f.). b) E n t w u r f u n d G e w o r f e n h e i t Die Befindlichkeit erschließt die Geworfenheit. Diesen Begriff gilt es nun vor Mißverständnissen zu bewahren. Die Geworfenheit liegt nicht etwa hinter dem Dasein „als ein tatsächlidi vorgefallenes und vom Dasein wieder losgefallenes Ereignis, das mit ihm geschah" (SuZ 284). Das Dasein ist vielmehr der „geworfene G r u n d " (SuZ 284) seiner selbst nur, indem es ihn existiert. Das Dasein „ist . . . existierend der Grund seines Seinkönnens" (SuZ 284). Zum Existieren gehört, d a ß das Dasein „das Grundsein zu übernehmen" (SuZ 285), das heißt, daß es „den Grund seiner selbst zu legen h a t " (SuZ 284). So soll „der Ausdrudi Geworfenheit . . . die Faktizität der Überantwortung andeuten" (SuZ 135), des wesenhaflen Überantwortetseins des Grundes an das Existieren. Die Faktizität ist daher „ein in die Existenz aufgenommener . . . Seinscharakter des Daseins' (SuZ 135). 12
Nun kann deutlich werden, wie das entwerfende Verstehen und die Befindlichkeit zueinander gehören. Das Dasein existiert den geworfenen Grund seiner selbst nämlich »einzig so, daß es sich auf Möglichkeiten entwirft, in die es geworfen ist" (SuZ 284). Ist Geworfenheit nur im Entwurf, so ist umgekehrt der Entwurf nur als geworfener. Das Dasein ist „nie existent vor seinem Grunde, sondern je nur aus ihm und als dieser" (SuZ 284). Das besagt für die Möglichkeitsproblematik: „das Dasein ist ihm selbst überantwortetes Möglichsein, durch und durch geworfene Möglichkeit" (SuZ 144). Somit bedeutet „die Möglichkeit als Existenzial . . . nicht das freischwebende Seinkönnen im Sinne der ,Gleichgültigkeit der Willkür' (libertas indifîerentiae)" (SuZ 144). Zwar liegt im „Entwurf von Möglichkeiten seiner selbst ..., daß sich das Dasein darin jeweils überschwingt. Der Entwurf von Möglichkeiten ist seinem Wesen nach jeweils reicher als der im Entwerfenden schon ruhende Besitz" (WG 43), der dem Dasein ,auf Grund' seiner Faktizität eignet. Aber „Grund-seiend, das heißt als geworfenes existierend, bleibt das Dasein ständig hinter seinen Möglichkeiten zurück" (SuZ 284). „Das Dasein ist als wesenhafl befindliches je schon in bestimmte Möglichkeiten hineingeraten, als Seinkönnen, das es ist, hat es solche vorbeigehen lassen, es begibt sich ständig der Möglichkeiten seines Seins, ergreift sie und vergreift sich" (SuZ 144). Damit aber tritt „die das Sein des Daseins ursprünglich durchherrschende Nichtigkeit" (SuZ 306) zutage. Das Dasein steht „seinkönnend . . . je in der einen oder anderen Möglichkeit, ständig ist es eine andere niòt und hat sich ihrer im existenziellen Entwurf begeben" (SuZ 285). Dieses ,Nichten' von existenziell je gegebenen Möglichkeiten setzt ontologisch voraus, daß der in der Faktizität des Daseins beruhende „Entzug gewisser Möglichkeiten seines In-derWelt-sein-könnens . . . die ,wirklich' ergreifbaren Möglichkeiten des Weltentwurfs dem Dasein als seine Welt" (WG 43) immer schon entgegenbringt. In diesem zum primären Entwurf, als einem faktischen, gehörenden Entzug liegt eine ursprünglichere Nichtigkeit als in der jeweiligen Wahl existenzieller Möglichkeiten. „Der Entwurf ist . . . als je geworfener durch die Nichtigkeit des Grundseins bestimmt" (SuZ 285). Diese Nichtigkeit wird im Fortgang der Untersuchung noch schärfer zu bestimmen sein. Vorerst soll die Erschlossenheit des Daseins auf die weiteren sie konstituierenden Strukturen hin in den Blick gerückt werden. § 5. Die Rede Ein weiteres Verfassungsmoment der Erschlossenheit, das diese ,Sein und Zeit' zufolge gleichursprünglich mit dem Verstehen und der Befindlichkeit konstituiert®, stellt Heidegger mit dem Phänomen der Rede heraus. „Rede ist die Artikulation der Verständlichkeit" (SuZ 161). Sie gliedert das Verstehen. Daraus erhellt schon, daß mit ihr Fundamentaleres ins Thema rückt, als es Sprache ist. Nicht nur ist für die Rede „die stimmliche Verlautbarung nicht ® „Die Rede
ist mit Befindlichkeit
und
Verstehen
existenzial
gleichursprünglich''
(Su2 161). 13
wesentlich" (SuZ 271), der ursprünglidie Modus der Rede, der Ruf des Gewissens, „entbehrt jeglicher Verlautbarung" (SuZ 273). Das ihn Kennzeichnende ist gerade, „einzig und ständig im Modus des Schweigens" (SuZ 273) zu reden. Aber auch andere Modi der Rede, etwa das Auffordern oder das Warnen, (vgl. SuZ 161) bedürfen nicht notwendig der Sprache oder sind gar in ihr gegründet''. Vielmehr ist die Sprache in der Rede fundiert'. Auch für die Rede lassen sich die Strukturen der Ganzheit und des Vor als konstitutiv nachweisen. „Das in der redenden Artikulation Gegliederte" ist „das Bedeutungsganze" (SuZ 161). Dieses Ganze ist „vor der zueignenden Auslegung immer sdion gegliedert" (SuZ 161). Mit welchem Recht der „apriorischen Grundstruktur von Rede überhaupt als Existenzial" (SuZ 165) der Rang der Gleichursprünglichkeit mit dem Verstehen und der Befindlidikeit zugesprochen werden kann, wird im 3. Abschnitt dieser Untersuchung zu erörtern sein. § 6. Das Verfallen Mit den Momenten des Verstehens, der Befindlichkeit und der Rede ist die Erschlossenheit des Da formal bestimmt. Das In-der-Welt-sein ist als Ganzes vorgängig verstanden, gestimmt und gegliedert. N u n könnte freilich der Anschein entstehen, „das In-der-Welt-sein fungiere als starres Gerüst, innerhalb dessen die möglichen Verhaltungen des Daseins zu seiner Welt ablaufen, ohne das .Gerüst' selbst seinsmäßig zu berühren" (SuZ 176). Von dem herausgestellten Strukturganzen gilt jedoch: „Dieses vermutliche ,Gerüst' . . . macht selbst die Seinsart des Daseins mit" (SuZ 176). Die Modifizierbarkeit des Strukturganzen als eines Ganzen rückte schon anläßlidi der Erörterung der Ganzheit des Verstehens in den Blick (vgl. S. 8). Sie soll nun eingehender betrachtet werden. Dort hieß es, das Dasein könne sich primär entweder von seinem Worumwillen oder aus seiner Welt her verstehen. Damit zeigt sich die Modifizierbarkeit als Alternative. Die beiden Grundweisen zu sein, die dem Dasein eröffnet sind, sind die der Eigentlichkeit und die der Uneigentlichkeit. Sie liegen nun aber nicht als Möglichkeiten der Wahl vor einem gegen sie anfangs neutralen Dasein. Dieses ist vielmehr ,zunächst und zumeist' in die Uneigentlichkeit verfallen', und erst aus ihr, wenn auch gegen sie, kann es seine Eigentlichkeit gewinnen^". Die letztere muß jedoch als Möglichkeit im Dasein ontologisch vorgezeichnet Ein weiterer Modus der Rede — wenn auch von Heidegger nidit als ein solcher herausgestelh — ist das Zeigen (vgl. SuZ § 17, S. 76 ff.). An ihm erweist sich besonders deutlich, daß die Artikulation der Verständlichkeit sich ohne sprachliche Verlautbarung vollziehen kann. ® „Das existenzial-ontologische Fundament der Sprache ist die Rede" (SuZ 160). ° „Denn faktisches Existieren ist nicht nur überhaupt und indifferent ein geworfenes In-der-Welt-sein-können, sondern ist immer audi schon in der besorgten .Welt' aufgegangen" (SuZ 252). „Das eigentlidie Selbstsein . . . ist eine existenzielle Modifikation des Man als eines wesenhaften Existenzials" (SuZ 130).
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sein. Um sie überhaupt gewinnen zu können, muß sich das Dasein im Grunde schon ,zu eigen' sein. Das bedeutet für die existenziale (ontologische) Analyse: die Eigentlidikeit erhält den Primat. Denn nur weil das Dasein durch ,mögliche Eigentlichkeit' ausgezeichnet ist, kann es in die Uneigentlichkeit verfallen sein^^. Existenziell (ontisch) freilich kann es sich nur aus dem Verfallen in die Eigentlichkeit ,zurückholen'^^. Existenziell gewonnene Eigentlichkeit ist nun wesenhafl nie Besitz für die Dauer. Immer wieder gleitet das Dasein von der gewonnenen Eigentlichkeit in die Uneigentlichkeit ab. Dieses ständige Abgleiten begreift Heidegger als Wirbel. Das Verfallen ist „ein ontologisdier Bewegungsbegriff" (SuZ 180). Die Bewegtheit hat ihren Grund in der Geworfenheit des Daseins. Zu dieser „gehört, daß das Dasein, solange es ist, was es ist, im Wurf bleibt und in die Uneigentlichkeit des Man hineingewirbelt wird" (SuZ 179). Wie aber ist nun das Verfallen als Modifikation des Strukturganzen genauer zu charakterisieren? In ihm ist die im Dasein vorgezeichnete mögliche Eigentlichkeit zugunsten der Möglichkeiten des Man ,vergessen' (vgl. SuZ 338 f.). „Das eigentliche Worumwillen bleibt unergriffen, der Entwurf des Seinkönnens seiner selbst ist der Verfügung des Man überlassen" (SuZ 193). Vom Worumwillen des Man her ist die Welt erschlossen, in deren Verweisungsbezügen das verfallende Dasein besorgend aufgeht. § 7. Sorge unci Zeitlidikeit Nunmehr sind die von Heidegger herausgearbeiteten Strukturen der Erschlossenheit vollständig aufgeführt. Damit ist „der phänomenale Boden gewonnen für die ,zusammenfassende' Interpretation des Seins des Daseins als Sorge" (SuZ 180). In deren Gegliedertheit wird das Verstehen, in dessen Analyse sich das ,es geht um . . ' oder die Existenz verdeutlichte, als das Moment des ,Sich-vorweg' übernommen. Das in der Erörterung der Befindlichkeit als Faktizität Herausgearbeitete wird als ,Schon-sein-in-einer-Welt' begriffen, und die Modifikation des Strukturganzen als Verfallen wird als ,Sein-bei innerweltlich begegnendem Seienden' eingegliedert. Struktural voll entfaltet enthüllt sich somit die Sorge als „Si schreibt, « un terme et tout terme . . . est un Janus bifrons: soit qu'on l'envisage comme adhérent au néant d'être qui limite le processus considéré, soit, au
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erst die ursprünglidie Möglidikeit des Daseins, die ihrerseits das faktische Möglidisein aufschließt. Ihr .Wirken' besteht ontologiscii ursprünglidi in der Freigabe von Möglichkeit.
§ 22.
Die endliche Zeitlidikeit und ihre un-endliche Voraus-setzung
Es soll nun gezeigt werden, daß die aller Möglichkeit bare Un-Möglichkeit als Voraussetzung jeden Möglichseins zum Ende nicht nur sichtbar wird, wenn Heidegger die Unbestimmtheit des Wann des Todes herausarbeitet. Gelegentlich der ersten Abhebung des Ablebens vom Sterben (vgl. S. 21 f.) wurde H e i d eggers Satz zitiert: „Ableben . . . kann das Dasein nur solange, als es stirbt" (SuZ 2 4 7 ) . Die Bestimmung: ,nur
solange
. . ' , zeigt an, daß das verstehende
Sein zum Tode die ontologische Bedingung auch des Verständnisses des Todes als eines physiologischen Ereignisses ist. Gilt dieses als im Sterben gegründet, so deutet sich dodi in dem ,solange,
als es stirbt' eine Grenze
des Sterbens
selbst
an. Denn es muß doch wohl gefragt werden: Wie lange stirbt das Dasein? Ist diese Frage beantwortet, indem Heidegger sagt: „Das Dasein stirbt faktisch, solange es existiert" (SuZ 2 5 1 ) ? Doch wohl nicht. Denn das Dasein existiert ja nur, indem es faktisch stirbt. In dem ,solange . .' des letztzitierten Satzes sind also lediglich Sterben und Existieren zur Deckung gebracht, nicht jedoch „die contraire, qu'on le découvre comme agglutiné à la série qu'il termine, être appartenant à un processus existant et d'une certaine façon constituant sa signification» (EN 615). Der Tod ist „ein Grenzstein und jeder Grenzstein . . . ist ein Janus hifrons: sei es, daß man ihn ansieht als zum Nichts an Sein gehörig, das den betreffenden Ablauf begrenzt, sei es, daß man ihn, im Gegensatz hierzu, als mit der Reihe verbunden entdedit, die er beendet, also als ein Sein, das einem daseienden Ablauf angehört und diesem in gewisser Weise seine Bedeutung verleiht". Freilich bleibt Sartre bei der Disjunktion beider Betrachtungsweisen stehen, ja er will die ,Zweigesichtigkeit' des Todes gerade aufheben. Hierbei bezieht er die Gegenposition zu Heidegger, indem er ausführt, der Tod liege „außerhalb meiner Möglichkeiten", « hors de mes possibilités » (EN 621, auch E N 629). Der Tod ist für Sartre lediglich das die « réalité-humaine » als das Fremde Begrenzende, er ist und bleibt allein « le dehors » (EN 630): « II n'y a aucune place pour la mort dans l'être-pour-soi » (EN 631); « étant ce qui est toujours au delà de ma subjectivité, il n'y a aucune place pour elle » (scil. la mort) « dans ma subjectivité » (EN 632). „Im Für-sich-Sein ist für den Tod kein Platz"; „da er ist, was immer jenseits meiner Subjektivität liegt, ist kein Platz für ihn in meiner Subjektivität." Ja, „wir können nicht einmal mehr sagen, der Tod verleihe dem Leben von außen her einen Sinn", « nous ne pouvons même plus dire que la mort confère un sens du dehors à la vie » (EN 623). So bleibt für Sartre der Geschehenscharakter der Grenze — und damit der Tod als fundamentales ontologisches Konstitutivum für das ,Pour-soi' — verborgen. Im Grunde bezieht er die Position E p i k u r s . An diesen wird man erinnert, wenn Sartre schreibt, « que la mort, en se découvrant à nous comme elle est, nous libère entièrement de sa prétendue contrainte » (EN 630), „daß der Tod, indem er sidi uns enthüllt, wie er ist, uns gänzlich von seiner angeblichen zwingenden Gewalt befreit"; oder: «parce que la liberté ne rencontre jamais cette limite » (scil. la mort), « la mort n'est aucunement un obstacle à mes projets » (EN 632), „weil die Freiheit niemals auf diese Grenze (scil. den Tod) trifft, ist der Tod durchaus kein Hindernis für meine Entwürfe". [Die Obersetzung der Stellen aus « l'être et le néant » folgt, von kleinen Abweichungen abgesehen, der Justus S t r e l l e r s (vgl. SN 493ff.).] 48
faktische Lebenszeit mit dem faktischen Sterben" (VT 135), wie S t e r n b e r g e r interpretiert. Was Sternberger als ,Lebens2e¿í' anspricht, ist ja als Modus der verfallenden Zeitlichkeit grundsätzlich für die ursprüngliche existenziale Analyse unzuständig (vgl. S. 39 ff.). Andererseits ist aber dodi das , s o l a n g e . e i n e zeitliche Bestimmung. Dann kann es aber für Heidegger nichts anderes als der Inbegriff der ursprünglichen Zeitlidikeit sein. Das bedeutet: das ,solange . w i r d konstituiert durch das Vorlaufen als Modus der Zukunfl, das auf sein ,Gewesen' zurückkommend den Augenblick zeitigt. Im ,solange . . ' findet die Einheit der Ekstasen der ursprünglichen Zeitlichkeit Ausdruck. Auch der diese konstituierende Vorrang der Zukunft klingt ja in ihm an. Es kann dann jedenfalls nidit sein: ein ,solange, bis .das erst von einem bestimmten Ereignis her konstituiert wird. Es ist ein ,solange . i n n e r h a l b dessen überhaupt erst ein ,bis . gezeitigt zu werden vermag. Dann muß aber auch die oben gestellte Frage, wie lange denn das Dasein sterbe, zurückgewiesen werden, ist sie auf eine Antwort aus, die über den Horizont des im ,solange . s d i o n Enthaltenen hinausgeht. Dann ist es ein Mißverständnis, zu meinen, mit dem ,solange . . ' sei eine Grenze des Sterbens gesetzt. Doch eine solche Auslegung des zeitlichen Sinnes des ,solange . . ' scheint sich nicht mit der betont einschränkenden Bedeutung vereinbaren zu lassen, mit der Heidegger diese Bestimmung immer wieder gebraucht. So heißt es zum Beispiel: „Dasein versteht sich immer schon und immer noch, solange es ist, aus Möglichkeiten" (SuZ 145). Das Dasein „ist, solange es ist, entwerfend" (SuZ 145; vgl. S. 9). Oder: „Entsprechend" (seil, dem Noch-nicht der Unreife der Frucht) „ist auch das Dasein, solange es ist, je schon sein Noch-nicht" (SuZ 244). Und „so wie das D a s e i n . . . ständig, solange es ist, schon sein Noch-nicht ist, so ist es auch immer sein Ende" (SuZ 245). „Wahrheit ,gibt es' nur, sofern und solange Dasein ist" (SuZ 226). Zur Faktizität des Daseins gehört, daß es, „solange es ist, was es ist, im Wurf bleibt und in die Uneigentlichkeit des Man hineingewirbelt wird" (SuZ 179; vgl. S. 15). Im letzten Satz ist das einschränkende ,solange . . ' sogar noch eigens hervorgehoben. Und erläutert wird die Einschränkung, wenn Heidegger an anderer Stelle sagt: „ ,Solange es ist', bis zu seinem Ende verhält es" (seil, das Dasein) „sich zu seinem Seinkönnen" (SuZ 236). Hier ist das ,solange . . ' nun doch ein ,solange, bis ..'. Das ,bis . . ' konstituiert allererst die ,Länge' des ,solange . . ' . Nun kann dessen Einschränkungscharakter — und damit die Voraussetzung eines Einschränkenden — nicht länger verborgen bleiben. Der Versuch, das ,solange . .' auf die ursprüngliche Zeitlichkeit hin zu interpretieren, scheint mißglückt zu sein. Doch sogleidi meldet sich ein Einwand. Im Unterschied zu den anderen beigebrachten Belegstellen ist das ,solange es ist' im nun herangezogenen Zitat in Anführungsstriche gesetzt. Will Heidegger dadurch vielleicht zum Ausdruck bringen, daß er diese Bestimmung hier nicht in ihrem genuinen Sinn gebraucht? Bei näherem Zusehen zeigt sici in der Tat, daß dieses Zitat einem Zusammenhang entnommen ist, in dem Heidegger sich einen naheliegenden, das von ihm bis dahin Erarbeitete mißverstehenden Gedankengang (die Ableitung der wesen49 i
Müller-Lauter, Möglichkeit und Wirklichkeit
haften Unganzheit des Daseins aus dem primären Moment der Sorge) hypothetisch zu eigen macht und aus der Perspektive eines solchen Mißverstehens spricht. Hierbei geht es ihm gerade darum, zu zeigen, daß das .solange es ist' des Daseins nicht als ein ,bis zu seinem Ende' im Sinne eines einmal eintreffenden Ereignisses verstanden werden darf, soll der ursprüngliche Begriff des Todes gewonnen werden. Das heißt aber: Wird das zuletzt angeführte Zitat nicht aus dem Zusammenhang herausgerissen, in den es gehört, so bestätigt es eher die These, d a ß im rechtverstandenen ,solange . . ' die ursprüngliche Zeitlidikeit Ausdruck finde. Die fragliche Bestimmung ist dann überhaupt keine Einschränkung. Mit ihr sind dann vielmehr die verschiedenen oben zitierten existenzialen Aussagen in ihren letzten zeitlichen Horizont hineingenommen. D a n n handelt es sidi bei ihrer Verwendung ganz im Gegenteil um eine Erweiterung des ontologisdien Blickfeldes. U n d weil das .solange . . ' nun in der Tat die ursprünglidie und volle, durdi den Vorrang der Zukunft ausgezeichnete Zeitlidikeit ausdrückt, kann es sdiließlich die Basis f ü r eine Erläuterung der Ekstase der Gewesenheit abgeben: „ .Solange' das Dasein faktisch existiert, ist es nie vergangen, wohl aber immer schon gewesen im Sinne des .ich-^^iw-gewesen'. U n d es kann nur gewesen sein, solange es ist" (SuZ 328). Somit zerfließt die im .solange . . ' anfänglich mitverstandene Grenze (vgl. S. 47) und verschwindet in der Endlichkeit der ursprünglichen Zeitlichkeit. Diese bildet den äußersten Horizont, den Heidegger in seiner existenzialen Analytik gewinnt. Wenn er am Schlüsse seines Kant-Buches f r a g t : „Läßt sich die Endlichkeit im Dasein auch nur als Problem entwickeln ohne eine ,vorausgesetzte' Unendlichkeit?" (K 222), so hat er die Antwort auf diese Frage schon in .Sein und Zeit' gegeben. Im primär zukünftigen Vord«5-setzen der endlichen Zeitlichkeit kann allererst Unendlichkeit gesetzt werden. „Nur weil die ursprüngliche Zeit endlich ist. kann sich die .abgeleitete' als un-endliche zeitigen" (SuZ 331). N u n hat sich aber im kritischen Nachvollzug des vorlaufenden Verstehens auch der Begriff der Voraussetzung gewandelt. Das Vorausgesetzte kann nicht mehr nur sein: das im ,sich voraus . .' des Verstehens immer schon Eingefangene. Es ist vielmehr ursprünglicher: das dem Vorlaufen Gesetzte. Alles ,voraus auf . i s t dem Gesetzten immer schon nachgesetzt^". Das ursprüngliche Voraussein zum Ende konstituiert die Endlichkeit des Daseins (vgl. S. 26). Dieses Voraussein ist nun aber, wie gezeigt wurde, dem Tod als Grenze ontologisch nachgesetzt. Als das ursprünglich Gesetzte konstituiert der Tod zwar die End™ Auch Heidegger spricht einmal, aus gewandelter Blidcrichtung, von einem Nachgesetztsein des Voraussetzens: „. . . nicht wir setzen die Unverborgenheit des Seienden voraus, sondern die Unverborgenheit des Seienden bestimmt uns in ein solches Wesen, das wir bei unserem Vorstellen immer der Unverborgenheit nachgesetzt sind" ( H w 41). Im Voraussetzen des Vorstellens sind wir immer schon dem Gelichteten der Unverborgenheit „ausgesetzt" ( H w 4 1 ) . D a ß das Wesen der U n v e r borgenheit selbst in einem ursprünglicheren Voraussetzen beruht und d a ß auch dieses Voraussetzen in der Setzung der totalen Wirklichkeit gründet, kann hier noch nicht gezeigt werden.
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lidikeit. Dodi dies so, d a ß er als Grenze gerade nicht in sie einbezogen zu werden vermag. Die ursprüngliche Setzung ist also selbst nicht endlich. Das heißt aber dann: Die Unendlichkeit ist nicht erst ein abkünftiger Modus der ursprünglidien und endlichen Zeitlichkeit. Vielmehr bedarf diese selbst der Voraus-setzung der Í7n-endlichkeit. In dem ,un' der damit gewonnenen U n -endlichkeit findet das Nichts schlechthin Ausdruck, das, ursprünglidier als die der Endlichkeit des Existierens zugehörige Niditigkeit (vgl. S. 45), der Endlichkeit als deren vorgängige Bedingung gegenübersteht. Die Zeitlichkeit ist geschlossen, insofern sie ursprünglich Freigabe des H o r i zontes f ü r das Sein zum Ende ist. (Vgl. hierzu S. 31) Diese Geschlossenheit erwies sidi nun als begrenzt von der ursprünglichen Setzung. D a n n kann diese selbst nicht mehr zeitlich sein. So läßt sich zusammenfassend sagen: Der T o d als Grenze ist die un-endliche und zeit-lose (Voraus-)5eiz««g, der der Tod als die endliche und damit zeitliche Voraus-Setzung allererst entspringt. Das apriorische ,Vor' ist dann in seinem ontologischen Grunde nicht ekstatisch zukünftig, wie Heidegger ausführt (vgl. S. 31), sondern zeitlos, wenn auch die Zeitliciikeit aus sich entlassend. Heidegger sagt: „Seiend zu seinem Tode, stirbt es" (seil, das Dasein) „faktisch und zwar ständig, solange es nicht zu seinem Ableben gekommen ist" (SuZ 259). Hier ist das ,solange . . ' eindeutig durch etwas konstituiert, das nicht mehr in ihm selbst aufgeht. Es ist ein ,solange, bis ..'. Es ist ein ,nur solange', d. h. ein ,solange . v o n Gnaden des ihm sdion vorausgesetzten (was nun heißt: des allem ,voraus auf . g e s e t z t e n ) ,Eingetretenseins' des Ablebens. Das in dem zitierten Satze zutage tretende ,Nicht' ist aus dem ,solange . . ' selbst ausgeschlossen. Als das das ,solange . . ' begrenzende Nicht kann es nur das Nichts schlechthin sein. Aber wie kann das Ableben das Sterben begrenzen und so allererst konstituieren, wenn es — wie Heidegger doch andererseits zeigt — selbst im Sterben gründet? (Vgl. S. 21 f., 37 ff., 48). Das Dasein lebt nur ab, solange es stirbt — damit ist doch das Ableben im Sein zum Ende untergebracht. Ja, es gehört als Ab-leben eher dem ,Leben' als dem Tode zu, wenn auch „eine ,Typologie' des .Sterbens' als Charakteristik der Zustände und Weisen, in denen das Ableben ,erlebt' wird, . . . schon den Begriff des Todes" (SuZ 247) im existenzialen Sinne voraussetzt. „Eine Psychologie des ,Sterbens'" qua Ablebens gibt „eher Aufschluß über das ,Leben' des ,Sterbenden' als über das Sterben selbst" (SuZ 247). Heidegger spricht von Ableben, „sofern . . . das Dasein seinen physiologischen, lebensmäßigen Tod ,hat' " (SuZ 247), wobei die Weise solchen ,Habens' besagt: eine sich im Lichte des Verfallens erschließende Bewegung auf das Ende des ,Lebens' hin (vgl. S. 37 ff.). Auch der Vorgang des Ablebens liegt eindeutig diesseits der Grenze. Seine Bewegung findet ihren AbscJiluß, wenn das Dasein ,zum Ableben gekommen ist', genauer: wenn das Ableben aufgehört hat. Also nicht das Ableben begrenzt das Sterben, sondern das Aufgehörthaben von Ableben und Sterben überhaupt (als dessen Modus das Ableben ja begriffen werden mußte) bildet die konstitutive Voraus-íeízxng aller von Heidegger ausdrücklich er51
örterten Modi des Todes, seien sie nun biologisdi-ontisdien oder ontologischexistenzialen Charakters. Mit diesem Aufgehörthaben aber rückt nidits anderes ins Thema als der ursprünglichste Begriff des Todes, das heißt, das in dieser Untersuchung als Un-Möglichkeit Begriffene. Dieses selbst erwies sidi insofern als un-endlidi, als es dem Ende des Daseins, dieses allererst gründend, vorausgesetzt ist. So bestätigt sdiließlich die vielleidit umständlidi anmutende Erörterung der Bestimmung ,solange das Dasein ist', daß die von Heidegger als der unhintergehbare Ursprung des Seins des Daseins herausgestellte endlidie Zeitlichkeit ihrerseits von einem ihrem zukünftigen ,voraus . . ' schon gesetzten Un-endlichen konstituiert wird. Die Un-endlichkeit konstituiert ontologisch ursprünglich die Endlidikeit, und zwar als das nicht in diese Einbeziehbare. Folgt hieraus nun nicht, daß sie das ontische Seinkönnen des Daseins unberührt läßt? Dem existenziellen Entwurf auf Möglichkeiten muß dodi die totale Un-Möglichkeit wesenhaft verschlossen bleiben. Andererseits aber: Wie wurde die Un-endlichkeit als ontologisch ursprüngliches Konstituens der Endlichkeit des Möglichkeitsentwurfs gewonnen? Dodi so, daß das Vorlaufen, also ein bestimmter existenzieller Modus des Seins zum Tode, auf das hin befragt wurde, was es erschließt. Freilich, vorlaufend existierend erschließt das Dasein primär nidit die totale "Wirklichkeit als die ontologische Bedingung seiner selbst. Es eröffnet sich ihm zunächst nur die radikale Bedrohung seiner selbst als des entwerfenden Möglidiseins. Es erfährt im Vorlaufen: die Möglichkeit kann ,zur Unmöglichkeit werden' (vgl. S. 42 f.). In dieser Erfahrung ist nun aber gerade ,Zeit' mitgesetzt. Zu ihr gehört wesenhaft: der Tod kann ]eden Augenblick ,wirklich werden'. Läßt sich angesichts dieses Phänomens die These von der Zeklosigkeit des Todes als der ursprünglichen Setzung aufrediterhalten? U n d wenn ja, inwiefern gehört dann zur Bedrohung durch die Un-Möglichkeit der Augenblidc? Der Augenblick wurde von Heidegger als die eigentliche Gegenwart begriffen. Sie ist „im Modus der ursprünglichen Zeitlichkeit eingeschlossen . . . in Zukunft und Gewesenheit" (SuZ 328), und zwar so, daß die ,gewesende Zukunft' sie erst „aus sich entläßt" (SuZ 326). Die Zukunft, als die primäre Ekstase der Zeitlichkeit, hält diese geschlossen, insofern sie die Freigabe des Horizontes f ü r das Möglichsein zum Ende ist (vgl. 5. 31). Diese Geschlossenheit aber, so wurde hier gezeigt, gründet letztlich in der Un-Möglichkeit als ihrer VorZMSsetzung. M u ß dann aber nicht diejenige ,Zeit' die ursprünglichste sein, in der das ursprüngliche Konstituens dieser Geschlossenheit als in diese uneinbeziehbar erfahren werden kann? K a n n das Dasein auf sich als auf sein Ende nicht deshalb nur ,zukommen', weil dieses Ende ,in jedem Augenblick' durch die UnMöglichkeit konstituiert wird? Ist die Gegenwart nodi ursprünglicher als die Zukunft? D a ß dies in der Tat so ist, soll im Blick auf das ,solange . . ' , in dem die ursprünglidie Zeitlichkeit Ausdruck findet, erhärtet werden. Das ,solange . erwies sidi in seinem Grunde als das ,solange, bis es zum Ableben des D a seins gekommen ist'. Das Aufgehörthaben von Sterben überhaupt begrenzt 52
das ,solange . . ' . Von dessen Endlidikeit her kann das Äußerste ihrer selbst nur als ,bis . s i c h t b a r werden. Dieses ,bis . . ' muß allererst gegenwärtigt •worden sein, soll die .Erstreckung' des ,jo-lange' freigegeben werden können. Der Tod muß schon als Ereignis gezeitigt worden sein, soll das Dasein auf den Tod als auf seine äußerste zukünftige Möglichkeit vorlaufen können^\ Das bedeutet: die Zukunft entspringt der ursprünglichen Gegenwart des Todes. Und umgekehrt kann an diesem ,bis . . ' das Geschehnis der Grenze (vgl. S. 47) aufgezeigt werden. Das Unendlidie der totalen Wirklichkeit vermag nur in der Zeitigung des ,bis . . ' die Endlichkeit zu konstituieren, insofern dieses allererst die Ur-Möglidikeit eröffnet. Die totale Wirklichkeit gründet sich im Dasein ursprünglich als Gegenwart. Deshalb ist die dieser Ekstase zugehörige Modalität wesenhaft die der Wirklichkeit (vgl. S. 28 f.). Inwiefern die totale Wirklichkeit auch die Wirklichkeit des vom Dasein primär gegenwärtigend erschlossenen Wirklichen in dessen vollem Umfang bestimmt, soll in den folgenden Abschnitten zu verdeutlidien versucht werden.
Der Begriff des Ereignisses ist primär durdx die Ekstase der Gegenwart bestimmt. Gerade deshalb muß Heidegger ihn aus seinem ursprünglidien Begriff des Todes auszuscheiden suchen (vgl. S. 20 und S. 38).
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Dritter
Abschnitt
Zeitlichkeit und Modalität des Existenzials der Rede § 23. Die problematische Stellung des Redeexistenzials innerhalb der Strukturanalysen v o n ,Sein u n d Z e i t ' Die im vorangehenden Abschnitt vorgelegten Analysen zeigten, daß von den fundamentalen Strukturen des Daseins sowohl das Verstehen als audi die Befindlichkeit in ihren ursprünglichen Modi (dem Sein zum Tode und der Angst) ontologisdi in der totalen Wirklidikeit wurzeln. Das eigentliche befindlidie Verstehen eröffnet die Ur-Möglichkeit, weil es, ursprünglidier begriffen, befindliches Verstehen der Wirklidikeit ist, wobei dieses Verstehen wiederum konstituiert wird von dem Tod als dem allen Sidi-befinden und verstehenden Entwerfen ontologisdi Vorgängigen. Wie aber steht es nun um die dritte der von Heidegger herausgestellten Erschlossenheitsstrukturen: wie steht es um die Rede? Läßt nun wenigstens die Untersudiung ihrer Modalität einen ursprünglidien Vorrang der Möglidikeit vor der Wirklidikeit zum Vorsdiein kommen? Dem wird im folgenden nadizufragen sein. Hierbei soll bei der besonderen Stellung angeknüpft werden, die das Existenzial der Rede im Gesamtzusammenhang der Strukturanalysen von ,Sein und Zeit' einnimmt. Fiel doch bei der Darstellung der Überführung der Erschlossenheitsstrukturen in das Strukturganze der Sorge auf, daß die Rede in der entfalteten Gliederung der letzteren nidit mehr auftaucht (vgl. S. 16 und S. 27, Anm. 9). Der Grund für das Fehlen der Rede in der Strukturganzheit der Sorge ist unschwer aufzufinden: In Hinsidit auf die drei Ekstasen der Zeitlidikeit, die Heidegger ja als den Sinn der Sorge herausstellt^, muß die Sorge selbst sdion als dreigliedriges Ganzes präpariert werden. Hierbei ist das vierte Moment der Erschlossenheit, die Rede, nicht mehr unterzubringen. Nun löst die problematisdie Stellung des Redeexistenzials innerhalb des Ganzen der Heideggersdien Daseinsanalyse zwei gewichtige Fragen aus: Wie steht es um die existenzial-ontologisdie Gleidiursprünglidikeit der Rede mit dem Verstehen und der Befindlidikeit (vgl. S. 13), wenn sie nicht in der Gliederung der Sorge Ausdruck findet? Was bedeutet dieses Fehlen für die Zeitlichkeit der Rede? Die erste dieser Fragen zielt auf den Ort der Rede innerhalb der ontologisdien Genesis des Daseins. Was führt Heidegger hierzu aus? ^ „Der ursprünglidie ontologisdie Grund der Existenzialität des Daseins . . . ist die Zeitlidikeit. Die gegliederte Strukturganzheit des Seins des Daseins als Sorge wird erst aus ihr existenzial verständlidi" (SuZ 234). — Vgl. hierzu § 7, S. 15 f.
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Das befindlidie Verstehen hält die Bedeutsamkeit — d. i. das vom Worumwillen her gestiftete Bedeutungsganze der Bezüge des Um-zu, Dazu, Wobei und Womit (vgl. SuZ 87; vgl. audi oben S. 7 f.) — in der urspriinglidien Ersdilossenheit. In der Bedeutsamkeit wurzelt das Erschließen von Bedeutungen durch die Auslegung, weldie Bedeutungen „ihrerseits wieder das mögliche Sein von Wort und Sprache fundieren" (SuZ 87). Den in der Auslegung zu Ausdrücklichkeit gelangenden Bedeutungen „wadisen Worte zu" (SuZ 161). In der Sprache kommt „das Bedeutungsganze der Verständlidik e i t . . . ZH Wort" (SuZ 161). Die Spradie ist also — wenigstens ,Sein und Zeit' zufolge — in der Auslegung, dem abkünftigen Modus des Verstehens, fundiert. Von ihrer existenzialen Gleidiursprünglidikeit mit diesem kann also nicht gesprochen werden. Doch auch das Warnen, das Auffordern, das Hinweisen auf . . — Modi der Rede, die nicht des Wortes bedürfen oder in der Sprache gründen —, sie alle setzen die im befindlichen Verstehen entworfene Bedeutsamkeit und die Auslegung ontologisch voraus. Andererseits aber legt Heidegger Wert auf die Feststellung, daß die Rede ontologisdi ursprünglicher ist als die Auslegung: „Verständlichkeit ist auch schon vor der zueignenden Auslegung gegliedert. Rede ist die Artikulation der Verständlichkeit" (SuZ 161). Nicht in einem der erwähnten Modi, sondern allein in ihrer apriorischen und ganzheitlichen Struktur (vgl. S. 14), insofern sie vor der Auslegung das Bedeutungsganze ursprünglich mitkonstituiert, ist demnach die Rede mit Verstehen und BefindlicJikeit gleichursprünglich. Was macht nun die Existenzialanalyse über diese ontologisch ursprüngliche Struktur der Rede aus? Ausschließlich das Eine: Rede ist Artikulation, Rede ist Gliederung. Wie aber ist dieses der Auslegung vorgängige Artikulieren des Ganzen der Erschlossenheit zu denken? Die Erörterung der Rede als deren Strukturmoment (SuZ § 34, 160—167) gibt hierauf keine Anwort. Vielleicht aber kann die Seinsweise der Rede, die Artikulation, begriffen und der ontologische Ort dieses Existenzials im Strukturganzen aufgezeigt werden, wenn Heideggers Ausführungen bei Gelegenheit der Wiederholung der existenzialen Analyse im Horizont der gewonnenen Zeitliciikeit herangezogen werden. In dieser sollen ja „alle bislang herausgestellten fundamentalen Strukturen des Daseins hinsichtlich ihrer möglidien Ganzheit, Einheit und Entfaltung . . . als Modi der Zeitigung der Zeitlichkeit" (SuZ 304) herausgearbeitet werden. Soll die letztere sich doch „an allen wesentlichen Strukturen der Grundverfassung des Daseins bewähren" (SuZ 332). Heidegger handelt nun jedodi die Zeitlidikeit der Rede nur kurz ab. Im Grunde gibt er nichts als einen Wechsel für später. So heißt es, „die Analyse der zeitlichen Konstitution der Rede" könne „erst in Angriff genommen werden, wenn das Problem des grundsätzlichen Zusammenhangs von Sein und Wahrheit aus der Problematik der Zeitlichkeit aufgerollt ist" (SuZ 349). Eine solche Analyse der Rede hat Heidegger jedoch bislang nicht vorgelegt (vgl. hierzu S. 57, Anm. 3). Bei der Erörterung ihrer Zeitlichkeit in ,Sein und Zeit' stellt er lediglich fest, daß „sidi die Rede 55
nicht primär in einer bestimmten Ekstase" (SuZ 349) zeitige. Der Grund hierfür sei, daß „die volle, durch Verstehen, Befindlichkeit und Verfallen konstituierte Erschlossenheit des D a . . . durch die Rede die Artikulation" (SuZ 349) erhalte. Aber schon diese Feststellung ist äußerst problematisch. Zunädist ist -wieder zu beachten, daß die Erschlossenheit nicht schon mit Verstehen, Befindlichkeit und Verfallen voll gegeben ist und erst dann noch, gewissermaßen sekundär, durch die Rede artikuliert wird. D a ß die Rede „ursprüngliches Existenzial der Ersdilossenheit" (SuZ 161) ist, besagt ja nichts anderes als daß sie diese als solche ursprünglich mitkonstituiert. Sonach kann sich der in der Begründung f ü r seine Feststellung von Heidegger gegebene Hinweis lediglich auf die Bedeutung der Rede innerhalb der Erschlossenheit beziehen. Deren Besonderheit beruht dann darin, daß sich die Rede als Artikulation auf die volle Erschlossenheit, auf sie als Ganzes, erstreckt. Sie ist also der Grund dafür, daß die Zeitigung der Rede nicht durch den Primat einer bestimmten Ekstase charakterisiert ist. Aber unterscheidet denn diese Bestimmung die Rede von den anderen Strukturen der Erschlossenheit? Zeigten denn nicht die bisherigen Analysen, d a ß auch Verstehen, Befindlichkeit und Verfallen wesenhaft die volle Erschlossenheit betreffen? Jede dieser Strukturen erschließt das Ganze des In-der-Weltseins. U n d insofern jede Stimmung immer auch verstanden ist und umgekehrt alles Verstehen gestimmt, so umgreift jedes dieser ursprünglichen Existenzialien das vom anderen Erschlossene mit. Wird damit deutlich, daß der Hinweis, die Rede betreffe die volle Erschlossenheit, nichts sie von den anderen Strukturen Unterscheidendes aussagt, dann kann er auch nicht als Begründung f ü r den ontologischen Sonderfall akzeptiert werden, d a ß sich die Rede nicht primär in einer bestimmten Ekstase zeitigt wie die anderen Strukturen. Aber die kritisdie Anmerkung zur Zeitlichkeit der Rede muß, über diesen Einwand hinaus, weitergetrieben werden. Mit dem Aufweis, d a ß die Begründung des Satzes, die Rede zeitige sich nicht primär in einer bestimmten Ekstase, unzulänglich ist, wurde noch nichts über die Wahrheit dieses Satzes selbst ausgemacht. Der Satz ist nun jedoch mit dem von Heidegger ausgearbeiteten Wesen der Zeitlichkeit unvereinbar. Um das zu zeigen, muß von diesem ausgegangen werden (vgl. zum folgenden S. 27 ff.). Zeitlidikeit ist nur als „Zeitigung in der Einheit der Ekstasen" (SuZ 329). Die Zukunft stiftet die Einheit der ursprünglichen Zeitlichkeit. Der ursprüngliche Vorrang der Zukunft kann sich jedoch abwandeln. Gleichwohl kommt er „auch nodi in der abkünftigen ,Zeit' zum Vorschein" (SuZ 329). Er schließt also eine Versdiiedenartigkeit der Modi der Zeitigung nicht aus. „Zeitlichkeit kann sich in verschiedenen Möglichkeiten und in verschiedener Weise zeitigen" (SuZ 304). Die Verschiedenartigkeit beruht darin, „daß sich die Zeitigung aus den verschiedenen Ekstasen primär bestimmen k a n n " (SuZ 329). Die verschiedenartigen Zeitigungen nun „ermöglichen die Mannigfaltigkeit der Seinsmodi des Daseins" (SuZ 328). So zeitigt sidi die Befindlichkeit primär in der Gewesenheit, das Verfallen in der Gegenwart. Vom jeweiligen ekstatischen 56
Primat her modifiziert sidi die volle Zeitlichkeit. Die Einheit, der innere Zusammenhang der Zeitlidikeit enthüllt sich als je vom Primat einer der Ekstasen her gestiftet. Um das Grundphänomen der Zeitigung an einem bestimmten Seinsmodus zu verdeutlidien, sei auf die Zeitigung der Furcht verwiesen (vgl. hierzu SuZ 341 f., 344 f.). Ursprünglich zugrunde liegt auch ihr, wie allen Modi, die eigentliche Zeitlichkeit, die durdi den Vorrang der lukunfl ausgezeichnet ist. Im Verfallen wandelt sich dieser Vorrang ab zu einer Zeitigung, die durch den Primat des Gegenwärtigens bestimmt ist. Dieses primär gegenwärtigende Verfallen kann selbst wiederum die Furcht zeitigen^, wobei nun das Vergessen als uneigentlidie Gewesenheit den Primat übernimmt und seinerseits „die zugehörige Gegenwart und Zukunft in ihrer Zeitigung modifiziert" (SuZ 342). Einzig für das Existenzial der Rede wird die Konstitution durch den Primat einer bestimmten Ekstase von Heidegger geleugnet. Wird nun aber angenommen, daß verschiedenartige Zeitigungen das — ontologisch ursprüngliche — Existenzial der Rede begründen könnten, so würde damit die Selbigkeit dieses Existenzials aufgehoben. Bleibt nur noch der Gedanke einer Zeitigung mit nivellierten Ekstasen. Dieser widerspricht jedoch dem von Heidegger entwickelten Wesen der Zeitlichkeit. Auf dessen Grundlage könnte weder gezeigt werden, von woher die Einheit einer solcJien Zeitigung, der Zusammenhang ihrer Ekstasen, gestiftet würde, noch wie die ursprüngliche Zeitigung so modifiziert werden könnte, daß die Ekstasen in eine ,Ausgeglichenheit' gerieten. Die ,apriorische Grundstruktur von Rede überhaupt als Existenzial' (vgl. S. 14) rückt damit nur noch mehr ins Dunkel. N u r eine Hoffnung bleibt, es aufzuhellen: die Analyse konkreter Modi der Rede. Vielleicht lassen sich in ihr die fundamentalen ontologischen Bestimmungen des Redeexistenzials ans Licit bringen. § 24. Zeitiichkeit u n d Räumlichkeit der Sprache Zunächst soll das Phänomen der Sprache als Modus der Rede ins Thema rücken^ und auf die für es konstitutive Zeitlichkeit hin befragt werden. Hier^ Die Furcht entspringt „im Hinblick auf ihre . . . eigene Zeitigung im Ganzen der Sorge . . . aus der verlorenen Gegenwart" (SuZ 344 f.). ^ Die Bedeutung, die die Sprache im Denken des späteren Heidegger gewinnt, sprengt ihr Fundiertsein im Existenzial der Rede. Rückblickend sagt Heidegger, „die Besinnung auf Sprache und Sein" habe seinen „Denkweg von früh an bestimmt", wenn auch „die Erörterung" anfangs — so in ,Sein und Zeit' — „im Hintergrund" bleibe (US 93). Daß Sein und Sprache »rjpräng/icfe zueinander geliören, dieser Grundgedanke Heideggers zeigt sich auch in ,Sein und Zeit', wenn auch nur in dem die spätere Problematik noch verdedtenden Anspruch der Rede, mit Verstehen und Befindlichkeit gleichiiTsprünglich das Sein des Daseins zu konstituieren. Dieser Anspruch scheitert bei der Rückführung der Strukturen der Erschlossenheit auf die dreigliedrige Zeitlichkeit. Freilich hätte es nahegelegen, anstelle des Seins b e i . . die Rede als das dritte (durch die Ekstase der Gegenwart fundierte) Strukturmoment der Sorge zu begreifen. Ein solcher Gedanke mußte sich jedoch für Heidegger vor allem deshalb verbieten, weil
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bei muß nun die Heideggers eigenen Voraussetzungen zufolge unhaltbare Konstruktion einer nidit durch einen bestimmten ekstatisdien Primat ausgezeichneten Zeitlichkeit fallen gelassen werden. Zu fragen ist also: Welche Ekstase konstituiert die Spradie primär? Hierbei drängt sich sofort die besondere Bedeutung des Gegenwärtigens f ü r das Sein der Sprache auf. Audi Heidegger muß gelegentlich der Erörterung der Zeitlichkeit der Rede hierauf verweisen: „Weil jedoch die Rede faktisch sich zumeist in der Sprache ausspricht und zunächst in der Weise des besorgendberedenden Ansprechens der ,Umwelt' spricht, hat allerdings das Gegenwärtigen eine bevorzugte konstitutive Funktion" (SuZ 349). Die Heraushebung des Wortes ,bevorzugt' unterstreidit nodi seinen prohibitiven Charakter: Heidegger will sagen, daß das Gegenwärtigen nicht wesenhafl f ü r die Zeitlichkeit der Rede oder audi nur f ü r die Zeitlidikeit der Spradie primär konstitutiv ist. Weil Rede als Sprache meistens ein besorgendes Ansprechen von innerweltlich begegnenden Seiendem ist, deshalb und in den damit gesteckten Grenzen ist sie ,bevorzugt' gegenwärtigend. Wie steht es nun aber um die Sprache, soweit sie nidit das Besorgen artikuliert? Spradie hält sich, auch wenn sie nidit das Zuhandene anspricht, in einer räumlichen Begrifflichkeit. Räumlich nun ist das Dasein nur, insofern es verfallend beim innerweltlidi begegnenden Seienden sidi verliert*. Die zeitlidie Konstitution der Räumlichkeit ist daher, entsprechend der Zeitlichkeit dieses Verfallens®, durdi den Primat des Gegenwärtigens charakterisiert. Soweit sie Ausdruck in räumlichen Bedeutungen findet, ist audi die Sprache verfallen. Für ihren zeitlichen Sinn aber besagt das, d a ß sie über das Ansprechen von Zuhandenem hinaus, nämlidi soweit sie sich ,räumlidi' ausspridit, durch die Ekstase der Gegenwart ,bevorzugt' bestimmt ist". D a nun aber f ü r die Sprache das verfallende Gegenwärtigen nicht wesenhafl konstitutiv sein soll, so m u ß nach einem nicht verfallenden, das heißt ,eigentsich dann die These vom bloßen Entspringen der Gegenwart aus den beiden anderen Ekstasen, mit weldier er letztlich den Vorrang der Zukunft in der ursprünglichen Zeitlichkeit sichert, nicht hätte aufrechterhalten lassen. — Auf den gewandelten Begriff der Sprache im Denken des späteren Heidegger kann hier nicht näher eingegangen werden. '' „Räumlich wird das Dasein nur sein können als Sorge im Sinne des faktisch verfallenden Existierens" (SuZ 367). ® Daß das hier gemeinte Verfallen (Aufgehen im Sein bei innerweltlich begegnendem Seienden) vom Verfallen an das Man ontologisdi geschieden werden muß (was Heidegger freilich unterläßt), wird im vierten Abschnitt dieser Untersuchung ins Thema rüdcen. ® Der „Vorzug des Räumlichen in der Artikulation von Bedeutungen und Begriffen hat seinen Grund nicht in einer spezifischen Mächtigkeit des Raumes, sondern in der Seinsart des Daseins. Wesenhaft verfallend, verliert sich die Zeitlichkeit in das Gegenwärtigen und versteht sich nicht nur umsichtig aus dem besorgten Zuhandenen, sondern entnimmt dem, was das Gegenwärtigen an ihm als anwesend ständig antrifft, den räumlichen Beziehungen, die Leitfäden für die Artikulation des im Verstehen überhaupt Verstandenen und Auslegbaren" (SuZ 369).
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lichen' Sprechen gefragt werden können. Für dieses läßt sich dann ein negativ charakterisierbarer Grundzug ansetzen: Es muß darauf verzichten, ,den räumlichen Beziehungen die Leitfäden für die Artikulation' (vgl. S. 58, Anm. 6) zu entnehmen. Aber gibt es ein solches Spredien? Wenn ja, dann wird es sich vermutlich im Werk Heideggers selbst antreffen lassen. N u n ist zwar die Sprache Heideggers in ,Sein und Zeit' „durch einen extremen Mangel an Bildhafligkeit ausgezeichnet" ( H H 113), mann
wie Beda
Alle-
sagt. Diese „Bilderlosigkeit" ist, wie er weiter ausführt, „durch die
Absicht bestimmt . . . , aus dem ontischen Bereich (in den die Bilder gehören) in den ontologischen zu gelangen" ( H H 1 1 3 ) . Doch der Verzicht auf Bildhafligkeit ist noch kein Verzicht auf ,Räumlichkeit' der Sprache'. Und der letztere ist am allerwenigsten möglich für ein Philosophieren wie das des frühen Heidegger, das in 5ír«^íarganzheiten und F««i^ier«ngszusammenhängen denkt und somit schon in seinem methodischen Ansatz einer räumlichen Artikulation ausgeliefert ist. Schon S t e r n b e r g e r hat darauf aufmerksam gemacht, daß „in diesen tektonischen Spradimitteln
...
sich ja hinter dem Rücken der
intentionellen ,Zeitlichkeit' ein höchst dichter geschaffner Raum" ( V T 82) durchsetzt®. Und wenn Heidegger von der Zeitlichkeit sagt, sie habe „so etwas wie einen Horizont" (SuZ 3 6 5 ; Hervorheb. v. Verf.), so zeigt gerade eine solche Analogie, daß die Existenzialanalyse selbst in der Ausarbeitung der Zeitlichkeit auf räumlidie Bestimmungen angewiesen ist. J a , die .Räumlichkeit' Heideggerschen Sprechens ist so ausgeprägt, daß sidi die von ihm herausgestellten Strukturmomente des Daseins gewaltloser als ' Wenn Heidegger auch in seinem erstmalig 1951 ersdiienenen ,Logos'-Aufsatz sagt, „das Wort des Denkens ist bildarm und ohne Reiz" (VA 229), so findet sidi dementgegen in seinen späteren Verôfîentlidiungen eine ofl so ausgeprägt bildhafte Sprache, daß Allemann sogar sagen kann, „die Sprache des Denkens" rüdce, was ihre Bilder angeht, „in die Nähe des Dichtens im engeren Sinne" (HH 114). Am eklatantesten offenbart sidi die Bildhafligkeit in der Bestimmung der Sprache selbst, die Heidegger im ,Humanismusbrief' gibt und auf die er immer wieder zurückgreift: „Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch. Die Denkenden und die Dichtenden sind die Wächter dieser Behausung" (P-H 53). Dies besagt indes nicht, daß Heidegger die Spradie nunmehr als wesenhafl durch ein verfallendes Gegenwärtigen konstituiert begreift. Es ist vielmehr, Heidegger zufolge, ein Mißverständnis, hier von Bildhafligkeit der Sprache zu reden: „Die Rede vom Haus des Seins ist keine Übertragung des Bildes vom ,Haus' auf das Sein, sondern aus dem sachgemäß gedachten Wesen des Seins werden wir eines Tages eher denken können, was ,Haus' und ,wohnen' sind" (P-H 112). Doch ob sich nun beim späteren Heidegger ein nur scheinbar bildhaftes, in Wahrheit aber vor-bildliches Spredien vollzieht oder nicht (was hier nicht erörtert werden kann): die konstitutive Bedeutung der Räumlichkeit für ein solches Sprechen jedenfalls ist unbestreitbar. Vgl. die oben folgenden Ausführungen zur Bedeutung von ,Nähe und Ferne' für Denken und Sprache audi des späteren Heidegger. ' Sternberger trifft bei der Analyse der Sprache von ,Sein und Zeit' ( V T 82 ff.) vorwiegend auf Begriffe, die dem Wortberei des Bauens entnommen sind. Neben .Struktur' und ,Fundament' (.Fundamentalontologie', ,Fundamentalanalyse') führt er u. a. an: ,Boden', ,Abheben', .Freilegen', ,Aufriß'. .Vorzeichnung'. .Entwurf. .Gründen'. .Bau'.
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auf die drei Ekstasen der Zeitlidikeit auf das räumliche Gegtnszxzpaar Nähe und Ferne als auf ihr ursprüngliches Fundament zurückführen lassen. Enthüllte sidi sdion das Gesdiehen der Auslegung als Näherung des unausdrücklichen (,fernen') Vorverstandenen (vgl. S. 10), liegt somit im Dasein — über das hinaus, was Heidegger als die existenziale Räumlichkeit des In-der-Welt-seins im § 23 von jSein und Zeit' herausarbeitet — „eine wesenhafle Tendenz auf Nähe" (SuZ 105), so ist im Grunde der Mensch doch, „als existierende Transzendenz überschwingend in Möglichkeiten, ein Wesen der Ferne" (WG 50). Denn „nur durch ursprüngliche Fernen, die er sich in seiner Transzendenz zu allem Seienden bildet, kommt in ihm die wahre Nähe zu den Dingen ins Steigen" (WG 50). Immer wieder geht es in Heideggers Analysen um Nähe und Ferne. Das ontologische Grundgeschehen ,im' Dasein — das Verfallen von der ontologisch ursprünglich vorgezeichneten Eigentlichkeit als Möglidikeit in die Uneigentlidikeit, der ontische Gewinn von Eigentlichkeit und das sich ständig erneuernde Abgleiten in das Verfallensein: der ,Wirbel' (vgl. S. 15) — ist nichts anderes als eine Bewegung zwischen der Ferne der Eigentlichkeit und der Nähe des Verfallenseins. Deshalb ruft das Gewissen, worin der Anspruch der Eigentlichkeit seine Bezeugung findet (vgl. S. 23), „aus der Ferne in die Ferne" (SuZ 271). Und das Vorlaufen zum Tode ist zwar „Näherung an das Mögliche" (SuZ 262) des Todes, aber dodi so, daß dieser als der ferne genähert wird (vgl. S. 33). Das Ferne als das Ferne nähern: darin ist wohl diese ontologisdie Bestimmung des Vorlaufens am deutlichsten ausgedrüdct. Das als das Ferne genäherte Ferne ist nun zwar auch wieder ,Nähe', jedoch ganz andere Nähe als die des ,fernelosen' Verfallenseins. In späteren Veröffentlichungen Heideggers ist diese ,eigentliche' Nähe die Wahrheit des Seins. Diese „ist die Nähe selbst", sie liegt „näher als das Nächste und zugleich für das gewöhnliche Denken ferner als sein Fernstes" (P-H 77; vgl. auch P - H 76). Deshalb ist „der Weg zum Nahen . . . für uns Mensdien jederzeit der weiteste und darum der schwerste" (SG 16). Weil die ,eigentliche' Nähe die Nähe der Ferne als Ferne ist, deshalb muß „mit ihrem Ausbleiben auch die Ferne" (VA 164) ausbleiben. Der eigentümlichen Problematik einer Nähe, die die Ferne als Ferne wahrt", ist hier nicht nachzugehen. Für den vorliegenden Zusammenhang war lediglich zu zeigen, daß der raumhafle Bezug Ferne—Nähe Heideggers Untersuchungen von Grund auf konstituiert, und selbst dies geschah allein, um den konstitutiven Charakter der Räumlichkeit für die Sprache Heideggers herauszustellen. Gelingt es nicht einmal ihr, sich der ,räumlichen' Artikulation zu entziehen, so steht zu vermuten, daß diese die Sprache wesenhafl begründet. Die die Sprache fundierende Zeitlichkeit ist aber dann, und hier ist den zeitlidien Analysen der Räumlichkeit in ,Sein und Zeit' zu folgen, ebenso wesenhaft — und nicht nur ,bevorzugt' — durch den Primat des Gegenwärtigens bestimmt. ® Vgl. zu ihr nun vor allem das soeben von Heidegger veröffentlichte Gespräch ,Zur Erörterung der Gelassenheit' (insbes. G 45, 67—72); vgl. ferner audi Heideggers Deutung von Nietzsches Zarathustra (VA 101 ff.; insbes. V A 108).
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§ 25. Das Artikulieren der Sprache Aber läßt sich der Charakter der Räumlichkeit sowie der Primat des Gegenwärtigens als f ü r die Sprache wesenhaft konstitutiv vielleicht nur deshalb herausarbeiten, weil sie immer schon das räumlidie und gegenwärtigende Aufgegangensein beim Zuhandenen voraussetzt? U n d ist dann die Sprache ontologisch nicht sogar lediglich ein Derivat des Besorgens? Dieser Anschein könnte entstehen, weil das die Sprache als Sprache Kennzeichnende, ihr Eigentümliches, noch gar nicht ins Thema rückte. Dieses Eigentümliche ist das, was sie als Redemodus charakterisiert: die Artikulation. Mag nun auch die apriorische Artikulation des Bedeutungsganzen in Dunkel gehüllt sein, das konkrete Artikulieren der Sprache ist phänomenal gegeben, ihm kann nachgegangen werden. Die Sprache artikuliert, das heißt: sie gliedert das ihr schon vorgegebene Bedeutungsganze, indem sie ,den Bedeutungen Worte zuwachsen' (vgl. S. 55) läßt. Die Worte sind das in der Sprache Artikulierte. Ihre Verbindungen und Verschmelzungen zu einem dem Bedeutungsganzen entsprechenden Zusammenhang machen die Ganzheit jeder faktischen Sprache aus. In dieser wird „das Ausgesprochene... gleichsam zu einem innerweltlichen Zuhandenen, das aufgenommen und weitergesprochen werden k a n n " (SuZ 224), und zwar ohne daß sich das Dasein „in ,originärer' Erfahrung vor das Seiende selbst zu bringen" (SuZ 224) braucht, das ursprünglich artikuliert wurde. Die ontologisch im Verfallen an das Man gründende Abschleijung jeder faktischen Sprache hat diese f ü r das Dasein ,zunächst und zumeist' zum Gerede werden lassen. Zur ,eigentlichen' Sprache gelangen heißt dann: die ursprünglichen Artikulationen sichtbar machen, durch Abschleifungen, Verbindungen und Verschmelzungen hindurch zu den diese fundierenden ,Elementen' vorzustoßen. Genau dies ist das Bemühen Heideggers in ,Sein und Zeit'. Deshalb herrscht dort, wie A l l e m a n n ausführt, „ein auf die Bedeutungen der Wortelemente gerichteter Umgang mit der Sprache. Es ergibt sich daraus eine Art von pointillistischer Sprachbetrachtung, der gegenüber der lebendige Sprachgebrauch durch sein nicht derart aufs Detail gerichtetes Verhältnis zur Sprache notwendig als im Bereich des allzu Selbstverständlichen und Verschliffenen verhaftet erscheinen m u ß " ( H H l l l ) . Die Methode Heideggers besteht hierbei darin, „daß an sich durchsichtige, aber im alltäglichen Sprachgebrauch nicht mehr eigens auf ihre zutage liegenden Elemente hin bedachte Wörter wieder in ihre Bestandteile ausartikuliert werden" ( H H 111)^°. Ihr ist hier nicht im einzelnen nachzugehen. Es kam nur darauf an zu zeigen: Sprache ist Artikulation in Wörtern. Hierbei als bei einem bloßen Faktum kann die Untersuchung jedoch nicht stehenbleiben. Die sprachliche Artikulation m u ß vielmehr auf ihren ontologischen Ursprung hin befragt werden. Als dieser kann nunmehr weder das befindliche Verstehen noch gar die in diesem fundierte Auslegung begriffen werden, denn aus keiner dieser Strukturen ist das ^^ Allemann bringt als Beispiele die Reduktion von Dasein auf Da-sein, von Wiederholung auf Wieder-holung und von Zukunft auf 2 u - k u n f t . Sie ließen sich beliebig vermehren.
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für die Sprache als wesenhaft konstitutiv aufgezeigte Artikulieren in seiner ontologischen Genesis ableitbar. Zeigt sich damit nidit die Unumgänglichkeit der Konstruktion eines ontologisch nicht weniger als Befindlichkeit und Verstehen ursprünglichen Existenzials, in dem das faktisdie Artikulieren der Sprache gründet? Ist die Einführung der apriorisch-ganzheitlich gliedernden Redestruktur in den Zusammenhang der Überlegungen von ,Sein und Zeit' nicht sdion damit gerechtfertigt? Andererseits jedoch bleibt bestehen: die Rede findet weder in der Strukturganzheit der Sorge, noch in der diese begründenden Zeitlichkeit ihren ontologischen Ort, sie hängt gewissermaßen in der Luft. Muß vielleidit dem faktischen Artikulieren des Daseins noch sdiärfer nachgefragt werden, als dies bisher geschah, soll sein ontologischer Ursprung aufgehellt werden? Die nachstehende Analyse des Gewissensrufes versucht noch ein Stück tiefer in die hier anstehende Problematik einzudringen. § 26. Der Rufcharakter des Gewissens. Artikulation und Fest-stellung Auf die Bedeutung des Gewissensrufes für den ontischen Gewinn der Eigentlichkeit des Daseins wurde schon hingewiesen: der Ruf bezeugt die ontologisch ursprüngliche Forderung an das Dasein, zum Tode vorzulaufen (vgl. S. 23). Mit ihm, „als ursprünglicher Rede des Daseins" (SuZ 296), rückt daher der ontisch eigentliche Modus dieser ins Thema. Im folgenden kann freilich lediglich, soll der Zusammenhang mit dem Thema dieses Abschnitts gewahrt bleiben, auf das Eigentümliche des Ruf Charakters des Gewissens eingegangen werden. Auch der Ruf artikuliert. Im Unterschied zur Spradie freilich bringt er „sich gar nicht erst zu Worten" (SuZ 273), er „redet im unheimlichen Modus des Schweigens" (SuZ 277). Er rückt jedoch deshalb nicht in eine ungreifbare Dunkelheit: „Das Fehlen einer wörtlichen Formulierung des im Ruf Gerufenen schiebt das Phänomen nicht in die Unbestimmtheit einer geheimnisvollen Stimme" (SuZ 273 f.). „Was der Ruf erschließt, ist trotzdem eindeutig" (SuZ 274). Wie ist nun das wortlose Artikulieren dieses Modus der Rede zu begreifen? Hier hilft die Frage nach dem Rufer des Rufes weiter. Der Ruf kommt „zweifellos nicht von einem Anderen, der mit mir in der Welt ist. Der Ruf kommt ans mir und doch über mich" (SuZ 275). Was heißt dieses ,aus mir'? „Das im Grunde seiner Unheimlichkeit sich befindende Dasein" (SuZ 276) ist der Rufer. Das ,Sich-befinden' ist terminologisch zu verstehen: Das sich in der Befindlichkeit der Angst, die die „elementarste Erschlossenheit des geworfenen Daseins" (SuZ 276) ausmacht, und somit in der Unheimlichkeit sich haltende Dasein ruft. Und was besagt: der Ruf kommt über mich? Das Dasein hat sicii ontisch sdion immer „in die Öffentlichkeit des Man und sein Gerede" (SuZ 271) verloren. So „überhört es im Hören auf das Man-selbst das eigene Selbst" (SuZ 271). Das an das Man verfallene Dasein ist das Angerufene im Gewissensruf. Hieraus erhellt zunächst: Der Ruf setzt (wie auch die Sprache) die volle Erschlossenheit des In-der-Welt-seins als vorgängige Bedingung seiner selbst voraus. Die Erschlossenheit muß hierbei freilich in ihrer ontologischen Bewegtheit begriffen werden (vgl. S. 14 f.). Die Unheimlichkeit der Eigentliciikeit 62
„setzt dem Dasein ständig nadi und bedroht, wenn audi unausdrücklidi, seine alltäglidie Verlorenheit in das M a n " (SuZ 189). Im Ruf des Gewissens tritt die Unheimlichkeit nun ausdrücklich hervor. Aber wie vermag sie das? Das Verfallen an das Man ist „die Flucht des Daseins . . . vor ihm selbst. Im Wovor der Flucht kommt das Dasein gerade ,hinter' ihm her" (SuZ 184). Die nachsetzende Unheimlichkeit kann das Fliehende nur so ,aufhalten', daß sie dieses, in der Weise eines plötzlichen Einbruchs in es, feststellt bzw. fest-legt. Der Einbruch der Unheimlichkeit als Gewissensruf bringt die Bewegung des Verfallens zum Stehen. Weil der Ruf das Dasein somit in dessen faktisdi-verfallenem In-derWelt-sein trifft, deshalb löst er nun immer eine Gewissenserfahrung aus, die sich auf ein bestimmtes vollzogenes oder beabsichtigtes Sichverhalten bezieht". Er läßt dieses Sichverhalten als Glied aus dem schon voll erschlossenen In-der-Weltsein hervortreten. Dies ist die Weise, in der der Ruf artikuliert. Damit wird nun aber deutlich: Das Artikulieren — etwa einer begangenen Tat — hat sein ontologisches Fundament im Fest-steilen der Bewegung des Verfallens. Artikulation ist, in ihrem ontologisdien Ursprung begriffen, Fest-stellung. Was aber f ü r das Gliedern des Gewissensrufes gilt, trifft auch f ü r das Gliedern der Sprache zu. Dem Dasein könnte das innerweltlich Seiende lediglich unthematisiert in den Verweisungszusammenhängen begegnen, die im Entwurf des primären Verstehens erschlossen sind, vermöchte es nicht die Bewegtheit dieser Verweisungen fest-zustellen. Eine Weise solcher Fest-stellung ist die Artikulation im Wort. Im Ansprechen v o n . . tritt das Angesprochene aus dem Modus bloßer Verwiesenheit heraus. Es wird als Angesprochenes im Ausgesprochenen fest-gestellt. Doch zurück zur Analyse des Rufes. „Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst" (SuZ 275), besagt also: Das Dasein stellt sich selbst im Gewissensruf fest. N u n ist aber weiter nach der Zeitlichkeit dieser Feststellung zu fragen. D a ß sie primär in einem Gegenwärtigen gründet, wird aus der phänomenalen Beschreibung ersichtlidi, die Heidegger f ü r das Wie dieses Rufens gibt. Er charakterisiert es als „unvermitteltes Angerufenwerden", als „abgesetztes Aufrütteln", als „Stoß" und als „Bruch", der das „Hinhören auf das Man unterbricht" (SuZ 271). Wie anders vermöchte der Ruf ,unvermittelt' in das verfallende Dasein einzubrechen denn in einem Gegenwärtigen?^^ " Werni Heidegger sagt, daß „für den Ruf die Bezogenheit auf faktisdi ,vorhandene' Schuld oder faktisch gewollte schuldbare T a t nicht primär" (SuZ 293) sei, so ist ihm insofern recht zu geben, als „die Erschließungstragweite des Rufes" (SuZ 293) weiter reicht als für ein Schuldigsein in der konkreten Situation. Im Gewissensruf w i r d das Dasein vor die Unheimlichkeit seines eigentlichen Seinkönnens gebracht. D i e nachsetzende Unheimlichkeit ist die ontologische Bedingung der faktischen Gewissenserfahrung. Aber daß der Ruf nicht nur „häufig" (SuZ 293), wie Heidegger meint, sondern notwendig im Bezug auf ein konkretes Verhalten aufbricht, hat seinen Grund eben darin, daß er das Dasein jeweils in diesem Bezug feststellt. ^^ Nicht z u f ä l l i g erinnern Heideggers Charakterisierungen des R u f e s an das A f f i ziertwerden der Sinne. V o n der A f f e k t i o n sagt Heidegger, sie setze „ontologisch das Gegenwärtigen voraus, so zwar, daß in ihm das Dasein auf sich als gewesenes zurückgebracht werden kann" (SuZ 346).
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Spricht nun aber nidit gegen den damit behaupteten Primat des Gegenwärtigens, daß der Gewissensruf „ein Vor-(nacli- ,vorne'-)Rufen des Daseins in seine eigensten Möglichkeiten" (SuZ 273), d. i. in seine Zukunft, ist? Doch er ist in eins auch Rückruf, rufend aus der „Unheimlichkeit der geworfenen Vereinzelung" (SuZ 280; Hervorheb. v. Verf.). Die Ekstase der Gewesenheit ist ebenfalls f ü r ihn konstitutiv. Es ist „vorrufender Rückruf" (SuZ 287). Audi der Ruf entspringt ontologisch einer vollen Zeitigung der Zeitlichkeit. Die Frage ist nur, weldie Ekstase in der ihn fundierenden Zeitigung den Primat hat. Wie der Gewissensruf, so weisen audi das Aufsteigen der Grundstimmung der Angst und das verstehende Vorlaufen zum Tode „aus der Ferne in die Ferne" (SuZ 271) des eigensten Seinkönnens. Für die ihnen je zugehörige Zeitigung ist aber ein je verschiedener ekstatisdier Primat konstitutiv. D a ß auch der Ruf vor die Eigentlichkeit der Existenz bringt und daß er sich auf gewesene oder auf künftig geplante Handlungen bezieht, besagt daher noch nidits über die ihn ontologisdi ursprünglich begründende Zeitlichkeit. Diese kann sich nur enthüllen, wenn das den Ruf als Ruf Charakterisierende in den Blick genommen wird. § 27. W i r k l i c h k e i t u n d Recie D a ß die Modi der Rede in einer durdi den Primat des Gegenwärtigens ausgezeichneten Zeitlichkeit wurzeln, kann nach den Analysen der Sprache und des Gewissensrufes nicht mehr zweifelhaft sein. Ist aber über ihre Zeitlichkeit entschieden, so kann auch ihre Modalität nicht mehr fraglich sein. Das Gegenwärtigen konstituiert die Wirklichkeit (vgl. S. 28 f.). Die Redemodi sind demnach durch den Primat dieser Modalität charakterisiert. Worin soll nun der Wirklichkeitscharakter der Rede bestehen? Der ursprüngliche Begriff der Wirklichkeit wurde in der Todesanalyse gewonnen. Bei ihm gilt es anzusetzen, soll das Wirklichsein der Rede in den Blick rücken. N u n schien es zunächst, als sei die totale Wirklichkeit nur negativ zu bestimmen: als das Nichts an Möglichkeit (vgl. § 20, S. 43 ff.). Sie enthüllte sich jedoch der weiterdringenden Untersuchung darüberhinaus als die Voraus-setzung des Möglichseins, genauer: als die ursprüngliche Setzung, der alles ,voraus auf . ontologisch allererst entspringt (vgl. §§ 21 und 22, S. 46—53). Die damit gewonnene positive Bestimmung von Wirklichkeit gilt es nun noch schärfer in ihrer konstitutiven Bedeutung f ü r das Dasein herauszuarbeiten. D a ß sie nicht etwa als ein vielleicht gewaltsam erzieltes Ergebnis lediglich aus der Besonderheit dieser Untersuchung herausspringt, d a f ü r liefert Heidegger selbst den Beleg, und zwar in dem 1953 gehaltenen Vortrag ,Wissenschaft und Besinnung·. D o r t rücken die Begriffe der Wirklichkeit und des Wirklichen in den Mittelpunkt seines Fragens*'. Um zu erfahren, was „der N a m e ,das Wirkliche' meint", will sich Heidegger „an die Etymologie halten", das heißt, er versucht, „im Anhalt an die frühe Wortbedeutung und ihren Wandel den Sachbereich zu erblicken, in den das Wort hineinspricht" (VA 48). Was aber heißt Auf den Zusammenhang, in dem dies geschieht — das Problem der Wissenschafl —, wird an späterer Stelle noch einzugehen sein (vgl. S. 86 в.).
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,wirken'? „ .Wirken' heißt ,tun'. Was heißt ,tun'? Das Wort gehört zum indogermanischen Stamm dhë; daher stammt audi das griechische θέσις: Setzung, Stellung, Lage" (VA 49). Mit ihm ist nun ursprünglich nicht nur die menschliche Tätigkeit gemeint: „Auch Wadistum, Walten der Natur (φύσις) ist ein Tun und zwar in dem genauen Sinne der θέσι;" (VA 49). Freilich geht Heidegger nun dieser Bestimmung der Wirklichkeit als Setzung nicht zureichend nach. Er gewinnt zwar aus dem Begriff der θέσις die Bestimmung von .wirken' als: „von sich aus etwas vor-legen, es her-stellen, her- und vor-bringen, nämlich ins Anwesen"; Wirklichkeit ist ihm „das ins Anwesen hervor-gebrachte Vorliegen, das in sich vollendete Anwesen von Sidihervorbringendem"; „der Grundzug von Wirken . . . beruht . . . darin, daß etwas ins Unverborgene zu stehen und zu liegen kommt" (VA 49). Über allen Aufweisen, wie das Wirkliche — sich heute als „Gegen-Stand" (VA 51) zeigend — in der „mannigfach gewandelten Bedeutung . . . immer noch den früheren" (seil, den griechischen), „aber jetzt weniger oder anders hervorkommenden Grundzug des Anwesenden" behält, „das sich von sich her herausstellt" (VA 51), — über all den geschichtlichen Aufweisen Heideggers bleibt die für die Wirklichkeitsproblematik entscheidende Frage unentfaltet: Wieso kann etwas ins Unverborgene zu stehen kommen? Mit anderen Worten: Worin gründet der von Heidegger in dem zitierten Vortrag immer wieder hervorgehobene setzende oder stellende Charakter des Wirkens?'* Die in dieser Arbeit bisher unternommenen Analysen gestatten sclion hier den Versudi einer Antwort auf diese Frage. Das ontologisch ursprüngliche Konstituens des Daseins ist die totale Wirklichkeit, der Tod. In der Abkehr von ihr zeitigt sich das Möglidisein des Daseins. Dieses ist ontisch immer schon in der Vielfalt der gezeitigten Möglichkeiten aufgegangen. Gleidiwohl kann es sich dem, wovon es ursprünglich konstituiert wird, nicht entziehen. Das Dasein ist in seinem konkreten Verhalten auf die Wirklichkeit des Seienden aus, weil es ontologisdi primär von der totalen Wirklidikeit konstituiert wird. Und weil diese nun Setzung ist, so kann sich der ontische Gewinn von Wirklichkeit nur als Setzung — wenn auch in mannigfachen Weisen — vollziehen. Der Tod ist so, wie Heidegger einmal sagt — freilich lediglich indem er Rilke zu interpretieren sucht —, als „Versammlung des S e t z e n s . . . das Ge-setz, so wie das Gebirg die Versammlung der Berge in das Ganze ihrer Gezüge ist" (Hw 280). Der konstitutive Charakter des Todes als der totalen WirklicJikeit für alle faktische Erfahrung von Seiendem als Wirklichem wird in den folgenden AbD a ß im Rekurs auf die (abendländische) Geschichte keine zureichende Antwort auf diese Fragen zu finden ist, wird in einem v o n Heidegger soeben veröffentlichten Gespräch „zwischen einem Japaner und einem Fragenden" ( U S 83—155) besonders deutlich. Wenn es dort heißt, daß „die Art des begrifflichen Vorstellens allzu leicht in jede menschliche Erfahrungsweise sich einnistet", und zwar „auch dort, w o das Denken ein in gewissem Sinne begriffloses ist", wie das japanische, und wenn sich damit zeigt, daß eine solche „metaphysische Vorsteliungsweise . . . in gewisser Hinsicht unumgänglich" ist ( U S 116), — dann kann der letzte Ursprung solchen Vor-stellens nicht im (abendländisch verstandenen) Geschick des Seins beruhen.
65 5 Müller-Lauter, Möglidikeit und Wirklidikeit
schnitten immer wieder ins Thema rücken. Inwiefern aber, und nur dies ist hier zu fragen, konstituiert die ursprüngliche Setzung die Redemodi? Insofern sie dem in der Vielfalt des Möglichen aufgehenden Dasein nachsetzt (vgl. S. 62 f.) und in diesem Nachsetzen die Fest-stellung der verfallenden Bewegtheit fordert. Das Nachsetzen ist so die ontologische Bedingung aller Fest-stellung und Artikulation in den dargestellten ontischen Redemodi. Mit ihm ist dann aber die gesuchte ,apriorische Grundstruktur von Rede überhaupt als Existenzial' gefunden. Die ursprüngliche Rede ist dann nicht etwa ein Derivat der primär durch Verstehen und Befindlichkeit konstituierten Erschlossenheit oder gar der in diesen Strukturen fundierten Auslegung. Vielmehr ist die Erschlossenheit als Erschlossenheit schon durch die Rede mitkonstituiert, insofern im befindlichen Verstehen das Nachsetzen der ursprünglichen Setzung des Todes wesenhafi: mitschwingt. Das Nach-setzen fordert die Fest-stellung. Die Fest-stellung unterbricht die Bewegtheit der Verweisungen von Möglichkeit auf Möglichkeit und bringt sie ,zum Stehen' (vgl. S. 63). Wie aber kann sich die Unterbrechung vollziehen? Nur so, daß das Dasein vor das Nichts an Möglichkeit gestellt wird. Der Einbruch der Setzung ist der Einbruch des Nichts in das sich in Möglichkeiten bewegende Dasein. Auf die Frage: „Was ruft das Gewissen dem Angerufenen zu?", muß daher die Antwort lauten: „Streng genommen — nichts" (SuZ 273). Das Nichts an Möglichkeit aber ist die ursprüngliche Setzung des Todes. Es ist, hinsichtlich seiner Modalität begriffen, die totale Wirklichkeit. Was sich somit in den ontischen Modi der Rede durch-setzt, ist die Forderung der ursprünglichen Wirklichkeit an das in Möglichkeiten aufgegangene Dasein, in seinem konkreten Verhalten Wirklichkeit zu konstituieren. Dies geschieht z. B. im Hinzeigen auf .., im Ansprechen oder Bezeichnen von . . . In diesen Modi der Rede wird ein Mögliches fest-gestellt, d. h. seine Verwiesenheit auf die Vielfalt von anderem Möglichen wird unterbrochen. Die Unterbrechung aber wird, ontologisch ursprünglich betrachtet, von der totalen Wirklichkeit konstituiert. Indem sie das fest-gestellte Mögliche kein bloß Mögliches mehr sein läßt, setzt sie es als wirklich. Und im Ruf des Gewissens stellt das Dasein eine seiner eigenen Möglichkeiten fest: eine gewesene im rügenden oder eine künftige im warnenden Gewissen. Daß diese damit als wirklich gesetzt wird, macht die unabweisbare und bedrängende Ständigkeit jeder faktischen Gewissenserfahrung aus. Sonach ist Rede θέσις: ,Setzung, Stellung, Legung'. Sie ist hinsichtlich ihrer Modalität ursprünglidi Wirklichkeit. Verliert freilich, etwa im Modus der Sprache, „das Reden den primären Seinsbezug zum beredeten Seienden" und „teilt es sich nicht mit in der Weise der ursprünglichen Zueignung dieses Seienden, sondern auf dem Wege des Weiter- und Nachredens" (SuZ 168), so wird das als wirklich Fest-gestellte wieder in die Bewegtheit des Verfallens, den ,Wirbel', hineingerissen. Rede wird dann zum Gerede. Inwiefern sich damit ihre Modalität abwandelt, wird im folgenden Abschnitt, in der verschärften Erörterung des Verfallens an das Man, deutlich werden. 66
Vierter
Abschnitt
Modalität und Zeitlichkeit des Seins beim niditdaseinsmäßigen Seienden und des Verfallens an das Man § 28. Das Sein zum Tode und die faktisdi ersdiließbaren Möglichkeiten der Existenz Im Zuge der kritischen Untersudiung des Heideggersdien Begriffes des Todes wurde dieser als die Ur-Möglidikeit des Daseins herausgearbeitet. Als die Voraus-setzung der Ur-Möglidikeit jedoch wurde die Un-Möglidikeit aufgewiesen. Diese enthüllte sidi als die totale Wirklidikeit. Deren sdiärferer Ausarbeitung galten die Überlegungen im letzten Paragraphen des vorigen Abschnittes. Die diese Arbeit bewegende Frage hat zu einer Umkehrung von Heideggers These geführt. Ontologisch ursprünglicher als die Möglidikeit, so zeigte sich, ist die Wirklichkeit. Doch geriet das Möglidisein des Daseins in all dem schon voll in den Blidc? Wie steht es um die seiner Faktizität entspringenden „.wirklich' ergreifbaren Möglichkeiten", von denen schon beim Aufweis der Struktur der Befindlichkeit gesprochen wurde? (vgl. S. 13). „Die faktisch erschlossenen Möglichkeiten sind . . . dodi nicht dem Tod zu entnehmen" (SuZ 383). Woher gewinnt sie das Dasein? Das Dasein sdiöpft seine faktisdien Möglichkeiten aus seiner Geworfenheit. Als geworfenes ist es immer schon an das Man verloren (vgl. S. 15). Auch die vorlaufende Entschlossenheit ist auf die im Man schon vorgezeichneten Möglidikeiten angewiesen, die sie freilich, indem sie sie ergreift, modifiziert. „Das eigentliche existenzielle Verstehen entzieht sidi der überkommenen Ausgelegtheit so wenig, daß es je aus ihr und gegen sie und doch wieder für sie die gewählte Möglichkeit im Entschluß ergreift" (SuZ 383). Das Wählen der faktischen Möglidikeiten ist gesòiòtlich, insofern das Dasein als geworfenes ein Erbe überkommener Möglichkeiten übernimmt. Jede Zufälligkeit der Wahl — wie sie die verlorene Alltäglichkeit der Existenz diarakterisiert — wird ausgeschaltet, wenn das Dasein zu seinem Tode vorläuft. „ J e eigentlicher sich das Dasein entschließt, das heißt unzweideutig aus seiner eigensten, ausgezeichneten Möglichkeit im Vorlaufen in den Tod sich versteht, um so eindeutiger und unzufälliger ist das wählende Finden der Möglidikeit seiner Existenz" (SuZ 384). Vorlaufend bringt sich das Dasein in „die Einfachheit seines Schicksals" (SuZ 384), welches die ursprünglidie Geschichtlichkeit des Daseins ausmacht. Das heißt aber: „Das eigentliche Sein zum Tode . . . ist der verborgene Grund der Gesώichtliώkeit des Daseins" (SuZ 386). 67
Sind nun audi die faktisch-gesdiichtlidien Möglichkeiten des Daseins nur deshalb als Möglichkeiten erschlossen, weil das Dasein sich zum Tode als zu seiner Ur-Möglidikeit verhält, so muß nun doch das ,Faktische' in ihnen näher befragt werden. Wie aber kann dies geschehen? Was je geschichtlich gewählt wird, „wozu sich das Dasein je faktisch entschließt, vermag die existenziale Analyse grundsätzlich nicht zu erörtern" (SuZ 383). Doch auch „den existenzialen Entwurf von faktischen Möglichkeiten" (SuZ 383) — mögliches Thema einer philosophischen Anthropologie auf der Basis von ,Sein und Zeit' — sdiließt Heidegger aus seinen lediglich die Frage nach dem Sein vorbereitenden Erörterungen aus. Muß nun aber nicht ein solcher Entwurf ausgearbeitet werden, wenn das faktische Möglichsein des Daseins genauer untersucht werden soll? Keineswegs. Hat Heidegger doch in den Analysen der Geworfenheit, des Verfallens, des Man, des Seins bei . . und anderer Phänomene schon die grundlegenden existenzialen Bestimmungen des faktischen Möglichseins gewonnen. Nur die Erörterung jener kann die Frage nach diesem voranbringen. Liegen sie doch vor allem Unterschiedlichen des jeweils faktisch im Entschluß Ergreifbaren. Und wird so die Gefahr vermieden, die am Entwurf bestimmter faktischer Möglichkeiten gewonnenen Ergebnisse unangemessen zu verallgemeinern. Zwar ist der Tod die äußerste Möglichkeit des Daseins, zwar versagen angesichts seiner alle Bezüge zu anderem Seienden. „Das Versagen des Besorgens und der Fürsorge bedeutet jedodi keineswegs eine Abschnürung dieser Weisen des Daseins vom eigentlichen Selbstsein" (SuZ 263). Vielmehr ist das Dasein „eigentlich es selbst nur, sofern es sich als besorgendes Sein bei . . und fürsorgendes Sein m i t . . primär auf sein eigenstes Seinkönnen, nicht aber auf die Möglichkeit des Man-selbst entwirft" (SuZ 263). In der im folgenden vorgelegten grundsätzlichen Analyse des Seins bei innerweltlich begegnendem Seienden soll die Frage nach dem ,faktischen Möglidisein' des Daseins aufgerollt werden. Hierbei bleibt die Problematik der Fürsorge, d. h. die Frage nach dem „Sein mit dem innerweltlich begegnenden Mitdasein Anderer" (SuZ 193), die einer eigenen und ausführlichen Ausarbeitung bedarf (vgl. S. 104), ausgeklammert. Die abzuhandelnde Sache erfordert, der damit gesetzten Einschränkung ungeachtet, eine weit ausholende Erörterung. Insbesondere die Mehrdeutigkeit des Heideggerschen Verfallensbegriffes, der in der Frage nadi dem Sein b e i . . schärfer als bisher untersucht werden wird, macht ein mühsames, scheinbar vom Thema dieser Arbeit fortführendes Herauspräparieren von in sich verschlungenen Problemzusammenhängen nötig. § 29. Die Indifferenz des besorgenden Seins b e i . . hinsichtlicii von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit Nicht nur das uneigentlidie sondern auch das eigentliche Existieren hält sich im besorgenden Sein bei . . . Das Besorgen ist hinsichtlich der Modi von Eigentlichkeit und Uneigentlidikeit indifferent. Was besagt diese Indifferenz? 68
Heidegger interpretiert das Dasein im Zuge der ersten Ausarbeitung der Weltlidikeit der Welt in ,Sein und Zeit' „nicht in der Differenz eines bestimmten Existierens, sondern in seinem indifferenten Zunächst und Zumeist" (SuZ 43). Diese Indifferenz madit „die durdischnittlidie Alltäglichkeit des Daseins" (SuZ 44) aus. Wird auch im Fortgang der Daseinsanalyse als „das Selbst der Alltäglichkeit . . . das Man" (SuZ 252) bestimmt und erscheint sonach die genannte Indifferenz nur als erster und vorläufiger Ansatz, um später in der Uneigentlichkeit aufzugehen, so finden sich andererseits Hinweise, die sie ausdrücklich von der Uneigentlichkeit abheben. So sagt Heidegger, daß die „Indifferenz der Alltäglichkeit des D a s e i n s . . . ein positiver phänomenaler Charakter dieses Seienden" (SuZ 43) ist. „Auch in ihr und selbst im Modus der Uneigentlichkeit liegt a priori die Struktur der Existenzialität" (SuZ 44; Hervorheb. v. Verf.). Und wenn es heißt, daß das jemeinige „Seinkönnen frei für Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit oder die modale Indifferenz ihrer" (SuZ 232) ist, so legt sich gar die Vermutung nahe, die Indifferenz sei ein ontologisch eigenständiger Modus. Sie erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung als unzutreffend. Heideggers Analyse des Daseins, auf die Eigentlidikeit des eigensten Seinkönnens zugeschnitten und von ihr her bestimmt, faßt schließlich doch alle nicht in dieser wurzelnden Entwürfe als un-eigentliche pauschal zusammen^. Wenn das Dasein sonach nur in der Differenziertheit von Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit faktisdi zu existieren vermag, so kann eine Indifferenz nur darin liegen, daß bestimmte Strukturen sowohl für das eigentliche als auch für das uneigentliche Existieren als konstitutiv aufgezeigt werden können. Das hier in Frage stehende Besorgen nun ist insofern indifferent, als die Strukturen der es fundierenden Bedeutsamkeit — „das Worumwillen bedeutet ein Um-zu, dieses ein Dazu, dieses ein Wobei des Bewendenlassens, dieses ein Womit der Bewandtnis" (SuZ 87) — dem Dasein zugehörig sind, ob es sich nun aus seinem eigentlidien oder aus uneigentlichem Seinkönnen an das innerweltlich begegnende Seiende verweist. Werden jedoch die zeitlichen Fundamente des besorgenden Seins b e i . . untersucht, so zeigen sich Schwierigkeiten. „Für die Zeitlichkeit, die das Bewendenlassen konstituiert, ist ein spezifisches Vergessen wesentlich" (SuZ 354). Vergessen hat „sich das Dasein in seinem eigensten geworfenen Seinkönnen" (SuZ 339). Dieses Vergessen der Eigentlichkeit ist nun aber die existenziale Bedingung dafür, daß „das besorgende, gewärtigende Gegenwärtigen behalten" kann, „und zwar das niditdaseinsmäßige, umweltlich begegnende Seiende" (SuZ 339). Insofern nun ein solches Behalten für das sich in Verweisungsbezügen bewegende Besorgen wesenhaft konstitutiv ist, scheint der Versuch, das besorgende Sein bei . . als indifferent zu begreifen, zu scheitern. Wenn zum Besorgen ein Vergessen der Eigentlichkeit gehört, muß es dann nicht als wesenhafl uneigentlich charakterisiert werden? Und doch sagt Heidegger, daß sich ^ So sagt Heidegger im Rückblick auf den 1. Abschnitt des 1. Teiles von ,Sein und Zeit' (wo ja das Dasein zunächst in seiner .indifferenten' Alltäglichkeit interpretiert wurde) : „In der Vorhabe stand immer nur das uneigentlióe Sein des Daseins" (SuZ 233).
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„audi die eigentliche Existenz des Daseins . . . in soldiem Besorgen" hält, — „selbst dann, wenn es für sie ,gleichgültig' bleibt" (SuZ 352). Schließen aber Wahl der Eigentlichkeit und Vergessen der Eigentlichkeit einander nicht aus? Darauf ließe sidi antworten: Ontisch ist das Dasein immer schon in der Uneigentlichkeit. Es gewinnt seine Eigentlichkeit ja allererst aus dem Verfallensein in der Uneigentlichkeit. Solcher Gewinn löscht nun aber nicht einfach das im Vergessen Behaltene aus, sondern bezieht es, als nun vom eigensten Worumwillen her erschlossen, in die eigentliche Existenz ein. Dem entschlossenen Dasein begegnet ja keine neue, bisher unentdeckt gebliebene Region des Seienden: „Die zuhandene ,Welt' wird nicht ,inhaltlich' eine andere" (SuZ 297 f.). Aber die „eigentliche Erschlossenheit modifiziert... die in ihr fundierte Entdecktheit der ,Welt' " (SuZ 297). Dodi dann wird der Begriff der Uneigentlichkeit problematisch. Einmal erscheint das Besorgen als indifferent; seine Strukturen sind sowohl dem Verfallen an das Worumwillen des Man zugehörig als auch dem Ergreifen des eigensten Worumwillen. Andererseits aber ist für das Besorgen ein uneigentliches Vergessen wesenhafl konstitutiv. Das heißt aber: Das Dasein ist unaufhebbar uneigentlich, insofern es sich notwendig im Besorgen hält. Es ist nicht unaufhebbar uneigentlidi, insofern es sich nicht notwendig aus dem Worumwillen des Man versteht. Eine gewisse Zweideutigkeit des Heideggersdien Begriffs der Uneigentlichkeit ist unverkennbar. Liegt das ihn Charakterisierende im Aufgehen beim Seienden als Besorgen oder im Sichverstehen aus dem Man? Dieser Zweideutigkeit soll im folgenden, in der erneut aufgenommenen Analyse des Verfallens, durch das ja die Uneigentlidikeit „eine schärfere Bestimmung" (SuZ 176) erfährt, nachgefragt werden. § 30. Verschärfte Analyse des Verfallens Das Dasein verfällt, dies besagt: es erschließt die Welt vom Worumwillen des Man her (vgl. S. 15). Heidegger hält jedoch an dieser Bestimmung des Verfallens nicht eindeutig fest. So hieß es schon bei der ersten Erwähnung der Modifizierbarkeit des Strukturganzen des In-der-Welt-seins, das Dasein verstehe sich als eigentliches primär aus dem Worumwillen, als uneigentliches hingegen primär aus seiner Welt (vgl. S. 8 und SuZ 146). Dies scheint nun eine ungenaue Formulierung zu sein, die durch die genauere ersetzt werden müßte: Das Dasein versteht sich als eigentliches primär aus seinem eigensten Worumwillen, als uneigentliches primär aus dem Worumwillen des Man. Doch die Nuance ist wohl nicht wesentlich, der Hinweis auf sie gar überflüssig: sind doch Worumwillen und Welt wesenhafl als Einheit entworfen. Die Bedenken gegen die nun herangezogene Bestimmung des Verfallens durch Heidegger scheinen sich zerstreuen zu lassen, insofern doch das Dasein, ist es an das vom Man vorgezeichnete Worumwillen verloren, sein Seinkönnen immer auch aus der in solchem Verfallen wesenhafl miterschlossenen Welt versteht. Bei genauerem Zusehen tritt jedoch in einer solchen Bestimmung die sdion erwähnte Zwei70
deutigkeit des Heideggerschen Begriffs der Uneigentlichkeit bzw. des Verfallens wieder hervor. Um sie deutlidier herauszuarbeiten, bedarf es nodi einiger weiterer Schritte. Heidegger bleibt nämlidi nicht dabei stehen, das Verfallen als ein Sidiverstehen des Daseins aus seiner Welt zu bestimmen. Noch häufiger finden sich Formulierungen wie diese: „Das Dasein ist von ihm selbst als eigentlidiem Selbstseinkönnen zunächst immer schon abgefallen und an die ,Welt' verfallen" (SuZ 175). Oder: „Zunächst und zumeist ist das Dasein an seine ,Welt' verloren" (SuZ 221). ,Welt' ist hier in Anführungsstriche gesetzt. Diese Anführungsstriche haben nun eine wesentliche terminologische Funktion. Sie trennen yWelt', d. i. das innerweltlich begegnende Seiende, von Welt, worunter Heidegger gerade „nidit . . . das Seiende, das das Dasein wesenhafl nidit ist und das innerweltlich begegnen kann, sondern . . . das, ,worin' ein faktisches Dasein als dieses ,lebt' " (SuZ 65), versteht. „Welt ist selbst nicht ein innerweltlich Seiendes" (SuZ 72). Die beiden Begriffe von Welt dürfen im Zusammenhang ontologischer Analysen nicht miteinander vermengt werden. So wendet Heidegger der traditionellen Erörterung der Frage nach der Realität der Welt kritisch ein: „Welt als das Worin des In-Seins und ,Welt' als innerweltlich Seiendes, das Wobei des besorgenden Aufgehens, sind zusammengeworfen bzw. gar nicht erst unterschieden" (SuZ 202 f.). Wenn er selbst aber in der Erörterung des Verfallens diese offensichtlich so wesentliche Differenz überspringt, so muß doch wohl nach der Rechtmäßigkeit solchen Vorgehens gefragt werden. Aber besteht denn überhaupt eine Schwierigkeit, auch noch diesen Schritt der Verfallensanalyse nachzuvollziehen? Mag die genannte Differenz für die Klärung der Realitätsproblematik von entscheidendem Gewicht sein, so ist sie vielleicht doch für den hier behandelten Zusammenhang unerheblich. Schließlich hat Heidegger gezeigt: „,Welt' ist mit der Erschlossenheit von Welt je auch schon entdeckt" (SuZ 203). Das vom Worumwillen der öffentlichen Ausgelegtheit her gestiftete Erschließen von Welt ist ja doch immer auch ein Entdecken von Seiendem. Das Seiende wird hierbei auf eine Bewandtnisganzheit hin freigegeben, „die dem Man vertraut ist, und in den Grenzen, die mit der Durchschnittlichkeit des Man festgelegt sind" (SuZ 129). Wird denn aber eine solche Freigabe des Seienden innerhalb der Grenzen der Durchschnittlichkeit des Man tatsächlich dem gerecht, was Heidegger Verfallen an die ,Welt' oder Aufgehen in der ,Welt' nennt^? Doch wohl nicht. Denn solche Bestimmungen geben einem betonten Sichverlegen des Verstehens in das Seiende Ausdruck, dessen Eigentümlichkeit nicht aus dem Verfallen an das Worumwillen der öffentlichen Ausgelegtheit abgeleitet werden kann. Diese Betonung erfährt noch eine Verstärkung, wenn Heidegger das Verfallen als ^ „Zunächst und zumeist ist das Dasein an seine jWelt' verloren" (SuZ 221). — Im Verfallen kehrt sich das Dasein hin „zum innerweltlichen Seienden als Aufgehen in ihm" (SuZ 186). „Die Angst . . . holt das Dasein aus seinem verfallenden Aufgehen in der ,Welt' zurüdt" (SuZ 189).
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Aufgehen im Man und der .Welt* charakterisiert'. Damit rückt die Verlorenheit an die ,Welt' als ein beinahe eigenständiges Moment neben das Man, das doch bisher als ihr Ursprung begriffen wurde*. Ja, in der Bestimmung des Verfallens als eines Verstehens aus der ,Welt"kündigt sich eine ¡Rückstrahlung' (vgl. SuZ 15 f.) des entdeckten Seienden auf das volle Verstehen an, für die die bisherige Analyse des Heideggerschen Verfallensbegrifies keine zureichende Erklärung zu bieten vermag. Sie rückt anläßlidi Heideggers Charakterisierung des verfallenen ontologisòen Verständnisses des Daseins ins Thema. Das Verstehen hat sich „zunächst und zumeist sdion in das Verstehen von jWelt' verlegt . . . gemäß der Seinsart des Verfallens. Auch wo es nicht nur um ontische Erfahrung, sondern um ontologisches Verständnis geht, nimmt die Seinsauslegung zunächst ihre Orientierung am Sein des innerweltlichen Seienden. Dabei wird das Sein des zunächst Zuhandenen übersprungen und zuerst das Seiende als vorhandener Dingzusammenhang (res) begriffen" (SuZ 201). Mit der Zuhandenheit, dem An-sich des nichtdaseinsmäßigen Seienden, überspringt die verfallende Seinsauslegung die Welt. Von diesem „Überspringen der Welt und des zunächstbegegnenden Seienden" sagt Heidegger, daß es „nicht zufällig ist, kein Versehen, das einfadi nachzuholen wäre, sondern daß es in einer wesenhaflen Seinsart des Daseins selbst gründet" (SuZ 100), d. i. dem Verfallen. Wie aber kommt es, daß sich das Dasein im Verfallen „ontisch aus dem Horizont des Besorgens versteht, ontologisch aber das Sein im Sinne von Vorhandenheit bestimmt?" (SuZ 293) Wie läßt sich — da Vorhandenheit ja in Zuhandenheit fundiert ist — die Herrschaf!: des Seienden als des Vorhandenen über die Frage nach dem Sein in ihrer fundamentalontologischen Genesis aus der ihr doch vorgängigen Vertrautheit des Daseins mit dem Zuhandenen ableiten? Darauf wird in den veröffentliditen Absdinitten von ,Sein und Zeit' keine Ant' „Das Aufgehen im Man und bei der besorgten .Welt' offenbart so etwas wie eine Flucht des Daseins vor ihm selbst als eigentlichem Selbst-sein-können" (SuZ 184). „Das Verfallen des Daseins an das Man und die besorgte jWelt' nannten wir eine ,Flucht' vor ihm selbst" (SuZ 189). „Die Angst benimmt . . . dem Dasein die Möglichkeit, verfallend sich aus der jWelt' und der öffentlidien Ausgelegtheit zu verstehen" (SuZ 187). „Die Verlorenheit in das Man und an das Welt-GeschichtlicJie enthüllte sidi früher als Flucht vor dem T o d e " (SuZ 390). * Es sei darauf hingewiesen, daß die Amphibolie, die hier am Begriff des Vcrfallens aufgezeigt wird, audi gelegentlich von Heideggers Ausarbeitung der Gfworfenheit zutage tritt. So heißt es etwa: „In sein ,Da' geworfen, ist das Dasein faktisch je auf eine bestimmte — seine — ,"Welt' angewiesen. In eins damit sind die nädisten faktisdien Entwürfe von der besorgenden Verlorenheit in das Man geführt" (SuZ 297). Gerade diesem ,in eins' will die oben versuchte Analyse schärfer nadifragen. ® „Zunädist und zumeist versteht sich das Dasein aus dem umweltlich Begegnenden und umsichtig Besorgten" (SuZ 387). „Im besorgenden Aufgehen versteht sich das D a sein aus dem innerweltlich Begegnenden" (SuZ 225). „Mit seiner Welt ist es" (seil, das Dasein) „für es selbst da und zwar zunächst und zumeist so, daß es sidi das Seinkönnen aus der besorgten ,Welt' her erschlossen hat" (SuZ 270). Verfallend versteht es sidi „aus der .Welt' " (SuZ 187; vgl. SuZ 21 f.).
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wort erteilt. Am Ende des Buches bleibt offen: „Warum wird das Sein gerade ,zunächst' aus dem Vorhandenen ,begriffen' und nicht aus dem Zuhandenen, das doch noch näher liegt?" (SuZ 437) N u r eines deutet sidi an: Die Herrschaft der Vorhandenheit, gekennzeichnet durch das Überspringen von Welt und Zuhandenheit, läßt sich von Heidegger nicht mehr — wie noch das primäre Entdecken des Seienden als des Zuhandenen und wie audi der Umschlag von Zuhandenheit in Vorhandenheit (vgl. SuZ § 16, 72—76) — aus der Struktur des Daseins verstehen. So lauten die beiden ersten Fragen, die Heidegger im bisher unveröffentliditen 3. Abschnitt des I.Teiles von ,Sein und Zeit' beantworten wollte: „1. Warum wurde im Anfang der für uns entscheidenden ontologisdien Tradition — bei Parmenides explizit — das Phänomen der Welt übersprungen; woher stammt die ständige Wiederkehr dieses Überspringens? 2. Warum springt für das übersprungene Phänomen das innerweltlidi Seiende als ontologisdies Thema ein?" (SuZ 100). Die sich darin (und sdion im § 6 von ,Sein und Zeit', 19—27) ankündigende Tendenz setzt sich in den späteren Veröffentlidiungen Heideggers gänzlich durch: Um das rätselhafte Phänomen der ,ständigen Wiederkehr' des Überspringens von Welt und Zuhandenheit aufzuhellen, springt er selbst: aus der Strukturanalyse in die faktisdie Geschichte. Doch es ist zu fragen: Wird die Herrschaft des Verständnisses des Seienden als des Vorhandenen zu recht im Verfallen untergebracht, wenn sie nicht in ihrer ontologisdien Genesis aus der Struktur des Verfallens abzuleiten ist? Ist diese Herrschaft vielleicht gar nidit als Modus des Verfallens zu begreifen, wenigstens nicht des Verfallens im bisher erörterten Sinne, des Verfallens an das Man? Dem wird noch nachzugehen sein. Vorerst soll darauf hingewiesen werden, daß nicht nur der ontologische Ursprung der Rückstrahlung des Verständnisses von jWelt' als des Vorhandenen auf das volle Verstehen, sondern auch schon der ontologische Ursprung der Akzentuierung der ,WeIt' im Verfallen, von der weiter oben die Rede war, innerhalb der Heideggerschen Existenzialanalytik im dunkeln bleibt. Das Verfallen wurde als eine Modifikation des Strukturganzen, die durch die Übernahme des Worumwillen des Man charakterisiert ist, bestimmt. Darin liegt aber dodi noch kein betonter Bezug zum innerweltlich entdeckten Seienden. So wäre doch denkbar, daß infolge des das Verfallen diarakterisierenden Momentes, daß „die mitgeteilte Rede weitgehend verstanden werden" kann, „ohne daß sich der Hörende in ein ursprünglich verstehendes Sein zum Worüber der Rede bringt" (SuZ 168), „nun ein Gerede über die ,Wahrheit des Seins' und über die ,Seinsgeschichte' " (P-H 92) in der geschichtlichen Auswirkung des Denkens Heideggers aufkäme, das zweifellos ein Verfallen darstellen würde, welches jene Akzentuierung des innerweltlich begegnenden Seienden nicht in sich schlösse. Daß das ,Verfallen an das Man' und das ,Aufgehen in der ,Welt" durchaus nicht wesenhaft zusammengehören, wird noch deutlicher, wenn die vom Man geführte Entdecktheit des Seienden in den Blick genommen wird. Das Entdeckte steht hierbei „im Modus der Verstelltheit... durdi das Gerede, die 73
Neugier und die Zweideutigkeit. Das Sein zum Seienden ist nicht ausgelöscht, aber entwurzelt. Das Seiende ist nicht völlig verborgen, sondern gerade entdeckt, aber zugleich verstellt; es zeigt sich — aber im Modus des Scheins" (SuZ 222). Die durchschnittliche Verständlidikeit des Geredeten als soldien tritt an die Stelle „der ursprünglichen Zueignung dieses Seienden" (SuZ 168). Das Geredete „wird verstanden, das Worüber nur ungefähr, obenhin" (SuZ 168). Nicht das Aufgehen beim Seienden, „das Aufgehen im Gesagten gehört zur Seinsart des Man" (SuZ 224). Das Dasein hält sich so „in einer Schwebe und ist in dieser Weise doch immer bei der ,Welt'" (SuZ 170). Insofern das Man durch Neugier bestimmt wird, sucht es „das Neue nur, um von ihm erneut zu Neuem abzuspringen" (SuZ 172). Die Neugier „besorgt ein Wissen, aber lediglich um gewußt zu haben" (SuZ 172). Unverweilen beim Nächsten, Zerstreuung in immer neue Möglichkeiten und Aufenthaltslosigkeit sind ihre Kennzeichen. Und die Zweideutigkeit verwischt die Grenzen zwischen echtem und unechtem Verstehen. Vom einen zum anderen springend entflieht also das Verfallen an das Man gerade jedem aufgehenden Aufenthalt beim Seienden, es „sucht daher auch nicht die Muße des betrachtenden Verweilens, sondern Unruhe und Aufregung durdi das immer Neue und den Wechsel des Begegnenden" (SuZ 172). Es hat „nichts zu tun mit dem bewundernden Betrachten des Seienden, dem θαυμάζειν" (SuZ 172). Kann dann aber noch länger gezögert werden, das Aufgehen in der ,Welt' vom Verfallen an das Man innerhalb der ontologischen Analyse zu trennen? Daß hier nicht von einem, sondern von zwei Phänomenen die Rede sein muß, soll die folgende Analyse der Zeitlichkeit des Verfallens erhärten. § 31. Zeitlichkeit und Modalität des Verfallens an das M a n Die ursprüngliche und eigentlidie Zeitlichkeit zeigte sich Heidegger zufolge als dadurch charakterisiert, daß die Gegenwart in den beiden anderen Ekstasen gehalten bleibt (vgl. S. 28). Verfällt das Dasein, so modifiziert sidi diese Zeitlichkeit derart, daß die Gegenwart solchem Gehaltensein entspringt. Sie übernimmt den Primat in der ekstatischen Einheit der Zeitigung des Verfallens. Dieser gehört als uneigentlidier Modus der Zukunft das Gewärtigen des Besorgbaren und als uneigentlicher Modus der Gewesenheit das Vergessen des eigensten geworfenen Seinkönnens zu. Wie ist nun dieser Primatcäiarakter der Gegenwart näher zu bestimmen? Heidegger beschränkt seine entsprechende zeitliche Analyse auf das Phänomen der Neugier, „weil an ihr die spezifische Zeitlichkeit des Verfallens am leichtesten zu sehen ist" (SuZ 346). Dem ist zuzustimmen, nicht jedoch der von ihm vorgelegten Analyse der Neugier selbst. „Die Gier nach dem Neuen", so führt Heidegger aus, „ist zwar ein Vordringen zu einem Nocii-nicht-Gesehenen, aber so, daß das Gegenwärtigen sich dem Gewärtigen zu entziehen sucht" (SuZ 346 f.). Sie wird sonach „konstituiert durch ein ungehaltenes Gegenwärtigen, das . . . ständig dem Gewärtigen, darin es doch ungehalten .gehalten' ist, zu entlaufen sucht. Die Gegenwart .entspringt' 74
dem zugehörigen Gewärtigen in dem betonten Sinne des Entlaufens. Das .entspringende' Gegenwärtigen der Neugier ist aber so wenig an die ,Sache' hingegeben, daß es im Gewinnen der Sidit audb schon wegsieht auf ein Nädistes" (SuZ 347). „Das .Entspringen' ist eine ekstatische Modifikation des Gewärtigens, so zwar, daß dieses dem Gegenwärtigen ,nachspringt'. Das Gewärtigen gibt sidi gleichsam selbst auf" (SuZ 347). Aber ist diese Interpretation einleuditend? ,Wohin' entspringt das Gegenwärtigen? Springt es aus dem Gehaltensein in den beiden anderen Ekstasen heraus — wenn audi nur so, daß es ungehalten doch in ihnen gehalten bleibt —, so kann es nur ,auf sich selbst zu' entspringen. Gelegentlidi der zeitlichen Interpretation des Phänomens der Auffälligkeit spridit Heidegger von einem solchen Gegenwärtigen: „es verlegt sich, in der Einheit mit dem behaltenden Gewärtigen, noch mehr in sidi selbst und konstituiert so das ,Nadisehen', Prüfen und Beseitigen der Störung" (SuZ 355). Doch gerade ein solches Sich-in-sich-verlegen des besorgenden Umgangs mit dem Seienden innerhalb eines bestimmten Bewandtniszusammenhanges unterscheidet sidi wesenhafl von der Neugier, von der es oben hieß, sie suche ,das Neue nur, um von ihm erneut zu Neuem abzuspringen'. Tendiert sie doch „aus dem nächst Zuhandenen weg in ferne und fremde Welt" (SuZ 172). Wie aber ist dann das für sie konstitutive Entspringen zu charakterisieren? Das sich ständig erneuernde .Vordringen zu einem Noch-nicht-Gesehenen' beruht im Herausspringen aus dem Umkreis des .bisher' gegenwärtigend Besorgten. Dieses Herausspringen aus dem Gegenwärtigen konstituiert allererst die Neugier. Das Gegenwärtigen verlegt sich hierbei nidit in sidi selbst, sondern gibt sich immer wieder zugunsten des Gewärtigens von anderem Neuen auf. Zwar setzt das Gewärtigen eines bestimmten Neuen immer schon dessen Gegenwärtigung voraus, wobei „die Vergegenwärtigung", in der das Dasein eines Seienden „direkt . . . ansiditig" wird, „nur ein Modus dieser" (SuZ 359) ist. Aber die Neugier bricht gerade jede Intention auf ein eindringlidies Gegenwärtigen ab, indem sie ständig auf das Gewärtigen des Neuen aus ist. In ihr kommt gerade nicht „das Gegenwärtigen zu ihm ,selbst'" (SuZ 347), wie Heidegger ausführt. Sie entzieht sich der ,Hingabe an die Sache' und ist so „überall und nirgends" (SuZ 177). Diese „Zerstreuung in neue Möglichkeiten" (SuZ 172) ist uferlos. „Auch wenn man alles gesehen hat, dann erfindet gerade die Neugier Neues" (SuZ 348). Der Ursprung solchen Erfindens neuer Möglichkeiten der Zerstreuung kann aber nur in einer von der uneigentlichen Zukunft geführten Zeitigung beruhen. Die Neugier wird nicht dadurch konstituiert, daß das Gegenwärtigen dem Gewärtigen entspringt, in ihr entzieht sich hingegen das Gewärtigen dem eindringlichen Gegenwärtigen. Damit tritt der Vorrang der Modalität der Mögliώkeit im Verfallen an das Man eindeutig hervor. Es ist gerade nicht so, daß die Neugier „nicht einer Möglichkeit gewärtig ist, sondern diese schon nur noch als Wirkliches in ihrer Gier begehrt" (SuZ 347), wie Heidegger sagt. Das verfallende Dasein scheut vielmehr die Wirklichkeit. Es versdileiert sie im bloßen Spiel mit dem Möglichen. Dies 75
kommt gerade bei Heideggers phänomenalem Aufweis solchen Verfallenseins deutlich zum Ausdrude. Er schreibt z. В.: „Gesetzt nämlich, das, was man ahnte und spürte, sei eines Tages wirklich in die Tat umgesetzt, dann hat gerade die Zweideutigkeit sdion dafür gesorgt, daß alsogleich das Interesse für die realisierte Sadie abstirbt. Dieses Interesse besteht ja nur in der Weise der Neugier und des Geredes, solange als die Möglichkeit des unverbindlidien Nur-mit-ahnens gegeben ist" (SuZ 173 f.). So ist das Gerede, wie Heidegger ausführt, „am Ende sogar ungehalten, daß das von ihm Geahnte und ständig Geforderte nun wirklich geschieht. Ist ihm ja doch damit die Gelegenheit entrissen, weiter zu ahnen" (SuZ 174), d. h. sich im bloß Möglichen zu halten. Daß Heidegger aus solchen Einsichten nicht die naheliegenden Konsequenzen zieht, vielmehr im Widerspruch zu ihnen dabei bleibt, das Aus-sein auf Wirklichkeit bzw. Gegenwärtigung als den Grundzug des Verfallens an das Man anzusetzen, kommt letztlich daher, daß er um jeden Preis an seiner These vom ursprünglichen Vorrang der Möglidikeit bzw. der Zukunft festhalten will, die ja durch die These vom Vorrang der Wirklidikeit bzw. der Gegenwart im depravierten Dasein ergänzt und bestätigt werden soll. § 32. Zeitlichkeit und Modalität des Aufgehens beim Seienden Die Analyse der Zeitlichkeit des Verfallens an das Man hat zu einem überraschenden Ergebnis geführt. Die Zukunft und nicht die Gegenwart ist für es primär konstitutiv. Nun setzt aber das verfallende Gewärtigen doch immer schon eine Gegenwärtigung von Seiendem voraus. Der,Zusammenhang' zwischen dem Verfallen an das Man und dem Aufgehen beim Seienden wird damit noch rätselhafter. Nach jenem soll nun dieses einer schärferen Analyse unterzogen werden. Wodurch wird ein solches Aufgehen beim Seienden ontologisch ermöglicht? Sein Ursprung liegt, wie Heidegger in ,Sein und Zeit' ausführt, in der Flucht vor dem in der Angst erschlossenen Nichts, d. h. vor der Unheimlichkeit des Todes. Wenn das Dasein sidi von dieser abkehrt, so besagt das, daß es „sich gerade hinkehrt zum innerweltlichen Seienden als Aufgehen in ihm" (SuZ 186). In dieser Abkehr flieht das Dasein „nicht vor innerweltlichem Seienden, sondern gerade zu diesem" (SuZ 189). Zwar fügt Heidegger diesem Satz hinzu: „ . . . dabei das Besorgen, verloren in das Man, in beruhigter Vertrautheit sich aufhalten kann" (SuZ 189). Doch das hier bisher Ausgeführte läßt fraglich werden, ob denn die sich von der Unheimlichkeit abkehrende Bewegung hin zum innerweltlichen Seienden nur hingeführt zur Entdecktheit dieses Seienden „in den Grenzen, die mit der Durchschnittlichkeit des Man festgelegt sind" (SuZ 129). Heidegger hat diese Bewegung der Abkehr schärfer als in ,Sein und Zeit' in seiner Vorlesung ,Was ist Metaphysik?' herausgearbeitet. Sie enthüllt sicli hierbei als die ontologische Bedingung des Entdeckens von Seiendem überhaupt. „Nur auf dem Grunde der ursprünglidien Ofïenbarkeit des Nidits", welches sich in der Angst erschließt, „kann das Dasein des Menschen auf Seiendes zu76
gehen und eingehen. Sofern aber das Dasein seinem Wesen nach zu Seiendem, das es nidit ist . . . , sidi verhält, kommt es als solches Dasein je schon aus dem offenbaren Nichts her. . . . Das Nidits ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein" (WM 32). Hierbei enthüllt sich die Fludit vor der Unheimlichkeit als eine „zweideutige Abkehr vom Nidhts" (WM 33). Die Zweideutigkeit besteht darin, daß einmal die Abkehr „in gewissen Grenzen nach dessen" (seil, des Nichts) „eigenstem Sinn" (WM 33) gesdiieht. „Es — das Nidits in seinem Nichten — verweist uns gerade an das Seiende" (WM 33). Andererseits kann sich das Dasein „in bestimmter Weise völlig an das Seiende verlieren" (WM 32). In solcher Überschreitung der ,gewissen Grenzen' „drängen wir uns selbst in die öffentliche Oberfläche des Daseins" (WM 33), verstehen wir uns vom Worumwillen des Man her. In dieser Charakterisierung der Abkehr als ,zweideutig' liegt nun der Schlüssel zur Lösung der hier anstehenden Probleme. Die Abkehr vom Nichts ist Zukehr zum Seienden. Der ,Sinn' dieser Zukehr ist das Aus-sein auf die Wirklichkeit des Seienden. Sie zielt auf dessen Gegenwärtigung ab. An das Man verfallend sudit sich das Dasein dem Verwiesensein an das eindringliche Gegenwärtigen zu entziehen, indem es gewärtigend immer wieder zu Neuem entspringt, sich nirgends halten lassend. Das Gewärtigen steht hierbei nicht mehr im Dienste des Gegenwärtigens, sondern übernimmt seinerseits den Primat innerhalb der Zeitigung. Die sich vom Tode abkehrende Bewegung wird gewissermaßen fortgesetzt, weitergetrieben. Die Bewegtheit des Wirbels (vgl. S. 15) ist sonach nicht nur ein Abgleiten von der Unheimlichkeit des Todes, sondern darüber hinaus ein ständiges Abgleiten von der Gegenwärtigung des Seienden. Ontologisch setzt das Aufgehen in der öffentlichen Ausgelegtheit das Aufgehen beim Seienden voraus, wenn das Dasein ontisch auch zunächst immer schon an das Man verfallen ist. Das Dasein vermag sich nun ontisch-existenziell diesem Verfallensein an das Man zu entreißen. Aber nicht nur im Vorlaufen zum Tode wird ein solcher ,Schritt zurück' zum ontologisch Ursprünglicheren vollzogen, sondern schon im ,der Sache hingegebenen', im der neugierigen Zerstreuung in das unübersehbar Mögliche nicht nachgebenden Umgang mit dem Seienden. In diesem geht es um das Gegenwärtigen des Wirklichen, dem das Gewärtigen des Möglichen unterworfen wird. Je reiner im Aufgehen beim Seienden dessen Wirklichkeit gegenwärtigt wird, desto mehr wird der ursprünglichen Zuweisung des Nichts entsprochen. Wieso aber verweist das Nichts ursprünglich an die Wirklichkeit des Seienden? Das Nichts wurde, über Heidegger hinausgehend, als die totale Wirklichkeit des Todes bestimmt®. In der Abkehr von ihr wird das Dasein vor das Seiende gebracht. Dabei vermag es sich dem Nichts jedoch nicht zu entziehen. Vielmehr ® Setzt dodi die .Offenbarkeit des Nichts' (vgl. S. 76) das Nichts schlechthin als ihren Ursprung voraus (vgl. S. 45, insbes. Anm. 27, und S. 47, Anm. 28).
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wird die Abkehr ursprünglich von dem konstituiert, wovon sie Abkehr ist. Als Zukehr zum Seienden setzt sie das Seiende als wirklich, weil sie von der ursprünglichen Setzung der totalen Wirklidikeit herkommt.
§ 33. Zuhandenheit und Vorhandenheit N u n kann auch die Antwort auf eine sdion angeschnittene Frage gegeben werden, die im Rahmen der Strukturanalysen von ,Sein und Zeit' keine befriedigende Anwort findet, die Frage nämlich, was denn der Grund für die Herrschaft des Vorhandenen in der ,verfallenen* Seinsauslegung sei, wo doch das Zuhandene ,noch näher liegt' (vgl. S. 72 f.). Was besagt solches ,Näherliegen' des Zuhandenen? Nichtdaseinsmäßiges Seiendes ist ursprünglich als zuhandenes Zeug gegeben. „Das Eigentümliche des zunädist Zuhandenen ist es, in seiner Zuhandenheit sich gleidisam zurückzuziehen, um gerade eigentlich zuhanden zu sein" (SuZ 69). Dieses ,Ansichhalten des Zuhandenen' — durch Unauffälligkeit, Unaufdringlichkeit und Unaufsässigkeit charakterisiert — macht das rechtverstandene An-sich-sein des niditdaseinsmäßigen Seienden aus (vgl. SuZ 75 f.). Soldies Seiendes ist nur im Zusammenhang einer Zeugganzheit zuhanden. „Ein Zeug ist strenggenommen nie" (SuZ 68). Als ,etwas, um zu . .' ist es immer schon auf anderes Seiendes verwiesen; als das Dienlidie, Verwendbare, Handliche usw. ist es auf Möglichkeiten hin freigegeben. Ansidihaltend ist das Zuhandene nur das Ermöglidiende. Zwar schlägt aucJi im besorgenden Umgang, wie in jedem Modus des Seins bei .., die Wirklichkeit des Seienden durdi. Verwirklichung geschieht hier jedoch lediglich im Hinblick auf neue Möglichkeiten, die im eigentlicJien oder uneigentlidien Entwurf des Daseins auf das Umwillen seiner selbst gründen. Auch das Verwirklichte bleibt „als Wirkliches ein Mögliches für .., charakterisiert durdi ein Um-zu" (SuZ 261). In seinem Zeugsein ist das Zeug „über sich selbst hinweg dahin entlassen . . ., in der Dienlidikeit aufzugehen" ( H w 52). Es bleibt eingeholt in die Verweisungszusammenhänge, deren Ganzheit die Welt des Daseins ausmacht. N u n kann in einem „Bruch der in der Umsicht entdeckten Verweisungszusammenhänge" (SuZ 75) — z. B. bei Unbrauchbarkeit eines Zeugs — die Zuhandenheit in Vorhandenheit umschlagen. Der Bruch führt zur „Entweltlichung des Zuhandenen . . . , so daß an ihm das Nur-vorhandensein zum Vorschein kommt" (SuZ 75). In der Entweltlichung springt das Seiende gewissermaßen aus den Verweisungsbezügen heraus, in die es als das lediglich Ermöglichende einbehalten ist. Die mit dem Bruch zutage tretende Vorhandenheit charakterisiert das Sein des Seienden, „das in einem eigenständig entdedcenden Durchgang durch das zunächst begegnende Seiende vorfindlich und bestimmbar wird" (SuZ 88). ,Fällt' ein Zuhandenes ,auf', weil es unverwendbar ist, so ist die sich darin „kundgebende Vorhandenheit . . . noch gebunden in der Zuhandenheit des Zeugs" (SuZ 74). Hinsichtlich der Modalitätsproblematik bedeutet das: Die Wirklichkeit des Seienden leuchtet auf, um freilich wieder — etwa 78
nadi Behebung einer Besdiädigung — in der bloßen Möglidikeit, dem unabgehobenen Um-zu, zu versinken. Daß es die Wirklichkeit des Seienden ist, die hier aufleuditet, erhellt daraus, daß das Unverwendbare zu seiner eindringlicheren Gegenwärtigung zwingt: Wird das Hantieren durch es aufgehalten, so verlegt sich das Gegenwärtigen „nodi mehr in sich selbst und konstituiert so das ,Nadisehen', Prüfen und Beseitigen der Störung" (SuZ 355). Je mehr nun das Seiende in seiner Vorhandenheit in den Blidc tritt, je mehr es von seiner Wirklichkeit sehen läßt, desto mehr geht es seiner Zuhandenheit, seines bloß ermöglidienden Um-zu-Charakters verlustig. So entbehrt schließlich „der nur .theoretisch' hinsehende Blick auf Dinge . . . des Verstehens von Zuhandenheit" (SuZ 69). Der Umschlag von der Zuhandenheit in die Vorhandenheit stellt sich so als ein Umschlag der Möglichkeit in die Wirklidikeit dar. Aber zeigt sidi damit nicht im Blicác auf das innerweltlich begegnende Seiende ein Vorrang des Möglichen vor dem Wirklidien? Das Dasein dringt dodi „erst über das im Besorgen Zuhandene zur Freilegung des nur noch Vorhandenen vor" (SuZ 71). Das An-sidi des Seienden ist die Zuhandenheit, die Vorhandenheit nur deren defizienter Modus. Nun ist der Umschlag allerdings nidit dadurch gekennzeichnet, „daß wir vom Zeugcharakter dieses Seienden nur absehen", sondern dadurch, „daß wir das begegnende Seiende ,neu' ansehen, als Vorhandenes" (SuZ 361). Aber was ermöglicht ontologisch vorgängig diese andersartige, ,neue' Sicht? Wenn „am Zuhandenen" der „Charakter der Vorhandenheit zum Vorschein" kommen kann (SuZ 74), ist diese dann in jenem, ursprünglich gleichsam noch eingewickelt, schon enthalten? So zeigt sich doch z. B. das Unbrauchbare „als Zeugding, das so und so aussieht und in seiner Zuhandenheit als so aussehendes ständig auch vorhanden war" (SuZ 73; Hervorheb. v. Verf.). Heißt das nicht: „Zuhandenes ,gibt es' doch nur auf dem Grunde von Vorhandenem" (SuZ 71)? „Folgt aber", so gibt Heidegger zu bedenken, „ — diese These einmal zugestanden — hieraus, daß Zuhandenheit ontologisch in Vorhandenheit fundiert ist?" (SuZ 71). Erst damit ist das Problem auf die zu seiner zureichenden Erörterung notwendige Schärfe gebracht. Im Modus der Vorhandenheit zeigt sich Seiendes, über seine ontologische Genesis aus der Zuhandenheit hinaus zurückweisend, als das vorgängig schon Vorhandene. Dann muß aber doch wohl dieses Vorgängigsein des Seienden als des Vorhandenen der ursprüngliche Grund für die Möglichkeit des Umschlags in den Modus der Vorhandenheit sein, wenngleidi er ein Umschlag aus der Zuhandenheit ist. Dies wird noch deutlicher, wenn Heideggers Erörterungen zur Realitätsproblematik in die Betraditungen einbezogen werden. „Der Titel Realität" meint „das Sein des innerweltlich vorhandenen Seienden (res)" (SuZ 204). Realität ist nur, sofern Dasein ist; in herkömmlicher Terminologie: Realität ist nur als Bewußtsein ihrer. Aber „ ,Realitätsbewußtsein' ist selbst eine Weise des In-der-Welt-seins" (SuZ 211), konstituiert durch den oben charakterisierten Umschlag von Zuhandenheit in Vorhandenheit. Wenn nun Heideggers These, 79
daß „Realität nur im Seinsverständnis möglich" (SuZ 207) ist, eine Verwandtschaft zum erkenntnistheoretischen Idealismus sehen läßt, welcher freilich infolge seines Ansatzes bei einem zunächst weltlosen Subjekt nicht zu einer Klärung dieses Seinsverständnisses vorzudringen vermag, so scheinen die Untersuchungen von ,Sein und Zeit' andererseits „mit der These des Realismus übereinzukommen, daß die Außenwelt real vorhanden sei" (SuZ 207). Nicht nur, daß „in der existenzialen Aussage das Vorhandensein von innerweltlichem Seienden nicht geleugnet wird" (SuZ 207). Heidegger sagt ausdrücklich: „Daß Realität ontologisdi im Sein des Daseins gründet, kann nicht bedeuten, daß Reales nur sein könnte als das, was es an ihm selbst ist, wenn und solange Dasein existiert" (SuZ 211 f.). Wieso aber kann Heidegger nur von der „Abhängigkeit der Realität, nicht des Realen, von der Sorge" (SuZ 212; Hervorheb. V. Verf.) sprechen? Inwiefern geht das Reale nicht im In-der-Welt-sein auf? Worin zeigt sich ein solches Nichtaufgehen? Darin, daß Seiendes sich im Modus der Vorhandenheit eröffnet als das, was vorgängig, vor allem gebrauchenden Umgang mit ihm, schon war. Die mit dem Umschlag eintretende ,Entweltli(hung' des Zuhandenen ist das Aufleuchten solcher Vorgängigkeit. Und von diesem her kann Heidegger schließlich vom Entwurf als dem „Überwurf der entworfenen Welt über das Seiende" sprechen, „vom möglichen und gelegentlichen Welteingang des Seienden" und davon, daß dieser etwas sei, „das ,mit' dem Seienden ,geschieht' " (WG 36). Im Modus der Vorhandenheit wird das Seiende hinsichtlich dessen enthüllt, daß es ,vor' seinem Welteingang schon real ,war'. Was läßt sich über diese Vorgängigkeit ausmachen? Das ,es war' deutet darauf, daß sie in der Ekstase der Gewesenheit gründet. Die hier genannte Vorgängigkeit liegt aber nun ,vor' der Sorge und daher ,außerhalb' von derem zeitlichen Sinn. Sie wird jedoch gleichwohl im Horizont der Erschlossenheit erfahren. So kann auch nur „jetzt..., solange Seinsverständnis ist und damit Verständnis von Vorhandenheit, gesagt werden, daß dann" — wenn Dasein nicht mehr existiert — „Seiendes noch weiterhin sein wird" (SuZ 212). Die Vorgängigkeit des Realen ist also gerade und nur in dem ersdilossen, dem sie ,vorweggehen' soll: der Sorge. Diese findet das ,außerhalb ihrer' doch wieder nur ,in sich' vor. Damit steht die Frage nach dem Realen vor der gleichen Schwierigkeit, die sich schon bei der Erörterung der Wirklichkeit des Todes auftat (vgl. S. 46 f.) : Was aus dem Horizont des Verstehens herauszuspringen scheint, bleibt dodi immer in ihm eingefangen. Aber dann wird die Aussage des Verstehens, etwas sei ,außerhalb seiner', absurd. Es darf, ist es sich selbst in seiner Zirkelstruktur durchsichtig geworden, eine solche Aussage nicht mehr machen. Daß Heidegger aber im Zuge seiner Analysen das Verstehen ursprünglicher ,versteht', als die von ihm vorgenommene Thematisierung des VerstehensbegrifFs kenntlidi macht, zeigt sich eben darin, daß er dem Realen die Vorgängigkeit vor dem Welteingang zuspricht. Das heißt doch: für das verstehende Voraus-setzen des Weltentwurfs ist das Reale das schon ,Gesetzte'. Was über die Notwendigkeit einer Modifikation der Heideggerschen Begriffe des Verstehens und 80
der Voraussetzung an anderer Stelle gesagt wurde (vgl. §§ 21, 22), bewährt sich angesichts der hier behandelten Problematik. Damit rückt nun der Modus der Vorhandenheit in ein neues Licht. Zwar setzt er faktisch die Zuhandenheit voraus. Aber in ihm wird gerade das sichtbar, was im An-sidi-halten des Zuhandenen verdeckt blieb: das Daß des Realen. Im Durchbrechen dieser Verdeckung — als solches stellt sich jetzt der Umschlag der Zuhandenheit in die Vorhandenheit dar — geschieht die Verweisung auf ein ursprünglicheres An-sich des Seienden. Im Umschlag vollzieht sich ein Rückgang ins Ursprünglichere. Dies wird noch deutlicher, wenn der Umschlag in den vollen Zusammenhang der ,ontologisdien Bewegtheit' des Daseins hineingenommen wird, wie sie sich auf Grund der hier bisher durchgeführten Analysen darbietet. In der Abkehr von der totalen Wirklidikeit wird der Tod er-möglicht, d. h. in ihr wird die UrMöglichkeit gezeitigt. Die Abkehr ist in eins Zukehr zum Seienden. Von der Wirklichkeit des Todes herkommend setzt das Dasein ontologisch ursprünglich das Seiende als das Wirkliche (als das,Reale'). Indem die Bewegung der Abkehr aber weiterschwingt, eröffnet sie einen Horizont von — in ihrem Möglichsein von der Ur-Möglichkeit des Todes her konstituierten — Möglichkeiten des Seienden. Dieser macht die Welt des Daseins aus. Konstitution von Welt besagt also: Freigabe eines Spielraums von Möglichem. In diesem hat sich das Dasein immer schon verloren. An das Man verfallend springt es ,zunächst und zumeist' von Möglichkeit zu Möglichkeit, der Wirklichkeit und dem Wirklichen entfliehend. Die das faktische Dasein vorgängig schon konstituierende ontologische Bewegung ist eine Bewegung von der totalen Wirklichkeit zur bloßen Möglichkeit. Es vermag sich nun aber existenziell dem Verfallensein zu entziehen. Dieser Entzug kann jedoch nur als ontische Rückwendung zu dem ontologisch Ursprünglicheren geschehen. Er ist Abbau des Möglichen zugunsten des Wirklichen. Das jemeinige Dasein vermag freilich das Mögliche nicht vollends abzubauen. Die Rückwendung zur Wirklichkeit ist ja im faktischen Verfallensein an das Mögliche als an ihren ontischen Ausgangspunkt festgemacht. Von diesem her kann die totale Wirklichkeit des Todes und das Ansich des Realen lediglich als die Grenze des Möglichen erscheinen'^. Hinsichtlidi der Problematik des Umschlags tritt so noch schärfer heraus, daß die Vorhandenheit ein zwar von der Zuhandenheit abkünftiger, über diese aber in das ontologisch Ursprünglichere zurücJcgreifender Modus des Entdecktseins ist. Damit hat die Frage nadi dem Grund der Herrschaft der Vorhandenheit im alltäglichen Seinsverständnis eine Antwort gefunden, die nicht — wie die Heideggers — aus der Strukturanalyse des Daseins in die faktische Geschichte entweicht. Das ,Überspringen' von Welt und Zuhandenheit, die ,Entweltlichung' des Seienden, ist ein Schritt hin zur Wirklichkeit des Seienden, an die das Dasein ' Zum T o d als Grenze vgl. S. 47 f. Zum An-sidi des Realen als Grenze vgl. S. 94. Zum konstitutiven Charakter der Grenze für das wissenschaflliAe Verhalten des Daseins vgl. S. 87 f.
81 β Müller-Lauter, Möglichkeit und Wirklidikeit
ontologisdi ursprünglidi verwiesen ist'. Dieser Schritt ist in der Struktur des Daseins vorgezeichnet. Heidegger begreift nun aber die Genesis der Vorhandenheit aus der Zuhandenheit nicht als die Rückwendung zum ontologisch Ursprünglicheren. Nadi ihm ist der ontisch ursprüngliche Modus des Seins b e i . . , der besorgende Umgang mit Zuhandenem, auch der ontologisch ursprüngliche. Dies ist jedoch um so weniger einsichtig, als ja, wie Heidegger zeigt, das ontisch ursprüngliche Sein des Daseins, das Verfallensein an das Man, durchaus nicht den ontologischen Ursprung des Daseins ausmacht (vgl. § 6, S. 14 f.). Denn wie sollte, was für die Modifizierbarkeit des Strukturgd»2ew des Daseins gilt, nicht auch für das diesem wesenhafl zugehörige Struktur/noweni des Seins bei . . zutreffen? Daß Heidegger den besorgenden Umgang mit Zuhandenem nicht nur als den ontisch sondern auch ontologisdi ursprünglichen Modus des Seins bei . . bestimmt, bringt ihn in manche Schwierigkeiten. Zwei wurden schon erörtert: Heidegger kann weder zeigen, was denn das umgeschlagene Seinsverständnis — dem Seiendes nun als Vorhandenes begegnet — ontologisch ursprünglich ermöglicht, noch vermag er auf die Frage nach dem Grund der Herrschaft der Vorhandenheit im alltäglichen Seinsverständnis eine Antwort zu geben, die sich im Rahmen seiner Analysen der Struktur des Daseins hält. Auf eine dritte Schwierigkeit soll noch hingewiesen werden. Ist der besorgende Umgang mit Zuhandenem der ontologisch ursprüngliche Modus des Seins bei .., und ist „alles ,Entspringen' im ontologischen Felde . . . Degeneration" (SuZ 334), so können die abkünftigen Modi des Seins bei . . nur vom ursprünglichen Sein des Seienden fortführen. Dementsprechend sagt Heidegger z. В.: „je weniger das Hammerding nur begafft wird, je zugreifender es gebraudit wird, um so ursprünglicher wird das Verhältnis zu ihm" (SuZ 69). Das heißt aber: Je mehr ein Seiendes „als Vorhandenes betrachtet und begafft" (SuZ 74) wird, desto mehr verhüllt sich sein ursprüngliches Sein. Schon in der Begrifisgebung ,Begaffen' für das Betrachten des Vorhandenen findet der Verlust an Ursprünglichkeit und Echtheit Ausdruck. Sie ist nur konsequent. Dodi wie steht es mit der „Muße des betrachtenden Verweilens" (SuZ 172)? Wie vor allem mit dem „bewundernden Betrachten des Seienden, dem θαυμάζειν" (SuZ 172)? Wie das Begaffen ist ja auch dieses Betrachten ein abkünftiger Modus des hantierenden Umgangs. Aber leuchtet in ihm das Seiende nicht in einer Ursprünglichkeit auf, die sich dem besorgenden Sein beim Zuhandenen gerade verbirgt? Wie stellt sich Heidegger zu dieser Frage? Sind sowohl Begaffen als auch θαυμάζειν Derivate des Seins beim Zuhandenen, so gibt die Daseinsanalyse doch die Handhabe für ihre scharfe Scheidung. Das Dasein kann nur begaffen, insofern es sich auf das Umwillen des Man entworfen hat. Das ·θαυμάζειν aber hat mit dem Verfallen ,nichts zu tun' (vgl. S. 74). Dann kann es jedoch, in ' Ist die Welt der Spielraum des Möglichen und besagt Gewinn von Wirklichkeit Nichtung des Möglichen (vgl. S. 43), so kann sich der Umschlag von Zuhandenheit in Vorhandenheit als Konstitution von Wirklichkeit nur auf dem Wege der ¡Entwelt-
Uchung' vollziehen. 82
Anbetracht des alternativen Charakters der Modifizierbarkeit des Daseins, lediglich in dessen Sein zum eigensten Seinkönnen gründen. Aber wie ist das zu denken? Dem eigentlich existierenden Dasein kommt es ja nur darauf an, „im Augenblick auf die ersdhlossene Situation ,da' zu sein" (SuZ 328). Wie vermödite sidi denn die „in der Entschlossenheit gehaltene Entrückung des Daseins an das, was in der Situation an besorgbaren Möglichkeiten, Umständen begegnet" (SuZ 338), dem begegnenden Seienden so zu öffnen, daß es sich diesem staunend, betrachtend und verweilend hingibt? Diese Problematik verschärft sich, wenn eine Weise des Seins beim begegnenden Seienden in den Blick genommen wird, die nadi alter Auffassung dem θαυμάζειν entwädist, „eine und zwar entsdieidende Weise, in der sich uns alles, was ist, darstellt" (VA 45): die Wissenschaft. In ihr verhält sidi das Dasein „in einer ausgezeidineten Weise zum Seienden s e l b s t . . . und einzig zu ihm" (WM 37), ja in ihr geschieht sogar „eine eigentümlidi begrenzte Unterwerfung unter das Seiende selbst, auf daß es an diesem sei, sich zu offenbaren" (WM 23). Sie soll im folgenden Absdinitt in den Blick rücken.
83
Fünfter
Abschnitt
Zeitlidikeit und Modalität des wissenschaftlichen Verhaltens des Daseins § 34. Die Zeitlichkeit des wissenschaftlidien Verhaltens des Daseins jSein und Zeit' zufolge gründet das spezifisdie Entdecken der Wissenschaften „existenziell in einer Entschlossenheit des Daseins, durch die es sich auf das Seinkönnen in der .Wahrheit' entwirfl" (SuZ 363). Doch wieder meldet sich der Einwand: Wie kann aus der Wahl des eigensten Seinkönnens, dem das nichtdaseinsmäßige Seiende nur als in der Situation ,gehalten' zu begegnen vermag, eine ,Unterwerfung unter das Seiende', die abzielt „auf eine Freigabe des innerweltlidi begegnenden Seienden dergestalt, daß es sich einem puren Entdecken ,entgegenwerfen', das heißt Objekt werden kann" (SuZ 363)^, hervorgehen? Heidegger läßt seinen Leser hier im Stich. Er bricht die Erörterung dieses Fragenkomplexes in ,Sein und Zeit' ab mit dem Satz: „Der Ursprung der Wissenschaft aus der eigentlichen Existenz ist hier nicht weiter zu verfolgen" (SuZ 363). Die gegen einen soldien Ursprung zeugende Unvereinbarkeit des im Vorlaufen zum Tode gehaltenen Seins beim Seienden mit der Unterwerfung des Daseins selbst unter das thematisierte Seiende zeigt sidi nun audi darin, daß Heidegger als die für die Wissenschaft, insoweit in ihr das niditdaseinsmäßige Seiende im Thema steht, primär konstitutive Ekstase nidit, wie bei einem entschlossenen Entwurf zu erwarten, die Zukunft sondern die Gegenwart herausstellen muß: „Das objektivierende Sein bei innerweltlidi Vorhandenem hat den Charakter einer ausgezeichneten Gegenwärtigung" (SuZ 363). Heidegger bemerkt hierzu zwar sofort: „Ob jede Wissensdiaft und ob gar philosophisdie Erkenntnis auf ein Gegenwärtigen zielt, bleibe hier noch unentschieden" (SuZ 363, Anm. 1). Und bei der Erörterung des existenzialen Ursprungs der Historie (SuZ § 76, S. 392 ff.) weist er dieser als Thema „je die Möglichkeit der dagewesenen Existenz" (SuZ 395) zu und bestimmt dementsprechend ihren zeitlichen ,Sinn' als durch den Primat der Zukunft ausgezeichnet. In seinen späteren Veröffentlichungen rückt Heidegger freilich von der Konzeption einer primär zukünftigen und in der eigentlichen Geschichtlichkeit ' D a s Dasein zielt im -wissenschaftlichen V e r h a l t e n auf ein ,pures Entdecken' ab, das besagt nun, w i r d es im R a h m e n des in den vorangegangenen P a r a g r a p h e n G e w o n nenen bedacht: das ,wissenschafllidie Dasein' sucht die pure ( v o m Möglichen weitestgehend ,purifizierte') Wirklidikeit des Seienden in den Griff zu bekommen. Wissenschafl setzt, wie H e i d e g g e r später sagt, „alles d a r a n , das Wirkliche rein zu erfassen" ( V A 5 6 ; H e r v o r h e b . v. V e r f . ) .
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des Daseins wurzelnden Historie ab. In ,Der Spruch des Anaximander', 1946 niedergeschrieben, heißt es dann: „Alle Historie errechnet das Kommende aus ihren durch die Gegenwart bestimmten Bildern vom Vergangenen. Die Historie ist die ständige Zerstörung der Zukunft und des geschichtlichen Bezuges zur Ankunft des Gesdiidkes" (Hw 301). Mag sie „für uns noch ein unumgehbares Mittel der Vergegenwärtigung des Gesdiichtlichen" sein, „den im wörtlichen Sinne hin-reidienden Bezug zur Geschichte innerhalb der Geschichte" (Hw 301) vermag sie nidit zu bilden. Dies alles interessiert hier nur insofern, als der Primat des Gegenwärtigens auch für die Geschichtswissenschaft von Heidegger — entgegen der existenzialen Konzeption der Historie in ,Sein und Zeit' — später zugestanden wird. So erscheint die Historie sdiließlich auch in dem 1953 gehaltenen Vortrag ,Wissenschaft und Besinnung' (VA 45—70), ebenso wie die anderen Wissenschaften, als wesenhaft wirklichkeitsbezogen und das heißt als primär gegenwärtigend. Wissenschaft zielt also auf ein Gegenwärtigen. Nun gewinnt die Gegenwart „von sich aus nie einen anderen ekstatischen Horizont" als den des Sichverlierens an die ,Welt', „es sei denn, sie werde im Entschluß aus ihrer Verlorenheit zurückgeholt, um als gehaltener Augenblick die jeweilige S i t u a t i o n . . . zu erschließen" (SuZ 348). Das Abzielen auf ein Gegenwärtigen durchbricht aber gerade ein solches Gehaltensein der Gegenwart in der vorlaufenden Entschlossenheit. Der für die Wissenschaft konstitutive Primat des Gegenwärtigens ist unvereinbar mit der die Eigentlichkeit konstituierenden Zeitlichkeit. Dann kann jedoch der Ursprung dieses Modus des Seins b e i . . nicht im Entwurf des Daseins auf sein eigenstes Seinkönnen liegen. Und das heißt, hält man an der schroffen Alternative der Modifizierbarkeit des Daseins, wie Heidegger sie aufgestellt hat, fest: Wissenschaft gründet im Verfallen. Dieser Konsequenz versucht nun Heidegger in ,Sein und Zeit' noch zu entgehen. Begreift er in diesem Buch doch sein Philosophieren — seines Lehrers Edmund H u s s e r 1 s „Intention auf eine Neubegründung der Philosophie im Sinne strenger Wissenschaft" (L 293) folgend — als auf dem Wege, „eine Wissenschaft vom Sein als solchem, seinen Möglichkeiten und Abwandlungen" (SuZ 230) zu konstituieren. Das Verdikt, die Wissenschaft sei wesenhaft uneigentlichgegenwärtigend, würde dann auf dieses Philosophieren selbst zurückschlagen. Und da Wissenschaft im existenziell ursprünglich Entworfenen gründet — bildet sich doch auch „die ontologische ,Wahrheit' der existenzialen Analyse . . . auf dem Grunde der ursprünglichen existenziellen Wahrheit" (SuZ 316) aus—, so entspränge der existenziale Entwurf eines eigentlichen Seinkönnens einem existenziell uneigentlichen Entwurf. Läßt sich nun nicht ausmachen, wie denn Wissenschaft anders konstituiert sein könnte als durch den Primat des Gegenwärtigens, und ist dieser Primat unvereinbar mit der die vorlaufende Entschlossenheit konstituierenden Zeitigung, ja verweist er sogar auf die Uneigentlichkeit als das Fundament der Wissenschaft, so wird einsichtig, warum Heidegger in den Veröffentlichungen nach ,Sein und Zeit' „die ungemäße Absicht auf ,Wissenschaft' und ,Forschung"' (P-H 110) 85
fallen läßt. Dies geschieht schon in dem 1929 gehaltenen Vortrag ,Was ist Metaphysik?', wo es heißt, Philosophie könne „nie am Maßstab der Idee der Wissensdiaft gemessen werden" (WM 38). Und später enthüllt sich „die K l u f t . . . , die zwischen dem Denken" (seil, dem Seinsdenken Heideggers) „und den Wissenschaften b e s t e h t , . . . als eine unüberbrückbare" (WD 4).
§ 35. Wissenschaft und Wirklichkeit D a ß Wissenschaft auf ein Gegenwärtigen abzielt, besagt hinsichtlich der Modalitätsproblematik: es geht in ihr um die Wirklichkeit des Seienden. So bestimmt Heidegger „das Wesen der Wissenschaft" in seinem Vortrag ,Wissenschaft und Besinnung' mit dem „knappen Satz": „Die Wissenschaft ist die Theorie des Wirklichen" (VA 46). Auch hier folgt freilich sofort eine Einschränkung. „Der Satz . . . gilt weder für die Wissenschaft des Mittelalters, noch für diejenige des Altertums", er betrifft „nur die neuzeitlich-moderne Wissenschaft" (VA 46). Diese Einschränkung braucht aber die hier versuchten Überlegungen nicht ausführlich zu beschäftigen. Bleibt doch „in dem Satz ,die Wissensdiaft ist die Theorie des Wirklichen' . . . früh Gedadites, früh Geschicíítes gegenwärtig" (VA 48), das, was auch schon die griechische επιστήμη und die mittelalterliche doctrina bestimmte. Zwar ist „ ,die Theorie', als weldie sich die moderne Wissenschaft zeigt, . . . etwas wesentlich anderes als die griechische ,Φεωρία' " (VA 55). „Gleichwohl zieht durch die modern verstandene ,Theorie' immer noch der Schatten der frühen •θεωρία" (VA 53 f.)''. Und auch das Wirkliche behält in den mannigfach gewandelten geschichtlichen Bedeutungen „immer noch den früheren, aber jetzt weniger oder anders hervorkommenden Grundzug des An^ Heidegger verweist d a r a u f , d a ß im W o r t , θ ε ω ρ ί α ' die beiden W ö r t e r . ^ ш ' (Aussehen, Anblicki und ,όράω' (etwa ansehen) zusammengewachsen sind (vgl. V A 52), Die Griechen mochten aber nun, so f ü h r t er weiter aus, „im W o r t θεα)ρία nodi Anderes mithören" (VA 53), nämlidi ,θεά' (die Göttin) und .ώρα' (Rücksidit, Ehre, Achtung). Von dieser Vermutung ausgehend und darauf verweisend, d a ß dem P a r m e n i d e s die αλήθεια als Göttin erscheint, begreift Heidegger „die Theorie im alten und d. h. f r ü h e n , keineswegs veralteten Sinne" als „das verehrende Betrachten der Unverborgenheit des Anwesenden", „das hütende Schauen der Wahrheit' (VA 53). Im Gegensatz zur verehrenden und hütenden θ ε ω ρ ί α ist die neuzeitliche Theorie: Betrachtung. „Trachten ist das lateinische tractate, behandeln, bearbeiten" (VA 55). Die theoretisdie Betrachtung ist „das nadistellende und sicherstellende Bearbeiten des Wirklichen" (VA 55 f.), „eine unheimlich eingreifende Bearbeitung des Wirklichen" (VA 56). Zeigt sich darin ein Unterschied zwischen θεωρία und Theorie, so kennzeichnet aber doch die erstangeführte (nicht durch problematische Vermutungen belastete) Bedeutung von θ ε ω ρ ί α — den Anblick, den etwas bietet, ansehen — audi das Wesen der neuzeitlichen Theorie. Heidegger weist darauf hin, d a ß selbst die moderne Atomphysik, audi da, wo sie „unanschaulich wird, . . . darauf angewiesen" ist, „daß sich die Atome f ü r eine sinnliche W a h r n e h m u n g herausstellen, mag dieses Sich-zeigen der Elementarteilchen auch auf einem sehr indirekten u n d tedmisdi vielfältig vermittelten Wege gesdiehen (vgl. Wilsonkammer, Geigerzähler, Freiballonflüge zur Feststellung der Mesonen)" ( V A 62). — D a z u , d a ß ,das Selbe', das hier in der Geschichte des .Theoretischen' zutage tritt, urspriingliò nicht im (abendländisch verstandenen) ,einstigen' Geschidt des Seins gründen kann, vgl. S. 64 f., insbes. S. 65, Anm. 14.
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wesenden, das sich von sidi her herausstellt" (VA 51; vgl. S. 65). Ist es auch einzig f ü r die neuzeitliche Wissenschaft kennzeichnend, daß sie „dem Wirklichen nach- und es im Gegenständigen sicherstellt" — was „ f ü r den mittelalterlidien Menschen ebenso befremdlich" wäre, „wie es f ü r das griechische Denken bestürzend sein müßte" (VA 57), denn „weder das mittelalterliche noch das griediische Denken stellen das Anwesende als Gegenstand v o r " (VA 51) —, so „meldet sich" im gesdiichtlidi Späteren doch nur „das bereits im griechisdien Denken" (VA 54 f.) Mitvorbereitete. Schon die επιστήμη ist auf das Wirkliche aus, mag dieses Aus-sein auf die Wirklidikeit des Seienden sich nodi so sehr von dem der neuzeitlichen Wissenschaft unterscheiden. U n d nur darauf kommt es im vorliegenden Zusammenhang an. Worin ist nun der Ursprung d a f ü r zu suchen, daß Wissenschaft auf die Wirklichkeit des Seienden aus ist? Auf dem Boden der hier angestellten Analysen erübrigt sich ein Rekurs auf die faktisdie Geschichte des Daseins, mit dessen H i l f e Heidegger dieses Phänomen allein zu begreifen vermag. Im ontisch immer schon verfallenen, in die Vielfalt von Möglichkeiten aufgesplitterten Dasein ist, gemäß der es konstituierenden ontologisch-genetisdien Struktur (vgl. zuletzt S. 81), eine wesenhafte Tendenz auf Wirklichkeit vorgezeichnet. Eine Weise der Rückwendung zur ontologisch ursprünglichen Verweisung an das Seiende ist das wissenschaftlidie Verhalten des Daseins. Diesen existenzialen Ursprung von Wissenschaft gilt es noch schärfer herauszuarbeiten. Den Ausgang hierzu sollen Überlegungen Heideggers in seinem Vortrag ,Was ist Metaphysik?' bilden. Worum geht es den Wissenschaften? „Erforscht werden soll nur das Seiende und sonst — nichts; das Seiende allein u n d weiter — nidits; das Seiende einzig und darüber hinaus — nichts" (WM 24). Heidegger fragt nun: „Wie steht es um dieses Nichts? Ist es Zufall, d a ß wir ganz von selbst so sprechen?" (WM 24). Es zeigt sidi jedenfalls: „Die Wissenschaft will vom Nichts nichts wissen. Aber ebenso gewiß bleibt bestehen: dort, wo sie ihr eigenes Wesen auszusprechen versucht, ruft sie das Nichts zu Hilfe. Was sie verwirft, nimmt sie in Anspruch. Welch zwiespältiges Wesen enthüllt sidi da?" (WM 24). Heidegger weist nun auf, daß die „Hineingehaltenheit in das Nichts" (WM 32) die ontologisdi vorgängige Bedingung allen Zugehens und Eingehens auf Seiendes ist. Dies wurde sdion erörtert (vgl. S. 76 f.). Hier ist aber noch zu fragen: Was bedeutet es für die Wissenschafien, d a ß sie ontologisch dem Nichts entspringen? Das Nichts wurde in dieser Untersudiung als die allem Existieren (und damit auch dem wissenschaftlichen Verhalten) voraus-geseizte Grenze des Todes, d. i. als die totale Wirklichkeit begriffen. In der Abkehr von dieser ist das Dasein an das Seiende verwiesen. Insofern aber die Abkehr von dem ursprünglidi bestimmt ist, wovon sie Abkehr ist, d. i. vom Nichts, verweist sie an die Wirkliώkeit des Seienden. Diese ontologisdie Bewegung ist aber im ontischen Dasein immer schon weitergeschwungen bis in die Verlorenheit an die ,Grenzenlosigkeit' bloßer Möglichkeiten. Das ,zunächst und zumeist' verfallene Dasein ist durch 87
das aufenthaltlose Abspringen zu immer Neuem charakterisiert. Ontisdie Rüdiwendung zum ontologisdi Ursprünglidieren bedeutet nun: Gewinn von Wirklichkeit. Hinsichtlich des Begegnenlassens von Seiendem besagt dieser: das Seiende als Wirkliches hervortreten lassen. Wie aber vermag das Dasein den .grenzenlosen' Absprung zu immer Neuem zu unterbinden? Wie kann es dem verfallenden Unverweilen Einhalt gebieten? Nur so, daß es diesem Grenze und Schranke setzt. Dies wiederum kann nur so gesdiehen, daß es den Absprung ,ins Leere* vollzieht. Es muß dem Unverweilen das Nichts als Grenze setzen. Wie die ursprüngliche, totale Wirklichkeit durch das Nichts als Grenze charakterisiert werden mußte, so ,ist' audi das Seiende nur wirklich, insofern es als vom Nichts begrenzt hervortritt. Eine soldie Konstitution der Wirklichkeit geschieht im wissensdiaftlichen Verhalten des Daseins als eingrenzende Be-schränkung des Seienden auf Gegenstandsbereiclie. Zur Wissensdiafl: gehört jeweils eine „Umgrenzung der ,Region' " (SuZ 362), welche die Bedingung für ein eindringliches Gegenwärtigen von jeweils im Thema stehendem Seienden ist. Ja, je mehr Wissensdiafl: in ihr Wesen findet, desto mehr muß sie Gegenstandsbereiche „gegeneinander abgrenzen und das Abgegrenzte in Fächer eingrenzen, d. h. einfädiern. Die Theorie des Wirklichen ist notwendig Fachwissensdiafl" (VA 59). Sie ist jeweils, führt Heidegger im Vortrag ,Die Zeit des Weltbildes' aus, „auf den Entwurf eines umgrenzten Gegenstandsbezirkes gegründet und deshalb notwendig Einzelwissensdiafl" (Hw 76). Es geht dieser lediglich um das in jenem eingegrenzte Seiende und sonst — um niclits. Weil sie auf Wirklichkeit aus ist, ist für die Wissenschaft das Nichts als Grenze konstitutiv. J e weiter nun der Gegenstandsbereich der jeweiligen Wissenschaft ist, desto größer ist der Spielraum des noch freigegebenen Möglichen. In ihrer ontologischen Grundtendenz auf die Wirklidikeit zielend, muß Wissenschaft diesen Spielraum einzuengen suchen. Die hieraus resultierende Spezialisierung der Forschung ist somit, wie Heidegger — diese freilich letztlich ,setnsgeschichtli(b' interpretierend — bemerkt, „keineswegs eine verblendete Ausartung oder gar eine Verfallsersdieinung der modernen Wissenschaft", sondern vielmehr „eine notwendige und positive Folge" (VA 59) ihrer Entfaltung. Daß in den Wissenschaften, wie Max W e b e r sagt, „eine wirklich endgültige und tüditige Leistung . . . heute stets: eine spezialistische Leistung" sein muß und daß dies wohl, wie Weber vermutet, „in alle Zukunft so bleiben wird" (WB 10), hat seinen existenzialen Grund eben in der dargestellten — den verfallenden Absprung in die Vielfalt des Möglichen be-sdiränkenden — Tendenz des Daseins auf Wirklichkeit.
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Sechster
Abschnitt
Modalität und Zeitlichkeit des Seins des Kunstwerkes § 36. Die konstitutive Bedeutung der Modalität der Wirklichkeit für das Sein des Kunstwerkes Die Erörterung der ontologisdien Grundproblematik des wissensdiaftlichen Verhaltens sollte die in den §§ 27 und 28 vorgetragenen grundsätzlidien Überlegungen zur Modalität des Seins bei. . an einem Beispiel verdeutlidien. Die Wahl gerade dieses Beispiels mag nun aber willkürlidi ersdieinen. Denn daß das Dasein Wissensdiaft treibt, „daß Wissensdiaft überhaupt sein soll, ist niemals unbedingt notwendig" (SU 8). Gefragt werden muß daher: Läßt sidi der für die Wissensdiaflen konstitutive Charakter des Aus-seins auf Wirklichkeit als Rüdiwendung zum ontologisdi ursprünglidier Vorgezeidmeten audi für andere Modi des Seins b e i . . aufweisen? Im folgenden soll ein soldier Aufweis nodi im Blick auf das ,Sein bei einem Seienden' versucht werden, das vom Dasein eigens gesdiaffen wird: dem Kunstwerk. Heidegger hat sidi mit der Problematik dieses Seienden vor allem in seinen Vorträgen ,Der Ursprung des Kunstwerkes' (Hw 7—68) auseinandergesetzt. „Im Werk der Kunst" — so führt er dort aus — „hat sidi die Wahrheit des Seienden ins Werk gesetzt" (Hw25). So ist etwa das von ihm besdiriebene Gemälde van Goghs (vgl. Hw 22 if.) „die Eröffnung dessen, was das Zeug, das Paar Bauernsdiuhe, in Wahrheit ist" (Hw 25). Wahrheit, ursprünglidi verstanden, ist die im Gesdiehen der Unverborgenheit erstrittene Offenheit des Offenen, in deren „Spielraum... (die Liditung des Da) . . . jegliches Seiende in seiner Weise aufgeht" (Hw 49)\ Das „Wesen der Kunst" ist „das Sich-ins-WerkSetzen der Wahrheit des Seienden" (Hw25). Was besagt nun in diesem Zusammenhang: ,setzen'? „ ,Setzen' sagt hier: zum Stehen bringen" (Hw 25). Ein solches Zum-Stehen-bringen konstituiert Offenheit. Indem die Wahrheit „das Offene besetzt, hält sie dieses offen und aus. Setzen und besetzen sind hier überall aus dem griediisdien Sinn der θέσις gedadit, die ein Aufstellen im Unverborgenen meint" (Hw 49). Θέσις, Setzen, Zum-Stehen-bringen aber sind Bestimmungen der Wirklichkeit (vgl. § 27, S. 64—66). Das heißt: Im Kunstwerk vollzieht sidi Konstitution von Wirklidikeit. ^ Für das erste Verständnis des mit .Offenheit des Offenen' sei auf das im 1. Abschnitt dieser Untersuchung als Erschlossenheit des In-der-Welt-seins Herausgearbeitete verwiesen. Sdion diese wird in ,Sein und Zeit' als ,Lichtung des Da' begriffen (vgl. SuZ 132 f.).
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Dem ist weiter nachzufragen. „Das Einriditen der Wahrheit ins Werk ist das Hervorbringen eines solchen Seienden, das vordem noch nicht war und nadimals nie mehr werden wird. Die Hervorbringung stellt dieses Seiende dergestalt ins Offene, daß das zu Bringende erst die Offenheit des Offenen lichtet, in das es hervorkommt" ( H w 50). Wie ist das zu verstehen? Die Hervorbringung ,stellt ein Seiendes ins Offene', sie .besetzt das Offene', darin liegt dodi: das Offene ist der Hervorbringung sdion vorgegeben. Andererseits soll sie erst die Offenheit des Offenen liditen. Werksein heißt: „freigeben das Freie des Offenen und einrichten dieses Freie in seinem Gezüge" ( H w 34); „Werksein heißt eine Welt aufstellen" ( H w 33). Aber die „Erriditung" ( H w 33) eines Werkes kann dodi nur im Horizonte einer sdion erschlossenen Welt geschehen? Die Errichtung eines Werkes setzt in der Tat sdion Welt voraus. Freilich die, in der das Dasein verfallend immer schon aufgegangen ist, die Welt des Geheuren, die Welt des Gewöhnlidien. Das Werk stößt nun „das bislang geheuer Scheinende" um, es rüdct das Dasein „aus dem Gewöhnlichen heraus" ( H w 54). In „der Kunst geschieht es, daß sie inmitten des Seienden eine offene Stelle aufschlägt, in deren Offenheit alles anders ist wie sonst" (Hw 59); „durdi das Werk" wird „alles Gewöhnlidie und Bisherige zum Unseienden. Dieses hat das Vermögen, das Sein als Maß zu geben und zu wahren, eingebüßt" ( H w 59). Wie vermag es nun das Kunstwerk, das Dasein aus dem Geheuren und Gewöhnlichen des verfallenden Springens in immer neue Möglichkeiten herauszurücken? N u r so, daß es als das Insichruhende auf sich zieht und so die Bewegtheit des Verfallens fest-stellt^. Was aber madit „die Beständigkeit des Insidiruhens am Werk" (Hw 53) aus? Heidegger antwortet: „Der Anstoß, daß das Werk als dieses Werk ist und das Nichtaussetzen dieses Stoßes" ( H w 53). Das Werk ist ein „Stoß ins Offene" (Hw 54). Es ist aber nicht etwa ein Stoß, der die verfallende Bewegung weiter voranstößt, sondern ein Stoß, der „zum Stehen" ( H w 25) bringt, ein Gegen-Stoß, der fest-stellt. So kann Heidegger sagen: „Geschaffensein des Werkes heißt: Festgestelltsein der Wahrheit in die Gestalt" ( H w 52). „Was hier Gestalt heißt, ist stets aus jenem Stellen und Ge-stell zu denken, als welches das Werk west, insofern es sich auf- und herstellt" ( H w 52). Vom Auf-Stellen (von Welt) und vom Her-stellen (der Erde) als von zwei Wesenszügen des Werkes wird weiter unten noch die Rede sein. Zunädist ist darauf zu verweisen, daß Bestimmungen wie ,Stellen' und ,Ge-stell' — ebenso wie ,Setzen· und ,θέσις' — wieder die Modalität der Wirklidikeit zum Vorsdiein bringen. Diese soll im folgenden in ihrer konstitutiven Bedeutung für das Kunstwerk schärfer herausgearbeitet werden. Wie ist der fest-stellende Stoß in die Gestalt schärfer zu charakterisieren? In ihm tritt das „ ,Daß' des Geschaffenseins" ( H w 53) hervor. „Im Hervorbringen des Werkes liegt" ein „Darbringen des ,daß es sei' ", „das Geschaffensein... steht als der Stoß jenes ,Daß' ins Offene" ( H w 54). Wenn Heidegger aber vom ,Daß-sein' spricht, so meint er, „was die Philosophie terminologisch als existentia Zum Fest-stellen vgl. S. 63, S. 66.
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(Wirklichkeit) zu fassen pflegt" (K 202). Das Daß, die Wirklichkeit, leuchtet im Kunstwerk in besonderer Weise auf. „Zwar gehört audi zu jedem verfügbaren und im Gebrauch befindlichen Zeug, ,daß' es angefertigt ist. Aber dieses ,Daß' tritt am Zeug nicht heraus, im Gegenteil, es verschwindet in der Dienlichkeit. Je handlicher ein Zeug zur Hand ist, um so unauffälliger bleibt es, daß z. B. ein solcher Hammer ist, um so aussdiließlicher hält sich das Zeug in seinem Zeugsein. Überhaupt können wir an jedem Vorhandenen bemerken, daß es ist; aber dies wird, wenn überhaupt, auch nur vermerkt, um alsbald nadi der Art des Gewöhnlichen vergessen zu bleiben" (Hw 53; vgl. in dieser Untersuchung § 33, S. 78 f.). „Im Werk dagegen ist dieses, daß es als solches ist, gerade das Ungewöhnliche" (Hw 53). Worin beruht die Ungewöhnlichkeit des ,Daß' des Werkes? Darin, daß es in sein ,Daß' geschaffen, daß es geschaifenes ,Daß' ist. Zwar sind auch die Gebraudisdinge ,ges, ,durch eine ganze Seite nach der Stille', und « par tout un autre côté à ce plenum d'être qu'est la mélodie envisagée » (EN 615), „durch eine ganz andere Seite zu jenem Seins-Plenum, das die betreffende Melodie ist"®, so gilt es darüber hinaus festzustellen, daß jeder Klang als Klang dem Seinsganzen des jeweiligen Tonwerkes und dem ,Nichts an Klang' zugehört. Dieses aber enthüllt sidi als die ontologisch vorgängige Bedingung des Tonwerkes als eines Ganzen und, innerhalb dieses, jedes einzelnen Klanges. Indem die Stille das Nichts zur Grenze setzt, eröffnet sie allererst den Spielraum für das Tonwerk als ein abgeschlossenes Ganzes, für jeden Klang als ,begrenzten Ton'. Wieder erweist ® Die Obersetzung der Textstellen aus < l'être et le néant > folgt, von kleinen Abweichungen abgesehen, derjenigen von Justus S t r e l l e r (vgl. SN 493).
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es sidi als unumgänglich, das Phänomen des Endes (und in eins damit das des Anfangs) von der Grenze, als dem Ursprünglicheren, her zu interpretieren^. Was bedeutet dies für die Frage nach Zeitlichkeit und Zeitenthobenheit der Musik? Als vielfältig strukturierter Zusammenhang bemessener Klänge ist das Tonwerk ,selber Zeit'. Seine Zeitlichkeit ist Bemessenheit. Das Bemessende jedoch, die Stille, ist ursprünglich selbst kein Bemessenes. Das heißt: das ,Nichts an Klang' ist in eins .Nichts an Zeit'. Gleichwohl ist es die konstitutive Voraussetzung jedes Klanges als eines zeitlich bemessenen. Die zeitlose Stille ist der ontologische Grund der Zeitlichkeit des Tonwerkes. In dessen Bemessenheit ist sie als das Bemessende. Daher auch kann das Tonwerk, wie Weischedel sagt, „als Werk nur so vernommen werden, daß . . . der Hörende sich über die bloße Zeitfolge erhebt" (TW 56). Nur vom Gesammeltsein in die Stille her ist es in der Ganzheit seiner zeitlichen Entfaltung erfahrbar. So wird „gerade in der Überwindung der Zeit die Begegnung mit der Musik" (TW 56), ,der Zeitlichsten aller Künste', möglich. Damit ist der Grenzcharakter des Tonwerkes auch hinsichtlich Zeitlidikeit und Zeitlosigkeit deutlich geworden: „die Wirkung der Musik ist zwiespältig" (FM 162). In ihr treten „zeitentrückte Ordnung und Zeitlichkeit, Dauer und Vergänglichkeit zutage" (FM 162; Hervorheb. v. Verf.). Der Primat der Gegenwart, die ihrerseits in der Zeitlosigkeit wurzelt, ließe sich nun nicht nur für die Musik, sondern audi für die anderen Künste als konstitutiv aufweisen. Dies kann jedoch nicht die Aufgabe dieser Untersuchung sein. Für sie ist wesentlich, daß der Primat der Wirklichkeit nun auch im Blick auf das Kunstwerk vollends deutlich herausgetreten ist. Was die immanente Kritik der Heideggerschen Kunstwerkvorträge nahelegte, hat sich mit der Einbeziehung der Analysen Weischedels in die Überlegungen dieses Abschnittes als unumgänglich erwiesen: die Deutung des Kunstwerks muß über dessen konstitutive Zugehörigkeit zum Offenen von Welt und Geschichte hinausgreifen. Sein er-öffnendes Möglichsein hat das Werk erst von Gnaden der Wirklichkeit. Um diese, d. h. um den Rückgewinn des ontologisch ursprünglich Vorgezeidineten geht es dem Dasein im Grunde, sowohl im Hervorbringen eines Werkes als auch im Sichversenken in es. „Der eigentliche Sinn" der „Entrückung" im Kunstwerk „ist es, daß der Betrachter durch das Werk hindurch in die metaphysische Wirklichkeit hineingerückt wird" (TW 49). ° Freilich genügt es nicht, auf die Stille lediglidi als auf das ,Nichts an Klang' hinzuweisen, wenn sie das Tonwerk ursprünglich konstituieren soll. Stehen dodi „die Töne in der gegliederten Struktur des Musikwerkes als Ganzen . . . in vielverschlungenen Beziehungen zueinander, in einer Ordnung des Zugleich und des Nebeneinander" ( F M 161; Hervorheb. v. Verf.). Ja, es ist im Grunde „das Ordnende selber", das im Tonwerk „hörbar wird" ( T W 53). Ist vielleicht auch die Ordnung von der Stille her zu begreifen? Eine Erörterung dieser Frage müßte freilich die Stille über die Andeutungen Weisdiedels hinaus noch eindringlicher zu fassen suchen, sie als „Stille . . . , die um das Kunstwerk steht" ( T W 55) (nicht allein das Tonwerk konstituiert), ins Thema rüdcen, was hier nidit geschehen kann. Zum Problem der Ordnung vgl. Weischedels Ausführungen insbes. T W 51 £f., F M 161 fi.
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Offene Fragen der Untersudiung Der Aufweis des ontologischen Vorrangs der Wirklichkeit vor der Möglichkeit und der Nachweis des Ursprungs dieser aus jener hinsichtlich des Seins b e i . . haben in den Analysen von Wissenschaft und Kunst ihre Bestätigung gefunden. Nun bedürfte es lediglich noch der Untersuchung des Seins m i t . das ja bisher unberüdcsichtigt blieb (vgl. S. 68), um die Überlegungen zur Modalitätsproblematik des Strukturganzen des Daseins zu einem gewissen Absdiluß zu bringen. Doch der Versuch einer Einbeziehung des Phänomens der ,Fürsorge' in diese Überlegungen stößt auf besondere Schwierigkeiten. Das Seiende, das mit ihm begegnet, ist „gemäß seiner Seinsart als Dasein selbst in der Weise des In-der-Welt-seins ,in' der Welt . . . , in der es zugleich innerweltlich begegnet" (SuZ 118). Das Dasein als Dasein Anderer enthüllt sich als In-der-Welt-5e¿» u n d als innerweltliches Seiendes. Damit taucht die Problematik der ontisch-ontologischen Differenz in ausgezeichneter Weise auf. Da nun diese Problematik im Zentrum einer weiteren Untersuchung stehen soll, die im Ansdiluß an das hier Vorgelegte geplant ist, ist es zweckmäßig, erst dort auch die Frage nach dem Sein m i t . . zu erörtern. Die ontisch-ontologisdie Differenz des Daseins soll hierbei — unter anderem mit dem Ziel der Ausarbeitung des späten Möglidikeitsbegriffes Heideggers und seiner Stellung zur Wirklichkeit — in zweifacher Blickrichtung ins Thema rücken. Einmal ist zu fragen, was es denn nun, nachdem das Dasein als Strukturganzheit in seiner ontologischen Genesis, d. h. in seinem Sein, begriffen worden ist, heißen kann, daß dieses Dasein ein Seiendes ist. Zum zweiten soll — und in deutlidier Abhebung gerade von der eben genannten, primär auf das Ontische des Daseins gerichteten Erörterung — die zunehmende Radikalisierung der ontologischen Problematik bei Heidegger, der schließlich nicht einmal mehr der Titel ,Fundamentalontologie' für die Frage nadi dem Sein zu genügen vermag (vgl. WM 19 f., P - H 109 ff.), untersucht werden. „Das menschliche Dasein" (WG 35), das „Seiende, das wir selbst je sind" (SuZ 7), wird von Heidegger auf sein Sein hin befragt. Es geht ihm schon in .Sein und Zeit' um das „Da-sein" (zuerst SuZ 55; vgl. SuZ 132, 134) dieses Seienden. Im Fortgange seiner Untersuchungen enthüllt sich ihm dieses Da-sein immer deutlicher als das Ursprünglichere gegenüber dem Menschen. Heidegger spricht in diesem Zusammenhang auch vom ,Dasein im Menschen' (vgl. К 204 ff.), von dem es später heißt, es sei selbst „nichts Menschliches" (SF 17). Andererseits aber wird das Da-sein begriffen als das, „worin der Mensch als Mensch existiert" (VA 63; Hervorheb. v. Verf.). Die Fragen, inwiefern das Dasein ,im' Menschen und inwiefern der Mensch ,im' Da-sein ,ist', werden vor die Problematik der Heideggerschen ,Kehre' (vgl. P - H 72) führen. Zu dieser gehört eine radikalisierende Selbstinterpretation Heideggers hinsichtlich früherer Aussagen. So soll der Satz in ,Sein und Zeit': „Das Wesen des Menschen liegt in seiner Existenz" 104
(SuZ 42), nun besagen: „der Mensdi west so, daß er das ,Da', das heißt die Lichtung des Seins, ist" (P-H 69). Im kritisdien Nachvollzug des hier angedeuteten Weges — von der Frage nadi dem Dasein als einem Seienden bis zu der nadi der vom Sein selbst geschickten ,Lichtung des D a ' — soll die Analyse des Daseinsbegrifies in der geplanten Untersuchung zum späten Seinsbegriff Heideggers vordringen. Im Zusammenhang der Erörterung seiner muß dann gefragt werden, was es bedeutet, daß nun das Sein selbst „als das Vermögend-Mögende . . . das ,Mögliche·" ( P - H 5 7 ) ,ist'. Das Sein west als das Mögliche, dies besagt schließlich auch — so wird sidi in der Ausarbeitung der genannten Frage zeigen — : seine „Geschidite ist nie vergangen, sie steht immer bevor" ( P - H 54). Mit dem Vorrang der Möglichkeit bleibt der Vorrang der Zukunft erhalten, wenn auch in eigentümlicher Abwandlung gegenüber dem in ,Sein und Zeit' Ausgearbeiteten. Von jenem her soll schließlidi der esdiatologisdie Charakter des Geschiditsdenkens Heideggers, welches „das Einstige der Frühe im Einstigen des Kommenden" ( H w 302) erwartet, verstanden und kritisdi in den Blick genommen werden.
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Bibliographische Anmerkung E i n e ausführlidie, 880 Titel u m f a s s e n d e B i b l i o g r a p h i e der H e i d e g g e r - L i t e r a tur, die freilich m i t dem J a h r 1955 abschließt, hat H e r m a n n L ü b b e
in der
Zeitschrift f ü r Philosophische Forschung, B a n d X I , 1957, S. 4 0 1 — 4 5 2 , vorgelegt. A u s der F ü l l e der im Z u s a m m e n h a n g m i t dieser Untersuchung eingesehenen L i t e r a t u r sind im f o l g e n d e n nur die Schriften verzeichnet, die hier zitiert oder erw ä h n t w u r d e n . H i n t e r den Titeln sind die hier verwendeten A b k ü r z u n g e n angegeben. 1. H e i d e g g e r , Martin: Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus, Tübingen 1916 2. —: Sein und Zeit, adite Auflage, Tübingen 1957 3. — : Vom Wesen des Grundes; dritte, mit Vorwort versehene Auflage, Frankfurt am Main 1949 4. —: Kant und das Problem der Metaphysik; zweite, mit neuem Vorwort versehene Auflage, Frankfurt am Main 1951 5. —: Was ist Metaphysik?; fünfte Auflage, erweitert durdi eine Einleitung und mit neu durchgesehenem Nadiwort, Frankfurt am Main 1949 6. —: Die Selbstbehauptung der deutsdien Universität, Breslau 1933 7. — : Vom Wesen der Wahrheit; dritte Auflage, Frankfurt am Main 1954 8. — : Piatons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief über den ,Humanismus'. Zweite Auflage, Bern 1954 9. — : Holzwege, Frankfurt am Main 1950 10. —: Erläuterungen zu Hölderlins Diditung, Frankfurt am Main 1951 11. —: Einführung in die Metaphysik, Tübingen 1953 12. — : Was heißt Denken?, Tübingen 1954 13. — : Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954 14. — : Zur Seinsfrage, Frankfurt am Main 1956 15. —: Der Satz vom Grund, Pfullingen 1957 16. — : Gelassenheit, Pfullingen 1959 17. — : Unterwegs zur Spradie, Pfullingen 1959 18. A 11 e m a η η , Beda; Hölderlin und Heidegger, Züridi und Freiburg im Breisgau 1954 19. B e c k e r , Oskar: Zur Logik der Modalitäten, Halle 1930 20. — : Untersuchungen über den Modalkalkül, Meisenheim 1952 21. D e l p , Alfred: Tragische Existenz, Freiburg im Breisgau 1935 22. D i o g e n i s L a e r t i i de clarorum philosophorum vitis, dogmatibus et apophthegmatibus; zitiert nadi H . Usener: Epicurea, Lipsiae MDCCCLXXXVII 23. F a u s t , August: Der Möglichkeitsgedanke. Erster Teil. Heidelberg 1931 24. H ü h n e r f e l d , Paul: Die Kategorie der Befindlichkeit in der Philosophie Martin Heideggers, Hamburg 1951 25. H u s s e r l , Edmund: Philosophie als strenge Wissensdiaft; ,Logos·, Band I, 1910 106
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26. К г о с к о w , Christian Graf von: Die Entscheidung, Stuttgart 1958 27. K r ü g e r , Gerhard: Christlicher Glaube und existenzielles Denken, in: Freiheit und Weltverwaltung; Aufsätze zur Philosophie der Geschichte, Freiburg und München 1958 28. L ö w i t h , Karl : M . Heidegger und F. Rosenzweig, ein Nachtrag zu ,Sein und Zeit'; Zeitschrift für Philosophische Forschung, Band XII, Heil 2, 1958 29. M a r e k , Siegfried: Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart, 1. Halbband, Tübingen 1929 30. S a r t r e , Jean Paul: L'être et le néant, Paris 1943 31. —: Das Sein und das Nichts; bearbeitet, herausgegeben und übersetzt von Justus S t r e 11 e r , Hamburg 1952 32. S t e r n b e r g e r , A d o l f : Der verstandene Tod, Leipzig 1934 33. W e b e r , M a x : Wissenschaft als Beruf, München und Leipzig 1919 34. W e i s c h e d e l , Wilhelm: Martin Heidegger: Holzwege; Philosophischer Literaturanzeiger, Band II, 1950, S. 49-56 35. — : Die Tiefe im Antlitz der Welt, Tübingen 1952 36. — : Fragment über die Musik, in: Wirklichkeit und Wirklichkeiten; A u f sätze und Vorträge, Berlin 1960
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Berichtigung Seite 104, letzte Zeile: s t a t t „Das Wesen des Mensdien liegt in seiner Existenz" l i e s „Das ,Wesen' des Daseins liegt in seiner Existenz" Müller-Lauter, Möglichkeit und Wirklichkeit