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German Pages 172 [171] Year 2015
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hrsg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film
Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Ralf Schnell.
Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hrsg.)
Theater und Schaulust im aktuellen Film
Medienumbrüche
Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.
© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Susanne Pütz, Siegen; Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-181-7
INHALT Vorwort .......................................................................................................... 7 Volker Roloff
Aktuelle Theaterfilme .................................................................................... 9 Michael Lommel
ON NE BADINE PAS AVEC L’AMOUR Yvon Marcianos Kurzfilm nach Alfred de Musset ...................................... 21 Marijana Erstiü
Zwischen „fingere sempre di avere capito“ und „belle nuit d’amour“: Theatralität und Improvisation in Roberto Benignis Film LA VITA È BELLA ................................................... 33 Nanette Rißler-Pipka
Jacques Rivettes VA SAVOIR: Das Spiel ohne Regeln? ................................. 55 Gerhard Wild
Mnemosyne und Melancholie: Zur Theatralisierung von Bewusstseinsinhalten in Manoel de Oliveiras VOU PARA CASA (JE RENTRE A LA MAISON) ............................................................................... 77 Gregor Schuhen
Diva Hysterie Mord – Starkult und Theaterkunst in François Ozons 8 FEMMES ........................................................................ 93 Kirsten von Hagen
Paradoxe sur Amélie: Jean-Pierre Jeunets Kinomärchen als mediale Collage .................................................................................... 111 Isabel Maurer Queipo
TODO SOBRE MI MADRE – Schauspiele zwischen Realität und Fiktion ........ 127 Walburga Hülk
Intimate Strangers: Vom Pathos des anderen Schauplatzes (Zu Patrice Chéreaus Film INTIMACY/INTIMITÉ).......................................... 145 Uta Felten
„Juste du désir cru...“ Bühnen der Ars erotica. Zur Theatralisierung der Heilsgeschichte in Catherine Breillats Film ROMANCE ........................ 157 Autorenverzeichnis .................................................................................... 167
VORWORT Die Publikation Theater und Schaulust im aktuellen Film dokumentiert die Aktualität und Weiterentwicklung der Theater/Film-Kombinationen im Kontext der Jahrtausendwende, des digitalen Medienumbruchs, der Medienmischungen und Hybridisierungen, der spektakulären und performativen Medienkulturen. Neueste Theaterfilme veranschaulichen, dass die Spielräume, ästhetischen Möglichkeiten und Interaktionen des szenischen und filmischen Mediums keineswegs erschöpft sind, sondern zu neuen Varianten und Aktualisierungen herausfordern. Der vorliegende Sammelband verdeutlicht, dass die ‚klassischen‘ französischen Theaterfilme der ersten Tonfilmdekade – die Filme von Renoir, Ophüls, Clair, Pagnol, Tati, Carné – für die Theater/Film-Experimente der Gegenwart wichtige Angelpunkte der intermedialen Reflexion bieten. In letzter Zeit lässt sich im Kino eine regelrechte Renaissance der Theatralisierung beobachten – simultan zur Re-Theatralisierung filmischer Stoffe auf der Bühne. Die (syn)ästhetischen Verfahrensweisen zwischen Transformation und Innovation, aber auch die Brüche und Spannungen vor dem Hintergrund einer veränderten Medienlandschaft (insbesondere der zunehmenden Verschmelzung von Film, Video, Fernsehen und Computer) werden in aktuellen Theaterfilmen spielerisch weiter geführt. Darin zeigt sich zugleich die Fruchtbarkeit der intermedialen Konzepte und Untersuchungsmethoden, die Theater und Film als integrale Bestandteile eines vielschichtigen Medienensembles auffassen. Aus dem umfangreichen Repertoire des internationalen Kinos sollen hier nur einige Beispiele diskutiert werden, die die Intermedialität von Theater und Film besonders anschaulich in Szene setzen. Bei der Auswahl spielte zudem eine Rolle, dass die analysierten Filme die Spielformen der Theatralität mit der Thematik des Blicks, der originären Schaulust des Kinos und den Dispositiven des Sehens verknüpfen. Schaulust und Theater verhalten sich in diesem Sinne komplementär zueinander, weil jede Szene schon immer für einen (filmischen) Blick eingerichtet ist. Die Beiträge des Sammelbandes behandeln sowohl Filme, die sich unmittelbar auf Theaterstücke beziehen, als auch Filme, in denen Theatertraditionen und Theatralität eine zentrale Rolle spielen. Die Korrespondenzen der Thematik und Struktur der Theaterfilme ermöglichen daher verschiedene Lektüren und Querverbindungen, die nicht von der hier gewählten Reihenfolge der Beiträge abhängig sind. Der vorliegende Band ist im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs 615 „Medienumbrüche“ der Siegener Universität ent-
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VORWORT
standen und reflektiert Ergebnisse aus dem DFG-Projekt „Theater und Theatralität im Film – französische Theater/Filme 1930-1960“; die Herausgeber danken den Beiträgern sowie Gesine Hindemith, Renée Rogage, Isabel Treptow, Andrea Stahl und Georg Rademacher für die Mitarbeit bei der redaktionellen Vorbereitung. Unser besonderer Dank gilt Volker Roloff für seine konzeptionelle Beratung und seine freundschaftliche Unterstützung.
VOLKER ROLOFF
AKTUELLE THEATERFILME Zu fragen, was so verschiedenartige Filme wie Almodóvars TODO SOBRE Rivettes VA SAVOIR, Chéreaus INTIMACY, Benignis LA VITA E’ BELLA und Jeunets AMÉLIE miteinander verbindet, erscheint nur auf den ersten Blick willkürlich: Es handelt sich um Theaterfilme, wenn man den Begriff des Theaters erweitert und im Anschluss an aktuelle Theorien der Theatralität als Prozess definiert, der innerhalb und außerhalb des Theaters stattfinden kann und der sich überall dort entfaltet, wo Darstellende und Zuschauer zusammen treffen – d. h. als Wahrnehmungsmodus, der es der Perspektive oder dem Blick des Zuschauers überlässt, ob eine Situation als theatral oder nicht-theatral erscheint.1 Dabei sind die Spielformen der Bühne und des Lebens, wie z.B. die Filme von Oliveira, Rivette oder Almodóvar zeigen, keineswegs leicht zu unterscheiden. Unter dieser Voraussetzung wird deutlich, dass Theatralität, Inszenierung und Rollenspiele nicht nur die Welt des Theaters betreffen, sondern ebenso die neuen Medien wie z.B. den Film oder das Fernsehen, und damit sowohl die alltäglichen, öffentlichen Schauspiele der Unterhaltung und Politik als auch die privaten, scheinbar intimen Inszenierungen und Rollenspiele der Erotik und Sexualität, die in Chéreaus INTIMACY oder Catherine Breillats ROMANCE dem Blick der Zuschauer freigegeben werden. Der hier gewählte Begriff des Theaterfilms umfasst daher mehr als den traditionellen Typ der Verfilmung von Theaterstücken oder der Verwendung von Theaterelementen im Film. Er versucht, Theaterfilme als Werkstätten einer intermedialen Reflexion zu begreifen, die die Prozesse der Medialisierung der Öffentlichkeit, der Inszenierbarkeit privater und öffentlicher Schauspiele zugleich darstellen und analysieren; und damit Schauspiel, Schaulust, Inszenierung und Simulation als Elemente einer ‚société du spectacle‘2, insbesondere unserer gegenwärtigen MeMI MADRE,
1 Vgl. Fischer-Lichte, Erika: „Theatralität und Inszenierung“ in: dies./Pflug, Isabel (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität, Basel 2000, S. 11-27, hier S. 19 mit Bezug auf Burns, Elisabeth: Theatricality. A Study of Convention in the Theatre and Social Life, London 1972. 2 Vgl. Debord, Guy: La société du spectacle, Paris 1967.
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diengesellschaft durchschaubar machen. Theaterfilme sind, thematisch und strukturell, Beispiele der Veranschaulichung und Analyse von Theatralität im Medium des Films. Wenn man wie Josef Früchtl und Jörg Zimmermann das Theater als „genuinen Ort einer Ästhetik der Inszenierung“3 ansieht und davon ausgeht, dass alle Erweiterungen und Modifikationen des Begriffs der Inszenierung letztlich auf das Paradigma der theatralischen Aufführung zurückzuführen sind, so kann man verstehen, dass der Film, schon seit seiner Erfindung, mit Vorliebe auf dieses Paradigma zurückgreift – und zwar gerade in dem Maße, in dem die Filmkunst ihre eigenen Möglichkeiten und Chancen erkennt. Der Weg der Filmgeschichte führt von den frühen, schon seit Méliès grundlegenden Versuchen, Theatertraditionen und Theatergattungen aufzunehmen, von der Melodramatik und Komik der Stummfilme, den Experimenten der filmischen Avantgarden bis zu den Klassikern des Theaterfilms von Eisenstein, Murnau, Pabst, Renoir, Ophüls, Cocteau, Carné bis zu Orson Welles, Mankiewicz, Fellini, I. Bergmann oder Greenaway. Es sind vor allem Filme der Nouvelle Vague, die das Verhältnis von Theater und Film neu bestimmen, indem sie die intermedialen Spielräume und Kombinationsmöglichkeiten zwischen den Medien entdecken und erweitern.4 Die Theaterfilme von Godard, Malle, Resnais, Chabrol, Rivette und Rohmer zeigen schon seit den 60er Jahren, wie gut das Kino imstande ist, die gewohnten Formen und Genres des Theaters nicht nur aufzunehmen, sondern zugleich im Bewusstsein der Spannung zwischen den beiden Medien mit dem kritischen Blick der Kamera zu aktualisieren, spielerisch zu erweitern, aufzulösen oder zu dekonstruieren. In dieser Phase entstehen neue Formen des filmischen Umgangs mit dem Theater, mit den Figuren und Topoi der Theatralität und Inszenierung: neue intermediale Spielformen und Darstellungsmittel, von der Empathie und Konfusion bis hin zu parodistischen, kritischen, ironischen oder satirischen Formen der mise en abyme des Theaters im Film.5 Dem entsprechen, nach einer lange Zeit dominierenden Periode der puristischen Theater- und Filmtheorie, die beide Medien möglichst scharf voneinander abgrenzen, neue medien- und filmästhetische Überlegungen, 3 Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt a.M. 2001, S. 30. 4 Vgl. Vf./Winter, Scarlett (Hrsg.): Theater und Kino in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen 2000. 5 Vgl. zu Rivette: Lommel, Michael: Der Pariser Mai im französischen Kino. 68er-Reflexionen und Heterotopien, Tübingen 2001; zu Godard: Vf./ Winter, Scarlett (Hrsg.): Godard intermedial, Tübingen 1997.
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die die Korrespondenzen und Differenzen von Theater und Film flexibler und genauer erfassen.6 Dies wird zuerst bei Bazin deutlich, der in seinem Essay über „Théâtre et cinéma“ im Blick auf Cocteaus Theaterfilme die Formel des „surcroît de théâtralité“ findet, die den Film gegenüber dem Theater kennzeichne: „L’apport spécifique du cinéma se pourrait définir ici par un surcroît de théâtralité“.7 Vor allem Deleuze hat, im Anschluss an Bazin und besonders an den Beispielen von Ophüls, Renoir und Fellini gezeigt, dass Filme, indem sie die Spielformen der Lebenswelt und der Bühne, aktuelle und virtuelle Bilder vermischen, eine neue Theatralität bzw. Meta-Theatralität schaffen, eine spezifisch kinematographische „théâtralité“.8 Paradoxerweise können Filme mehr Theater bieten als das Theater selbst, indem sie zugleich – mit dem weiterreichenden, mobilen und distanzierten Blick der Kamera und des Regisseurs – die Heterotopie, die Alterität des Theaters im Film reflektieren und dabei die Analogien und Differenzen zwischen theatralischer und filmischer Schaulust (und Redelust) aufzeigen: Die Spielformen der sichtbaren und unsichtbaren Theatralität der Gesellschaft jenseits der gewohnten Regeln und Konventionen des Theaters. Der ‚non-lieu‘ des modernen Theaters, der schon in den Traumspielen und Theaterutopien von Mallarmé, Jarry oder Artaud als „subjektiver Raum“ bzw. als mentaler Raum gleichsam zwischen Hören und Sehen erscheint,9 kann im Film – als dem spektakulärsten und raffiniertesten Medium der Schaulust, der Imagination und des ‚effet du réel‘ – Gestalt gewinnen: In dem intermedialen Zwischenraum zwischen Inszenierung und Improvisation, „présence“ und „absence“, Traum und Realität, der Gegenwärtigkeit und Virtualität der Körper im Spiel. So kann der Film, wie schon die Surrealisten erkannt haben, besser als das Theater die von Elisabeth Lenk sogenannte Theatralität und Mimetik des Traums,10 die Metamorphosen von Raum, Zeit und Körper, das Traumtheater der Wünsche und Ängste
6 Vgl. Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Frankreich: Medienwechsel und Intermedialität, Darmstadt 1992; Paech, Joachim: Literatur und Film, Stuttgart 1988. 7 Bazin, André: „Théâtre et cinéma“, in: ders.: Qu’est-ce que le cinéma?, Paris 1997, S. 148. Der Essay „Théâtre et cinéma“ erschien zuerst in Esprit, juin/juillet 1957. 8 Deleuze, Gilles: L’Image-temps, Paris 1985, S. 112. 9 Vgl. Finter, Helga: Der subjektive Raum, 2 Bde., Tübingen 1990; Brandstetter, Gabriele/Finter, Helga/Weßendorf, Michael (Hrsg.): Grenzgänge, Tübingen 1998. 10 Lenk, Elisabeth: Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Struktur in der Literatur und im Traum, München 1983.
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darstellen: „Le cinéma substitue à notre regard un monde qui s’accorde à nos désirs.“11 Durch die Heterotopie des Theaters im Film wird eine weitere Dimension geschaffen, eine surreale, imaginäre Welt des Theaters und seiner Kulissen im Film, ein Zwischenraum zwischen Theater und Film, Realität und Virtualität. Daher ist es kein Zufall, dass die hier behandelten aktuellen romanischen Theaterfilme Rückbezüge zu den historischen Avantgarden, insbesondere zum französischen und spanischen Surrealismus erkennen lassen. Die Aktualität des Surrealismus zeigt sich in der Art und Weise, wie Theatralität, Schaulust, das Spiel der Träume und Metamorphosen thematisch und strukturell wichtig werden. Wie schon bei Buñuel, Cocteau und Clair geht es um die Autoreflexion des Theaters im Film, und damit zugleich um die Grenze zwischen dem Unsichtbaren und Sichtbaren. Das theatrum mundi der gegenwärtigen Gesellschaft wird – in seinen komischen, grotesken oder melodramatischen Spielformen – wie schon in den frühen surrealistischen Filmen zu einem Angelpunkt der Hybridisierung von Theater und Film: besonders spektakulär bei Almodóvar, Oliveira, aber auch bei Benigni, Rivette, Chéreau und Jeunet. Dabei sind jene Theatertraditionen und -figuren von Interesse, die schon in den frühen Avantgarden (bei Jarry, Apollinaire, Valle-Inclán und Cocteau) wiederentdeckt wurden: die barocke Konfusion von Leben und Traum, das Wechselspiel von engaño und desengaño (Almodóvar), die Spielformen der commedia dell’arte (Benigni), der karnevalesken Farce, aber auch das profane, blasphemische „Theater der Passion“, das erotische auto sacramental (Breillat). Zu überlegen bleibt indes, im Blick auf die hier ausgewählten aktuellen Theaterfilme romanischer Provenienz, warum gerade jetzt das Theater und das theatrum mundi unserer Zeit eine neue filmische Dimension gewinnt und die besten Regisseure inspiriert. Die folgenden Beiträge sind auf der Suche nach der Antwort und lassen, trotz der Differenzen der Filmgenres und Filmstile, dabei erstaunliche Analogien und Affinitäten der filmischen Konzeptionen und Problemstellungen erkennen. Die Filme schaffen, indem sie die gegenwärtige Gesellschaft und Kultur weitgehend als Spielformen der Inszenierung, der Simulation und des Scheins darstellen – sei es in komischer, tragikomischer, grotesker oder tragischer Weise – jeweils Grenzsituationen der Konfusion und Umkehrung, die die gewohnten Oppositionen von Sein und Schein, Realität und Fiktion, Authentizität und Simulation in Frage stellen und auflösen. 11 Vgl. Le mépris, zit. in: Marie, Michel: Le mépris. Jean-Luc Godard, Paris 1990, S. 59.
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In dieser Konfusion erscheint das Theater selbst paradoxerweise als einzig möglicher Ort existentieller Wahrheit und Authentizität; wenn wir heute, so Ivan Nagel, „in virtuellen Wirklichkeiten, zwischen Trugbildern“ leben, so sei das Theater der Ort, die ‚Verschleierungen‘ aufzuheben: „Das Theater rüstet seine Kinder mit Weltwitz und Kunstverstand aus, damit sie in der Künstlichkeit der Scheinwelten bestehen.“12 So wäre das traditionelle Bühnentheater mit seiner eigenen Ordnung und Realität in einer Zeit zunehmender Visualisierung und Virtualisierung der Lebenswelt ein letzter Spielort, um gleichsam ex negativo Realität und Fiktion überhaupt noch unterscheiden zu können: „Quand on met le pied dehors“, so notiert schon Anouilh, „c’est le désert et le désordre – la vie est décidément irréelle“.13 Die hier behandelten Filme scheinen, in ihrer Suche nach diesem Ort der Wahrheit und Authentizität, mit ihrer radikalen Frage nach den Grundlagen und Grenzen der menschlichen Existenz, einen solchen Weg anzudeuten: Oliveiras Spätwerk VOU PARA CASA (JE RENTRE À LA MAISON), in dem es um die Grenzsituation des Todes und die „Macht der Memoria“ geht, mit den Rückgriffen auf Ionescos Le Roi se meurt, Shakespeares Tempest und Joyces Ulysses; Benignis LA VITA È BELLA, mit dem heiklen Versuch, die Traditionen der Commedia dell’arte, das Musiktheater von Jacques Offenbach und die Überlebensformen des Konzentrationslagers zusammenzuführen; Almodóvars Film TODO SOBRE MI MADRE, in dem der spanische Regisseur, an der Grenze der karnevalesken und grotesken Konfusion von Sexualität und Tod, Tennessee Williams’ Theaterstück A Streetcar Named Desire ins filmische Spiel bringt; wie im übrigen auch Chéreau in INTIMACY, der auf dasselbe Theaterstück von Tennessee Williams sowie auf dessen Glass Menagerie zurückgreift und diese Theaterreferenzen mit einer im wahrsten Sinne des Wortes hintergründigen Reflexion des ‚anderen‘ Schauplatzes, mit dem Problem der Identitätssuche und des Identitätsverlusts verbindet. Auch in dem scheinbar leichten Spiel des Kinomärchens AMÉLIE gerät man vollkommen in die Welt des Theaters, eines „Montmartre théâtralisé“, in ein Spiel der Simulation und Dissimulation, der Spannung von Inszenierung und Improvisation, das an Diderots Paradoxe sur le comédien erinnert. Ähnliches gilt auch für Ozons HUIT FEMMES als
12 Nagel, Ivan: „Die Kinder an die Macht. Mehr vom verstellten Leben verstehen. Versuch einer deutschen Theatergeschichte der Zukunft“, FAZ (06.07.1996). 13 Anouilh, zit. bei Vandromme, Pol: Un auteur et ses personnages. Essai suivi d’un recueil de textes critiques de Anouilh, Paris 1965, S. 20.
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einem Theaterfilm, in dem die Figur des Todes, seine ‚Ob-Szönität‘ hinter der „gesteigerten Theatralität“ der Maskeraden, Rollenspiele und Selbstinszenierungen der Diven steht. Auch in den erotischen Szenarien von Breillats ROMANCE geht es um Stationen einer quasi-religiösen ‚Selbstsuche‘ und Initiation, die die Theatralität der Heilsgeschichte – und damit die Urszene der christlichen Tradition – evoziert und profaniert. Dabei werden zugleich auch die Klischees des Theater- und Filmgenres der Liebesromanze ironisiert. Es ist sehr wichtig zu wissen, welches Theater in diesen Filmen jeweils gespielt wird, und die folgenden Beiträge bieten dazu jene genauen Analysen und Kombinationen, die ein theater-unkundiger Filmzuschauer nicht durchschauen kann. Die mit dem Theater und den Theaterreferenzen unternommene Suche nach dem ‚anderen‘ Ort, der Utopie, der existentiellen Wahrheit führt – in diesen komplexen Spielen von Liebe und Tod, Sein und Schein – gleichwohl nicht zu sicheren Zielen oder eindeutigen Interpretationen und Orientierungen: Auch in Rivettes VA SAVOIR werden die Zuschauer, trotz der in der Filmhandlung scheinbar erfolgreichen Suche nach dem Goldoni-Stück und dem raffinierten Spiel der Analogien mit Pirandellos COME TU MI VUOI, am Ende nicht wissen, ob, wo und wie die Paare die Probleme ihrer Identitätssuche und ihrer Rollenspiele – in dem Wechsel, den Metamorphosen und Substitutionen der Figuren des Begehrens – lösen. Der Theaterfilm von Rivette wird so zu einer brillanten Mischung italienischer und französischer Theatertraditionen, sein Geheimnis liegt in der intermedialen Struktur selbst. Das Theater ist, mit der Heterotopie des Theaters im Film, imstande, einen mentalen Ort der Reflexion, der ‚prise de conscience‘ für den Zuschauer, jenseits der dargestellten Spielformen, Konfusionen, Verstrickungen, Konventionen und Klischees der Lebenswelt zu schaffen. Der konkrete Ort der Filme bzw. der Angelpunkt filmischer Wahrnehmung ist jeweils der Spielraum vor und hinter den Kulissen, der als solcher aber nur im Blick auf das Theater selbst, in dem Grenzbereich der Bühne, den Abgründen und Konfusionen der Rollenspiele des Theaters und der Lebenswelt durchschaubar wird. In dieser Hinsicht ist Marcianos Film ON NE BADINE PAS AVEC L’AMOUR in seiner Reflexion der romantischen Komödie von Musset besonders aufschlussreich: Dieser Film spielt ausschließlich in der engen Garderobe von Clémence, in einer Heterotopie im Sinne Foucaults, einem Spielraum des ‚non-lieu‘, der Passagen, einem Durchgangsort, an dem sich „Bild und akustisches off, Kino und Theater, Realraum und Imaginationsraum“ verzahnen; ein Ort des Begehrens, der Wünsche, Ängste und des Liebesspiels, der Insze-
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nierung und Selbstinszenierung, und damit zugleich der „Verwandlung vom Gesicht zur Maske, von der Person zur persona“14 in der antiken, schon von Sartre aktualisierten Bedeutung von persona als Rolle. Auch bei Rivette, Oliveira und in besonderem Maße bei Almodóvar ist dieser Grenzbereich zwischen Bühne, Kulisse und Außenwelt der eigentliche Ort der Verwandlungen, der Metamorphosen, Travestien, erotischen Rollenspiele und Inversionen – mit der Konsequenz, dass die Oppositionen von Theater versus Alltag (bzw. Fiktion versus Realität) aufgehoben und umgekehrt werden – bis zu dem ironischen und paradoxen Höhepunkt jener Szene in TODO SOBRE MI MADRE, in der Agrado mit ihrem Diskurs über die Artifizialität und Simulation ihres Körpers zugleich ihre größte Offenheit, Authentizität und Identität erreicht: „Soy muy auténtica, Miren qué cuerpo.“ Mit dem Spiel der Inversionen verbindet sich – wie schon bei Apollinaire, Lorca und Cocteau – die Subversion der Geschlechterrollen selbst, die Faszination des Zwitters, der von Almodóvar bevorzugten Zwischenformen zwischen den Geschlechtern. Es ist kein Zufall, dass die genannten Filme mit Vorliebe auf ein Theaterrepertoire zurückgreifen, das besonders in den romanischen Ländern eine lange Tradition hat und vom Barocktheater, der Commedia dell’arte, der Farce und Sainete, den Vaudeville, den Komödien und Melodramen des 18. und 19. Jahrhunderts bis zu den Avantgarden des 20. Jahrhunderts führt. Vor allem die barocken Elemente sind z.B. bei Almodóvar, Benigni, Oliveira und auch Breillat bemerkenswert, aber auch die Rückgriffe auf das Theater des 19. und 20. Jahrhunderts bei Chéreau, Marciano, Rivette und wiederum bei Oliveira und Almodóvar. Zugrunde liegt – mit der Darstellung der Topoi des theatrum mundi, der Beziehungen von Sein und Schein – eine breitgefächerte Tradition der Moralistik, die besonders in Frankreich, Spanien und Italien seit dem 16. Jahrhundert nicht nur immer weiter differenziert und bis in die Gegenwart immer wieder aktualisiert wird, sondern, was bisher viel zu wenig beachtet wurde, schon seit langem die Grenzen der Essayistik überschritten hat und nach und nach die jeweils neuen Medien erfasst. Die Analyse und Reflexion der Theatralität der Gesellschaft, ihrer Spielformen, amourösen Diskurse und Verhaltensweisen, der Strategien der Lüge, Verstellung, Hypokrisie sind nicht an die Formen des literarischen Essays und der Aphoristik gebunden, sondern erscheinen ebenso im Theater, dann auch im Roman und nicht zuletzt seit dem 20. Jahrhundert im Film. Der Film erweist sich geradezu als ein ideales Medium für eine 14 Lommel, Michael: „On ne badine pas avec l’amour. Yvon Marcianos Kurzfilm nach Alfred de Musset“, in diesem Band.
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Inszenierung moralistischer Anthropologie, „da er durch die Möglichkeiten der Reflexion und Hybridisierung der Schauspiele des Theaters und der Alltagswelt sowie durch die potentielle ‚décalage‘ der Bild- und Tonebene mit der Dichotomie von Sein und Schein spielen kann, ohne eine eindeutige Sinnfixierung auf der Seinsebene vorzunehmen.“15 So gerät der Zuschauer in die Rolle des moralistischen Beobachters, der keine Antworten auf anthropologische Fragen erhält, aber dazu angeregt wird, jene Fragen – ganz im Sinne der bekannten, auf Montaigne bezogenen Definition der Moralistik16 „im Anblick bisher unentdeckter Tiefenschichten und Verwicklungen immer wieder neu zu stellen“.17 Filme sind, wie auch das Theater, aber anders und vielleicht noch spektakulärer, in der Lage, die Wechselbeziehungen, Spannungen und Brüche zwischen den sichtbaren und unsichtbaren Rollenspielen zur Darstellung zu bringen, die Diskrepanzen zwischen Sein und Schein, Worten, Bildern und Gedanken, und damit die alltäglichen Formen, Rituale und Konventionen der Lüge, Maskerade, der Hypokrisie und Täuschungen bis hin zu den subtilen und grotesken Formen der Selbsttäuschung, der von Sartre sogenannten ‚mauvaise foi‘. Vor allem aber können Filme als das privilegierte und beweglichste Medium der Schaulust die Wechselbeziehungen zwischen dem kollektiven und subjektiven Imaginären darstellen, der Welt des Begehrens, der Träume, Tagträume, Wünsche, Ängste und Illusionen, das von Deleuze sogenannte „Kino in unserem Kopf“.18 In allen hier behandelten Theaterfilmen spürt man, wie sehr sich die Regisseure dieser Traditionen bewusst sind und wie sie versuchen, das Reflexionspotential dieses intermedialen moralistischen Repertoires zu nutzen und im Blick auf die Gegenwart weiter zu entwickeln. Alle Filme sind, wie im Folgenden gezeigt wird, implizit und explizit darauf bezogen, auch wenn im Umgang mit den Topoi der Moralistik und ihrer Theatralisierungen ganz unterschiedliche Figuren und Tendenzen deutlich werden, eine zum Teil auch kritische oder ironische Auseinandersetzung mit den Modellen und Vorlagen des Theaters. Die feinen Unterschiede werden in den einzelnen Beiträgen hervorgehoben und sollen, 15 Felten, Uta: „Ne c’est pas pour voltiger? Moralistische Blicke auf die Theatralität der Liebeskommunikation in Renoirs La Règle du jeu“, in: Michael Lommel/Vf. (Hrsg.): Jean Renoirs Theaterfilme, München 2003; vgl. auch Felten, Uta/Vf. (Hrsg.): Rohmer intermedial, Tübingen 2001. 16 Vgl. Friedrich, Hugo: Montaigne, Bern 1967, S. 168. 17 Felten, Uta 2003. 18 Vgl. Felten, Uta/Schlünder, Susanne/Winter, Scarlett (Hrsg.): Schauspiele des Begehrens. Das Kino in unseren Köpfen, Siegen 2000 (Arbeitshefte Bildschirmmedien).
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um den Leser dieser Einleitung neugierig zu machen, hier nicht vorweggenommen werden. Gleichwohl möchte ich zwei Ansatzpunkte und Beobachtungsfelder herausgreifen, die möglicherweise über die speziellen Filmanalysen hinaus im Rahmen der Selbstreflexion der aktuellen Mediengesellschaft relevant sind und symptomatisch erscheinen.
1.
Spiegelungen des Theaters im Film
Wenn man – im Unterschied zu substantialistischen Konzepten der Anthropologie – davon ausgeht, dass die neuen Medien die Wahrnehmungsweise und Sinne verändern, das Verhältnis von Sehen, Hören und Sprechen jeweils neu bestimmen, so gilt dies auch für die Konzepte des Spiels, für die Veränderungen der realen und imaginären Spielformen der Gesellschaft, die hier in Anlehnung an den mittelalterlichen und barocken Topos als theatrum mundi bezeichnet werden. Im Rahmen der Medienumbrüche, die der Film, das Fernsehen und der Computer mit sich bringen, entstehen jeweils neue, von Karl Ludwig Pfeiffer sogenannte „intermediär-kulturelle Zonen“, in einem Zwischenraum zwischen Realität und Imagination, Authentizität und Rollenspiel: „Es gibt keine Realität, an der das Spielerische gemessen werden könnte, weil es selbst als wirklich erfahren wird.“19 Die Theaterfilme haben, durch die Reflexion der Konkurrenz und Konfusion von theatralischen und filmischen Spielformen, m.E. einen wesentlichen Anteil daran, diese Entwicklung zu verdeutlichen und bewusst zu machen. Dies gilt schon für die Klassiker des Theaterfilms, Werke wie LA RÈGLE DU JEU, LE CARROSSE D’OR, LES ENFANTS DU PARADIS, LA RONDE, LOLA MONTÈZ, aber z.B. auch für Mankiewicz’ ALL ABOUT EVE oder Angelopoulos’ O THIASOS (DIE WANDERSCHAUSPIELER), die die Konfusion von Theater und Leben nicht nur mit historischen oder aktuellen Beispielen thematisieren, sondern jeweils an eine äußerste Grenze führen, die einen neuen kritischen oder skeptischen Blick auf den Zustand der gegenwärtigen Gesellschaft erlaubt. Dies gilt auch für alle hier vorgestellten Theaterfilme; diese Filme zeigen, mit der Heterotopie des Theaters im Film, vor allem Spielformen einer Mediengesellschaft, die nach neuen Maßstäben der Unterscheidung von Realität und Fiktion, Wahrheit und Schein sucht, ohne dabei aber sichere Grundlagen finden zu können. Die Spiegelungen des Theaters im Film führen vielmehr zu neuen Irrealisierungen und
19 Pfeiffer, Karl Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a.M. 1999, S. 165.
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Paradoxien. Die Theaterfilme sind dabei, mehr oder weniger experimentell, spielerisch oder gesellschaftskritisch, auf der Suche nach einer neuen Dimension des Realen jenseits der gewohnten Oppositionen, des von Deleuze sogenannten „nouveau Réel [...] par-delà l’actuel et le virtuel“.20 Die vorliegende Auswahl ist darauf angelegt, die romanischen Grundlagen und Korrespondenzen der Theaterfilme aufzuzeigen; aber es wäre auch möglich, die filmischen Spielräume und Referenzen zu erweitern und neuere und neueste Theaterfilme z.B. von Altman, Woody Allen, Dietl, Dörrie, Biette, Luhrmann, Kusturica, von Trier miteinzubeziehen.21
2.
Erotische Inszenierungen
Besonders spektakulär sind, wie angedeutet, die Grenzsituationen der Theatralität, die mit der filmischen Darstellung der Sexualität ins Spiel gebracht werden. Dass Intimität keinen Freiraum darstellt, sondern von den Kodierungen und Tabuisierungen der Gesellschaft und dem Wandel der amourösen Diskurse und Geschlechterrollen abhängt, ist nicht erst seit Luhmann oder Foucault bekannt. Auf diesem Gebiet sind die französischen Moralisten schon seit Montaigne und La Rochefoucauld die besten Beobachter, vor allem dort, wo es um die Strategien der Verführung, der amour-propre, des engaño, der Inszenierung, Täuschung und Selbstinszenierung geht – und zwar sogar dort, wo am ehesten zumindest die Chance einer individuellen Freiheit, Autonomie und Transgression, die Möglichkeit der Entdeckung einer tabufreien Zone vermutet wird, in dem nicht zufällig sogenannten sexuellen Akt. Umso mehr werden besonders in der französischen Literatur, im Theater und Film die Medialität und Intermedialität des Begehrens und der Sexualität hervorgehoben, die literarischen Vermittlungsinstanzen durch Lektüre, Bildfantasien, die Wirkungen des kollektiven Imaginären, die Manipulierbarkeit des Körpers: Es geht – in den amourösen Spielen von Liebe und Zufall – immer zugleich um die Möglichkeiten und Grenzen der Inszenie20 Deleuze 1985, S. 114. 21 Vgl. von Robert Altman z.B. Nashville oder Gosford Park (mit Bezügen zu LA RÈGLE DU JEU); Allen, Woody: BULLETS OVER BROADWAY; Luhrmann, Baz: MOULIN ROUGE; Dietl, Helmut: LATE NIGHT SHOW; Weir, Peter: THE TRUMAN SHOW; Dörrie, Doris: NACKT; Biette, Jean-Claude: SALTIMBANK. Dabei spielt – neben dem Theater – auch die Show-Bühne des Fernsehens eine zunehmend wichtige Rolle. Einen neuen Typ des epischen Theaterfilms hat Lars von Trier jüngst – mit Rekursen auf das epische Stationendrama und die theatrum mundi-Konzeption – mit DOGVILLE geschaffen.
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rung und Programmierbarkeit, das Verhältnis von Planung und Improvisation. Die Faszination der Werke z.B. von Laclos und Sade besteht, wie schon Buñuel erkannte, in dieser exzessiven Theatralisierung, der Erweiterung der imaginären Spielräume erotischer Inszenierung und Schaulust.22 Man kann von daher die Theaterfilme als das avancierteste Medium der ‚mise-en-scène‘ von Erotik und Sexualität ansehen, nicht im Sinne einer realistischen Mimesis sexueller Spielformen, um die sich pornographische Filme vergeblich bemühen, sondern der Reflexion der Schaulust und erotischen Imagination selbst. Erotische Fantasie ist, wie Michael Wetzel anmerkt, ohne eine ständige Substitution der Bilder, ohne den Prozess der Virtualisierung gar nicht denkbar.23 Da jedes Bild nicht nur etwas zeigt, sondern immer zugleich andere Bilder zum Verschwinden bringt, überlagert, austauscht, tendiert die Schaulust als eine Form des erotischen und ästhetischen Begehrens zur Simulation und Repräsentation und führt dabei immer an die Grenzen des Unsichtbaren, des Abgründigen, des Dunklen und Grotesken, mit anderen Worten: In die Höhle des Kinos. In den hier behandelten Theaterfilmen von Almodóvar, Breillat und Chéreau geht es vor allem um solche Grenzsituationen, um Versuche, das Verhältnis von Authentizität und Inszenierung im Bereich der Sexualität neu zu bestimmen und damit um die besonderen Möglichkeiten und erweiterten Spielräume, die den Theaterfilmen eigen sind; schon deshalb, weil in allen erotischen Szenen, durch den Blick der Kamera und des Regisseurs, die Zuschauer als Beobachter und quasi als Mitspieler dabei sind und so auch an ihre eigene voyeuristische Rolle erinnert werden. Es geht – wie schon in vielen Experimenten der Surrealisten – um die Ohnmacht der Sprache, die Grenzen des Sichtbaren und die Wirkung innerer Bilder. So ist Chéreaus INTIMACY mit der ausgedehnten Sprachlosigkeit der Eingangsszene, der Verschlingung der Körper gleichwohl eine Reflexion über den Zwischen-Ort der Medialität, eine „Auseinandersetzung mit dem Theater, das als Probebühne abseits des Alltags die Inszenierung von Geschlechterrollen einübt.“24 Und auch Almodóvar versucht in TODO SOBRE MI MADRE, wie in anderen Filmen, die Maskeraden und Simulationen des Alltags der Mediengesellschaft, die Inszenierbarkeit, aber damit auch das Unbestimmte der Geschlechterrollen zu analysieren; die karnevalesken Zwischenformen, die 22 Vgl. Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola, Paris 1971. 23 Wetzel, Michael: „Verführerische Bilder. Zur Intermedialität von Gender, Fetischismus und Feminismus“, in: ders. (Hrsg.): Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München 1994, S. 333-354, hier S. 335ff. 24 Hülk, Walburga: „Intimate Strangers: Vom Pathos des anderen Schauplatzes (Zu Patrice Chéreaus Film INTIMACY/INTIMITÉ)“, in diesem Band.
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Zwitter, die die Thematik und Struktur seiner Filme bestimmen. Noch weiter geht in dieser Hinsicht Cathérine Breillat, die mit der Darstellung der sexuellen Transgressionen eine an Foucault orientierte „Umcodierung des Pornographischen“ anstrebt, „seine Integration in einen ästhetischen Referenzrahmen, der sich aus Einbildungen einer sakral geprägten Theatralität des Eros speist“ und damit das abendländische „Theater der Passion“ evoziert.25
25 Vgl. Felten, Uta: „‚Juste du désir cru...‘ Bühnen der Ars erotica. Zur Theatralisierung der Heilsgeschichte in Catherine Breillats Film ROMANCE“, in diesem Band.
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ON NE BADINE PAS AVEC L’AMOUR YVON MARCIANOS KURZFILM NACH ALFRED DE MUSSET Theater der Liebe Alfred de Mussets Komödie On ne badine pas avec l’amour ist 1834 als Lesedrama erschienen (Un spectacle dans un fauteuil). 1954 wurde das Stück in die Gesamtausgabe der Comédies et Proverbes aufgenommen. Die dramatische Gattung des proverbe wurde besonders im 18. Jahrhundert in den Salons gepflegt und lebte dann zwischen 1820 und 1830 wieder auf. Das proverbe illustriert eine moralische Redensart, ein Sprichwort, um das sich eine Folge von Szenen gruppiert.1 On ne badine pas avec l’amour handelt von einem verwickelten Spiel zwischen dem jungen Perdican und seiner Cousine Camille, deren Liebesglück, obwohl ihre gegenseitige Liebe von Anfang an feststeht, durch Verstellungen, Missverständnisse und Unsicherheiten immer wieder aufgeschoben wird. Perdican hat gerade sein Universitätsstudium abgeschlossen, Camille hat ihre Ausbildung im Kloster beendet. Beide, die sich von klein auf kennen, treffen nun auf dem Schloss von Perdicans Vater ein, der den Plan verfolgt, die beiden zu verheiraten. Doch die Ordensschwestern haben Camille eingeimpft, vor der Untreue der Männer auf der Hut zu sein. Obwohl sie ihren Perdican liebt, begegnet sie seinen Avancen mit kühler Distanz – sie hält ihn hin. Perdican fängt nun einen Brief Camilles an eine Nonne ab, aus dem er ihre Strategie erfährt: Sie will ihn zunächst abschrecken, ihm widerwärtig erscheinen, um so die Ernsthaftigkeit seiner Absichten zu prüfen. Er vermutet eine Intrige und rächt sich an ihr, indem er ihre Eifersucht weckt und mit dem
1 Eric Rohmer greift in seinem Filmzyklus Comédies et Proverbes (sechs Filme, 1981-1987) diese Gattung wieder auf. Für Uta Felten ist der Titel „ein unmarkierter intermedialer Verweis auf die Theaterstücke von Alfred de Musset [...].“, vgl. Felten, Uta: „Vorwort“, in: dies./Roloff, Volker (Hrsg.): Rohmer intermedial, Tübingen 2001, S. 8.
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Bauernmädchen Rosette anbändelt. Zwei Spiel-im-Spiel-Szenen im dritten Akt, die jeweils für einen Dritten – der sozusagen den Zuschauerblick verdoppelt – inszeniert sind, bilden die Dreieckskonstellation ab: Perdican richtet es so ein, dass Camille aus einem Versteck sein Stelldichein mit Rosette beobachtet (III, 3). In der sechsten Szene (III, 6) folgt dann die Umkehrung: Während eines Treffens mit Perdican versteckt Camille Rosette hinter einem Vorhang. Doch als Rosette ohnmächtig wird, verspricht Perdican dem Bauernmädchen die Ehe. Spielt Perdican nun immer noch, indem er vor Camille die Vermählung mit Rosette nur vortäuscht? Oder fühlt er sich in der Pflicht? Camille wird über seine Absichten unsicher. Die Schluss-Szene setzt dem Drama um Wahrheit und Täuschung, Aufrichtigkeit und Unaufrichtigkeit ein plötzliches und überraschendes Ende, das zwischen Tragik und Absurdität schillert: Camille und Perdican stellen fest, dass sie sich in Rollenspiele und Taktiken versponnen haben und gestehen einander ihre Liebe. Doch im Hintergrund stirbt Rosette, Zeugin der Unterredung – vor Gram über die Enttäuschung? Die Moral des proverbe verhindert das happy end der Komödie. Die Masken- und Rollenspiele lösen sich scheinbar auf, doch der Tod Rosettes, die dem Liebesspiel zum Opfer fällt, trennt Camille und Perdican endgültig. Die beiden Liebenden wollen ihre Zukunft offensichtlich nicht mit einem Opfer belasten. Und so lauten Camilles lakonische Abschiedsworte, mit denen das Stück abrupt endet: „Adieu, Perdican“. Im Dialog zwischen Perdican und Camille treffen zwei unterschiedliche Liebeskonzepte aufeinander, pointiert in der fünften Szene des zweiten Akts, der Peripetie des Stücks. Camille verfolgt ein Ideal – das der absoluten Liebe. Sie setzt auf Verlässlichkeit und Unwiderruflichkeit, auf eine Gewissheit, die es in der Liebe nie geben kann. Sie hat damit freilich auch die gesellschaftliche Stellung der Frau im Blick, die weitgehend recht- und mittellos war, wenn sie von ihrem Ehemann verlassen wurde. Perdican ist in Liebesdingen erfahrener und daher realistischer: Die Liebe ist nie verbürgt; sie stellt keinen Wechsel auf ihr Gelingen aus. Der Liebe als Ideal setzt er die Liebe als Kraft entgegen. Er wirft Camille vor, sie höre nur auf ihren Verstand, nicht auf ihr Herz. Für ihn ist die Liebe zugleich ein Wert. Sie verleiht dem Menschen Humanität und Würde, weil sie ihn aus dem Elend und der Profanität des Lebens, aus der Schwäche und Unvollkommenheit heraushebt. Echtheit statt Künstlichkeit ist Perdicans Maxime: Die Liebe ist ein ,Trotzdem‘ und ein ,Dennoch‘. Er erkennt illusionslos die Enttäuschungen und Irrtümer in der Liebe. Gefährdung und Unsicherheit sind aber für Perdican
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paradoxerweise Garanten für etwas, über das der Mensch nicht verfügt, das über ihn kommt, aus den Tiefen seiner Seele hervorsteigt und damit ursprünglicher, grundlegender ist als jedes Räsonnieren. Die Unsicherheit der Liebe ist geradezu Bedingung ihrer vitalen Energie. Allein durch sie erfährt man sich als einzigartig, als Individuum. Camille verfolgt hingegen ein Liebesideal, das nur imaginär aufrecht erhalten werden kann. Sie fordert Exklusivität und Singularität. Ihr Argument lautet: Wenn sie beide den Liebesbund schlössen, könne Perdican ja auch sie, da sie nicht seine erste Geliebte sein würde, eines Tages verlassen. Der erste Liebespartner muss der einzige bleiben, nur er kann ewige (lebenslange) Liebe erringen. Paradox ist diese Auffassung, weil sie die Prüfung, den Test, ob der andere denn auch tatsächlich der Richtige ist, ausschließen muss und gerade von der Person absieht, auf die der Code der Exklusivität doch allein abhebt. Camille schreibt den neuen semantischen Code der individuellen Liebe in das alte Formular der – von den Eltern, vom gesellschaftlichen Stand – determinierten Ehe ein. Ein Kriterium, das außerhalb der Liebe selbst liegt, soll Liebe legitimieren: Das ist die Struktur des Glaubensakts. Nicht zufällig ist Camille vom Klosterleben geprägt. Man wählt Exklusivität, ohne sie begründen zu müssen. Die Paradoxie lässt sich systemtheoretisch formulieren: Ein der Liebe selbst entzogenes Supplement stützt die Liebe und überspringt ihre Unwahrscheinlichkeit. Kulturen, in denen Eltern die Heirat vorherbestimmen, führen nicht unbedingt zu instabileren Ehen, wie wir heute, in Zeiten der (zumindest postulierten) Liebesheirat wissen. Camille verlangt jedoch Unmögliches, nämlich Liebe vom Leiden und von der Enttäuschung, von der negativen Seite der doppeldeutigen passion auszuschließen – vergeblich: Man kann nie wissen, ob der andere (Perdican) einen wirklich liebt, und wenn man es wüsste, wäre es eben keine Liebe, sondern Verdinglichung, Objektivierung.2 Um die beiden Liebeskonzepte, die unterschiedlichen Gründungsgesten, warum zu lieben sei, mit Luhmann3 zusammenzufassen: Camille ist noch der höfischen Idealisierung der Liebe verhaftet; genauer: Sie wünscht sich, nach dem Liebescode des 17. Jahrhundert geliebt zu werden, aber nicht als unerreichbares Objekt von Phantasien, sondern als reales Subjekt, das die ideale Liebe erwidert; während wir bei Perdican
2 So lautet die bekannte Formel Jean-Paul Sartres in ders.: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Frankfurt a.M. 1989, S. 467ff. 3 Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1994.
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die Romantisierung der Liebe im 18. und 19. Jahrhunderts, die Autonomie (Selbstreferenz) voraussetzt, wiedererkennen: Das unhintergehbare Faktum der Liebe, ihre Faktizität, reicht aus, um sie zu begründen.
Theaterfilm der Liebe On ne badine pas avec l’amour, 1861 – also nach Mussets Tod im Jahre 1857 – an der Comédie Française uraufgeführt, wurde erstmals 1924 von Gaston Ravel verfilmt. Zwei Jahre später nahm sich, ebenfalls in der Stummfilmära, Georg Wilhelm Pabst des Dramas an (MAN SPIELT NICHT MIT DER LIEBE, 1926). In seinem Film FOR EVER MOZART (1996) knüpft Godard, wie gewohnt frei und synkretistisch, an Motive und Figuren des Stücks an, die er mit der Filmhandlung verquickt: Drei junge Leute wollen während des Jugoslawien-Kriegs Mussets Drama in Sarajevo inszenieren.4 Auch Yvon Marcianos Kurzfilm ON NE BADINE PAS AVEC L’AMOUR (2001), der aus dem Projekt „Junge Talente – Cannes“ hervorgegangen ist, geht mit Mussets Vorlage recht frei um.5 Der Film beginnt mit dem Ende des zweiten Akts, den letzten Sätzen Perdicans nach dem langen Dialog mit Camille. Schwarze Leinwand, Vorspann, aus dem off hören wir Perdicans Stimme: „[...] ich habe mich einigemale geirrt, aber ich habe geliebt. Und ich war es, der sein Leben gelebt hat, und nicht ein von meinem Stolz und meiner Langeweile erschaffenes künstliches Wesen.“ Werfen wir kurz einen Blick darauf, was diesen Schlusssätzen, mit denen der Film einsetzt, in Mussets Dramentext vorangegangen ist: Die beiden Sätze sind das Zitat eines Zitats: Perdican rät Camille, den 4 Vgl. Lommel, Michael/Winter, Scarlett: „Passagen der Intermedialität in Godards For Ever Mozart“, in: Roloff, Volker/Winter, Scarlett (Hrsg.): Godard intermedial, Tübingen 1997, S. 200-215. 5 Unterstützt wurde die Aktion „Junge Talente – Cannes“ von ARTE, ADAMI und Les Films du Petit Poisson. Die Website des Projekts erläutert die Grundidee: „,Talents Cannes‘ wurde 1993 von ADAMI ins Leben gerufen, um junge Schauspieler in der Filmbranche bekannt zu machen und zu fördern. Jedes Jahr stellen vier anerkannte Regisseure [darunter im Jahr 2001 Yvon Marciano, M.L.] ihr Können in den Dienst von 40 Schauspielern und Schauspielerinnen, die unter ca. 1500 Kandidaten ausgewählt werden.“ Die Regisseure entscheiden sich dann jeweils für zwei Schauspieler und drehen mit ihnen mehrere Kurzfilme à 3 Minuten. 2001 hat ARTE 10 der 20 Kurzfilme erworben und im selben Jahr (im Mai) ausgestrahlt – ON NE BADINE PAS AVEC L’AMOUR am 10. und 15. September 2001. (Mit Vor- und Abspann zähle ich übrigens 5 Minuten Filmlänge.) http://www.artetv.com/cinema/cannes2001/courtsmetrages/dindex.htm.
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Nonnen, die ihr jene „abstoßenden Geschichten“ über die Männer ins Ohr gesetzt hätten, zu antworten, „was ich dir jetzt sagen werde.“ Dann folgt das (Selbst-)Zitat, das seine eigene Position wiedergibt. Der Text ist rhetorisch geschickt aufgebaut: Zunächst konzediert Perdican Lasterhaftigkeit, Scheinheiligkeit und Feigheit der Männer, ergänzt aber, dass auch Frauen schwach und fehlbar sind, um die Behauptung dann durch Verallgemeinerung zuzuspitzen: „die Welt ist nur eine abgrundtiefe Kloake, in der die unförmigsten Robben herumkriechen und sich auf Bergen von Schlamm wälzen“. Dadurch kann er nun den Gegensatz umso deutlicher abheben. Es folgt, nur durch ein Semikolon getrennt, die adversative Konjunktion „doch“, die die rhetorische Klimax einleitet: „doch etwas Heiliges und Erhabens gibt es auf der Welt, und das ist die Vereinigung von zwei so unvollkommenen und abscheulichen Wesen.“ Nun wird ein Zitat in das Zitat eingeschoben, das wiederum geschickt den Kollektivsingular „man“ an die Stelle seiner eigenen Liebesauffassung rückt: „In der Liebe wird man häufig betrogen, verletzt und oft unglücklich; dennoch liebt man, und wenn man am Rand seines Grabes steht, dreht man sich um, schaut zurück und sagt sich: ,Ich habe oft gelitten, ich habe mich einige Male geirrt, aber ich habe geliebt. Und ich war es, der sein Leben gelebt hat, und nicht ein von meinem Stolz und meiner Langeweile erschaffenes künstliches Wesen.‘“ 6 Nach dem Intro aus dem akustischen off verschwindet die schwarze Leinwand und wir sehen eine Theatergarderobe, vor dem Spiegel Guillaume, der die letzten Worte Perdicans mitspricht und sich, den Musset-Text in der Hand, vor seinem Spiegelbild zum Applaus der Theaterzuschauer verbeugt, die das Ende des zweiten Aktes beklatschen. Clémence, im Kostüm der Camille, kommt eine halbe Stunde vor Spielschluss von der Bühne in ihre Garderobe, wo ihr Freund (oder Ehemann) Guillaume auf sie gewartet hat. Sie hat ein paar Minuten Pause, denn sie muss erst in der dritten Szene des dritten Akts wieder spielen. Beide umarmen und küssen sich, scheinen ihre Leidenschaft kaum zügeln zu können, sie führt seine Hand zwischen ihre Beine. Doch in der Beziehung gibt es offensichtlich Probleme: CLEMENCE: Als Rosette sprach, dachte ich an gestern Abend mit dir! Fast hätte ich lachen müssen. [...] Manchmal, wenn wir uns lieben, denke ich ans Blumengießen oder an die Überweisung der Miete. Deshalb ist es manchmal... Sei mir nicht böse!
6 Musset, Alfred de: Scherzt nicht mit der Liebe, in: ders.: Dramen, dt. Übers. v. Neumann, Afred, München 1981, S. 186 (Hervorhebung von mir).
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Auf der Bühne hat Jacques, der Schauspieler, der Perdican verkörpert, sie absichtlich zu einem Versprecher provoziert. Doch sie wird sich nun dafür rächen, indem sie für die Kussszene schon mal Knoblauch kaut. Heimlich öffnet nun Guillaume eine Schublade, holt den BH einer anderen Frau hervor und schnüffelt daran. Kaum hat sich Camille wieder auf die Bühne begeben, klingelt das Telefon. Die Besitzerin der Unterwäsche (Claire) ist am Apparat, mit der Guillaume ein Verhältnis hat: „Natürlich sehne ich mich nach dir“, spricht Guillaume in den Hörer, „nach deinem Körper...“ Schnitt – eine halbe Stunde später: Guillaume und Clémence sind nach dem Ende der Aufführung wieder zusammen in der Garderobe. Aus ihrer Unterhaltung geht hervor, dass es eine persönliche, nicht näher bestimmte Spannung zwischen ihr und Jacques gibt. Immer wieder kommt es im Dialog zwischen Guillaume und Clémence zur Verwirrung von Theater und Leben: CLEMENCE: Ich liebe ihn nicht! GUILLAUME: Aber Camille liebt nur ihn! CLEMENCE: Nicht als Camille! Als Clémence liebe ich ihn nicht!
Die Viereckskonstellation wird immer rätselhafter: Jacques ist Claires Ehemann. Dieser habe, erzählt Clémence, seiner Frau in einem Brief mitgeteilt, dass er sie nicht mehr liebt. Clémence begibt sich nun zu Claire, mit der sie befreundet ist, um sie zu trösten. Aus einem weiteren Anruf Claires in der Garderobe, den Guillaume gerade noch annimmt, während Clémence bereits unterwegs ist, erfahren wir, dass die Geschichte mit dem Brief und Claires Liebeskummer nur von Claire selbst inszeniert wurde. Mit welcher Absicht? Die Gründe bleiben im Dunkeln. Schließlich verlässt auch Guillaume die Garderobe, die Leinwand wird wieder schwarz und zum Abspann ertönt Bruno Bertolis Tango de la Passion. Nach Niklas Luhmann müssen in der modernen Gesellschaft Liebesbeziehungen „Validierung der Selbstdarstellung“ ermöglichen.7 Ziel der Liebeskommunikation ist Transparenz für den anderen. Vergeblich versucht die Liebe in einem regressus ad infinitum ihr eigener Grund zu sein, sich durch sich selbst zu begründen: lieben um der Liebe willen. Mit diesem Ziel löst sie jene Eigenschaften auf, „die für sie Grund und Motiv sein könnten“8 – Eigenschaften, die noch Perdicans Konzept der Liebe als humanisierender Kraft zugrunde lagen: Trotz aller Trost7 Luhmann 1994, S. 208. 8 Ebd., S. 222f.
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losigkeit und allen Elends liebe man, nämlich ein anderes Wesen, das genau so mangelhaft und moralisch schwach sei, wie man selbst. Indem nun alles, was für einen selbst wichtig ist, auch für den anderen Bedeutung erlangt, „werden kommunikative Beziehungen verdichtet.“9 Weil Liebe permanent von Auflösung bedroht ist, „wird Lieben als Problem der Erhaltung von Unwahrscheinlichem bewusst [...].“ Die CodeFormen Idealisierung (Camille), Romantisierung und Humanisierung (Perdican), die noch für Mussets Stück gelten, werden vom Code der Problemorientierung abgelöst.10 Um aus dem endlosen Problemregress auszubrechen, wird die Flucht in neue Beziehungen oder (verheimlichte) Affären zur ständigen Verlockung. „Die neue große Liebe“, so fasst es ein Psychotherapeut zusammen, „gaukelt erneut ewiges Glück und Leben vor und kann von der Last anstehender Sinnfragen wenigstens kurzfristig befreien.“11 Angesichts sprunghaft angestiegener Scheidungsraten in westlichen Industrienationen halten daher manche Soziologen die Domestizierung der Sexualität in der Ehe (oder Lebensgemeinschaft) unter Bewahrung der sexuellen Anziehungskraft für eine psychische Überforderung. Um dem Recht auf Autonomie und Selbstverwirklichung, das jeder Partner für sich in Anspruch nimmt, entsprechen zu können, empfehlen sie unverhohlen ,ausgehandelte‘ Freiheit zum zeitweisen Partnerwechsel oder käuflichen Sex – was freilich neue Probleme schafft.
Die Garderobe als Heterotopie Marcianos Film spielt ausschließlich in der engen Garderobe von Clémence. Der Spielraum ist ein non-lieu, eine Passage, ein Durchgangsort, der weder eindeutig privat noch eindeutig öffentlich markiert ist. An ihm verzahnen sich Bild und akustisches off, Kino und Theater, Realraum und Imaginationsraum. Die Garderobe, die zum Backstage-Bereich gehört, ist Teil des Theaterdispositivs. Die Schauspielerinnen und Schauspieler bereiten sich hier auf die Aufführung vor, schminken sich, kleiden sich um, kostümieren sich, üben ihre Stimme ein. Hier steigt das Lampenfieber vor dem Auftritt und die Endorphinausschüttung nach der gelungenen Premiere. Je nach Publikumsreaktion fließt hier Champagner 9 Ebd., S. 200. 10 Vgl. ebd., S. 212f. 11 Hilgers, Micha: „Zwischen Himmel und Hölle. Verliebtheit ist ein Aufbruch der Seele zu einer Wunschphantasie, mit der der reale Partner nur selten übereinstimmt“, in: Frankfurter Rundschau, (27.11.2001).
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– oder es fließen Tränen. Nervöse Regisseure pflegen hektische Besuche abzustatten. Angehörige oder wichtige Menschen (und solche, die sich dafür halten) überbringen Glückwünsche oder Tröstungen. In kleinen Laienspielhäusern drängt sich das Ensemble in einem einzigen Raum zusammen. In großen Häusern hat häufig jeder Hauptdarsteller seine eigene Garderobe; während der Spielzeit hängt sein Name an der Tür. Sie ist ein fester Topos des Kinos, weil sich dort die Diva als Leinwandstar präsentiert: Marlene Dietrich in Sternbergs DER BLAUE ENGEL (1930), Bette Davis und ihre Rivalin Anne Baxter in Mankiewicz’ ALL ABOUT EVE (1950) – und viele andere Damen der Filmgeschichte – empfangen penetrante und schmachtende Verehrer, die sich einen sonst verbotenen zufälligen Blick auf ein strumpfloses Bein oder entblößte Schultern erhoffen. Nicht selten geben sich Verehrer und eifersüchtige Ehemänner die Klinke in die Hand. Die Garderobe hängt beinahe wie ein Klischee am Star. Sie bildet eine Heterotopie von Leben und Kunst, Inszenierung und Selbstinszenierung – als Schwellenort der Verwandlung vom Gesicht zur Maske, von der Person zur persona. Hier endet die Rolle des Stücks und beginnt die Rolle des Lebens oder umgekehrt – und häufig ist beides nicht voneinander zu trennen. Marciano inszeniert das Schwellenphänomen der Garderobe, die Frage, ob die Person (Camille) ihre Rolle wirklich schon ganz abgelegt hat. Die Nachwuchsschauspieler Clémence Brué und Guillaume Gallienne spielen ein Paar namens Clémence und Guillaume. Zugleich spielt Clémence in Mussets Stück On ne badine pas avec l’amour die Rolle der Camille. Das Außen – das eigentliche Theater, Mussets Stück – gelangt nur aus dem akustischen off in den Film: Wir hören Stimmen (der Regisseur ruft seine Darstellerin wieder auf die Bühne), Applaus, Telefonläuten. Durch Spiegelungen, Farb- und Lichtreflexe erscheint die Garderobe als Vexier-Raum der Liebeskonstellationen, als Irrgarten der Liebe. Sie ist ein Spiegelkabinett, in dem das Licht der zahlreichen Glühbirnen die Teilansichten, Abbilder und Gegenbilder der Protagonisten bricht, vervielfacht und ihre Identitäten auflöst (siehe Abb.). Reflexe und Spiegelansichten betonen die Irrealisierung und Theatralisierung der Spielebenen. Theater im Theater und Theater im Film flackern über die Kinoleinwand, die in der Filmgeschichte selbst immer wieder als Spiegel der Zuschauerträume inszeniert worden ist.12 So führen bereits die Bilder vor, dass die Beziehung von Guillaume und Clémence nur noch als Si12 Vgl. Siegrist, Hansmartin: „Spiegel und Leinwand: ,Zwischenräume der Zeit‘“ (Vortrag auf dem 1. Basler Kongress für Medienwissenschaft, 20. – 23. Juni 2002).
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mulation funktioniert. Die Liebe und ihre Beteuerungen erscheinen selbst als imaginäre Konstrukte, als phantasmatische Größen, die sich in Bilderfluchten und Projektionen verlieren. Abbildung 1: Screenshot, ON NE BADINE PAS AVEC L’AMOUR
Ausschnitte Luhmann beschreibt in Liebe als Passion historisch variable Liebessemantiken. Gefühle, die sich Individuen als je eigene zuschreiben, sind durch Rollenmuster und -codes geformt. Nach Luhmann dürfte ein „von Kommunikationsformen unabhängiger Bestand an Affekten und Emotionen kaum feststellbar sein“; „Motive entstehen nicht unabhängig von der Semantik, die ihre Möglichkeit, Verständlichkeit, Erfüllbarkeit beschreibt.“13 In lockerer Form greift Marciano Themen des Musset-Dramas auf, verquickt dessen Liebesdiskurse mit zeitgenössischen Liebes-Konstellationen. Man fragt sich: Was ist gleich geblieben, was hat sich seit Musset geändert? Motive des Stücks werden im Medium Film weitergesponnen und aktualisiert. Die ,sexuelle Befreiung‘ hat neue Mentalitäten hervorgebracht: Intimkontakt, zu Mussets Zeit höchstens Subtext des Dramas, kann nun spontan ausgelebt werden. Der Körper und seine Vorgänge sind nicht mehr tabu. Clémence geht auf die Toilette und unterhält sich dabei ungeniert mit Guillaume. Gleich geblieben ist hingegen, darauf 13 Siehe Luhmann 1994, S. 47-49. Vgl. auch Balke, Friedrich/Roloff, Volker (Hrsg.): Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust, München 2002.
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zielt Marcianos Anbindung der Dramenvorlage an die Gegenwart, die Rollenmatrix der Liebe, das Spiel der Verstellungen. Schon im 17. Jahrhundert war Liebe ein „Verhaltensmodell [...], das gespielt werden kann [...].“14 Nicht anders als bei Musset ist auch bei Marciano Liebe ein Machtkampf und Versteckspiel, ein Diskurs, der sich aus dem Liebeswörterbuch seiner Zeit bedient. In Mussets Epoche stellten Lektüre und Theater die „Figuren“ zur Verfügung, die unreflektierten Redebruchstücke und Formeln der Liebenden.15 Heute übernehmen Film und Fernsehen diese Funktion. Schon im proverbe Mussets war die Liebeskommunikation ein stets wechselnder Einsatz von Spielmarken. Der Stolz Perdicans und Camilles war der Grund für gegenseitige Verletzungen und für die Instrumentalisierung Rosettes. Beide Akteure waren bei diesem Spieleinsatz nicht unschuldig: Perdican verteidigte sein Selbstwertgefühl, indem er sich an Camille rächte. Andererseits hätte Camille, statt ein doppeltes Spiel mit ihm zu treiben, Perdicans Avancen einfach zurückweisen können. Marcianos Film greift aus dem Leben der beiden Protagonisten eine kurze Zeitspanne heraus, wenige Minuten eines Kontinuums – eine flüchtige Begegnung, Ausschnitte und Fragmente einer (Lebens-) Geschichte, deren Vorher und Nachher im Dunkeln bleiben. Mit der Standarddefinition, die man in den meisten Nachschlagewerken an die Hand bekommt: ein Film von weniger als 30 Minuten Spieldauer16, ist der Kurzfilm, mit dem die Filmgeschichte immerhin beginnt, rein formal, aber nicht gattungsspezifisch bestimmt (als würde man eine Kurzgeschichte durch eine maximale Seitenzahl definieren). Kurzfilme sind nicht einfach verkürzte Dokumentar- oder Spielfilme. Sie ermöglichen Konzentration, Pointierung, elliptisches Erzählen, novellistische Verdichtung. Nach Goethe ist für die Novelle nicht nur die Überraschung 14 Luhmann 1994, S. 23. 15 Barthes, Roland: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt a.M. 31984. Ebenso haben sich Ausdruck, Prosodie und Intonation des Sprechens verändert: Das Pathos, mit dem Perdican (Jacques) zu Beginn des Films spricht, steht in krassem Gegensatz zur Sprechweise von Guillaume und Clémence; es wirkt so hölzern und affektiert wie in Jean-Pierre Ponnelles Inszenierung des Stücks (Erstaufführung 1964; verfilmt 1973). 16 Vgl. z.B. in: Monaco, James: Film verstehen. Kunst, Technik, Sprache, Geschichte und Theorie des Films und der Medien. Mit einer Einführung in Multimedia, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 561; vgl. ausführlicher, allerdings auch nur auf einen filmhistorischen Abriss beschränkt: Behrendt, Esther Maxine: „Kurzfilm“, in: Koebner, Thomas (Hrsg.): Reclams Sachlexikon des Films, Stuttgart 2002, S. 337f.
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ausschlaggebend, sondern das Krisenhafte, der Kristallisationspunkt einer Begebenheit. Die Novelle „hinterlasse einen stillen Reiz, weiter nachzudenken.“17 Indem sie sich auf einen szenisch ausgestatteten Schauplatz beschränkt, hat die Novelle Bezüge zum Drama. Sie habe, so lautet Paul Heyses Begriffsbestimmung, „in einem einzigen Kreise einen einzelnen Konflikt, eine sittliche oder Schicksals-Idee darzustellen und die Beziehungen der darin handelnden Menschen zu dem Ganzen des Weltlebens nur in andeutender Abbreviatur durchschimmern zu lassen.“18 Die Filmhandlung ist genau auf die Gattung des novellistischen Kurzfilms zugeschnitten: Claire steht unter Zeitdruck. Sie hat zwischen ihren Auftritten nur eine kurze Verschnaufpause. Die Begegnung mit Guillaume ist eine Momentaufnahme. Wenige Andeutungen regen die Phantasie dazu an, den Zusammenhang zu erschließen. Die tieferen Gründe und Motive des Liebes-Vierecks (Guillaume, Clémence, Jacques, Claire) bleiben erklärungsbedürftig. Mussets Stück lebte noch vom Dialog, der Liebesreigen war primär ein Theater der Sprache. Marcianos Kurzfilm erweitert die Theatralität durch einen filmischen Rhythmus, den Tango de la Passion der Bilder, Schnitte und Spiegelungseffekte, die Synästhesie von akustischem off und rasantem Kammerspiel. Das Bewegungsbild des Films eröffnet ein „Mehr an Theatralität“ (Deleuze), das der beschleunigten Lebenswelt, der Flüchtigkeit der modernen Liebesbegegnungen, der veränderten Zeitökonomie, auch der Unstetigkeit der Lebensentwürfe gerecht wird. In einer einzigen, von keinem Zögern, keinen Skrupeln unterbrochenen Bewegung überzeugt Guillaume zwei Frauen davon, dass er sie liebt. Er ist der eigentliche Schauspieler des Films, weil er keine Bretter benötigt, wenn er Clémence auf der Bühne des Lebens die perfekte Komödie seiner Liebe vorspielt, während seine Gedanken bei einer anderen sind.
17 Goethe, Johann Wolfgang von: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, Hamburger Ausgabe Bd. 6, Hamburg 1958, S. 117. 18 Heyse, Paul: „Einleitung zum Deutschen Novellenschatz“, in: ders./Kurz, Hermann (Hrsg.): Deutscher Novellenschatz, München o.J. (1871), V bis XXII, hier: XIV.
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ZWISCHEN „FINGERE SEMPRE DI AVERE CAPITO“ UND „BELLE NUIT D’AMOUR“: THEATRALITÄT UND IMPROVISATION IN ROBERTO BENIGNIS FILM LA VITA È BELLA „Allora per la prima volta ci siamo accorti che la nostra lingua manca di parole per esprimere questa offesa, la demolizione di un uomo“1: Mit diesen Worten beschrieb der italienische Schriftsteller, Chemiker und Auschwitzinhaftierte Primo Levi in seinem Werk Se questo è un uomo das bis Auschwitz seiner Vorstellungskraft fremde Grauen, welches die Einquartierung in der „casa dei morti“2 begleitete. Dieses im Jahr 1947 erstmals veröffentlichte Buch, in dessen Mittelpunkt die Herabwürdigung eines Menschen zu einer Nummer und einem „fantasma“, „Werkzeug“ und „Häftling“3 steht, war von Primo Levi als ein selbstreflexives Zeugnis der „follia geometrica“4 Auschwitz’ gedacht5. Reflektiert wurden im Text das im eigentlichen Sinne Unbeschreibbare der Lagererfahrung wie auch die zeitliche Diskrepanz, die das Berichten vom Erleben trennt. Hierdurch gelang es Levi jene Gleichstellung der authentischen Erfahrung des Holocausts mit seiner medialen Darstellung zu umgehen, auf die sich viele literaturwissenschaftliche Analysen bis in die neunziger Jahre hinein teilweise höchst unreflektiert stützten.6 Die im vorangestellten Zitat ausgedrückte mancanza di parole 1 Levi, Primo: „Se questo è un uomo?“, in: Opere, Vol. I. Collezione diretta di Paolo Fossati,. Torino 1993, S. 20. 2 Ebd., S. 25. 3 Ebd., S. 20, 125, 21. [Textpassagen, die im italienischen Original auf Deutsch geschrieben sind, werden kursiv angegeben.] 4 Ebd., S. 47. 5 Vgl. ebd., Einführungskapitel. 6 Vgl. Young, James E.: Beschreiben des Holocaust. Darstellung und Folge der Interpretation, Frankfurt a.M. 1992, S. 29 und Strümpel, Jan: „Im Sog der Erinnerungskultur. Holocaust und Literatur – ‚Normalität’ und ihre Grenzen“, in: Text und Kritik, Bd. 144 (1999), S. 10.
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markiert nicht nur den Beginn der systematischen Vernichtung, sondern sie zeugt in erster Linie von einem äußerst hohen Maß an Reflexion über die Unmöglichkeit einer authentischen Wiedergabe des Holocaust. Signifikant hierfür ist der von Primo Levi beschriebene (Alp-)Traum eines Versuchs, das Erlebte im Frieden der übrigen Welt weiterzuvermitteln: Er bleibt erfolglos, keiner zeigt Interesse, niemand ist imstande zu glauben. Dies Misslingen der Vermittlung, das im Lager, Primo Levi zufolge, kollektiv und nahezu jede Nacht im Traum durchlitten wurde, scheint nach der Befreiung für die Überlebenden zur Gewissheit geworden zu sein.7 Parallel zu dieser von Levi beschriebenen Entwicklung vom orakelhaften Traum zur Wirklichkeit führte auch die anfängliche Sprachskepsis angesichts der Nachkriegswirklichkeit zur Einsicht in eine fundamentale Unaussprechbarkeit des Erlittenen. Von Anfang an aus der Differenz zwischen dem bisher Gekannten und der Lagererfahrung resultierend, wurde aus der Sprachskepsis nach der Befreiung die Einsicht in die unüberbrückbare Unverständlichkeit des Leidens: Come questa nostra fame non è la sensazione di chi ha saltato un pasto, così il nostro modo di aver freddo esigerebbe un nome particolare. Noi diciamo „fame”, diciamo „stanchezza”, „paura”, e „dolore”, diciamo „inverno”, è sono altre cose. Sono parole libere, create e usate da uomini liberi che vivevano, godendo e soffrendo, nelle loro case. Se i ‘Lager’ fossero durati piú a lungo, un nuovo 8 aspro linguaggio sarebbe nato.
Die vorgeblich souveräne Möglichkeit der von Primo Levi immer wieder angesprochenen „uomini liberi“, sich die Wirklichkeit durch die Sprache zum Objekt zu machen, die Fähigkeit mit Hilfe der Sprache Erfahrungen weiterzugeben, schien durch Auschwitz annulliert worden zu sein. Die grundlegende Prädisposition einer jeden gelungenen Kommunikation – die auf vergleichbaren Erfahrungen beruhende Übereinstimmung kommunikativer Kompetenzen9 – war nach Auschwitz für viele Überlebende auch als lebensnotwendiger Anschein nicht mehr gegeben.10
7 Levi 1993, S. 57f. 8 Levi 1993, S. 126f. 9 Diese wurde wiederum am nachhaltigsten von Jacques Lacan in Frage gestellt. Vgl. Lacan, Jacques: Das Drängen des Buchstabens im Unbewußten oder die Vernunft seit Freud, in: ders.: Schriften, Bd. II, ausgewählt und hrsg. von Norbert Haas, Frankfurt a.M. 1975, S. 15-59. 10 Ohne eine vulgär-lacanianische Interpretation des Freitods von Primo Levi und Jean Améry anzustreben, möchte ich dennoch an dieser Stelle auf die Problematik des Zusammenhangs zwischen der Sprache und dem Suizid
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Dass für den „genere di esistenza […] in seno all’organismo sociale germanico“11, der den Lagerinsassen zuteil wurde und eine kaum zu überbrückende Diskrepanz zwischen ihnen und der übrigen Welt entstehen ließ, im Nachhinein keine Synonyme zu finden waren, ist allerdings nicht nur zu einem Diktum der Opfer geworden,12 sondern auch zu einem universellen Holocaust-Axiom. Die Relativierung Adornos einmal der ästhetischen Verarbeitung des Holocausts und – angesichts der Dialektik von Kultur und Barbarei – eines (Groß-)Teils der ästhetischen Arbeit überhaupt13 ist eine Konsequenz dieses Diktums und setzt den Anfang jener Debatte über die Instrumentalisierung des Holocausts, die nicht nur in Deutschland immer wieder aufs Neue entflammt. Seinen vielzitierten, apodiktisch anmutenden Satz: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch14, korrigierte Adorno, wohl aus dem Bewusstsein der Missverständlichkeit des Satzes heraus, wenige Jahre später selbst: Das perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck, wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach 15 Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich schreiben.
Doch bereits mit dem ersten Satz ist weniger die gesamte lyrische Praxis der Nachkriegszeit gemeint, sondern vielmehr das heuchlerische Bestehen auf der Tatsache, humane Werte könnten gerade in unmenschlichen Situationen in den Vordergrund treten.16 Solch eine scheinfromme Verbindung wurde Jahrzehnte später auch dem Film LA VITA È BELLA vorgeworfen. Wegen der Verbindung von Komödie und Judenverfolgung, in erster Linie aber wegen seiner vermeintlich positiven Aussage sprach die internationale Kritik dem Film
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verweisen, die auch Améry verhandelt hat. Vgl. Amery, Jean: Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod, Stuttgart 1983. Levi 1993, S. 83. Ergänzend zu Primo Levi vgl. hierzu Améry, Jean: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten, München 1988, S. 50. Vgl. Heißenbüttel, Helmut „,Ich ziehe meine Klage zurück.‘ Rede über Jean Améry“, in: Text und Kritik, Bd. 99 (1988), S. 3. Adorno, Theodor W.: „Kulturkritik und Gesellschaft“, in: Prismen (1963), S. 26. Ebd. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1966, S. 353. Vgl.: Adorno, Theodor W.: Noten zur Literatur, Frankfurt a.M. 1990, S. 424. Vgl auch: Scherpe, Klaus R.: „Von Bildnissen zu Erlebnissen: Wandlungen der Kultur „nach Auschwitz“, in: Hartmut Böhme/ders. (Hrsg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek bei Hamburg 1996, S. 254-282, insb. S. 258ff.
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„größte Oberflächlichkeit“17 und „Holocaustleugnung“ zu.18 Obgleich die in der Tagespresse im Hinblick auf LA VITA È BELLA formulierte Frage „Holocaust als Komödie?“19 aus dem Blickwinkel der Opfer20 wie der Kulturwissenschaft21 endgültig positiv beantwortet worden zu sein scheint, bleibt dieser Film weiterhin ein vieldiskutiertes Beispiel der höchst kontroversen Debatte über die Möglichkeiten der Holocaustdarstellung.22 Konsens besteht nur in einem Punkt: Wenn bereits das Erinnern von einer Diskrepanz zur Wirklichkeit gekennzeichnet, und auch die Sprache der Überlebenden nicht ein Synonym der Erfahrung ist, so lässt sich der Holocaust auf der Ebene einer filmischen Umsetzung durch authentisch gemeinte mediale Muster und Bilder schon gar nicht vermitteln. Sentenzen dieses Postulats, das eine Weiterführung und Erweiterung der Idee des „nuovo aspro linguaggio“23 darstellt, finden sich bis heute in soziologischen Studien, literarischen Arbeiten und Filmen, in letzteren allerdings oftmals eher als ein Zitat denn als eine Reflexion, die sich in der filmischen Praxis niederschlagen würde. Die bejahende 17 So Goffredo Foffi und Alfonso Berardinelli im Corriere della Sera. Zit. nach: Schaar, Erwin: „Lachen und Weinen. Das Leben ist schön (La vita è bella)“, in: Medien + Erziehung, Jg. 42, Nr. 5 (1998), S. 297-299. 18 Vgl. Denby, David: „In the eye of the beholder: Another look at Roberto Benigni’s Holocaust fantasy“, in: The New Yorker, Nr. 15 (1999), S. 96-99, hier S. 99. 19 So der Untertitel einer Filmkritik von Platthaus, Andreas: „Und doch in Arkadien“, in: FAZ, Nr. 262 (11.11.1998) S. 45. Ähnlich auch: H. G. Pflaum, „Wo hört der Spaß auf? Roberto Benignis KZ-Komödie ‚Das Leben ist schön‘“, in: SZ, Nr. 261 (12.11.1998), S. 18. 20 Vgl. Kertesz, Irme: „Wem gehört Auschwitz?“, in: Die Zeit, Nr. 48 (19.11.1998), S. 55f. Zu den Reaktionen in Israel vgl. „Doppelpaß nach Eden. Israel feiert Benignis neuen Film“, in: SZ, Nr. 159 (14.07.1998) S. 13. 21 Vgl. Wende, Waltraud „Wara“: „Medienbilder und Geschichte – zur Medialisierung des Holocaustes“, in: Wende, Waltraud (Hrsg.): Geschichte im Film. Mediale Inszenierungen des Holocaustes und kulturelles Gedächtnis, Stuttgart/Weimar 2002, S. 8-25, hier insb. S. 23f. Vgl. auch Bleicher, Joan Kristin: „Zwischen Horror und Komödie: ‚Das Leben ist schön‘ von Roberto Benigni und ‚Zug des Lebens‘ von Radu Mihaileanu“, in: ebd., S. 179199 und Visser, Anthonya: „‚Du sollst dir kein Bildnis machen‘ – Zur Überlieferung überlieferter Geschichte in Art Spiegelmans ‚Maus‘, Roberto Benignis ‚La vita è bella‘ und Doron Rabinovicis ‚Die Suche nach M‘“, in: ebd, S. 200-213. Vgl. auch Laster, Kathy und Steinert, Heinz: „La vita è bella‘. Absurdismus und Realismus in der Darstellung der Shoah“, in: Mitteilungen 36, Bd. 8, Nr. 4 (1999/2000), S. 76-89. 22 Vgl. zuletzt Körte, Peter: „Koma der Komik. Roberto Benigni ist nur unerträglich“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (09.03.2003), S. 23. 23 Wie Anm. 8.
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Antwort Ben Kingsleys auf die Frage Liam Neeson, „Müssen wir denn eine ganz neue Sprache erfinden?“24, entpuppt sich in dieser Szene des Films SCHINDLERS LISTE als geradezu wörtliches, von diesem Film jedoch nicht befolgtes Zitat jener Erfahrung, über die Primo Levi in Se questo è un uomo berichtet und die Jean Améry durch den Satz „Der Schmerz war der, der er war, mehr ist darüber nicht zu sagen“25, zu umgehen versuchte. Abgesehen von diesem Grundsatz einer Nicht-Rekonstruierbarkeit des Holocausts existierte im Lager eine weitere Form der Sprachohnmacht im Sinne eines konkreten sprachlichen Unvermögens, das sich – vor allem im Fall der italienischen Juden, die größtenteils nach 1943 deportiert wurden – hauptsächlich im Nichtbeherrschen des Deutschen zeigte. Dieses sprachliche Desiderat wie die im Lager vorherrschende babylonische Sprachverwirrung bargen lebensbedrohende Risiken in sich, denn das Nichtverstehen bedeutete Schläge, Schläge bedeuteten weitere Qualen, die Systematik der Qualen bedeutete den Tod.26 Primo Levi zufolge gab es nur eine richtige Antwort auf diese Art der Sprachohnmacht: „a fingere sempre di avere capito“.27 Roberto Benigni entwickelte aus dem improvisatorischen Potential dieser Überlebensstrategie das Grundmotiv seiner Holocaust-Tragikomödie LA VITA È BELLA
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Seine intensivste Ausprägung erfährt dieses Motiv in der falschen Übersetzung Guidos in der Lagerbaracke, in jener Szene also, in der die für Giosuè rettende Geschichte von einem Wettspiel und einem carro armato als Siegertrophäe zum ersten Mal verifiziert wird. Der Antwort zufolge, die Benigni auf die Frage nach der Idee zu diesem Film der französischen Monatsfilmzeitschrift Positif gab, „Mais j’ai eu très peur […] Un peu aussi parce qu’à cette époque j’avais relu Primo Levi“29, ist 24 Schindlers Liste. USA, 1993; Regie: Steven Spielberg; Buch: Steven Zaillian (nach Th. Keneally); Darsteller: Liam Neeson, Ben Kingsley, Ralph Fiennes u.a.; Produktion: Amblin/Universal. 25 Améry 1988, S. 50. 26 „La confusione delle lingue è un componente fondamentale del modo di vivere di quaggiù; si è circondati di una perpetua Babele, in cui tutti urlano ordini e minacce in lingue mai prima udite, e guai a chi non afferra a volo.“ Levi 1993, S. 32. 27 Levi 1993, S. 27. 28 La vita è bella. Italien, 1997; Regie: Roberto Benigni; Buch: Roberto Benigni und Vicenzo Cerami; Darsteller: Roberto Benigni, Nicoletta Braschi, Horst Buchholz u.a.; Produktion: Elda Ferri und Gianluigi Braschi. 29 Gill, Jean A: „La caméra c’est l’œil de Dieu‘. Entretien avec Roberto Benigni“, in: Positif. Revue mensuelle de cinema, Nr. 452 (1998), S. 34.
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die Übernahme des Improvisationsmotivs als Mittel der Rettung vom Lager in der Auseinandersetzung mit den Werken, aber auch der Person30 Primo Levis erfolgt. So zeugt die Einarbeitung des (jüdischen) Humors als einer „posthumanen Waffe gegen die SS“31 – wie dies Joan Kristin Bleicher kürzlich konstatierte – vom Einfluss Primo Levis im gleichen Maße wie das dem Buch inhärente Improvisationsmoment. Beide – sowohl der Humor als auch die Improvisation – finden sich im Film allerdings als äußerst abgewandelte Fragmente und Motive des Überlebendenberichtes Primo Levis wieder, ohne dass eine filmische Übersetzung der Erfahrungen Levis angestrebt worden wäre. Eher noch als aus der Visualisierung eines Überlebendenberichts schöpft der Film seine Quellen zunächst aus dem Bereich der fiktionalen Literatur und stützt sich nicht nur auf Primo Levis Se questo è un uomo oder auf Berichte weiterer Überlebender bzw. ihrer Nachfolger, wie Jurek Beckers Roman Jakob der Lügner32 oder Bruno Apitz’ Nackt unter Wölfen33, sondern verweist auch auf die Tradition des (fiktionalen) Erzählens als Ermöglichung einer Rettung vor dem Tod, beginnend mit den Märchen aus 1001 Nacht34 über Giovanni Boccaccio und Cervantes bis hin zu Goethe.35 Anhand dieser indirekten Verweise werden das Improvisieren und das mit diesem untrennbar verknüpfte Erzählen zu der Elementarsituation des menschlichen Daseins: zum Beharren am Leben als der wohl bedeutsamsten „Ur-Szene“36 der Kunst.
30 Benigni lernte Primo Levi 1980 durch einen gemeinsamen Freund kennen. Vgl. ebd. 31 Vgl. Bleicher 2002. 32 Aus diesem Buch konnte ebenfalls das Motiv des Geschichtenerfindens übernommen werden. Vgl. Becker, Jurek: Jakob der Lügner, Darmstadt/Neuwied 1974. Vgl. dazu auch Visser, Anthonya 2002. 33 Im Mittelpunkt des Romans steht ein Kind, das Buchenwald überlebte. Apitz, Bruno: Nackt unter Wölfen, Halle/Saale 1976. 34 Die Märchen aus 1001 Nacht, hrsg. von Heinz Grotzfeld, Reinbek bei Hamburg 1995. 35 Vgl. Boccaccio, Giovanni: Il decamerone, hrsg. von Enrico Bianchi, Milano u.a. 1952; Miguel de Cervantes Saavedra: Novelas ejemplares, hrsg. von Juan Bautista Avalle-Arce, Madrid 1982; Goethe, Johann Wolfgang von: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hrsg. von Karl Richter u.a., Bd. 4.1. Frankfurt a.M. 1988. 36 Der Begriff und die Definition der Urszenen in der Kunst ist dem unveröffentlichten Vorlesungsmanuskript Urszenen der Literatur von Walburga Hülk-Althoff entnommen. Vgl. auch Kittler, Friedrich/Turk, Horst (Hrsg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 1977.
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Mit dem Motiv der Rettung durch die Improvisation wurde neben den literarischen Prätexten zusätzlich ein ganzes Konglomerat an dem diversen, aus Theaterkonzepten bestehenden, zivilisatorischen Kulturgut kombiniert. So ist das Improvisationsmotiv nicht nur eine Reminiszenz an Primo Levi oder Boccaccio, sondern vor allem ein Ausdruck der Verbundenheit Benignis mit der Kultur und der Tradition der italienischen Stegreifkomödie. Mit seiner verschiedentlich getroffenen Aussage, LA VITA È BELLA sei eine Art „petite improvisation à l’italienne“37, bezieht sich Benigni keineswegs lediglich auf die Machart seines Films sondern auch auf seine von großer Improvisationslust zeugende Schauspielerkarriere, die vom Avantgardetheater38 über die eigenen Monodramen39 bis hin zu den international anerkannten Filmen reicht und Kritiker wie Filmwissenschaftler beständig dazu bringt, Benigni in einem Atemzug mit Dario Fo zu nennen40 oder ihn in die Tradition der Commedia dell’arte einzureihen.41 Die Tendenz zur Improvisation und zur monologischen Form des Schauspiels, zum Zitat und zum Erarbeiten eigener Texte und Parodien ist in Benignis Regiearbeiten nicht weniger stark vertreten. Auch in LA VITA È BELLA brachte Benigni neben dem Grundmotiv der Improvisation weitere Theaterrekurse zum Ausdruck: die Eingliederung der Oper in die Handlung (die offenbachschen Les Contes d’Hoffmann), ferner die Transformationen theatralischer Spielformen, wie modifizierte Mauerschau bzw. abgewandeltes Deus-ex-machina-Motiv42, und last but not
37 Gil 1998, S. 34. 38 Vgl. Quadri, Franco: L’avanguardia teatrale in Italia 1960-1976, Torino 1977. 39 Vgl. Benigni, Roberto/Bertolucci, Giuseppe: TuttoBenigni. Berlinguer ti voglio bene. Cioni Mario di Gaspare fu Giulia, Roma 1992. Auch in diesen frühen Texten bediente sich Benigni literarischer Verweise auf Werke Rabelais’, Schopenhauers, Collodis, Dostojewskis. Zu den Theateranfängen Benignis und seiner Lust an der literarischen Collage vgl. Borsatti, Cristina: Roberto Benigni, Milano 2001, S. 16ff; Masi, Stefano: Roberto Benigni „Superstar“, Roma 1999, S. 24ff.; Parigi, Stefania: Roberto Benigni, Neapel 1988, S. 165ff; Celli, Carlo: The Divine Comic. The Cinema of Roberto Benigni, Lanham u.a. 2001, S. 15ff. 40 Vgl. Klüver, Henning: „Kritik der paradoxen Vernunft. Der italienische Komiker Roberto Benigni läßt seinen neuen Film im KZ spielen“, in: SZ, Nr.18 (23.01.1998), S. 14. 41 Vgl. Cosentino, Andrea: La scena dell’osceno. Alle radici della drammaturgia di Roberto Benigni, Roma 1998, S. 6 und 94ff. 42 Darunter ist der Panzer am Ende des Films zu verstehen: vgl. Gilman, Sander L.: „Is Life Beautiful? Can the Shoah be Funny? Some Thoughts on
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least die Travestie, die als ein bewusster Rückgriff auf die Mittel der Groteske und der Farce fungiert. Farce soll hierbei im Sinne André Bazins verstanden werden, nämlich als eine Spielform des Humoresken, die ihre Motive und Situationen ausgehend von den antiken Komödien Plautus’ und Terenz’ über die Commedia dell’arte und die klassische Barock-Farce in die frühen Stummfilmburlesken hinüberretten konnte und dadurch auch den Medienwandel überlebte.43 Eierattacken und Hutaustauschszenen, die im Desaster endenden Autofahrten wie die aus dem Fenster fallenden Schlüssel und Töpfe sind burleske Momente des Films LA VITA È BELLA, die auch seinen anfänglichen Duktus bestimmen. Den Gipfel und die Weiterführung dieser burlesken, auf die Farce rekurrierenden Komik bildet die Szene, in der sich Guido, um der Lehrerin Dora zu imponieren, als jener heißersehnte Bote aus Rom ausgibt, der die neuverhängten Rassengesetze den Schülern und Lehrerinnen vermitteln soll – als Schulinspektor. Zunächst einmal ist diese Szene von dem Kontrast zwischen der „Bühneninszenierung“ des Klassenzimmers und dem „corpo comico“44 Benignis gekennzeichnet. Die Improvisation Guidos findet vor dem Hintergrund einer phallusartigen, faschistoiden Darstellung des „Duce“ statt, die auf ihren beiden Seiten die gemeißelten Inschriften „libro e moschetto“ und „fascista perfetto“ trägt. In der Konfrontation mit faschistischen Symbolen scheint der „corpo comico“ Benignis/Guidos einen noch größeren Schwung zu bekommen. Guido springt wie federleicht auf den Tisch, der ihm bis zu seiner Flucht aus dem Klassenzimmer als Bühne dienen wird, posiert und stolziert vor den Kindern und den Lehrerinnen, zeigt ihnen seinen arischen „orecchio“ genauso wie seinen arischen „ginocchio“45, beides als Illustration der „superiore bellezza“ einer italienisch-arischen „razza“46 (Abb. 1). Um den volksnahen Charakter der Improvisation zu unterstreichen, wird nach dieser Liste synekdochal benannter Körperteile als die letzte Instanz des angeblich faschistischen Körperbewusstseins und als schlechthinniger Höhepunkt der Schöpfung mit jubilatorischer
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Recent and Older Films“, in: Critical Inquiery, Bd. 26, Nr. 2 (2000), S. 279308, hier S. 307. Vgl. Bazin, André: Was ist Kino? Bausteine zu einer Theorie des Films, Köln 1975, S. 71. Diesen erweiterten Begriff der Farce benutzte auch Benigni selbst. Vgl. „Die Reinheit schützen. Der italienische Komiker und Regisseur Roberto Benigni über Tragik und Gelächter“, in: Der Spiegel, Nr. 46 (1998), S. 284; Knebe, Tobias: „Fünf Fragen an Roberto Benigni“, in: SZ, Nr. 261 (12.11.1998), S. 18. Cosentino 1998, S. 94. Vgl. Benigni/Cerami 1997, S. 51f. Ebd., S. 51.
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Stimme und in übertrieben pathetischer Gestik der Bauchnabel Benignis/Guidos aufgerufen (Abb. 1). Abbildung 1: Screenshot, LA VITA È BELLA
Die Vorstellung eines sich entblößenden, momentanen, mit der Plötzlichkeit der Improvisation vergleichbaren Körpers, die dieser Szene scheinbar Pate stand, ist durchaus mit jenem Konzept eines grotesken, weil sich verändernden Körpers zu vergleichen, das Michail Bachtin in seiner Rabelais-Interpretation konstatierte. Da der groteske Körper, Bachtin zufolge, unter anderem etwas Werdendes, nie Fertiges und Abgeschlossenes darstelle, da er immer im Entstehen begriffen sei und auch selbst stets einen weiteren Körper erzeuge, spielen jene seiner Teile, in denen er über sich selbst, über die eigenen Grenzen hinauswächst, und einen neuen zweiten Körper 47 produziert, eine besondere Rolle: der Bauch und der Phallus.
In der Kulmination der hier jugendfreien Szene im Vorzeigen des Bauches wird die Volkskultur als Gegenkultur dezidiert zur Schau getragen. Losgelöst von einer bisweilen Ekel erregenden Derbheit wird die Körperlichkeit im Film zu einem grotesken, weil lebendigen Kontrapunkt zu dem monumentalen, statischen, in der Duce-Statue symbolisierten Ideal des Faschismus. Während die Sätze, die Guido bei seiner Körperschau formuliert, die historischen Aussagen Mussolinis nur leicht
47 Bachtin, Michail M.: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, hrsg. von Renate Lachmann, Frankfurt a.M. 1995, S. 385f. Zu den Anfängen der theatralischen Praxis Benignis s. Anm. 39.
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zu parodieren brauchen48, gibt die visuelle Ebene das Gesagte der Lächerlichkeit preis. Die vor der Klasse sich ereignende Performance, die von der anfänglichen Verkleidung Guidos als Schulinspektor immer mehr zu einer Entkleidung hin zu einem Menschen führt, findet nämlich ihr akustisches Pendant in der verbalen Entblößung des Faschismus, welche die Inschrift der Klassenzimmerstatue genauso ad absurdum führt wie die Reden des Duce. Durch improvisierte Körperinszenierung und verbale Faschismusparodie gelingt es Guido – aufgrund der Inkongruenz zwischen dem Gezeigten49 und dem Gesagten – ein groteskkomödiantisches Quidproquo in Szene zu setzen, das von den meisten Lehrerinnen mit Groll quittiert wird. Die Reaktionen der Schüler und Doras münden dagegen wie beabsichtigt in einer Lachsalve. Ob als Personenverwechslung inszeniert (Guido als Schulinspektor, als Re d’Italia, als Prinz...) oder als falsche Einschätzung der Lage (z.B. der aus dem Fenster geworfene Schlüssel, der immer wieder aufs Neue zitiert wird), ob aus der grotesken Körperlichkeit, der Sprach- („io sono illustrazione della […] bellezza“50) oder Situationskomik (Hutaustausch, Eierattacke etc.) resultierend, dieses komödiantische Quidproquo bleibt ein Ergebnis der Selbst- und Welt-Inszenierung Guidos. Die Figur fungiert als ein Märchenstab, mit dem die Barbarei in Poesie umgewandelt wird, als ein Zauberer, der über die Kunst des Zufalls herrscht, indem er ihn durch geradezu ununterbrochenes Improvisieren zu seinen Gunsten wendet. Durch dieses von Benigni verkörperte Agens der Handlung scheint die Improvisation nicht nur zu einem Motiv des Films geworden zu sein, sondern vielmehr zu seinem bestimmenden Merkmal, seinem Grundprinzip. Filmimmanent und mit Hilfe eines Sprunges auf den Schultisch machen die Selbstinszenierungen und Improvisationen dieser Figur aus dem Klassenzimmer wie beiläufig eine Bühne. Metafilmisch mündet die Improvisation in einem „neuen Ort für das Theater jenseits der gewohnten Theaterräume“51, in einer Hetero-
48 Vgl. z.B. Raab, Jürgen/Grundert, Manfred/Lustig, Sylvia: „Der Körper als Darstellungsmittel. Die theatrale Inszenierung von Politik am Beispiel Benito Mussolinis“, in: Fischer-Lichte, Erika/Horn, Christian/Warstatt, Matthias (Hrsg.): Verkörperung, Tübingen/Basel 2001, S. 171-198. 49 Des wenig arischen Charakters seines Körpers ist sich Benigni sehr bewusst: „Nel film io sono antifascista […] fisicamente. Proprio il mio corpo è antifascista, le mie orecchie, il mio naso, il mio sguardo”, Benigni/Cerami 1997, VIII. 50 Wie Anm. 44. 51 Roloff, Volker: „Spielformen der Intermedialität am Beispiel französischer Theater/Filme (Carnè – Renoir – Ophüls)“, in: Ochsner, Beate/Grivel,
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topie. Diese zeichnet sich zwar im Film nicht durch eine Gleichzeitigkeit der Darstellung und der Rezeption aus und kann somit die Improvisationen Guidos kaum in die reale Wirklichkeit überführen. Gleichwohl eröffnet sie dem Film durch eine Kombination der intermedialen Beziehungen neue Darstellungsmöglichkeiten. Das improvisierte Gestalten der Welt von seiten Guidos, von dem die Theatralität52 dieses Filmes lebt, setzt sich auch im zweiten, in einem fiktionalen KZ spielenden Teil des Films fort.53 Somit werden die Motive des ersten Filmteils, der in der Vorkriegszeit spielt, im zweiten Teil immer wieder paraphrasiert. Da der gesamte Film solch eine binäre Struktur aufweist, findet auch die Schulimprovisation ihr bitteres KZPendant. Die Rede ist von der Abführung des als Frau verkleideten Guido zur Hinrichtung. Bildete der Ort des Klassenzimmers mit seinen Schultischen und der Duce-Statue eine Bühne, ja ein Theaterdispositiv54, so enthält die durch die Sichtluke im Metallschrank eingerahmte Perspektive, innerhalb der das Vorbeidefilieren Guidos vor den Augen Giosuès mittels der subjektiven Kamera inszeniert wird, eine ganze Vorgeschichte des Films. Giosuès Sichtkasten findet eine Parallele in der Raumsituation der Camera obscura, die assoziative Kraft des Sichtlukenbildes rekurriert auf die „bewegten“ Vorläufer des Films, der groteske Charakter der Szene lässt auf die Stummfilmburlesken schließen, wie beispielsweise diejenigen Fregolis.55 Durch diese impliziten Hinweise
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Charles (Hrsg.): Intermediale. Kommunikative Konstellation zwischen Medien, Tübingen 2001, S. 199-217, hier S. 201. Zu verstehen als ein Spektrum an Beziehungen zwischen dem Theater und dem Film, bei dem es um die Suche nach neuen Kombinationsmöglichkeiten, nach Differenzen, Zwischenräumen und Hybridisierungen geht. Vgl. Roloff 2001. Dies gab im Wesentlichen Anstoß für die Vorwürfe. Vgl. Anm. 16-18. Gemeint ist hier die durch die architektonische und mediale Situation entstandene gewaltsame Einordnung des Sehens, die die Bewegungen einschränkt und die Blicke auf die Bühne lenkt. Vgl. Paech, Joachim: „Das Sehen von Filmen und filmisches Sehen. Anmerkungen zur Geschichte der filmischen Wahrnehmung im 20. Jahrhundert.“ In: Blümlinger, Christa (Hrsg.): Sprung im Spiegel. Filmisches Wahrnehmen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, Wien 1991, S. 33-50 sowie Deleuze, Gilles: „Was ist ein Dispositiv?“, in: Ewald, François/Waldenfels, Berhard (Hrsg.): Spiele der Wahrheit. Michel Foucaults Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 153-162. Zur Vorgeschichte des Films, d.h. zur Camera obscura, laterna magica etc. vgl. Kieninger, Ernst/Rauschgatt, Doris (Hrsg.): Die Mobilisierung des Blicks. Eine Ausstellung zur Vor- und Frühgeschichte des Kinos, Wien 1995; Segeberg, Harro (Hrsg.): Die Mobilisierung des Sehens. Zur Vor- und Frühgeschichte des Films in Literatur und Kunst, München 1996 und Färber, Helmut: Baukunst und Film. Aus der Geschichte des Sehens,
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auf die Geschichte des Mediums Film wie auch die des Kinodispositivs wird die Aufnahme des vorwärts marschierenden Guido zu einem auch innerhalb des Films virtuellen Bild (Abb. 2). Abbildung 2: Screenshot, LA VITA È BELLA
Zugleich wird an dieser Stelle das Theater zitiert, in der Unbeweglichkeit der Kamera, in der puppenhaften Pose Guidos, in der Tragikomik der dargestellten Situation. Aufgerufen wird durch die räumliche Situation einer umgekehrten Guckkastenperspektive nämlich insbesondere das Theater-Dispositiv. Die Einstellung impliziert somit nicht nur eine zweite Leinwand, sie weist gleichzeitig auch auf eine Bühne hin, auf der – so könnte man meinen – eine puppenspielartige Vorstellung stattfindet. In der Theatralität der improvisierten Körperinszenierung, vor allem aber in der Sichtordnung, die durch die Luke entsteht, sind auch die Gründe zu suchen, warum Guido hier seinen Sohn zum Lachen animieren kann und somit seinem eigentlichen Ziel – der Rettung Giosuès – näher kommt. Ähnlich wie die Schüler, allerdings inmitten der Realität des Filmlagers, dechiffriert auch Giosuè den Auftritt seines Vaters als einen spontanen Sketch. Doch wenn sich in der Schule hinter der Maske der Ernsthaftigkeit der „leggi razziali“ eine transparente, zuweilen groteske Parodie versteckte, so ist es an dieser Stelle der Ernst der Lage, dem Guido einen Puppenspielcharakter verleiht. Das Motiv der Improvisation, das sich in den pinocchioartigen Bildern niederschlägt, fügt der filmischen Lagerwirklichkeit eine subversive Note hinzu.
München 1977, S. 25-32. Zu Fregoli vgl. Lista, Giovanni: Cinema e fotografia futurista, Milano 2002.
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Die eigentliche Filmbildoberfläche, innerhalb der die Perspektive des Puppen-Theaters und die der doppelten Leinwand aufgehoben sind, lässt die Hybridisierung zugleich als eine zur Reflexion animierende Differenzierung erscheinen. Sie symbolisiert die Verbindung wie die Trennung der implizierten medialen Ebenen. Die Einstellung bleibt somit an einer Bewegung haften, die sich zwischen der Differenzierung unterschiedlicher Bildebenen und der durch den Einsatz der subjektiven Kamera entstandenen Synthetisierung der filmischen und der externen Wirkichkeit vollzieht, zwischen der Auseinanderführung der Medien und der Überlagerung der Perspektiven. Aufgrund ihrer Simultaneität kann die Synthetisierung und Differenzierung dieser Szene bitterer kaum ausfallen. Giosuès Verwechslung der Lagerwirklichkeit mit dem eigens für ihn erfundenen Spiel präsentiert sich nicht nur als eine höchst gelungene Berührung zwischen dem „niedrigsten Slapstick und der höchsten Tragödie“56, als Antithese zum komödiantischen QuidproquoPrinzip der Verwechslung des Spiels mit der Wirklichkeit. Sie markiert auch die Überschreitung der Filmgrenzen in Richtung einer externen (Zuschauer-)Realität. Solcherart Hybridisierungen setzen sich in den folgenden Einstellungen fort. Während die Schüsse den Mord an Guido mauerschauartig besiegeln, bleibt Giosuè in seinem irrtümlichen Glauben an ein Spiel des Vaters zurück. Und gerade in diesem Glauben liegt auch Guidos eigentlicher Triumph: das Gelingen seines mit den einfachen Mitteln der Pantomime und der Improvisation inszenierten Theaterspiels, das Giosuè von der Lagertragödie ablenken konnte. Die Improvisation, eine Kunst, die aus dem Augenblick entsteht und in diesem auch erlischt und die metapoetisch eine Bewegung von der Bestätigung der organischen Werkeinheit zu ihrer Zerstörung vollzieht, subversiert im Film auf der Ebene des Sujets die Wirklichkeit des Faschismus und des Lagers. Die als plötzlicher Einfall, als ein Zauber des Lebens und als eine eindringliche Provokation und Subversion der organischen Einheit des Werkes wie der Regelhaftigkeit des (fiktionalen) Lebens konnotierte Improvisation relativiert an dieser Stelle das Grauen und den Tod. Indem sie in der Rettung Giosuès nachhaltig glückt, wird sie zu einer wahrhaftigen Metapher des (Über-)Lebens, einer Metapher, die das oftmals zitierte Gleichsetzen des Theaters mit dem Leben gleichermaßen in sich enthält wie die von Primo Levi postulierte Überlebensstrategie. An keiner anderen Stelle des Films werden das Prinzip der Collage und das der Improvisation besser zur Schau getragen als im Rekurs auf 56 Knebe 1998, S. 18.
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Les Contes d’Hoffmann von Jacques Offenbach. Es wurde immer wieder darauf verwiesen, dass die auf E.T.A. Hoffmann rekurrierende Oper57 des aus Deutschland stammenden Offenbach im Hinblick auf LA VITA È BELLA die Bloßstellung der Barbarei und dialektische Kritik an der deutschen Kultur bedeute.58 So viel diese pauschale Feststellung auch andeuten mag, so wenig sagt sie über die Beziehung zwischen der Oper und dem Film tatsächlich aus. Zwar lässt sich die Aussage Siegfried Kracauers, „Hoffmanns Erzählungen schenken der Leichtigkeit volles Gewicht“59 – eine Behauptung, die übrigens bereits bei E.T.A. Hoffmann als Mangel der deutschen Kultur an Komödie und Improvisation reflektiert wird60 – nur mit Vorbehalt auf den Film LA VITA È BELLA übertragen: Der Schwere wird bei Benigni die Leichtigkeit der buffonesken (Schauspiel-)Kunst verliehen. Auch die unheimliche Phantastik der Motive Offenbachs, die auf dem Vermischen der Alltagswelt mit der des Zaubers basiert, wird im Film zur märchenhaften Strategie Guidos umfunktioniert, die Wirklichkeit nach seinem Willen zu formen. Dennoch scheint weniger der Kontrast zwischen unterschiedlichen Nationalkulturen das Hauptthema der Beziehung zwischen der Oper und dem Film zu bilden, als vielmehr eine auf offensichtlichen Genrevermischungen und auch Genreerneuerungen beruhende Strukturanalogie der Oper und des Films, die sich in der collageartigen Machart61 beider 57 Klotz, Volker (Hrsg.): Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst, München/Zürich 1991, S. 509f. Vgl. auch ders.: Bürgerliches Lachtheater. Komödie, Posse, Schwank, Operette, München 1980, S. 185ff. 58 Vgl. Celli, Carlo: „The Representation of Evil in Roberto Benignis Life Is Beautiful“, in: Journal of Popular Film and Television, Bd. 28, Nr. 2 (2000), S. 74-80. 59 Kracauer, Siegfried: Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, in: ders.: Schriften, Bd. 8, hrsg. von Karsten Witte, Frankfurt a.M. 1976, S. 350. 60 Vgl. Kaiser, Gerhard E.: E.T.A. Hoffmann, Stuttgart 1988, S. 79. Bei Hoffmann heißt es: „Es fehlt, sage ich nämlich, uns am Lustspiel hauptsächlich deshalb, weil es uns an der Lust fehlt, die mit sich selbst spielt, und an dem Sinn dafür.“ E.T.A. Hoffmann: Die Serapionsbrüder, in: ders.: Sämtliche Werke in VI Bänden, hrsg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht, Bd.VI. Frankfurt a.M. 2001, S. 1015. 61 Der Begriff Collage wird in diesem Aufsatz als künstlerisches Verfahren verstanden, das in Literatur und Film aus dem Zitieren anderer Werke besteht. Hierbei wird auf Kontexte verwiesen, die durch das Bewusstsein des Rezipienten hergestellt werden. Die gängigere Bezeichnung der Montage wurde aufgrund der Gefahr der Verwechslung der Film-Montage als eines technischen Verfahrens und der Montage als eines v.a. erzählkonstitutiven Verfahrens gemieden. Als Zitat wird jede Übernahme der Motive anderer Werke verstanden, die kenntlich gemachte wie eine bruchlos integrierte. Zu unterschiedlichen Konnotationen des Begriffs Montage vgl. Lili.
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manifestiert. Wie der Film, so sind auch Les Contes d’Hoffmann eine integrierende Collage aus verschiedenen Texten und Theaterverweisen, ja, ein „Bemühen, aus überlieferten Stoffen und schon vorgeformten Zusammenhängen eine neue Struktur zu entwickeln, welche Kernfragen […] sozialer Erfahrung lakonisch zusammenfasst und gleichzeitig wirksam exponiert“.62 Gerade der im Film fragmentarisch aufgeführte Giulietta-Akt der offenbachschen Oper beruht auf einer Collage mehrerer Erzählungen E.T.A. Hoffmanns, die ihrerseits auf weitere Werke, z.B. Adalbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte Bezug nehmen. Die Barcarolle-Arie, die im Film an zwei Stellen zitiert wird und somit den eigentlichen Ort der Oper im Film ausmacht, verweist nicht nur auf der metapoetischen Ebene auf die Kunst – als integrierte Collage – sondern auch durch ihr Sujet. Während sie in der Oper am Anfang des Aktes die käufliche Liebe versinnbildlicht, wird sie am Ende zum Motiv der Erinnerung an eine absolute Liebe, die außerhalb der Kunst keine Verwirklichung erfahren kann. Die Kunst wird somit zum eigentlichen Ort des Lebens. 63 Der doppelten Funktion der Arie in der Oper und der binären Struktur des Films folgend, wird die Barcarolle auch im Film zweimal aufgeführt. Im ersten Teil des Films führt sie durch das Raumdispositiv der Oper zu einem symbolischen Chiasmus64 des Sehens (Abb. 3-6), der
Zeitschrift für Literatur und Linguistik. Thema: Montage, Siegen 1982, H. 46. Als prägnante, allerdings auf Literatur beschränkte Zusammenfassung vgl. Žmegaþ, Viktor: „Montage/Collage“, in: Borchmeyer, Dietmar/ders. (Hrsg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen, Frankfurt a.M. 1987, S. 259264; die bisher gelungenste Klassifikation der Begriffe liefert Möbius, Hanno: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik Theater bis 1933, München 2000. 62 Neumann, Gerhard: „Der Erzählakt als Oper. Jules Barbier – Michel Carré: Drama und Libretto ‚Les Contes d’Hoffmann‘“, in: Gabriele Brandstetter (Hrsg.): Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen. Konzeption, Rezeption, Dokumentation, Laaber 1988, S. 39-114; hier S. 56. Neumann verweist auf eine genaue Kenntnis der Texte E.T.A. Hoffmanns seitens der beiden Librettisten, also nicht nur von Der Sandmann, Rat Krespel und Die Abenteuer der Silvester Nacht, auf die in den drei mittleren Akten der Oper zugegriffen wird, sondern darüber hinaus auch auf Don Juan und Klein Zaches im ersten Akt, ferner auf Magnetiseur und Signor Formica im dritten usw. 63 Vgl. Neumann 1988. 64 Eine Erklärung des Begriffes liefert Merleau-Ponty: „Das Rätsel liegt darin, dass mein Körper zugleich sehend und sichtbar ist. Er, der alle Dinge betrachtet, kann zugleich auch selber betrachten und in dem, was er gerade
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auf dem Höhepunkt der Arie, während der Verse „Belle nuit, o nuit d’Amour/Souris à nos ivresses!“65 stattfindet. Zusammen mit dem Parallelismus66 des Hörens potenziert sich dieser Chiasmus zu einer akustischen und visuellen Überbrückung der topographischen und sozialen Grenze zwischen der Loge und dem Parterre, zwischen einem „arlecchino“ und einer „principessa“ (Abb. 3-6). Die wahrhaftig melodramatische, geradezu kitschige Geballtheit dieses Blicke-Austausches ist auch in dieser Szene ein Ausdruck der Heterotopie67 des Films und des Theaters, der Musik, der Literatur. Sie wird zum Sinnbild einer Vorstellung vom Leben, das die Kunst nachahmt, eine Idee, die ihren Gipfel in der l’art pour l’art-Theorie und der Zeit des Fin de siècle fand und zu dessen Vorläufern und Vertretern auch Offenbach zu zählen ist. Abbildung 3-6: Screenshot, LA VITA È BELLA
sieht, die ‚andere Seite’ seines Sehvermögens erkennen.“ Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, Reinbek bei Hamburg 1967, S. 16. 65 Offenbach, Jacques: Hoffmanns Erzählungen. Texte. Materialien. Kommentare, hrsg. von Attila Csampai/Dietmar Holland, Reinbek bei Hamburg 1984, S. 144f. 66 Parallelismus ist als ein zur kreuzweisen Stellung des Chiasmus dichotomer Begriff zu verstehen, der auf der Einstimmigkeit unterschiedlicher Elemente/Perspektiven beruht. 67 Zum Begriff der „Heterotopie“ vgl. Foucault, Michel: Andere Räume, in: Karl-Heinz Barck u.a. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig ²1991, S. 34-46. Im Gegensatz zum Begriff der Collage bezeichnet eine Heterotopie nicht eine motivische Übernahme, sondern mediale Überlagerungen der Artefakte.
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Nicht eine integrierende, den organischen Charakter des Werkes unterstreichende Collage entpuppt sich somit als die wichtigste Strukturanalogie zwischen dem Film und der Oper, sondern die Vorstellung einer gleichzeitigen Dominanz und Inferiorität der (Bühnen-)Kunst angesichts der Wirklichkeit sowie ihre gegenseitige Durchdringung. In der Oper durch das Fragment, die Collage, die Verweise auf die Commedia dell’arte und nicht zuletzt durch die Figur Hoffmanns ausgedrückt – die „nicht der Schreiber“ ist, sondern „der Improvisator, der sein schöpferisches Potential im Augenblick verschwendet“68 – steigt die Improvisation zu jener künstlerischen Praxis auf, die die Grenze zwischen der Kunst und dem Leben zu überbrücken vermag. Auf der Ebene des Sujets zeugt der Film von einer vergleichbaren Idee der Improvisation. Obwohl jeweils unterschiedlich konnotiert, bildet die Vorstellung der Kunst als eine Improvisation, als das Lebensprinzip schlechthin, die zentrale Metapher beider Werke.69 Gemäß diesem Verständnis wird die Kunst dem Leben und auch dem Grauen des Holocausts entgegengesetzt. Die potenzierte Geballtheit der Barcarollesequenz im ersten Teil des Films wird im zweiten mittels einer Schallplatte evoziert, um durch den „akustischen Parallelismus“ die Verbindung der getrennten Familienmitglieder zu erreichen (Abb. 7 und 8). Der Abbruch der Arie just vor ihrem Höhepunkt antizipiert jedoch das Ende des Lachtheaters sowie jener Künstler-Träume und -Gebilde, die Guido verkörpert.
68 Neumann 1988, S. 87. 69 Vgl. ebd. sowie Adorno, Theodor W.: Hoffmanns Erzählungen in Offenbachs Motiven, in: ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Bd. 17, Frankfurt a.M. 1982, S. 42-46. Vgl. auch Adornos Buchrezension Siegfried Kracauer, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, in: ebd. Bd. 19, 1984, S. 363-365.
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Abbildung 7-10: Screenshot, LA VITA È BELLA
Was sich hinter dem Rücken Giosuès dem Blick Guidos (Abb. 9) im Folgenden zeigt, ist ein mit der subjektiven Kamera in Szene gesetzter Leichenberg (Abb. 10). Die durch den plötzlichen Abbruch der Arie wie auch durch das Verstummen Guidos eingeleitete Stille wird in dieser Szene zu dem (Nicht-)Ausdruck eben jener Ohnmacht der Sprache vor der Lagerwirklichkeit, von der Primo Levi in dem eingangs zitierten Satz Zeugnis abgeliefert hat.70 Nicht nur akustisch, auch visuell setzen sich diese so singulären Einstellungen durch ihren fast monochromen Charakter von den restlichen Filmbildern ab. Die zurückgenommene Farblichkeit und die Stille der Leichenbergeinstellung unterbrechen einige Sekunden lang auch den Bilderfluss, jenes Grundelement des Filmischen, das den fotografischen Charakter vieler Filmbilder aufhebt.71 Die Grabesstille und die Starrheit – zwei für diesen, aus den Improvisationen Guidos lebenden Film so ungewöhnliche Eigenschaften – markieren durch den Verweis auf die Fotografie den Ort des Todes. 72 Buchstäblich vom Film als einer Theaterheterotopie geführt, sind wir mit dem genuin fotografischen Charakter dieser Einstellung bei der Anfangsfrage angelangt, bei der Frage nach den medialen Darstellungsmustern für den Auschwitzmord. Es scheint, dass der Film hier durch die Analogie dieser Einstellung zur Fotografie jenes Urteil bestätigt, das 70 Wie Anm. 1. 71 Vgl. Barthes, Roland: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Fotografie, Frankfurt a.M. 1989, S. 100f. 72 Zur Verbindung von Tod und Fotografie vgl. Barthes 1989.
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auch Primo Levi teilte, nämlich, dass eine Fotografie zwanzig- bis hundertmal mehr als eine beschreibende Seite erzählt.73 Damit verwies Primo Levi einmal mehr auf die Konkurrenz zwischen dem Wort und dem technisch hergestellten Bild mit einem Votum zugunsten des Bildes. Letztendlich könnte diese Aufwertung der Fotografie bedeuten, dass gerade sie jenes adäquate Medium, jenes Synonym für Auschwitz darstellt, ein Synonym, dessen mögliche Existenz verschiedentlich, von Primo Levi, über Amèry und Adorno bis hin zu Kertesz verneint wurde. Doch wie schon Primo Levi, der sich auf eine Auschwitzausstellung aus dem Jahre 1983 bezog, auf den „nachgestellten“, weil von einer zeitlichen Distanz zeugenden Charakter der im Jahr der Ausstellung entstandenen Fotografien hindeutet, unterstreicht auch Benigni den artifiziellen Charakter des Bildes, auch wenn er sich eines vollkommen anderen Ausdrucks bedient, als es die Auschwitzfotografie oder auch der Film bisher taten. Während jene zwar klar sind, allerdings zumeist leere Landschaften abbilden, zeigt Benigni einen Leichenberg, der sich dennoch, von Nebel durchdrungen, einer voyeuristischen Betrachtung entzieht. In seiner Ambivalenz, in der Bewegung zwischen einem Sich-Zeigen und dem Sich-Entziehen eingefangen, rekurriert dieses Bild auf die Vorstellung jenes uneindeutigen Gespenster- und Trugbildes, welches Primo Levi mit dem Ausdruck „fantasma“74 zu umschreiben versuchte. Es korrespondiert mit dem „immaginario“75 des Zuschauers, ohne vorzugeben, ein echtes Abbild zu sein, es knüpft an weitere Bilder einer kollektiven Erinnerung an und füllt zugleich die leere Landschaft76 bisheriger Holocaustdarstellungen aus. Es ist jenes zentrale Bild des Films, in dessen Folge die Perspektiven des Zuschauers und Giosuès, der zwar präsent ist, die Szene jedoch nicht sieht (Abb. 9), kurz vor der Hinrichtung des Vaters entzweit werden können. Dieses durch den Nebel gefilmte Fragment des Grauens ist zugleich das Symbol des Zuschauerwissens und die Kulisse für die Auseinandersetzung mit dem Holocaust. Der filmimmanente Chiasmus wird so zu einem Chiasmus des Zuschauers und des Filmgeschehens, zu einer provokativen aber nicht aggressiven Übertragung der Kunst in die Wirklichkeit, zur Konfrontation. 73 Levi, Primo: „Wiedersehen mit den Konzentrationslagern“, in: James E. Young (Hrsg.): Mahnmale des Holocaust. Motive, Rituale und Stätten des Gedenkens, München 1994, S. 163. 74 Wie Anm. 3. 75 Benigni/Cerami 1997, X. 76 Vgl. Paech, Joachim: „Erinnerungs-Landschaften“, in: Manuel Köppen (Hrsg.): Kunst und Literatur nach Auschwitz, Berlin 1993, S. 124-136.
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Dieses unscharfe und dennoch prägnante, ohne jegliches Geräusch präsentierte Bild visualisiert das gesamte Lager als den zur Wirklichkeit gewordenen Alptraum der Menschheit. Es fungiert als ein (partikulärer) Verweis auf die elementare Grauensituation der Menschheit, der das Grauen transponieren und mehreren Generationen begreiflich machen kann. Reflexiv und ohne einen Dokumentarismus vortäuschen zu wollen, wird im Film immer auf die Zeichenhaftigkeit des Gesagten und des Gezeigten verwiesen. Ähnlich wie die offenbachsche Oper stellt auch LA VITA È BELLA eine intermediale Collage aus bekannten Motiven der Literatur und des Theaters dar, wobei diese im Film um weitere Heterotopien bereichert wird, wie z.B. mit der Geschichte des Mediums Film (angedeutet durch die Perspektive Giosuès in seinem Guckkasten) und durch die Filmzitate (Epoche der „telefoni bianchi“, Chaplins DER 77 GROSSE DIKTATOR , Fellinis AMACORD etc.). Dieses metapoetische Verfahren erwies sich als höchst gelungen, gerade da es zwischen einer Bestätigung der Werkeinheit und ihrer Zerstörung anzusiedeln und als ein Rezeptionsproblem anzusehen ist, und auf den ephemeren Charakter der Improvisation verweist, die im Film als groteske, im Wandel inbegriffene Körperlichkeit wie als ein auf Primo Levi, Boccaccio, Cervantes rekurrierendes Überlebensprinzip konnotiert wird. Da keine Referenz zur Lagerwirklichkeit vorhanden ist, muss sich der Film literarischer, theatraler, filmischer Zitate bedienen, um seine Geschichte zu visualisieren, und dadurch einer eben nicht authentisch gemeinten sondern mit Absicht artifiziellen Bildsprache. Eingebettet in diese Bildersprache sind die Hinweise und Aufforderungen an den Zuschauer, die Bilder kritisch weiterzudenken, sie mit weiteren Bildern eines kollektiven Bewusstseins auszufüllen. Dem Grauen wird so die Kunst – als Film, Theater, Improvisation – in ihrem doppelten Charakter – als KunstVerweis und als Auschwitzreflexion – entgegengesetzt. Dadurch macht der Film weder den Fehler eines Sich-Entziehens dem Grauen gegenüber78 noch den eines vermeintlichen aber nicht einzuhaltenden fotografisch-filmischen Dokumentarismus. Der durch Giosuè personifizierte Sieg von LA VITA È BELLA kommt metafilmisch in der Tatsache zum Ausdruck, dass aus dem verbalen und letztlich auch destruktiven „nuovo aspro linguaggio“ der Überleben-
77 Vgl. Simonelli, Giorgio/Tramontana, Gaetano: Datemi un Nobel! L’opera comica di Roberto Benigni, Alessandria 1998, S. 141ff. 78 Vgl. Adorno, Theodor W.: Erziehung nach Auschwitz, in.: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 1977, S. 674-690, hier S. 679.
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den(-Literatur) eine eigene, behutsam eingesetzte und in diesem Sinne auch neue Bildsprache wurde. Dieser theatralisch-filmische „Ort der Erfindung“79 ist – um nicht zu versöhnen – absichtlich ambivalent gehalten, ja er markiert den Ort eines Sieges und einer Niederlage zugleich. So schwankt der Film zwischen der Tatsache „che siamo condannati poeticamente ad amare la vita per forza: perché la vita è bella“80 und der Tragödie, die sich im Film auf die Person Guidos konzentriert, und doch diejenige von Auschwitz ist, zwischen den partikulären Zitaten und dem organischen Zusammenhang der erzählten Geschichte, zwischen der Fiktionalität des Filmes und der Realität des stattgefundenen Grauens, um zum Ende hin in Giosuès jubilatorischer, für den Zuschauer äußerst vieldeutiger und wenig befreiender Feststellung: „Abbiamo vinto!“81 zu münden.
79 „Die Reinheit schützen. Der italienische Komiker und Regisseur Roberto Benigni über Tragik und Gelächter“, in: Der Spiegel, Nr. 46 (1998), S. 284. 80 Benigni/Cerami 1997, X. 81 Ebd., S. 189.
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JACQUES RIVETTES VA SAVOIR: DAS SPIEL OHNE REGELN? Der Titel des Films legt die Ungewissheit nahe: VA SAVOIR – die deutsche Fassung übernimmt den französischen Originaltitel. Die englische Übersetzung lautet WHO KNOWS? Auf deutsch könnte man sagen „mal sehen“ oder „wer weiß“: Der Ausgang des Spiels ist ungewiss, Regeln gibt es keine, jeder spielt sein eigenes Spiel – so hat es zunächst den Anschein. Rivette schickt seine Charaktere auf die Suche: Camille, französische Schauspielerin in einer italienischen Theatertruppe, sucht ihren Ex-Freund Pierre, den sie vor drei Jahren verließ. Ugo, Italiener, Chef der Theatertruppe und aktueller Freund Camilles, sucht ein unveröffentlichtes Stück von Carlo Goldoni. Pierre, Franzose, Philosophiedozent und Heidegger-Experte, sucht die eine neue alte Liebe zu Camille. Sonia, Französin, Ballettlehrerin und aktuelle Freundin Pierres, sucht ein Abenteuer. Dominique (Do), junge Französin, Studentin und Erbin einer kleinen Bibliothek, sucht eine Affäre mit Ugo. Arthur, Dominiques Halbbruder und Klein-Ganove, sucht vor allem Geld in Form von Sonias kostbarem Ring. Alle suchen letztlich nur sich selbst. In dieser endlosen Kette von Verstrickungen würden sich die Personen aus VA SAVOIR hoffnungslos verlieren, wenn sie sich tatsächlich, wie es der Filmtitel andeutet, an keine Regeln halten würden und alles auf sich zukommen ließen. Die notwendigen und rettenden Regeln gibt ihnen – wie schon im damit anzitierten Film Jean Renoirs LA RÈGLE DU JEU (1939) – das Theater. Das von Ugos Truppe aufgeführte Stück Pirandellos Wie du mich willst (Come tu mi vuoi), in dem Camille die Hauptrolle der Unbekannten spielt, ist dabei jedoch nur ein kleiner Teil des Theaters, von dem hier die Rede ist. Das Theater spielt sich bei Rivette ebenso wie bei seinem Vorbild Renoir keineswegs nur auf der Bühne ab, sondern schleicht sich fast unbemerkt in die alltäglichen Inszenierungen aller handelnden Personen – ob es nun Schauspieler sind oder nicht. Es gibt kaum eine Kritik zu Rivettes neuestem Film, die nicht auf die Verbindung von Theater, Leben und Film in VA SAVOIR eingehen
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würde. Nicht nur das italienische Theater im Film (Pirandello und Goldoni) wird dabei angesprochen, sondern es fallen vor allem Namen wie Jean Renoir, Marcel Carné, Jacques Prévert, William Shakespeare, Alain Resnais, Eric Rohmer, Howard Hawks und Robert Altman. Treffend weist z.B. der Filmkritiker Chris Chang bezüglich VA SAVOIR darauf hin, dass die Nouvelle Vague bereits vor ihrem filmgeschichtlichen Beginn in den 1960er Jahren begann. Er nennt Renoirs LE CARROSSE D’OR (1953) als Ausgangspunkt, dessen Ideen Vorbild der Nouvelle Vague waren und auch in VA SAVOIR weiterentwickelt werden.1 Rivettes Film führt die lange Tradition französischer Theater/Filme fort, die vor allem von Renoir geprägt ist.2 Zunächst einmal sind es komödiantische Irrungen und Liebesverwirrungen, die das Spiel auf der Bühne und im realen Leben aller Beteiligten bestimmen. Damit werden unter anderem Theatertraditionen Shakepeares oder auch Marivaux’ aufgegriffen.3 Nach dem Muster der französischen Boulevardkomödie entwickelt sich so ein BäumchenWechsel-Dich-Spiel innerhalb der drei Paarkonstellationen (Camille /Ugo, Sonia/Pierre, Do/Arthur). Dieses Element des Theaters findet sich häufig in Filmkomödien und ist für sich allein genommen noch kein Kennzeichen des Theater/Films. Wie sich aber in VA SAVOIR die Handlungen auf der Bühne und im Alltag der Protagonisten vermischen und aufeinander wirken, zeigt die Grenze zwischen Spiel und Realität, die sich in Auflösung befindet. Während im Theater diese Grenze noch räumlich, physisch in Form der Bühne wahrnehmbar ist, wird sie im Dunkeln des Kinos unsichtbar. Dennoch bestimmen die Regeln des theatralen Spiels das menschliche Verhalten. So weiß z.B. Camille auf Anhieb, wo Arthur den gestohlenen Ring Sonias versteckt hat. Als hätte ein Drehbuch oder Theaterskript es vorgegeben, probiert sie aus drei Vorratsgläsern mit weißem Inhalt: „Sucre“, „Sel“, „Farine“. Bei letzterem weiß sie genau, dass darin der Ring versteckt sein muss und 1 Vgl. Chang, Chris: „Savoir faire“, in: film comment magazine (Sept./Okt. 2001): www.filmlinc.com/fcm/9-10-2001/vasavoir.html. 2 Vgl. Lommel, Michael/Roloff, Volker (Hrsg.): Jean Renoirs Theater/Filme, München 2003. 3 Die Gemeinsamkeiten dieses Rivette-Films mit den Filmen Eric Rohmers werden in unterschiedlichen Kritiken betont, eine Begründung für diesen Eindruck jedoch selten präzisiert. Betrachtet man diesen Komplex genauer, deutet vieles auf die gemeinsame Anlehnung an die Liebeskomödien Marivaux’, die bei Rohmer und hier bei Rivette zu finden ist. Vgl. dazu Felten, Uta: Figure du désir: Untersuchungen zur amourösen Rede im Film Eric Rohmers, Tübingen 2003; vgl. auch Pflaum, Hans Georg: „Wie es uns gefällt“, Süddeutsche Zeitung (27.06.2002).
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beginnt, mit der Hand das Glas zu durchsuchen. Warum gibt es nur diese eine Möglichkeit von allen denkbaren Verstecken? Wahrscheinlich hat Arthur seine Idee für das Versteck aus einem bekannten Kriminalfilm oder Theaterstück. Sein Verhalten entspricht damit auch in seinem ganz persönlichen Alltag einer Rolle und wird so für Camille – als Schauspielerin ist sie Profi – vorhersehbar. Abbildung 1: Screenshot, VA SAVOIR
Camille und Ugo sind unter den sechs Hauptfiguren die einzigen, die das Spiel durchschaut haben. Am Ende des Films verstehen beide die Leichtigkeit der Komödie auch im Alltag. Sie haben aber begriffen, dass die Verhaltensregeln, die eine Rolle vorschreibt, etwas sehr Angenehmes bedeuten können. Es handelt sich dabei keineswegs um eine Reglementierung, sondern um eine Befreiung: von der Angst, die eigene Identität und die der anderen nicht zu finden, den richtigen Weg nicht zu finden, die falsche Entscheidung zu treffen, etc. Geht man nämlich wie die Unbekannte in Pirandellos Stück Wie du mich willst davon aus, dass man ohnehin einen Körper ohne Namen, ohne Seele, ohne Erinnerung haben kann, dann ist es ohne weiteres möglich, die Rollen, Namen, Seelen, Erinnerungen zu wechseln. Doch selbst für Camille und Ugo ist der Weg dahin nicht leicht, obwohl sie dieses Spiel von der täglichen Arbeit her kennen. Auch sie sind zunächst auf der Suche nach Gewissheit. Dabei verwenden sie allerdings bereits – vielleicht ohne es zu merken – viele Elemente des Theaters.
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Rollenspiele im Alltag 1.
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Camille hat offensichtlich Angst vor ihrer Rückkehr nach Paris, nachdem sie vor drei Jahren vor der erdrückenden Liebe Pierres geflohen ist. Diese Angst bekämpft sie, so wie Schauspieler sonst vielleicht das Lampenfieber in den Griff bekommen: Sie spricht mit sich selbst im Kinderreimschema: „ça ne va plus, ça va [...] ridicule, ridicule, ridicule“ oder auch: „respire, respire, respire“. In Paris angekommen, entscheidet sie in einer Art Abzählreim, ob sie Pierre aufsuchen soll oder nicht: „Ca ne va pas, je ne peux pas, ça ne peut pas continuer comme ça, il faut que je le vois, j’y vais!“ Dieser Prozess der Entscheidungsfindung wird von den Proben und der ersten Aufführung des Pirandello-Stückes begleitet. Die Szenen, die wir aus Wie du mich willst zu sehen bekommen, scheinen Camilles private Probleme zu kommentieren. Was Camille als die Unbekannte auf der Bühne sagt, könnte sie ohne weiteres auch im Alltag über sich sagen: „Ja vor mir selbst fliehen, das will ich – keine Erinnerung mehr haben – an irgend etwas, irgend etwas – dieses ganze Leben aus mir herausschütten – schauen Sie, das ist es: Körper, nur noch dieser Körper sein.“4 Auch bei Camille ist es die Vergangenheit, die sie belastet, die sie bisher erfolgreich verdrängt hat, vor der sie geflohen ist. Bis jetzt ist sie sich nicht über ihre Gefühle gegenüber Pierre im Klaren, obwohl sie auf Ugos eifersüchtige Nachfrage: „Tu l’aimes encore?“ antwortet: „Non, j’en suis sûre. Non.“ Als Camille mit Hilfe der theatralen Techniken, die sie gelernt hat, zu der Entscheidung gelangt, Pierre aufzusuchen, bedient sie sich auf dem Weg dorthin abermals dieser Hilfe aus dem Theater. Sie überlegt, was sie tun wird, falls er nicht an dem Platz im Park ist, wo sie ihn vermutet. Außerdem spricht sie sich vor, was sie Pierre zur Begrüßung sagen wird, als sei es ein Text für das Theater, den sie lernen müsse. Als sie ihn dann tatsächlich trifft, überspielt sie geschickt ihre Unsicherheit und gibt sich kühl und distanziert. Pierre jedoch schafft es, trotz der Überraschung, ebenso gefasst aufzutreten, als berühre ihn diese Be-
4 Pirandello, Luigi: Wie du mich willst, S. 34, in: ders.: Gesammelte Werke in sechzehn Bänden, Bd. 13/2, hrsg. von Michael Rössner, Berlin 2000.
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gegnung nicht im geringsten.5 Dies gelingt ihm, obwohl er keine schauspielerischen Talente besitzt und als ausgesprochen trockener Theoretiker charakterisiert wird. Dass es sich in seinem Fall dennoch um Schauspielerei handelt, wird den Zuschauern spätestens dann klar, als er Camille leidenschaftlich seine Liebe erklärt und sie in eine Kammer sperrt, damit sie ihn nie mehr verlasse. Beide, Camille und Pierre, überspielen demnach ihre Aufregung und das Interesse am anderen. Sie setzen Rituale aus dem Theater ein, die im Alltag von vielen verwendet, aber nicht als Inszenierung wahrgenommen werden. Rivette verdeutlicht mit VA SAVOIR diesen Zusammenhang und auch die Untrennbarkeit, die Ununterscheidbarkeit zwischen Spiel und Wahrheit. Auch Camilles schriftliche Einladung an Pierre und Sonia, sich das Stück anzusehen, ist sorgfältig geplant und inszeniert – ebenso wie Pierres Auftritt nach dem Theater: Nachdem Camille sehr lange und vergeblich auf seinen Besuch in ihrer Garderobe wartete, erwartet er sie draußen vor dem Theater. Pierre ist der erste der Beteiligten, der sich das Stück ansieht. Der Ausschnitt, den die Zuschauer gemeinsam mit Pierre sehen, kommentiert seine Beziehung zu Camille: Mach mich so wie du mich willst! Zehn Jahre hast du auf mich gewartet? Nimm an es sei nicht gewesen! Jetzt gehöre ich dir von neuem, aber nicht mehr als die, die ich war [...] nein, nein! Keine Erinnerung mehr von den ihren, keine: Gib du mir die deinen, alle deine Erinnerungen, die du an sie aufbewahrt hast, so wie sie 6 damals für dich war!
Ist es das, was Pierre sich aus Camilles Mund erhofft? Er hat zwar nur drei Jahre auf sie gewartet, aber selbst die haben ihn schon fast in den Wahnsinn getrieben, auch wenn er dies nur in einem kurzen leidenschaftlichen Anfall preisgibt. Rivettes Schnitte zwischen Theaterszene
5 Ihre Körpersprache verrät jedoch beide, Camille und Pierre. Sie verschränken Arme und Beine, Camille hält zunächst eine Art Sicherheitsabstand, Pierre bietet ihr erst spät einen Platz neben sich auf der Bank an, dort nimmt sie nur sehr kurz Platz, springt dann wieder auf, und sie verabschieden sich umständlich, peinlich berührt mit Wangenküsschen. Das bleibt der einzige Körperkontakt, der sichtbar schwer fällt, weil beide offenbar große Angst vor dem anderen haben. Vergleicht man diese Körpersprache mit derjenigen Ugos, fällt sofort ein grundsätzlicher Gegensatz auf: Ugo redet mit Händen und Füßen, und es dauert keine zwei Minuten bis er Do berührt, die er überhaupt nicht kennt. Dieser Unterschied zeigt sich vor allem beim gemeinsamen Abendessen der Paare Camille, Ugo, Pierre, Sonia (s.u.). 6 Pirandello 2000, S. 69.
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und Pierres Gesicht im Zuschauerraum unterstützen den Eindruck, dass Pierre sich wünscht, Camille möge die Worte auch zu ihm persönlich sagen. Doch ebenfalls mit einem solchen Schnitt wird angedeutet, dass er sich täuscht: Die Unbekannte sagt auf der Bühne zu Bruno: „Du hast davon nichts begriffen!“, und sie sagt es auch zu Pierre, der sie betrachtet. Im Gegensatz dazu wird Camille später zu Ugo über Pierres Reaktion auf das Stück lobend bemerken: „comme s’il avait tout compris“. Die Zuschauer können selbst entscheiden, welche Camille Recht hat, die auf der Bühne oder die im Leben. Das Versprechen, „wie du mich willst“, wird Camille aber nur als die Unbekannte auf der Bühne geben. Es mag sein, dass sie sich, wegen der Unsicherheit ihren eigenen Gefühlen gegenüber, mit der Rolle der Unbekannten teilweise identifiziert, aber als sie merkt, dass Pierres Besitzansprüche sich, seitdem sie ihn verließ, nicht geändert haben, ist sich Camille plötzlich sehr sicher, was sie will. Gegen Ende des Films sperrt Pierre sie, nach einer komisch grotesken Verfolgungsjagd durch seine Wohnung, schließlich in eine Kammer. Diese Jagd, bei der Camille noch ungläubig sagt: „Tu me chasses?!“7, erinnert wieder an Jean Renoirs LA RÈGLE DU JEU. Bei Renoir entwickelt sich parallel eine Verfolgungsjagd auf der privaten Theaterbühne und unter den zuschauenden Gästen.8 Auch Camille wird in der ‚Realität‘ von Pierre verfolgt und auf der Bühne als Unbekannte von Slater und Bruno, auch wenn dies nicht zeitlich parallel passiert. In beiden Rollen flieht sie, um dann zumindest für sich persönlich, eine Entscheidung zu treffen. Über das Dach, auf dem sie sich so sicher wie auf der Bühne bewegt, gelingt Camille die Flucht aus Pierres Gefängnis. Gerade noch rechtzeitig kommt sie zur Aufführung im Theater an. Nach dem Stück ist sie wieder sie selbst, vom Zweifel befreit. Zu Ugo, der sich Sorgen machte, dass sie ihn und das Theater verlassen könnte, sagt sie nur: „C’était bien ce soir!“ Camille hat sich für Ugo, aber vor allem für das Theater entschieden. Das Theater gibt ihr besonders eines: die Freiheit, z.B. verschiedene Rollen zu spielen. Pierre dagegen will sie auf eine Rolle, die er sich für sie ausgedacht hat, beschränken. Sicherlich ist auch dieses Angebot Pierres verlockend, die Suche nach sich selbst wäre so beendet, aber Camille zieht ihre Unabhängigkeit und die Suche vor. Die Ungewissheit nimmt sie von nun an auf eine leichte komödiantische 7 Pierres Antwort darauf: „Je te garde“ ist doppeldeutig. Er versteht die Liebe als beschützendes Gefängnis. 8 Bei Renoir ist diese Verfolgungsjagd unter Angestellten und Gästen des Hauses in Beziehung gesetzt zu der vorausgehenden Jagdszene.
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Art. Dennoch gefährdet Ugo durch seine Eifersucht diese Entscheidung, als er Camille am nächsten Abend nach der Aufführung zur Rede stellt. Er selbst hat ihr nichts von seinem Techtelmechtel mit Do erzählt, drängt aber darauf, über Camille Kontrolle zu haben: „Je veux savoir avec qui tu passes tes journées.“ Camille deutet ihm daraufhin an, er müsse sich für die nächste Station der Theatertournee, Wien, möglicherweise Ersatz für sie suchen. Wenn Camille, nachdem sie wieder zu ihrer Selbstsicherheit gefunden hat, grausam den Männern gegenüber erscheint, dann lässt sich auch diese Reaktion mit einem Zitat der Unbekannten aus Wie du mich willst beantworten. Als Camille sich aus Pierres Kammer befreit hat, sehen wir einen kurzen Auszug aus dem Pirandello-Stück, in dem Bruno der Unbekannten vorwirft, es sei ihre Rache an ihm, ihn über ihre Identität zu verunsichern. Die Unbekannte antwortet jedoch: „Nicht meine, nicht meine! Die Tatsachen nehmen Rache, mein Lieber!“9 Damit meint sie die ‚Tatsachen‘, die er sich ausgedacht hat. Auch Pierre hat sich solche Tatsachen für Camille ausgedacht: Er glaubt daran, dass sie ihn nur aufsuchte, um für immer bei ihm zu bleiben. Ugo verhält sich ähnlich, wenn er auf Camilles Schweigen in Bezug auf Pierre feststellt: „Tu veux te remettre avec lui, c’est déjà fait.“ Nichts dergleichen hat sie angedeutet, das Gegenteil ist sogar in diesem Moment der Fall, aber er hat sich selbst Tatsachen geschaffen, die sich an ihm rächen werden. Einzig wirkliches Racheopfer Camilles scheint Arthur zu sein. Doch in diesem Fall rächt sie eine Freundin und bleibt dabei fair. Sie wendet nur die Spielregeln an, auf die man sich zuvor einigte.10 Arthur eignet sich eher als Opfer Camilles, um ihre wieder gefundene Freiheit und das Schau-Spiel im Leben auszuprobieren. Er ist selbst ein Spieler und glaubt alle anderen, mit denen er spielt, in der Hand zu haben. So verführt er Sonia, um ihren Ring unbemerkt stehlen zu können. Der wertvolle Ring bedeutet Sonia mehr, als er ohnehin materiell wert ist: „C’est mon âme, c’est moi.“ Es ist die Erinnerung an ein früheres wildes Leben mit einem anderen Mann, von der sie glaubt abhängig zu sein. Während Camille ebenso wie die Unbekannte aus Pirandellos Stück versucht, alle Erinnerungen an ihren Ex-Freund auszulöschen, klammert sich Sonia an diese und definiert sich über sie. Camille hat gerade durch 9 Pirandello 2000, S. 97. 10 Diese Episode des Films erinnert besonders stark an Renoirs La Règle du jeu, in dem ebenfalls derjenige, der nicht nach den Regeln spielt, verliert. Vgl. Felten, Uta: „,Si l’amour porte des ailes, n’est ce par pour voltiger?‘. Moralistische Einblicke...“, in: Lommel, Michael/Roloff, Volker (Hrsg.): Renoirs Theater/Filme. München 2003.
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Pierres besitzergreifendes Verhalten wieder zu sich selbst gefunden, als Sonia durch den Verlust des Ringes glaubt, sich verloren zu haben. In ihrer Verzweiflung bittet Sonia Camille um Hilfe. So werden die beiden Rivalinnen zu Komplizinnen. Camille hat sichtlich Spaß daran, für Sonia eine kleine Rolle im ‚richtigen‘ Leben zu spielen, aber sie verrät ihr nicht welche: „Si je réussis, vous ne me demandez pas comment.“ Arthur ahnt nicht, dass er Teil einer Inszenierung Camilles ist, als er ihr ziemlich plump Avancen macht. Nach der Aufführung überfällt er sie sozusagen in ihrer Garderobe und schwärmt ihr vor, wie wunderbar er das Stück fand. Offenbar kann Arthur Realität und Theater tatsächlich nicht auseinanderhalten, da er eine Art Seelenverwandtschaft zu Camille vermutet, nur weil er sich mit der Figur der Unbekannten aus Wie du mich willst identifiziert. Diese Figur überträgt Arthur auf die Schauspielerin Camille. Auch wenn an dieser Übertragung einiges stimmt, zeugt es doch von einem Defizit seinerseits, die Person nicht von ihrer Rolle trennen zu können. Arthur entdeckt sich selbst in der Figur der Unbekannten, weil auch er die Rollen spielt, die von ihm erwartet werden. Es gibt aber einen entscheidenden Unterschied: Wenn die Unbekannte am Ende des Stücks ihre Rolle als die verschwundene Cia aufgibt, weil sie keine Mitgift erschleichen möchte, dann würde Arthur genau zu diesem Zweck die Rolle spielen. Die Unbekannte möchte dagegen gar nichts erreichen. Arthur hat auch bei Camille sein Ziel fest im Blick: Er lädt sie ein, um sie zu verführen. Sie lehnt entrüstet ab, bis ihr eine Idee kommt. Dann geht sie ohne Vorwarnung bei Arthur vorbei. Wenn sie ihren Besuch angekündigt hätte, hätte er doch Champagner zur Begrüßung kalt gestellt, meint er – in der Küche stehen schon jede Menge leerer Flaschen von anderen Gelegenheiten dieser Art. Arthurs Spiel funktioniert nur, wenn das ‚Opfer‘ ihn nicht durchschaut und den Spieß umdreht wie Camille. Sie macht sich über ihn lustig11, ohne dass er es merkt und macht ihm unvermittelt ein einmaliges Angebot: „Cette nuit, seulement cette nuit, après plus jamais, [...] c’est oui ou non?“ Natürlich willigt er ein und gibt ihr so Gelegenheit, den Ring zurückzustehlen, während er schläft. Wenn zwei ein Spiel mit unterschiedlichen Drehbüchern spielen, gewinnt der, der das Skript des anderen kennt. Arthur hätte wissen müssen, dass Camille als Schauspielerin Profi in diesen Dingen ist. Doch es kommt noch schlimmer für ihn, weil er sich tatsächlich in Camille verliebt hat – merkt er nun einen Unterschied zwischen Spiel und 11 Camille kommentiert die Masche mit dem angebotenen Champagner spöttisch mit „C’est original“.
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Realität? Sie erinnert ihn daraufhin an die zuvor vereinbarten Spielregeln: „plus jamais“. Er bittet sie: „On peut changer les règles?“, woraufhin sie antwortet: „Si on triche oui, mais moi, je ne triche pas.“ Jetzt fleht er und wirft ihr vor, grausam zu sein. Darüber kann Camille nur lachen: „Vous n’existez plus, vous êtes ridicule.“ Auch sein wehleidiges „Vous me détruisez“, kann Camille nicht milde stimmen. Sie führt ihm die Regeln des Spiels vor Augen: „C’est vous qui avez commencé [...] c’est finita la commedia, rideau...“. Ebenso grausam war Arthur zu allen Frauen, die seine Spielregeln nicht kannten und seine Verführung ernst nahmen. Camille ist sicher kein Moralapostel, der Arthur zu einem ehrlichen Menschen machen möchte. Sie hat lediglich ein Ziel verfolgt und es erreicht: Der Ring ist wieder in Sonias bzw. ihrem Besitz. Beide, Arthur und Camille, spielen Theater, beide kennen die Regeln, also ist es gerecht. Arthur erfährt auf diese Weise mehr Gerechtigkeit als er z.B. Sonia gewährte. Sonia möchte den Ring am Ende gar nicht mehr zurück haben, weil sie sich nun – ohne ihn – von ihrer Vergangenheit befreit fühlt. Auch sie kann eine neue Sonia erfinden, eine, die sich verändert, ohne sich an der alten Sonia messen zu müssen. Für Camille und Ugo bedeutet der Ring die Rettung vor dem finanziellen Ruin des Theaters. So lösen sich am Ende alle Probleme wie in einem Stück Goldonis.
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Ugo verkörpert die Rolle des Italieners in allen Klischees. Er ist im Grunde rasend eifersüchtig und trotzdem selbst ein Verführer. Dabei bleibt Ugo der einzige, der den ganzen Film über die Fäden in der Hand hält. Er ist nicht nur Regisseur in seinem Theater, sondern auch im Leben. Während alle anderen einen Lernprozess bei ihrer Suche durchmachen müssen, befreit sich Ugo ganz allein und mit den Mitteln des Theaters von seiner Eifersucht und sonstigen Ängsten. Es ist keineswegs der Fall, dass Ugo nur die Rolle des eifersüchtigen Italieners spielen würde. Seine Gefühle mögen ebenso echt sein wie auch die Unsicherheit Camilles, doch beide können mit ihren Ängsten umgehen und sie vielleicht sogar überwinden, indem sie die Regeln einer Theaterrolle auf sie anwenden. Ugo verpackt seine Eifersucht in zwei sehr schön inszenierte komödiantische Auftritte. Nachdem seine direkt gegenüber Camille gezeigte Eifersucht beide nur noch weiter voneinander zu
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entfernen scheint12, plant er seinen ersten Auftritt. Pierres Einladung zum Essen („tout normal, tous les deux“ beide Paare: Pierre/Sonia, Ugo/ Camille) nimmt Ugo zwar an, kommt aber erheblich zu spät, vernachlässigt absichtlich seine Tischmanieren und beleidigt zu guter Letzt den Gastgeber. Nach einer kleinen Stichelei zwischen Pierre und Sonia tritt Ugo absichtlich ins Fettnäpfchen, wenn er sagt, jeder kenne schwierige Zeiten. Camille tötet ihn daraufhin buchstäblich mit Blicken, es kommt zu einer peinlichen Stille. Ugo hat mit diesem Kommentar die Vergangenheit heraufbeschworen und die aktuellen Probleme der beiden Paare angesprochen. Pierre glaubt alle aus dieser Situation mit philosophischen Überlegungen retten zu können, verstrickt sich aber nur noch tiefer, indem er indirekt Camille anklagt, sie habe ihn durch die Hölle geschickt, aus der er aber dank seiner Verstandeskraft entkommen sei: Pierre stellt sich als lebendiger Beweis dar, die Hölle überlebt zu haben. Sonia stoppt ihn schließlich, aber der Abend ist nicht mehr zu retten. Die schlechten Manieren Ugos wirken im Kontrast zur vornehmen Art Camilles wie ein kultureller Gegensatz zwischen temperamentvollem Italiener und kühl arroganter Französin, zumal die anderen beiden Franzosen sich Camille anschließen. Hinzu kommt, dass Ugo Pierre zum Philosophieren anregt und auch diesen Gegensatz zwischen beiden Männern übermäßig betont.13 Ugo hat geschickt die Erwartungen an seine Rolle erfüllt und kann sich als ‚der‘ Italiener gleichzeitig der Nachsicht seines Gegenübers sicher sein. Camille kann er mit dieser Rolle selbstverständlich nicht täuschen. Wieder im Hotel angekommen macht sie ihm Vorwürfe: „À cause de toi, c’est devenue une catastrophe“ und lässt ihn wissen, dass sie sein Spiel durchschaut hat: „Tu as bien préparé ton coup.“ Der Besuch Camilles bei Pierre und Sonia war aber bereits vor Ugos Eintreffen eine ziemliche Komödie. Als Camille aus dem Raum geht, um die Toilette aufzusuchen, stürzt Pierre hinterher und fällt auf eine Weise hin, als sei es eine Slapstick-Komödie.14 Später auf dem Weg
12 Ugo klagt Camille auf klassische Weise an: „C’est toi qui a quelque chose à me dire.“ Es ist auch eine theatrale, aber ernsthaft anrührende Eifersuchtsszene bis er zum Schluss nur noch ruhig fragt: „Tu l’aimes encore?“ 13 Im Streit mit Camille kann Ugo dann darauf zurückgreifen, indem er ihr sagt, er sei eben kein Philosophiedozent wie Pierre, und somit sein ungehobeltes Verhalten rechtfertigt. 14 In dieser und ähnlichen Szenen ist Pierre oft Komödiant, ohne es zu wissen. Bis zur letzten Duell-Szene kann man sich aber nicht sicher sein, ob Pierre nicht vielleicht doch ganz bewusst die Theaterinszenierungen von Camille und Ugo mitspielt.
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ins Hotel will Camille vor Ugo davonlaufen, und sie bleiben beide in der Drehtür des Hotels stecken, weil sie gleichzeitig von verschiedenen Seiten gegen die Tür drücken. Dies mag eine Metapher für den Stillstand in ihrer Beziehung sein, wie Pflaum es sieht15, aber in erster Linie ist es eine sehr schöne Komödienszene – und wenn Camille zu diesem Zeitpunkt bereits wieder zu sich als Komödiantin gefunden hätte, würde sie Ugo ansehen und lachen. Doch Camille steckt mitten in ihrer Identitätskrise und fragt sich womöglich, ob sie nicht zu dem ruhigen, stabilen, vielleicht etwas langweiligen Pierre zurückkehren soll. Dabei ist sie selbst auch sehr Italienerin, wenn sie mit Ugo streitet und ihm Schuhe an den Kopf wirft. Diese Rolle beherrscht sie genauso wie die der pikierten Französin. Wie sich im Theater von der commedia dell’arte über Molière und Goldoni die französischen und italienischen Traditionen der Komödie vermischt haben, aber auch immer in Konkurrenz zueinander standen, so spiegelt sich dieses Bild in Camille und Ugo. Ugo setzt seine Rolle als Italiener wieder als Rechtfertigung ein, wenn er mit der jungen Studentin Do auf ziemlich direkte Weise flirtet. Daraufhin von ihr angesprochen, antwortet er nur: „Je suis roman.“ Was erwartet sie von ihm? Er handelt nur gemäß seiner Rolle. Do verliebt sich in diese Rolle, ebenso wie sich ihr Halbbruder Arthur in Camille in ihrer Rolle als die Unbekannte auf der Bühne verliebt. Sein italienischer Charme verhilft Ugo schließlich auch wie geplant zu der Unterstützung der fleißigen Studentin Do bei seiner Suche nach Goldonis vermisstem Stück „Il destino veneziano“.16 Zunächst hilft sie ihm in der Bibliothek, danach treffen sich ihre Wege unvermittelt wieder, als Ugo der Spur Goldonis bis zu der Privatbibliothek im Haus von Dos Mutter folgt. Ohne Probleme erhält Ugo mit seiner charmanten Art Zutritt zur Bibliothek, nur Arthur scheint etwas dagegen zu haben. Er ist auf eine befremdende Art eifersüchtig, wegen Dos Interesse an Ugo. Die Figur der Madame Desprez, Mutter von Do und Arthur, ist ein besonderer Clou Rivettes und eine Reminiszenz an Renoir. Die Rolle hat Catherine Rouvel übernommen, die in Renoirs LE DÉJEUNER SUR L’HERBE (1960) die Hauptrolle der jungen Nénette spielte. Vierzig Jahre später und etwas rundlicher geworden, könnte sie auch eine älter gewordene Nénette aus Renoirs Film sein. Bei Rivette repräsentiert sie
15 Vgl. Pflaum, Hans Georg: „Wie es uns gefällt“, in: Süddeutsche Zeitung (27.06.2002). 16 Dieses meines Wissens fiktive Stück Goldonis wird am Schluss des Films als „Il festino veneziano“ gefunden. Aus der Schwere des Schicksals wird die Leichtigkeit des Fests, der Komödie.
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wieder das Klischee von Frau und Mutter, das in einer liebevollen Art ironisiert wird. Sie leidet an einer sonderbaren Allergie gegen Bücher und betritt deshalb niemals die kleine Bibliothek ihres verstorbenen Mannes. Die Szenen, wenn sie Ugo den Raum zeigt oder ihn nur kurz dort besucht, um etwas mitzuteilen sind voller Situationskomik, weil Madame Desprez sofort zu niesen beginnt, sobald sie nur die Tür zur Bibliothek öffnet. Ihrem kleinkriminellen Sohn kann sie selbstverständlich niemals böse sein, er ist ihr Liebling, der zu ihr kommt, weil er Geld braucht. Außerdem ist sie von einer ausgesprochenen Backwut besessen, deren ausgefallene Ergebnisse an willkommene Gäste wie Ugo verfüttert werden. Von den Liebesverwirrungen um sie herum bekommt sie nichts mit. Selbst als Madame Desprez am Schluss des Films auf der Bühne des Theaters steht und Ugo zum Abschied einen Kuchen bringt, bemerkt sie nichts von der großen Auflösung aller Verwicklungen um sie herum. Es ist bestimmt kein Zufall, dass sie Goldonis verschwundenes Theaterstück in ihrer Küche unter den Backrezepten wiederfindet. Während alle anderen Personen auf der teilweise verzweifelten Suche nach sich selbst sind, können solche abstrakten Probleme eine Figur wie Madame Desprez nicht rühren. Sie scheint fast so etwas wie die Inkarnation von Authentizität und Bodenständigkeit zu sein und wirkt auf diese Weise wieder künstlich, in ihrer Echtheit übertrieben. Gleiches könnte man über die Figur der Nénette in Renoirs LE DÉJEUNER SUR L’HERBE sagen.17 Aber auch wenn Dos Mutter im Kontrast zu den anderen Figuren, die alle erkennbar die ein oder andere Inszenierung einsetzen, authentisch wirkt, ist sie vielleicht die beste Komödiantin unter ihnen, weil man das Schauspiel nicht bemerkt und trotzdem über sie lachen muss. Auch hier zeigt sich die Ununterscheidbarkeit von Spiel und Wahrheit. Als Do letztlich tatsächlich eine Affäre mit Ugo möchte, zieht er sich fast in Panik zurück. Seine Annäherungsversuche waren doch bloß ein Spiel, dass sie es ernst nehmen würde, hatte Ugo nie im Sinn. Seine Hilflosigkeit gegenüber Dos eindeutigen Absichten führt wieder zu komischen Situationen. Er flieht aus ihrem Zimmer, Do folgt ihm zunächst ins Theater, wo sie Ugo und Camille überrascht, die der Szene aber keine weitere Bedeutung zumisst. Später muss Ugo seine Hotelzimmertür verriegeln, vor der Do um Einlass fleht. Auf Ugos Gesicht spiegelt sich die Angst vor der Verführung, die sich schnell in Entschlossenheit umwandelt: Nein, er möchte keine Affäre mit Do, hätte 17 Vgl. Vf.: „Renoirs gemaltes Film-Theater: Le Déjeuner sur l’herbe“, in: Lommel, Michael/Roloff, Volker (Hrsg.): Renoirs Theater/Filme, München 2003.
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aber im Fall des Falles seinen Körper nicht unter Kontrolle. Er warnt sie, er würde sie verspeisen, wenn er sie sähe. Ein solches Versprechen bewirkt das Gegenteil von der scheinbar beabsichtigten Abschreckung. Do antwortet: „Je prends le risque“, woraufhin er in kindischer Panik ruft: „Pas moi!“ Ugo bekommt offenbar ein schlechtes Gewissen, weil er die Liebe Dos provozierte, ohne seinerseits ähnliche Gefühle anbieten zu können. Er beginnt beruhigend auf die geschlossene Hotelzimmertür einzureden, obwohl Do zu diesem Zeitpunkt längst verschwunden ist – wieder Situationskomik. Betrachtet man diese Szene im Vergleich mit Camilles Einsperrung in Pierres Wohnung, ergeben sich einige Parallelen. Ugo flieht vor Do und schließt sich selbst ein, ist also gefangen, weil er Angst hat, die Tür zu öffnen. Camille flieht vor Pierre, der sie einschließt, um sie für immer festzuhalten. Beide können sich im konkreten wie im abstrakten Sinne von diesen Umklammerungen befreien. Beide haben diese Gefängnisse aber auch gesucht und provoziert. Sie waren zuerst auf der Suche, nun sind sie auf der Flucht. Sie rennen vor dem davon, zu dem sie sich hin bewegt haben. Ugo und Camille haben dem Gegenüber eine Rolle vorgespielt, ihn oder sie glauben lassen, sie würden sich nach den Wünschen des anderen formen lassen, als seien sie nur Puppen, Schauspieler, ‚Körper ohne Namen, ohne Seele‘.18 Doch ebenso wie die Unbekannte in Pirandellos Wie du mich willst, führt dieses Spiel nicht zu einem festen Zustand, sondern die Rolle wird nur so lange gespielt, bis die anderen zu Reaktionen provoziert wurden. Danach verlässt die Unbekannte bei Pirandello die Bühne des italienischen Landhauses, kehrt zurück zu Slater, wird aber wahrscheinlich nicht mehr die gleiche Rolle spielen, die sie zur Flucht bewog. Ugo und Camille werden Paris wieder verlassen und an anderen Orten vor neuem Publikum neue Rollen spielen, im Leben wie im Theater. Ugos größter und bester Auftritt folgt aber erst noch ganz am Ende des Films, nachdem er Do erfolgreich abgewimmelt und die Suche nach Goldonis Stück aufgegeben hat. Während Camille mit Arthur beschäftigt ist, sucht Ugo Pierre in dessen Wohnung auf, scheinbar zu allem entschlossen, obwohl er gar nichts von Pierres Liebeserklärung gegenüber Camille weiß. Ohne große Umschweife fordert er Pierre zum Duell auf, als befänden sich beide auf der Bühne im Stück eines spanischen Ehrendramas. Pierre versteht es dann auch als solches und findet es zunächst amüsant, Ugos Spiel mitzuspielen: „donner la mort?“ fragt er und kommentiert ironisch: „C’est original comme phantasme.“ Dies 18 Vgl. Pirandello 2000, S. 34.
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spielt zum einen auf Pierres abstraktes, philosophisches Denken an und wird zu Ugos Tatendrang in Kontrast gesetzt. Zum anderen zitiert Pierre damit Camille, die etwa zur gleichen Zeit in Arthurs Wohnung den Champagner ebenso ironisch mit „C’est original“ kommentiert. Das ist zwar nur ein unscheinbarer Verbindungsfaden zwischen den beiden parallel ablaufenden Geschichten, der vom kompositorischen Geschick Rivettes zeugt, er belegt aber auch, dass Pierre und Camille eine gewisse Arroganz verbindet gegenüber Menschen, deren intellektuelle Fähigkeiten sie geringer als die eigenen einschätzen. Zumindest Pierre wird damit im wahrsten Sinne des Wortes ziemlich auf die Nase fallen. Spöttisch lobt Pierre mit dem gleichen Wortlaut wie Camille am Anfang des Films Ugo: „Vous avez bien préparé votre coup“.19 Wieder eine Verbindung zwischen Camille und Pierre, und dennoch liegen Welten zwischen den beiden gleichen Bemerkungen. Camille drückt gegenüber Ugo und auch gegenüber Arthur damit aus, dass sie ihr Spiel durchschaut, aber auch die Botschaft verstanden hat: Ugo drückt seine Eifersucht aus, Arthur möchte mit ihr ins Bett. Pierre dagegen sagt damit zwar auch, dass er das Spiel als solches erkannt hat, nimmt es aber nicht ernst, weil es eben ein Spiel ist. Pierre glaubt noch an den Unterschied, die Grenzen zwischen Theater und Leben, Spiel und Ernst, Wahrheit und Lüge. Im wirklichen Leben solche Szenen aufzuführen, wie es Ugo hier vorführt, erscheint Pierre daher lächerlich – dennoch spielt er mit. Pierre ist nämlich im Gegensatz zu Camille wie ein Theater- oder Kinozuschauer leicht zu verführen. Nachdem Ugo überhaupt nicht auf seinen Spott eingegangen ist und weiter seine Rolle als Herausforderer eines Duells spielt, zweifelt Pierre am Spiel und beginnt, es ernst zu nehmen, wie dieser kurze Schlagabtausch belegt: PIERRE: „Vous êtes sérieux, sérieux?“ UGO: „J’ai l’air de plaisanter?“ [...] PIERRE: „À mort?“ UGO: „À mort!“ PIERRE: „Je serai là.“
Sicherlich glaubt Pierre nicht wirklich an die Todesdrohung, aber ein Rest Zweifel spiegelt sich in seinem Gesichtsausdruck und in seinen Nachfragen wider. Jedenfalls ist sein Spott verschwunden, und er spielt die ihm angetragene Rolle korrekt. Man muss Pierre erst zwingen, ein
19 Camille sagt dies zu Ugo, als sie vom gemeinsamen Abendessen bei Pierre und Sonia zurückkehren (s.o.).
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Komödiant zu werden, aber dann versteht er es recht gut. Möglich, dass er auch schon vorher ein Schauspieler ist, aber die Rolle desjenigen spielt, der unwissend in das Spiel gezogen wird. Ugo darf als ‚Beleidigter/Gehörnter‘ den Ort und die Waffen wählen: Er bestellt Pierre um 16 Uhr ins Theater. Dieser erscheint pünktlich, es läuft immer noch alles nach den Regeln des klassischen Ehrendramas ab. Ugo führt Pierre zum gewählten Ort des Duells: in die Beleuchtungskonstruktion über der Bühne, auf einen Balken. Die Waffe ist für jeden eine Flasche Wodka, die Regeln sind einfach, wer zuerst herunterfällt, hat verloren. Das Duell beginnt, ganz ohne Spaß, beide scheinen ihre Rollen ernst zu nehmen, obwohl Pierre es als „clownerie“ bezeichnet. Auch die Zuschauer wissen nicht, ob Ugo es nicht doch ernst gemeint hat: „à mort“, wenn jemand vom Balken auf die Bühne fallen würde, wäre es sein sicherer Tod. Als die Flaschen bis auf ein Drittel geleert sind, können sich beide kaum noch gerade halten, lallen sich gegenseitig an und schwanken gefährlich zu allen Seiten. Ugo bezeichnet Pierre als einen Clown, „un clown philosophique“. Dieser wundert sich, noch niemand habe ihn so genannt, nicht er sei der Clown, sondern „Heidegger avec son petit chapeau“. Tatsächlich war Pierre vor dem Duell wohl genau das Gegenteil von einem Clown, aber hier entwickelt er seine durchaus komödiantischen Fähigkeiten und bringt Ugo zum Lachen. Pierre attestiert Ugo: „Vous êtes ivre.“ Der Alkohol hat alle Unterschiede zwischen den beiden Rivalen unsichtbar gemacht. Als Betrunkene sind beide Clowns, es bleibt nur noch der winzige Unterschied, dass Ugo den Ausgang des Spiels kennt und Pierre sich dessen nicht sicher sein kann. Pierre stößt mit Ugo auf den Tod an und bringt ein abgewandeltes Hölderlin-Zitat, das er Heidegger zuordnet: „Wo aber Gefahr ist, da wächst dein Wille auch.“20 Dann stürzt er in die Tiefe. Die Kamera zeigt ihn darauf in einem Sicherheitsnetz gefangen, aus dem er den Ausgang sucht. Sonia findet ihn später dort und ermahnt ihn: „Arrête de faire le clown!“ Innerhalb kürzester Zeit wird er so von zwei Leuten als Clown bezeichnet, vielleicht entdeckt er nun tatsächlich diese Seite in sich. Diese kleine Theateraufführung, die Ugo inszeniert, ist eine erfolgreiche und dazu noch amüsante Lösung des Eifersuchtsdramas. Die Gefühle Ugos, der Zorn auf seinen Rivalen, die Angst Camille zu verlieren, waren spürbar. In dieser Inszenierung im Alltag kann er sie ausleben, sich in einer Art Katharsis davon befreien und dennoch 20 Bei Hölderlin heißt es: „Wo aber Gefahr ist, da wächst das Rettende auch.“ (Hölderlin, Friedrich: Patmos (1802)).
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niemandem ernsthaft schaden. Wie viel weniger Tote hätte es gegeben, wenn alle eifersüchtigen Duellanten der Geschichte mit Theaterpistolen aufeinander geschossen hätten. Ugo kann sich entscheiden, ob er daraus eine Tragödie oder eine Komödie werden lässt. Ersteres kann kein gutes Ende nehmen, er verletzt mindestens sich selbst und Camille, wie seine Versuche in diese Richtung zeigen: nach dem Abendessen ist Camille so aufgewühlt, dass sie eine kalte Dusche nehmen muss; während der Aussprache in Camilles Garderobe wird auch Ugo selbst verletzt: „Tu veux me faire du mal?“ Danach schließen beide das Gespräch ab: „Ce n’est pas la peine de faire un drame.“ Doch ein Drama wird es geben, aber keine Tragödie. Abbildung 2: Screenshot, VA SAVOIR
Der Reiz dieser Inszenierung Ugos liegt jedoch gerade in der Unsicherheit der Zuschauer und natürlich in derjenigen Pierres, die sich fragen, ob es nicht doch gefährlich werden könnte. Das Lachen am Ende ist dann umso erlösender. In jedem anderen Film wäre dieses komödiantische Happyend kitschig und naiv, aber auf der Bühne von Rivettes VA SAVOIR ist es eine Reminiszenz an Goldoni, dessen verlorenes Stück von Madame Desprez wiedergefunden wird – die einzige Person, die keine Identitätskrise nach dem Muster eines Pirandello-Stückes hat. Das Goldoni-Stück trägt nicht den von Ugo vermuteten Titel „Il destino veneziano“, sondern „Il festino veneziano“ – aus dem Schicksal wird ein kleines Fest. Wie in jeder guten Komödie
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muss Ugo, als er das Skript des Stückes in Händen hält, gleichzeitig weinen und lachen: „Je suis fou de joie et en même temps je suis triste à pleurer.“ Damit auch dieser Moment nicht ins Kitschige kippt, lässt Rivette bzw. lassen die Drehbuchautoren Pascal Bonitzer und Christine Laurent, Ugo, bevor er dies sagt, zur Toilette eilen, um den Wodka aus seinem Magen zu leeren. Es treffen hier mit Goldoni und Pirandello zwei unterschiedliche, vielleicht sogar gegensätzliche italienische Theatertraditionen aufeinander, die aber in Rivettes Film in einer ungewöhnlichen Harmonie zusammengebracht werden. Pirandello verweigert in seinen Stücken den Zuschauern die tröstliche Hoffnung auf Glück, die Goldoni vermittelt. Die Unbekannte lässt die Familie und Bruno mit ihren Fragen und ihrer Unsicherheit zurück, um wieder mit Slater zu verschwinden: wohin, um welche Rolle zu spielen, wird niemand erfahren. Camille verspricht dagegen Ugo, mit ihm nach Wien zu gehen und sogar „au bout du monde“. Daraufhin endet der Film: Die Paare Camille und Ugo, Do und Arthur tanzen auf der Bühne zur Musik von Peggy Lees Senza fine. Unerträglich wäre ein solcher Schluss, würde er nicht auf einer Theaterbühne inszeniert und platziert. Doch wenn man wie hier weiß, dass es ein Spiel ist, dann ist diese Sehnsucht nach immer währender Sicherheit möglich. Wenn das Spiel von vorne beginnt, kann sich die Veränderung, die Unsicherheit, die Suche sehr schnell wieder einstellen. Die einzige Konstante, die es gibt, bringt Camille auf den Punkt, wenn sie zu Ugo sagt, sie sei immer dieselbe, nämlich immer eine andere.21 Ugo kann als Theaterregisseur und Schauspieler diese philosophische ‚Wahrheit‘ besser verstehen als der Philosoph Pierre, der glaubt, Camille sei doch dieselbe wie vor drei Jahren und der vergangene Zustand ließe sich wieder herstellen.22 21 Diesen Punkt greift auch Urs Jenny in seiner Filmkritik auf, stellt aber die Vermutung an, es könne sich um ein Zitat handeln. Wenn er daraus entnimmt, das Spiel werde immer weiter gespielt, ist seine Schlussfolgerung, „am Ende setzt sich gegen Pirandellos Paranoia eine Maskenheiterkeit à la Goldoni durch“, nicht kohärent. Goldoni ist hier kein Sieger eines Duells gegen Pirandello, sondern das Spiel, das Duell ist ohne Ende, „Senza fine“, beginnt von vorne mit ungewissem Ausgang und neuer Rollenverteilung. Vgl. ders.: „‚Wie du mich willst‘“ (Spiegel, Nr. 26/2002). 22 Pierres Auffassung könnte man hier ebenfalls als philosophische Betrachtung des Zeitbegriffs ansehen, auch wenn man dazu etwas ausholen müsste. In einer verkürzten Darstellung wird man Heideggers Philosophie zwar nicht gerecht, doch da er auch im Film eine zuweilen undankbare, lächerliche Funktion einnehmen muss, erlaube ich mir dieses Gedankenspiel: Wenn sich Pierre auf Heideggers Zeitbegriff aus Sein und Zeit bezieht, dann
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Ugos Inszenierung des Duells ist vergleichbar mit Camilles Inszenierung für Arthur. Wie auch schon in den Szenen der Suche (Ugo sucht Goldonis Stück, Camille sucht Pierre) und der Szene des Gefangenseins, der Flucht, laufen auch am Schluss die Inszenierungen des Paares parallel nur mit unterschiedlichem Publikum ab. Camille und Ugo spielen mit einem ungeliebten Gegenüber ein Spiel, dessen Dramaturgie sie allein in der Hand haben. Wie das Spiel ausgeht, ist keineswegs ungewiss – wie etwa in Pirandellos Wie du mich willst –, sondern die Spielregeln, die sich die Regisseure Camille und Ugo ausgedacht haben, legen das Ende fest. Sie führen eine Komödie nach ihren Regeln auf, ähnlich wie die Unbekannte bei Pirandello, die sagt: „Das ist mein Spiel! Das Spiel führe ich!“23 Auf diese Weise gewinnen natürlich beide ihr Spiel und retten damit ihre Beziehung, das Theater und sich selbst. In schwindelnder Höhe – Camille auf dem Dach und Ugo auf dem Beleuchtungsbalken – haben beide keine Angst.
Weibliche und männliche Identität bei Pirandello und Rivette Rivettes Film hat den Anschein, eine leichte, beschwingte Sommerkomödie zu sein. Die italienische Sprache auf der Bühne klingt rhythmisch von den Schauspielern gesprochen wie Musik, und so wundert es nicht, wenn Kritiker die Komposition des Films als „Mozartean“ loben.24 Die Kunst ist es jedoch beim Filmemachen, eine dermaßen überladene Komposition, mit Zitaten quer durch die Film-, Theater-, und Literaturgeschichte, trotzdem leicht und unbeschwert erscheinen zu lassen. Wie gelingt dies Rivette? Wie schafft er es, gleichzeitig grundlegende Themen der Identitätsbildung der Geschlechter anzusprechen und den Eindruck zu vermitteln, alles geschehe ganz natürlich, automatisch, von alleine, nach unsichtbaren Spielregeln und uns dennoch die Regeln des Spiels, des Mediums, der Geschlechter sehen zu lassen? Rivette wählt als Theaterstück Pirandellos Wie du mich willst aus, ein Stück, das den meisten eher von seiner Verfilmung mit Greta Garbo könnte er argumentieren, dass die Zeit im Sinne Heideggers gleichzeitig Gewesenheit, Gegenwart und Zukunft bedeutet. Es gibt daher keinen Hinderungsgrund, nicht in der Beziehung zu Camille genau dort wieder anzufangen, wo sie vor drei Jahren aufgehört haben. 23 Pirandello 2000, S. 68. Für die Unbekannte ist es allerdings „ein schreckliches Spiel“, während Rivette mit Hilfe von Goldoni ein schönes Spiel daraus werden lässt. 24 Taylor, Charles: www.salon.com.
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unter dem Titel AS YOU DESIRE ME (1932) bekannt sein dürfte. Im Film führt es Rivette zu seinem Ursprung auf die Bühne zurück. Die Unbekannte ist bei Pirandello fast schon eine exemplarische Figur der weiblichen, beliebigen Identität als Projektionsfläche männlicher Wünsche. Eine Rolle, wie sie z.B. von Luce Irigaray in Speculum analysiert wird. Pirandello zeigt, auf aus heutiger Sicht schon fast naive Art und Weise, wie die Unbekannte für ihre männlichen Gegenüber die Frauenrolle einnimmt, die in ihr gesehen und gewünscht wird. Sie ist dabei allerdings kein Opfer, sondern entscheidet selbst, die Cia für Bruno und seine Familie zu spielen. Die Unbekannte verwandelt sich in die verschwundene Cia, indem sie deren Notizen auf dem Dachboden auswendig lernt und sich äußerlich dem Porträt der Vermissten angleicht. Ihre blonden Haare werden dunkel, die Kleidung nach dem Bild Cias ausgewählt und selbst ihre Gestik mäßigt sie. Von ihrer impulsiven Art als Elma in Berlin ist im zweiten Akt als Cia in Italien nichts mehr zu sehen. Es ist für die Unbekannte bei Pirandello keineswegs eine schreckliche Vorstellung, die eigene Identität zu verleugnen und eine fremde anzunehmen, sondern ein verheißungsvolles Versprechen liegt im Gedanken an eine neue Identität. Es eröffnet sich die Möglichkeit alle Erinnerung, alle gegenwärtigen Probleme, die sie offensichtlich im Dreiecksverhältnis mit Slater und seiner Tochter Mop hat, hinter sich zu lassen, sie effektiv zu verdrängen. Die Unbekannte bietet sich scheinbar freudig am Ende des ersten Aktes dem unbekannten ‚Ehemann‘ in Italien an: O ja, wenn er mich neu erschafft, wenn er ihm wieder eine Seele gibt, diesem Körper, der seiner Cia gehört – er soll ihn nehmen [...] und alle seine Erinnerungen hineinlegen [...] ein schönes Leben – 25 ein neues Leben! Ich bin verzweifelt!
Sicherlich würde die Unbekannte dieses Angebot nicht machen, wenn sie nicht verzweifelt und in ihrer jetzigen Identität unglücklich wäre. Ihr Identitätsverlust wird demnach schamlos ausgenutzt, und niemanden stören ihre offenen Worte der Verzweiflung, solange sie nur mit nach Italien kommt und die ihr zugedachte Rolle der Cia spielt. Die Geschlechterrollen sind hier klar verteilt und werden auch explizit genannt: Er ist der Schöpfer, sie sein Geschöpf. Sie bietet ihm eine leere Körperhülle an, damit er sich eine künstliche Frau nach seinen Vorstellungen bzw. Erinnerungen schaffen kann. Dieser Eindruck wird im zweiten Akt noch durch das gemalte Porträt der vermissten Cia verstärkt. Die Unbe25 Pirandello 2000, S. 34.
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kannte weiß, dass sie zu der Frau auf dem Porträt werden muss. Dieses Bild kann wiederum nicht mit der Vermissten übereinstimmen, es ist schließlich nur ein Gemälde. Die Unbekannte muss sich also in ein Kunstwerk verwandeln. Abbildung 3: Screenshot, VA SAVOIR
Das Problem ist allerdings, dass ein Bild dazu taugt – mehr noch als jede lebende Person, die reagieren kann –, die Vorstellungen der Betrachter widerzuspiegeln. Dem einzigen Referenzobjekt der verschwundenen Ehefrau kann sich die Unbekannte ohne größere Schwierigkeiten angleichen und löst damit zunächst die Bewunderung der Familie aus, die nun ganz sicher ist, ihre Cia wiedergefunden zu haben. DIE UNBEKANNTE: (Sieht sich auf dem Bild und betrachtet sich.) Perfekt nicht wahr? ONKEL SALESIO: Wie aus dem Rahmen heruntergestiegen! TANTE LENA: Ja, obwohl ich nie gefunden habe, daß dein Mädchenbild dir sehr ähnelte. [...] TANTE LENA: [...] Das sind sie, ihre richtigen Augen, wie ich sie immer gesehen habe: die sind es und nicht die dort. [...] TANTE LENA: Die hier sind dieselben, nicht die dort! – Ein bißchen grün...! ONKEL SALESIO: Wieso grün, sie sind blau! DIE UNBEKANNTE: (Zu Lena) Für dich grün (Zu Salesio) und für dich blau. (Zieht Salesio vor das Bild) Und für Bruno [...] grau
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unter schwarzen Brauen. Und dann wird auch der Maler noch was 26 dazugetan haben!
Der Glaube und die Vorstellungskraft der Betrachter sind es allein, die die Unbekannte in Cia verwandeln. Das wird sie ihnen mit ihrer kleinen Komödie, die sozusagen Theater im Theater im Film ist, zeigen.27 Der Glaube der anderen an ihre Identität als Cia ist es auch, der sie motiviert dieses Spiel mitzuspielen. Nur wenn ihr ‚Ehemann‘ Bruno zweifelsfrei an ihre Identität, die er selbst geschaffen hat, glaubt, funktioniert seine Konstruktion. Auch für die Unbekannte ist es dann die erhoffte neue Identität, an die sie auch selbst glauben kann. Zu leicht ist es aber, den Zweifel unter der Familie zu schüren – die Unbekannte verliert ihre Identität zum zweiten Mal. Denn das Selbstbildnis hängt von den anderen ab. Sicherlich ist dieses Bild von der Unbekannten steuerbar. So wie sie den Zweifel streut, kann sie auch absolute Überzeugung hervorrufen. Doch wenn Bruno, Boffi und die Familie sie wirklich lieben würden, müssten sie doch auch die Veränderung an ihr lieben. Aber sie lieben ein Bild aus der Vergangenheit – nicht unbedingt das an der Wand –, aber das in ihren Köpfen. Es ist kein per se patriarchalischer Akt, die Unbekannte als Cia neu zu erschaffen – sie tut es ja selbst! Sie hat sich mit Freude in Cia verwandelt, aber kein Mensch ist ohne Veränderung. Die Unbekannte ist eine Cia geworden, die lebt, die sich verändert „heute so morgen so“.28 Vielleicht war Cia auch früher schon so, deutet die Unbekannte an, aber die anderen haben ein festes Bild von ihr im Kopf behalten, das nicht mehr flexibel ist. Es ist ein Bild, wie das Porträt an der Wand in Farbe festgehalten oder wie eine Statue in Stein gehauen. Dagegen wehrt sich die Unbekannte: „Ich bin Cia! – Ich allein! – Ich! – Ich! Nicht die da, (zeigt auf das Bild)“.29 Es kann durchaus eine Bereicherung, ja sogar eine Befreiung sein, eine andere Rolle einzunehmen, sich von anderen erschaffen zu lassen. Das Problem ist die Verweigerung, die Rolle abzuändern, auch nur leicht zu variieren. Rivette führt nun im Film weitere Metatexte ein, indem er filmt, wie die Unbekannte auf der Bühne vor der Familie eine Komödie aufführt und gleichzeitig Camille und Ugo vor Pierre, Arthur und den anderen Theater im Leben spielen. So sehen wir zum einen Pirandellos 26 Ebd., S. 44. 27 Vgl. ebd S. 45: „Und genau das [...] ist die Komödie, die ich spielen werde“. 28 Ebd., S. 70. 29 Ebd.
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NANETTE RISSLER-PIPKA
Theater im Theater, mit dem die Unbekannte vorführt, dass die Identitätsbildung eine fortschreitende Bewegung ist und kein festlegbarer Zustand. Dies ist im Film aber scheinbar nur eine Art Rahmenhandlung und daher keineswegs so theoretisch, abstrakt wie man es im Theater wahrnehmen würde. Zum anderen sehen wir aber auch eine parallele und wiederholende Handlung des Bühnengeschehens im Filmgeschehen. Wir sehen Pierre, der sich das Stück ansieht, der sieht wie die Unbekannte auf das Bild zeigt und Bruno anklagt, er lasse nicht zu, dass Cia sich verändert habe. Gegen Ende des Films sehen wir dann Pierre und Camille in seiner Wohnung: Sie möchte ihm erklären, dass er sie nicht so wahrnimmt, wie sie ist, dass er die Augen vor der Veränderung verschließt. Sie sei eine andere, sagt sie, und Pierre kann nur dagegen halten, sie sei immer noch die gleiche. Pierre hat also nichts verstanden, genauso wenig wie Bruno in Wie du mich willst. An dieser Stelle schafft Rivette aber die Wendung und geht über Pirandellos depressive Grundstimmung hinaus. Mit Ugo führt er keineswegs ein Pendant zu Slater ein, sondern eine neue Figur, eine Figur Goldonis. Ugo erfindet Camille auch bei jedem neuen Stück neu, gibt ihr auf der Bühne eine neue Identität. Das ist jedoch kein Gewaltakt, keine patriarchalische Bevormundung, sondern die Eröffnung neuer Möglichkeiten. Ugo kommt vom Theater, verkörpert das Theater in allen Funktionen, er ist Produzent, Buchhalter, Regisseur, Schauspieler, etc. Ihm liegt nichts daran, Camille in einem bestimmten Bild festzuhalten, um sie an die Wand zu hängen oder in eine Kammer zu sperren. Er kann die Veränderung aushalten, ob Camille mit ihm nach Wien kommt oder nicht, entscheidet sie, er muss die Ungewissheit aushalten. Beide gewinnen so an Freiheit dazu: Er kann vor Do unbehelligt den romanisch-italienischen Verführer spielen; Camille führt ihr kleines Stück vor Arthur auf. Bei Rivette löst die Unsicherheit bezüglich der eigenen Identität keine Verzweiflung mehr aus. Schmerzen sieht man Camille an, aber es ist kein „schreckliches Spiel“ wie für die Unbekannte bei Pirandello. Im Gegenteil, sie selbst, Ugo und die Zuschauer können das Spiel genießen, zumindest nachdem Camille die Alternative zu der Suche nach sich selbst gesehen hat: Es ist ein Gefängnis in Pierres Kammer oder im Bilderrahmen des Porträts Cias.
GERHARD WILD
MNEMOSYNE UND MELANCHOLIE: ZUR THEATRALISIERUNG VON BEWUSSTSEINSINHALTEN IN MANOEL DE OLIVEIRAS VOU PARA CASA (JE RENTRE À LA MAISON)1 Für Scarlett Winter
Ein Lusitaner in Paris tout pour moi devient allégorie (Baudelaire, Le Cygne)
Wenngleich die Frage nach dem Sitz der Kunst im Leben so alt sein dürfte wie die Kunst selbst, so ist auffällig, dass dieses Problem, zumal in der Iberoromania seit seiner vielfältigen Akzentuierung in Cervantes’ Literaturroman, immer wieder2 thematisiert worden ist. Dabei scheint es, dass das Neben- und Ineinander von Lebenswirklichkeit und Kunstwelt, wie in Calderóns Formel „la vida es sueño“, keineswegs nur als ein barockes Phänomen gelten kann, sondern dass der Nexus von Kunst und Leben von hier gleichsam epochenübergreifend leitmotivisch wiederkehrt. Gerade dieser Zusammenhang von Kunst und Leben ist nicht nur
1 Portugal/Frankreich 2001, Buch, Regie und Dialoge: Manoel de Oliveira. Vgl. die Rezensionen von Althen, Michael: „Letzte Kulissengasse links“, in: FAZ, Nr. 297 (21.12.2001); sowie Hermanski, Susanne: „Die Augen des Luchses“, in: Süddeutsche Zeitung (22.12.2001); zum portugiesischen Kino vgl. Bénard da Costa, João: Portugiesische Filmgeschichte/n, Rodenbach 1997, Leitão Ramos, Jorge: Dicionário do cinema português (1962-1988), Lissabon 1989, S. 286-289. 2 Vgl. hierzu Vf.: „Alles ist Verführung. Ansätze einer Geschichte der Medienkritik in spanischsprachigen Texten und Filmen“, in: Hülk, Walburga/Hartl, Lydia/Hoffmann, Yasmin/Roloff, Volker (Hrsg.): Ästhetik des Voyeur, Heidelberg (im Druck).
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im prämodernen Lektüreroman des späten 19. Jahrhunderts3 gleichsam allgegenwärtig. Auffällig ist in diesem Zusammenhang auch, dass die damit einhergehende Übertragung von literarisierten bzw. theatralisierten Bewusstseinsmustern das Problem des Er-Innerns als Übertragung vergegenwärtigter Vergangenheit mit den Mitteln der Allegorie ver-gegenständlicht: So gesehen stellt etwa die Bibliothek Quijotes als ästhetischer Gedächtnisspeicher auf dem medialen Niveau des Siglo de Oro aus rezeptionstheoretischer Sicht ebenso ein verdinglichtes ,Programm‘ zur Analyse von Bewusstseinsinhalten ingeniöser Helden dar wie Jahrhunderte später die träumerisch-kreative Überschreibung von Kunst, Musik und Literatur in den Werken Baudelaires, Huysmans, Prousts, Asunción Silvas oder selbst Fernando Pessoas, um nur einige wenige zu nennen. Von daher gesehen erscheinen vorzugsweise solche über die Kategorien der Intermedialität und Intertextualität konstituierten Texte, Bühnenwerke und auch Filme als ,Hypertexte‘, deren zugrundeliegendes ästhetisches Korpus auf eine Allegorisierung von Bewusstseinsinhalten hin zu öffnen wäre. Wenn sich die Genealogie der hier angesprochenen Verfahren einer Transposition mentaler Inhalte auf die Ebene eines Konkret-Sichtbaren bis in die Entstehung der Allegorie am Rande der Spätantike4 zurückverfolgen lässt, so ist die wohl zuerst von Walter Benjamin5 angemerkte Rückkehr des Allegorischen im nachaufklärerischen Zeitalter zwar ein mittlerweile geistesgeschichtliches Klischee, gleichwohl verlohnt es der Mühe, die von Benjamins Arbeiten ausgehenden Anregungen für die optische Konkretisierung von abstrakten mentalen Konzepten in Bildinhalten auch im Bereich genuin visueller Medien zu verfolgen, wie sich im Folgenden am Beispiel des Kinos der späten Moderne nachweisen lässt.6 3 Vgl. Roloff, Volker: „Von der Leserpsychologie des Fin de Siècle zum Lektüreroman. Zur Thematisierung der Lektüre bei Autoren der Jahrhundertwende“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58, (1985), S. 186-203. 4 Vgl. Lewis, Clive S.: The Allegory of Love, Oxford 1936. 5 Vgl. Benjamin, Walter: Vom Ursprung des deutschen Trauerspiels, Frankfurt a.M. 51990, sowie ders.: Charles Baudelaire, Frankfurt a.M. 1974, und Das Passagenwerk, 2 Bde., Frankfurt a.M. 1983. 6 Zum literarischen Hintergrund in Oliveiras Filmschaffen vgl. den Interviewband von Becque, Antoine de/Parsi, Jacques: „Conversations avec Manoel de Oliveira“, hrsg. von Cahiers du Cinéma, Paris 1996, S. 62ff. (dieser für das Verständnis Oliveiras wertvolle Band liegt mittlerweile auch in portugiesischer Übersetzung vor: Conversas com Manoel de Oliveira,
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Gerade das Alterswerk des portugiesischen Regisseurs Manoel de Oliveira (*1908)7 kann als Beleg für die Virulenz der Frage nach einer umfassenden Literarisierung von alltäglichen Daseinsbereichen und ihrer Funktion bei der Veranschaulichung von Bewusstseinsinhalten dienen. Wenngleich Oliveira nach eigenen Aussagen in seinen Anfängen in den dreißiger Jahren stärker an die Spezifität des Kinos („acreditava numa especifidade do cinema, muito maior do que aquela em que hoje creio“)8 glaubte als in seinem Spätwerk, scheint umgekehrt gerade der filmische Diskurs in seinen Filmen sich in dem Maße zu artikulieren, in welchem sein Autor sich auf Theater (BENILDE OU A VIRGEM-MÃE, 1975), Malerei (AS PINTURAS DO MEU IRMÃO JÙLIO, 1959-65), Musik (O PASSADO E O PRESENTE, 1971) oder Literatur (AMOR DE PERDIÇÃO, 1978, A CARTA, 1999) bezieht. Wollte man Oliveiras Entwicklung, ausgehend von seinen frühesten nachfuturistischen Experimenten bis in die aktuelle Gegenwart hinein, zu beschreiben versuchen, so könnte dies unter dem Blickwinkel einer immer stärkeren Hinwendung zu einem ausgesprochenen Literatenkino geschehen, in dem die spezifische Materialität des Kinos dadurch begründet wird, dass die konkurrierenden Komponenten in einem spezifischen medialen Konglomerat aufgehen, um so auf einer inhaltlichen Ebene nach der Ästhetisierung, Literarisierung, Theatralisierung oder allgemeiner Ritualisierung der dargestellten Wirklichkeit zu fragen. So hatte Oliveira bereits 1990 die nicht auflösbare Abhängigkeit von Historie, Fiktion und Wirklichkeit in NON, OU A VÃ GLÓRIA DE MANDAR auf verschiedenen medialen Ebenen als ein kunstvoll dekonstruktives Spiel von Literatur und Lebenswelt am Beispiel der Extremsituation des portugiesischen Kolonialkrieges in Angola verarbeitet.9 Handelte es sich bei NON vor allem um den Versuch, das Epos des portugiesischen Nationaldichters Luis de Camões zu überschreiben, so hat sich Oliveira mit seinen jüngsten Filmen immer stärker französischen literarischen Themen wie Flauberts Madame Bovary (VALE D’ABRÃO, 1993) und zuletzt der Princesse de Clèves (A CARTA, 1999) zugewendet, wobei er Porto 1999, hier S. 67ff.); vgl. auch Matos-Cruz, J. de: Manoel Oliveira e a montra das tentações, Lissabon 1996. 7 Zum Folgenden vgl. Freunde der Deutschen Kinemathek: Manoel de Oliveira: Hommage anläßlich seines 80. Geburtstages, Berlin 1998. 8 Manoel de Oliveira, in Dossier Manoel de Oliveira: Biografia, 2, (Internetdossier, hrsg. von Madragoafilmes). 9 Vgl. Vf.: „Geschichte, Mythos und Fiktion: Zur Rezeption von Camões’ Os Lusíadas in Manoel de Oliveiras Film Non (1989)“, in: Felten, Uta/Schlünder, Susanne/Winter, Scarlett (Hrsg.): Das Kino in unseren Köpfen, Siegen 2000, S. 119-132.
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die eingearbeiteten literarischen Bezüge kontrapunktierend auf eine aktuelle Gegenwart bezieht. Mit seinem in Frankreich im Jahr 2001 erschienenen bislang letzten Film JE RENTRE À LA MAISON erfährt das Thema der Scheinhaftigkeit einer postmodernen Existenz eine skeptische Umsetzung.
Rituale der Bühne und des Lebens Je veux dormir, plutôt que vivre dans un sommeil aussi doux que la mort. (Baudelaire, La Léthé)
JE RENTRE À LA MAISON/VOU PARA CASA verarbeitet die Problematik der Theatralität im Leben am Beispiel eines alternden Schauspielers in Paris. Während einer Aufführung von Ionescos Le roi se meurt erhält der berühmte alternde Theaterschauspieler Gilbert Valence die Nachricht, Frau, Tochter und Schwiegersohn seien bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Gilbert übernimmt darauf die Fürsorge für seinen kleinen Enkel Serge, der damit zum Lichtblick in der Gleichförmigkeit und Einsamkeit seines Alterns wird. Das ,neue‘ Leben nach dem Tod der Verwandten verbindet sich für Gilbert mit dem Kauf eines Paars neuer Schuhe. Doch die raubt ihn nachts, nach einem der gewohnheitsmäßigen Cafébesuche mit seinem Agenten, ein Drogenabhängiger. Anderntags versucht der Theateragent Gilbert dazu zu überreden, an einer Seifenoper mit der erfolgversprechenden Mixtur aus sex and crime mitzuwirken. Gilbert lehnt entrüstet ab. Auf dem Heimweg holt Gilbert seinen Enkel von der Schule ab; zu Hause spielen Serge und Gilbert mit den ferngesteuerten Autos, die er dem Kind mitgebracht hat. Ein Anruf des Theateragenten reißt den Schauspieler aus seiner Lethargie. Gilbert akzeptiert das Angebot seines Agenten, in einer Verfilmung des Ulysses mitzuwirken. Es zeigt sich aber, dass die Aufgabe, in kurzer Zeit den englischen Text zu lernen, über die physischen Möglichkeiten des Schauspielers geht. Am Tag nach den ersten Proben findet Serge seinen Großvater über dem Rollenstudium eingeschlafen auf dem Sofa, womit der außerhalb der erzählten Geschichte offenbar unausweichliche physische Tod eines ,Helden‘ antizipiert wird, dem in der anschließenden Episode ein ,geistiger Tod‘ vorausgeht. Denn am folgenden Tag endet der Versuch, die „Martello Tower“-Episode des Ulysses zu drehen, nach mehreren Versuchen mit einem Gedächtnisfehler Gilberts, der darauf das Studio verlässt. Vergeblich repetiert er auf dem Weg nach Hause den
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unvollständigen Text. Zu Hause zieht er sich auch vor seinem verwunderten Enkel Serge in sein Zimmer zurück.10 Thematisch rekurriert Oliveira mit VOU PARA CASA auf das in seinem Spätwerk zentrale Moment einer zeitweiligen Aufhebung von gesellschaftlichen Normen, wie sie unter anderem in der Castelo-BrancoAdaptation AMOR DE PERDIÇÃO und der Verfilmung von Madame de La Fayettes La princesse de Clèves, A CARTA (1999) und wiederum in der Bovary-Verfilmung VALE D’ABRÃO thematisiert wurde: „essa suspensão de regras sociais e normas substituídas pelas que os seus hérois criam e às quais obedecem até morte ou à loucura.“11 Der tragische Unfalltod von Gilberts Familie zu Beginn des Films stellt die fatalste Form der Aussetzung eines bislang selbstverständlichen Regelsystems dar. Dieser Einbruch in die eingespielten Rituale wird in der ersten Sequenz dadurch noch unterstrichen, dass das Überbringen der bestürzenden Nachricht ein zweites soziales System, die Theateraufführung von Ionescos Le roi se meurt, unterbrechen würde: In dieser ersten Filmsequenz schieben sich Bühnengeschehen und Realität ineinander, als Gilbert den König mimt, der sein eigenes Sterben erlebt, ohne es in seiner Situation als Herrscher akzeptieren zu können, während backstage der Überbringer der realen Todesnachricht auf eine Möglichkeit wartet, seine schlimme Nachricht loszuwerden. Die Textreferenz auf Ionescos König Bérenger, der als Zeuge des eigenen Verfalls gegen die Ankündigung des eigenen Todes durch gewohnheitsmäßige Ausübung seiner Herrschaft opponiert, wird so zur mise en abyme, ein außerfilmischliterarhistorischer Verweis, über den Oliveira wie in einem Brennspiegel das absurde Wirklichkeitsmodell einer Ritualisierung des Lebens fokussiert. Der Themenkomplex einer durch eingespielte Verhaltensweisen automatisierten, insofern gegen Verwerfungen wie Verlust und Tod ausgrenzenden Existenz wird somit zugleich von innen – auf der Bühne – und außen – backstage – konstituiert, um in der folgenden Sequenz eine sinnfällige Fortsetzung zu erfahren. So pointiert die Episode um die hinausgezögerte Todesnachricht die zum Klischee geratene traditionelle Frage nach dem Sinn von Kunst im Leben, indem sie diese in den Dialogen hinter der Bühne wiederholt und absichtvoll verkehrt: Wie kommt Leben in die Kunst, wenn es in Gestalt des Todes auftritt? Dieses Ineinander einer Fiktion, die auf der Bühne produziert wird, eines Rituals, das die während der Episode eingeblendeten Theaterbesucher zu Partnern bei der Verwirklichung dieser Fiktion macht, und 10 Vgl. auch die Szenengliederung des Films im Anhang zu diesem Beitrag. 11 Daney, Serge, zit. n. Biografia, Dossier Manoel de Oliveira (wie Anm. 8).
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einer äußeren Realität, deren grausamer Effekt gerade durch die Bühnenwirklichkeit ausgesetzt werden kann, geht in den beiden Theaterszenen, wo neben dem Ionesco-Stück auch Shakespeares The Tempest gespielt wird, in der Nicht-Unterscheidbarkeit von Theaterwelt und Alltag auf. Solche Ambivalenzen von Realitäten mit unterschiedlicher Wirkungsmächtigkeit stellen ein Leitmotiv im Werk Oliveiras dar.12 So wird in der ersten Theaterepisode das Ineinander und Nebeneinander von Bühnendialog und backstage-Dialogen13 unterstützt durch eine hybride Kameraposition, die hinter der Bühne bald reale Kommunikation, bald bühneninterne Kommunikation derart enthierarchisiert, dass die Theatralisierung der funktionalen Wirklichkeit hinter der fiktionalen Welt bestenfalls noch durch die Differenz von Straßenanzug und Bühnenkostüm aufscheint. Bezeichnend für die strenge Symmetrie von VOU PARA CASA ist in diesem Zusammenhang der Rückgriff auf diese Hybridie von Theater und Alltag am Ende des Films, als Gilbert den Filmset des Ulysses verlässt. Dabei wird zum einen in dem Filmset das Ritual von Stichwort und Auftritt ironisch verfremdet, indem eine Schauspielerin in die Szene tritt und ihre Rolle spielt, obwohl der Regisseur das Drehen der Sequenz längst unterbrochen hat. Zum anderen werden durch die symmetrische Position der Ionesco-Szene am Anfang und der Joyce-Verfilmung am Ende des Films der Tod in Gilberts Leben und der Verlust des Gedächtnisses auf der Bühne aufeinander bezogen. Standen die Todesboten anfangs im Straßenanzug hinter der Bühne, so bewegt sich der gedankenverlorene Schauspieler am Ende im Filmkostüm des Buck Mulligan durch die Straßen von Paris, ohne dadurch aufzufallen. Die Ritualisierung des Alltäglichen ist hier soweit vorangeschritten, dass Gilbert ein Straßencafé betritt und vor dem französischen Kellner den englischen Text von Joyce repetiert, ohne dass der Kellner davon Aufhebens macht. Weder das unzeitgemäße Kostüm, noch das englische Zitat vermögen den Kellner aus seiner Rolle in der Arbeitswelt zu lösen. Auch als Gilbert das Café überstürzt verlässt, perpetuiert sich das Ritual des Straßencafés bruchlos, wenn der Kellner das für Gilbert bestimmte Weinglas dem nächsten Gast vorsetzt. Obwohl schon zu Beginn des Films das System Familie mit seinen Ritualen zerstört ist, versucht Gilbert im weiteren Verlauf, wenigstens 12 Vgl. die Rezension von J. Lopes, João, URL: www.cinema2000.pt. 13 Vgl. in diesem Kontext Oliveiras Selbstaussage, der Autonomie des Wortes komme in seinen Filmen ein bedeutender Stellenwert zu; vgl. hierzu Baecque/Parsi 1996, S. 80.
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den Anschein von Regelhaftigkeit in seinem weiteren Dasein aufrecht zu erhalten. Das Moment des Erkennens, der anagnorisis, die laut Aristoteles die Theaterhandlung bestimmt und die aber in der ersten Sequenz von VOU PARA CASA zunächst ebenso verweigert wird wie bei Ionesco, durchzieht Oliveiras Film fortan leitmotivisch: Das Erkennen wird durch die Stiftung kleiner Alltagsrituale unterlaufen. Der melancholische Blick des alternden Schauspielers auf das Enkelkind Serge, der sich in einzelnen Sequenzen lediglich durch den situativen Rahmen unterscheidet, ist ebenso Ausdruck dieser rituellen Konstruktion wie die Spaziergänge Gilberts durch Paris. Gerade hier in der scheinbaren Banalität des städtischen Alltags steigert sich die Attitüde des Nicht-Erkennen-Wollens in vielschichtiger Weise zu einem Theater des modernen Lebens, wenn Gilbert, als Schauspieler erkannt, Autogramme geben muss. Wie ein ironischer Reflex der demonstrativen Gleichgültigkeit angesichts des unausweichlichen Schicksals bleibt Gilbert vor einer Kunstgalerie stehen und versinkt für Augenblicke in die Betrachtung der Reproduktion des Gemäldes The Singing Butler (Portland Gallery, USA) des schottischen Pop Art-Malers Jack Vettriano (*1954): The Singing Butler zeigt ein mit Abendkleid und Smoking bekleidetes Paar, das an einem durch Wasserpfützen fast ungangbaren, von Wind und Wetter gepeitschten Strand tanzt, während eine Maid und der Butler das tanzende Paar mit Schirmen vor Regen zu schützen versuchen. Vettrianos Gemälde wird in der Straßenszene zur ironischen Metapher einer wider das Skandalon der unkontrollierbaren Naturgewalten gerichteten Non-chalance. In einer anderen Vitrine blickt Gilbert versonnen auf den Frauenkopf einer funktionslosen Schaufensterpuppe. Auf ironische Weise spiegeln das reproduzierte Kunstwerk und der industriell gefertigte Frauenkopf jenen demonstrativ zur Schau getragenen Stoizismus ,aus zweiter Hand‘ wider, den der Schauspieler aus seiner Kunst ins Leben hineinträgt. Diese mit dem Zitat des Vettrianos-Gemäldes aufgerufene Attitüde demonstrativer Gelassenheit angesichts der Katastrophe verlängert sich in jener nächtlichen Episode, in der ein Drogenabhängiger den Schauspieler nach einem Cafébesuch bedroht. Auch hier treffen zwei Wirklichkeitsbereiche aufeinander, die aufgrund ihrer unterschiedlichen Ritualisierungen die Ambivalenz von Theatralität und Normalität in Frage stellen. Und wieder reagiert der Schauspieler mit jener professionellen Attitüde, die Einbrüche der äußeren Wirklichkeit durch Gleichgültigkeit und Unverständnis kompensiert. So signalisiert Gilbert dem Kriminellen zunächst, er verstehe dessen Ansinnen überhaupt nicht, und enthüllt dessen Verhalten so selbst bereits als gestisches und sprachliches Ritual.
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Der Ganove muss dem Schauspieler jede seiner im primitiven Argot formulierten Aufforderungen in die korrekte Hochsprache ,übersetzen‘. Der Schauspieler reagiert insofern professionell. Das vom Theater her für ihn normale ,So tun, als ob‘ generiert in dem Dialog mit dem Junkie eine Reihe von Redundanzen, welche die Situation ihrer realen Bedrohlichkeit entheben und, wie stets in Gilberts Alltagsexistenz, die Katastrophe aufschieben. Gilberts prononcierter Stoizismus bewirkt, dass an die Stelle von „Mitleid und Schrecken“ die komische Aufhebung des Konflikts mit der äußeren Wirklichkeit tritt: Selbst als der Kriminelle ihn seiner gerade erworbenen Schuhe beraubt hat, verharrt Gilbert in seiner Indifferenz und setzt seinen Weg nach Hause fort. Auch in den übrigen Sequenzen des Films wird die Welt außerhalb des Theaters über theatralische Setzungen ritualisiert: So ist die Beziehung Gilberts zu seinem Enkel Serge in rigider Weise organisiert. Auch hier folgen alle Abläufe dem Muster eines eingespielten Drehbuchs: Der distanziert-melancholische Blick Gilberts, das Ritual des Wegs von und zur Schule und vor allem die nachmittägliche Spielstunde demonstrieren, wie das Kind seinerseits die liebgewordenen Riten perpetuiert. Wenn Serge und Gilbert ferngesteuerte Rennautos über den häuslichen Teppich jagen, so wird erneut die außertheatralische Existenz durch die Inszenierung einer Fiktion supplementiert, durch ein ,Als ob‘, das die Regeln der Alltagswelt vorübergehend aussetzt. Wenn nach orientalischer Auffassung der Teppich die Metapher für die Welt als Emanation Gottes ist, agieren über diesem fiktiven Kosmos Gilbert und Serge im bürgerlichen Wohnzimmer als Regisseure eines einstudierten Dramas, in dem sie mit eingespielten Gesten und Stichworten ihre Spielzeugautos als Jäger und Gejagter definieren. Oliveiras Filmtechnik unterstreicht bei jeder möglichen Gelegenheit die inszenatorische Setzung, der seine Figuren unterliegen. Am deutlichsten wird dies in der Garderobenszene, in der Gilbert vor dem Spiegel sitzend durch den Maskenbildner ,verjüngt‘ wird. Jede Geste – das Aufsetzen der Perücke, das Ankleben des Schnurrbarts, die Prozedur des Schminkens – verweist in ihrer chiffrenhaften Präzision auf jene vorbereitenden Akte, wie sie in der Ankleidezeremonie von Rittern und Stierkämpfern, Priestern und Klinikärzten die Schwelle von der Normalität zur Theatralität markieren. Der beleuchtete Garderobenspiegel wird hier zum optischen Portal, das der Akteur auf dem Weg von der alltäglichen in die gesteigerte Fiktion durchschreitet. Auf der Bühne und im Leben suggeriert Oliveira die szenatorische Setzung, indem er die ,Einstellung‘ der Kamera durch bildinterne
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Rahmung teils unterstreicht, teils konterkariert. Mehrmals wird so Gilbert durch den Kamerablickwinkel von der Straße durch die Glasfassade des Café hindurch an seinem habitualisierten Caféhaustisch derart in einen Rahmen gesetzt, dass die Selbstinszenierung der Figur offengelegt wird. Diese Medialisierung ergreift von den Hauptfiguren der dargestellten Welt Besitz, ob sie auf der Guckkastenbühne agieren, vor der Filmkamera oder dem Spiegel stehen. Ein Gang durch die neuere Abteilung der Nationalgalerie in Lissabon, aber auch eine kursorische Lektüre von portugiesischen Texten seit der Romantik könnte an dieser Stelle illustrieren, welch durchgängige Faszination gerade in Portugal nicht nur die Pose vor dem Spiegel, sondern auch der Blick aus dem Fenster oder durch die geschlossenen Rollläden ins Freie spielt. Exemplarisch wäre dieses durch die Kategorie ,Innen-Außen‘ veranschaulichte Motiv der ‚attitude‘ in José Maria Eça de Queirós’ Erzählung „José Matias“ zu verfolgen. Bei Oliveira gerät die Verwendung solcher Distanz und Attitüde produzierender Rahmen – Spiegel und Fensterscheibe – zur strukturbildenden Obsession eines filmischen Diskurses, der die agierenden Personen als Eingeschlossene in einer durch Attitüden ritualisierten und begrenzten Welt inszeniert. Man kann sich in diesem Zusammenhang keine charakteristischere Szene vorstellen als den CaféhausDialog Gilberts und seines Agenten, bei dem das gesprochene Wort im Off die in Großaufnahme gefilmten Bewegungen der Schuhe der beiden Gesprächspartner untermalt. Die philosophiegeschichtliche Referenz auf Platons Gastmahl als Archetyp eines Caféhausgesprächs über Gott und die Welt ist evident. Doch während der Schauspielagent den melancholischen Schauspieler dem Leben wiederzugeben hofft, signalisiert die ironisch-diskrete Kamera unter dem Tisch auf raumsemantischem Weg die entgegengesetzte Tendenz. Wie dieses Beispiel deutlich macht, geht die Theatralik der Figuren dennoch nicht problemlos in den so definierten optischen Spielfeldern auf, da die geordnete Ruhe und Langsamkeit der Bilder nicht mit dem Ton korrespondiert. Die gerahmte Welt der Theaterinszenierung und Selbstinszenierung erleidet so beständig Einbrüche einer akustischen Realität, die sich nicht zuletzt durch unkontrollierbare Lautstärke gegen das Spiel der Rahmungen und Inszenierungen etabliert. Ist VOU PARA CASA stellenweise in seinem Verzicht auf jedes unnötige Wort fast ein Stummfilm, so suggeriert Oliveiras artifizieller Umgang mit Bühnentext, Straßengeräuschen und Musik das Ausfransen und Ineinandergehen der Teilwirklichkeiten. Oft ist der Lärm der Straße in den fast geräuschlosen Innenszenen bereits hörbar und stiftet eine Ambivalenz von Innen- und
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Außenwelt. Diese Ästhetik einer die Szenenkonzeption überlagernden Tonspur wird durch einen Einsatz von Musik verstärkt, der die Ambivalenzen der Szenengliederung potenziert. Anders als in den traditionellen Begleitmusiken erhält Musik in diesem Film jedes Mal einen unterschiedlichen Realitätsstatus. Es scheint, als habe Oliveira selbst die Rituale des Inszenierungstyps Filmmusik ambiguisiert. Wenn in der zweiten Theaterepisode die ätherischen Klänge des LohengrinVorspiels eine märchenhafte Epsiode aus Shakespeares The Tempest begleiten, wird die geschichtsinterne Funktion als Untermalung ambivalent, da sich die Szene als Spiel im Spiel erweist: Das optische Arrangement decouvriert eine Illusion, die der Klang erzeugen will. In mehreren Straßensequenzen wiederum tritt zum Straßenlärm der Klang einer Jahrmarktsorgel bzw. eines Drehorgelspielers, die – anders als in der Theatersequenz – nichts untermalen, da sie Teil der städtischen Wirklichkeit sind. Während der Sequenz wiederum, die Gilberts Schuhkauf und seine Spaziergänge durch die Pariser Innenstadt beinhaltet, mischt sich zu den Geräuschen der Straßen, die Gilberts Gespräche mit seinen Fans und einer Verkäuferin überlagern, wie eine unabhängige Stimme Frédéric Chopins Walzer As-Dur op. 69/1. Diese Musik indes lässt sich hinsichtlich ihrer Funktion den bisher diskutierten Beispielen nicht ohne weiteres zuordnen, da das Klavierstück weder Teil der Straßenszene ist, noch adäquater Metadiskurs zu der gezeigten Sequenz. Gerade durch die offenkundig kontrapunktische Beziehung, die das sanfte melancholische Klavierstück mit den Bildern der lärmenden Großstadt eingeht, übernimmt die Musik eine semiotische Funktion als das, was sie ihrem Wesen nach ist, nämlich als Medium eines nicht über die Konventionalität von optischen Bildern zu vermittelnden, non-verbalen Diskurses. Als „Begleitmusik zu etwas, das wir auf der Leinwand nicht sehen“, transponiert das Chopin-Stück in der Sequenz letztendlich nämlich jene inneren Welten, derer sich Gilbert in der äußeren Welt so erfolgreich durch die Macht der verbalen und optischen Inszenierungen erwehrt. Eine Schlüsselfunktion kommt dem Instrumentalstück auch aufgrund seiner traditionsgeschichtlichen Konnotationen zu, hat sich doch bereits im 19. Jahrhundert die Bezeichnung „Abschiedswalzer“ („L’Adieu“14) eingebürgert. Die semantische Konfiguration „Paris, L’adieu, Klavier“ öffnet die Filmbilder konnotativ auf den seit dem späten 18. Jahrhundert zumal im Zusammenhang mit der Metropole Paris immer wieder reflektierten Ideenzusammenhang von Vereinzelung, Stadt, Erinnern und 14 Art. „Chopin“, in: Sadie, Stanley (Hrsg.): The New Grove Dictionary of Music, New York 1980, Bd. 4, S. 308.
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Handeln. Der Wirkung des damit angesprochenen Gegensatzes von Stadt und Individuum sowie Attitüde und Innerlichkeit ist der abschließende Abschnitt gewidmet.
Der Spaziergänger vom Pont Mirabeau Paris change, mais rien n’a changé dans ma mélancholie. (Baudelaire, Le cygne)
Wenn der Film für Oliveira ursprünglich ein poema visual15, ein mit den optischen Mitteln Licht und Bewegung konstruiertes Gedicht war, so macht sich in den späteren Filmen, wie eingangs bereits betont, eine Konkretisierung dieser Konzeption mit zunehmend literarischen Mitteln geltend. Anders als in den früheren Filmen, in denen Oliveira Literatur von Camões bis zu Castelo Branco und Flaubert ‚verfilmt‘, wird Gilberts theatralischer Lebensentwurf in VOU PARA CASA mit literarischen Topoi und Diskursen vergegenwärtigt, die vorzugsweise in der Kultur des französischen Fin de Siècle gründen. So weist Gilberts Versuch, über die gesamte Dauer des Films seine Lebensform von den Katastrophen des Alltags unbeeindruckt aufrechtzuerhalten, zurück auf das Moment der ,attitude‘, jener demonstrativen Gelassenheit, die zumal Charles Baudelaire in seinem Spätwerk in der Gestalt des Dandy umschreibt: „Le dandy doit aspirer à être sublime sans interruption [...]; il doit vivre et dormir devant un miroir.“ 16 Bereits in Baudelaires Schriften handelt es sich beim Dandysme um eine Form von Schauspielerei ohne finanzielle Notwendigkeit. Gilbert lehnt Rollen aus ästhetischen Gründen ab, gibt sich einem moderaten Luxus hin und nähert sich außerhalb der Bühnenwelt einem „Aristokraten ohne Geburtsvorrecht“17, der sich demonstrativ unbeeindruckt durch das Geschick aus der modernen Stadtkultur zurückzieht, in der er lebt und deren spätes Produkt er ist: „Le dandysme est le dernier éclat d’héroïsme dans les décadences; [...] un soleil couchant; [...] un astre qui décline [...].“18 Man darf an dieser Stelle darüber spekulieren, ob Oliveira womöglich zur Charakterisierung von Gilberts fik15 Oliveira, Manoel de: Alguns Projectos nao realizados e Outros Textos, hrsg. von Cinemateca Portuguesa, Lissabon 1988, zit. aus dem Internetdossier gleichen Titels. 16 Baudelaire, Charles: „Mon cœur mis à nu“, in: ders.: Œuvres complètes, hrsg. von Marcel Albert Ruff, Paris 1968, S. 631. 17 Lepenies, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1972, pass. 18 Baudelaire, Charles: „Le peintre de la vie moderne“, in: ders. 1968, S. 560.
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tivem Weltentwurf die Mikrostrukturen von Baudelaires Metaphernkonglomerat adaptiert hat, wenn in dem Film sein Held im Stadtleben und im Beruf immer wieder mit den Motiven des Spiegels und der untergehenden Sonne in Verbindung gebracht wird. Es ist insofern auch kein Zufall, dass Oliveiras Geschichte in derjenigen Stadt angesiedelt ist, die das Dandytum gleichsam professionalisiert hat. Wie die „Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts“19 erhält auch Oliveiras Paris jene ambivalenten Züge von zivilisatorischer Glorie und melancholisch-dämonischer Vereinzelung, die seit dem Fin de Siècle die literarische Topik der ParisLiteratur kennzeichnen: En filmant Paris, vous en avez donné une double image: d’une part il y a le Paris des lumières, des cafés, des boutiques de luxe et de l’autre un Paris nocturne, menaçant. Pourquoi ce choix? Pourquoi Paris? – En liant les deux questions, je dirais pour la première que Paris représente le centre de la vie courante en ville, tandis que pour la seconde, Paris représente le centre universel de la culture 20 occidentale.
Als Welthauptstadt des Dandysme und der Vereinzelung repräsentiert Paris aber zugleich das Zentrum einer Kultur jener Melancholie. Das Motiv des Spaziergängers in der Großstadt, der in demonstrativer Gelassenheit zwischen Schaufenstern und Caféhäusern, in denen er selbst zum Ausstellungsgegenstand wird, pendelt, wird das in der Merkmalskomplexion des Dandysme zentrale Thema. Abweichend von dem seit Baudelaire in dem Terminus spleen konzentrierten Melancholiebegriff bezieht sich aber Oliveira zugleich auf die spezifisch portugiesische Ausformung der Melancholie: die saudade.21 Als nostalgisch wehmütige Abgeschiedenheit und Hang zu rückwärtsgewandter Introspektion erhebt Manoel de Oliveira in dem Caféhausdialog zwischen dem Theateragenten und Gilbert die saudade zur Motivation aller Handlungen seit der familiären Katastrophe: solitudine (sic!), so Gilbert, sei sein Staudamm gegen die Torheiten des Alters. Wie in Baudelaires berühmtesten Gedicht „Spleen II“ wird für Gilbert, wie er seinem Agenten erklärt, die Er-Innerung zur Bastion gegen die Unaufhaltsamkeit der Zeit, gegen deren äußeres Wirken er sich mit der Theatralisierung zur Wehr setzt. So erweist sich seine Selbstinszenierung 19 Benjamin, Walter: „Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“, in: ders.: Illuminationen, Frankfurt a.M. 1977, S. 136-169. 20 Wie Anm. 8. 21 von Irmer, Horst: „,Saudade‘. Versuch einer Darstellung“, in: Die Neueren Sprachen 8 (1966), S. 345-355.
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als extreme Form, der Gefährdung durch die Zeitlichkeit entgegenzuwirken. Der Propagandist der saudade lebt umgeben von einer ständig sich wandelnden äußeren Wirklichkeit eingeschlossen in einer inneren Welt, für deren Unwandelbarkeit die mythische Macht der Memoria bürgen soll. Auch hierfür ist Gilbert gleichsam professionell geeignet, ist er doch als Schauspieler an das Memorieren und die daraus resultierende Erzeugung von Gegenwelten durch den Sprechakt gewöhnt. Es geht also insofern in VOU PARA CASA nicht nur um die Theatralität der äußeren Existenz des Protagonisten, sondern vor allem um die Ver-Bildlichung des mentalen Internalisierungsprozesses, den Baudelaire in dem erwähnten „Spleen“-Gedicht durch eine Vergegenständlichung der Speichermedien der menschlichen Seele vorweggenommen hat. Oliveiras filmische Leistung beruht in der kongenialen optischen Umsetzung dieses Aktes der Memoria durch Klang und Bewegungsbild. Auch hier verlohnt ein Blick auf die semiotische Komponente des daraus erzeugten Bild-Klang-Konglomerats. Auf die semantische Bedeutung des Chopinwalzers in der Boulevard-Episode war andeutungsweise verwiesen worden; bedenkt man, dass zumal die Musik Chopins den Zeitgenossen bereits als „Melancholie und Grazie unseres Jahrhunderts“22 galt, mithin zum Inbegriff der klanglichen Vergegenwärtigung von Dandysme und Melancholie wurde, so wird daran sichtbar, wie Oliveira in der Episode den Nexus von Theatralik und Vergangenheitsbewältigung durch die traditionsbezogene Semantik (Chopin, The Singing Butler, Paris) seiner spezifischen Bild-Klang-Konzeption verwirklicht. Wenn am Ende des Films das abendliche Paris zu den Klängen einer Drehorgel erscheint, bekräftigt Oliveira sein ideengeschichtliches Klang-Bild-Netzwerk neuzeitlicher Selbstinszenierung durch den semantischen Rückbezug auf die Chanson „Le Pont Mirabeau“ aus Apollinaires Alcools. Der Refrain des Gedichts, stellt wiederum geradezu die Identität der Film-Bilder und des gesungenen Worts her, indem er, auf den Filmtitel VOU PARA CASA Bezug nehmend, die Resignation des durch den Gedächtnisverlust zum Stillstand gekommenen Flaneurs resümiert: Vienne la nuit sonne l’heure 23 Les jours s’en vont et je demeure.
Es entspricht dem Wesen des spleen und der saudade, dass das Subjekt seine Kunstwelten nur im Rekurs auf Vorgängiges entfalten kann. Die 22 Franz Liszt 1885, zitiert bei Helm, Everett: Franz Liszt, Reinbek bei Hamburg 1972. 23 Apollinaire, Guillaume: Alcools (suivi de Le Bestiaire), Paris 1976, S.15f.
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Flut innerer Bilder, die Selbstinszenierung und Selbstvergewisserung zugleich sind, gründen in der Macht der Memoria. Wie sich zu Beginn von VOU PARA CASA auf der Bühne Bérengers Haltung gegenüber der skandalösen Störung des Todes vor den Umstehenden mit dem Ausspruch „le roi délire“ in seiner Absurdität manifestiert, so könnte dieser Satz als Motto über Gilberts Versuch stehen, auf die Herausforderungen der Wirklichkeit mit prononcierter Gleichgültigkeit zu reagieren. Das Delirium einer durch literarisch präformierte Verhaltensweisen und Perzeptionsmuster ritualisierten Wirklichkeit wird folgerichtig in jene Anagnorisis hypostasiert, der sich Gilbert Valence (valens =„der etwas zur Wirkung bringt“) bislang so gekonnt verweigerte. Erkennen heißt Vergessen, doch das Verlöschen der Mnemosyne bedeutet zugleich auch das Ende des Theaters.
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Anhang: Skizze der Makrostruktur von Oliveiras VOU PARA CASA I
Theater I: Ionesco: Le roi se meurt. Die Todesnachricht
II
Zimmer I: mit Balkon und Gartenblick: das Enkelkind Serge
III
Paris I: Blick auf das Palais Chaillot, die Boulevards: Straßencafé, Bildergalerie, Autogrammfans, Schuhkauf (L’adieu, Frauenkopf der Schaufensterpuppe, blickt auf Reproduktion von Jack Vettrianos The Singing Butler)
IV
Nacht I: Palais Chaillot und Eiffelturm nachts. Jahrmarktsorgel
V
Theater II: Shakespeares The Tempest mit Lohengrin-Musik
VI
Paris II: Dialog im Straßencafé (optisches Leitmotiv: Schuhe)
VII
Nacht II: In einer Seitenstraße in Paris: Bedrohung durch den Drogenabhängigen, Verlust der neuen Schuhe
VIII
Paris III: Straßencafé, Zeitungslektüre
IX
Büro des Agenten I
X
Paris IV: Boulevard, Drehorgelmann, der „Le pont Mirabeau“ spielt. Schulhof, spielende Kinder
XI
Zimmer II: Gilbert und Serge, Rennautos auf dem Teppich
XII
Nachts III: Gilberts Haus
XIII
Zimmer III: Telefonanruf des Agenten
XIV
Büro des Agenten II: Ulysses-Filmangebot
XV
Garderobe: Schminkszene
XVI
Filmset I
XVII
Zimmer IV: Gilbert schlafend, Serge
XVIII Filmset II XIX
Paris V: Gilbert in der Bar, Boulevard
XX
Treppenaufgang in Gilberts Haus
GREGOR SCHUHEN
DIVA HYSTERIE MORD – STARKULT UND THEATERKUNST IN FRANÇOIS OZONS 8 FEMMES Der Begriff der „Diva“, so scheint es, erfreut sich in unserer heutigen Massenkultur einer ausgesprochen großen Beliebtheit. Die Liste der Beispiele erweist sich nach dem Studium von Boulevardblättern oder aber Celebrityshows im Fernsehen rasch als uferlos. Es stört demnach kaum noch, wenn in der ZEIT vom 11. Juli 2002 eine Rezension zu François Ozons Kriminalkomödie 8 FEMMES mit dem vielsagenden Titel „Die Tiefen der Diven“ überschrieben ist. Schließlich stehen namhafte Schauspielgrößen wie u.a. Catherine Deneuve, Fanny Ardant oder aber Isabelle Huppert in jenem Film unter dringendem Mordverdacht. Die Frage drängt sich nun auf, was den „Star“ als solchen – und davon gibt es in Ozons Film Acht an der Zahl – von dem Prädikat der „Diva“ unterscheidet oder ob es überhaupt noch eine Unterscheidung zwischen jenen beiden Termini gibt. Tatsache ist, dass beide Begriffe vor allem in den Medien schlagwortartig, unreflektiert und nahezu inflationär bei jeder sich bietenden Gelegenheit eingesetzt werden, da sich der Starfaktor innerhalb der Massenkultur als nachhaltiger Erfolgsgarant erwiesen hat. Die Qualitäten der Diva werden dabei entsprechend ihres grammatikalischen Genus eher weiblichen Vertretern des Starsystems attribuiert unter Ausnahme von Transvestiten oder aber prominenten Repräsentanten der so genannten Gay Community – kurz: Sonderfällen innerhalb der symbolischen Ordnung. In ihrem jüngsten Buch Diva. Eine Geschichte der Bewunderung1 unternimmt Elisabeth Bronfen zusammen mit Barbara Straumann erstmalig den Versuch, die Diva vom Phänomen des klassischen Stars abzugrenzen, indem sie die Diva als geschlechtsübergreifendes, massenmedial konstruiertes und gleichsam ambivalentes Kulturphänomen der Moderne resp. Postmoderne klassifiziert. Bereits auf dem Umschlag1 Bronfen, Elisabeth/Straumann, Barbara: Diva. Eine Geschichte der Bewunderung, München 2002.
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photo wird das weiter oben beschriebene Stereotyp, die Diva habe weiblich zu sein, auf subversive Weise aufgebrochen, da unter den fetten, goldenen Lettern DIVA keineswegs eine Photographie von Marlene Dietrich oder Greta Garbo zu sehen ist, sondern ein Porträt von Elvis Presley, dem King. So befinden sich im Buch selbst neben Essays über die Diven „par exellence“ Maria Callas, Sarah Bernhardt oder Evita Perón gleichwohl Artikel über männliche Diven wie Joseph Beuys, Andy Warhol oder aber Ludwig II. von Bayern. Im Zentrum dieser überaus anregenden Ikonensammlung steht von Beginn an die These, dass es sich bei der Diva um einen „Unfall im mythischen System des Starkults“2 handele. Die Ursache hierfür sieht Bronfen in dem ständigen Grenzgängertum, auf dessen Basis sich die Diva zwischen den mythologischen Polen von „Himmel und Hölle“ selbst inszeniert, d.h. die Diva führt ihr Leben im Schnittpunkt von überirdischem Startum und einer offenkundigen Versehrtheit ihrer realen Person. Mit anderen Worten: Die Diva „verkörpert nicht nur einen künstlich erstellten Glamour, sondern verschränkt ihren zeichenhaften Kunstkörper mit existentiellem Schmerz und bringt damit den realen Leib in seiner Fragilität und Versehrtheit wieder ins Spiel.“3 Dieser Befund schlägt sich vor allem in den Biographien von Marilyn Monroe und Maria Callas nieder, aber auch im Fall von Romy Schneider, deren Leben einem spannungsreichen Schwebezustand gleichkam, ja einem Oszillieren zwischen „Lebensbejahung und Todestrieb.“4 Davon wird an späterer Stelle noch zu reden sein. Auch Ozon erweist sich in vielerlei Hinsicht als Grenzgänger, sein Film erscheint als hybrides Kunstwerk, das den Zuschauer durch zahlreiche Vexierspiele mit den Kategorien Genre, Schein/Sein und vor allem mit der Medialität seiner Diegese führt und ver-führt. Von Anfang an macht Ozon keinen Hehl daraus, dass der Zuschauer keineswegs einen herkömmlichen Film im klassischen Sinn von mimetischem Realismus bzw. Naturalismus zu erwarten hat. Das Setting entpuppt sich vielmehr als Huis Clos in Form eines durch Schneemassen von der Außenwelt abgeschnittenen Landhauses. Die gesamte Handlung spielt sich innerhalb dieses Gebäudes ab, dessen künstliches Interieur ganz in TechnicolorOptik eine historische Einordnung in die fünfziger Jahre erahnen lässt. Und in der Tat handelt es sich bei 8 FEMMES unter anderem um eine Hommage an das Hollywood-Kino europäischer Exilregisseure der fünfziger Jahre, was gleichermaßen anhand der Kostüme besonders 2 Ebd., S. 46. 3 Ebd., S. 49. 4 Ebd., S. 63.
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deutlich wird.5 Als Plot liefert uns Ozon eine Adaption bzw. filmische Transformation des gleichnamigen Theaterstücks von Robert Thomas6 aus dem Jahre 1961. Die mediale Hybridisierung von Film und Theater, die Ozon in seinem Werk vollzieht, offenbart sich sogleich innerhalb der ersten diegetischen Bilder des Films. Die Schauspielerinnen, die Ozon auf die buchstäbliche Bühne des Lebens schickt (man könnte auch sagen: in die Arena) besitzen allesamt einen hohen Popularitätsgrad, insbesondere in Frankreich. Man darf demnach Ozons cineastisches Kammerspiel völlig zu Recht mit der Etikettierung „Starkino“ versehen. Freilich liegt es im alltagssprachlichen Sinne nahe, den Film aufgrund dessen als ein ‚Gipfeltreffen der Diven‘ zu bezeichnen, was in nahezu jeder Rezension geschehen ist, – die durchweg weibliche Besetzungsliste würde jenen Befund unterstreichen. Was der gesamten Starriege jedoch fehlt, ist eine entscheidende Figur, die für das Leben einer Diva unerlässlich scheint, namentlich die Figur des Todes. Ozons 8 FEMMES wirft demnach eine Reihe an Fragen auf, die sich aus seiner intermedialen Konzeption ergeben und letztlich auf die Dichotomien Film vs. Theater, Star vs. Diva oder ganz allgemein Schein vs. Sein zurückführbar sind. Die Subversivität von Ozons Inszenierung weicht all jene Kategorien ganz bewusst auf, so dass keine klare Einteilung mehr möglich ist. Eben diese Hybridisierung soll im Folgenden genauer untersucht werden.
1.
Film vs. Theater
Die Tatsache allein, dass es sich bei 8 FEMMES um die Verfilmung eines Theaterstückes handelt, reicht wohl kaum aus, um von einem Theater/Film zu reden. Vielmehr, so scheint es, muss eine Reihe von Strukturen gegeben sein, die innerhalb des Films ein regelrechtes theatralisches Dispositiv herstellen. Jenes Dispositiv kann durch einfache Faktoren wie Setting, Gestik oder aber die Handlung selbst manifestiert werden. Dies gilt freilich in besonderem Maße für Ozons Frauenfilm: Der theatralische Mikrokosmos, in dem sich die Schauspielerinnen von 5 Vgl. Ozon, François: 8 femmes. Scénario, Paris 2002, S. 5. 6 Ein in Vergessenheit geratener Theaterautor aus den sechziger Jahren, der seine größten Erfolge mit Boulevardstücken hatte. Ozon wollte ursprünglich ein Remake von George Cukors Frauenfilm THE WOMEN (1939) drehen, allerdings waren die Filmrechte bereits an Julia Roberts und Meg Ryan verkauft.
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Anfang an bewegen, lässt kaum einen Blick auf die Außenwelt zu. Die Eingangshalle, die als Hauptbühne fungiert, da sich in ihr der größte Teil der Handlung abspielt, erscheint wie in klassischen Boulevardstücken im Rhythmus knallender Türen, ständig wird das Bild durch schwere, rote Samtvorhänge eingerahmt, und im Zentrum befindet sich eine Showtreppe, welche an die großen Hollywood-Musicals erinnert.7 Einzig kurze Einstellungen, die die verschneite Außenfassade des Hauses zeigen, erinnern den Zuschauer daran, dass es doch noch ein „Jenseits der Bühne“ zu geben scheint. Hervorzuheben ist jedoch an dieser Stelle, dass die Winterlandschaft – ebenso wie das Interieur des Hauses – keineswegs naturalistisch erscheint. Nach genauerem Hinsehen kann der Zuschauer leicht erkennen, dass es sich nur um gemalte Kulissen handelt, d.h. 8 femmes ist ein komplett im Studio gedrehter Film, was zu der Annahme führt, dass es ein „Jenseits der Bühne“ in Ozons Kammerspiel gar nicht gibt. Vielmehr, so will es scheinen, fungiert das winterliche Setting lediglich als eine Verlängerung des häuslichen Schauplatzes. Bliebe zu fragen, worin denn die Funktion jener antinaturalistischen Naturaufnahmen bestehe. Diese kurzen Takes, die uns gewissermaßen einen Nicht-Ort8 vor Augen führen, dienen der Inszenierung Ozons als Legitimationsstrategie insofern, als er dem Publikum immer wieder vor Augen hält, warum sich die Handlung ausschließlich auf die theaterhaften Räume des Landhauses beschränkt. Man könnte auch sagen, dass jene kurzen verschneiten Außenaufnahmen, die eine plastische Kontrastfolie zur erhitzten Atmosphäre innerhalb des Hauses darstellen, dem Zuschauer als Ruhepausen zwischen den erbarmungslosen Rededuellen der Protagonistinnen dienen. In Bezug auf das theatralische Dispositiv erzeugen die kurzen Außenaufnahmen vor allem eine Einteilung des Films, welche an die Akte eines Theaterstücks erinnert. Im Drehbuch zum Film nimmt Ozon selbst eine ähnliche Einteilung vor: Er teilt das Stück entsprechend der je unterschiedlichen Tageszeit in vier Teile (MATIN, FIN DE MATINÉE, L’APRÈS-MIDI, LE SOIR), d.h. in vier Akte ein. Die temporale Struktur des Films umfasst demnach einen Tagesablauf, was wiederum bedeutet, dass 8 femmes ganz im Aristotelischen Sinn9 neben
7 Vgl. Nicodemus, Katja: „Die Tiefen der Diven“, in: Die Zeit, Nr. 29, (Juli 2002). 8 Ein Nicht-Ort insofern, als ein heterotopisches Niemandsland dargestellt wird, das zwar auf gewisse Weise der Handlung angebunden ist, aber dennoch keinen unmittelbaren Schauplatz darstellt 9 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch, hrsg. u. übers. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 17: „[...]: die Tragödie versucht, sich nach
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der Einheit des Ortes gleichwohl eine Einheit der Zeit aufweisen kann. Diese grundlegende Struktur trägt einen maßgeblichen Anteil am theatralischen Dispositiv des Films und ermöglicht somit die Illusion des Zuschauers, einem Stück in Echtzeit beizuwohnen. Auch die Dialoge unterstützen ihrerseits die Theatralität des Films, denn fast schon im Racineschen Stil handelt es sich bei 8 FEMMES um reines Sprechtheater, das nahezu die gesamte Handlung bestimmt. Der angebliche Mord am Hausherrn, der zunächst im Zentrum des Interesses zu stehen scheint, jedoch immer mehr durch die Enthüllungen der Frauen zurückgedrängt wird, findet symptomatischerweise verborgen vor den Augen des Publikums statt, buchstäblich ob-scène. Jener fingierte Mord an Marcel dient gewissermaßen als Auftakt zur eigentlichen Handlung. Man könnte den Beginn des Films mit der an Elisabeth Bronfen angelegten Formel „Nur über seine Leiche“10 überschreiben. Erst der Tod des Patriarchen setzt die symbolische Ordnung zunächst außer Kraft und legitimiert somit schließlich den Titel des Films. Vordergründig dreht sich von nun an alles um die Suche nach der Mörderin, d.h. die Genreeinteilung „Kriminalkomödie“, die in den meisten Rezensionen zu 8 FEMMES vorgenommen wird, findet so ihre oberflächliche Begründung. In Wirklichkeit jedoch ist der Film viel mehr als nur ein kriminalistisches Theaterstück. Die klassische Thematik des „Whodunnit“ dient lediglich als Vorwand, als doppelbödige Matrix für die sich anschließenden Ereignisse. Da jede der acht Frauen eine je unterschiedliche Beziehung zu dem Ermordeten hatte, die nach und nach ans Tageslicht gelangt, bleibt der Hausherr im Bewusstsein des Publikums sehr lebendig. Wie im Theater fungiert das Medium der gesprochenen Sprache hierbei als Hauptinformationsquelle, was bedeutet, dass der Zuschauer den Ermordeten lediglich durch die unterschiedlichen Perspektiven „seiner“ Frauen kennen lernt. Bis auf einige wenige flashbacks, die wiederum als filmische Erinnerungsdarstellung nur die subjektiven Positionen einzelner Frauen illustrieren, bleibt Ozon dieser theatralischen Tradition verpflichtet. Er setzt auf die Performativität von Sprechakten und hier vor allem auf die Kunst der Lüge, auf der meines Erachtens die Struktur des gesamten Film basiert. Keine der Darstellerinnen wird nicht mindestens einmal (meistens jedoch mehrmals) durch eine ihrer Mitverdächtigen als Lügnerin entlarvt: Mamy, dargestellt von Danielle Darrieux ist keineswegs Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder nur wenig darüber hinauszugehen; [...].“ 10 Vgl. Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche. Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, München21994.
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die liebende Großmutter und Schwiegermutter des Ermordeten, sondern eine geldgierige Schlange, die ihr körperliches Gebrechen nur inszeniert; Gaby (Cathérine Deneuve) ist nicht die treue Ehefrau und leibliche Mutter von Suzon, sondern eine Ehebrecherin und lediglich Suzons Stiefmutter, etc. Die (Lebens-)Lüge steht somit stets im Zentrum des Geschehens und ist gleichzeitig die theatralische Inszenierungsstrategie der Figuren. Die allgemeine Kunst des Lügens als individuelles Selbstinszenierunsmedium geht in der französischen Literaturgeschichte auf eine lange Tradition zurück. Sie beschäftigte bereits die Moralisten des 17. Jahrhunderts, hier besonders La Rochefoucauld, der ex negativo über die Aufrichtigkeit der Menschen schreibt: La sincérité est une ouverture de coeur. On la trouve en fort peu de gens; et celle que l’on voit d’ordinaire n’est qu’une fine dissimu11 lation pour attirer la confiance des autres.
Quintessenz dieses Aphorismus wäre: Wir alle lügen und inszenieren uns ständig, um das Vertrauen anderer zu erwecken. Diese nahezu aporetische Erkenntnis antizipiert in gewisser Weise das Verständnis des theatrum mundi, das uns Erving Goffman in Presentation of Self in Everyday Life (1959) präsentiert, dessen recht freie Übersetzung ins Deutsche bezeichnenderweise mit Wir alle spielen Theater überschrieben ist.12 Dort lautet es in Bezug auf „Unwahre Darstellungen“: Wie schon erwähnt, kann das Publikum sich in einer Situation dadurch orientieren, daß es den Hinweisen der Darsteller Vertrauen schenkt und sie als Anzeichen für etwas Größeres als die Zeichen selbst, bzw. als etwas von diesen Unterschiedenes behandelt. Besteht nun einerseits wegen dieser Neigung des Publikums, Zeichen zu deuten, für den Darsteller die Gefahr, missverstanden zu werden, und wird er gezwungen, bei allem, was er in Gegenwart seiner Zuschauer tut, darüber zu wachen, was sein Tun in den Augen der Anderen implizieren könnte, so wird andererseits das Publikum durch diese Neigung der Gefahr ausgesetzt, getäuscht und irregeführt zu werden; denn es gibt nur wenige Zeichen, die nicht missbraucht werden können, um die Existenz von etwas, das 13 in Wirklichkeit nicht vorhanden ist, zu beweisen.
11 La Rochefoucauld, Réflexions ou Sentences et Maximes morales suivi de Réflexions diverses et des Maximes de Madame de Sablé, Paris 1976, S. 54. 12 Vgl. Goffmann, Erving: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München/Zürich 1983. 13 Ebd., S. 54.
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Jene Erkenntnis lässt sich im doppelten Sinne auf 8 FEMMES anwenden, da man sie auf zwei Ebenen gleichzeitig zurückführen kann. Zum einen verweist Goffman hier auf die Achse Film-Zuschauer, eine Metaebene also, von der im letzten Teil dieses Beitrags noch zu reden sein wird. Zum anderen geht es um die Beziehungen der Filmfiguren untereinander, von denen jede einzelne stets als Darstellerin vor sieben anderen agiert. Allerdings soll an dieser Stelle nicht die Inszenierung mit der Lüge in eine 1:1-Korrelation überführt werden, genauso wenig, wie der Gegenpol zur Inszenierung die Aufrichtigkeit wäre.14 Tatsache ist jedoch, dass die Lüge in je unterschiedlichen Nuancierungen immer auch als Bestandteil einer individuellen Selbstinszenierung zu erachten ist. Diesen Befund finden wir sowohl in der libertinen Literatur des 18. Jahrhunderts, als deren emblematischer Vertreter innerhalb Frankreichs Choderlos de Laclos mit seinen Liaisons dangereuses zu nennen wäre, als auch – um auf das Medium Theater als solches zurückzukommen – in den karnevalesk-moralistischen Stücken von Marivaux. Susan Sontag konstatiert in ihrem Essay „Theater und Film“, dass die Lüge eine für die Ästhetik des Theaters typische Figur sei. Die Theatralität der Verstellung innerhalb des Bühnenmediums kontrastiert sie mit der „Apotheose des Realismus“, die im Film gemeinhin angestrebt wird. Der Film, hohe Kunst und volkstümliche Kunst zugleich, wird als die Kunst des Authentischen betrachtet. Theater dagegen bedeutet 15 Aufputzen, Verstellung, Lüge.
Durch seine Nähe zum Theater kann, wie bereits erwähnt, in Ozons Frauenfilm kaum die Rede von Realismus sein. Durch 8 FEMMES zieht sich vielmehr ein regelrechtes Netzwerk an Lügen, Geheimnissen und Maskeraden, was nicht zuletzt anhand des benutzten Vokabulars abzulesen ist: Wörter wie mentir, secret, masques, faux témoignages, verité, savoir, cacher bilden innerhalb der Handlung nachgerade ein Paradigma, das stets zwischen den Polen Wahrheit und Lüge bleibt und dessen klarer Impetus von einer unermüdlichen Volonté de Savoir seitens der Figuren gekennzeichnet wird. Die latente Unentscheidbarkeit angesichts der Aufrichtigkeit der gemachten Aussagen wird jedoch an genau acht Punkten 14 Diese Schwierigkeit der Dichotomisierung Inszenierung-Wirklichkeit thematisieren Josef Früchtl und Jörg Zimmermann in: „Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines gesellschaftlichen, individuellen und kulturellen Phänomens“, im gleichnamigen Sammelband (Frankfurt a.M. 2001), S. 9–47; bes. S. 11ff. und S. 20f. 15 Sontag, Susan: „Theater und Film“, in: dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen, Frankfurt a.M.51999, S. 213-236; hier: S. 216.
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durchbrochen. Jede der Frauen singt während des Films ein bekanntes französisches Chanson, was zu der Schlussfolgerung führen könnte, es handele sich bei 8 FEMMES um einen Musicalfilm. Das ist jedoch nicht der Fall: Die Lieder tauchen zumeist völlig unerwartet auf, weisen lediglich eine äußerst spärliche Choreographie auf und scheinen überhaupt nur vage in die Handlung integriert zu sein. Der Gesang gehört somit nicht, wie das bei reinen Musicalfilmen der Fall ist, zur festen Struktur des Plots. Dennoch kommt den Chansons in 8 FEMMES eine stark mediale Funktion zu. Während die Dialoge der Frauen den Zuschauer angesichts des Wahrheitsgehalts stets im Unklaren lassen, so liefern die zumeist melancholischen Lieder einen Blick in das Innenleben der Figuren. Isabelle Huppert sagt in einem Interview: „Les chansons révèlent la profondeur des personnages.“16 Diese Aussage lässt sich insbesondere anhand der von Huppert selbst gespielten Figur der Tante Augustine verifizieren. Augustine ist zweifelsohne diejenige Rolle, die das meiste theatralische Potential in sich birgt. Ihrem (Lebens-)Motto „J’ai raté ma vie!“17 verleiht sie zum einen durch ihr überzogenes schrulliges Gebaren Ausdruck und zum anderen durch ihr permanentes Inszenieren angeblicher Krankheiten, d.h. durch ihre Hysterie. In Studien jüngeren Datums, die vielschichtige Kulturgeschichten der Hysterie darlegen, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich aufgrund fehlender organischer Ursachen bei der Hysterie um eine regelrechte „Krankheit der Simulation“18 handelt. Berühmt geworden sind die Photographien des Arztes Jean-Martin Charcot aus der Pariser Klinik La Salpêtrière, die jene hysterische Gebärdensprache der dortigen unter Hypnose stehenden Patientinnen zeigen, die so stark an die großen Gesten von Theaterschauspielerinnen erinnern. Jene Ikonographien der Hysterie, die in Form von photographischen Pathosformeln einen veritablen Gebärdenkatalog vorführen, dienten den Theaterdiven wie Sarah Bernhardt bezeichnenderweise als Inspirationsquellen ihrer Bühnenarbeit. Wenn man sich nun die Rolle der Tante Augustine genauer ansieht, so bekommt man in bewegten Bildern eben diesen Gebärdenkatalog Charcots geliefert: In nahezu archetypischen Posen verwandelt Huppert
16 Entretien avec Isabelle Huppert. Zu finden auf der DVD von 8 FEMMES, Hachette Filipacchi Films 2002. 17 Ozon 2002, S. 104. 18 Bronfen/Straumann 2002, S. 77. Vgl. zur Theatralik der Hysterie ebenso Bronfen, Elisabeth: Das verknotete Subjekt. Hysterie in der Moderne, Berlin 1998 sowie Didi-Hubermann, Georges: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München 1997.
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den Bühnenraum der Handlung in ein hysterisches Spektakel, in dem ihre Mitstreiterinnen oftmals nur noch als Statistinnen agieren (Abb. 1). Abbildung 1: Screenshots, 8 FEMMES
Insbesondere Catherine Deneuve verblasst aufgrund ihrer statuarischen Darbietung vor ihrer energischen Kollegin. Dem pathologischen Aspekt von Hupperts Rolle wird von Anfang an Rechnung getragen, als Gaby ihre Mutter in Bezug auf das impulsives Auftreten ihrer Tochter Cathérine fragt: „Tu la préférais neurasthénique comme Augustine?“19 Es ist demnach vornehmlich die Hysterie, die das theatralische Potential von Tante Augustine manifestiert. Jenes eingebildete Leiden und die Lust an der Simulation werden jedoch durch das von ihr dargebotene Chanson „Message personnel“ von Francoise Hardy unterlaufen. Während dieser im besten Sinne performativen Darbietung erhält der Zuschauer einen – freilich durch die Musikalisierung stilisierten – Einblick in das Seelenleben jener zerrissenen Figur. Sätze, wie „Je suis seule à crever“ oder „Si le dégoût de la vie s’installe en toi, pense à moi“20, geben Aufschluss über die eigentliche Fragilität von Augustine, die unter ihrem schrulligen Auftreten verborgen liegt. Es sind die psychologischen Abgründe aller Figuren, die jeweils durch die Medialität der Lieder ans Tageslicht gelangen. Jene musikalischen Einlagen kulminieren am Ende in dem von Danielle Darrieux vorgetragenen Chanson „Il n’y a pas d’amour heureux“. Die ernüchternde Erkenntnis über den Sinn der Liebe wird signifikanterweise von der ältesten der Frauen vorgetragen und lehrt uns gewissermaßen in Form eines vertonten Gedichtes von Louis Aragon, dass unglückliche Lieben einfach die besseren Theater-/Filmgeschichten sind.
19 Ozon 2002, S. 18. 20 Ebd., S. 43.
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Star vs. Diva
Sie sind allesamt Stars, jene acht Frauen aus dem gleichnamigen Film – daran besteht wohl kein Zweifel. Der Einsatz von Stars hat sich im Laufe der Filmgeschichte als nachhaltiger Erfolgs- bzw. Verkaufsgarant von Filmen entwickelt.21 Aber es steht immer noch die eingangs formulierte Frage im Raum nach den ‚göttlichen‘ Qualitäten dieser weiblichen Stars, zumindest der älteren Riege; für die beiden Jungdarstellerinnen Virginie Ledoyen und Ludivine Sagnier erübrigt sich das Problem aufgrund ihrer unverbrauchten jeunesse. Die alltagssprachliche Rede von den Diven der heutigen Zeit lässt sich mit der Bronfenschen Theorie der DIVA freilich nur schwer in Einklang bringen. Weniger schwer jedoch lassen sich Ozons Frauen mit den gängigen Star-Theorien Richard Dyers oder aber Edgar Morins untersuchen, da es durchaus Verknüpfungspunkte zwischen den jeweiligen Theoremen gibt. So unterscheiden alle Theoretiker, wenn sie über Stars bzw. Diven sprechen, zwischen dem öffentlichen Starkörper auf der einen und dem realen Leib der Stars auf der anderen Seite. Richard Dyer etabliert jenes Theorem, das fortan jeglichen Umgang mit dem Phänomen bestimmen wird und auch in Studien jüngeren Datums22 immer noch entscheidend ist, schon im Jahr 1979 folgendermaßen: Stars are, like characters in stories, representations of people. [...] However, unlike characters in stories, stars are also real people. [...] Stars, as I’ve already suggested, collapse this distinction between the actor’s authenticity and the authentication of the character s/he 23 is playing.
Das Verwischen der Grenzen zwischen Realperson und Image wird auch von Bronfen als grundsätzliches Insigne hervorgehoben. Dennoch evaluiert sie den Spezialfall der Diva als „Unfall im Mythensystem des Stars.“24 Der Grund hierfür liegt in einer Figur, deren Fehlen ich bereits weiter oben für die gesamte Schauspielerriege von 8 FEMMES konstatiert habe, namentlich der Figur des Todes. Das soll jedoch nicht bedeuten, 21 Vgl. Lowry, Stephan/Korte, Helmut: Der Filmstar. Brigitte Bardot, James Dean, Götz George, Heinz Rühmann, Romy Schneider, Hanna Schygulla und neuere Stars, Stuttgart/Weimar 2000, S. 15: „Star-Besetzungen sollten quasi-automatisch einen erfolgreichen Film garantieren.“ 22 Vgl. ebd. Hier ist der Bezug zu Dyer vor allem im grundsätzlichen Einführungskapitel („Das Phänomen Filmstar“, S. 5-30) evident. 23 Dyer, Richard: Stars. New Edition with a Supplementary Chapter and Bibliography by Paul McDonald, London [1979] 1998, S. 20f. 24 Bronfen/Straumann 2002, S. 46.
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dass ein toter Filmstar automatisch das notwendige Potenzial zur Diva aufweisen würde, ebenso wenig ermöglicht der Tod zwangsläufig eine Divinisierung des Stars. Der frühe Tod eines Stars stellt zweifelsohne einen „Kann“-Faktor in Bezug auf ein Nachleben als Diva dar – ganz im Sinne des Menander-Diktums „Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben.“ Nichtsdestotrotz attribuiert Bronfen den Diva-Status gleichsam noch lebenden Stars wie Madonna, was eine Unterscheidung von klassischer und (post-)moderner Diva nach sich zieht. So konstatiert sie in ihrem Madonna-Kapitel: „Nicht die Diva als klassisches Opfer dient ihr als Vorbild, sondern das lustvoll demonstrierte Spiel mit der Macht weiblicher Sexualität.“25 Das bedeutet mutatis mutandis, dass es sich nicht notwendigerweise um den realen Tod als solchen handeln muss, der den Star zur Diva erhebt. Jene Gratwanderung ‚zwischen Himmel und Hölle‘, ,zwischen Macht und Opferrolle‘, die für das Leben einer Diva so entscheidend ist, spielt neben dem realen Tod gleichsam auf inszenatorische Versatzstücke an, die eng damit verknüpft sind: Selbstverausgabung, Todessehnsucht, morbide Hysterie, Spiel mit der Idee des eigenen Todes, etc. Dass es sich nun bei 8 FEMMES um Starkino handelt, lässt sich durchaus im doppelten Sinn verstehen: zum einen, und darauf wurde schon mehrfach hingewiesen, aufgrund der prominenten Schauspielerauswahl, die dem Film als äußerst publicityträchtige Vermarktungsstrategie diente. Der Film hätte zweifelsohne nicht halb so viel Beachtung auf sich gezogen, wenn es sich um eine Verfilmung des gleichen Stoffes mit No-Name-Besetzungen gehandelt hätte. Zum anderen aber, und darin offenbart sich wiederum die Diva-/Star-Problematik, weist 8 FEMMES eine von Selbstironie geprägte Selbstreferentialität auf, welche insbesondere anhand der Figur Gaby alias Cathérine Deneuve, die gewissermaßen das „natürliche Zentrum von Ozons Ensemblefilm“26 darstellt, illustriert wird. Ozon feiert nämlich mit seinem Zusammentreffen von namhaften Schauspielerinnen im Alter von achtzehn bis achtzig einen unterhaltsamen Querschnitt französischer Filmgeschichte, der uns durch die Präsenz seiner Akteurinnen Regisseure von Luis Buñuel über Roger Vadim bis hin zu François Truffaut wieder vor Augen führt. Durch die weiter oben bereits besprochene Theatralik des Films und die damit verbundene Kunst der Verstellung wird nahezu permanent der Akt der Schauspielerei visualisiert und zugleich karikiert. Wenn man 8 FEMMES im Sinne der Theaterästhetik als Boulevardkomödie verstehen will, dann wird durch 25 Ebd. S. 202. 26 Nicodemus 2002.
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das sukzessive Entlarven von Abgründen, die jeweils hinter jeder der Figuren lauern, ironisch-subversiv auf den Enthüllungsjournalismus der Boulevardpresse Bezug genommen, mit dem nahezu alle Stars zu kämpfen haben. Hierbei liefern Themen wie uneheliche Kinder, Inzest, Mord, Ehebruch, homoerotische Tendenzen den willkommenen Nährboden für medienwirksame Skandale, die auf den Titelseiten einschlägiger Rainbowpress-Gazetten verhandelt werden. Zudem sehen wir keine der Frauen jemals in einer halbwegs authentischen Darstellung. Makellose Kostüme, zu dick aufgetragenes Make-Up und theatralische Gesten verhindern jeglichen Blick auf annähernd reale Persönlichkeiten. Es geht ausschließlich um eine möglichst stilisierende Inszenierung von reinen Kunstfiguren, um massenmediale Konstrukte – kurz: um Stars. Die subtile Reflexion über das Leben der Stars, die der Film auf konnotativer Ebene vollzieht, offenbart sich zumeist in Form von filmischen Zitaten, aber auch vermittels eigenständiger Szenen, von denen eine besonders augenfällig die Thematik ‚Startum‘ flankiert.
2.1
Die ‚neunte‘ Frau: Romy Schneider
Kurz vor Ende des Films wird die kriminalistische Suche nach der vermeintlichen Mörderin, die den buchstäblichen roten Faden des Plots markiert, von drei merkwürdigen Szenen durchbrochen. Merkwürdig insofern, als sie dem Zuschauer völlig unvermittelt und überraschend Auftritte vor Augen führen, die auf recht bizarre Art die Maskerade der Protagonistinnen in Szene setzen. Zunächst erscheint die bis dato eher schrullenhafte Augustine alias Isabelle Huppert völlig verwandelt als Gilda alias Rita Hayworth auf der Showtreppe des Salons. Mit der rhetorischen Frage „J’avais juste envie d’être belle. J’ai le droit, non?“27 in Verbindung mit dem Gilda-Zitat wird augenzwinkernd die Oberflächlichkeit des gesamten Starsystems persifliert. In einer weiteren, diesmal eher pikanten Szene bricht nach einem Wortgefecht zwischen Deneuve und Ardant recht unerwartet ein Ringkampf zwischen den beiden aus, der schließlich in einem langen, leidenschaftlichen Kuss gipfelt. Auf inhaltlicher Ebene wird dadurch offiziell die durch den Tod des Patriarchen ermöglichte, neue symbolische Ordnung in Kraft gesetzt. Auf der Metaebene der Starreflexion passiert jedoch etwas anderes, was Katja Nicodemus zu folgender Schlussfolgerung ermuntert: 27 Ozon 2002, S. 111; in den Paranthesen der Regieanweisung steht bezeichnenderweise: d’une voix chaude et sensuelle, was mit der ansonsten giftigen und barschen Stimme Augustines in krassem Widerspruch steht.
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Was genau bei ihrem langen, leidenschaftlichen Kuss geschieht, ist nicht ganz klar, aber es ist mindestens die Implosion des französi28 schen Kinos.
Man muss sich, um dieses pointierte Statement besser zu verstehen, vergegenwärtigen, dass es immerhin Cathérine Deneuve ist, die sich hier für nur wenige Augenblicke der sapphischen Liebe hingibt. Vor allem in Frankreich stellt die Schauspielerin ein genuines Nationalheiligtum dar, insbesondere da sie jahrelang als Modell die Marianne verkörperte, die Symbolfigur der Grande Nation. Somit besitzt Cathérine Deneuve einen gewissen Kultstatus: „Sie verkörpert das ideale Frankreich, dem wir die Vokabeln Eleganz und Etikette verdanken, aber auch Haute Couture.“29 Aus dieser Perspektive mag es annähernd plausibel und nachvollziehbar erscheinen, wenn die Deneuve zusammen mit Fanny Ardant durch ihren sinnlichen Ringkampf eine kleine ‚Implosion des französischen Kinos‘ hervorrufen. Es ist aber vor allem eine dritte Szene, welche die Thematik des weiblichen Startums auf – wie ich finde – höchst amüsante Weise behandelt. In jener Szene betritt Gaby, die Herrin des Hauses, die Küche und überrascht ihr Zimmermädchen Louise, dargestellt von Emmanuelle Béart, bei einer eigenartigen One-(Wo)Man-Show: Louise, die sich alleine glaubt, steht rauchend30 in der Küche und ahmt monologisierend ihre Chefin nach: „Louise, mon manteau s’il vous plaît! Posez-le moi là... Non plutôt ici!“31, was Gaby alias Deneuve zu folgender Frage veranlasst: „Mais à quoi jouez-vous, Louise? Vous vous prenez la maîtresse de la maison?“32 Die Figur der Louise ist zweifellos eine der merkwürdigsten Figuren in Ozons Kammerspiel. Sie verkörpert gewissermaßen in Form einer Allegorie die reine Wollust in Verbindung mit sadomasochistischen Elementen. Halb femme fatale, halb femme dévote, stets rätselhaft und zweideutig in ihren Äußerungen, stellt sie in gewisser Weise die Projektionsfläche männlich konnotierter Imaginationen und Begierden da, obwohl die Männer „les grands absents du film“33 sind. Ozon erläu-
28 Nicodemus 2002. 29 Baur, Eva-Gesine: „Cathérine Deneuve. Die rätselhafte Strategin“, in: dies.: Die Göttinnen des Jahrhunderts, Berlin 1999, S. 57–66; hier: S. 57. 30 Da das Rauchen von Zigaretten unbestritten Deneuves Standardgeste während des gesamten Films ist, offenbart sich durch die Geste Louises in dieser Szene einmal mehr ihre Maskerade. 31 Ozon 2002, S. 107. 32 Ebd. 33 So François Ozon im Booklet zur Filmmusik von 8 FEMMES.
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tert im Audiokommentar34 zu seinem Film, dass er die Figur der Louise im Vergleich zum Original von Robert Thomas stark gemacht habe. Als Vorbild habe ihm vor allem das Stück Les bonnes (1947) über die beiden Dienerinnen Solange und Claire von Jean Genet gedient, in dem ebenfalls eine der Zofen, Claire, im Rahmen von inszenierten Herr-DienerSpielchen die Kleider ihrer Herrin anlegt, weil sie mit der eigenen sozialen Lage unzufrieden ist. Dementsprechend lautet auch Louises Antwort auf Gabys Frage: „Oui, j’en ai marre d’être votre bonne.“35 Bei Genet steht jedoch am Ende des sadomasochistisch codierten Stücks, das uns durch seine Maskeraden gleichermaßen „Theater im Theater“ vorführt, der reale Mord an der „Gnädigen Frau“ alias Claire. Bei Ozon hingegen ist es weniger der soziale Konflikt, der die Stimmung jener Szene bestimmt, sondern vielmehr ein Rollenkonflikt, der in Louises Maskerade zum Tragen kommt. Es geht Louise weniger um ihren sozialen Habitus als solchen, als um ihre (freilich rein erotisch konnotierte) Rolle als Dienerin. Offenbar mangelt es Gaby in ihrer Rolle als Herrin an der nötigen Autorität („votre manque de poigne, votre médiocrité“36). In jenem Augenblick legt Louise mit einer eindeutig lasziven Geste ihre Korsage ab, öffnet schließlich ihre ansonsten zusammengebundenen Haare und präsentiert sich somit sozusagen als frivole Version der jungen Deneuve. Während dieses „cérémonial“37 fällt ganz beiläufig das Photo einer Frau aus Louises Schürze. Gabys Frage „Qui est cette femme“38 kann der Zuschauer alsbald für sich beantworten: Es handelt sich um eine Photographie von Romy Schneider aus den 1970er Jahren, die innerhalb der Diegese des Films als Louises „ancienne maîtresse de maison“ identifiziert wird. Im Hinblick auf den Intertext von Genet darf man darüber spekulieren, ob Louise womöglich selbst ihren mörderischen Anteil an der Tatsache trägt, dass sie nun nicht mehr in den Diensten ihrer alten maîtresse de maison steht, der sie offenkundig sehr zugetan war („Oui, je l’aimais.“39). Dann schwenkt die Kamera von der konsternierten Deneuve („médusée, blessée“40) auf Béart, die nun durch ihre offenen Haare eine frappierende Ähnlichkeit aufweist und schließlich richtet sich der Blick der Kamera auf ein Gemälde, welches das Porträt der jungen Deneuve zeigt und die äußere Ähnlichkeit Deneuve-Béart auf die Spitze 34 35 36 37 38 39 40
Vgl. DVD 8 FEMMES. Ozon 2002, S. 108. Ebd. Vgl. Regieanweisung, ebd. Ebd. Ebd. Regienanweisung, ebd.
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treibt. Abschließend verlässt die Deneuve durch einen roten Samtvorhang die Bühne. Ende der Szene (Abb. 2). Hinter dieser unbestritten bizarren Szene verbirgt sich die wohl eindeutigste (Selbst-)Reflexion zum Phänomen ‚Star vs. Diva‘. Immerhin ereignet sich darin in Form eines photographischen Gastauftrittes die RePräsentation einer Diva par excellence: namentlich Romy Schneider.41 Abbildung 2: Screenshot, 8 FEMMES
Mit diesem inszenatorischen, ja intermedialen Kunstgriff integriert Ozon zwei Figuren in seinen Film, die den Star Cathérine Deneuve in einem zwiespältigen Licht erscheinen lassen: Tod und Vergänglichkeit. Durch die Photographie, die nach Roland Barthes42 immer auch eine Antizipation des Todes darstellt, wird dem Zuschauer gewissermaßen das vor Augen geführt, was die Deneuve wohl niemals erreichen wird und was Katja Nicodemus den „ästhetischen Vorteil des Todes“43 nennt: ihre eigene Divinisierung in ewiger Jugend und Schönheit. Dieses verzweifelte Wissen um die eigene Vergänglichkeit scheint das Spiel der Deneuve in 8 FEMMES während des gesamten Films zu begleiten und findet Ausdruck in ihrem zu engen Kleid, ihrer zu steifen Haltung und ihren zu angespannten Zügen. Es gehört nun einmal zur unzweifelhaften Wahrheit des Filmstars, dass erst nach seinem physischen Tod eine geglückte Verschmelzung von Image und Realpräsenz möglich ist: „Auch nach ihrem realen Ableben erhält dieses Image die Verstorbene in unserem kulturellen Bildrepertoire auf ewig am Leben.“44 Die Erkenntnis, die das selbstironische Spiel der Deneuve in dieser Szene angesichts der Photographie Romy Schneiders prägt, ist demnach 41 Dieser Auftritt ist immerhin so wichtig, dass er im Abspann von 8 FEMMES unmittelbar nach der Aufzählung der Darstellerinnen auftaucht („Photo Romy Schneider: Giancarlo Botti“). 42 Vgl. Barthes, Roland: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980. 43 Nicodemus 2002. 44 Bronfen/Straumann 2002, S. 200.
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inner- wie auch außerfilmisch: ,So wie die werde ich niemals sein.‘ Die zweite Erkenntnis, die sich aus der trügerischen Spiegelung mit Emmanuelle Béart und ihrem eigenen Porträt ableiten lässt, wäre dann: ,So wie die bin ich nicht mehr.‘ Der Übergang von der jugendlichen Erscheinung Emmanuelle Béarts zum Bild der alternden Deneuve liest sich beinahe wie ein Zitat aus der Proust-Verfilmung LE TEMPS RETROUVÉ (1999) von Raoul Ruiz, in der Deneuve als ehemalige Kokotte Odette die Mutter von Béart alias Gilberte spielt. Auch in diesem Film, der im proustschen Verständnis des Temps perdu vor allem am Ende die Vergänglichkeit der menschlichen Existenz vorführt, verschmelzen die Züge der beiden Akteurinnen in einer Szene, in der der Erzähler jedoch in der Figur Odettes die allégorie de la jeunesse éternelle erkennt. Dieser Vergleich funktioniert jedoch nur auf der Folie ihrer Tochter. In 8 FEMMES offenbart sich hingegen reine Resignation vor der Unwiederholbarkeit der eigenen Jugend. Die geisterhafte Erscheinung der Diva Romy Schneider als Inbegriff der verzweifelten Rastlosigkeit eines Filmstars führt ein Modell der photographischen Mortifikation vor, das mit dem kontrollierten, ja unterkühlten Image einer Cathérine Deneuve kaum in Einklang zu bringen ist. Am Ende bleibt ihr nichts weiter, als die Bühne angesichts dieser Einsicht zu verlassen. Sie tut dies signifikanterweise durch einen roten Theatervorhang, der uns daran erinnert, dass ohnehin all das nur ein Spiel ist. Aus dem verborgenen Ernst jener Szene wird einmal mehr eine mutig vorgetragene Selbstironie.
3.
Schluss: Sein vs. Schein
Ob Theater, ob Film, ob Star, ob Diva – 8 FEMMES besticht vor allem durch seine offene Form der Darstellung. Der Film lässt sich niemals eindeutig auf eine einzige Form der Darstellung reduzieren. Diese bewusste Unentschiedenheit beginnt bei der Auswahl des Genres. Was zunächst als Familienlustspiel im Stil der 1950er Jahre beginnt, entpuppt sich sogleich als ein Kriminalstück à la Agatha Christie. Ein erneuter Wechsel stellt das Musical in den Vordergrund. 8 FEMMES ist von all dem etwas, aber doch niemals etwas ganz. Der Film spielt mit Versatzstücken verschiedener Genres, ohne jemals eine klare Zuweisung zu vollziehen. Ebenso offen bzw. gebrochen gestaltet sich die Darstellung der einzelnen Figuren. Es wimmelt nur so von Brüchen, Abgründen und Metamorphosen innerhalb jeder der acht Figuren. Jegliche Kohärenz in der Charakterisierung der Protagonistinnen wird verweigert. So wird die
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gesamte Diegese des Films am Ende als doppelbödiges Vexierspiel mit dem Zuschauer entlarvt: Nicht einmal der Mord, um den sich vordergründig alles zu drehen schien, ist wirklich passiert. In Form einer theatralischen Mise-en-abyme erfolgt schließlich eine Auflösung durch die jüngste der Frauen, Cathérine alias Ludivine Sagnier, die den angeblichen Mord als vorgetäuschten Auftakt eines von ihr selbst inszenierten Theaterstückes enthüllt, dessen Folgen dann doch noch zum Tod des Hausherrn führen, nämlich zum Selbstmord als Resultat eines kollektiven Mordes, der niemals begangen wurde. Nichts ist so, wie es scheint. Das wäre wohl die ernüchternde Quintessenz von Ozons 8 FEMMES. Die Ästhetik der Lüge triumphiert sowohl auf inner- als auch auf außerdiegetischer Ebene über die von Sontag formulierte ‚Apotheose des Realismus‘. Darüber hinaus erlebt der Zuschauer ein konsequentes Verwischen von Grenzen, ein durchgängiges Spiel mit der eigenen Medialität, das zwischen Theater und Film ein Hybridmedium vorführt, welches bis zum Schluss seine Offenheit bewahrt. So stellt die letzte Einstellung des Films noch einmal alle acht Frauen in einem Bild zusammen. Sie stehen Hand in Hand nebeneinander und blicken den Zuschauer herausfordernd an (Abb. 3). Abbildung 3: Screenshot, 8 FEMMES
Es handelt sich dabei um jene ritualisierte Geste am Ende eines Theaterstücks, nach der für gewöhnlich eine letzte Verbeugung der Akteure erfolgt, kurz bevor der letzte Vorhang fällt. Doch nichts passiert. Die Erwartung des Zuschauers wird auch ein letztes Mal enttäuscht: Statt Verbeugung und Vorhang erfolgt lediglich eine Schwarzblende mit den drei Buchstaben FIN.
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PARADOXE SUR AMÉLIE: JEAN-PIERRE JEUNETS KINOMÄRCHEN ALS MEDIALE COLLAGE Als Amélie entdeckt, wie unglücklich die Concierge über die vermeintliche Untreue des lange vermissten und von ihr schließlich für tot erklärten Ehemannes ist, rekonstruiert sie durch Ausschneiden und WiederZusammenfügen der Buchstaben einen Brief. Sie zieht ihn durchs Wasser und hängt ihn danach zum Trocknen auf, um ihn möglichst authentisch, d.h. alt aussehen zu lassen. In diesem erklärt der Abwesende seiner Frau gleichsam posthum seine Liebe. Den Inhalt des Liebesbriefes erfährt der Kinozuschauer durch eine voice-over-Stimme. Es ist dieses Bild der Collagetechnik, des vorgetäuschten nostalgischen Anstrichs, das den gesamten Film durchziehen wird und in einer Art mise-en-abyme auf seine eigene Machart verweist. In spielerischer Selbstreflexivität sagt der Film: „Ich bin eine mediale Collage. Ich komme zwar nostalgisch daher, bin es aber nicht wirklich.“ Wie Jürgen E. Müller schon für den Spielfilm der 1980er Jahre feststellt, ist der Film keine „mediale Monade“, sondern steht in einer Vielzahl intermedialer Beziehungen zu anderen Medien. Er spielt virtuos mit medialen Konzepten, indem er den Blick des Zuschauers auf den „inter-medialen Charakter seiner Strukturen lenkt.“1 Viel ist über den besonderen Erfolg des kleinen Filmwunders von Jean-Pierre Jeunets DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE geschrieben worden. Viele Kritiker versuchten zu begründen, warum sich viele Kinogänger so bereitwillig in die Welt der Amélie Poulain entführen ließen. Einige erklärten dies mit dem besonderen Charme der Hauptdarstellerin, andere mit den zauberhaften Details des Films, wieder andere mit der besonderen Ästhetik und den überzeugenden Darstellern der Nebenrollen. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass die Besonderheit des Films im intermedialen 1 Müller, Jürgen E.: „Malerei, Video und Film – oder Jean Luc Godard und die ‚Passion‘ des Bilder-Schaffens“, in: ders./Vorauer, Markus (Hrsg.), Blickwechsel: Tendenzen im Spielfilm der 70er und 80er Jahre, Münster 1993, S. 237-251, S. 251.
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Spiel mit anderen Genres, Codes, medialen Dispositiven und Versatzstücken liegt. Jeunets Film platziert sich bewusst zwischen traditionellen Genres und zwischen einzelnen Medien, um durch eine gezielte Bildführung klassische Muster der Narration neu zu variieren. „Amélie“ situiert sich als Film zwischen anderen Medien (Theater, Video, Malerei) und spielt mit den Bildern, die wir in unseren Köpfen haben. Was Jürgen E. Müller über PASSION von Godard geschrieben hat, gilt auch hier: Theater, Fernsehen, Video, Malerei und das Kaleidoskop von Bildern, welches wir in unseren Köpfen haben, werden einer medialen Transformation und Bearbeitung unterzogen, indem sich der Film einigen ihrer Konstruktionsprinzipien anzunähern versucht. Der Film thematisiert mediale und ästhetische Optionen, indem er zu2 gleich de-konstruiert und konstruiert.
Dies werde ich im Folgenden anhand einiger medialer Dispositive, die – auch dies ein Charakteristikum des Films – sich immer wieder vermischen und interferieren, nachzuweisen versuchen.
Der Blick Filme entstehen durch den Blick und die kognitive Tätigkeit des Zuschauers, der sich im Spiegel des Films er-blicken kann. Der BlickWechsel findet nicht allein zwischen den einzelnen Darstellern statt, sondern auch zwischen dem Zuschauer und dem Kinobild. Es sind vor allem Hollywood-Filme, die den Zuschauer in die Diegese verstricken, in die Blicke, die die Protagonisten innerhalb des fiktionalen Kontextes intradiegetisch wechseln. Häufig werden dabei jedoch der Blick der Kamera und der Blick des Zuschauers gleichsam unsichtbar gemacht. Nicht so bei Jeunet, der durch die zahlreichen medialen Spiele die Fiktion immer wieder ingeniös durchbricht. Der Zuschauer weiß, dass nicht nur der Blick Amélies auf den Maler Dufayel voyeuristisch konnotiert ist, sondern auch sein Blick auf Amélie und ihr Universum. Vorherrschend in Jeunets Theater der Blicke sind Blickwechsel durchs Teleskop, aber auch Amélies Eroberung von Orten (realen und fiktiven), ihre Identitätssuche und der Versuch, sich immer wieder der von Männern dominierten symbolischen Ordnung zu widersetzen. Ganz deutlich wird dies bereits zu Beginn des Films, wo sich Amélie vorstellt, wie viele Anwohner der Metropole wohl gerade in diesem Augenblick einen Orgasmus haben. Während es für Amélie bei der Vorstellung bleibt, wird der Zuschauer 2 Ebd.
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durch die Kamera zum Voyeur, dem Einblick verschafft wird in unterschiedliche Wohnräume und der schwankend zwischen voyeuristischer Neugierde und gewohnter Zurückhaltung zum Zeugen unterschiedlicher Arten intimer Szenen wird. Immer wieder kommt es in dem Film zur Inszenierung von BlickKontakten, v.a. in dem Café, das per se stets Ort verschiedener Kontaktaufnahmen durch Blicke ist. Eifersüchtig beobachtet Joseph jeden Schritt seiner früheren Geliebten Eva, unterbrochen nur von seinen knappen Bemerkungen ins Diktaphon. Als Amélie versucht, sein Begehren in Richtung der Tabakverkäuferin Georgette umzuleiten (indem sie beiden erzählt, der andere habe nur Augen für sie/ihn), ist seine Eifersucht jedoch nicht automatisch geheilt. Vielmehr wird auf lange Sicht nur ein Objekt der Obsession gegen ein anderes ausgetauscht. Dagegen geht es bei Amélie und Nino um ein indirektes Duell der Blicke. Beide tauschen verstohlen Blicke aus, verbergen und maskieren sich, kommunizieren über andere Medien, ohne zunächst einen Augenkontakt herbeizuführen oder sich direkt zu begegnen. Der halbbefriedigte Blick, der deshalb immer auch ein halbenttäuschter Blick ist, drängt auf Erfüllung, die mit dem Versprechen weiterer Entdeckungen verbunden ist. Augenpaare suchen einander, und um das Bedrohliche dieses Blickwechsels einzuschränken, kommt es zwischen den beiden zunächst nur zu medial vermittelten Begegnungen: Amélie verkleidet sich als Zorro und schickt Nino ein zerstückeltes Bild von sich, das wiederum auf die Collagetechnik des gesamten Films verweist, auf den medial gebrochenen Blick. Auffällig ist, dass das Rollenverständnis hier insofern außer Kraft gesetzt wird, als sie es ist, die seinen Blick sucht. Sie inszeniert ein Spiel der Maskierung und Demaskierung, an dem Nino schließlich bereitwillig teilnimmt. Der Akzent verlagert sich vom Geschehen selbst hin zum Betrachter des Geschehens, auf den Akt des Sehens selbst. Es geht um Paare, Passanten, Voyeure. Der Film kann durchaus auch als eine Schule des Sehens betrachtet werden. Durch das Photo-Phantom (des „Photomatons“) wird hier zugleich ein detektivisches Spiel des Erspähens und Erblickt-Werdens in Gang gesetzt. Dem Blick fällt damit die Funktion zu, den Kontakt auch über Entfernung aufrechtzuerhalten. Wichtig ist insbesondere der Anfangsmoment der Liebe, der das entscheidende Differenzkriterium zur flüchtigen Bekanntschaft etabliert. Wie antwortet das Auge dem Gefühl mit seinen Bedürfnissen nach Nähe, ja Intimität? Wie korrespondiert das Sehverhalten mit Interessen und Neigungen des Sehenden – und des Erblickten? Wie unterscheidet sich der männliche vom weiblichen Blick?
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Äußert sich leidenschaftliche Liebe immer auf den ersten Blick? Wie kann der Blick gebannt, in seinem Begehren kanalisiert werden, wodurch erkennt man den Blick der Zu-Neigung zu einem anderen? Es sind Fragen wie diese, die der Film in seinem Theater der Blicke, seiner Inszenierung der Schau- und Augenlust immer wieder aufs Neue stellt. Der Blick ist wie der Spiegel immer schon ambivalent. Man spiegelt sich in ihm und lässt sich etwas vorspiegeln. Beiden ist die Funktion inhärent, Einschreibungsflächen für Projektionen zu bilden. So fühlt sich Nino durch den Blick der Kellnerin Eva zunächst getäuscht. Da Amélie ihn nur verstohlen anblickt, vermag er nicht zu sagen, wer nun die geheimnisvolle Fremde ist, die Eigentümerin seines Photoalbums, die maskierte Unbekannte. Das Ideal hat über die Vermittlung der Augen Besitz ergriffen vom Theater im Kopf. Erst gegen Ende des Films wird sich das Rätsel lösen. Nur das Auge vermag als Sinnesorgan zugleich eine Anwesenheit in der Abwesenheit vorzutäuschen; nur der Blick kann vom Körperlichen abstrahieren, ohne das Körpergefühl ganz zu annihilieren, zeigt sich doch im Bild eines Körpers dessen Entfernung aufgehoben. Zugleich vergegenwärtigt der Blick als Ausdruck der Seele oder des Herzens den anderen als Individuum wie kein zweites Medium, so daß die für den Glauben an die Liebe unabdingbare Voraussetzung, den Anderen immer als Person zu begehren und von diesem als Person geliebt zu werden, sich bei 3 jedem Anblick wieder erneuern kann.
Das Schlusswort behalten in Jeunets Kinomärchen die Augen. Was sich der direkten Mitteilung versagt, müssen sie wahrnehmen. Das Auge aber hat seine Funktion, den Kontakt anzubahnen, erfüllt und ist nicht mehr wahrnehmungsfähig. Am Schluss, nachdem der Blick der beiden Liebenden die anderen ausgeschlossen hat, bewirkt die Einbildungskraft, dass sich Amélie und Nino, die sich endlich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen nicht mehr sehen müssen, um sich vor dem inneren Auge zu haben. Ein Prozess, der im Schließen der Augen im Kuss seinen ureigensten Ausdruck findet.
3 Völcker, Matthias: Blick und Bild: Das Augenmotiv von Platon bis Goethe, Bielefeld 1996, S. 165.
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Das Gesicht Visualität ereignet sich stets als ein konkreter, sinnlich bedingter und also auch nachvollziehbarer und im Text benennbarer Akt. Zu4 gleich ist der Gesichtssinn ein exponierter Bedeutungsträger [...].
Ein genuiner Ort filmischer Bilder ist, wie Jacques Aumont deutlich gemacht hat, das Gesicht. In einem spezifischen Spiel mit Re-Präsentationsmustern (deren Ursprung in Traditionen und Konzepten abendländischer Malerei zu suchen ist) erzielt das Gesicht grundlegende Effekte auf den Kinozuschauer. In Kritiken ist immer wieder auf das Kindliche (Kulleraugen, kurzer Pony, Stupsnase) des Gesichts der Schauspielerin Audrey Tautou verwiesen worden, das den staunenden Blick der Protagonistin zu verstärken scheint. Das Gesicht als Ort von „sozialen, interpersonellen und intersubjektiven Funktionen“, als Ort der Kommunikation und der Expression. Jeunet setzt hier auf eine Bedeutung des Gesichts, wie sie vor allem zum Ende der Stummfilm-Ära vorherrschend war, in der sich, wie Jacques Aumont betont, zwei Vorstellungen vom Gesicht kreuzten: „eine Vorstellung vom Gesicht als Substrat und Signifikant der menschlichen Kommunikationsfunktion (das Gesicht als Tausch-Wert [...]) und zugleich eine Auffassung vom Gesicht als Expressivum, von autonomer und fast antonymer Art (das Gesicht als Gebrauchs-Wert)“.5 Jeunet spielt mit dem Topos vom Gesicht als Spiegel der Seele.6 Amélies Gesichtsausdruck spiegelt ihre innere Welt wider. Das Gesicht wird zu einem Teil des Textes, den man lesen können muss. Dem Gesichtssinn kommt Signalwirkung zu. Es sind vor allem die Augen von Aurey Tautou, der staunende Blick aus Kinderaugen auf die Erwachsenen-Welt, die schwarzen brennenden Augen des désir, die in dieser Großaufnahme des Gesichts konstitutiv werden. Und auch bei Ninos Sofortbild-Sammlung geht es um das wieder zusammengefügte Gesicht, insbesondere um das Phantom, das Gesicht jenes Mannes, das Nino in fast jedem Sofortbildautomaten findet, das zu einer Obsession für ihn wird und die Handlung um Amélie und Nino wie eine Art MacGuffin in Gang setzt. Heilung kommt schließlich von Amélie, die das vermeintliche Phantom als Reparateur der Photo-Automaten identifiziert.
4 Ebd., S. 15. 5 Aumont, Jacques: „Das Un-Gesicht“, in: Müller/Vorauer 1993, S. 215-222, S. 217. 6 Vgl. Völcker 1996, S. 162.
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Der Surrealismus Scheinbare Dokumentationen der Stadt Paris und seiner Mitbewohner erzeugen im Zuschauer das genaue Gegenteil eines realen Abbildes der Seine-Stadt; sie setzen imaginierende Bewusstseinstätigkeiten und Träumereien in Gang, deren Wirkungsmacht sich der Rezipient nur schwer entziehen kann.7 Der Film ist ein surrealistisch anmutendes Kinomärchen. Ausgehend von einer scharfen Kritik des Rationalismus wird hier den Kräften des Wunsches und der Einbildung vertraut. Jeunet schenkt dem Abstrusen und Befremdenden besondere Beachtung. Im Sinne des Manifests von Breton preist auch Jeunet das Spielerische und die Kindheit als Lebensstadium, dem die Strenge abgeht und das nur die Leichtigkeit des Augenblicks kennt. Wenn Breton im ersten surrealistischen Manifest formuliert, er glaube an die „zukünftige Auflösung der scheinbar einander so entgegengesetzten Zustände des Traums und der Wirklichkeit in einer Art absoluter Realität oder Surrealität“, so gilt das auch für die traumhafte Welt der Amélie.8 Märchenhafte Vorbilder wie Rotkäppchen oder Alice’s Adventures in Wonderworld tauchen vor dem inneren Auge des Zuschauers auf, der die fabelhafte Welt der Amélie betrachtet. Der Film ist voll von surrealistisch motivierten Szenen: die sprechende Nachttischlampe in Form eines regenschirmtragenden Schweines, die sprechende Gans des Gemäldes, Amélie, die sich in ein verschüttetes Glas Wasser auflöst, der Mann aus dem Sofortbildstreifen, der plötzlich aus dem Photo tritt und Nino direkt anspricht. Selbst der Akt der Zeugung selbst, das Aufeinandertreffen von Samen und Eizelle wirkt surreal. Man fühlt sich an Jacques Préverts poetisches Inventar erinnert, an Robert Doisneaus Photographien und an Poulbots Zeichnungen von Montmartre-Straßenjungen.
7 Ein Kritikpunkt der wenigen nicht positiven Äußerungen zu dem Film bezog sich denn auch auf den mangelnden Realismus, insbesondere auf die Tatsache, dass der Film ein von Ausländern und Immigranten bereinigtes Paris zeige. (Vgl. Moran, Jacques: „Cinéma. Le Fabuleux Destin d’Amélie Poulain a attiré plus de cinq millions des spectateurs. Pourquoi?“, in: Humanité, Paris 13.06.2001) 8 Vgl. Bürger, Peter: „Ma méthode, c’est moi. Valéry und der Surrealismus“, in: Buchner, Carl H./Köhn, Eckehard (Hrsg.): Annäherungen an Paul Valéry, Frankfurt a.M. 1991, S. 347-369, S. 362.
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Die Malerei Einen besonderen Stellenwert in Jeunets Film nimmt das Universum des Malers Dufayel ein. Wie Amélie als Kind durch den vermeintlichen Herzfehler gezwungen wird, sich in die eigene Welt zurückzuziehen, so lebt der Maler mit den gläsernen Knochen abgeschieden in einem Appartement im selben Haus mit Amélie. Sein einziger Kontakt zur Außenwelt ist das Fernglas, mit dem er Amélie beobachtet. Das voyeuristische Dispositiv erfährt seine Korrektur jedoch dadurch, dass auch Amélie ihrerseits den Maler durch ihr Teleskop beobachtet. Ein Voyeur bleibt man nur so lange, wie man unbeobachtet beobachten kann. Hier nun blickt die Frau zurück, Augenkontakt findet statt. Sie wird vom Objekt zur Schauenden, es entsteht ein Blickwechsel zwischen den beiden einsamen Menschen. Wie in diesem Fall deutlich wird, nimmt Amélie, nimmt der Film uns mit auf Entdeckungsreise in ihre Welt und dem was durch ihren Blick zu ihrer Welt wird. Der Maler avanciert zum heimlichen Zentrum ihrer Welt. Die Tatsache, dass es der Maler Dufayel ist, der zur zentralen Antriebskraft im Leben Amélies wird, zeugt auch in einer Art mise-en-abyme von der Wirkungsmacht der Bilder und des Blicks, der Leidenschaft des Erzeugens von Bildern, des „Malens“ von Filmen. Die unendliche Beziehung von Film und Malerei verortet Jeunets Kinomärchen in einer Epoche, deren Ende noch nicht erreicht ist und die die des Auges ist.9 Amélie ist fasziniert und erschrocken zugleich, als sie feststellt, dass die Passion des Malers dem Gemälde Le Déjeuner des canotiers von Renoir gilt, das er wieder und wieder malen muss, weil er den Blick des Mädchens mit dem Wasserglas nicht mit seinem Pinsel einfangen will.10 Dem Maler nun will es nicht gelingen, das gemalte Mädchen mit dem Wasserglas zu malen, weil ihr Blick, so könnte man deuten, zunächst nach innen gerichtet ist. Er vergleicht das Mädchen mit dem Wasserglas mit Amélie, der es zunächst ebenfalls nicht möglich ist, mit ihren Mitmenschen in Beziehung zu treten. Wie Wasser zerfließt sie denn auch, als sie plötzlich mit Emotionen, mit Eifersucht konfrontiert wird. Sie ist eine leere Einschreibungsfläche, in die andere ihre Wünsche 9 Vgl. Aumont, Jacques: „Das Un-Gesicht“, S. 215. 10 Wie in dem berühmten Frühstück-im-Freien-Gemälde seines Malerkollegen Manet, haben sich auch im besonderen Fall von Renoir Kunsthistoriker immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie die Blickrichtung der einzelnen Figuren zu lesen ist und inwieweit sie perspektivisch korrekt zu nennen ist. Vgl. Busch, Günter: „Paul Valéry und der Manet-Blick“, in: ders.: Das Gesicht: Aufsätze zur Kunst, Frankfurt a.M. 1997, S. 127-137, S. 135.
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projizieren können. Rotkäppchen, das nette Mädchen von nebenan, Mutter Theresa, Prinzessin Diana, die Rächerin der Unterdrückten – das Rollenspiel der Amélie ist vielfältig. Später wird der Blick fokussierter, richtet sich nach außen, so könnte man argumentieren, ist aber immer noch nicht auf eine bestimmte Person gerichtet, die ihren Blick erwidert. Dies ändert sich erst, als sie Nino erblickt und er sie – am Ende des Films. Dass die Liebe sich durch die Augen zu erkennen gibt, hat eine lange (literarische) Tradition. Verliebte fanden in der Sprache der Blicke ohne verbale Anstrengungen zueinander. Einen strahlenden Liebesblick aussendend, wurde das Auge einer Frau zum Kristallisationspunkt der Leidenschaft.11 Die vielfältigen medialen Brechungen, die Annäherung des Films an Konstruktions- und Wirkungsprinzipien von Malerei und Video eröffnen neue Interpretationsräume. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte die Malerei in ihrer wirklichkeitsabbildenden Funktion durch die Photographie große Konkurrenz bekommen. Die Malerei antwortete darauf, indem sie sich auf ihre über das bloße Abbilden hinausgehenden Möglichkeiten konzentrierte. Mit dem Impressionismus entwickelte sich eine Subjektivierung der Sichtweise, andere Künstler wie Magritte besannen sich auf die autoreflexiven Möglichkeiten des Mediums und initiierten ein Spiel mit der Fiktionalität und Zweidimensionalität. Es ist sicher kein Zufall, dass Jeunet für seinen Film mit Le Déjeuner des canotiers ein Gemälde des Impressionisten Renoir ausgewählt hat, bei dem es in besonderer Weise um die Subjektivität des Sehens, die Individualität des Betrachter-Standpunktes und die Initiierung eines Blick-Theaters geht. Der malerische Effekt im Drama kommt [...] weitgehend ohne Einsatz von Sprachhandlungen aus: Wie der Blick in unserem Alltagswissen oft schon Möglichkeiten des Vorverständnisses und des Einverständnisses vor einer verbalen Kommunikationsaufnahme signalisiert, entwirft das Gemälde einen choreographischen Sinn, der unabhängig von verbalen Anstrengungen sich einzustellen 12 scheint.
In diesem die Darsteller vereinenden Tableau von Renoir sieht der Zuschauer, wie sich die Figuren einander zu- oder abwenden, vereinzelt oder in Gruppen zusammengefasst Handlungen ausführen. Visuelle Richtlinien fungieren als Strukturprinzipien für das Schauspiel. Diderot hat sich selbst das Verdienst angerechnet, in seinen Dramen malerische Wirkungen berücksichtigt zu haben. Das theatralische Gemälde dient 11 Vgl. Völcker 1996, S. 163. 12 Ebd., S. 108.
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dazu, eine Aktion aufzulockern und, als Schlusstableau, alle Spielbeteiligten noch einmal zu vergegenwärtigen. Somit fungiert es auch als Regulativ für die sonst geforderte Natürlichkeit. Der Zuschauer soll den Akteur wahrnehmen können, wie ihn ein Maler auf der Leinwand gezeigt hätte. Der Schauspieler konnte sein Spiel nun frei von allem Symmetriezwang nach wirkungsvollen und wahren Gebärden ausrichten. Der visuelle Eindruck zielt nicht mehr nur auf das Gesicht, sondern auf den ganzen Körpereinsatz.13
Das Video Das Video wird bei Jeunet zu einem Tor zur Außenwelt. Zunächst sind es die kuriosen Videoaufnahmen diverser Filme, die Amélie dem Maler schickt: ein Pferderennen, Reportagebilder, die es ihm ermöglichen, zu einem entspannteren Umgang mit der Außenwelt zu finden, die ihm auf Grund seiner Krankheit verschlossen ist. Tatsächlich öffnet er sich danach den Menschen seiner näheren Umgebung, sieht sie (im Sinne eines wörtlich genommenen vide! – siehe) und freundet sich wie im Falle des Gemüsehändler-Gehilfen Lucien mit ihnen an. Am Schluss ist es dann Amélie, die ein Video des Malers geschickt bekommt. Diesmal jedoch ist es keine Aufnahme fertiger Bilder, sondern eine medial vermittelte Ansprache des Malers, eine Aufforderung an Amélie, nun ihrerseits ihre kleine Welt zu verlassen. Dabei hat der Zuschauer ständig das paradoxe Gefühl, der Maler sei anwesend und abwesend zugleich, er sehe Amélie, während es doch in Wahrheit nur eine Videoaufnahme ist. Hier spielt Jeunet geschickt mit den Grundängsten der Anfangsjahre des Mediums Fernsehen, als der Zuschauer tatsächlich das paradoxe Gefühl hatte, nicht nur selbst zu sehen, sondern gleichzeitig beobachtet zu werden. Das Video avanciert wie das fantastische Moment des herumreisenden Gartenzwergs zur Aufforderung, die eigenen vier Wände zu verlassen und sich der Realität zu stellen. In einer Reihe von Einstellungen werden dem Betrachter so auch mediale Charakteristika des Mediums „Video“ vorgeführt. Es ist vor allem die Verfremdung, die das menschliche Gesicht im Medium „Video“ erfährt: Das Gesicht ist grobkörnig und noch blasser als gewöhnlich, in schwarz-weiß, mit Kontrasten zwischen hellen und dunklen Flächen. So wird auch hier auf die narrativen Qualitäten des menschlichen Gesichts verwiesen – wie bereits in den
13 Diderot, Denis: „De la Poésie Dramatique“, in: Œuvres Complètes, Bd. 7, hrsg. von Jules Assézat, Paris 1875, S. 307-394, S. 379ff.
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Photographien des Sofortbild-Automaten. Leidenschaft entsteht bei Jeunet nicht zuletzt auch aus der Faszination des Erzeugens von Bildern und des Betrachtens von Bildern. Demnach handelt es sich auch hier um ein verstärktes Auftreten einer Form filmischer Selbstreflexion.
Die Photographie Jeunet macht das Konstruierte jedes filmischen Bildes deutlich, das Collage-Prinzip seines eigenen Films, der ja ganz bewusst unterschiedliche Medien zu einem Filmganzen zusammenfügt, vor allem durch das Verfahren der mise-en-abyme. Bereits am Anfang erzählt eine allwissende Erzählerstimme (André Dussollier) das Leben der kleinen Amélie, das dem Zuschauer in einer Reihe von Vignetten, kurzen Charakterskizzen, vor Augen geführt wird. Nino fällt Amélie zunächst durch die Tatsache auf, dass auch er sich eine Welt konstruiert. Als die beiden sich abermals zufällig sehen, fällt Nino unbemerkt eine Plastiktasche von seinem Motorroller, in der Amélie ein Photoalbum findet. Das Photoalbum als Mittel der Erinnerung wird hier jedoch gleichsam konterkariert. Denn in dem Album finden sich nicht etwa private Schnappschüsse, Aufnahmen aus dem Leben Ninos, sondern mühsam zusammengeklebte Photos aus dem „Photomaton“, die andere – Menschen, die Nino nie zuvor gesehen hat – zerrissen und achtlos weggeworfen haben. Diese Fotos werden zu Ninos Obsession. Dieser Mann, der früher Spuren von Menschen in Beton und andere Kuriositäten in einem privaten Kabinett zusammengetragen hatte, sucht nach menschlichen Spuren, um sich seiner eigenen Gegenwart und Identität bewusst zu werden. Das Kuriosum vollendet sich, als einer dieser fotografierten und von Nino zusammengeklebten Menschen sich plötzlich in einer surreal anmutenden Subsequenz an Nino wendet und ihn direkt anspricht. Die filmische mise-en-scène mit ihren spezifischen Möglichkeiten der Konstitution eines Bildes in der Zeit eröffnet hier zusammen mit dem gesprochenen Wort, welches die Bilder begleitet, gleichsam einen Meta-Diskurs über visuelle Repräsentationsmöglichkeiten. Durch die mediale Brechung des Films, durch sein Spiel mit anderen medialen Dispositiven, mit Kadrierungen, Farbgebungen (leuchtendes Rot und Grün dominieren) und Bewegungen werden Verfahren von Malerei, Photographie und Film transparent.
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Das Theater Auf der narrativen Ebene weist Jeunets Film eine Verwandtschaft zum Theater auf, was durch das Vorherrschen einer szenischen Darstellungsform unterstrichen wird. Die verschiedenen medialen Ebenen des Films liefern Identifikationsangebote. Wie Narziss sein Spiegelbild im See erblickte, so erblickt der Zuschauer dieses besondere Panoptikum liebenswerter Typen, die ihm den Spiegel vorhalten. Das gesamte Universum Amélies ist eine Bühne, auf der alle mit großen theatral konnotierten Gesten bestimmte Typen, die wir vom Theater her kennen, verkörpern. Jede Figur entspricht einem bestimmten Prototyp. Da ist der junge Mann, der als Kind immer gehänselt worden ist, das überbeschützte Mädchen, der einsame Künstler, der eifersüchtige Liebhaber, der Autor mit Schreibhemmungen, die kokette Serviererin, die betrogene Geliebte, die eingebildete Kranke – um nur ein paar zu nennen. Und im Zentrum befindet sich Amélie als Autorin, die wie ein Regisseur versucht, die Figuren in dem Theaterstück ‚Montmartre‘ neu zu arrangieren: „un Montmartre pour ainsi dire‚ ‚théâtralisé‘“.14 Der Film inszeniert diese Klischees und reflektiert gleichzeitig über diese mise-en-scène Bedingungen der Re-präsentation. Hier ist alles theatralisch aufgeladen, sogar das Dekor weicht von der ihm zugewiesenen Funktion, bloß Objekt zu sein, ab und wird zum Handelnden selbst, wenn das Schwein in Form einer Lampe Amelie gute Ratschläge gibt, begeistert unterstützt von der Gans auf dem Gemälde. Wer genauer hinschaut merkt, dass in AMÉLIE agiert wird wie im Theater: Mit großen Gesten, lautstarken Übertreibungen. Der Film ist theatralisch im Sinne der Definition von Edward Gordon Craig: Die kunst des theaters ist weder die schauspielkunst noch das theaterstück, weder die szenengestaltung noch der tanz. Sie ist die gesamtheit der elemente, aus denen diese einzelnen bereiche zusammengesetzt sind. Sie besteht aus der bewegung, die der geist der schauspielkunst ist, aus den worten, die den körper des stückes bilden, aus linie und farbe, welche die seele der szene sind, und aus 15 dem rhythmus, welcher das wesen des tanzes ist.
14 Garbarz, Franck: „Le Fabuleux Destin d’Amélie Poulain“, in: Positif 483 (2001), S. 29-30, S. 29. 15 Craig, Edward Gordon: Die Kunst des Theaters, in: ders., Über die Kunst des Theaters, Berlin 1969, S. 101. (Zuerst veröffentlicht 1905). [Kleinschreibung im Original].
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Theater ist ein Abbild der Wirklichkeit und ein Teil der Wirklichkeit zugleich.16 Es findet eine szenische Transzendierung von Menschen und Gegenständen statt. Der Film ist ein Gesamtkunstwerk und der theatralische Code trägt wesentlich zu dessen Verständnis bei. Realität und Theaterfiktion vermischen sich, Bühne und Zuschauerraum sind nicht mehr klar voneinander zu trennen. Gleichzeitig könnte man hier Diderots Paradoxe sur le comédien heranziehen. Tatsächlich gilt nur derjenige als guter Schauspieler, der nicht wirklich empfindet. Man soll zwar nach der Natur agieren, nicht aber selbst empfinden: Les comédiens font impression sur le public, non lorsqu’il sont furieux, mais lorsqu’ils jouent bien la fureur. Dans les tribunaux, dans les assemblées, dans tout les lieux où l’on veut se rendre maître des esprits, on feint tantôt la colère, tantôt la crainte, tantôt la pitié, pour amener les autres à ces sentiments divers. Ce que la 17 passion elle-même n’a pu faire, la passion bien imitée l’exécute.
Diesem Prinzip folgen vor allem Amélie, Nino und der Maler Dufayel, die ihre eigenen Emotionen zunächst geschickt dissimulieren. Nino spielt das Gespenst in der Geisterbahn mit solcher emotionslosen Perfektion, dass Amélie ein kalter Schauer den Rücken hinunterläuft. Und sie selbst imaginiert sich als Zorro, der die Welt der Entrechteten (Lucien) verteidigt, indem er die Besitzenden wie Collignon bestraft. Sie weigert sich, Gefühle zuzulassen, weil sie weiß, dass es dann nicht nur mit ihrer Seelenruhe, sondern auch mit diesen Fantasien ein Ende hat. Auch Nino spielt, setzt sich ein eigenes Universum aus Photos zusammen, eines dieser Photos spricht schließlich sogar zu ihm, ihn auf Amélie hinweisend. Der Film ist vor allem von einem Prozess der „énonciation“ geprägt. Die Äußerungen der Protagonisten sind als Klischee universal. Der Film DIE FABELHAFTE WELT DER AMÉLIE inszeniert diese Klischees, reflektiert sie gleichzeitig über seine bestimmte „mise-en-scène“. Es ist nicht das perfekte Simulakrum, sondern die Collage aus unterschiedlichen Medien und Codes, die den Reiz dieses Films ausmachen. Deshalb geht auch eine Kritik letztlich ins Leere, die dem Film vorwirft, die Ausländer und die schmutzigen Seiten Montmartres nicht zu zeigen. Der Film schafft bewusst eine Kunstwelt, eine Bühne, die das Wesen der Kunst selbst reflektiert und seine eigenen Wirkungsmechanismen in einer Art von stetiger mise-en-abyme vorführt. Amélie greift in ihre Umwelt ein, indem sie wie ein Marionettenspieler an den Strippen 16 Vgl. Wekwerth, Manfred: Theater und Wissenschaft, München 1974, S. 75. 17 Diderot, Denis: Paradoxe sur le Comédien, hrsg. von Marc Blanquet, Paris 1958, S. 72.
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zieht. Sie sorgt dafür, dass Bretodeau sein Schatzkästchen aus der Kindheit wiederfindet und sich wieder seiner Umwelt öffnet. Sie schreibt die Briefe, um das Leben der Concierge Madeleine Wallace erträglicher zu gestalten, sie initiiert die Liebe zwischen dem krankhaft eifersüchtigen Joseph und dem eingebildet kranken Tabakfräulein Georgette. Es geht um die Transformation und Transformierbarkeit von Zeichen und Zeichensystemen unterschiedlicher Medien; Medien und mediale Fragmente sind gegeneinander montiert und ineinander verschachtelt. Sie sind im Medium Film auf unterschiedliche Art und Weise präsent und repräsentiert und richten den Blick des Zuschauers auf die mediale Konstruktion der Welt.18 Dabei lenkt das Theater ebenso wie die Konstituierung aller übrigen hier diskutierten Medien das Augenmerk auf die Visualität des Mediums. In der Darstellungskunst der Akteure und in Bezug auf den Zuschauer werden permanent Blicke ausgetauscht, die Ordnungen im Dialog aufbauen und gleichzeitig unterlaufen. In der Inszenierung von der Kostümierung und Maskierung (Amélie als Zorro, Nino als Gespenst) bis hin zum Bühnenbild (der Raum des Gemüsehändlers Collignon, das Café) und den Requisiten (die sprechende Lampe an Amélies Bett) wirken eine Vielzahl von Konstituenten mit, die visuelle Signale aussenden und die erst durch visuelle Kommunikation Wirkung zu zeitigen vermögen.19 Der Wirksamkeit des Wortes werden, wie schon von Diderot gefordert, die von Gestik, Blick und Mienenspiel entgegengesetzt.
Der Film Diverse Filmemacher haben die Nähe Jeunets zu Cineasten des französischen Kinos der 1930er Jahre mit seinem poetischen Realismus beschworen: zu Jean Renoir, Marcel Carné, René Clair. Es sind dieselben Pariser Plätze, die Jeunet inszeniert. Dieselbe Sensibilität, derselbe Stil. Wie seine Vorbilder nimmt auch er sich des Lebens der kleinen Leute an.20 Der Film stellt seinen Kunstcharakter immer wieder deutlich heraus, reflektiert seine eigene Materialität. Die satten Farben, die extremen 18 Vgl. Müller, Jürgen E.: „Das mediale Labyrinth des Films. Helvio Sotos: La triple mort du troisième personnage“, in: ders./Vorauer 1993, S. 201-212, S. 202. 19 Vgl. Völcker 1996, S. 106. 20 Vgl. Vincendeau, Ginette: „Café Society“, in: Sight and Sound (August 2001), S. 22-25, S. 22f.
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Großaufnahmen von Gesichtern und Objekten, ungewöhnliche Kamerawinkel, die die Realität verzerren, digitale Spezialeffekte – ausgeglichen durch lange Aufnahmen, die kaum eine Kamerabewegung erkennen lassen. Jeunet zeigt ein Postkarten-Montmartre, ein Bilderbuch-Montmartre, das einige auch boshaft „Eurodisney in Montmartre“ nannten, ohne das künstlerische Prinzip, das hinter diesem nostalgischen Blick steht, zu hinterfragen. Kritiker sprechen von fabelhaften, wundervollen Bildern, ja, von einem „wahren Bildersturm“, den Jeunet hier entfache.21 Immer wieder zeigt uns der Film aber auch Amélie als Autorin des Films. So, wenn sie in Schwarz-Weiß-Western-Dokumentar-Film-Manier imaginiert, warum Nino nicht zum verabredeten Treffpunkt kommen kann. Sie konstruiert ein aberwitziges Abenteuer, bei dem Nino zunächst von Terroristen gekidnappt wird, nur um dann selbst zum Widerstandskämpfer zu mutieren. Auch am Schluss imaginiert sie, wie Nino angezogen vom Duft ihres fabelhaften Butterkuchens, die Straßen auf der Suche nach Amélie durchstreift. In Amélie manifestiert sich die Angst eines Menschen, die Realität könnte anders sein als die von ihm erdachte Kunstwelt: In seiner Heldin beschwört er [Jeunet] die zentrale Phobie des medial umzingelten Menschen: die panische Angst davor, dass die Wirklichkeit etwas anderes sein könnte als ein blankpoliertes Bild und die Menschen sich anders zeigten denn als Ansammlung von 22 Idiosynkrasien.
Symptomatisch für diese medial vermittelte Weltsicht ist, dass es wiederum die durch ein Videoband vermittelte Botschaft des Malers ist, in dem dieser Amélie auffordert, sie möge doch endlich ihre imaginierte Welt verlassen, die sie in die Lage versetzt, ein Leben abseits ihrer Phantasiewelten zu führen. Mit Nino auf dem Roller lernt sie eine ganze neue Art von Freiheit kennen, die Geborgenheit zugleich ist, wie der Zuschauer. Auch er begreift, dass er für Minuten einem Filmmärchen zugeschaut hat, dass er den Kinoraum verlassen muss, will er sein eigenes Glück finden. Jérôme Larcher bezeichnet den Film Jeunets denn auch konsequent
21 „Die fabelhafte Welt der Amélie“, in: film-dienst 17 (2001), S. 20. 22 Gansera, Rainer: „Die Fabelhafte Welt der Amélie. Jean-Pierre Jeunets rasantes Märchen um eine verschlossene junge Frau“, in: epd Film 8 (2001), S. 40.
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als „un film de collectionneur“, in dem sich alle Zuschauer in dem einen oder anderen Moment wiederfinden.23 Das Paradox: obwohl der Film seine eigene Künstlichkeit und seine poetischen Realismus, seine Nostalgie immer wieder spielerisch selbst reflektiert, wollten viele Kinogänger Amélie wie eine der ihren betrachten, frei nach dem Motto „Montmartre ist überall“. Jeunet selbst erklärte seinen Erfolg in einem Interview mit der deutschen Filmzeitschrift filmdienst folgendermaßen: Wir mimen oft aus emotionaler Unsicherheit heraus den Zyniker und trauen uns nicht, Gefühle zu zeigen, aus Angst, als schwach zu gelten. „Amélie“ spricht das im Alltag verschüttete Gute in uns an, holt die positive Kraft aus uns heraus. Die Zuschauer dürsten nach Filmen, die sie mit einem leisen Lächeln verlassen können, sie wollen nicht nur Gewalt, Mord und Totschlag auf der Leinwand sehen. Die Schwierigkeit lag darin, nicht ins Zuckersüße oder 24 Kitschige abzurutschen.
Deshalb gibt es das Spiel mit medialen Versatzstücken, deshalb die Autoreflexion, die den Film daran hindert ins klebrig Süße abzugleiten. Dennoch hat die permanente mise-en-abyme, das Ausstellen der eigenen Künstlichkeit, Kinogänger nicht daran gehindert, den Film als realistisch gemeinte Gebrauchsanweisung zu lesen.25 Das unauflösbare Paradox der AMÉLIE POULAIN.
23 Larcher, Jérôme: „Le Fabuleux Destin d’Amélie Poulain de Jean-Pierre Jeunet. Le cabinet des curiosités“, in: Cahiers du Cinéma, Mai 2001, S. 112. 24 „Alles unter Kontrolle“, (Gespräch mit Jean-Pierre Jeunet), in: film-dienst 17 (2001), S. 14. 25 Vgl. die im Internet kursierende E-Mail eines jungen Mannes, der ausgehend vom Film sein eigenes Amélie-Märchen konstruiert: http://www.mistice.com/misterw/specialamelie.html.
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TODO SOBRE MI MADRE – SCHAUSPIELE ZWISCHEN REALITÄT UND FIKTION A Olga, mi madre „Mi idea al principio fue hacer una película sobre la capacidad de actuar de determinadas personas que no son actores.“ (Pedro Almodóvar über TODO SOBRE MI MADRE)
Simulationen und Theatralisierung des Alltags Bereits Almodóvars Film LA FLOR DE MI SECRETO (1995) beginnt unvermittelt mit einem Schauspiel, mit einer visuellen Verblendung des Publikums: Zwei Ärzte versuchen eine Mutter, deren Sohn durch einen Motorradunfall im Koma liegt und nur noch durch Maschinen am Leben gehalten wird, zur Organspende zu überreden. Tränen, Unglaube, Fassungslosigkeit beherrschen die Atmosphäre, in der eine menschliche Tragödie simuliert wird. Denn wenig später nur schwenkt die Kamera um und das Szenario löst sich auf: Die Szene entpuppt sich lediglich als Generalprobe. Man probt den Ernstfall. Vier Jahre später übernimmt Almodóvar die gleiche Szenerie in seinem Oscar prämierten Film TODO SOBRE MI MADRE (1999): Médico 1: Su marido ha muerto. Manuela [Leiterin der Organspendenkurse]: No puede ser. Acabamos de verle en la UVI y parecía que respiraba. Médico 2: Ya se lo hemos explicado, señora. Son las máquinas, que le están oxigenándo. Quiere que avisemos a un familiar?
Almodóvar führt mit dieser Improvisation sein Hauptthema – die Schauspiele des Lebens – ein: „Una mujer normal [Manuela], que en las
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simulaciones […] se convertía en auténtica actriz, mucho mejor que los médicos con los que compartía la escena.“1 Der Film nimmt mit dieser Selbstreferenz das Schauspiel wieder auf – doch diesmal tritt wenig später der Ernstfall für die Protagonistin Manuela tatsächlich ein. Das Herz des verunglückten Esteban (junior), einziger Sohn Manuelas, soll nun auf ihre Zustimmung hin transplantiert werden. In nur wenigen Stunden wird es zu seinem neuen Besitzer delegiert. Das menschliche Ersatzteillager funktioniert einwandfrei – nicht nur im Todesfall, nicht nur bei Organspenden, wie das Publikum des Films und gleichzeitig das Theaterpublikum-im-Film gegen Ende in einer grotesken Szene erleben wird. Die Fiktion wird zur tragischen Realität und bereits hier verdeutlicht sich das Theatrale des Lebens, das zwischen Tragödie und Komödie, zwischen screwball drama und screwball comedy laviert.2 Das Leben erscheint in diesem Sinne zunächst als calderonianische Bühne des Lebens, als klassisches theatrum mundi: Nach Calderón habe jeder seine ihm von Gott zugeteilte Rolle nach dem Dogma des Obrar bien so gut wie möglich zu spielen. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, präsentiert Almodóvar seinem Publikum hier jedoch andere Varianten, andere Bühnen. Denn jeder kann aus dem Repertoire der Rollen beliebig schöpfen, niemand scheint festgelegt zu sein. Auf der Suche nach dem Herz ihres Sohnes3, nach der Person, der das Herz ihres Sohnes gespendet wurde und nach seinem Vater Esteban (senior), begibt Manuela sich nach Barcelona, wo sie der ersten Figur in diesem vielschichtigen Theaterstück begegnet. Ihre alte Freundin Agrado, die, nachdem sie (als Mann) Lastwagenführer gespielt hatte, nun mit Hilfe einiger weiblicher Requisiten und Prothesen4 – die Rolle der zwittrigen Prostituierten angenommen hat: 1 Vgl. Textmaterial der DVD. Alles über meine Mutter, Arthausvideo 500051. 2 „Si existiera el término (sólo se adjudica a la comedia delirante, me refiero a la ,screball comedy‘ podríamos definir Todo sobre mi madre como un ,screball drama‘. Drama disparatado, barroco y con personajes extremos, vapuleados por el azar (sin que sea gran guiñol, o drama grotesco).“ Ebd. 3 Diese Suche findet ihr Analogon in dem später gezeigten Bühnenauftritt Blanche Dubois (die Protagonistin aus Tennessee Williams Theaterstück A Streetcar Named Desire, während dem sie verzweifelt ihre herzförmige Schmuckdose sucht. Bereits hier werden die Parallelschicksale der beiden Frauen angedeutet. 4 Vgl. auch die akribischen Versuche der Protagonistin Tina aus Almodóvars La ley del deseo, eine perfekte ‚vollständige‘ Frau darzustellen, die dann jedoch zu der im Film dominanten Hyperrealisierung und Artifizialität führen, die durch hoppersche Szenerien forciert werden. Tinas Hang, den Modetrends zu folgen, sich zu jeder Gelegenheit liften zu lassen, attestiert
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Huma [eine Schauspielerin]: Oye, Agrado. Tú sabes conducir? Agrado: Sí, de joven fui camionero. Huma: Ah, sí? Agrado: En Paris, justo antes de ponerme las tetas. Luego deje el camión y me hice puta. Huma: Qué interesante! Agrado: Mucho!
Und ironischerweise ist es gerade Agrado, die den Drags und Transvestiten vorwirft, Travestie mit Zirkus und Schauspiel zu verwechseln. Sie hingegen ist, wie sie selbst ausdrückt, oben pneumatisch5 und unten nicht ohne, wobei sie treffenderweise die Amalgamisierung von plastischer Chirurgie (sowohl in ästhetischer als auch medizinischer Weise) und Reparaturwerkstatt pragmatisch bestätigt. Wie Organe transplantiert, Körperteile pneumatisch aufgepumpt werden, erweist sich auch die Kunst der Verkleidung als einfaches Schauspiel: bereits ein Paar Brüste aus der Requisitenkammer der Weltbühne, ein (nachgemachtes) Kostüm von Chanel erschaffen neue Identitäten. Agrado: No hay nada como un chanel para sentirse respetable... […] Manuela: Oye, el chanel es de verdad? Agrado: No, mujer. Cómo voy a gastarme medio millón en un chanel auténtico, con el hambre que hay en el mundo!.. yo lo único que tengo de verdad son los sentimientos y los litros de silicona, que me pesan como quintales...
Agrado bedient sich im Spiel von Authentizität und Realität bei den klassischen Sektoren der Modebranche, um das Modell des Transvestiten, des Cross-dressing visuell und stofflich zu unterstützen und vollführt damit gleichzeitig einen Seitenhieb auf den Markenfetischismus der heutigen Konsumgesellschaft.6 Schon lange zieht die Modebranche die bei Almodóvar allgegenwärtige Ersetzbarkeit und Transformierung des Körpers und unterstreicht die baudrillardschen Theoreme, dass es im Zeitalter der Prothesen, der chirurgischen oder semichirurgischen Operationen, Zeichen oder Organe, Schicksal des Körpers ist, Prothese zu werden. Das Modell der Sexualität ist die Transsexualität, die gleichzeitig Ort der Verführung wird. In diesem Sinne hat sich hier auch der Vater von Esteban, Esteban senior, (zusammen mit Agrado) chirurgisch effeminisiert und sich zu Lola, La Pionera, transformiert. Vgl. Auch Baudrillard, Jean: La Transparence du mal. Essais sur les phénomènes extrèmes, Paris 1990. 5 Vgl. Anm. 9. 6 In einer anderen Szene trägt die Schauspielerin Huma Rojo einen Umhang von Sybilla – ein Augenzwinkern an die große Modeschöpferin der Movida
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die Ästhetik, die Kunst der visuellen Verblendung der praktischen Funktion (als Bekleidungsmittel) vor. Die Bekleidung hat ihre schützende und wärmende Rolle längst zugunsten einer Mode abgegeben, die den Respekt und Akzeptanzgrad einer Person bestimmt. „No hay nada como un chanel para sentirse respetable...“ Auf der anderen Seite rekurriert Almodóvar mit der schrillen leichten Bekleidung Manuelas gleichsam auf den bereits von den spanischen Majas und Majos betriebenen Kleiderkarneval, der in den aktuellen Theorien als trickle-down Effekt bezeichnet wird, da sich die oberen Gesellschaftsschichten zum Freizeitvertreib den Kleidercode der unteren Schichten zueigen machten und auf diese Weise legitim nicht nur die äußeren Merkmale, sondern auch deren frivol-burleske Verhaltensweisen adaptieren konnten (Abb. 1).7 Die modischen Kleidercodes bezeugen ihre gewichtige, oftmals unterschätzte polyvalente Rolle nicht nur bezüglich der Be- und Verkleidung von Gesellschaftsschichten, sondern auch der der Geschlechter. Abbildung 1: Francisco de Goya, Merienda campestre (1788)
Madrileña und gleichzeitig eine Hommage an Gena Rowland aus Opening Night (John Cassavetes, 1977). 7 Vgl. Held, Jutta: Goya, Reinbek bei Hamburg 1980.
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Die Relationen der Protagonisten untereinander werden im Laufe des Films immer transparenter, das Netz der Beziehungen wird enger gezogen, während Almodóvar gleichzeitig neue Facetten des Theatralen präsentiert: Nachdem Agrado zusammengeschlagen wurde, beschwert sie sich über ihr Aussehen: „Un poco hinchada?... Pero dónde voy yo con este careto? No encajo en ningún tipo de perversión! Bueno, necrofilia o bestialismo, tal vez...“ [Hv. I.M.Q] In Anlehnung sowohl an spanische groteske Verfahrensweisen Francisco de Goyas zur Demonstration der Absurdität des Lebens, als auch an ästhetische Repräsentationsformen Quevedos und Valle-Incláns,8 kann Almodóvar mit Hilfe dieses esperpentischen Repertoires, jene Verzerrungen und Deformationen des menschlichen Alltags, die Fragwürdigkeit gesellschaftlicher Konventionen und Existenzbedingungen auch der heutigen Gesellschaft entlarven, in Frage stellen und auf die patriarchialen Determinanten der Gesellschaft verweisen: So korrespondiert Agrados momentane (Gesichts-)Maske (careto) mit dem Nekrophilen oder Bestialischen und entspricht nun nicht mehr den Erwartungen der erotischen Prostituierten. Sie bestätigt in dieser Szene die Korsettierung gesellschaftlicher Zuordnungen und gleichzeitig den Zwang des Modediktums, dem gegenwärtig keine (plastisch-synthetischen) Grenzen mehr gesetzt sind: Agrado: „Es lo malo de esta profesión que tienes que estar mona por cojones! Y siempre al loro de los últimos avances tecnológicos en cirurgía y cosmética!“ Den Anpassungswahn im prothetischen Bereich wird Agrado gegen Ende des Films in einem geistreichen Monolog auf der Bühne des Tivoli-Theaters dem Höhepunkt zuführen. Die Schauspielerin Huma Rojo persifliert ihrerseits paradigmatisch die Kunst der Nachahmung, indem sie den ihr passenden Bereich des Starkultes zitiert, wenn sie erwähnt, dass sie, um die Grande Dame der Schauspielkunst Bette Davis zu imitieren, angefangen hatte, zu rauchen und sich den Künstlernamen Huma zugelegt hat.9
8 Vgl. insbesondere de Quevedo, Francisco: La vida del Buscón, Barcelona 1993; de Goya, Francisco: Caprichos, Prag 1958; del Valle-Inclán, Ramon: Luces de bohemia, Madrid 1973. Vgl. auch Schlünder, Susanne: Karnevaleske Körperwelten Francisco Goyas Zur Intermedialität der Caprichos, Tübingen 2002. 9 Daß sich der Name Huma von humo (Rauch) ableitet, bleibt dem nicht spanischsprechenden Publikum leider verborgen. Auf der anderen Seite gelingt das linguistische Verwechslungsspiel von neumático und reumático auch auf internationaler Ebene. (Hier erzählt Agrado von ihren pneumatischen Silikonbrüsten, während Nina die Männer missverständlich als rheumatisch bezeichnet.)
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Schein und Sein als bürgerliches Schauspiel der Hypokrisien Madre: „No me gusta que una extraña me vea falsificando chagales!“
Es ist nicht nur die Welt der Medien-Stars, des Glitter und Glamour, die im Zeichen des Scheins auftreten. Die Gesellschaft folgt einem engaño visual, der einhergeht mit bewusster Schizophrenie, der Trennung zwischen öffentlicher und privater Sphäre – immer noch dem Dogma des spanischen Siglo de Oro folgend, in dem die öffentliche Meinung den Alltag dominierte. Die Mutter der von dem Transvestiten Lola (Esteban senior) geschwängerten und auch von ihm aidsinfizierten Nonne Hermana Rosa – ein weiterer unerhörter Bruch mit den bürgerlichen Konventionen – entpuppt sich hinter ihrer bürgerlichen Fassade als Kunst-Fälscherin, spezialisiert auf Chagall (Abb. 2, 3)10 und Picasso. Abbildung 2: Marc Chagall, La Madonna du village (1938-1942); Abbildung 3: Screenshot aus TODO SOBRE MI MADRE
Visuell wird die Hypokrisie durch simple Details verschärft wie die Tapeten der Wohnung, die aus den 70er Jahren stammen, aber heutzutage als modisch gelten würden. Nach außen wirkt somit modern, was tatsächlich Puritanismus und Tradition widerspiegelt. Während im gesamten Film das Theater der visuellen und materiellen Maskerade dominiert, gesellt sich des weiteren auch das orale Schauspiel, die oralen Falsifikationen, die Verstellung der Sprache hinzu. Für Almodóvar ist die Kunst der Lüge nicht mehr die unter Franco noch propagierte Todsünde, die gepaart mit einem konstanten schlechten Gewissen, einer Gedankenkontrolle und -zensur den Alltag der Gesell10 Es wird hier ironisch z.B. auf Marc Chagalls Bild La Madonna du village (1938-1942) rekurriert, das die verschiedenen Elemente, Szenerien und Figuren des Films plastisch veranschaulicht; wie die (vaterlose) Mutterschaft, die Rolle Rosas und die tugendhafte Jungfräulichkeit.
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schaft bestimmte. Für ihn ist die Lüge Schutz, diplomatisches Instrument zum Abwenden von Tragödien, so wie er es aus seiner Kindheit her kennt – „perfeccionar la realidad, añadiéndole un poco de ficción“: „Yo a veces vigilaba lo que mi madre leía y comprobaba con estupor que no coincidía con el contenido de la carta. Por ejemplo mi madre leía (interpretaba más bien) „y muchos besos para la abuela, que me acuerdo mucho de ella. Las ganas que tengo de sentarme en el patio, con una palangana de agua para peinarla y hacerle su moño como a ella le gusta.“ En la carta por ejemplo, no aparecía ninguna referencia a la abuela. De vuelta a casa, yo la recriminaba por inventarse parte del contenido de las cartas (en realidad no se lo inventaba, ella conocía a los personajes y sabía lo que querían oír). Mi madre se defendía diciéndome: „pero has visto la ilusión que le ha hecho a la abuela oír que su nieta se acordaba 11 de ella!“
Lüge ist für ihn nicht mehr negativ, sondern kann auf der alltäglichen Bühne positiv besetzt werden und gehört nicht mehr zum Attribut der Sündigen, sondern wird zum Bestandteil aller. Letztlich hebt sich die Dichotomie von wahr und falsch auf. Auch Schwester Rosa bedient sich einer Lüge, als sie den Eltern mitteilt, sie werde für einige Zeit nach El Salvador gehen, obwohl sie stattdessen bei Manuela untertaucht, um ihre Schwangerschaft vor ihnen vertuschen zu können und sie dadurch nicht zu belasten: Madre: „Y yo preocupada, creyendo que estabas en El Salvador! Por lo que veo ya has aprendido a mentir.“ Die Lüge tritt einerseits als Zeichen der Liebe und Einfühlsamkeit auf, anderseits ist sie Zeichen gesellschaftlich-moralischer Verpflichtung geblieben. Imitation, Verstellung, Lüge beherrschen den Alltag der Protagonistin Manuela, deren Organspendeseminare bereits von Simulation und Improvisation dominiert wurden, Charakteristika, die nicht mehr Privileg der Schauspielerei, sondern des Alltags geworden sind. Huma: Pero tú sabes actuar? Manuela: Sé mentir muy bien y estoy acostumbrada a improvisar. [wie auch in den Simulationen der Organspendeseminaren]
Auch der folgende Dialog zwischen Agrado und Mario im Theater Tivoli, als Nina, die Schauspielerin und Geliebte Humas, aufgrund ihrer Drogensucht nicht erscheinen kann, zeugt davon:
11 Investidura como Doctor „Honoris Causa“ por la Universidad de CastillaLa Mancha del Excmo. Sr. D. Pedro Almodóvar Caballero, Universidad de Castilla-La Mancha, Ciudad Real 2000, S. 20.
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Mario: Hoy sí habrá que suspender.... Agrado: No digas nada! Mario: Pero algo habrá que decir. Agrado: Sí, pero no hace falta que sea la verdad. Ya me inventaré yo algo!
Es folgt eine der vieldeutigen Szenen des Filmes, in der Agrado ihren weiter oben angekündigten Auftritt hat – obwohl sie, wie auch Manuela, nicht zu den professionellen Schauspielern auf der Theaterbühne gehört. Hier offenbart sich Authentizität als leere Worthülse, als pures Simulakrum. Der als authentisch gedachte menschliche Körper wird zur technisch reproduzierbaren Prothese, zum synthetischen Schaustück. Agrado: Me llaman la Agrado porque toda mi vida sólo he pretendido hacérle la vida agradable a los demás. […] Además de agradable, soy muy auténtica. Miren qué cuerpo! Reparen! Todo hecho a medida! Rasgado de ojos, ochenta mil. Nariz, doscientas, tiradas a la basura porque un año después me la hicieron así de otro palizón. Ya sé que me da mucha personalidad, pero si llego a saberlo no me la toco... Continúo: Tetas, dos. Setenta cada una, pero estás las tengo ya superamortizadas. Silicona en labio, frente, pómulo, cadera y culo. El litro cuesta cien mil, así que echad la cuenta porque yo ya la he perdido. Limadura de mandíbula, setenta y cinco mil. Depilación definitiva con láser, porque la mujer „tambien“ viene del mono, tanto o más que el hombre, setenta mil por sesión. Depende de lo barbuda que seas, lo normal es de dos a cuatro sesiones, pero si eres folclórica necesitas más, claro. Lo que les estaba diciendo, cuesta mucho ser auténtica! Pero no hay que ser tacaña con nuestra aparencia. Una es más auténtica cuando más se parece a lo que ha soñado de sí misma. [Hv. I.M.Q.]
Dieser Auftritt untermalt zugleich die bekannte These Judith Butlers der Performanz, die die Konstruktivität sowohl des gesellschaftlich-kulturellen Geschlechts (gender), als auch des biologischen Geschlechts (sex) betont. Sex und gender – „a freefloating artifice“12 – gelten als voneinander unabhängige Konstrukte.13 Diese Performanz, das Spiel mit Authentizität und Artifizialität findet auf den genannten visuellen (körperlichen) oder sprachlichen Ebenen statt und wird im Film gleichzeitig mit Hilfe der intermedialen Versatzstücke immer wieder bestätigt. Das Theatrale erhält schließlich seinen endgültigen Platz im Alltag. 12 Butler, Judith: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, London 1990, S. 6. 13 Vgl. auch Butler, Judith: Bodies that matter. On the Discursive Limits of „Sex”, London 1993.
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Internationale Theaterstücke als intermediales Referenzsystem Es gehört zu den kreativen Eigenschaften des spanischen Regisseurs seine Filme auf verschiedenen filmischen als auch kulturellen Ebenen für ein nationales als auch internationales Publikum fruchtbar zu machen, auch ohne über gewisse Codes – über das Wissen um spanische Traditionen – verfügen zu müssen. Sich dennoch dem Dechiffrieren des enormen Zitatenschatzes zu widmen, entpuppt sich andererseits immer wieder nicht nur in diesem Film Almodóvars als spannende und interessante Aufgabe, als Kommunikation zwischen Autor und Rezipient, die das Werk in variierten Facetten ständig neu kreiert. In diesem Film konfrontiert Almodóvar das Publikum mit verschiedenartigen Formen des Theaters und der Theatralität: Bereits im Titel des Films TODO SOBRE MI MADRE (ALL ABOUT MOM) verweist er auf das Theaterstück All About Eve (195014) des amerikanischen Autors Joseph Leo Mankievicz. Zunächst wird dem Kinopublikum ein Ausschnitt aus dem oskargekrönten Film mit Bette Davis in der Hauptrolle präsentiert, den Manuela und Esteban (junior) sich im Fernsehen anschauen (Abb. 4, 5). Abbildung 4: Screenshot aus TODO SOBRE MI MADRE, Bette Davis; Abbildung 5: Screenshot aus TODO SOBRE MI MADRE, Huma Rojo
All About Eve dient dem jungen Sohn zugleich als Vorlage für sein eigenes Buch Todo sobre mi madre (All About mom). Dass Manuela ihrem Sohn des weiteren Truman Capotes Music for chameleons (1980) zum Geburtstag schenkt, erweitert nicht nur das intermediale Zitatennetz, es untermalt zudem die Parallelen zwischen Esteban (junior) und Capote 14 Interessanterweise wurde der Film zu seiner Zeit auf den renommierten Filmfestspielen von San Sebastián verboten – eine Tatsache, die Almodóvars Freude am Unkonventionellen bestätigt.
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selbst. Beide begannen früh zu schreiben und Esteban wird, ebenso wie der amerikanische Schriftsteller, früh sterben. Durch diese intermedialen Spielformen wird zugleich eine Art alter ego Almodóvars inszeniert, der dadurch seine eigene Tätigkeit als Autor parodiert. An diesem Abend, der Geburtstag Estebans, beginnt ein (Schau-) Spiel, in dem jedes Medium auf ein anderes verweist, mit ihm verknüpft ist, die Geschichten der Protagonisten ineinander verwebt, variiert, aktualisiert. Die im Fernsehen gezeigte Szene aus All About Eve, spielt in der Garderobe der großen Schauspielerin Margot Channings den Auftritt Eve Harringtons, die sich zunächst als Fan ausgibt, sich später jedoch als skrupellose und hinterhältige Jungschauspielerin entpuppt. Die Szene variiert wenig später, als Esteban (junior) ein Autogramm von Huma Rojo ersucht, von einem Auto erfasst wird und nun tatsächlich stirbt. Esteban gehörte wie angeblich Eve zu denjenigen Anhängern des Theaters, die das Schauspiel und die Schauspieler tatsächlich faszinierte und beschäftigte und nicht zu den ,Autogrammjägern‘, die Margot Channing in dem gezeigten Filmausschnitt als nichtsnutzig deklassierte, da sie weder Interesse am Stück noch an der Person hätten. Damit expliziert der Film von Mankievicz neben seiner melodramatischen Persiflage des Medienspektakels, einer Welt der Intrigen und Dekadenz, des Traums und der Illusion, bereits hier eine sozialkritische Haltung, die Jahre später auch bei Almodóvar nichts von seiner Aktualität verloren hat. Auch die Geschichte zwischen Nina und Manuela rekurriert auf die amerikanische Vorlage: Diesmal übernimmt Manuela die Rolle der Eva und Nina die Rolle der Margot. Die durch die amerikanische Vorgabe geleitete Erwartungshaltung der Zuschauer, Manuela könne wie eine Eve Harrington Nina die Rolle abspenstig machen, wird sich jedoch nicht erfüllen. Nina zu Manuela: Aqui llega la mosquita muerta...! Manuela: Qué pasa? Nina: Lo tenías todo planeado, eh? Hija puta…! Huma: Nina, no insultes! Nina: Eres igualita que Eva Harrington! Te aprendiste el texto de memoria a propósito! Es imposible aprendérselo sólo oyendolo por los altavoces, coño! Por quién me tomas? Por gilipollas?
Wenig später wiederholt sich dieses Szenario, als ob es sich auch bei den Filmszenen um Theaterproben handeln würde. Ironischerweise ist es diesmal Agrado, die tatsächlich in der Garderobe die Vorführung über die Lautsprecher verfolgt und den Text schließlich auswendig mitspre-
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chen kann. Augenzwinkernd verweist Almodóvar mit dieser Synchronisationsszene autoreferentiell auf die filmischen Techniken, auf die (Schauspiel-)Kunst des Filmemachens. In dieser Szene bricht Almodóvar mit der amerikanischen Vorlage, lässt seine Protagonistin Manuela als ,anti-Eva Harrington‘ auftreten, die den Text Ninas nicht aus Berechnung wie die Eva aus All About Eve, sondern aus Erfahrung und ‚authentischem Interesse‘ an der Rolle bereits vorher auswendig wusste. Der Grund dafür liegt in ihrer Vergangenheit als Schauspielerin: Esteban: „Te ha emocionado mucho Nina Cruz, verdad?” Manuela: „Ella no, Estela. Hace 20 años, con el grupo de mi pueblo montamos una versión de „El Tranvía...“ Yo hacía de Estela, y tu padre de Stanley Kowalski.“
Als Manuela eines Abends tatsächlich für die erkrankte Nina einspringt, spielt sie ihrerseits nicht nur die Rolle der Hauptdarstellerin Stella, sondern diesmal mit umgekehrten Vorzeichen sich selbst. Ihre Tränen, ihr Schmerz und ihre Trauer um den verlorenen Sohn brechen auf der Bühne aus ihr heraus. Das so äußerst authentisch wirkende Theaterstück wird durch die Laienschauspielerin und Improvisationskünstlerin Manuela ein besonderer Publikumserfolg. Hier wird nun das Leben auf die Bühne transponiert und theatralisiert, werden Prämissen von Imitatio und Mimesis in Frage gestellt. Nina ihrerseits scheint im Sinne eines quijotesken Lektüreschadens15 zum Opfer des Theaters, des Schauspiels zu werden, beginnt sie doch, Gelesenes (Theaterscript) mit ihrer eigenen Realität zu verwechseln, nicht mehr zwischen Manuela und ihrer Rolle als Eva Harrington aus All About Eve unterscheiden zu können. Zusehends versinkt sie 15 Bekanntlich konnte der Protagonist von Miguel de Cervantes’ berühmten Werk aufgrund seiner fanatischen Lektüre von Ritterromanen nicht mehr zwischen der Realität der gelesenen Geschichten und seiner eigenen Realität unterscheiden, so dass er sich schließlich selbst zum edlen Ritter Don Quijote de la Mancha ernannte und zu abenteuerlichen Reisen aufbrach: „En resolución, él se enfrascó tanto en su lectura, que se le pasaban las noches leyendo de claro en claro, y los días de turbio en turbio, y así del poco dormir y del mucho leer, se le secó el cerebro, de manera que vino a perder el juicio. Llenósele la fantasía de todo aquello que leía en los libros, así de encantamiento, como de pendencias, batallas, desafíos, heridas, requiebros, amores, tormentas y disparates imposibles, y asentósele de tal modo en la imaginación que era verdad toda aquella máquina de aquellas soñadas invenciones que leía, que para él no había otra historia más cierta en el mundo.“ Miguel de Cervantes Saavedra, Don Quijote de la Mancha, Barcelona 1985, S. 37-38.
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in die von ihr zu spielende Rolle aus Tennessee Williams Theaterstück A Streetcar Named Desire (1947). Während somit All About Eve als mise-en-abyme für verschiedene Aspekte des filmischen Plots fungiert – Verzweiflung, Wahnsinn, Verlangen, Hilflosigkeit, Entttäuschung, Einsamkeit16 – wird dies zusätzlich durch das in blaues Licht getauchte und damit traumanaloge Theaterstück A Streetcar Named Desire im Film unterstützt. Hoffnung und Begehren werden zum universellen Wunschtraum, zur Schlüsselfunktion des Lebens klassifiziert, die den Film leitmotivisch begleiten (Abb. 6). Abbildung 6: Screenshot aus TODO SOBRE MI MADRE
Und auch hier werden Schauspiel und Realität vermischt, das Leben fiktionalisiert, wenn sich jeder Teilnehmer seinen Part aus den medialen Prätexten aneignet: „Huma triunfa en el escenario cuando vive el drama de Blanche Dubois y fracasa cuando vive su propio drama.“17 Huma richtet ihren Textpart als Blanche Dubois, der Protagonistin aus Tennessee Williams Theaterstück, wörtlich außerhalb der Bühne an Manuela; ein Satz, der sich gleichzeitig auch als Leitfaden durch den gesamten Film zieht. Blanche/Huma: „Gracias. Quienquiera que seas, siempre he confiado en la bondad de los desconocidos.“ 16 Vgl. Almodóvar, Todo sobre mi madre, S. 173. 17 Ebd., S. 189. Diese Hybridisierung von Bühne und Alltag wird bereits von Mankievicz in seinem Film The barefoot Contessa (1954) thematisiert. Auch hier problematisiert er kritisch das Schauspielleben.
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Während bei Williams die ‚Güte der Unbekannten‘ jedoch kein glückliches Ende nimmt, die von ihrem Schwager misshandelte Blanche auch von ihrer Schwester keine Hilfe erhält und in die Psychiatrie interniert wird, bilden sich zwischen den Unbekannten, zwischen den Protagonistinnen enge solidarische, auch (homo-)erotische Beziehungsgeflechte – „Las mujeres son un poco bolleras“. Zugleich betont Almodóvar den androgynen Aspekt, die Theatralität (homo)erotischer Beziehungen, bei denen die Partner ihre vom patriarchialischen Rollendenken befreite Rolle frei auswählen können. Almodóvar nutzt das emanzipatorische Potential Tennessees, indem die Protagonistin Stella sich wie in der amerikanischen Vorlage aus ihrem häuslichen Gefängnis, aus ihrem Puppenheim18 befreit. Sie verlässt Stanley mit dem neugeborenen Kind – so wie Manuela sich bereits vor der Geburt des kleinen Esteban von Lola getrennt hatte. Wiederholt spiegelt sich die von Almodóvar auch bei dieser intermedialen Vorlage wieder aufgenommene Sozialkritik. Williams Kritik an der (amerikanischen) Gesellschaft zeigt sich nicht nur in dem penetranten Insistieren Stanleys auf dem Code Napoleon – dem gegenseitigen Recht der Eheleute auf den Besitz ihres Partners –, sondern in zahlreichen scheinbar unbedeutenden Details wie der ironische Auftritt Fliegender Händler, die Bananen und Hot Dogs anpreisen. Bereits bei Williams wird die Dominanz von Schein und Sein, von Wahr und Falsch betont, die sich in den visuellen Zeichen wie der Glamour-Garderobe Blanches besonders deutlich festmachen lässt. So lässt sich beim ersten Hinschauen nicht feststellen, ob es sich bei ihrem Collier um echte Diamanten oder um Strass, ob es sich um einen echten Nerz oder um eine billige Imitation handelt. Die Figuren dieses Stückes, die darin angesprochene „natürliche Feindschaft der Geschlechter“, die Gefühle der Frauen, die kritische Thematisierung materieller und immaterieller Werte werden auch zu Versatzstücken Almodóvars, der sie in neuen Kontexten variiert und aktualisiert. Neben diesen impliziten und expliziten Einflechtungen theatraler Zitate, erweitert Almodóvar seine intermedialen Prätexte, die sich teilweise nur in kleinen, anscheinend unbedeutenden Äußerungen der ProtagonistInnen ausmachen lassen. Als Agrado in die Wohnung Manuelas kommt, zitiert sie den durch Marilyn Monroe in der Hauptrolle berühmt gewordenen Film HOW TO MARRY A MILLIONAIRE (Jean Negulesco, 18 Vgl. als weiteres intermediales Zitat Henrik Ibsens dramatisches Schauspiel (Ein Puppenheim, Frankfurt a.M., 1979), in dem die Protagonistin Nora in einem emanzipatorischen Akt Mann und sogar Kind verlässt.
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1953) und fördert auch hiermit die Hommage an weibliches Schauspiel und weibliche Freundschaft: Agrado: „Pero bueno, qué sorpresa! Tres chicas solas, en una casa con pocos muebles siempre me recuerda Cómo casarse con un millionario.“ Dieses Zitatenrepertoire, das die Widmung, den Theatercoup am Schluss des Filmes unterstützt und vorbereitet, wird überdies um eine mythologische Komponente erweitert, in der Almodóvar den männlichen Protagonisten in eine Rolle einbettet, die von der weiblichen Präsenz dominiert wird. Der lange gesuchte Vater Estebans (junior) erscheint erstmals in einer unbehaglichen Szenerie – auf der Beerdigung Rosas, die letztlich dem HIV-Virus erliegt, – als moribunde, morbide Erscheinung. Mit einem surrealen Augenzwinkern auf Almodóvars spanisches Vorbild Luis Buñuel, verwirrt auch hier das kurzzeitige Zeigen einer Fliege im Gesicht Lolas das versierte Publikum. Bereits die Fliegen im Gesicht des Hausherren aus L’ÂGE D’OR (1930) (Abb. 7) lösten Unbehagen, Irritation und gleichzeitig Schmunzeln aus – denn vergeblich sucht man nach Sinngehalten. Alltägliches entpuppt sich plötzlich auch hier, wie Schwarze zu Buñuel konstatiert, als Fallgrube: Während sich das Ungeheuerliche bruchlos in unser Weltbild fügt, irritiert uns das Alltägliche. Warum, so grübeln wir etwa, zeigt uns Buñuel eine tote Fliege in einem Weinglas. Symbol, Metapher, purer Zufall? Dies sind die Fallgruben des Luis Buñuel. In einem Kinofilm, in dem jedes Detail etwas zu bedeuten hat, besteht der Sinn seiner Bilder darin, zu zeigen, daß es oft keinen Sinn mehr gibt. Je mehr die Bilder Buñuels sich dem Erlebnishorizont des Zuschauers nähern, desto mehr verstören sie ihn. Buñuel stellt die gängige Dramaturgie auf den Kopf. Das Gewöhnliche irritiert den Zuschauer, das Außergewöhnliche fügt sich in seine Erwartun19 gen.
19 Schwarze, Michael: Buñuel, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 115. Vgl. dazu auch: „Welche Szene objektiv die furchterregendere ist, steht außer Frage. Und doch schockiert uns die Mausefallenszene mehr. Warum? Weil wir als Schock die Versagung von Sinn erfahren, weil uns erschreckt, was sich nicht mit unserer Erfahrung in Übereinstimmung bringen läßt. Die Mausefalle im noblen Restaurant erscheint uns irrwitziger als ein zerberstendes Auto in den Strassen von Mexico City.“ Ebda.
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Abbildung 7: Screenshot aus Luis Buñuel, L’ÂGE D’OR (1930)
Abbildung 8: Screenshot aus TODO SOBRE MI MADRE
Gleichsam bedient sich Almodóvar dieser, die gängigen Seh- und Denkweisen destabilisierenden Elemente und verknüpft das Gewöhnliche mit dem Außergewöhnlichen, die Authentizität mit der Artifizialität, Realität und Fiktion. Für Almodóvar ist Fiktion das Leben selbst, das nach den eigenen Beschreibungen seiner ländlichen Vergangenheit, seiner groteskesperpentischen Jugend einem surrealen Theaterstück zu gleichen scheint:
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Ficcion para mí era el mundo del patio, las vecinas, mis hermanas recibiendo clases de costura con sus amigas, los gatos, las matanzas, los gitanos, los cantaores que venían en la feria, el twist, colgar un conejo despellejado, todavía sangrante, bajo la parra; mi madre hablando con las vecinas en la puerta de la calle, al fresco de las largas noches de verano... y la gran pantalla del cine al aire libre. Un grueso muro, único fétiche al que me mantengo fiel. Detrás del muro pintado de blanco, los chicos hacíamos nuestras necesidades. Mito y fisiología, yo no lo sabía pero estaba apren20 diendo muy pronto lo esencial.
Das Detail der Fliege rekurriert letztlich auf das bekannte Theaterstück Les Mouches (1943) von Jean Paul Sartre. Dieses auf der Orest-Mythologie fußende Stück, lässt hier das Moment der Tragödie einfließen, das dem filmischen Plot an dieser Stelle sein Unbehagen verleiht. Manuela (sentencia): No eres un ser humano, Lola. Eres una epidemia! Lola: Siempre fui excesiva! Demasiado alta, demasiado guapa, demasiado hombre, demasiado mujer! Nunca tuve medida y estoy muy cansada, Manuela... Me estoy muriendo.
Der Auftritt eines Mannes, der seine Frau verlassen, eine junge Nonne geschwängert und ihr den Tod gebracht hat, fordert die Rache der verletzten Frauen durch die Erinnyen, die bei Sartre in Gestalt der Fliegen präsentiert sind: Symbole der Gewissensbisse. Doch bricht Almodóvar auch mit dieser intermedialen Vorlage, da hier in einer anderen Personenkonstellation weder ein Racheakt vollführt wird noch werden deutliche Rollenspiele definierbar – Lola ist weder Mann noch Frau und die traditionelle Form der Familie – die im Film durch den Blick auf das architektonische Meisterwerk Gaudis der Sagrada Familia visualisiert ist – ist hier durch andere weibliche (vaterlose) Varianten und Konzeptionen (Manuela-Lola-Agrado, Manuela, Rosa, Esteban [Rosas Baby]) ersetzt worden.21 Das letzte Theaterstück, das Almodóvar im Zuge seiner barocken Kombinierfreude einflechtet, rekurriert explizit auf Federico García 20 Vgl., Investidura como Doctor, S. 18. 21 Manuela übernimmt gleichzeitig die Rolle der Partnerin und der Mutter und ist (spielt) sie authentischer als die biologische. Auch hier werden die konventionellen Trennungen zwischen anscheindend untrüglicher Biologie und Performanz fragwürdig. Mutterschaft ist nicht abhängig von der Gebärfähigkeit. Eine andere Variante hierfür ist Esteban/Lola, die Frau, die als Vater des Babys vorgestellt wird. Das starre Konzept der familia sagrada, die (Zwangs-) Heterosexualität und Prokreation wird zugunsten liberaler (homo-)sexueller Liebes- und Beziehungsformen aufgeweicht.
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Lorca, eine der tragischen Figuren spanischer Repressionsgeschichte. Mit der von Bodas de sangre und Yerma inspirierten Version Lluis Pascals Haciendo Lorca, die zudem in dem bedeutenden Teatro Maria Guerrero22 1996 ihren Auftritt erlebte, schließt Almodóvar seinen Theaterreigen. Die um ihren Sohn trauernde Mutter – eine weitere Anspielung auf das Schicksal Manuelas – wird zudem von Huma Rojo gespielt: Huma: Una fuente que corre durante un minuto y a nosotras nos ha costado años. Cuándo yo descubrí a mi hijo, estaba tumbado en la mitad de la calle. Me mojé las manos de sangre y me las lamí con la lengua. Porque era mía. Los animales los lamen, verdad? A mi no me da asco de mi hijo. Tú no sabes lo que es eso. En una custodia de cristal y topacios pondría yo la tierra empapada por su sangre...
Auf den Plakaten zum Theaterstück steht geschrieben: „Haciendo Lorca – Homenaje a García Lorca, y a Esteban, un jóven que murió a las puertas de un teatro, una noche de tormenta.“ Durch den Tod am Anfang des Filmes und dieser Hommage vollzieht sich hier letztlich eine Rahmung des almodóvarianischen Theaterfilms. Als schließlich am Ende der Vorhang fällt, erscheint darauf der Slogan des gesamten theatralischen Films, in dem auf verschiedenen Metaebenen jede Figur als Regisseur, Theaterleiter, Erschaffer seines eigenen Dramas fungiert: eine Hommage an die Frauen und auf das Schauspiel des Lebens. A Bette Davis, Gena Rowland, Romy Schneider... A todas las actrices que han hecho de actrices. A todas las mujeres que actúan. A los hombres que actúan y se convierten en mujeres. A todas las 23 personas que quieren ser madres. A mi madre.
22 María Guerrero gilt als eine der spanischen Schauspielerinnen, Theaterregisseurin und Muse der großen spanischen Dramaturgen wie Jacinto Benavente, Eduardo Marquina, die Gebrüder Quintero und Ortega Munilla, die zu ihrer Zeit die Schauspielkunst erneuert und dem antiquierten Theater neue Richtungen gegeben hatte. 23 Gena Rowland spielt in Opening Night (John Cassavetes, 1977) eine Theaterschauspielerin, die den tragischen Tod eines weiblichen Fans miterlebt, Bette Davis spielt das durch eine Jungschauspielerin betrogene und gefallene Starlett in All About Eve (Joseph Leo Mankievicz, 1950) und Romy Schneider spielt in L’important c’est d’aimer (Andrzej Zulawski, 1974) eine erfolglose Schauspielerin, die sich und ihren Mann durch Rollen in billigen Pornofilmen über Wasser halten muss.
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INTIMATE STRANGERS: VOM PATHOS DES ANDEREN SCHAUPLATZES (ZU PATRICE CHÉREAUS FILM INTIMACY/INTIMITÉ) Il y a lieux et lieux. Les beaux, les célèbres ou les très laids nous laissent en fin de compte indifférents. Au mieux, ils intéressent notre versant culturel, le plus médiocre. Les vrais lieux, ceux qui nous engendrent, ceux que capture notre mémoire, sont ceux qui nous ont vus hors de nous-mêmes, qui ont abrité notre démesure, l’aveu ou la terreur de nos désirs, tous ceux qui furent le lit d’un chavirement. (Yasmina Reza, Hammerklavier)
Wenn Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, Recht hat, damit nämlich, dass die „Liebe das gesprächigste aller Gefühle [ist] und zum großen Teil ganz aus Gesprächigkeit [besteht]“1, dann ist die Beziehung zwischen Jay (Jack Rylance) und Claire (Kerry Fox) ganz zweifellos keine Liebe. Wenn freilich für deren Semantik ebenso gilt, dass „sexuelle Beziehungen Liebe erzeugen und daß man weder nach ihr leben noch von ihr loskommen kann“2, dann kann der Film des französischen Theater-, Opern- und Filmregisseurs Patrice Chéreau (GB/F 2000) mit Sicherheit gesehen werden als Liebesfilm. Der Südosten Londons in diesen Tagen, „the dark side of the moon […] [where] the real humanity of London emerges.“3 In die schäbige Souterrainwohnung Jays, der nachts als Barkeeper arbeitet, kommt Claire, an einem Mittwochnachmittag, verabredet waren sie – vielleicht 1 Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, Adolf Frisé (Hrsg.), Reinbek bei Hamburg 1981, Bd. II, S. 1219 (Aus dem Nachlass, Gespräche über die Liebe). 2 Dazu Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1982, S. 203. 3 Chéreau, Patrice: „Elusive Intimacy: An Interview with Patrice Chéreau“, by Richard Porton, in: Cineaste 27, Nr. 1 (2001) S. 16-19, hier S. 18.
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nach einer zufälligen und kurzen, vielleicht nach einer intimen Begegnung – nicht. Jay und Claire, etwa um die 40, legen sich auf den Boden und lieben sich, reden nichts miteinander, wissen nichts voneinander, nicht einmal den Namen. Eine Woche später, zur selben Stunde, steht Claire wieder vor der Tür, Jay zieht sie ins Haus, sofort ziehen sie sich aus. Mehrere Wochen, immer mittwochs, ereignet sich genau dieses wieder. Nur einmal wartet Jay vergeblich auf Claire. Und eines Tages erscheint Claire zu unerwarteter Zeit bei Jay. Und Jay beginnt, ihr nachzugehen bis zu ihrer Wohnung, erfährt, dass sie Mann und Kind hat, geht ihr nach bis zu einem Pub, in dessen Souterrain sie Theater spielt, beobachtet sie, belauert ihr Umfeld, erzählt, ohne sich zu erkennen zu geben, dem Ehemann Claires, Andy, von den wöchentlichen Sextreffen mit einer verheirateten Frau. Andy, fasziniert, aber mit immer misstrauischerem Blick, durchschaut nach und nach das Spiel, bäumt sich auf mit einem aggressiven Liebesbekenntnis und Besitzanspruch, fordert Claire zurück. Jay macht Claire eine Szene, „[avec laquelle] le langage commence sa longue carrière de chose agitée et inutile“4, das Spiel ist aus und Claire für Jay verloren, auch wenn sie ein letztes, kurzes Mal zu ihm kommt, für einen traurigen „zipless fuck“ (Erica Jong), der die zunehmende Zartheit der intimen Treffen widerruft, vielleicht verzweifelt abstreift. Der dritte Film Patrice Chéreaus wurde angeregt durch zwei – im Film großenteils veränderte – Erzählungen des pakistanisch-britischen Schriftstellers Hanif Kureishi, Intimacy (1998)5 und Light House (aus der Sammlung von Short stories, Love in a Blue Time, 1997)6, dessen Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Filme als emblematische Medienprodukte eines interkulturellen, „post-colonial London“ rezipiert wurden,7 unter ihnen auch die in Deutschland sehr erfolgreichen MY BEAUTIFUL LAUNDRETTE (1985) und SAMMY AND ROSIE GET LAID (1987). INTIMACY wurde bei den Berliner Filmfestspielen 2001 vorgestellt, ausgezeichnet mit dem „Goldenen Bären“ und in der Kritik gelobt als ein „unchic“ Film, „[i]n stark contrast to recent examples of French porno-chic“8: ein Film, der sich über die Welle aufreizender französischer Sexfilme (zu denen Catherine Breillat, ROMANCE; Virginie Des4 Barthes, Roland: Fragments d’un discours amoureux, Paris 1977, S. 243. 5 Zitiert nach der französischen Ausgabe: Kureishi, Hanif: Intimité, Paris 1998. 6 Ders., Love in a Blue Time, London/Boston 1997. 7 „Post-colonial London. Interview: Hanif Kureishi on London“, in: Critical Quarterly 41, Nr. 3 (1999) S. 36-56. 8 Chéreau/Porton 2001, S. 16, kursiv im Original.
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pentes, BAISE-MOI gerechnet wurden) erhebe, am ehesten verglichen werden könne mit dem seinerzeit verstörenden Film Bernardo Bertoluccis DER LETZTE TANGO IN PARIS (1972)9 und der überhaupt vor allem eine luzide Gegenwartsdiagnose zum Millennium sei, in moralistischer Tradition – und darin vielleicht dem Impuls der Texte Michel Houellebeqcs nahe.10 Eine Reihe intermedialer Bezüge wurde für den Film notiert, auch wenn Chéreau selbst, wie er sagt, sie nicht intendiert hat: bis auf jenen der Popmusik, die auch von Kureishi (geb. 1954) immer wieder reflektiert und inszeniert wird, so in einer Geschichte der Popmusik seit 195011 und in dem Filmskript London Kills Me, das auch eine Huldigung an die Beatles ist und Pop als „,the richest cultural form in postwar Britain‘“ entwirft: „It is pop that has spoken of ordinary experience with far more precision, real knowledge and wit than, say, British fiction of the equivalent period. And you can’t dance to fiction.“12 In Chéreaus Film, der selbst nach obiger Definition als Popfilm gesehen werden kann, ist die Popmusik als Dauersound zu hören, im Hintergrund und in der Bar, mit The Clash’s „London Calling“ und mit „There is no hell“ von David Bowie, mit Elvis Presleys „In the Ghetto“ und dem Discosong „By the Rivers of Babylon“ von Boney M. Sie ist gegenwärtig in der Gestalt Marianne Faithfulls, die Claires Schauspielschülerin und Vertraute Betty spielt, sie erscheint als signiertes Photo John Lennons, das Jay an die Wand gepinnt hat, Ikone der britischen, heute nachgerade klassischen popular culture der Generation Kureishis, aber auch Jays und Claires, längst aber auch memento mori: Dieses Photo des Toten packte Jay ein, als er wortlos sein Haus, seine Familie verließ, er, der vor der Geburt seines ersten Sohnes selbst Musik machte und davon keine Familie ernähren konnte. Die Popmusik also, als Resonanz von Jays Lebensgefühl, ist im Film stets präsent und signifikant inszeniert, ein audiovisueller Medienwechsel gegenüber dem gleichnamigen Kurzroman Kureishis, der seinen Protagonisten, den Ich-Erzähler, Schriftsteller seine und die eigene Geschichte erzählen ließ. Hingegen bestreitet Chéreau weitere intermediale Bezüge – INTIMACY, dessen radikale Zurschaustellung von Körperteilen und skulptural geformtem 9 Vgl. „The Limits of Sex: Last Tango in Lewisham“, o. Autor [David Denby], in: Sight and Sound 11, Nr. 7 (2001) S. 20-24. 10 Vgl. Weingarten, Susanne: „Das Fleisch ist traurig“, in: Der Spiegel, Nr. 23 (2001) S. 230-232, hier S. 231. 11 Kureishi, Hanif/Savage, John E. (Hrsg.): The Faber Book of Pop, Essay., London 1995. 12 „Hanif Kureishi, 1954–“, o. Autor, in: Contemporary Literary Criticism 135, (2001) S. 259-306, hier S. 265.
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Menschenfleisch sehr nachvollziehbar auch verglichen wurde mit den Bildern Francis Bacons und Lucian Freuds, sollte keine Reflexion auf Malerei sein: „You can think about painting as much as you want, but when you are faced with two actors and have to shoot these scenes I can assure you that you don’t think about Francis Bacon.“13 Überdies betont er, Intimacy sei, namentlich im Vergleich mit seinem früheren Film La Reine Margot (Die Bartholomäusnacht, 1994, in der Hauptrolle Isabelle Adjani), ein gänzlich untheatralischer Film,14 ja die Verabschiedung des Theaters in einem ganz zu seinen eigenen Möglichkeiten gelangten Film.15 Vielleicht fehlen INTIMACY/INTIMITÉ ja in der Tat die offenkundigen Signale eines traditionellen Theaterfilms: Historismus, Kostüme, Dramenvorlage, eine durchgängig in der Theaterwelt spielende Handlung, inszenieren fragmentierende, abrupte und unruhige Kameraführung (die immer wieder an den Einsatz einer Handkamera erinnert, obwohl Chéreau eine solche nicht benutzte und ablehnte) und Schnitttechnik doch vielmehr ganz offenbar und mit genuin filmischen Mitteln die Flüchtigkeit, Hektik und Brüchigkeit des Single-Daseins in der Metropole. Und doch ist INTIMACY, der ja so ganz und gar ein kruder Gegenwartsfilm, eine schonungslose mise-à-nu nicht mehr junger Körper und einer rastlosen, orientierungslosen Gesellschaft im ausgehenden Jahrtausend ist, eine Reflexion über den Zwischen-Ort der Medialität, und da auch eine Auseinandersetzung mit dem Theater, das als Probebühne abseits des Alltags die Inszenierung von Geschlechterrollen des „Geständnistieres“ Mensch (Robert Musil) einübt. Diese Bühne, gleich mehrfach aktualisiert im Laientheater, das Claire die Hauptrollen gibt, und im Theaterunterricht, den Claire erteilt, ist so viel redseliger als die Exerzitien des Mittwochnachmittags: jenes geheim gehütete Zwei-Personenstück sich umschlingender, sprachloser, gleichsam mechanisch in Bewegung versetzter Körper, die nicht einmal, nicht ein Mal, zur intimen, archetypischen und irreduziblen Figur der Liebesworte – „Je t’aime“ – finden, so wie es auch keine für den Zuschauer wahrnehmbare, also im Film gezeigte Urszene der Liebe, oder nur der Beziehung gab, keinen ersten Augen-Blick, kein hirnphysiologisches, sekundenschnelles 13 Chéreau/Porton 2001, S. 18. 14 Ebd., S. 19. 15 Vgl. dazu auch zustimmend Piccardi, Adriano: „La passione tra eros e logos. Intimacy – Nell’intimità di Patrice Chéreau“, in: Cineforum 41, Nr. 5 (2001) S. 16-19: „A quanto afferma Chéreau, Intimacy ha costituito per lui, dopo tanti anni di coabitazione, il vero momento di passaggio dal teatro al cinema: la transizione non poteva riuscirgli meglio.“ (Ebd., S. 19).
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„Erkennungsprogramm“ zwischen Mann und Frau,16 keine „Anagnorisis“17, die es doch gerade für eine Liaison wie jene zwischen Claire und Jay gegeben haben muss. Nichts zeigen die Bilder nämlich zunächst als die schiere Choreographie der Nacktheit, Pathosformeln der Schwere und der Leichtigkeit des begehrenden Fleisches in einem in seiner Kargheit ritualisierten, geschlossenen Raum, der einmal wöchentlich zur Bühne der Repetition und deshalb zur Szene des Verlangens wird, und der in seiner Wortlosigkeit den Deklamationen und Geständnissen des Theaterspielens, aber auch der lautstarken Babylonisierung der Welt Einhalt gebietet, die draußen bleibt, in „the streets of London“, „by the rivers of Babylon“, in den Bars, Clubs, Diskotheken des metropolitanischen Tagund Nachtlebens. „Diese Körper“, so aber hieß es bei Musil, breiteten vor dem suchenden Blick ihr Sein, da sie einander doch liebten, zu Überraschungen und Entzücken aus, die sich erneuten wie ein in den Strömen des Begehrens schwebendes Pfauenrad; aber sobald sich der Blick nicht bloß an den hundert Augen des Schauspiels hing, das die Liebe der Liebe gibt, sondern zu dem Wesen einzudringen versuchte, das dahinter dachte und fühlte, verwandelten sich diese Körper in grausame Kerker.18
Was Claire und Jay versuchen, ist eine libidinöse, vielleicht eine pornographische Beziehung, die einem stets gleichen, isolierten Muster folgt und folgenlos zu bleiben hat. Wie der Film des jungen Frédéric Fonteyne, der so hieß (EINE PORNOGRAPHISCHE BEZIEHUNG, 1999), spielt auch INTIMACY, und das bereits durch den Titel, mit der Schaulust, mit dem Voyeurismus des Kinobesuchers.
16 Vgl. Neumann, Gerhard: „Lektüren der Liebe“, in: Heinrich Meier/ders. (Hrsg.): Über die Liebe. Ein Symposion, München/Zürich 2001 (Veröffentlichungen der Carl Friedrich von Siemens Stiftung, hrsg. von Heinz Gumin/Heinrich Meier, Bd. 8), S. 9-79, hier S. 7; wie immer verdanke ich Gerhard Neumann auch an dieser Stelle wertvolle Anregungen. 17 Ebd., S. 19. 18 Musil 1981, S. 1060.
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Abbildung 1: Francis Bacon, Two Figures (1953); Abbildung 2: Screenshot, INTIMACY
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Anders freilich als EINE PORNOGRAPHISCHE BEZIEHUNG, die medial initiiert wurde durch eine Kontaktanzeige der Protagonistin und die dann als wöchentliche Szene im Zimmer eines Stundenhotels obstinat dem Blick des Zuschauers verschlossen wird – eine ebenso buchstäbliche wie ironische „ob-scène“ –, exponiert INTIMACY das kontingente, stumme Kammerspiel der Geschlechter, das Ringen von Körpern, die sich entkleiden, ihrer Investitur entledigen, keine Zeichen investieren,19 diese neue und, namentlich in Erinnerung an Eric Rohmers L’AMOUR L’APRÈSMIDI (1972), so ganz andere „Liebe am Nachmittag“. Es ist eine Beziehung, die sich so ganz und gar dem Authentizitäts- und Bekenntnisritual jener intimisierten Selbstthematisierungsdialoge entzieht, die, ohne die Korrektur eines Beichtvaters oder eines Psychoanalytikers, rettungslos in ihren geschlossenen Figuren kreisen.20 Und es ist ebenso eine ganz und gar unromantische Liebe, die einem strengen Stundenplan zu folgen scheint, einen energetischen Anfang, einen Höhepunkt und ein Ende hat, die sich genau so wochenlang wiederholt und genau darin und nur darin ihre Logik und ihren Sinn hat – ein krasser Gegenentwurf zu jener sich verströmenden, die Welt umschließenden und verschlingenden romantischen Liebessemantik,21 in deren Tradition und Horizont noch unser heutiges Bild der Liebe steht, zumindest im „großen“ Kino der „großen“ Gefühle. Nichts davon wird sichtbar im Film Chéreaus, der die Einbildungskraft seiner Liebenden, die es geben muss, einschließt in die Dynamik ihrer Körper, die sachlich, en détail, ausgestellt werden, im Stil jener anonymen „objectivité“, die schon in Flauberts Texten Sinn allererst aus sich selbst heraus konstruierte.22 Wie zufällig, und nachträglich, hallt dann Claires und Jays Liaison wider aus Jays Autoradio, wird hier kommentiert, legitimiert im ebenso banalen wie gültigen Song „I want you, I need you“, welcher der Sprachlosigkeit des Augenblicks eine nachträgliche, ganz elementare Stimme verleiht, Dauer beschwört im Paradoxon der akustischen Spur eines stummen Ereignisses und die Wahrheit in der Popmusik beglaubigt: Eine ganz ähnliche Gültigkeit, und das durchaus nicht ohne Verhängnis und Trauer, wurde in François Truffauts LA FEMME D’À CÔTÉ (1981) den HerzSchmerz-Reimen der Schlager zuerkannt. 19 Vgl. diese Anregung ebenfalls bei Neumann 2001, S. 19. 20 Vgl. dazu: Beck, Ulrich/Beck-Gernsheim, Elisabeth: Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M. 1990, S. 120ff. 21 Vgl. Luhmann 1982, S. 167ff. 22 Vgl. Duchet, Claude: „Roman et objets: L’exemple de Madame Bovary“, in: Debray-Genette, Renée u.a. (Hrsg.): Travail de Flaubert, Paris 1983, S. 11-43.
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Nicht nur der romantischen Liebesinszenierung aber verweigert sich Chéreaus Film. Die schweigsamen Sextreffen von Jay und Claire, deren erste Spielregel das niemals ausgesprochene Schweigegebot ist, widersetzen sich ebenso obstinat jener „comédie“, die Jay diagnostiziert als Stereotyp der erotischen Begegnungen in der Bar, in den Clubs, die er mitspielen muss, damit der Laden läuft, und sie widersetzen sich vor allem dem professionellen Gebabbel von Intimität, von Gemütlichkeit, das ihm ein junges, attraktives Callgirl einredet und das ihn anwidert: ihn, der Frau und Kinder verlassen, der eigentlich kein Zuhause hat außer der Wohnung voller Umzugskisten, die zum emblematischen Ort der „modernen Nomadengesellschaft“23 wird – eine Behausung, in der Jays gleichfalls als Künstler gestrandete oder umherirrende Freunde aus- und eingehen, nur mittwochs nicht, wenn Claire kommt. Diese Wohnung aber, die Installation des materiell und imaginär Unmöblierten, Transitorischen, ist zugleich auf paradoxe Weise der Ort einer improvisierten Aus-Zeit, jener hors-lieu, jener gleichsam zeitlose, „ideale Topos“, den Susan Sontag in ihrem Artikel „Die pornographische Phantasie“ entwirft,24 und er ist zugleich der seltsam elementare und derealisierte Ort des Nachtarbeiters und Tagschläfers Jay, der immer irgendwohin unterwegs ist und nur im Auto Zeit findet, sich zu rasieren. Und doch glückt die eigensinnig libidinöse Beziehung zwischen Claire und Jay nur für kurze Zeit, wendet sich doch das gegen die Betörungen wie die Zerstreuungen der Außenwelt abgeschottete Souterrain in der Alpha Street nach und nach in die Höhle jener inneren Bilder, aus denen Geschichten, Liebesgeschichten mit einem Anfang, einer Mitte, einem Ende und den ganzen Figuren der Sprache der Liebe entborgen werden, die ein horslieu der Liebe in der Zeit verunmöglichen und bald zur Suche nach den verschwiegenen Zeichen, zur eifersüchtigen Überwachung, zur schmerzhaften Inquisition geraten. „Il y a très peu de temps [...] de ne rien demander, puis on demande tout [...]“, weiß der junge Ian, der die Musik Billy Joels liebt, die Jay verachtet. Die Fragilität und die Transgressivität seiner schwulen Beziehungen haben ihn aufmerksam und klug gemacht, skeptisch lässt er sich von Jay in die Spielregeln der Bar einweisen („Diese Frau da bestellt seit drei Monaten jeden Abend das Gleiche, möchte aber jedes Mal danach gefragt werden. […] Es gibt nie Trinkgeld.“) und wird zum moralischen Beobachter und Vertrauten des deutlich Älteren. „Interpréter, déchiffrer, expliquer [...] les signes de l’amour 23 Beck/Beck-Gernsheim 1990, S. 214. 24 Sontag, Susan: „Die pornographische Phantasie II“, in: Akzente 15, (1968) S. 169-190, hier S. 175.
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et de la jalousie [sont] douloureux“25, und gleichwohl ist das „inter-dit“, als Nichtgesagtes und Verbotenes der Liaison zwischen Claire und Jay, der Hohlraum, der Speicher einer obsessiven, intermedialen Zeichenkette, der Popsongs, des Theaterspielens, der Gespräche, die allesamt befragen und kommentieren, was stumm geschieht: Claires Casting gehört hierher, das sie die eigene Geschichte mit Jay als hermeneutisch gesteuerte Lektüre einer fremden Liaison erfinden lässt (Wichtig ist, was zwischen und mit ihnen geschieht; muss eine Geschichte nicht vorangehen? Ist alles ein Irrtum? ein Mißverständnis in einem „appart moche“?), und hierher gehört auch Jays Männlichkeitsparade, sein sexistisches Rollenspiel für Andy, Profanierung seiner reinen Beziehung zu Claire. Das armselige „pub theatre“, Claires andere Bühne, durch ein Hinweisschild, „theatre and toilets“, im Souterrain der Kneipe ausgewiesen, spielt The Glass Menagerie (1948) von Tennessee Williams, dessen erinnerte Zeit die Jahre zwischen den Weltkriegen evoziert, und Claire spielt die Rolle der traumverlorenen Laura Wingfield, für die sie zu alt ist. „I just tried to put her in the wrong role“, so die dezidierte Absicht Chéreaus.26 Sie ist freilich nicht nur zu alt für diese Rolle des jungen Mädchens, verkörpert sie doch überdies hier auch ein ganz dem Imaginären ausgeliefertes „secret life“, das jeder Lebenspraxis, vor allem der Lebenspraxis Claires, fremd ist und sein äußerstes Symbol hat im Einhorn der Glasmenagerie – jenem fragilen „Tier, das es nicht gibt“27, das es ebenso wenig gibt wie einen Liebhaber im wirklichen Leben Lauras und das doch als „reines Zeichen“ ebenso lange existieren kann wie Lauras geheimer Traum, der erst zerstört wird in dem Augenblick, in dem er zur Sprache gebracht und als romantisches Missverständnis, als Effekt eines Hörfehlers richtig gestellt wird: „pleurosis“ statt „Blue Roses“28. Das Stück, das in soghafter Konsequenz innere und äußere Wahrheit gegen- und ineinander kehrt und den Traum isoliert gegen die Zumutungen der Wirklichkeit, ist selbst bereits ein intermediales Stück, das die Musik des Südens der Vereinigten Staaten und den Bildschirm 25 Deleuze, Gilles: Proust et les signes, Paris 1986, S. 33. 26 Chéreau/Porton 2001, S. 19. 27 Rilke, Rainer Maria: Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil, IV, Zürich: Manesse 1951; aus dem Kontext der Einhorn-Philologie in unserem Zusammenhang interessant: Hörisch, Jochen: Das Tier, das es nicht gibt, Nördlingen 1986. 28 Williams, Tennessee: Sweet Bird of Youth. A Street Car Named Desire. The Glass Menagerie, Elliot Martin Browne (Hrsg.), Harmondsworth 1973, S. 246.
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einer Laterna magica als mediale Spielräume des Imaginären einsetzt und deren Bildwelten aufbietet gegen jene der ökonomischen, im Warenhaus ausgestellten Illusionen. „You live in a dream; you manufacture illusions!“29, sagt Amanda zu ihrem Sohn Tom, Lauras Bruder, der tagsüber im „warehouse“ arbeitet und nachts, zum Ärger seiner dreist vitalen Mutter, ins Kino geht. Lauras „secret life“, auch wenn es einerseits so ganz das Gegenteil von Claires „secret life“ ist, präfiguriert so doch auch die intime Wahrheit eines Traums, dessen innere Bilder der sprachlichen Kommunikation nicht standhalten. Chéreaus intermedialer Bezug auf Tennessee Williams’ intermediales, imaginäres „plastic theatre“30 evoziert freilich auch ein anderes, sicherlich noch berühmteres Stück des Südstaatendramatikers, A Streetcar Named Desire. Es ist bekanntermaßen das Drama, in dem eine Straßenbahn mit dem eigentümlichen Namen, der Destination „Desire“ die Protagonistin Blanche DuBois, die alles verloren hat, Mann und Besitz, an ihren Fluchtort bringt, die schäbige Wohnung ihrer Schwester im französischen Viertel von New Orleans. Die hysterische Blanche, die nicht unschuldig ist am Tod ihres homosexuellen Mannes und am Verlust der Plantage „Belles Rêves“, gerät hier in ein Treibhaus interkultureller und sexueller Aggression, die sich lautstark und turbulent in einer Abfolge von „Szenen“ entlädt und Blanches eigene Disposition zur Nymphomanie neu belebt. Kontrapunktisch unterlegt mit den Jazz- und Bluesrhythmen aus New Orleans und einer Polka, die Blanche zurückversetzt in die Vergangenheit ihrer schön gezüchteten Träume, ist das Haus an der Haltestelle „Elysian Fields“ der geschlossene Ort einer Konfusion von Vergangenheit und Gegenwart, Wirklichkeit und Wahn, Mann und Frau, eine Relaisstation auf der Reise Blanches in die Nervenanstalt, die zynischerweise die wirkliche „Endstation Sehnsucht“ (so der deutsche Titel des Stücks) des Streetcar Named Desire bedeutet. „And so it was I entered the broken world/To trace the visionary company of love, its voice/An instant in the wind [...]“, so lautet das Motto des Dramas, und Claire hätte wohl auch in diesem für Williams so typischen bösen Neurosentheater gewissermaßen die falsche Rolle spielen müssen. Und gleichwohl: Die Straßenbahn in diesem Stück, aber auch die insistierend ins Bild gesetzten roten Busse Londons in INTIMACY, die Claire zwangsläufig von ihrer einen in die andere Welt transportieren, Busse, die Jay benutzt, 29 Ebd., S. 311. 30 „[...] a conception of a new, plastic theatre which must take the place of the exhausted theatre of realistic conventions if the theatre is to resume vitality as a part of our culture.“; Ebd., S. 229.
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als er Claire verfolgt, zuletzt auch das Taxi des Ehemanns, sie materialisieren hier wie dort den Transfer einer medialisierten Geschlechterordnung, die Lacan konstruierte in seiner Anekdote des Zuges: Ein Junge und ein Mädchen fahren in den Bahnhof eines Ortes ein, den sie vom Gleis aus identifizieren als „Hommes/Femmes“: jenen dem Missverständnis und der Verkennung entlehnten Nicht-Ort, in welchem die Beziehung der Geschlechter signifikant als Differenz, Entgleisung und Scherz („rail-lerie“) in der Sprache aufleuchtet,31 „die die von ihr erzeugte Identität einem Ort zuweist, in dem sie nie ganz zu Hause sein kann. Es ist nicht zufällig, daß dieser Ort [...] ein Abort ist.“32 „Theatre and toilets“ also, diese krass unpoetische Affinität von zwei je anderen Orten der Intimität, inszeniert die immer wieder neue Nichtidentität sprachlich codierter Geschlechterordnung: Hier ist der Ort, an dem Claire und Jay sich die erste, „ent-scheidende“ Szene der Entzweiung liefern. Sie allein genügt, die Grundregel und einzige Regel ihrer Selbstnormierung zu brechen (Claire: „Nous n’avons rien promis“), die das Souterrain Jays als Heterotopie, als „anderen Schauplatz“ einsetzte, als versuchte Installation einer Intimität, die sich abarbeitet am Pathos und an der Dynamik des Liebesaktes, „geste du corps saisi en action“,33 und die weder ohne die Zeichenordnung noch mit ihr sein kann. Claire und Jay: „Intimate strangers“.34 „C’était tout ce qui était, tout ce qui pouvait être“, heißt es am Ende in Kureishis Roman Intimacy. „Le meilleur de tout c’était concentré dans cet instant et ce ne pouvait être que de l’amour“.35
31 Lacan, Jacques: „L’Instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud“, in: ders., Ecrits I, Paris 1966, S. 256ff. 32 Weber, Samuel: „Aufstieg und Fall des Signifikanten“, in: ders., Rückkehr zu Freud. Jacques Lacans Ent-stellung der Psychoanalyse, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1978, S. 37-53, hier S. 41, (kursiv im Original); vgl. auch u.a.: Tholen, Georg Christoph: Wunsch-Denken. Versuch über den Diskurs der Differenz, Kassel 1986: „[...] das Ent-Scheidende in dem Dissens, von dem die Geschichte handelt. Es ist ein Dissens voller Metaphern [...] im Prozeß einer sinnentstellenden Lektüre [...]“ S. 207. 33 Barthes 1977, S. 8. 34 Rubin, Lillian B.: Intimate Strangers. Men and Women Together, New York 1983. 35 Kureishi 1998, S. 164.
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Abbildungen 3-5: Screenshots, INTIMACY
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„JUSTE DU DESIR CRU...“ BÜHNEN DER ARS EROTICA. ZUR THEATRALISIERUNG DER HEILSGESCHICHTE IN CATHERINE BREILLATS FILM ROMANCE À Hélène
La transgression est la règle de l’art. (Catherine Breillat) Contre le dispositif de sexualité, le point d’appui de la contre-attaque ne doit pas être le sexe-désir, mais le corps et les plaisirs. (Michel Foucault) Régler l’orgie, la satisfaction des passions, l’excercice spirituel, c’est aussi les mettre en scène, créer autant de théâtre où se déploient ces langues nouvelles de l’érotisme, du bonheur ou de la foi. (Roland Barthes)
„Et se jetant de loin un regard irrité, / les deux sexes mourront chacun de son côté“ – „Und mit einem zornigen Blick aus der Ferne / füreinander / sterben die beiden Geschlechter jedes auf seiner Seite“, das bekannte Zitat Alfred Vignys, das Proust als Motto für Sodome et Gomorrhe wählt1, wäre auch als Untertitel für Catherine Breillats Film ROMANCE2, geeignet, der populärromantische Einbildungen vom Höhepunkt der Lust zu Zweit zerstreut, um stattdessen eine irreduzible Asymmetrie des Begehrens der Geschlechter vorzuführen.
1 Vgl. Proust, Marcel: A la recherche du temps perdu, Tome II, Paris 1954, S. 616. 2 Premiere des Films war der 14. April 1999. Im Folgenden wird nach Scénario zitiert, Breillat, Catherine: Romance. Scénario, Paris 1999.
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Bereits der Titel des Films ROMANCE, den der deutsche Verleih mit einem „X“ anreichert, kann als Vexiertitel gelesen werden, der codifizierte Erwartungen gezielt enttäuscht. Liefert der Film den an die Produkte des Illusionskinos gewöhnten Zuschauern doch weder eine Romanze im Stil von PRETTY WOMAN noch erfüllt er die an das „X“ gerichteten pornographischen Gelüste herkömmlicher Machart. Das heißt nicht, dass das Genre der Romanze und der Pornographie völlig absent wären, sondern dass diese dem Verfahren einer Ré-écriture, einer fröhlich-blasphemischen Umcodierung der traditionellen Diskurse und Geschlechteranordnungen ausgesetzt werden. So führt Catherine Breillats Ré-écriture des Genres der Romanze melodramatischer Provenienz zum Beispiel dazu, dass die weibliche Hauptfigur Marie nicht – wie in der Mainstreamausprägung der Gattung üblich – aus einem primären Zustand der Verzweiflung von einem ,Märchenprinzen‘ erlöst wird und mit diesem ganz im Sinne der institutionalisierten Biopolitik eine Familie gründet. Das lieto fine bei Breillat sieht etwas anders aus: Die Protagonistin Marie erlöst sich sozusagen selbst, indem sie den Parcours einer sexualisierten Heilsgeschichte durchläuft. Stationen dieses profanen Erlösungswegs sind Kopulationen mit dem Pornostar Rocco Siffredi, Prostitution, Vergewaltigung durch einen Unbekannten und sado-erotische Arrangements mit dem Schuldirektor Robert. Endstation jenes profanen Erlösungswegs ist die Geburt eines Kindes, dessen Erzeuger ausgelöscht wird. Den zentralen Referenzrahmen für den aus Gewalt, Sexualität, Sakralität und Erotik gewebten Erfahrungsraum der weiblichen Hauptfigur bildet weder das Genre der Pornographie noch das der Romanze, sondern primär die Gattung der christlichen Heilsgeschichte, die dem Verfahren einer Profanation und Theatralisierung ausgesetzt wird. Der Film lädt demnach zunächst zu einer lecture chrétienne ein. Die auffälligsten Signale für die sakrale Codierung der im Film inszenierten Ars erotica auf der Folie christlicher Mythologeme bilden der Name der Protagonistin und ihr vestimentärer Code. Nicht zufällig heißt die Hauptfigur Marie und ist fast während des gesamten sexuellen Parcours in Weiß gekleidet. Wie die Icherzählerin aus Catherine Millets La vie sexuelle de Catherine M. geht Marie unversehrt, gleichsam ,unbefleckt‘ aus allen willentlich erprobten ,Schändungen‘ des Körpers durch Lust und Gewalt, Schmerz und Ekstase hervor. Wie ihre intertextuelle biblische Schwester Maria scheint sie im Zeichen einer unzerstörbaren ,Pureté‘ zu stehen und nicht zufällig bemerkt Marie am Ende ihres Parcours, nach dem einzigen realisierten Geschlechtsakt mit ihrem Freund Paul, in dem sich die Asymmetrie der Lüste wieder einmal offenbart,
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jetzt habe er sie geschwängert „mit einem einzigen Spermatropfen“ wie die Jungfrau Maria: „Vous le croyez...? C’est comme ça qu’il m’a collé enceinte ce sale égoïste... sans aucune jouissance, même de sa part. Me 3 faire le coup de la Vierge Marie, le goutte à goutte séminale.“ In ihren zahlreichen Selbstkommentaren rekurriert Catherine Breillat gerne auf christliche Diskurse, um den Erlösungsakt ihrer weiblichen Protagonistin Marie zu skizzieren: Maries Weg in die Sphäre des sogenannten Obszönen ist eine Graalssuche, bei der sie ihre Reinheit und Unschuld bewahrt, bzw. wiedergewinnt. Eine Selbstsuche, die in den Abgrund zu führen scheint, aber ein Weg der Transfiguration, der Verklärung ist. [...] Caroline Ducey [...] ist immer von einer Aura von Reinheit und Jungfräulichkeit umgeben, egal was sie tut. [...] Obszönität entsteht aus der Angst davor, obszön zu erscheinen. Diese Angst hat sie 4 nicht.
Eine Orientierung an diesen Selbstauslegungen und anderen könnte zu einer Schlussfolgerung führen, wie sie Thomas Hettche in seinem jüngsten Artikel über Die neue Keuschheit der Pornographie bezüglich aktueller Tendenzen der französischen Literatur- und Filmszene vorlegt, wenn er bemerkt, es „gehe offensichtlich nicht länger darum den verdrängten Raum der Pornographie im Sinne eines Befreiungsaktes für alle zu öffnen, sondern gerade um das gegenteilige Bemühen, die Körper aus 5 diesem Raum zu befreien.“ Stehen Breillats Rekurse auf das visuelle Repertoire der Pornographie im Dienst einer Befreiung von derselben oder sogar im Dienst einer neuen Keuschheit? Eine Reihe von Aussagen und Selbstkommentaren der Regisseurin könnte eine solche Vermutung nahe legen. Bemerkt doch Breillat vielerorts, man dürfe „die explizite Darstellung der Sexualität nicht dem Pornokino überlassen“, man müsse „die Grenzen des Kinos aufsprengen“ und plädiert implizit für eine ,Befreiung‘ des Pornographischen aus seinen Gattungszwängen und ein Primat des fiktionalen und des seelischen Erregungspotentials sogenannter pornographischer Bilder: „Das Kino ist der Sinn, den man den Bildern verleiht. In einem Pornofilm wird
3 Ebd., S. 64. 4 „Der Virus des Masochismus. Regisseurin Catherine Breillat über „Romance“ und Pornographie. Interview mit Rainer Gansera“, in: Süddeutsche Zeitung, (15.06.2000). 5 Hettche, Thomas: „Die neue Keuschheit der Pornographie. Befreite Körper: Warum die Literatur der sexuellen Erregung an ihrem mutmaßlichen Ende angekommen ist“, in: FAZ, Nr. 17 (21.01.2003), S. 38.
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sexuellen Bildern ein pornographischer Sinn gegeben, das heißt, man negiert die Seele und die Fiktion – und damit negiert man das Kino.“6 Jene in der aktuellen filmischen und literarischen écriture auch bei Catherine Millet, Virginie Despentes und Christine Angot präsente Umcodierung des Pornographischen, seine Integration in einen heterotopischen Raum, in dem sich die Grenzen zwischen dem Realen und dem Imaginären, zwischen dem Gestus des Dokumentarischen und der Stilisierung, zwischen Kunst und Trash häufig auflösen, kann als repräsentativ verstanden werden für einen neuen Umgang mit dem einst tabuisierten Genre. Wird doch die einst von Alice Schwarzer propagierte Verdammung der Pornographie mittlerweile vielerorts als obsolete Methode und als Produkt einer historischen Phase des Feminismus betrachtet, so zuletzt Rose-Maria Gropp, die bemerkt, dass die Vertreter der AntiPorno-Kampagne „letztlich mitgeschrieben haben an genau jener Geschichte von Geschlecht und Körpern, die [...] deren Einschnürung in Geständnis-, Rechenschafts-, Überwachungs- und Befreiungszusammenhänge befördert“. Schlagkräftig „sei diese Methode allemal“, doch „schon ein Stück historisch geworden“.7 Unter diesen an Michel Foucault orientierten Prämissen erscheint Catherine Breillats Entscheidung für eine Umcodierung des Pornographischen, seine Integration in einen ästhetischen Referenzrahmen, der sich aus Einbildungen einer sakral geprägten Theatralität des Eros speist, überzeugender als die obsolete Verdammung des Genres. Im Folgenden sollen die Verfahren der Umcodierung des Pornographischen bei Breillat auf der Basis einiger Schlüsselszenen analysiert werden. Viele der Stationen des ,sexuellen Parcours‘ der weiblichen Hauptfigur sind von einer Theatralität und Fiktionalität gekennzeichnet, die auf religiöse Theaterszenen christlich-biblischer Provenienz zurückverweisen, sich in eine Genealogie christlicher Praktiken der Entgrenzung und der Selbstauslöschung einschreiben und als Konterdiskurse gegen die Dispositive der Scientia sexualis und gegen eine rationale Disziplinierung der Imagination gelesen werden können, wie jetzt am Beispiel einiger ausgewählter ,Theaterszenen‘ erläutert werden soll. Ein Musterbeispiel für die Theatralisierung des Pornographischen und seine Integration in einen ambivalenten Referenzrahmen sakraler Erotik bilden die sado-erotischen Arrangements im Hause Roberts, bei der sich Marie als Imitatio Christi stilisieren lässt. Die erste Bedingung für die Inszenierung 6 Wie Anm. 4. 7 Gropp, Rose-Maria: „Die Frau, vor der Männer uns warnten”, in: FAZ, Nr. 281 (03.12.2002), S. 35.
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eines theatralen Raums ist dessen Abgeschlossenheit, die Negation eines Außen. Jene Prämisse der Theatralität wird im Hause Robert, das zu einem huis clos der Lust, des Lasters und der Epiphanie des Heiligen umfunktioniert wird, auf hervorragende Weise erfüllt, wie Robert, der als Leiter der Lust und Schmerz verquickenden Arrangements fungiert, vor Beginn seiner ersten Regie erläutert: „Il y a trente mètres carrés ici, mais il y a tout... c’est un théâtre, tu vois, là, il y a une estrade, en fait c’est une scène, je fais des répétitions...“8 Die folgenden von einer oberflächlichen Kritik als billiges Recycling pornographischer Stereotypen missverstandenen theatralen Inszenierungen9 des hochstilisierten leidenden Körpers der Hauptfigur Marie, die sich dem Schmerz willentlich aussetzt, gleichsam als Puppe der Lust fungiert, die ihren Körper ganz den Erfordernissen der Inszenierung hingibt, schreiben sich in eine christliche Genealogie des erotisierten leidenden Körpers ein. Die sado-erotischen Arrangements Roberts sollen – wie Catherine Breillat in den Regieanweisungen wiederholt betont – einen theatralen Raum eröffnen, ein Theater der Passion voller christlicher Valenzen bilden: Il y a des forces obscures douleureuses. Et pourtant derrière elle, la lumière aveuglante des persiennes et les rideaux de velours cramoisis lui font comme un Théatre de la Passion. (Cette impression Christique ne doit pas nous quitter). Robert lui même est transfiguré, c’est comme un grand rituel qu’il psalmodie: le 10 passage de Marie en Majesté.
Im ,Theater der Passion‘ wird Maries Körper zum Œuvre, zum perfekten Kunstwerk stilisiert, das seinen Betrachter Robert in erregende Verzückung versetzen soll. Robert übernimmt in diesem Spiel die Rolle des Regisseurs und des Zuschauers, Marie diejenige der Bühne. Ihr Körper wird zum Medium geistiger und sinnlicher Erregung: Robert s’applique à passer en croix des rinceaux de cordes blanches qui s’incrustent profondément dans le sexe de Marie. Puis
8 Breillat 1999, S. 46-47. 9 Zum Misreading von Romance vgl. die folgenden Ausführungen von René Prédal: „[...] c’est purement et simplement du porno de base [....] la méthode employée par Catherine Breillat – recycler du verbal et du visuel empruntés aux films X – ne pouvait pas convenir“, Prédal, René: „De la place du sexe dans les rapports amoureux, ou pouvoir et désir féminin chez Catherine Breillat“, in: Serceau, Daniel (Hrsg.), Contre Bande. Les dominations sexuelles, Paris 2001, S. 38. 10 Breillat 1999, S. 52.
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Die rituelle Geste des sado-erotischen Schauspiels der Fesselung, das auch als Vorspiel einer ausgesparten Geißelung gelesen werden kann, verweist in seiner ambivalenten Theatralität einerseits auf das ,Theater‘ der Passion Christi und seiner Imitatoren, den Märtyrern, Märtyrerinnen, Flagellanten, Mystikern und Mystikerinnen und andererseits auf die sado-erotischen Exzesse der libertinen Tradition. In seiner umfassenden kulturgeschichtlichen Studie zu religiösen und libertinen Praktiken der Flagellation hat Nikolas Largier auf die Analogie religiös und libertin motivierter Gesten der Flagellation hingewiesen und ihre Geburt aus dem Geist des Theaters betont: Als Ritual verstanden und auf das Gestische reduziert, ist die Selbstkasteiung der gottergebenen Mystikerin der Aufgeilung des im Exzess erschöpften Libertins [...] wenn nicht gleich, so doch vergleichbar. Zur Diskussion steht dabei nicht nur eine am Körper vollzogene Invokation von Macht, Disziplin, Buße und Sühne, Scham und Lust, Schmerz und Ekstase, sondern ein Theater, ein Spiel, eine Transfiguration und Inszenierung, die den Körper in Szene setzt und seiner Oberfläche [...] etwas entlockt, das anders 12 als im Vollzug des Rituals nicht zu haben ist [...].
Es ist genau jenes ambivalente auf christliche und libertine Praktiken gleichermaßen verweisende Erregungspotential der sado-erotischen Arrangements, deren Theatralität Catherine Breillat gezielt in Szene setzt (vgl. Abb. 1-4).
11 Ebd., S. 53. 12 Largier, Nikolas: Lob der Peitsche. Eine Kulturgeschichte der Erregung, München 2001, S. 11.
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Abbildung 1-4: Screenshots aus ROMANCE
Deutlich treten in der Szenenfolge des sado-erotischen Rituals der Fesselung und Knebelung das theatrale Dispositiv und seine Effekte hervor. Hierzu gehört die festgelegte Dramaturgie der Erregung, die Genauigkeit der Gesten, das Prinzip der Steigerung, das festgelegte Einverständnis in Bezug auf die Rollenverteilung von Opfer und Opferer, das für die Dauer des Rituals gültig ist sowie die mariologische Codierung des Opfers durch die Farbe Weiß, die babylonische Codierung des Opferers durch die Farbe Rot, die Einrahmung der Szene durch einen purpurfarbenen Samtvorhang als lectulus floridus, als Ort mystischer und erotischer Ekstase wie ihn der Heilige Johannes vom Kreuz im Cántico espiritual evoziert: „Nuestro lecho florido [...] en púrpura tendido.“13 Als Schauspiel einer Ars erotica, das sich biblischen, mystischen und libertinen Ein-bildungen gleichermaßen bedient, wird auch die zweite Serie der sado-erotischen Anordnungen im ,Privattheater‘ Roberts inszeniert. Während Maries Körper in der ersten Serie zur weißen Jungfrau, zur „jeune vierge aveugle“ in der Nachfolge einer Imitatio Christi stilisiert wird, signalisiert sie in der zweiten Serie durch ihren vestimen13 Vgl. in diesem Zusammenhang Verf.: „Parodistische Replik auf mystische und christologische Diskurse in García Lorcas Don Perlimplín“, in: Johannes Kramer (Hrsg.): Serta Romanica Feminae Doctissimae Oblata, Würzburg 1999, S. 107.
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tären Code die in Rot gekleidete Hure Babylon: „[...] et mulier erat circumdata purpura et coccino“ (Apc 17,4) und steht durch ihre Rolle als erotisiertes Opfer gleichzeitig in der Tradition der barocken Märtyrerinnen. Wird doch auch in der zweiten Serie der sado-erotischen Arrangements die ,Epiphanie des Heiligen‘ gerade in der ambivalenten Zurschaustellung eines sexualisierten Körpers erreicht, der sich in eine Genealogie christlicher Perversion einschreibt, deren Traditionslinie von der Ikonographie der Maria lactans bis zu den frequenten Erotisierungen der Märtyrerinnen in Renaissance und Barock reicht: „La perversión de la carne posibilita, en ciertos contextos, la epifanía de la divinidad. El cuerpo perverso se revela paradójicamente, como un cuerpo sagrado y asciende al rango de lo venerable y sublime.”14 Auch in den bereits angeführten Selbstkommentaren Catherine Breillats wird die erwünschte Analogie des sexualisierten Körpers mit dem Heiligen immer wieder angeführt: „Je disais souvent à Caroline Ducey que je voulais qu’elle soit un corps de lumière. Cela a à voir avec la sainteté. […] la femme qui jouit est transportée vers quelque chose de mystique.“15 Jene Analogie wird auf der Bildebene durch die multiple und ambivalente Referenzialität der sado-erotischen Tableaux vivants erzielt, deren Erregungspotential auf das visuelle biblische Repertoire der Hure Babylon, der Maria Magdalena und der enthaupteten Märtyrerinnen der spanischen Barockmalerei verweist, wie in der folgenden Gegenüberstellung deutlich wird (vgl. Abb. 5-8). Wer wie René Prédal in diesem Bildrepertoire nur ein billiges Recycling von Stereotypen eines „sex-shop d’arrière cour“16 erkennen mag, ignoriert die Ansteckung der Bilder durch das Imaginäre, das virtuelle geistige und sinnliche Erregungspotential, ihre Referentialität auf die Bühnen des abendländischen Theaters der Passion.
14 Teuber, Bernhard: „Cuerpos sagrados. En torno a las imágenes perversas de la carne en España“, in: Bernhard Teuber/Horst Weich (Hrsg.): Iberische Körperbilder im Dialog der Medien und Kulturen, Frankfurt a.M. 2002, S. 37-38. 15 „Le ravissement de Marie, dialogue entre Catherine Breillat et Claire Denis“ enregistré en présence de Thierry Jousse et Serge Toubiana, in: Cahiers du Cinéma 534, avril (1999), S. 43-44. 16 Prédal 2001, S. 36.
ROMANCE
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Abbildung 5-7: Screenshots aus ROMANCE; Abbildung 8: Juan de Valdés Leal: Cabeza cortada de Santa Catalina (1652)
AUTORENVERZEICHNIS Marijana Erstiü: Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Zadar und Siegen; seit 2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt „Macht- und Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur 1900-1930“ des Forschungskollegs Medienumbrüche an der Universität Siegen; arbeitet zurzeit an der Promotion zum Thema des Verhältnisses zwischen der bildenden Kunst und dem Film am Beispiel der Familien-Bilder bei Luchino Visconti; Herausgeberin der lit. Anthologie Europa erlesen: Zagreb, Klagenfurt 2001. Uta Felten: Studium an den Universitäten Düsseldorf, Bordeaux, Sevilla, Habilitation an der Universität Siegen (Dezember 2001). Venia legendi: Romanische Literaturwissenschaft, seit April 2002. Forschung und Lehre: Spanischer Surrealismus, Escritura feminina del Siglo de Oro, Hispanoamerikanische Avantgarde, Theater/Film-Relationen, Französisches Kino der Nouvelle Vague. Projekte: Mitarbeit im DFG-Forschungsprojekt „Theatralität und Film. Französische Theater/Filme 1930-1960“ des FB 3 Romanistik der Universität Siegen, Mitarbeit im Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen im Projekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“, Leitung des Arbeitsbereichs „Genderframing“ im Projekt „Paratexte – Organisatoren der Kommunikation“. Kirsten von Hagen: studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Anglistik, Germanistik und Romanistik in Bonn. Dissertation: Intermediale Liebschaften: Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos’ Les Liaisons dangereuses. Tübingen: Stauffenburg, 2002. Arbeitsschwerpunkte: medienkomparatistische Fragestellungen, Film, Literatur, Theater. Zurzeit: Vorbereitung einer Arbeit zum Thema: „Zigeunerdarstellungen in Literatur, Theater, Oper und Film seit der frühen Neuzeit“ im Rahmen eines LiseMeitner-Habilitationsstipendiums an der Universität Bonn. Walburga Hülk-Althoff: Professorin für Romanische Literaturwissenschaft in Siegen; Lehrtätigkeiten in Freiburg, Gießen, Berkeley; Forschungsschwerpunkte: Literatur des Mittelalters und der Neuzeit; Fragen der literarischen und medialen Anthropologie und der Medienästhetik; wissenschaftsgeschichtliche Themen im Kontext der Metaphoriken der „two cultures“; Publikationen u.a. zu „Schrift-Spuren von Subjektivität“ im Mittelalter, zu „Sinnesgeschichten“ in der Literatur, zu Rousseau, Kleist, Flaubert, Proust; Forschungsprojekt im Rahmen des Forschungskollegs Medien-
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AUTORENVERZEICHNIS
umbrüche („Macht- und Körperinszenierungen in der italienischen Medienkultur“). Michael Lommel: Dr. phil. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Sprach-, Literatur- und Medienwissenschaften der Universität Siegen. Redaktionsmitglied der Zeitschrift Navigationen – Siegener Beiträge zur Kultur- und Medienwissenschaft. Vorbereitung einer Habilitationsschrift über Samuel Becketts Medienspiele. Veröffentlichungen: Der Pariser Mai im französischen Kino: 68er-Reflexionen und Heterotopien, Tübingen 2001. Aufsätze zu kultur-, literatur- und medienwissenschaftlichen Themen, u.a. zu Michel Foucault, Jean-Luc Godard, Jacques Rivette und Samuel Beckett. Isabel Maurer Queipo: Studium der französischen und spanischen Literaturwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften in Siegen. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Theater und Theatralität im Film. Französische Theater/Filme von 1930-60“ und im kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen im Projekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“. Dissertation zum Thema „Die Ästhetik des Zwitters in den Filmen Pedro Almodóvars“; Forschungsschwerpunkte: Intermedialität in der Romania; europäische und lateinamerikanische Avantgarden, feministische Literatur und Gender Studies. Nanette Rißler-Pipka: Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Romanistik und Wirtschaftswissenschaften in Siegen und Orléans. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ des Siegener kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Dissertation zum Thema „Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion“; verschiedene Artikel zu intermedialen Themen bei Chabrol, Rohmer, Rivette, Zola-Manet, Poe, Jean Renoir, Picasso und Buñuel. Volker Roloff: Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen, mit Schwerpunkt im Bereich der französischen und spanischen Literatur und der romanischen Kultur- und Medienwissenschaft. Aktuelle Arbeitsbereiche und Forschungsinteressen: Theorie und ästhetische Praxis der Intermedialität; europäische Avantgarden (Schwerpunkt Frankreich und Spanien); Proust und die neuen Medien; französische Theaterund Filmgeschichte. Neueste Veröffentlichungen: Theater und Film in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen 2000 (Hrsg. mit Scarlett Winter); Roh-
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mer intermedial, Tübingen 2001 (Hrsg. mit Uta Felten); Bildschirm-Medien-Theorien, München 2002 (Hrsg. mit P. Gendolla, P. Ludes); Erotische Recherche. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust. München 2003 (Hrsg. mit Friedrich Balke); Die Ästhetik des Voyeur, Heidelberg 2003 (Hrsg. mit W. Hülk, Y. Hoffmann). Gregor Schuhen: Studium der Romanistik und Anglistik in Siegen und Paris. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen. Veröffentlichungen zur genderspezifischen Lektüre von Marcel Proust, zum zeitgenössischen (Mainstream-) Film (MOULIN ROUGE, THE HOURS, HABLE CON ELLA) und zum Verhältnis von Gender Studies und Popkultur. Dissertationsprojekt zum Thema „Sexualität als Effekt. Proust, Foucault und Butler“. Gerhard Wild: Studium der Romanistik, Komparatistik, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Altphilologie, Philosophie und Arabistik in München. Dissertation 1993: Transformation von Erzählstrukturen im Ritterroman des 13. Jahrhunderts. Forschungsaufenthalte in Spanien (1991), Portugal (1987) und Lateinamerika (1993-96). Assistent für Romanistik in München (1988-91) und Siegen (1991-2000). Habilitation 1998: Paraphrasen der Alten Welt: Interkulturelle Ästhetik im Werk Alejo Carpentiers. Redakteur an Kindlers Neuem Literaturlexikon. Herausgeberschaft: Hispanorama: Der spanische Film (1992). Zahlreiche Aufsätze zur Ästhetik und Poetologie in den romanischen Literaturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, des Fin de Siècle und der Avantgarden. Seit 2001 Ordinarius für Iberoromanistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt.
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Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
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Almut Steinlein (Hg.) Kino der Lüge Februar 2004, 196 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-180-9
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