Getürkte Türken: Karnevaleske Stilmittel im Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstlerinnen und Künstler [1. Aufl.] 9783839417638

Die künstlerischen Produktionen von Migranten haben sich in den letzten Jahren intensiviert - und zwar nicht nur in der

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Inhalt
Danksagung
I Einleitung: Karnevaleskes und die performative Wende in den Kulturwissenschaften
1.1 Fragestellung und Methodik
1.2 Zu den ausgewählten Werken
1.3 Forschungsüberblick
II Die postkoloniale Wende in den Literaturwissenschaften
2.1 Postkolonialismus. Versuch einer Begriffsbestimmung
2.2 Postkoloniale Theorie im deutsch-türkischen Kontext? Schnittstellen und Differenzen
III Karneval, Karnevaleskes und Migration. Zur Ästhetik des Wechsels und der Metamorphose
3.1 Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung des mittelalterlichen Karnevals im Hinblick auf Fragen der Migration
3.2 Karneval und Maskierung
3.3 Karneval, Dialogizität und Hybridisierung
IV Das deutsch-türkische Theater. Anfänge und Herausforderungen
4.1 Krise der Fiktion, Fiktion der Krise: Emine Sevgi Özdamars Keloğlan in Alamania (1991)
4.2 Heilig, profan, diffamiert. Zur Konstruktion weiblicher muslimischer Identität in Feridun Zaimoglus und Günter Senkels Schwarze Jungfrauen (2006)
V Das deutsch-türkische Kabarett
5.1 Über die Entstehung und Entwicklung des deutsch-türkischen Kabaretts
5.2 Wer ist das »Ich« auf der Bühne? Über die Besonderheiten satirischer Live-Darstellungen im Hinblick auf deutsch-türkische Aufführungen
5.3 Komik des Tabubruchs im Kabarett von Serdar Somunçu
5.4 Komik der Polyphonie im Kabarett von Django Asül
VI Das deutsch-türkische Kino der Gegenwart
6.1 Themen, Entwicklungen und Tendenzen des deutsch-türkischen Films
6.2 Von Helden, Narren und Geächteten: Hussi Kutluçans Filmkomödie Ich Chef, Du Turnschuh (1998)
6.3 Transvestismus und Homoerotik in Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid (1999)
VII Schlusswort: Künstlerische Produktionen deutschtürkischer Migrantinnen und Migranten und Migration als Performance
Literatur
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Getürkte Türken: Karnevaleske Stilmittel im Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstlerinnen und Künstler [1. Aufl.]
 9783839417638

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Maha El Hissy Getürkte Türken

Maha El Hissy (Dr. phil.) studierte Germanistik in Kairo, Bayreuth und München. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFGForschergruppe »Anfänge (in) der Moderne« an der Ludwig-Maximilians-Universität in München.

Maha El Hissy

Getürkte Türken Karnevaleske Stilmittel im Theater, Kabarett und Film deutsch-türkischer Künstlerinnen und Künstler

Vorgelegt als Dissertation an der Ludwig-Maximilians-Universität München im Jahr 2010. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein, des Katholischen Akademischen Ausländer-Diensts, der DFGForschergruppe »Anfänge (in) der Moderne« und des LMU-Mentoring-Programms.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Der Sturm / Münchner Kammerspiele. Copyright: velvet.ch Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Satz: Maha El Hissy Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1763-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Danksagung | 7 I

Einleitung: Karnevaleskes und die performative

1.1 1.2 1.3

Fragestellung und Methodik | 14 Zu den ausgewählten Werken | 18 Forschungsüberblick | 23

II

Die postkoloniale Wende in den

Wende in den Kulturwissenschaften | 9

Literaturwissenschaften | 33

2.1 2.2

Postkolonialismus. Versuch einer Begriffsbestimmung | 33 Postkoloniale Theorie im deutsch-türkischen Kontext? Schnittstellen und Differenzen | 38

III

Karneval, Karnevaleskes und Migration. Zur Ästhetik des Wechsels und der Metamorphose | 55

3.1

3.2 3.3

Eine kulturwissenschaftliche Betrachtung des mittelalterlichen Karnevals im Hinblick auf Fragen der Migration | 60 Karneval und Maskierung | 68 Karneval, Dialogizität und Hybridisierung | 78

IV

Das deutsch-türkische Theater.

4.1

Krise der Fiktion, Fiktion der Krise: Emine Sevgi Özdamars Keloğlan in Alamania (1991) | 88 Heilig, profan, diffamiert. Zur Konstruktion weiblicher muslimischer Identität in Feridun Zaimoglus und Günter Senkels Schwarze Jungfrauen (2006) | 110

Anfänge und Herausforderungen | 85

4.2

V

Das deutsch-türkische Kabarett | 145

5.1

5.4

Über die Entstehung und Entwicklung des deutsch-türkischen Kabaretts | 145 Wer ist das »Ich« auf der Bühne? Über die Besonderheiten satirischer Live-Darstellungen im Hinblick auf deutsch-türkische Aufführungen | 153 Komik des Tabubruchs im Kabarett von Serdar Somunçu | 161 Komik der Polyphonie im Kabarett von Django Asül | 185

VI

Das deutsch-türkische Kino der Gegenwart | 203

6.1

Themen, Entwicklungen und Tendenzen des deutsch-türkischen Films | 203 Von Helden, Narren und Geächteten: Hussi Kutluçans Filmkomödie Ich Chef, Du Turnschuh (1998) | 212 Transvestismus und Homoerotik in Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid (1999) | 239

5.2

5.3

6.2 6.3

VII

Schlusswort: Künstlerische Produktionen deutschtürkischer Migrantinnen und Migranten und Migration als Performance | 269 Literatur | 273

Danksagung

An erster Stelle möchte ich Prof. Dr. Christian Begemann danken, der mein Dissertationsvorhaben jahrelang mit viel Mühe betreut und mich unermüdlich beim Ausarbeiten meines Promotionsvorhabens unterstützt hat. Die Bekanntschaft mit Prof. Dr. Christopher Balme warf neues Licht auf die Arbeit und brachte mir viele Anregungen, die mir insbesondere bei der Theater- und Kabarettanalyse geholfen haben. Ihm gilt mein herzlicher Dank. Prof. Dr. Tobias Döring nahm sich die Zeit, Teile dieser Arbeit zu lesen und zu kommentieren. Ich erhielt von ihm sehr hilfreiche und pragmatische Hinweise, wie man den Gegenstand der postkolonialen Theorie neu denken kann. Auch bei ihm möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. Für ihre Unterstützung während der Promotionsphase – sei es mit Material, Anregungen oder ausführlichen Diskussionen – danke ich Dr. Karin E. Yeúilada ganz herzlich. Für den wissenschaftlichen Austausch über verschiedene Teile dieser Arbeit sowie die hilfreichen Diskussionen und Anregungen danke ich Lars Bullmann, Fabienne Imlinger und Katinka Mast. Frau Alexandra Palme nahm sich die Zeit, meine Dissertation unter erheblichem Zeitdruck mit viel Geduld sowie einem wachsamen Auge zu korrigieren. Das Promotionsvorhaben wurde mit der finanziellen Unterstützung des KAAD im Rahmen eines Promotionsstipendiums in der Zeit zwischen 2006 und 2010 ermöglicht.

I

Einleitung: Karnevaleskes und die performative Wende in den Kulturwissenschaften

Im Jahre 1769 baute ein ungarisch-österreichischer Hofbeamter namens Wolfgang von Kempelen eine Maschine, die bald darauf Aufsehen in Europa erregte: den Schachautomaten bzw. den »Schachtürken«. Es handelte sich dabei um eine als Türke gekleidete Puppe, die den Eindruck vermittelte, selbständig Schach spielen zu können. Lange Zeit blieb es ein Geheimnis, wie diese Figur die Schachbewegungen kalkulierte, dabei Kopf- und Handbewegungen machte und oft sogar die Schachpartien gewann. Es wird sogar davon berichtet, dass der »Türke« berühmte Persönlichkeiten wie z.B. Napoleon beim Schachspielen besiegen konnte.1 In Wahrheit war der Automat ›getürkt‹: Darin versteckte sich ein menschlicher Schachspieler, der den »Türken« bewegen konnte. Mit seinem orientalischen Aussehen und traditionellen Kostüm vermittelte der »Schachtürke« Exotik und gleichzeitig Unheimlichkeit. Er passte als Figur zu den Befürchtungen vor den Türken bzw. der sogenannten »Türkengefahr«, die mit der Expansion des Osmanischen Reichs zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert einherging. Die Gefahr entstammte der Eroberung Konstantinopels und der wiederholten Bedrohung Wiens durch die Türkenbelagerung. So reichte für die Erfindung eines ›getürkten Schachtürken‹ die traditionelle osmanische Tracht, um eine Reihe von Bildern und Imaginationen hervorzurufen: Fremdheit, Gefahr, aber auch die Fähigkeit zur Täuschung und Trickserei. Mögli1

Bruns, Edmund: Das Schachspiel als Phänomen der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Münster [u.a.]: LIT 2003, S. 299-322.

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cherweise gehen teils heute noch gebräuchliche Begriffe oder Redewendungen auf den »Schachtürken« zurück:2 In der Umgangssprache existiert das Verb »türken« sowie die Redewendung »einen Türken bauen« bzw. »stellen«. Mit ähnlichen Phänomenen der Verkleidung, Maskierung, des Spiels mit getürkten (Türken-)Bildern und der Aufdeckung von Differenzen im Theater, Kabarett und Film von deutsch-türkischen Migranten in Deutschland befasst sich das vorliegende Buch. Im Rahmen der ausgewählten Werke zeitgenössischer deutsch-türkischer Autoren, Kabarettisten und Regisseure wird der medialen Konstruktion des Karnevalesken und insbesondere seiner kulturellen Bedeutung im Hinblick auf die Migration nachgegangen. Seit den neunziger Jahren haben sich die künstlerischen Produktionen von Migranten intensiviert, und zwar nicht nur in der Literatur, sondern auch im Film, Fernsehen, Kabarett und den Comedy-Shows. Im Unterschied zur ersten Generation kulturell tätiger Migranten setzen die heutigen deutsch-türkischen Künstler auf neue Stilmittel, Darstellungsmodi und Genres, etwa die Komödie für das Erzählen von Geschichten über Migration, die Culture-Clash-Satire, aber auch hybride Gattungen. An diesem breit gefächerten Spektrum künstlerischer Formen zeigt sich, dass es nicht mehr nur um die Frage geht, ob bzw. dass Migranten sich selber repräsentieren, sondern wie sie dies gegenwärtig tun. Die Migration und die damit verbundene Alterität begünstigen das Spiel mit Differenzen: Rigorose Grenzziehungen und dichotome Einteilungen zwischen Selbst und Anderem, Eigenem und Fremdem, Männlichkeit und Weiblichkeit, aber auch zwischen Zentrum und Peripherie werden hinterfragt und dekonstruiert. An der Demarkationslinie werden Figuren aktiv, die durch Übertretung Grenzen prüfen, verrücken oder passieren und Möglichkeiten aufzeigen, wie Situationen jenseits normativer Ordnungen aussehen können. Es handelt sich dabei um tricksterähnliche Figuren, die als Quelle kultureller Veränderung betrachtet werden.

2

Vgl. Sick, Bastian: Fragen an den Zwiebelfisch. Wie baut man einen Türken?, in: Spiegel Online vom 17.8.2005. Hier aus: www.spiegel.de/kultur/literatur/0,1518,359657,00.html.

EINLEITUNG | 11

Trickster, so heißt eine der bekannten Figuren der Mythologie nordamerikanischer Indianer, hat viele dokumentierte Fähigkeiten:3 Er ist eine Gestalt der Ambivalenz, die mit Finesse Normen und Gesetze missachtet. Trickster kann verschiedene Formen annehmen: Er tritt als göttliches, menschliches, tierähnliches Wesen, aber auch als Mann oder Frau in Erscheinung und ist vor allem in der Lage, kulturellen Wandel zu bewirken: »Wherever the culture has drawn a line of demarcation, Trickster is there to probe the line and test the limits. Of course, laughter at his comfort is culturally didactic, but it is also compensatory, for he reminds us that the cultural boundaries are arbitrary, and he releases the desire, at least vicariously, to challenge those boundaries. He both exercises and exorcises the negation of the Cultural Other.«4

Trickster wird somit als Anstifter karnevalesker Aktionen betrachtet, etwa der scherzhaften, spielerischen Manipulation von Grenzen, die ihn vom Zentrum der Mehrheit ausschließen: »Tricksters are the instigators of carnivalesque activities, whether Lords of Misrule, jesters, clowns, devils […].«5 Durch die Übertretung von Gesetzen und die Hinterfragung von Normen – sei es auf spielerische, ironisierende, tragische oder komische Weise – wird eine alternative Erfahrung dargeboten. Tricksters ›Aktivität‹ wird überall dort spannend, wo Angehörige des Zentrums und der Peripherie aufeinandertreffen und er zur Figur oder Möglichkeit einer Tour de Force kultureller Erneuerung wird. Die mythische Figur personifiziert die Schlüsselbegriffe und die damit verbundenen Phänomene der Transgression, die in der vorliegenden Arbeit in Bezug auf das Karnevaleske untersucht werden: Dynamik(en), Alteritätserfahrung und Transformation. Sie entspringen dem (nicht mehr zeitgemäßen) Absolutheitsanspruch eines Zentrums

3

Der Zyklus von Trickster wurde erstmals vom amerikanischen Kulturanthropologen Paul Radin dokumentiert. Vgl. Radin, Paul: The Trickster, New York: Schocken Books 1988.

4

Spinks, Cary W.: Semiosis. Marginal Signs and Trickster. A Dagger of the Mind, Basingstoke: Palgrave Macmillan 1991, S. 178.

5

Kern, Edith: The Absolute Comic, New York: Columbia Univ. Press 1980, S. 117.

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in einer polyphonen Gegenwart. Es handelt sich dabei um eine sprachliche, religiöse und im Allgemeinen kulturelle Polyphonie, die vor allem die Migrationserfahrung hervorbringt. Reisen, Wanderschaft und die Ankunft an einem neuen Ort werden als Umbruchssituation markiert, für die die Dekonstruktion dichotomer Ordnungen erforderlich wird. Nicht nur die Erfahrung von Fremdheit – Fremdheit meint im Kontext der Arbeit das außereuropäisch Fremde, das, was als ›verschieden‹ wahrgenommen wird – zwischen einem deutschen Zentrum und deutsch-türkischer Peripherie ist hier von Belang. Auch der Generationenwechsel der Migranten, wie z.B. im Fall der gegenwärtig in Deutschland lebenden Deutsch-Türken, führt eine Wende herbei. Die heutige zweite Generation befindet sich an der Schnittstelle zwischen zwei grundlegenden Erfahrungen: ihre Ausschließung vom Zentrum der Mehrheit sowie der Generationenwechsel, der mit neuen Fragen, Themen und Herausforderungen verbunden ist (z.B. das Recht auf Aufenthalt, Fragen der Bürgerschaft, (Selbst-)Repräsentation). Dies spiegelt sich in vielen deutsch-türkischen Werken wider, in denen vor allem mit dem Spiel von und mit Differenzen operiert wird.6 Das Spiel kann zudem satirische, ironische, parodistische oder humoristische Töne annehmen und zeugt von einer Handlungsmacht bei der Begegnung zwischen Selbst und Anderem. Mit dieser Methode bewegen sich Subjekte innerhalb von etablierten Machtstrukturen – wobei bereits die Annahme von einem einzigen Zentrum das Ergebnis eines hegemonialen Akts der Einordnung ist. In diesem Rahmen gewinnen die symbolischen und ästhetischen Phänomene – seien es die sprachlichen, filmischen oder kabarettistischen – als Antwort auf Machtstrukturen und politische Diskurse eine karnevaleske Funktion: Sie destabilisieren, dezentrieren und verlagern den Akzent auf dynamische Prozesse anstatt auf stagnierte Hierarchien. Durch das erwähnte Verrücken und/oder Passieren von Grenzen wird eine Alternative dargeboten, die oft anarchische oder ›verkehrte‹ Formen annimmt. Einige der ästhetischen Phänomene, die in den ausge-

6

Da bislang keine Bezeichnung für die multimediale künstlerische Produktion von Migranten vorliegt, finden sich im Folgenden die Bezeichnungen »deutsche-türkische Werke«, »Werke von Migranten« sowie »Migrantenwerke«, mit denen Literatur, Theater, Kabarett und Filme von Migranten gemeint sind.

EINLEITUNG | 13

wählten Werken vorkommen und aus der Erfahrung der Alterität entstehen, sind Mimikry, Rewriting, Remapping, Writing und Performing Back, die im Kontext der ausgewählten Werke eine spielerische Funktion aufweisen (mehr dazu in Kapitel 2). Wenn die Karnevalisierung und die damit verbundenen Transgressionen z.B. im Theater, Kabarett oder Film untersucht werden, dann geht es um Fragen der Performativität von kultureller Bedeutung – und zwar auf mehrfacher Ebene. Der Begriff der Performativität, der auf John Langshaw Austins Sprechakttheorie in den sechziger Jahren zurückgeht, bezieht sich auf Sprechakte, die eine bestimmte Handlung hervorbringen, wie z.B. das Taufen, Heiraten oder Beichten. In den Gender Studies wurde durch Judith Butler die Performativität geschlechtlicher Identität(en) konstatiert: Butler spricht von »doing gender« und meint damit, dass Geschlecht nicht am anatomischen Körper festgelegt ist, sondern performativ und erst durch die Wiederholung bestimmter Praktiken entsteht.7 Die Performativität wurde unlängst in den Cultural Studies neu entdeckt. Seitdem stößt der Begriff auf zunehmendes Interesse, so dass gegenwärtig von einem »Performative Turn« in den Kulturwissenschaften gesprochen wird.8 BachmannMedick fasst die performative Wende folgendermaßen zusammen: »Weder kulturelle Bedeutungszusammenhänge noch die Vorstellung von ›Kultur als Text‹ stehen hier im Vordergrund, sondern die praktische Dimension der Herstellung kultureller Bedeutungen und Erfahrungen. Aus Ereignissen, Praktiken, materiellen Verkörperungen und medialen Ausgestaltungen werden die Hervorbringungs- und Veränderungsmomente des Kulturellen erschlossen.«9

Die Relevanz des Karnevalesken für die vorliegende Arbeit zeigt sich etwa an der Verkleidung als Angehöriger einer anderen Ethnizität, wodurch neue kulturelle Bedeutung performativ erzeugt werden kann: Das Auflegen einer blonden Perücke bietet dem Maskierten den Zugang zu einer neuen Zugehörigkeit, lässt ihn praktisch zum Deutschen

7

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991.

8

Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Performative Turn, in: Dies. (Hg.): Cultu-

9

Ebd., S. 104.

ral Turns, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 104-143.

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werden, z.B. um Vorteile zu erlangen. Hier geht es um Prozesse, die sich in Entstehung befinden: Feste Strukturen können im Rahmen der Karnevalisierung beispielsweise durch die ethnische oder geschlechtliche Verkleidung dekonstruiert werden. Durch die Ermöglichung alternativer Wege lösen sich festgefügte Ordnungen auf; es vollzieht sich ein kultureller Wandel, bei dem Kultur »als ein bedeutungsoffener, performativer und dadurch auch veränderungsorientierter Prozess [erscheint], der sich mit einem dezidierten Handlungs- und Inszenierungsvokabular erschließen lässt«.10 Sowohl bei der geschlechtlichen als auch bei der ethnischen Verkleidung geht es um die Frage: Welche kulturelle Bedeutung haben diese Formen von Kostümierung? In Zusammenhang mit dem Karnevalesken und der Migration umfasst das Performative außerdem eine mediale Ebene, wenn die Inszenierung von Ethnizität oder Geschlecht im Rahmen einer Theateraufführung, einer kabarettistischen oder filmischen Repräsentation stattfindet. Die Berücksichtigung der Vielfalt von audio-visuellen medialen Präsentationen schließt Fragen zu Körperlichkeit (Materialität des Körpers, Körpersprache), Stimme, Bewegung und im Allgemeinen der Performance ein, die elementar für die Untersuchung der Präsenz des Karnevalesken sind. Beispiele für die Performativität aus dem Textkorpus der vorliegenden Arbeit, anhand derer die Komplexität und Vielschichtigkeit des Performativen veranschaulicht werden können, sind: eine deutsch-türkische Drag Queen, die die Bühnenperformance als konstituierenden Teil ihrer geschlechtlichen Identität versteht, oder eine deutsch-türkische Putzfrau, die sich im Rahmen eines Theaterstücks als Opernsängerin verkleidet. Dabei wird der pragmatische Prozess bei der Erzeugung kultureller Bedeutung in den Fokus gestellt.

1.1 F RAGESTELLUNG UND M ETHODIK Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, inwiefern das Karnevaleske in den ausgewählten deutsch-türkischen Werken für die Migrationsthematik relevant ist. In den Werken wird untersucht, wie sich groteske, satirische, ironische, parodistische und komische Elemente mit dem transnationalen bzw. transkulturellen Charakter der Werke von deutsch-türkischen Migranten in Deutschland in Verbin-

10 Vgl. ebd., S. 113.

EINLEITUNG | 15

dung bringen lassen. Wie wird die Geschichte der Abschiebung eines seit Geburt in Deutschland lebenden Deutsch-Türken in Emine Sevgi Özdamars Theaterstück Keloğlan in Alamania erzählt? Inwieweit ist die geschlechtliche Identität deutsch-türkischer Homosexueller in Kutluğ Atamans Film Lola und Bilidikid mit Fragen der Ethnizität und der sozialen Klasse verzahnt? Welche Besonderheit ergibt sich, wenn der deutsch-türkische Kabarettist Serdar Somunçu sein Programm auf geschichtlichen Tabuthemen über den Nationalsozialismus basiert? Dies sind einige Fragen, denen in der Analyse nachgegangen wird. Aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive wird das Einfließen des Karnevalesken im Hinblick auf die Migration in verschiedenen medialen Formen analysiert. Dazu werden vor allem Michail Bachtins Theorien des Karnevals und des Dialogischen herangezogen. Sie werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit in Verbindung mit Homi K. Bhabhas postkolonialen Theorien der Hybridität und Mimikry in Verbindung gebracht: Es handelt sich um performative Handlungen postkolonialer Subjekte. Die Betrachtung deutsch-türkischer Werke in einer postkolonialen Perspektive führt zur Frage, inwiefern die deutsch-türkische Migration in Deutschland als postkoloniale Erfahrung verstanden werden kann, da die Türkei keine ehemalige Kolonie war. Aus diesem Grund werden in Kapitel 2 die wesentlichen Ähnlichkeiten und Unterschiede zu postkolonialen Literaturen erörtert und im Anschluss gezeigt, wie und vor allem welche Erkenntnisse der postkolonialen Theorie auf die Werke von Migranten angewendet werden können. In Kapitel 3 werden die wesentlichen Facetten des Karnevalesken besprochen, die von Bachtins Theorien zum mittelalterlichen Karneval abgeleitet und auf den Kontext der Migration übertragen werden. Hier geht es vor allem um den Karneval als Zeit des Tabubruchs, der Anarchie, der Verflüssigung von Grenzen zwischen Oben und Unten, Innen und Außen. Bachtins Theorien zeigen viel Potential für transkulturelle Themen, vor allem wenn unterschiedliche Machtrollen und Hierarchien in den Werken thematisiert werden.11 Die Untersuchung des

11 Hier stellt sich die Frage, inwieweit eine Gegenkultur während der Karnevalszeit in der Tat existierte. Diese Frage zu beantworten ist allein deshalb schwer, weil der Karneval einen Wandel vom Mittelalter bis zur Frühneuzeit durchlief und nicht überall in Europa einheitlich war. Mahler spricht vom »frühneuzeitliche[n] Funktionswandel des Karnevals von einer fröh-

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Karnevalesken in den deutsch-türkischen Werken bringt im Allgemeinen Themen wie Macht, Marginalisierung, Destabilisierung von Binaritäten und Aufhebung von Gesetzen ins Spiel. Parodien, Ironisierungen und Mimikry sind einige Beispiele für Praktiken, die durch die Freiheit der Karnevalszeit gelebt werden können. Insbesondere durch den Bezug zu einem ›Anderen‹ im Kontext einer ungleichmäßigen Machtverteilung kann das Karnevaleske zu einer Kategorie postkolonialer Betrachtung werden. Grundlegend ist dabei der Gedanke, dass in diesem karnevalesken Festakt transkulturelle und liminale Phänomene und Grenzüberschreitungen ausgetragen werden. Obwohl Bachtin seine Theorie lediglich auf den Roman bezog, werden karnevaleske Phänomene auch in anderen medialen Darstellungen gesucht. Im analytischen Teil der Arbeit wird sich zeigen, wie z.B. die audio-visuelle Umsetzung den Aspekt des Performativen betont. Stellvertretend sind hier filmische Mittel der Repräsentation zu nennen: Vor allem durch die Mise-en-scène, das Schauspiel und den Schnitt werden auf dem Bildschirm Momente des Karnevalesken festgehalten und inszeniert. Außerdem dienen fiktive Rahmenfiguren

lich entlasteten Enklave zum Ort der Rebellion und Revolution bis hin zu integrierender Kommerzialisierung oder ausgrenzendem Verbot«. Vgl. Mahler, Andreas: Maske und Erkenntnis – Funktionen karnevalesker Identität bei Shakespeare, in: Bettinger, Elfi/Funk, Julika (Hg.): Maskeraden, Berlin: Schmidt 1995, S. 117-134, hier S. 131. Ein detaillierter Überblick über den historischen Karneval in den verschiedenen Epochen sowie die Entwicklungen, die er durchlief, findet sich in: Klauser, Helene: Kölner Karneval zwischen Uniform und Lebensform, Münster: Waxmann 2007. An der Tatsache, dass Bachtin seine Theorien von Rabelais’ Werk ableitet und später mit Dostojewskij ergänzt, ist zu erkennen, dass Bachtin weniger an einer historisch akkuraten Beschreibung des Karnevals gelegen war, sondern dass es ihm in erster Linie um die Bedeutung (Wandel, Umkehrungen) geht, die dieses Fest hervorbringen kann. Für den Kontext der vorliegenden Arbeit ist die Frage, ob der historische Karneval in der Tat karnevalesk war, eher marginal. Im Vordergrund steht das Karnevaleske als kulturwissenschaftlicher Terminus, der Möglichkeiten u.a. der Grenzüberschreitung, Aufhebung sozialer Ordnung und Profanierung heiliger Kontexte beschreibt, die durch die Gesetzlosigkeit sowie die Maskierung und Verkleidung während der Karnevalszeit entstehen. Mehr dazu findet sich in Kapitel 3.

EINLEITUNG | 17

im Kabarett dem Exponieren einer sprachlichen und kulturellen Vielstimmigkeit. Kapitel 4 bis 6 umfassen jeweils zwei Analysen: die Theaterstücke Keloğlan in Alamania von Emine Sevgi Özdamar sowie Feridun Zaimoglus Schwarze Jungfrauen, das Kabarettprogramm von Serdar Somunçu und Django Asül und die Filme Ich Chef, Du Turnschuh von Hussi Kutluçan sowie Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid. In diesen Werken finden sich verschiedene karnevaleske Phänomene: die bereits genannten ethnischen und geschlechtlichen Verkleidungen, Diffamierung und Profanierung von heiligen und sakralen Kontexten, Vermählung Erhabener mit Niedrigen, obszöne Beschreibungen sowie sprachliche Polyphonien. Wie sich in Bezug auf Bachtins Theorien zeigen wird, handelt es sich dabei um wichtige Momente des Karnevals. Für die vorliegende Arbeit gewinnen diese Phänomene jedoch erst ihre Bedeutung bzw. karnevaleske Funktion in Bezug auf die Machtstrukturen, innerhalb derer sie operieren. Das heißt, in der Analyse geht es weniger um die Verkleidung an sich. Da sie mit Fragen der Macht und dem Recht auf Repräsentation verbunden ist, geht es vielmehr um die Fragen: Wer verkleidet sich als wer? Und vor allem: Warum? Genauso wenig geht es um die von den Figuren verursachten Anarchien, sondern vielmehr um den Kontext, auf den sie als Gegenmacht am Rand der Gesellschaft mit der Anarchie antworten. Zum Karneval und Karnevalesken schreiben Shohat und Stam: »Carnivals, and carnivalesque artistic practices, are not essentially progressive or repressive; it depends on who is carnivalizing whom, in what historical situation, for what purposes, and in what manner. Actual carnivals form shifting configurations of symbolic practices, complex crisscrossings of ideological manipulation and utopian desire, their political valence changing in each context.«12

12 Shohat, Ella/Stam, Robert: Unthinking Eurocentrism, London: Routledge 1994, S. 304.

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1.2 Z U

DEN AUSGEWÄHLTEN

W ERKEN

In allen Werken geht es um die Aufnahme und Verarbeitung von karnevalesken Phänomenen, wobei in jedem Werk verschiedene Aspekte oder Momente (z.B. satirische, groteske, parodistische) des Karnevalesken betont werden. Je nach Kontext und Medium der Darstellung wird das Karnevaleske anders umgesetzt und kann jedes Mal eine neue Bedeutung bzw. Funktion haben. Im Rahmen karnevalesker Aktionen wird eine anarchische Differentialität erzeugt, die sich nicht nur gegen eine bestimmte Struktur, sondern auch eine bestimmte Form von Differenz richtet. Das Karnevaleske nimmt in einigen der ausgewählten Werke eine humoristische Form an, wie z.B. im Kabarett oder in Kutluçans Filmkomödie Ich Chef, Du Turnschuh, Schwarze Jungfrauen und Lola und Bilidikid sind in dieser Hinsicht jedoch anders: In Zaimoglus Theaterstück entwickelt sich die Karnevalisierung durch die Diffamierung sakraler Kontexte, z.B. durch die Verwendung ordinärer Sprache. In Lola und Bilidikid verbinden sich hingegen mehrere tragische Themen: Inzest, Vergewaltigung und Mord. Im Film leitet sich das Karnevaleske von der Maskierung und Demaskierung (bzw. Ver- und Entkleidung) von Transvestiten, Transsexuellen und Drag Queens insbesondere im Hinblick auf Fragen der Ethnizität ab.13 Allen Autoren, Filmmachern und Kabarettisten ist gemeinsam, dass sie zur zweiten Generation von Deutsch-Türken gehören. Das ist

13 Auch bei Bachtin geht es nicht ausschließlich um eine Lachkultur: Während die Untersuchung von Rabelais’ Werk, das im Mittelpunkt von Bachtins Theorien steht, noch viele humoristische Momente aufdeckt, ändert sich der Fokus in der Fortsetzung seiner Theorie über die Karnevalisierung und Dialogizität bei Dostojewskij. So geht es z.B. in seiner Untersuchung von Schuld und Sühne mehr um die Groteske von bestimmten Situationen, wie z.B. die Leichenfeier, zu der Personen höherer sozialer Stellung eingeladen werden, um den Verstorbenen zu würdigen. Zum Schluss beteiligt sich stattdessen der Mörder an der Beerdigung seines Opfers. Auch hier zeigt sich die verkehrte Ordnung. Vgl. Bachtin, Michail M.: Rabelais und seine Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987 und Bachtin, Michail M.: Probleme der Poetik Dostoevskijs, München: Hanser 1971 und Lachmann, Renate: Die Schwellensituation – Skandal und Fest bei Dostoevskij, in: Haug, Walter (Hg.): Das Fest, München: Fink 1989, S. 307-325.

EINLEITUNG | 19

die Generation, die entweder in Deutschland geboren wurde oder in einem frühen Alter nach Deutschland kam. Özdamar bildet hier eine Ausnahme, da sie üblicherweise zur ersten Autorengeneration gezählt wird. Die hiesige Klassifizierung wird jedoch mehr im Sinne einer literarischen Generation verstanden, die sich bei Özdamar z.B. in der Abgrenzung von der »Literatur der Betroffenheit« der ersten Phase der Gastarbeiterliteratur manifestiert. Andere Einteilungen bergen die Gefahr, dass Autoren die Erwartung aufgezwungen wird, in einer literarischen Tradition zu verharren und nur über Betroffenheitsthemen zu schreiben, wie die Thematisierung des Verlusts ihrer Heimat und das Leben in der Fremde. Etwas unerwartet mag ebenso die Auswahl von Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid sein, da der Regisseur nicht in Deutschland lebt. Der Film ist aber eine deutsche Produktion und lief 1999 im Panorama-Programm der Berlinale. Der Regisseur zeichnet außerdem ein interessantes Bild von den Verhältnissen im wiedervereinigten Berlin und bringt die Diskussion über Homosexualität und Transvestismus im deutsch-türkischen Milieu ins Spiel. Gemeinsam ist allen Werken außerdem, dass sie nach der deutschdeutschen Wiedervereinigung entstanden sind. In mehreren der ausgewählten Werke wird sich zeigen, wie verschiedene Migrationsthemen mit der Neudefinierung der deutschen nationalen Identität nach dem Mauerfall verflochten sind: Das neue Projekt der Nationenbildung formt sich über die Ein- und Ausschließung von deutsch-türkischen Migranten; Liebesgeschichten und Vermählungen zwischen Deutschen und Deutsch-Türken, die zudem Fragen der sozialen Klasse im wiedervereinigten Berlin ins Spiel bringen; Fragen der Erinnerung und Vergangenheitsbewältigung. Wie im Forschungsüberblick näher besprochen wird, wird in vielen aktuellen Arbeiten dafür plädiert, Werke von Deutsch-Türken als integrativen Bestandteil der deutschen Literatur und Kultur der Gegenwart zu betrachten. In diesem Fall käme die Einbeziehung polynationaler Werke oder Werke von ›deutsch-deutschen‹ Autoren ebenso in Frage. Dieser Ansatz kann zu interessanten und fruchtbaren Ergebnissen und Vergleichsansätzen sowie zur Vermeidung von Ethnisierung führen.14 Der nationalen und/oder ethnischen Zugehörigkeit der

14 Vgl. Thore, Petra: »wer bist du hier in dieser stadt, in diesem land, in dieser neuen welt«. Die Identitätsbalance in der Fremde in ausgewählten

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Autoren kann somit weniger eine determinierende Funktion eingeräumt werden. In der vorliegenden Arbeit bleiben die ausgewählten Werke jedoch auf die deutsch-türkischen Migranten beschränkt, zunächst aus Gründen der Abgrenzung und Übersichtlichkeit, aber auch wegen der großen Bandbreite an Themen und Selbstrepräsentationen in den verschiedenen Medien, wo vor allem die Werke der deutschtürkischen Gruppe von großer Brisanz und Gewichtigkeit sind. Es handelt sich außerdem bei den deutsch-türkischen Migranten um die größte lebende und schreibende Minderheit in Deutschland, die sich darüber hinaus vielen prägenden Bildern der Fremdheit, Exotik und Trickserei ausgesetzt sieht. An verschiedenen Stellen wird gezeigt, wie deutsch-türkische Werke in Dialog mit vielen deutschen, aber auch internationalen Werken stehen, auf sie reagieren und möglicherweise von ihnen beeinflusst worden sind, wie z.B. in Zaimoglus Theaterstück Schwarze Jungfrauen, das Theo van Goghs Kurzfilm Submission zitiert. So wird veranschaulicht und belegt, inwiefern von der »Kosmopolitisierung« der deutschen Gesellschaft und Kultur bzw. ihrer »globalization from within« die Rede sein kann.15 Das ist auch ein Grund dafür, warum die Werkauswahl sich nicht ausschließlich an migrationsspezifischen Themen orientiert, wie z.B. im Kabarett von Somunçu und Asül ausführlich besprochen wird. Im Laufe der fortgeschrittenen Migrationsgeschichte ist zu erwarten, dass zunehmend Themen aufgenommen und dargestellt werden, die bisher nur Gegenstand der ›deutschen‹ Kulturproduktion waren. Die Aufnahme von und Auseinandersetzung mit ›deutschen‹ Themen wird als Teil der deutsch-türkischen Präsenz und Kulturproduktion verstanden. Die Werke von Migranten können (auch) eine Reaktion auf soziale und politische Ereignisse sein. Die Betrachtung der ausgewählten Werke als Dokumentation historischer Gegebenheiten ist jedoch nicht Ziel der vorliegenden Dissertation. Stattdessen sollen die Werke von der ›Pflicht der Repräsentation‹ befreit werden. Selbstverständlich kann es in den ausgewählten Theaterstücken, Kabarettprogrammen und Filmen um realitätsnahe Darstellungen gehen, die soziokulturelle

Werken der deutschsprachigen Migrantenliteratur, Uppsala: Uppsala Univ. 2004, S. 21. 15 Beck, Ulrich: The Cosmopolitan Society and Its Enemies, in: Theory, Culture, and Society 18:4 (2002), S. 17-44.

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Umstände widerspiegeln oder auf sie reagieren. Das Augenmerk soll aber mehr auf den ästhetischen Rahmen dieser künstlerischen Produktionen gelenkt werden, in dem sich diese Themen erst konstituieren. Das gleiche gilt für den Anspruch auf Authentizität, der oft von Rezipienten erhoben wird und sich z.B. in der Erwartungshaltung zeigt, dass biographische Geschichten der Migration dargestellt werden.16 War dies in der ersten Phase der Betroffenheit oft der Fall, weil das Schreiben bzw. Film- oder Kabarettmachen als Ventil im Alltag in einem fremden Land verstanden wurde, so kann die Erwartung von autobiographischem Erzählen in der jetzigen Phase der Migration zum Problem werden und die Themenauswahl einschränken: Es besteht die Gefahr, das künstlerische Schaffen von Migranten lediglich auf eine Dokumentation des sozialen Prozesses der Migration zu reduzieren. Dies ist hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass Autobiographie und Fiktion oft als zwei konträre Ausprägungen literarischer Texte betrachtet werden.17 Abgesehen von der Analyse des Kabaretts von Django Asül spielt der Themenkomplex Autobiographie kaum eine Rolle in der vorliegenden Arbeit. In Asüls Kabarett wird indes gezeigt, wie autobiographische Elemente für die Bühnenshow funktionalisiert und fiktionalisiert werden. Vor allem im Kapitel über das deutschtürkische Kabarett wird sich zeigen, wie auf der Bühne spielerisch mit der Erwartungshaltung umgegangen wird, dass das Publikum da sei, um Türkisches zu sehen.18 Ein Ziel, das in dieser Arbeit verfolgt wird, ist die Erweiterung des Gegenstands der Forschung, so dass nicht nur Literatur, sondern auch andere mediale Formen und Umsetzungen stärker ins Blickfeld rücken. Wie bereits besprochen, können verschiedene Medien das Per-

16 Mit dem Anspruch auf Authentizität und autobiographisches Schreiben von Minderheiten befasst sich u.a. Graham Huggan. Vgl. Huggan, Graham: The Postcolonial Exotic. Marketing the Margins, London: Routledge 2001, v.a. S. 155-176. 17 Anstatt als Dokumentation kann das autobiographische Erzählen auch als performativ betrachtet werden: Durch das Erzählen werden Subjekte geformt. 18 Viele dieser Punkte gelten selbstverständlich nicht ausschließlich für deutsch-türkische Werke und betreffen im Allgemeinen die Auseinandersetzung mit der Klassifizierung der Autobiographie als literarische Gattung.

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formative unterstreichen. Aus diesem Grund erscheint es sinnvoll, die Präsenz des Karnevalesken in der vielfältigen Medienlandschaft zu berücksichtigen. Eine solche Fokussierung auf verschiedene Formen der medialen Repräsentation zieht die Performance und die damit verbundenen zirkulierenden Codes in Betracht. Hier wird insbesondere auf Mittel der diversen medialen Präsentationen eingegangen, die den Rahmen für die inhaltlich-thematische Analyse bilden. Im Kontext von Migration, Diaspora und Exil ist die Berücksichtigung verschiedener Genres außerdem erforderlich, da Medien der (Selbst-)Repräsentation zum Teil kulturabhängig sind. Für den türkischen Kontext ist z.B. die Satire ein beliebtes Genre, das im Rahmen der vorliegenden Arbeit in Form der Kabarettanalyse näher betrachtet wird. Wie im Forschungsüberblick besprochen wird, ist gegenwärtig die Rede von einer »türkischen Wende« in der deutschen Literatur,19 die in der vorliegenden Arbeit mit anderen künstlerischen Formaten ergänzt wird, seien es Film, Kabarett, Fernsehserien20 oder auch in der Musikszene, die von interessanten Mischungen aus dem Rap und HipHop zeugt.21 Wenig

19 Vgl. Adelson, Leslie A.: The Turkish Turn in Contemporary German Literature: Toward a Critical Grammar of Migration, New York: Palgrave Macmillan 2005. 20 Hinweise darauf vor allem in Bezug auf das deutsch-türkische Kino und die deutsch-türkischen Fernsehproduktionen finden sich in: Yeşilada, Karin E.: Turkish-German Screen Power – The Impact of Young Turkish Immigrants on German TV and Film, in: GFL. German as a foreign language 1 (2008), S. 73-99. Hier aus: www.gfl-journal.de/1-2008/yesilada. pdf. 21 Vgl. Grünefeld, Hans Dieter: Musik – Musikrolle und Polyrhythmen, in: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland, Stuttgart: Metzler 2007, S. 302-328 und Çaglar, Ayse: Management kultureller Vielfalt. Deutsch-türkischer Hip-Hop. Rap und Türkenpop in Berlin, in: Hess, Sabine (Hg.): Geschlecht und Globalisierung, Königstein/Taunus: Helmer 2001, S. 221-240 und Kimminich, Eva: »Lost Elements« im »MikroKosmos«. Identitätsbildungstrategien in der Vorstadt- und Hip-HopKultur, in: Dies. (Hg.): Kulturelle Identität. Konstruktionen und Krisen, Frankfurt a.M.: Lang 2003, S. 47-106 und Ayata, Imran: Kanak-Rap in Almanya – Über die schweren Folgen Deutschlands, in: Dominik, Katja/Jünemann, Marc/Motte, Jan/Reinecke, Astrid (Hg.): Angeworben – Eingewandert – Abgeschoben. Ein anderer Blick auf die Einwanderungsge-

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erforscht sind bisher Theaterinszenierungen von Deutsch-Türken geblieben. In den letzten Jahren sind z.B. mehrere Bühnenwerke von Feridun Zaimoglu entstanden, auf die im Kapitel über Schwarze Jungfrauen verwiesen wird. Fatih Akins Gegen die Wand wurde für die Bühne als Schauspiel und als Oper adaptiert.22 Die Bühne ist der Ort für Performances schlechthin. Die Analyse der beiden Theaterstücke Schwarze Jungfrauen und Keloğlan in Alamania soll dem Medium des Theaters Rechnung tragen.

1.3 F ORSCHUNGSÜBERBLICK Seitdem die germanistische Forschung auf die Literatur von Gastarbeitern aufmerksam zu werden begann, wächst die Zahl der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zu diesem Gegenstand kontinuierlich. In den letzten Jahrzehnten wurden verschiedene Themen behandelt, in erster Linie in der Literatur und erst unlängst im Migrantenkino. Zu Zwecken der Übersichtlichkeit werden im Folgenden die wichtigsten Entwicklungen und Themenrichtungen der Forschung ab den neunziger Jahren und insbesondere seit der Jahrtausendwende berücksichtigt.23 Die neunziger Jahre kündigten den Anfang einer Wende in der Wahrnehmung und Erforschung der Migrantenliteratur an. Bis dahin

sellschaft Bundesrepublik Deutschland, Münster: Westfälisches Dampfboot 1999, S. 273-286. 22 Von Armin Petras ist das Schauspiel Gegen die Wand, das im Februar 2007 am Maxim-Gorki-Theater in Berlin uraufgeführt wurde (Regie führte Matthias Huhn). Im November 2008 wurde eine gleichnamige Oper am Theater Bremen uraufgeführt (Regie führte Michael Sturm). In Anlehnung an Akins Film wurde die Handlung von Ludger Vollmer vertont, der dafür 2009 den Europäischen Toleranzpreis erhielt. 23 Zu den bekanntesten Forschungen der achtziger Jahre zählen: Schierloh, Heimke: Das alles für ein Stück Brot, Frankfurt a.M.: Lang 1984 und Zielke-Nadkarni, Andrea: Standortbestimmung der »Gastarbeiter-Literatur« in deutscher Sprache in der bundesdeutschen Literaturszene, Kassel: Gesamthochschul-Bibliothek 1985 und Hamm, Horst: Fremdgegangen – freigeschrieben, Würzburg: Königshausen 1988 und Chiellino, Carmine: Literatur und Identität in der Fremde, Kiel: Neuer Malik 1989.

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hatten sich viele zunächst als temporär angelegte Migrationsbewegungen in dauerhafte Aufenthalte verwandelt. Durch diese Entwicklung werden in den Werken die dichotomen Kategorien der ›Heimat‹ und ›Fremde‹ destabilisiert und nationale Einordnungen revidiert. Auch bildet, wie erwähnt, der Mauerfall ein entscheidendes Ereignis in der neueren deutschen Geschichte. Mit der Wiedervereinigung beginnt eine Phase, für die ein ›neues‹ nationales Bewusstsein charakteristisch ist, was in vielen Werken von Migranten reflektiert wird. Mit den Kategorien der ›Heimat‹ und ›Fremde‹ operieren einige Analyseansätze, die vor allem das Aufdecken des interkulturellen Potentials hinter diesen Kategorien zum Ziel haben24 oder didaktische Ansätze daraus entwickeln.25 Unter den kanonisierten Themen der deutschsprachigen Migrantenliteratur gehörte die Identitätsfrage eine Zeit lang zu den meisterforschten Themen. Die Identitätssuche, eigentlich ein Thema der Weltliteratur, wurde den Werken von Migranten zum Teil aufoktroyiert. Dabei ging es in erster Linie um die Zerrissenheit in einem Leben zwischen den Kulturen und die Erforschung der Position von Migranten in einem nationalen Kontext, der die Gegenüberstellung von zwei voneinander getrennten Kulturkreisen voraussetzt. Viele literaturästhetische Phänomene und Betrachtungen rückten im Vergleich zur Untersuchung der Identitätsfrage in den Hintergrund.26 Die Untersuchung der Migrantenliteratur begrenzte sich vor allem auf den thematischinhaltlichen Aspekt, der sicherlich neue Perspektiven auf die Migrantenliteratur eröffnete und überhaupt ein Licht auf die Anfänge der Migrantenliteratur warf, den ästhetischen Rahmen der Darstellung aber nicht in Betracht zog. Die erste Arbeit, die sich ausschließlich mit dem ästhetischen Potential der Migrantenliteratur befasst, ist Immacolata Amodeos Die

24 Vgl. z.B. Blioumi, Aglaia: Interkulturalität als Dynamik, Tübingen: Stauffenburg 2001. 25 Vgl. Rösch, Heidi: Literatur im interkulturellen Kontext, Berlin: Techn. Univ. 1989 und Zielke-Nadkarni, Andrea: Migrantenliteratur im Unterricht, Hamburg: Kovač 1992. 26 Vgl. Petra Thore: »wer bist du hier in dieser stadt, in diesem land, in dieser neuen welt«. Die Identitätsbalance in der Fremde in ausgewählten Werken der deutschsprachigen Migrantenliteratur.

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Heimat heißt Babylon.27 Für ihre Analyse zieht sie das Rhizommodell von Deleuze und Guattari heran, um Zentrierungen und Hierarchien zu vermeiden.28 Durch die polyzentrische Fundierung will Amodeo die »Randliteratur« aus ihrer marginalen Position herausholen. Der zweite Vorteil des rhizomatischen Modells ist, dass die Werke von Migranten auf diese Weise nicht der deutschen Nationalliteratur gegenübergestellt und auch nicht an ihr gemessen werden.29 Amodeo bezieht sich in ihrer Arbeit auch auf Bachtins Theorien zur Redevielfalt und Mehrstimmigkeit und untersucht sowohl manifeste als auch latente Formen der Dialogizität anhand der Werke von Aysel Özakın, Franco Biondi und Gino Chiellino. In diesem Aspekt knüpft die vorliegende Arbeit an Amodeos Überlegungen an. Die Hauptunterschiede zu ihrer Untersuchung sind vor allem durch die fortgeschrittene Phase der Migrationsgeschichte bedingt, die Fragen der Transkulturalität aufwirft. Außerdem bringt die Vielfalt an Themen, Genres, Darstellungsmodi und die starke mediale Präsenz ein breiteres Spektrum von Werken ins Spiel, die sich in Verbindung mit der bereits besprochenen Performativität betrachten lassen. Die Untersuchung der Werke von Migranten unter Berücksichtigung postkolonialer Theorien ist in den letzten Jahren eine verstärkte Tendenz der Erforschung von Migrantenliteratur und findet sich in jüngeren Arbeiten wie z.B. den Dissertationen von Konuk30 und

27 Amodeo, Immacolata: Die Heimat heißt Babylon, Opladen: Westdt. 1996. 28 Für Amodeo kommt die rhizomatische Ästhetik »aufgrund von Kulturkontakten, von Überlagerungen kultureller Traditionen und aufgrund kultureller Vermischungen zustande«. Vgl. ebd., S. 109. 29 Umstritten ist der Begriff der »Nationalliteratur«, der die Vorstellung von einer homogenen und einheitlichen Literatur suggeriert. Hoff argumentiert, dass dieser Begriff erst im 19. Jahrhundert geprägt wurde, und meint, dass der hybride Charakter von Kulturen sich in jeder Literatur zeigt, und dass die Vereinheitlichung von Nationen und Literaturen erst im Laufe der Entstehung von Nationalliteraturgeschichten im 19. Jahrhundert konstruiert wurde. Vgl. Hoff, Karin: Literatur der Migration – Migration der Literatur, in: Dies. (Hg.): Literatur der Migration – Migration der Literatur, Frankfurt a.M.: Lang 2008, S. 7-9, hier S. 7. 30 Konuk, Kader: Identitäten im Prozeß, Essen: Die Blaue Eule 2001.

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Dayıoğlu-Yücel.31 Beide Autorinnen sehen etwa in Bhabhas Theorien zur Hybridität oder zur postkolonialen Mimikry eine fruchtbare Basis für die Analyse ausgewählter Migrantenliteratur. Auch für die vorliegende Arbeit zeigen sich die gewonnenen Erkenntnisse aus den postkolonialen Theorien als Möglichkeit für eine neue Perspektive der Forschung über Werke von Migranten. Neben der Hybridität und der postkolonialen Mimikry, die für die Analyse karnevalesker Phänomene erforderlich sind, zählen außerdem ästhetische Phänomene des Rewriting, Remapping, Writing und Performing Back zu den Kategorien postkolonialer Betrachtung, was in Kapitel 2 ausführlich besprochen wird. Die vorliegende Arbeit will in dieser Hinsicht mehr Konzepte der postkolonialen Theorie als Chance für die germanistische Forschung aufdecken. In Verbindung mit der Identitätsthematik entwickelten sich des Weiteren Arbeiten, die an Genderfragen anknüpfen wie z.B. Wierschkes Schreiben als Selbstbehauptung, worin sie sich mit der Literatur von deutsch-türkischen Autorinnen befasst und sich in ihrer Argumentation auf postkoloniale Theoretiker wie etwa Edward Said stützt.32 Auch Arens Untersuchung aus dem Jahre 2000 über die Hybridität in den Werken von Migranten der achtziger Jahre in Deutschland zählt zu den Arbeiten, die in den postkolonialen und feministischen Theorien eine Chance für die Germanistik suchen.33 Aktuelle Forschungsansätze in diesem Bereich erörtern die Verbindung zwischen Gender und Räumen in den Werken von Migrantenautorinnen34 oder geschlechtsspezifische Fragen der Identität und Differenz.35 In Bezug auf Genderfragen blieben zwei Themen bisher wenig erforscht: die Wechsel-

31 Dayıoğlu-Yücel, Yasemin: Von der Gastarbeit zur Identitätsarbeit. Integritätsverhandlungen in türkisch-deutschen Texten von Senocak, Özdamar, Ağaoğlu und der Online-Community vaybee!, Göttingen: Univ.-Verlag 2005. 32 Vgl. Wierschke, Annette: Schreiben als Selbstbehauptung, Frankfurt a.M.: IKO – Verlag für Interkulturelle Kommunikation 1996. 33 Vgl. Arens, Hiltrud: ›Kulturelle Hybridität‹ in der deutschen Minoritätenliteratur der achtziger Jahre, Tübingen: Stauffenburg 2000. 34 Vgl. Horst, Claire: Der weibliche Raum in der Migrationsliteratur, Berlin: Schiler 2007. 35 Vgl. Zierau, Cornelia: Wenn Wörter auf Wanderschaft gehen …, Tübingen: Stauffenburg 2009.

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beziehung von Gender, Ethnizität und Klasse, ein Kernbereich postkolonialer Betrachtung, und die Queer-Thematik, die in der vorliegenden Arbeit vor allem bei der Analyse von Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid berücksichtigt wird. Insgesamt lässt sich in der Forschung zu deutsch-türkischen Werken bemerken, dass die Mehrzahl der Arbeiten als Ergebnis des Versuchs entstanden ist, migrationsspezifischen Themen in den Werken nachzugehen.36 Übersehen wird dabei, dass sich für die fortgeschrittene Migrationsgeschichte die Auseinandersetzung mit ›anderen‹, nicht›türkischen‹ Themen von selbst versteht. Die Arbeiten von Leslie A. Adelson und Tom Cheesman haben den Startschuss für die transnationale Betrachtung der deutsch-türkischen Werke gegeben, was diese Werke von der ihnen aufgezwungenen ›Sprachrohrfunktion‹37 befreit. Adelsons The Turkish Turn in Contemporary German Literature ist zum Klassiker der aktuellen Forschung geworden. Wie der Titel schon sagt, betrachtet die Autorin die deutsch-türkische Literatur als einen integrierten Bestandteil der deutschen Literatur der Gegenwart. Mit ihrer Abkehr vom autobiographischen Lesen dieser Literatur macht Adelson verstärkt auf die ästhetischen und stilistischen Mittel aufmerksam, wodurch die Identitätsthematik und die ›Gefangenschaft im Dazwischen‹ an Bedeutung verlieren. Adelson wendet sich Werken der neunziger Jahre zu und liest sie an vielen Stellen vor dem Hintergrund des wiedervereinigten Deutschlands, was ein wichtiger Aspekt für die vorliegende Dissertation sein wird.38

36 Das erklärt sicherlich zum Teil, weshalb Zaimoglus nicht-›türkische‹ Werke, wie z.B. German Amok oder Leinwand, meist unbeachtet blieben, da in ihnen migrationsspezifische Themen keine Rolle spielen. 37 Als Sprachrohr u.a. der ›Kanaken‹ wurde Ferdiun Zaimoglu bezeichnet. Die Wahrnehmung deutsch-türkischer Autoren, stellvertretend wird hier Zaimoglu genannt, wird u.a. bei Dörr kritisiert. Dörr spricht von der Wahrnehmung Zaimoglus als »Pressesprecher einer Weltreligion« (vor allem nach dem 11. September), die ihm die Funktion der »Vermittlung von Kulturen« aufzwingt. Vgl. Dörr, Volker C.: Deutschsprachige Migrantenliteratur. Von Gastarbeitern zu Kanakstas, von der Interkulturalität zur Hybridität, in: Hoff, Karin (Hg.): Literatur der Migration – Migration der Literatur, S. 17-33, hier S. 32. 38 Vgl. Leslie A. Adelson: The Turkish Turn in Contemporary German Literature.

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An Adelsons Arbeit knüpft Cheesmans Novels of Turkish German Settlement. Cosmopolite Fictions an.39 Da Cheesman die Migration als abgeschlossenen Prozess betrachtet, spricht er von der Literatur des »Settlement«,40 was keinen Raum mehr für die Diskussion über Themen wie Heimat und Fremde oder Ankunft und Rückkehr lässt. Eine isolierte Betrachtung als Randliteratur zeigt sich als nicht mehr zutreffend. Stattdessen wird die facettenreiche Darstellung von kosmopolitischen Möglichkeiten entdeckt. Cheesman lehnt außerdem die bisherigen Bezeichnungen dieser Literatur als »die andere deutsche Literatur«, »Ausländerliteratur«, »interkulturelle Literatur« oder »deutschtürkische Literatur« ab. Diese Bezeichnungen suggerieren alle, so Cheesman, dass die Werke in einem zwischenkulturellen Raum entstehen, der sich außerhalb von deutschen kulturellen Produktionen befindet.41 Wie Adelson liest er die Migrantenliteratur als integrativen Bestandteil der »deutschen Literatur« und unterstreicht ihre reziproke Dimension. Durch die Aufdeckung der intertextuellen Verflechtungen und Bezüge in den deutsch-türkischen Werken zeigt Cheesman, inwiefern die »Literature of Settlement« in einem Dialog nicht nur mit anderen deutschen, sondern auch Werken der Weltliteratur steht.42 Vor allem in diesem Punkt erweist sich Cheesmans Studie für die vorliegende Arbeit als richtungweisend. In den letzten Jahren wird außerdem verstärkt versucht, deutschtürkische Werke in Vergleich mit anderen Literaturen von Minderheiten zu betrachten. Azayde Seyhan vergleicht z.B. die deutsch-türkische

39 Vgl. Cheesman, Tom: Novels of Turkish German Settlement, Rochester, N.Y: Camden House 2007. 40 Die Übersetzung von Cheesmans Begriff ins Deutsche als »Ankunftliteratur« o.Ä. würde den fortdauernden Aspekt des Ankommens als nicht abgeschlossenen Zustand beinhalten, während das englische »Settlement« die Migration als vollendet darstellt, ohne dass eine Rückkehr in Frage kommt. Übernommen wird deswegen der Begriff aus dem Englischen. 41 Tom Cheesman: Novels of Turkish German Settlement, S. 12. 42 So liest Cheesman z.B. den Protagonisten Sascha Muhteschem in Zafer Şenocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft als Nachkommen der Protagonisten Akif bei Akif Pirincci und Kayankaya in Ajournis Detektivromanen und sieht Bezüge zu Kafkas Die Verwandlung. Vgl. ebd., S. 102.

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mit der Chicano-Literatur;43 Konuk Kader zwischen deutsch-, englisch- und türkischsprachigen Autoren in Deutschland und der Türkei;44 Venkat Mani hingegen Özdamar, Zaimoglu, Sten Nadolny und Orhan Pamuk.45 Auf die Vernachlässigung (inter)medialer Betrachtungen in Bezug auf Werke von Migranten weist Dayıoğlu-Yücel in ihrer Arbeit explizit hin und stellt außerdem fest, wie stark die ästhetischen Phänomene in diesen Werken außer Acht gelassen werden.46 Trotz der Popularität des Mediums Film ist eine lange Verzögerung der Erforschung des ›Migrantenfilms‹ festzustellen. Eine der ersten Arbeiten, die sich mit der ersten Phase des Gastarbeiterkinos befassen, ist der Band Getürkte Bilder,47 in dem gezeigt wird, wie die Entwicklung des deutsch-türkischen Kinos in mancherlei Hinsicht parallel zu der der Literatur läuft. Im Vordergrund stehen unter anderem der Gastarbeiteralltag, die Konstruktion von Fremdheit und der Aspekt der Mehrsprachigkeit. Den ersten Meilenstein für die Erforschung des deutsch-türkischen Kinos unter Berücksichtigung seiner transnationalen Tendenz legt Deniz Göktürk.48 In Anlehnung an die Debatte über das ›Black British Cinema‹ spricht sie von der Verlage-

43 Vgl. Seyhan, Azade: Writing Outside the Nation, Princeton: Princeton Univ. Press 2001. 44 Vgl. Kader Konuk: Identitäten im Prozeß. 45 Vgl. Mani, B. Venkat: Cosmopolitical Claims. Turkish-German Literatures from Nadolny to Pamuk, Iowa City: Univ. of Iowa Press 2007. 46 Vgl. Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Von der Gastarbeit zur Identitätsarbeit, S. 185 und S. 5, Anm. 13. In ihrer Dissertation analysiert sie neben Texten der drei Autoren Şenocak, Özdamar und Ağaoğlu auch die OnlineCommunity vaybee! 47 Karpf, Ernst (Hg.): »Getürkte Bilder«: Zur Inszenierung von Fremden im Film, Marburg: Schüren 1995. 48 Weiterführende Forschung über die Entwicklung des deutsch-türkischen Kinos findet sich vor allem in: Göktürk, Deniz: Verstöße gegen das Reinheitsgebot. Migrantenkino zwischen wehleidiger Pflichtübung und wechselseitigem Grenzverkehr, in: Mayer, Ruth (Hg.): Globalkolorit, St. AndräWördern: Hannibal 1998, S. 99-114 und Göktürk, Deniz: Migration und Kino – Subnationale Mitleidskultur oder transnationale Rollenspiele?, in: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland, S. 329347.

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rung des Schwerpunkts der Repräsentation vom »cinema of duty« zu den »pleasures of hybridity«.49 Chiellinos Band Interkulturelle Literatur in Deutschland zählt zu den wichtigsten Arbeiten dieses Themengebiets, da sich darin ein Gesamtüberblick über die Werke polynationaler Autoren findet.50 Anders als der Name des Bandes suggeriert, werden nicht nur literarische, sondern auch andere mediale Formen berücksichtigt, etwa das Kino, Fernsehen, Kabarett, Theater, Film, Musik und bildende Kunst. Andere mediale Formen werden auch in Borans Dissertation über das deutsch-türkische Theater und Kabarett berücksichtigt, die vor allem einen geschichtlichen Überblick über die Entwicklung der zwei Medien bietet.51 Mit der Jahrtausendwende beginnt eine wichtige Etappe in der Forschung, die vor allem auf den Comedy-Boom reagiert und zu einigen Arbeiten führt, die sich hauptsächlich mit dem Kino, aber auch mit anderen medialen Formen befassen. So ist in der Literatur zum deutsch-türkischen Kino die Rede von Turkish German Screen Power.52 Während dieser Phase stellt sich das alte Denken in binären Kategorien als problematisch heraus: Bezeichnungen wie »cinema of inbetween«, »cinéma du métissage« oder »das Kino der doppelten Kulturen«53 werden hinterfragt, da sie zwei separate Kulturkreise voraussetzen, die in den Filmen dargestellt und möglicherweise untermauert werden. Wichtig für die Darstellungen in den Filmen werden

49 Vgl. vor allem Göktürk, Deniz: Beyond Paternalism. Turkish German Traffic in Cinema, in: Bergfelder, Tim (Hg.): The German Cinema Book, London: bfi 2002, S. 248-256 und Göktürk, Deniz: Strangers in Disguise. Role Play Beyond Identity Politics in Anarchic Film Comedy, in: Haselstein, Ulla (Hg.): Iconographies of Power. The Politics and Poetics of Visual Representation, Heidelberg: Winter 2003, S. 187-212. 50 Vgl. Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. 51 Vgl. Boran, Erol M.: Eine Geschichte des Türkisch-Deutschen Theaters und

Kabaretts,

Diss.

The

Ohio

State

Univ.

2004.

Hier

aus:

http://etd.ohiolink.edu/send-pdf.cgi?acc_num=osu1095620178. 52 Karin E. Yeşilada: Turkish-German Screen Power. 53 Seeßlen, Georg: Das Kino der doppelten Kulturen, in: epd Film 12 (2000). Hier aus: www.filmportal.de/public/pics/IEPics/d1/03D8FBEE873A4C20856ACAA DA2376272_mat_seexxlen_neu.pdf.

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transnationale und auch sprachliche Räume. Englisch wird zur Lingua franca; die deutschen oder türkischen Städte spielen keine entscheidende Rolle als solche, sondern fungieren oft als reine Filmkulisse oder als Transitorte. Ein aktueller Beitrag zu dieser gegenwärtigen Diskussion findet sich in der Zeitschrift GFL, die in der ersten Ausgabe 2008 verschiedene Tendenzen des Migrantenkinos seit der Wiedervereinigung analysiert.54 Der Beginn einer neuen Phase zeigt sich auch in Bezug auf die Darstellungsmodi: Im Unterschied zu den ersten Phasen des deutschtürkischen Kinos, die von der Darstellung des Lebens in einer ›Leidkultur‹ dominiert waren, bewähren sich die jetzigen Regisseure in neuen Darstellungsformen wie z.B. Komik und machen Ironie und groteske Szenarien zum Rahmen, in dem über ›Multikulti‹ gelacht wird. Diese neue Tendenz in der deutschen Filmindustrie und im Fernsehen fasst Yeşilada unter der Bezeichnung »Turkish light«55 zusammen. Das Niveau der Werke ist sehr umstritten und entspricht nicht immer hohen Erwartungen. Es reicht von der anspruchsvollen satirischen Kritik bis hin zur billigen Klischeeaufnahme, die hauptsächlich unterhaltsam sein will. Zusammenfassend lässt sich über die Forschung zur deutschtürkischen Literatur sagen, dass sie in der gegenwärtigen Phase begonnen hat, den transkulturellen Themen in der Migrantenliteratur Rechnung zu tragen. Die vorliegende Arbeit schließt mit einer Erweiterung des Gegenstands an, so dass der facettenreichen medialen Landschaft Rechnung getragen wird. Die Performativität und der starke Inszenierungscharakter durch Körperlichkeit, Bewegung, Stimme und Artikulation, die exemplarisch am Karnevalesken veranschaulicht werden, lenken den Fokus dabei auf Dynamiken und Prozesse der Erzeugung kultureller Bedeutung.

54 Vgl. Leal, Joanne/Rossade, Klaus-Dieter: Introduction: Cinema and Migration since Unification, in: GFL. German As A Foreign Language 1 (2008). Hier aus: www.gfl-journal.de/1-2008/leal_rossade.pdf. 55 Yeşilada meint damit die Leichtigkeit der komischen Darstellung (lite, light-weight). Vgl. Karin E Yeşilada: Turkish-German Screen Power, S. 77.

I I Die postkoloniale Wende in den Literaturwissenschaften

2.1 P OSTKOLONIALISMUS . V ERSUCH EINER B EGRIFFSBESTIMMUNG Man kann über postkoloniale Literaturen sprechen und Texte wie Joseph Conrads Heart of Darkness, Rudyard Kiplings Kim oder Edward Morgan Forsters Passage to India meinen. Postkoloniale Literaturen bezeichnen aber auch Texte von V.S. Naipaul, Chinua Achebe oder Hanif Kureishi. Die Auflistung einiger weniger Beispiele zeigt die Komplexität einer Begriffs- und Gegenstandsbestimmung, da sie heterogene und in einiger Hinsicht doch ähnliche Literaturen anzeigt. Als ›postkolonial‹ wird z.B. diejenige europäische Literatur gekennzeichnet, die in antikoloniale oder aber in kolonialistische und imperialistische Bestrebungen verstrickt war. Letztere wird in der Forschung etwa anhand des literarischen Exotismus, Primitivismus oder Eurozentrismus untermauert. Zu den oben genannten postkolonialen Werken gehören weiterhin Beispiele einer großen und heterogenen Gruppe, die von der ehemaligen Peripherie in die westliche Metropole migrierte. Schließlich ist dann die sogenannte »Dritte-Welt«-Literatur zu nennen, die in den ehemaligen Kolonien entstanden ist bzw. entsteht und auf politische, ökonomische oder gesellschaftliche Implikationen einer bis heute stark prägenden Erfahrung reagiert. In beiden Fällen, der Migrantenliteratur und der »Dritte-Welt«-Literatur, bewegen sich die Autoren mit ihrem Schreiben innerhalb etablierter politischer Machtstrukturen, die zum Teil indirekt operieren und oft nicht

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als solche zu identifizieren sind. 1 Die Selbstpositionierung bzw. Reaktion darauf bringt bestimmte Erzählverfahren ins Spiel, die in ihrem Werk wiederkehren und diese Literaturen trotz ihrer Heterogenität miteinander verbinden, wie z.B. Strategien der postkolonialen Mimikry oder des Rewriting. Diese Literatur steht paradigmatisch für Phänomene, die zwar in Abhängigkeit von und als Antwort auf die Macht der Mehrheit entstehen (d.h. als Gegendiskurs) und gleichzeitig durch das Spiel mit Differenzen den dominanten Diskurs manipulieren können.2 Die postkoloniale Theorie, die u.a. die sprachlichen, rhetorischen und politischen Phänomene in diesen Literaturen beschreibt, ist natürlich nicht weniger komplex. Sie ist genauso weit angelegt und umfasst beispielsweise marxistische, dekonstruktivistische, psychoanalytische und feministische Ansätze. Die drei Eckpfeiler, die sogenannte »Holy Trinity«, verkörpert von Edward Said, Homi K. Bhabha und Gayatri Chakravorty Spivak, hatten mit ihren Theorien über den Orientalismus, die Hybridität und den dritten Raum oder die Subalternität keine pauschale Einteilung in die Epochen Prä- und Postkolonialismus beabsichtigt. Ihre Ansätze sind entstanden, um vor allem die massive Veränderung von Machtstrukturen zu beschreiben, die mit dem Ende der Kolonialzeit einherging. Postkoloniale Theorie umfasst darüber hinaus die beständige Nachwirkung dieses Wandels, die sich deutlich z.B. am Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie zeigt. Für die vorliegende Arbeit ist diese Binarität von besonderer Relevanz, da es sich bei der Analyse der karnevalesken Phänomene in den ausgewählten Werken meist um ironisierende, nachäffende, subversive Reaktionen auf diese Einteilung handelt.

1

Das Schreiben innerhalb von indirekten Machtstrukturen kann exemplarisch an der Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Preises veranschaulicht werden. Während in der Preisverleihung eine Anerkennung der ›anderen‹ deutschen Literatur suggeriert wird, verbirgt sich hinter dieser Preispolitik ein Machtapparat. Es operiert mit der ›Ghettoisierung‹ der Migrantenliteratur und vermittelt womöglich den Eindruck, dass die jeweils preisgekrönte Literatur »sich nicht mit deutscher Literatur messen [könne]«. Yasemin Dayıoğlu-Yücel: Von der Gastarbeit zur Identitätsarbeit, S. 26.

2

Mehr zur postkolonialen Mimikry sowie zu Strategien der Manipulation von Differenzen findet sich unter Punkt 3.2-3.5.

DIE

POSTKOLONIALE

W ENDE IN

DEN

LITERATURWISSENSCHAFTEN

| 35

Neben dem Umstand, dass postkoloniale Theorie einen breiten Begriff für verschiedene Ansätze darstellt, bezeichnet sie seit ihren Anfängen auch nicht den gleichen Gegenstand, sondern wurde im Laufe ihrer Entwicklung mehrfach modifiziert.3 Saids Orientalismuskritik war zur Zeit ihrer Entstehung sinnvoll, um auf Dichotomien aufmerksam zu machen, die sich während der Kolonialzeit herausgebildet hatten. Später wurde seine Kritik jedoch gerade wegen dieses dichotomen Denkens kritisiert und revidiert, etwa durch Homi Bhabhas Hybriditätstheorie, die zudem eine Antwort auf die zunehmenden Migrationsbewegungen darstellte.4 Das heißt, dass postkoloniale Theorie über keine konstanten Kategorien verfügt, sondern eine dynamische diskursive Formation ist; ein Umstand, der ihre Fortentwicklung bis in die Gegenwart garantiert hat. Diese Entwicklung hat BachmannMedick in ihrem Überblick zur Theorieentwicklung in den vergangenen dreißig Jahren als Postcolonial Turn festgehalten. Die postkoloniale Wende ist durch das »Umschwenken von der historischpolitischen auf die diskursive Ebene der Entwicklung der kulturwissenschaftlichen Neuorientierung insgesamt [geprägt]«.5 Dieser Paradigmenwechsel konnte sich erst dann durchsetzen, »als seine Forschungsansätze auf weitere Ebenen übergriffen: sobald er also nicht nur historisch lokalisiert blieb – auf dem Feld der Kolonialismuskritik

3

Vgl. Graham Huggan: The Postcolonial Exotic. Marketing The Margins, S. 229f.: »The history of postcolonial studies, despite numerous wellpublicised assertions to the contrary, is one informed self-criticism – one in which the value of the term ›postcolonial‹ itself has been continually interrogated, its methodological biases unearthed, the potential applicability of its theories put to the test. Not least, postcolonial studies has frequently challenged and updated its own historical models – noting the confusion that arises, for instance, from the use of the prefix ›post‹ as a historical marker […].«

4

Die Kritik an seinem dichotomen Denken hat Said selber in Culture and Imperialism aufgefangen, indem er für eine Lektüre literarischer Texte unter Berücksichtigung der in ihnen verflochtenen Geschichten plädiert. Damit distanziert er sich von der in Orientalism kritisierten Einteilung in Orient versus Okzident. Vgl. Said, Edward W.: Culture and Imperialism, New York: Knopf 1993.

5

Bachmann-Medick, Doris: Postcolonial Turn, in: Dies. (Hg.): Cultural Turns, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 184-237, hier S. 187.

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–, sondern so verallgemeinert wurde, dass er die Machtstrukturen des Westens überhaupt in Frage stellte«.6 Kritisiert wird an der postkolonialen Theorie u.a., dass sie die unterschiedlichen Ausprägungen des Kolonialismus in den verschiedenen Ländern übersieht. Wenn man jedoch postkoloniale Einflüsse als ein diskursives Verhältnis versteht, dann handelt es sich nicht um eine Theorie, die sich pauschal übertragen lässt, sondern kontextbezogen entsteht. Die Gefahr der Verallgemeinerung lässt sich mit der postkolonialen Differenz und der erforderlichen Differenzierung dieser Differenz beheben. Wenn von der Differenz in Bezug auf binäre Kategorien die Rede ist, zwischen denen sie operiert, dann ist bei wechselnden Binaritäten zwar immer eine postkoloniale, jedoch sich dynamisch neu bildende Differenz gemeint. Postkoloniale Theorie, die Machtverhältnisse und -strukturen befragt, ist demgemäß nicht als Produkt, sondern als Prozess zu betrachten.7 Das heißt, dass postkoloniale Theorie selbst hybrid ist und als Ergebnis lokaler und globaler Prozesse formuliert werden muss.8 Demnach geht es nicht um eine binäre Einteilung kolonial/postkolonial. Aufgrund ihres hybriden Charakters, der kontextbezogen differenziert wird, kann diese Theorie nicht pauschalisierend sein. Sie muss je spezifische und singuläre Machtkonstellationen und Diskursformationen in den Blick nehmen. Durch die Globalisierung, die Migrationsbewegungen und die daraus resultierende Vernetzung von Nationen ist der postkoloniale Pro-

6 7

Ebd., S. 192. Außer dem oben genannten Punkt wird z.B. der Eurozentrismus der postkolonialen Theorie selbst kritisiert. Sie wird als Produkt des westlichen Intellektualismus betrachtet, was Fragen des Wissens und der Macht auch in Bezug auf die Theorieentwicklung impliziert. Außerdem wurde die Unbegrenztheit dieser Theorie, die zur pauschalen Betrachtung von verschiedenen Phänomenen in den unterschiedlichsten Ländern führt, bemängelt. Für weitere Kritikpunkte am Postkolonialismus vgl. auch: Hall, Stuart: When Was the Post-Colonial? Thinking At the Limit, in: Chambers, Iain/Curti, Lidia (Hg.): The Post-Colonial Question, London: Routledge 1996, S. 242260 und Friedrichsmeyer, Sara/Lennox, Sara/Zantop, Susanne: Introduction, in: Dies. (Hg.): The Imperialist Imagination, Ann Arbor: Univ. of Michigan Press 1998, S. 1-29.

8

Sara Friedrichsmeyer/Sara Lennox/Susanne Zantop: Introduction, S. 3.

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zess viel komplexer als die Zweierbeziehung der üblicherweise auftretenden postkolonialen Situation. Die Literatur, die in diesem Kontext entsteht, wird als vielschichtiger als eine lediglich zweiseitige Beeinflussung verstanden. Der Fortsetzung einer Beziehung zu ehemaligen Kolonien wird in dieser Hinsicht keine determinierende Funktion zugeschrieben.9 Deutlich zeigen sich die ineinander verschränkten Beziehungen auch an der modernen Form des Postkolonialismus: dem Neokolonialismus. Der kapitalistische Hintergrund, auf den sich neokoloniale Beziehungen und Verhältnisse stützen, umfasst trotz aller Heterogenität die allgemeine Einteilung in Erste und Dritte Welt, die sich nach der Auflösung der Kolonialreiche und dem Ende des Zweiten Weltkriegs herausbildete und die wirtschaftliche Abhängigkeit der ärmeren Länder von den neokolonialen Mächten (hauptsächlich den USA und den Ländern der EU) bezeichnet.10 Hier steht demnach nicht nur die historische Dimension im Vordergrund, sondern auch wirtschaftliche Abhängigkeiten, die in diesen Machtverhältnissen eine entscheidende Rolle spielen und beispielsweise zur Verknüpfung von Fragen der Ethnizität, Klasse und Geschlechter führen, die gegenwärtig Kernfragen postkolonialer Forschung bilden. Was meint also postkolonial im Kontext der deutsch-türkischen Migration? Kann von einer Trennung der Forschungsansätze ausgegangen werden, oder bieten postkoloniale Theorien vielmehr eine Chance für neue Perspektiven auch der germanistischen Forschung? Und existieren grundlegende Unterschiede zwischen postkolonialen und nicht-postkolonialen Kontexten, oder handelt es sich nicht eher um graduelle Differenzen, die im Rahmen postmoderner Migrationsbewegungen kontextbezogen entstehen?

9

Vgl. Lützeler, Paul Michael: Der postkoloniale Blick. Deutschsprachige Autoren berichten aus der Dritten Welt, in: Ders. (Hg.): Schreiben zwischen den Kulturen, Frankfurt a.M.: Fischer 1996, S. 222-238.

10 Für weitere Hinweise zur ökonomischen Seite des Neokolonialismus vgl. Steyerl, Hito: Can the Subaltern Speak German? And Other Risky Questions. Migrant Hybridism versus Subalternity, in: Below, Irene (Hg.): Globalisierung, Hierarchisierung. Kulturelle Dominanzen in Kunst und Kunstgeschichte, Marburg: Jonas 2005, S. 39-44.

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2.2 P OSTKOLONIALE T HEORIE IM DEUTSCH - TÜRKISCHEN K ONTEXT ? S CHNITTSTELLEN UND D IFFERENZEN Schon diejenigen Punkte, die im vorigen Teil über die Begriffsbestimmung ausgeführt wurden, sind in der Lage zu zeigen, dass es sich bei der Übertragung postkolonialer Theorie auf deutsch-türkische Werke nicht um historische Epochen handelt, sondern um interne Machtstrukturen, die auf die Erfahrung der Alterität antworten, und gleichzeitig um die darauf reagierenden Gegenstrukturen. Sie resultieren aus asymmetrischen Machtverhältnissen sowie der kulturellen Differenz, die für die Debatte über deutsch-türkische Migration von Belang sind. Die germanistische Forschung bietet jedoch eine divergierende Stellungnahme, was die Frage der Anwendung postkolonialer Theorie im Allgemeinen auf die deutsche Literatur und insbesondere auf die deutsch-türkischen Werke von Migranten angeht. Obwohl die Migrantenliteratur in Deutschland, die im Mittelpunkt der Erforschung der »interkulturellen Literatur« steht, nicht im Kontext einer postkolonialen Migration entstanden ist, weist sie viele thematische, stilistische und ästhetische Gemeinsamkeiten sowohl mit postkolonialen frankophonen und anglophonen Literaturen als auch mit der Migrantenliteratur in den USA auf. In den letzten Jahren herrscht deswegen verstärkt eine Tendenz, in den postkolonialen Theorien eine Chance für die interkulturelle Germanistik zu entdecken. Spätestens seit der kulturwissenschaftlichen Wende in der Literaturwissenschaft11 ist die Betrachtung der Werke von Migranten in einem postkolonialen Rahmen mehr in den Vordergrund gerückt. Die ersten Impulse zu diesen Forschungsansätzen kamen aus dem angloamerikanischen Raum, wo man in den postkolonialen Theorien eine Erweiterung des Gegenstands der germanistischen Forschung erblickte, was allerdings durchaus kontrovers diskutiert wurde. Einige Forschungsrichtungen vor allem der Inlandsgermanistik verschließen sich gewissermaßen dem ›importierten‹ Ansatz und plädieren für eine strikte Trennung von Forschungsansätzen – eine Orientierung, die postkoloniale Theorie als Gegenstand der englischen oder romanistischen Literaturwissenschaft versteht. Diese Haltung birgt die

11 Vgl. Bachmann-Medick, Doris: Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M.: Fischer 1996.

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Gefahr der homogenen Betrachtung postkolonialer Theorie, wodurch die Vielfalt postkolonialer Verhältnisse und Geographie(n) ausgeblendet bleibt.12 Die Akzeptanz postkolonialer Theorie macht historische Fakten zum Kriterium für die Auswahl literarischer Texte. In vielen Fällen führt dies in Deutschland zur Beschränkung postkolonialer Betrachtung auf die Kolonialismuskritik in der deutschen Literatur oder Fragen der Imagologie (das Bild Afrikas oder der Afrikaner in der deutschen Literatur und umgekehrt).13 Die Skepsis, mit der die germanistische Forschung auf die postkoloniale Theorie reagiert, wird meist historisch begründet. Im Zusammenhang mit Deutschland ist oft von einem Kolonialismus ohne Kolonien die Rede.14 Gemessen am Imperium Großbritanniens blieben die deutschen kolonialen Bestrebungen in der Tat bescheiden und hauptsächlich auf den relativ kurzen Zeitraum zwischen 1884 und 1919 beschränkt. Die Tatsache, dass Deutschland keine so lange Kolonialgeschichte wie z.B. England, Frankreich oder Spanien hat und auch kein weltweites Imperium aufbauen und halten konnte, bildet den größten Unterschied zur postkolonialen Situation in den großen Kolo-

12 So stellt Stuart Hall die Frage nach den Grenzen des Postkolonialismus und stellt fest, dass z.B. Nigeria, Indien und Jamaika unterschiedlich postkolonial sind. Vgl. Stuart Hall: When Was the Post-Colonial?, S. 246. 13 In Bezug auf die deutsche Kolonialismuskritik erwähnt Mecklenburg in der deutschen Literatur Johann Gottfried Herders zehnte Sammlung seiner Humanitätsbriefe und Alfred Döblins Amazonas. Die Betrachtung der gesamten deutschsprachigen Literatur unter Berücksichtigung postkolonialer Theorien betrachtet Mecklenburg als problematisch und lehnt sie kategorisch ab. Vgl. Mecklenburg, Norbert: Das Mädchen aus der Fremde, München: Iudicium 2008, S. 280-286. Mecklenburg begrüßt jedoch an einer anderen Stelle in seinem Buch, dass durch »ein behutsames Lesen« die Orientalismen in Özdamars Schreiben erkannt und, z.B. bei Claudia Breger, als subversive Mimikry interpretiert wurden (vgl. S. 508). Die affirmierte Lektüre basiert auf Topoi der postkolonialen Theorie, die sich also doch für deutsch-türkische Literatur, stellvertretend hier bei Özdamar, als fruchtbar erweist. 14 Uerlings, Herbert: Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur. Perspektiven und Probleme, in: Dunker, Axel (Hg.): (Post-)Kolonialismus und deutsche Literatur. Impulse der angloamerikanischen Literatur- und Kulturtheorie, Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 17-44, hier S. 39.

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nialmächten. Damit entfallen zentrale Momente wie das lange bestehende Verhältnis zwischen Kolonisator und Kolonisierten, die erlittenen Befreiungsbewegungen sowie die am Ende der Kolonialzeit sich anschließenden Migrationsbewegungen von der Peripherie in die Metropole. In dieser Auffassung manifestiert sich die Gefahr, dass sich eine neue Binarität kolonial/postkolonial herausbildet: Sie verfehlt somit eines der Hauptziele der postkolonialen Theorie, nämlich das Denken in binären Kategorien zu überwinden. Dem steht die Position entgegen, die eine indirekte Involvierung Deutschlands im kolonialen Geschehen sieht: »Wenn die einzelnen deutschen Länder auch militärisch zu schwach waren, sich direkt auf den Kampf um Kolonien in aller Welt einzulassen, besagt das noch nicht, daß Deutschland von kolonialistischen Ideologien frei geblieben wäre.«15 Am Erwerb von Kolonien während des Kaiserreichs sind Kernelemente der kolonialen Haltung zu erkennen.16 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten die kolonialen Interessen Deutschlands im afrikanischen Kontinent an Kontur gewonnen und traten dadurch mit englischen und französischen Ambitionen in Konkurrenz.17 Friedrichsmeyer, Lennox und Zantop nennen zwei weitere Ursachen für den germanistischen Vorbehalt gegenüber der postkolonialen Theorie. Wenn unter der postkolonialen Literatur das Schreiben von Autoren aus den ehemaligen Kolonien in der Sprache des Kolonisators verstanden werde, so die drei Autorinnen, dann lasse sich kaum von postkolonialer Literatur in Deutschland sprechen. Auch für die Übertragung auf die deutsch-türkische Literatur wäre dies problematisch, da einige in Deutschland lebende Autoren, die sich mit brisanten postkolonialen Themen wie etwa der Fremdheit oder der Identität beschäftigen, bislang nur auf Türkisch geschrieben haben.18 Außer dem sprachlichen Aspekt vermuten die Autorinnen, dass die intensive Beschäftigung mit dem Holocaust als zentrale Erfahrung in der deutschen

15 Lützeler, Paul Michael: Postmoderne und postkoloniale deutschsprachige Literatur. Diskurs, Analyse, Kritik, Bielefeld: Aisthesis 2005, S. 95. 16 Ebd., S. 94. 17 Für eine ausführliche Darstellung der Geschichte des deutschen Kolonialismus, beginnend im 15. und 16. Jahrhundert mit der deutschen Beteiligung an der Kolonisierung der Neuen Welt, vgl. Sara Friedrichsmeyer/Sara Lennox/Susanne Zantop: Introduction, v.a. S. 8-14. 18 Wie z.B. Aras Ören.

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Geschichte ein weiterer Grund sein mag, weshalb die Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus sowie die Beteiligung Deutschlands an der kolonialen Geschichte Europas in den Hintergrund treten.19 Das grundlegende Argument bei Friedrichsmeyer, Lennox und Zantop basiert auf der Macht imperialistischer Phantasien, die lange vor dem tatsächlichen Kolonialismus existierten: »To understand how ›real‹ and long-lived German colonialism was – not just for the colonized, but for German society itself – it is necessary to go beyond historical facts and programmatic statements to investigate the mentalities and imaginary configurations that persisted throughout the colonial period and lingered long after.«20 Bereits kurz nach der Gründung des deutschen Nationalstaats sind diese Imaginationen in koloniale Eroberungen umgesetzt worden. Daran zeigt sich, wie die Nation und das aufkeimende Nationalbewusstsein sich u.a. durch die Macht über den Anderen konstituierten.21 Eine sexuelle Metapher, die z.B. bei der Analyse von Zaimoglus Schwarze Jungfrauen wiederkehren wird, ist die Vorstellung von der männlichen Potenz und der reifen Nation, die sich mit der Phantasie von der Entdeckung und Eroberung eines als weiblich imaginierten, unbekannten, jungfräulichen Territoriums verbindet. Die genannten historischen Aspekte sind nicht zu bestreiten. Wenn die Frage der Betrachtung von Migrantenwerken jedoch lediglich an die oben genannten Punkte geknüpft wird, dann zeigt sich, dass sich der postkoloniale Ansatz auf historische Ereignisse und eine chronologische Aneinanderreihung von Epochen beschränkt. Die postkoloniale Theorie ist zwar nach und in Bezug auf den Kolonialismus entstanden, hat sich jedoch im Laufe seiner Entwicklung davon losgelöst und beschreibt gegenwärtig die Macht- und Abhängigkeitsstrukturen zwischen Ländern der Ersten und Dritten Welt sowie, wenn von Migration die Rede ist, zwischen der Mehrheit und Minderheit. Der oben genann-

19 Sara Friedrichsmeyer/Sara Lennox/Susanne Zantop: Introduction, S. 3f. 20 Ebd., S. 18. 21 Zantop stützt sich u.a. auf Benedict Andersons Buch Imagined Communities und seine Hauptannahme, dass Nationen konstruiert und imaginiert sind.

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te Ansatz von Friedrichsmeyer, Lennox und Zantop ist exemplarisch für die Erweiterung des germanistischen Blicks.22 Statt der Ablehnung postkolonialer Betrachtungen lässt sich von einer Heterogenität der deutschen postkolonialen Erfahrung sprechen. Sie ist deswegen heterogen, weil sie nicht nur auf der Beziehung zwischen einer ehemaligen Kolonie und der Metropole basiert, sondern andere Formen von postkolonialen Machtverhältnissen impliziert. Ein Beispiel dafür bildet die Alteritätserfahrung bzw. das Verhältnis zum Anderen insbesondere nach 1945, dem Ende des Nationalsozialismus. Dies ist für den deutsch-türkischen Kontext von Bedeutung, da die Gastarbeitermigration vor diesem geschichtlichen Hintergrund begann. Wenn man die Migrantenliteratur aus einer postkolonialen Perspektive betrachtet, so lassen sich grundsätzliche Unterschiede zu den englisch- und französischsprachigen postkolonialen Literaturen feststellen. Sie hängen bis zu einem bestimmten Grad mit den Unterschieden zur dortigen Migration in die Großkolonialländer zusammen. Sowohl während als auch nach dem Ende der Kolonialzeit setzte im britischen und französischen Weltreich eine Migrationsbewegung von der kolonisierten Peripherie ins europäische Zentrum ein. Dies ist einer der wesentlichen Unterschiede zur Situation in Deutschland, das einen anderen Hintergrund für die größten Ströme an Zuwanderern kennt. Erst als Deutschland nach dem Kriegsende als »Anwerbeland« Arbeitskräfte aus unterschiedlichen Ländern rekrutierte, sorgten die hauptsächlich aus dem Mittelmeerraum Angeworbenen für eine gemischte kulturelle Szene auf deutschem Boden. Während es z.B. in Frankreich eine Vertrautheit mit dem geschichtlichen Hintergrund gab (allerdings nicht ohne die periphere Position der maghrebinischen Migranten), fehlte in Deutschland das direkte Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie. Das Fehlen der für die postkoloniale Situation charakteristischen Beziehung zwischen ehemaliger Kolonialmacht und Kolonie führte zur Wahrnehmung der eingewanderten türkischen Minderheit als

22 Zur postkolonialen Theorie im germanistischen Kontext vgl. in: Göttsche, Dirk: Postkolonialismus als Herausforderung und Chance germanistischer germanistischer Literaturwissenschaft, in: Erhart, Walter (Hg.): Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung?, Stuttgart: Metzler 2004, S. 558-576.

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Träger eines höheren Grads an Fremdheit.23 Als die Rückkehr der Gastarbeiter in vielen Fällen nicht in Erwägung gezogen wurde und der Aufenthalt in Deutschland sich verstetigte, kamen die fehlende Vertrautheit im Umgang mit den türkischen Migranten und die Geringschätzung der entstandenen Multikultur bedeutend stärker zur Geltung. Einer der Gründe dafür ist, dass keine gemeinsame historische Erfahrung vorlag, die den Hintergrund für die Migrationsbewegung bildete.24 Kulturelle, soziale, sprachliche und andere Verbindungen, die die großen Kolonialmächte aufbauten und – insbesondere im Fall Frankreichs – bis heute noch pflegen, fallen damit komplett aus. Stattdessen ging es in erster Linie um Assimilationsversuche seitens der ›Dominanzkultur‹ und die Eingliederung der als fremd wahrgenommenen Migranten in die deutsche Gesellschaft. Die sprachliche Dimension ist im Kontext des postkolonialen Hinterfragens der deutsch-türkischen Situation nicht zu unterschätzen. Während z.B. für in Frankreich lebende Marokkaner oder Libanesen die französische Sprache als Erbe aus der Kolonialzeit übernommen wurde, waren die meisten Gastarbeiter zu Beginn ihres Aufenthalts in Deutschland der Sprache entweder gar nicht oder nur lückenhaft mächtig. Das führte sicherlich zu einer marginaleren Position der Migranten in der Gesellschaft und trug verstärkt zu ihrer Wahrnehmung als Fremde bei.25

23 Der wichtigste Faktor, der zur Konstruktion und Zementierung von Fremdheit führt, ist sicherlich der der Religion. Ein unmittelbarer Zusammenhang zeigt sich im deutsch-türkischen Kontext an den Diskussionen über den Beitritt der Türkei in die EU, dem Streit um den Bau von Moscheen und der Kopftuchdebatte, die insbesondere im deutsch-türkischen Kabarett thematisiert werden. Diese Themen implizieren Fragen über Macht und Ausgrenzung. Hier wird die Debatte über das Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Moderne relevant, ein Thema, das das Fundament vieler postkolonialer Begegnungen bildet und für den deutschtürkischen Kontext aktuell ist. 24 Vgl. auch Huyssen, Andreas: Diaspora and Nation. Migration Into Other Pasts, in: New German Critique 88 (2003), S. 147-164, hier S. 155. 25 Viele türkischstämmige Autoren haben am Anfang in ihrer Muttersprache geschrieben, wie z.B. Aras Ören, Güney Dal oder Fetih Savaşçi. Vgl. Şölçün, Sargut: Literatur der türkischen Minderheit, in: Carmine Chiellino (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland, Stuttgart: Metzler 2007,

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Unter den polynationalen Gruppen nimmt die deutsch-türkische eine Sonderstellung ein. Im Unterschied zu Migranten aus EULändern gehören die in Deutschland lebenden Deutsch-Türken zu den Minderheiten, die aufgrund des Ausländergesetzes und der Einbürgerungsverfahren Nachteile erleiden müssen, die sich auch im Arbeitsrecht zeigen. Vor allem unter der Regierung Kohl intensivierte sich die Debatte über Ausländerpolitik besonders stark. Während Italiener, Spanier oder Griechen als Einwohner in Deutschland zunehmend akzeptiert wurden, richteten sich die Bemühungen um ein neues Ausländergesetz, das vor allem Rückkehrmaßnahmen und Zuzugsbeschränkungen von Familienangehörigen umfasste, hauptsächlich gegen Türken.26 Dadurch werden sie in eine gesellschaftliche Randposition gedrängt. Gleichzeitig erleben wir gegenwärtig eine ›neue‹ Phase der Migration, die oft als die ›post-migrantische‹ Phase beschrieben wird. Sie zeichnet sich vor allem durch die wachsende Teilnahme der deutsch-türkischen Migranten an der bürgerlichen Mittelschicht aus. Sie bilden damit einen festen Bestandteil des urbanen Lebens und Geschehens. Dies steht in einem Spannungsverhältnis zur bisherigen Marginalisierung der Gastarbeiter, was das Leben in postkolonialen Metropolen kennzeichnet.27 Eine Verbindung zu postkolonialen Theorien wird weiterhin an der Rezeption deutsch-türkischer Werke deutlich, in der sich eine ›deutsche‹, paternalistische Neigung zum Kulturimperialismus zeigt. Ausschlaggebend für die Rezeption vieler Werke deutsch-türkischer Autoren, insbesondere derjenigen Emine Sevgi Özdamars, ist Edward Saids Orientalismuskritik, die im Kontext von einigen dieser Werke noch

S. 135-153, hier S. 136. Außerdem haben vor allem Autoren der ersten literarischen Generation das Schreiben in einer fremden Sprache in ihrem Werk thematisiert, wie z.B. Habib Bektaş. 26 Mehr zur rechtspolitischen Situation findet sich in: Hiltrud Arens: ›Kulturelle Hybridität‹ in der deutschen Minoritätenliteratur der achtziger Jahre, S. 15-19. 27 Dieser Wandel macht sich z.B. im ›neueren‹ Kino der Migration bemerkbar: Baki Davraks Rolle als Germanistikprofessor in Fatih Akins Auf der anderen Seite oder Idil Üners kleine Nebenrolle als Ärztin in demselben Film sind nichts anderes als eine Spiegelung gegenwärtiger sozialer Umstände von Migranten, denen der Durchbruch und der soziale Aufstieg zu den Mittel- und Oberschichten der deutschen Gesellschaft gelang.

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immer Relevanz hat. Saids Kritik basiert auf der Analyse der westlichen Überlegenheit, die sich der Okzident auch aufgrund von Repräsentationsformen zuschreibt. Der ›Orient‹ erscheint als Negativbild des Okzidents und wird der westlich-europäischen Moderne untergeordnet. Unbefragt vorausgesetzte Kategorien (z.B. ›Barbaren‹ versus ›Zivilisierte‹) führen zuerst zur Konstruktion und dann zur Wahrnehmung hypothetischer Gruppen, um die eigene (europäische) Überlegenheit in den Vordergrund zu stellen. Durch diese Einteilung wird jeder dynamischen Entwicklung von Kultur widerstrebt: Sie kann zur Gefährdung des binären Schemas und damit zur Gefährdung der europäischen Superiorität führen. Einen fruchtbaren Boden für diese Polarisierung liefern darüber hinaus essentialistische Kulturbetrachtungen. Durch einen hegemonialen Akt der Klassifizierung werden die diskursiv erzeugten Gruppen ›ghettoisiert‹ oder exotisiert, je nachdem, ob sie als bedrohlich oder interessant betrachtet werden. Diese Kategorien stehen für ein Entweder-oder, das gesamte Kulturen darstellt und gleichzeitig »eine Art Exotik des Vergangenen […] konservier[t]«.28 Übertragen auf den Migrationskontext wird dadurch die Überlegenheit der ›Aufnahmekultur‹ etabliert und gefestigt.29 Vor diesem Hintergrund wurde beispielsweise Özdamars Schreiben oft als Mischung aus einer »orientalischen« und einer »westlichen« Schreibtradition betrachtet, was erstens die Vorstellung von zwei homogenen Schreibweisen suggeriert und zweitens aufgrund einer starren Betrachtung häufig

28 Şenocak, Zafer: War Hitler Araber?, Berlin: Babel 1994, S. 19. 29 Saids Orientalismuskritik kann stellvertretend für diskursive Formationen innerhalb der postkolonialen Theorie genannt werden. Die Fragen der Macht, die mit dem Orientalismus zusammenhängen, stehen im Allgemeinen für europäische Hegemoniewünsche, die sich nach Said in Form des hierarchisierenden institutionellen Wissens zeigen. Dadurch »löst sich die postkoloniale Kritik von ihrer historischen Entstehungssituation; sie wird verallgemeinert«. Vgl. Doris Bachmann-Medick: Postcolonial Turn, S. 188. Bachmann-Medick spricht außerdem davon, dass es schon bei Said zu einem postcolonial turn komme, »der sich durch seine kulturelldiskursive Ausrichtung als eine grundlegende Repräsentationskritik von den anfänglichen marxistisch-ökonomistischen Zugängen verabschiedet«. Vgl. ebd., S. 189.

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die Entwicklung der Schreibstile sowie die Unterschiede zwischen den einzelnen Werken der Autoren übersieht.30

30 Die Meinungen über den deutschen Orientalismus sind zwiespältig. Einige Forschungspositionen schließen Deutschland von Saids Orientalismuskritik aus, da Deutschland keine politischen oder ökonomischen Interessen im Orient verfolgt habe. In seiner Kritik bezieht sich Said hauptsächlich auf die Großkolonialmächte England und Frankreich. Was den Orientalismus in Deutschland betrifft, so schreibt Said, dass die deutsche Erforschung des Orients auf gesammelten Schriften aus England und Frankreich, d.h. auf sekundären Quellen, beruhe. Was Deutschland jedenfalls mit England und Frankreich teile, sei eine Form der »intellektuellen Autorität« über den Orient: »There was nothing in Germany to correspond to the Anglo-French presence in India, the Levant, North Africa. Moreover, the German Orient was almost exclusively a scholarly, or at least classical, Orient: it was made the subject of lyrics, fantasies, and even novels, but it was never actual, the way Egypt and Syria were actual for Chateaubriand, Lane, Lamartine, Burton, Disraeli, or Neval. There is some significance in the fact that the two most renowned German works on the Orient, Goethe’s Westöstlicher Diwan and Friedrich Schlegel’s Über die Sprache und Weisheit der Indier, were based respectively on a Rhine journey and on hours spent in Paris libraries. What German Oriental scholarship did was to refine and elaborate techniques whose application was to texts, myths, ideas, and languages almost literally gathered from the Orient by imperial Britain and France. Yet what German Orientalism had in common with AngloFrench and later American Orientalism was a kind of intellectual authority over the Orient within Western culture.« Vgl. Said, Edward W.: Orientalism, London: Penguin 1995, S. 19. Hervorhebung im Original. Andere Positionen setzten sich hingegen mit Saids Aussagen über Deutschland auseinander, und zwar nicht nur im Rahmen ihrer akademischen Disziplinen. In ihrer Analyse von Karl Mays Orientzyklus untersucht Berman beispielsweise Formen des Orientalismus, die unabhängig von kolonialen Eroberungen entstanden sind und trotzdem eine dem Orientalismus analoge Struktur aufweisen. Berman konstatiert ferner, dass der Orientalismus bei Said auf dem Nationalismus und Kolonialismus fuße. Saids Aussagen über den deutschen Orientalismus beziehen sich auf die Zeit vor der Gründung des deutschen Nationalstaats im Jahre 1871. Da Said die Begriffe Nation und Nationalstaat in Verbindung miteinander betrachte, so Berman, könne er keine nationalen Interessen Deutschlands im

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Analog zum Orientalismus hat sich neuerdings eine Art ›Okzidentalismus‹ herausgebildet.31 Auf die Einteilung in West-Ost bzw. Orient-Okzident reagierten viele Menschen aus ›orientalen‹ bzw. ›orientalisierten‹ Ländern mit ebenso einheitlichen Zuschreibungen an die westliche Welt bzw. an Europa. Zur Neigung einer ›Okzidentalisierung‹ Europas bzw. des Westens kommt hinzu, dass ›orientalische‹ Schriftsteller in ihren Werken ›Orientalisiertes‹ aufnehmen und weiter dasjenige verarbeiten, was bereits als ›orientalisch‹ rezipiert wurde. Damit tragen einige Autoren selbst zu weiteren statischen Festlegungen bei, indem sie die erwartete Welt von märchenhaften orientalischen Palästen abbilden.32 Ein beliebtes Thema bleibt z.B. die Darstellung der muslimischen Frau als Märtyrerin, wie sie z.B. Saliha Scheinhardts »Kolportage-Literatur« feiert, bzw. als exotisches Objekt der Begierde, das es zu erobern gilt.33 Einige Filme machten das Motiv

Orient feststellen. Vgl. Berman, Nina: Orientalism, Imperialism and Nationalism. Karl May’s Orientzyklus, in: Friedrichsmeyer, Sara/Lennox, Sara/Zantop, Susanne (Hg.): The Imperialist Imagination, Ann Arbor: Univ. of Michigan Press 1998, S. 51-68. Für den Orientalismus in der deutschen Literatur vgl. Kontje, Todd Curtis: German Orientalisms, Ann Arbor: Univ. of Michigan Press 2004. Weitere Auseinandersetzungen mit dem Orientalismus sowie der Involvierung Deutschlands im Orient finden sich in: Jenkins, Jennifer: German Orientalism: Introduction, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 24 (2004), S. 97-100. 31 Ohne die oben genannte Bezeichnung zu gebrauchen, setzt sich Şenocak in seinem Essayband das land hinter den buchstaben u.a. mit dieser fundamentalistischen Neigung zur Polarisierung des Westens seitens des Orients auseinander. Er liefert einen interessanten und kritischen Einblick in die aktuelle Debatte über den verstärkt zunehmenden Islamismus und die damit einhergehende europäische Reaktion. Vgl. Şenocak, Zafer: das land hinter den buchstaben, München: Babel 2006. 32 Zum Gebrauch des Exotismus und Fantastischen bei deutschsprachigen Autoren, wie z.B. Jusuf Naoum, Salim Alafenisch oder Rafik Schami, vgl. Jordan, Jim: Orientalismus, umgepolt? Zum Gebrauch des Exotismus und des Fantastischen in Werken der Diaspora-Literatur, in: Helmut Schmitz (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur, S. 155-167. 33 Vgl. Yeşilada, Karin E.: Nette Türkinnen von nebenan‹ – Die neue deutsch-türkische Harmlosigkeit als literarischer Trend, in: Helmut Schmitz (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur, S. 117-

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der unterworfenen Orientalin sehr populär, so etwa die Geschichte des Leidens in Helma Sander-Brahms Shirins Hochzeit, Tevfik Başers 40 Quadratmeter Deutschland oder Hark Bohms Yasemin, der zu den bekanntesten Filmen der achtziger Jahre zählt.34 Eine neue Generation von Autorinnen weiß diese Tradition, teilweise aus literarischen Vermarktungsinteressen, weiter zu pflegen. Auch hier sind Machtapparate aktiv. Der neue literarische deutschtürkische Trend wird maßgeblich von Frauen bestimmt, die durch (autobiographische) Lifestyle-Romane mit deutsch-türkischem Flavour ein breites Publikum gefunden haben. Die Autorinnen gehören zur dritten literarischen Generation,35 sind in einem frühen Lebensalter

142, hier S. 118f. Eine weitere Kritik von Saliha Scheinhardts und Alev Tekinays »Kolportage-Literatur« findet sich in: Yeşilada, Karin E.: Die geschundene Suleika. Das Bild der Türkin in der deutschsprachigen Literatur türkischer Autorinnen, in: Howard, Mary (Hg.): Interkulturelle Konfigurationen, München: Iudicium 1997, S. 95-114 (Anm. 79). In Scheinhardts Werken geht es vor allem um das Schicksal türkischer Frauen, die in der Regel als unterdrückt dargestellt werden (vgl. z.B. Scheinhardts Erzählung Frauen, die sterben, ohne dass sie gelebt hätten). Gleichzeitig wird oft das Leben in Deutschland als Rettung vor diesem Schicksal verstanden, was das binäre Schema des Orientalismus konserviert. Yeşilada spricht in diesem Zusammenhang vom ›Suleikalismus‹ und meint damit eine Form des Orientalismus, die von deutsch-türkischen Autorinnen in ihrem Werk aufgenommen wird und vor allem das Bild einer geschundenen orientalischen Frau zeichnet. Anhand von ausgewählten Texten zeigt Yeşilada, inwiefern mit diesen Bildern klischeehafte Vorstellungen und Erwartungen des Publikums bedient werden. 34 Vgl. Rings, Guido: Blurring or Shifting Boundaries? Concepts of Culture in Turkish-German Migrant Cinema, in: GFL. German as a foreign language 1 (2008), S. 6-39, hier S. 16. Hier aus: www.gfl-journal.de/12008/leal_rossade.pdf. Vgl. auch: Karin E. Yeşilada: Turkish-German Screen Power, S. 76, Anm. 6. Zu nennen ist auch der in Deutschland sehr bekannte »Erfahrungsbericht« Nicht ohne meine Tochter von Betty Mahmoody, der auch verfilmt wurde. Erzählt wird die Flucht- und Elendsgeschichte einer amerikanischen Frau, die von ihrem Mann, dem iranischen Arzt Sayed Bozorg Mahmoody, im Iran gefangen genommen wird und erst nach großen Schwierigkeiten die Flucht aus diesem Land ergreifen kann. 35 Die Autorinnen selbst gehören zur zweiten Generation von Migranten.

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nach Deutschland gekommen oder hier geboren. Einige haben einen deutschen Elternteil. Ihre Literatur kann unter dem Genre der CultureClash-Satire oder unter dem Begriff der »Chick-Lit alla turca«36 zusammengefasst werden.37 In seinem Essay Das Leben ist eine Karawanserei. Ein Gedichtessay parodiert Şenocak vor allem die Neigung der Migrantenautorinnen der ersten Generation, die Heimat exotisch darzustellen. Das Essay ist eine Anspielung auf Özdamars gleichnamigen Roman. Für Şenocak zeichnet die Autorin in ihrem Buch eine ›orientalisch‹ märchenhafte Welt aus Tausendundeiner Nacht, mit der sie die Erwartungen eines bestimmten Publikums erfolgreich bedient.38 Diese Haltung einiger Autoren kann man zum Teil mit Salman Rushdies Beobachtung zu den »imaginary homelands« erklären: Die Sehnsucht nach einer zurückgelassenen Heimat lässt u.a. Migranten dieses Zuhause neu konstruieren bzw. erfinden: »[…] that we [exile, immigrant, expatriate writers; M.EH.] will, in short, create fictions, not actual cities or villages, but invisible ones, imaginary homelands […].«39 Vor allem die jetzige Generation pflegt eine ›Kultur der Belebung von Erinnerung‹, was mitunter dem Nachjagen einer Schimäre aus Wünschen und Nostalgien ähnelt. Im Grunde ist der Versuch der Rekonstruktion von Erinnerung ein Paradox, da das in Erinnerung Gerufene nie stattgefunden hat. Appadurai spricht von einer »nostalgia

36 Karin E. Yeşilada: ›Nette Türkinnen von nebenan‹. 37 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind bekannte Beispiele: Alanyali, Iris: Die blaue Reise und andere Geschichten aus meiner deutsch-türkischen Familie, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2006 und Alanyali, Iris: Gebrauchsanweisung für die Türkei, München: Piper 2004 und Akyün, Hatice: Ali zum Dessert, München: Goldmann 2010 und Akyün, Hatice: Einmal Hans mit scharfer Soße, München: Goldmann 2007 und Sevindim, Aslı: Candlelight Döner, Berlin: Ullstein 2005. 38 Zafer Şenocak: War Hitler Araber?, S. 55-58. Im deutsch-arabischen Kontext ist in diesem Zusammenhang der Bestsellerautor Rafik Schami zu nennen, der zu den Pionieren des Märchenhaften und Exotischen zählt. 39 Rushdie, Salman: Imaginary Homelands, in: Ders. (Hg.): Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981-1991, New York: Viking 1991, S. 9-21, hier S. 10.

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without memory«,40 die vor allem die Rückkehrwelle und -nostalgien der zweiten Generation in eine von ihnen imaginierte Heimat beschreibt, die ihnen in vielen Fällen lediglich über die Erinnerungen ihrer Eltern bekannt ist. Der (fehlende) gemeinsame historische und sprachliche Hintergrund und die damit verbundene Fremdwahrnehmung spiegeln sich selbstverständlich in der künstlerischen Produktion von Migranten und ihrer Rezeption seitens der deutschen Gesellschaft wider. Die »Absenz der ›Anderen‹ und ihrer Stimmen« wurde sogar als kennzeichnend für die Situation in Deutschland verstanden.41 Im deutschen Kulturraum gebe es nichts, was »der Präsenz der ehemals Kolonisierten in Frankreich oder Großbritannien vergleichbar wäre«, und auch nichts, was den New English Literatures oder dem Phänomen des »the Empire writes back« ähnele.42 Der Begriff, den Ashcroft, Griffiths und Tiffin prägten, macht auf wesentliche Veränderungen aufmerksam: Ehemalige Kolonien sind nicht mehr lediglich Objekte des westlichen Schreibens; Autoren aus diesen Ländern schreiben selber. Das Schreiben richtet sich gegen das etablierte Zentrum, um dessen Machtansprüche in Frage zu stellen. Ähnliches gilt für das Projekt des deutsch-türkischen Schreibens. So hat sich im Laufe der Zeit eine Vielfalt an Möglichkeiten der Selbstrepräsentation von Minderheiten in der Literatur und den verschiedenen Medien entwickelt. Anders als die Neigung zur Selbstviktimisierung, die vor allem die »Literatur der Betroffenheit« zu Beginn der Arbeitsmigration dominierte, sind später Werke entstanden, die als Antwort auf die Randstellung sowohl in der Gesellschaft als auch im Kulturgeschehen verstanden werden können. Genannt seien hier vor allem Feridun Zaimoglu und Emine Sevgi Özdamar. Vor allem Zaimoglus Buch Kanak Sprak, das ihm zum Durchbruch in der literarischen Szene verhalf, entspringt aus einer Situation der (post-) kolonialen Machtdifferenz und kann als Antwort auf die Dominanz

40 Appadurai, Arjun: Modernity at Large, Minneapolis: Univ. of Minnesota Press 1996, S. 30. 41 Herbert Uerlings: Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur, S. 40f. 42 Ebd., S. 40. Die Aussage stammt ursprünglich von Salman Rushdie und wurde zum Titel einer der grundlegenden Arbeiten über postkoloniales Schreiben. Vgl. Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen: The Empire Writes Back, London: Routledge 1989.

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der Mehrheitskultur betrachtet werden.43 Das Problem besteht demnach nicht in der Abwesenheit von Stimmen, sondern in der verweigerten Wahrnehmung oder Akzeptanz als Bestandteil der zeitgenössischen deutschen Literatur. Dies zeugt von Befürchtungen, sie als Teil der deutschen Literatur der Gegenwart zu betrachten, und impliziert eine Form des Kulturimperialismus, die eine Anpassung an kulturelle und künstlerische Szenen der Mehrheitsgesellschaft vorsieht. Viele Bilder über den Orient – bei der Analyse von Zaimoglus Schwarze Jungfrauen (vgl. Kapitel 4.2) wird z.B. von den Odalisken die Rede sein – basierten auf Reiseberichten und Briefkorrespondenzen von europäischen Orient-Touristen.44 Sie führten zu weit verbreiteten exotischen Bildern über das Leben im Harem. Die Heldinnen in Zaimoglus Theaterstück stehen daher paradigmatisch für das Phänomen des ›Zurückschreibens‹ ein: Über den Orient bzw. den exotisch

43 In Bezug auf Deutschland spricht Uerlings des Weiteren von einer Form der »inneren Kolonialisierung« und schreibt dazu: »Ein weiteres markantes Feld, auf dem sich Innen und Außen systematisch überlagern, stellt das Verhältnis von interkultureller Kolonialisierung und intrakultureller Beziehung zwischen ethnisch definierten Gruppen dar. Daß der koloniale Diskurs hier seine Verlängerung nach innen und auch über das Zeitalter der Dekolonisierung hinaus erfahren hat, das müssen in der bundesdeutschen Gegenwart bekanntlich vor allem die Türken, die größte Deutsche Minderheit erfahren.« Vgl. Herbert Uerlings: Kolonialer Diskurs und deutsche Literatur, S. 35f. In diesem Zusammenhang erwähnt er die zwei Autoren Zaimoglu und Özdamar, deren Literatur »keine Reaktion ehemals Kolonisierter i.e.S. [ist]. Allerdings spielen literarisch-künstlerische Hybridisierungen in den Werken z.B. von Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu eine Schlüsselrolle; insbesondere letzterer reagiert damit sehr direkt auf das Phänomen der inneren Kolonialisierung.« Vgl. S. 41, Anm. 34. 44 Zu den bekanntesten Beispielen zählt La Grande Odalisque des klassizistischen französischen Malers Jean Auguste Dominique Ingres. Zu den am meisten zitierten Beschreibungen der Odalisken gehört diejenige von Lady Mary Wortley Montagu, die auf das 18. Jahrhundert zurückgeht. Ihre Briefkorrespondenz zeigt exemplarisch sekundäre Quellen über den Orient. Sie dienten als Vorlage für viele Kunstwerke, die europäische Phantasien mit exotischen Bildern über den Orient prägten. Sie stehen paradigmatisch für die Macht des (Un)Wissens über den kulturell Anderen.

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Anderen wird nicht geschrieben; der peripher Andere schreibt selber und richtet außerdem sein Schreiben in einigen Fällen gegen das Zentrum. Das deutsch-türkische Kabarett ist ein weiteres Paradebeispiel für die Umkehrung der Richtung des Lachens, weil beispielsweise das bereits etablierte ›getürkte Türkenbild‹ oft selbst zur Zielscheibe des Humors wird.45 Die postkoloniale Theorie beschäftigt sich u.a. mit dem Rewriting von kanonischen europäischen Werken in postkolonialen Literaturen. Ein bekanntes Beispiel ist Aimé Césaires Une tempête d’après de Shakespeare von 1968, wo die Figuren in Shakespeares Drama für einen neuen postkolonialen Kontext adaptiert werden. Özdamars Keloğlan zeigt hier große Ähnlichkeiten (vgl. Kapitel 4.1). Dieses Umschreiben des europäischen Kanons steht exemplarisch für Schreibstrategien, die sich in ihrer Komplexität nicht auf ein Writing Back an das (ehemalige) europäische Zentrum beschränken: Die Einbettung von Figuren in einen neuen Kontext führt u.a. zur Dekonstruktion von europäischen Machtstrukturen, in diesem Fall durch das Rewriting. Als Kritik an ihrer peripheren Verortung erinnern postkoloniale Literaturen oder die Migrantenliteratur an die erforderliche Neudefinition des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie. Beispiele aus der Literatur sind die Verfahren der hybriden Sprachmischungen und -verfremdungen oder die Bilingualität, z.B. in Özdamars Theaterstück Keloğlan in Alamania, in dem die Auswahl der Sprache mit Fragen der Macht sowie der Selbstermächtigung zusammenhängt. Diese Schreibstrategien sind Beispiele, wie die Neudefinierung bzw. Destabilisierung der Einteilung in Zentrum und Peripherie funktionieren kann. Der postkoloniale Diskurs erhellt Phänomene etwa der Hybridität und der Grenzüberschreitung, was im Zeitalter der zunehmenden glo-

45 Mehr dazu findet sich in der Analyse des Kabaretts in Kapitel 5. Weitere Beispiele finden sich im Kino, z.B. bei der Darstellung der türkischen Frau. Während es in deutschen Filmproduktionen der achtziger Jahre um das Bild des orientalischen Frauenopfers geht, das vom europäischen Ritter erlöst wird (z.B. in Hark Bohms Yasemin), kehrt das Bild der türkischen Frau in späteren Filmen des deutsch-türkischen Kinos als handlungsmächtiges Wesen zurück (wie in Fatih Akins Gegen die Wand). Im Fall des ersten Films geht es noch um die Darstellung von ›Orient versus Okzident‹, während sich der Akzent im zweiten Film auf das Thema ›Liebe und Passion‹ verschiebt.

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balen Migration eine besondere Bedeutung gewinnt. Die Dezentrierung des Subjekts eröffnet vor allem in Bezug auf die künstlerischen Werke von Migranten einen Raum für sprachliche und stilistische Neuschöpfungen. Die Analyse deutsch-türkischer Werke in der Perspektive postkolonialer Theorie eröffnet die Möglichkeit ästhetischer Betrachtungen in einem kulturwissenschaftlichen Rahmen, die durch die Verbindung von Literatur- und Medienwissenschaft interdisziplinär funktionieren. Die verstärkte Hinwendung der (germanistischen) Literaturwissenschaft zur medienwissenschaftlichen Forschung lässt Fragen der (Selbst-)Repräsentation in verschiedenen Medien zunehmend in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken. Daraus ergibt sich eine Verbindung zwischen den Cultural Studies, den Postcolonial Studies und der literatur- und medienwissenschaftlichen Forschung. Die postkoloniale Betrachtung verspricht zudem eine Perspektiven- und Gegenstandserweiterung. In der aktuellen Debatte über die Untersuchung deutsch-türkischer Werke wird beispielsweise für einen vergleichenden Ansatz mit verschiedenen Migrantenliteraturen wie z.B. der französisch-maghrebinischen Literatur plädiert. Hierin liegt die Chance, zu neuen Fragestellungen, produktiven Lektüren und vielversprechenden Ergebnissen zu kommen. Dieser komparatistische Ansatz zeugt so von der Notwendigkeit und Ergiebigkeit der Verbindung verschiedener Forschungsansätze und -disziplinen.46

46 Auf einige Arbeiten, die diesem Ansatz folgen, wurde bereits im Forschungsüberblick hingewiesen. Vgl. Kapitel 1.3.

III Karneval, Karnevaleskes und Migration. Zur Ästhetik des Wechsels und der Metamorphose

Als Saturn nach seiner Entthronung durch seinen Sohn Jupiter nach Italien geflohen war, so der tradierte römische Mythos, zeigte sich unmittelbar mit seiner Ankunft im neuen Land ein Wandel der herrschenden sozialen Ordnung sowie der Anbruch eines goldenen Zeitalters. Saturn machte das vormals unfruchtbare Land urbar. Es begann ein Leben ohne Standesunterschiede oder materiellen Mangel. Zum Andenken an den Gott des Ackerbaus wurden die Saturnalien gefeiert, indem Insignien sozialer Unterschiede abgelegt wurden. Die Transzendierung der trennenden Ordnung zwischen Sklave und Herr war während des zu Ehren des Gottes Saturns gefeierten Fests üblich: Die Sklaven wurden mit ihren Herren gleichgestellt und oft sogar von ihnen bewirtet. Anhand des Mythos zeigt sich die Aufhebung sozialer Unterschiede als Fundament für außerordentliche, karnevaleske Aktionen. Dem Fest der Saturnalien und der Feier der Erneuerung liegt die Geschichte einer Flucht bzw. einer Migration zugrunde. Im Mythos stellen sich das Reisen, die Wanderschaft und die Ankunft an einem fremden Ort und die daraus resultierende Begegnung zwischen ›Selbst‹ und ›Anderem‹ als Umbruchsituation heraus, die einen (kulturellen) Wandel veranlasst. Auch der Dionysoskult im antiken Griechenland ist eine Quelle karnevalesken Handelns: Die Rückkehr des Individuums zu einem Urzustand, die Entgrenzung des Menschen und seine Einheit mit dem anderen Menschen sowie mit der Natur bilden die mythische Idee hinter dem dionysischen Fest. Das Opferritual, das zu Ehren des Got-

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tes des Weins gefeiert wurde, lieferte eine Vorlage für die Entstehung der Tragödie, während die phallischen Tänze und die ekstatischen Zustände Grundlagen komischer und grotesker Handlungen wurden. Das Theater wurde somit zum Medium der Darstellung der Festereignisse und ferner der Übertretung, vor allem dadurch dass es beispielsweise die Maskierung als Götter auf der Bühne erlaubte. Im Laufe der Zeit entwickelte sich das Fest der Großen Dionysien zu einem Wettkampf der Dichter, in dem sie aus ihrem Werk vortrugen. Dionysos nahm selber an der Maskierung teil, was als archaisches Paradigma für die Profanierung des Heiligen zu verstehen ist. Florens Christian Rang führt in seiner Schrift zur Historischen Psychologie des Karnevals den Ursprung der römischen Saturnalien, der griechischen Dionysosfeier und des Karnevals auf den Glauben Mesopotamiens bzw. Babyloniens zurück. Die christliche Fastnacht sei ferner, so Rang, lediglich eine abgemilderte Form vom Hohngelächter der vorchristlichen Ursprünge des Karnevals. In Mesopotamien sei die älteste Inschrift zu finden, die von einem Fest verkehrter sozialer Hierarchien berichtet.1 Rang bezeichnet die Religion der Babylonier als »Vernunft-Religion« bzw. »die Religion der vernünftigen Ordnung«.2 Sie basiert auf der Vorstellung von einer universellen Einheit zwischen Himmel, Erde, Sternen und Mensch. In der Religion Mesopotamiens wurde die Erde als Abbild des Himmels betrachtet. Die Sterne galten als Erscheinungsbild der Götter. In ihrer Lebensgestaltung richteten sich die Babylonier nach dem Mondkalender, woraus ein ›Kalender-Loch‹, eine zeitliche Zäsur, entstand, da das Mond- und Sonnenjahr sich nicht deckten. Das bedeutet, dass Erde und Himmel nicht mehr miteinander in Einklang standen. Die ›Schalt-Zeit‹ war die Zeit des Einbruchs von Chaos, wo die Vernunft nicht mehr regieren konnte. Rang setzt den Karneval mit der ›Schalt-Zeit‹ gleich und beschreibt sie als Pause bzw. als »Interregnum«,3 während dessen sich der Wechsel eines Herrschergestirns zum nächsten vollzog. Das astronomische Chaos während dieses Kalenderlochs löste Angst unter den Babyloniern aus, so dass sie einen tempo-

1

Rang, Florens Christian: Historische Psychologie des Karnevals, Berlin: Brinkmann 1983, S. 10.

2

Ebd., S. 12.

3

Ebd., S. 14.

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rären Herrscher, den Prinzen Karneval, ernannten und sich außerdem betranken, um die Angst zu überwinden.4 Rangs Zurückführung der Karnevalszeit auf einen astrologischen Ursprung und die Bezeichnung des Karnevals als ›Schalt-Zeit‹ führt zum wesentlichen Kennzeichen dieses Fests: seine zeitliche Begrenztheit. Ein Karneval, der das ganze Jahr dauert, würde sein charakteristisches Merkmal als Ausnahmezustand verlieren. Obwohl der Karneval bzw. die karnevalsähnlichen Festformen eine Zeit der Anarchie bezeichnen, waren bzw. sind sie kalendarisch geregelt, um den Beginn der ›Zeit außerhalb der Zeit‹ anzukündigen. Erst durch die Systematisierung einer kalendarischen Regularität erscheint die Zeit des Karnevals als befremdliches Element. Die Karnevalszeit versteht sich als außerordentliche Zeit, in der durch die Aufhebung von Gesetzen und hierarchischen Verhältnissen eine alternative Realität ermöglicht und gelebt werden kann.5 Das heißt, dass es während der Karnevalszeit nicht um das Kreieren einer neuen Realität geht; während dieser Festzeit wird vielmehr ein Raum eröffnet, in dem latent Existierendes an die Oberfläche kommen kann. Das ausgeschaltete Chaos wird aktiviert.6 Die Karnevalszeit kann man sich als ein realisiertes utopisches Moment vorstellen, das zum Vergehen verdammt ist.7 Diese temporär erwünschte Utopie erhält durch ihren komischen Effekt einen befreienden Charakter. Was sonst nicht gelebt werden kann, wird auf spielerische Art und Weise in einer parallelen Welt zugelassen. Es herrscht allein die Karnevalsfreiheit. Jede neue Karnevalssequenz zeigt zwar grundsätzliche Ähnlichkeiten mit der jeweils vorangegangenen, gleicht ihr jedoch nie ganz: Wenn der Karneval dynamisch bleibt, muss er sich noch von sich selbst distanzieren, um nicht in einer bloßen Wiederholung etablierter Formen zu erstarren.

4

Nach Rang ist beispielsweise Dionysos ein Prinz Karneval.

5

Vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 53.

6

Florens Christian Rang: Historische Psychologie des Karnevals.

7

Utopisch meint hier das begrenzte Ausleben einer alternativen sozialen Realität und das Negieren der sonst existierenden Normen. Utopisch beschreibt nicht die Zeit selbst, in der ja Rituale praktiziert wurden, die in erster Linie über die obszöne Sprache, Beschimpfungen, Schmähungen und das Grotesk-Werden des Körpers zum Ausdruck kommen.

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Für Bachtin verdient der Karneval besondere Aufmerksamkeit, da das karnevalistische Leben »aus der Bahn des Gewöhnlichen herausgetreten ist. Der Karneval ist die umgestülpte Welt.«8 Das Chaos, das während der Karnevalszeit entsteht, verspricht die erneute Geburt der Ordnung bzw. einer neuen Ordnung, die z.B. in künstlerische Produktion einfließt: Die Dionysien sind ein Beispiel für die Wechselbeziehung, die zwischen Fest und Text bestehen kann. Diese Idee kommt in Bachtins Theorie zur Karnevalisierung der Literatur zur Geltung, in der er sich mit dem Karneval im mittelalterlichen Europa auseinandersetzt und dessen Fortbestehen im Roman untersucht.9 So zählt die Untersuchung von Rabelais’ Werk zu den ersten Versuchen, die das Einfließen des populären Fests in die Literatur erforschen.10 Bachtins Theorie galt nur dem Roman. Er hat jedoch die Ähnlichkeit des historischen Fests mit dem Theater angedeutet und somit auf den performativen Charakter karnevalesken Handelns hingewiesen.11 Trotzdem betont Bachtin, dass der Karneval nicht gespielt, sondern gelebt wird, und siedelt den karnevalesken Kern dieses Fests an der Grenze zwischen Leben und Kunst an: »Im Grunde ist er das Leben selbst – in einer eigenen, spielerischen Ausformung.«12 Damit wird die Aufteilung in (Schau-)Spieler und Zuschauer aufgehoben. Während dieses Fests findet ein universelles Karneval-Werden statt. Dies zeigt

8

Bachtin, Michail M.: Literatur und Karneval, München: Hanser 1969, S. 48.

9

Ebd., S. 47.

10 Bachtin nennt außerdem die antike menippeische Satire als eine der ersten Formen karnevalisierter Literatur und betrachtet sie als eine Mischung aus »philosophischem Dialog, Abenteuer und Phantastik, derbem Naturalismus und Utopien«. Michail M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 151. Bei Encke und Pross wird die menippeische Satire als »Mischform« verstanden, die »sich mit den parodistischen Tendenzen [vermengt], die bestimmte antike und christliche, mit sakraler und kultureller Autorität ausgestattete Tradition immer schon unterlaufen haben«. Vgl. Encke, Julia/Pross Caroline: Arena des Wortes. Zur Theatralität von Sprache, Text und Kultur bei Michail Bachtin. In: Neumann, Gerhard (Hg.): Szenographien, Freiburg i.Br.: Rombach 2000, S. 253-282, hier S. 277f. 11 Vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 54f. 12 Vgl. ebd., S. 54f.

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sich schon im mittelalterlichen Karneval, der keine festen Orte kennt, sondern als volkstümliches Fest alle Lebensbereiche durchdringt. Ähnlich wie der Karneval, der dem Leben nahe steht, sind seine Teilnehmer, etwa der Narr oder der Possenreißer, für Bachtin keine Darsteller, »die auf der Bühne ihre Rolle spielten (wie später die Darsteller von Harlekin, Hanswurst usw.)«,13 sondern »ständige, ins normale (d.h. nichtkarnevaleske) Leben integrierte Träger des Karnevalsprinzips«.14 Mit diesen Charakterisierungen des Karnevals und der an diesem Fest Beteiligten sollen die karnevalesken Ereignisse während dieser Ausnahmezeit nicht als fiktiv, sondern als lebensnah verstanden werden: Die ausbrechende Anarchie antwortet somit auf bestehende reale oder soziale Verhältnisse. Als Beispiel hierfür demonstriert das Migrantenkabarett karnevaleske Formen (etwa parodistisch-satirische Nummern), mit denen Bezug zur Welt außerhalb der Kleinkunstbühne genommen wird (vgl. Kapitel 5). Die Verschiebung und Aufhebung der Grenzen, die zu den wesentlichsten Kennzeichen der karnevalistischen Anarchie gehören, haben eine schöpferische Kraft. Bei der Transposition des volkstümlichen Festakts auf die Literatur, d.h. von einem Zeichensystem in ein anderes, nehmen karnevaleske Erscheinungen eine Form an, die sich in künstlerischen Werken z.B. als satirische, groteske, parodistische, komische und/oder ironische Effekte manifestieren können. Obwohl diese Aspekte unterschiedliche Gesichter des Karnevals zeigen – oder besser gesagt, verschiedene Momente hervorheben –, lassen sie sich oft nicht klar voneinander trennen. Satirisches Schreiben funktioniert meist nicht ohne Ironie, während parodistische und ironische Aussagen jeweils komische Effekte haben können. Allen Erscheinungsformen des Karnevalesken ist gemeinsam, dass sie einem vielstimmigen und heterogenen Ursprung entstammen: Parodien entstehen beispielsweise in Bezug zu anderen Texten und Kontexten, während Ironie ein Spiel mit Gegensätzlichkeit ist. Keines dieser Phänomene ist migrationsspezifisch oder notwendigerweise postkolonial. Allerdings erfüllen sie in Zusammenhang mit transkulturellen und postkolonialen Themen eine Funktion als Gegenstimme, die spielerisch auf die Macht eines Zentrums antwortet und damit eine eigene Machtposition instituiert.

13 Ebd., S. 56. 14 Ebd.

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3.1 E INE KULTURWISSENSCHAFTLICHE B ETRACHTUNG DES MITTELALTERLICHEN K ARNEVALS IM H INBLICK AUF F RAGEN DER M IGRATION Der mittelalterliche Karneval wird bei Bachtin als Fest des Volkes beschrieben, das keine Grenzen oder Schranken kannte und an dem jeder teilnehmen konnte. Er beschreibt eine Zeit des Tabubruchs und der Grenzüberschreitung, mit der das hierarchische Verhältnis von Herrscher und Beherrschten ausgesetzt wird. Die Aufhebung der Machtverhältnisse führt dazu, dass z.B. die Menschen in den Blickpunkt rücken, die sonst aufgrund ihres gesellschaftlichen Rangs unbeachtet bleiben. Der Karneval ist somit als ein Akt der Subversion zu verstehen: Durch den Einbruch eines (de-)konstitutiven Peripheren wird das Zentrum zerteilt. Dadurch wird die Inkonsistenz dieses Zentrums gezeigt. Hinter ihren Masken kann vor allem die untere, benachteiligte oder marginalisierte Schicht die Oberschicht, das Zentrum der Macht, schmähen und dergestalt ihre Rebellion zum Ausdruck bringen. Es kommt zur Verschmelzung der sonst voneinander getrennten Schichten oder Welten, so dass dadurch vormals trennende Grenzen überquert und Konventionen durchbrochen werden. Was dadurch bewirkt wird, ist vor allem »die Überwindung lebensweltlicher Erfahrungen von sozialen Verschiedenheiten und zwischenmenschlichen Distanzen«.15 So kann man sagen, dass der Karneval die Dekonstruktion von Trennungen feiert. Diese Dekonstruktion führt zu einer wichtigen und von Bachtin hervorgehobenen Kategorie des Karnevals, nämlich die des freien, intim-familiären, zwischenmenschlichen Kontakts:16 Durch Maskierung und Kostümierung kommt es zur Vereinheitlichung einer kollektiven, eigentlich in sich heterogenen Gruppe: Widersprüche und Differenzen verbergen sich hinter den Masken. Durch diese Verkleidung werden Grenzen zwischen oben und unten, Leben und Kunst, aber auch Individuum und Anderem verschoben, Machtgrenzen aufgehoben und Trennungslinien unter den unterschiedlichen existierenden Gruppierungen verflüssigt. Der Karneval birgt eine Möglichkeit des Border-crossing nicht nur zwischen den unterschiedlichen Klassen und 15 Julia Encke/Caroline Pross: Arena des Wortes, S. 269. 16 Vgl. Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 48.

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Geschlechtern. Im Zeitalter globaler Migrationsbewegungen kommen auch nationale Grenzüberschreitungen hinzu. Dadurch erhält das Fest des Karnevals seine Kraft. Es schafft nämlich, Grenzen zu durchdringen – eigentlich sogar Trennungslinien zwischen den verschiedenen (vermeintlich) voneinander getrennten Welten aufzuheben –, und erzeugt auf diese Weise anarchische Hybride. Die Annäherung, die während des Karnevals stattfindet, führt zu dem, was Bachtin unter der Kategorie der Exzentrizität zusammenfasst,17 die die »Zerstörung des Gewöhnlichen und Allgemeingültigen«18 bezeichnet und durch das übertrieben Ungewöhnliche die Divergenz von der herrschenden Norm impliziert. Exzentrizität hat darüber hinaus eine weitere, räumliche Dimension, da sie eine Abweichung vom Mittelpunkt bedeutet. In der Tat haben die karnevalistischen Rituale eine Zentripetalkraft, durch die eine periphere Minderheit oder Schicht ins Zentrum rücken kann. Durch Maskierung wird die Unabhängigkeit vom Mittelpunkt, der für eine Autorität steht, vollzogen. Das Resultat sind Deplatzierungen, die auch zur Desorganisation von Raumkonzeptionen führen. Im Zusammenhang mit dem intim-familiären Kontakt spricht Bachtin außerdem von der »karnevalistischen Mésalliance«: »Die freie familiäre Beziehung ergreift alles […]. Alles, was durch die hierarchische Weltanschauung außerhalb des Karnevals verschlossen, getrennt, voneinander entfernt war, geht karnevalistische Kontakte und Kombinationen ein. Der Karneval vereinigt, vermengt und vermählt das Geheiligte mit dem Profanen, das Hohe mit dem Niedrigen, das Große mit dem Winzigen, das Weise mit dem Törichten.«19

Dies ist ein Motiv, das in verschiedenen Analysen wiederkehren wird, und zwar nicht nur in Bezug auf Angehörige verschiedener sozialer Klassen, sondern auch Ethnizitäten: Deutsch-türkische Männer, die zudem in der deutschen Gesellschaft ausgegrenzt leben, gehen eine Beziehung mit Deutschen ein und passieren somit nationale und soziale Grenzziehungen. Auf die Verehelichung des Erhabenen mit dem Niedrigen baut die situative Komik, da zwei inkongruente Welten 17 Ebd., S. 49. 18 Michail M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 141. 19 Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 49.

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vereinigt werden. Komik als Darstellungsmodus führt bei solchen Begegnungen zum Entzug und zur Entschärfung der Fremdheit der repräsentierten cross-kulturellen Situationen. Durch die Vermengung von Angehörigen verschiedener Klassen – und im Kontext postmoderner Migrationserfahrungen auch: unterschiedlicher Nationen – führt die Anarchie des Karnevals zur Befreiung und der Gesetzlosigkeit. Die Übertretung von Gesetzen bedarf jedoch zunächst ihrer vorgängigen Affirmation. Vor allem die Achtung von Gesetzen und Ritualen außerhalb der Karnevalszeit lässt die Durchbrechung von Konventionen und deren Parodierung während der Dauer dieses Fests als ein signifikantes Moment erscheinen. Erst die Wahrnehmung von existierenden Trennungslinien führt zum Streben nach ihrer Aufhebung und damit, so z.B. Umberto Eco, zu ihrer Parodierung, was das Vergnügen am Karneval ausmacht.20 In diese Richtung weist auch eine Bemerkung Foucaults, die von der wechselseitigen Bedingtheit von Grenze und Grenzübertretung handelt: »Grenze und Übertretung verdanken einander die Dichte ihres Seins: Inexistenz einer Grenze, die absolut nicht überschritten werden kann; umgekehrt Sinnlosigkeit einer Übertretung, die nur eine illusorische, schattenhafte Grenze überschritte.«21 Ohne die Wahrnehmung der Differenz und des Konzepts der Alterität kann der Karneval nicht bestehen: »The boundless libertarianism of carnival, furthermore, takes place within the larger principle of dialogism, in resonance with the voices of others.«22 Demzufolge bedarf das Maskenfest zuerst der Anerkennung und der Affirmation, nicht nur des Gesetzes, sondern auch der Existenz des ›Anderen‹ und vor allem der Differenz zwischen einem ›Selbst‹ und einem ›Anderen‹, damit diese Differenz in einem nächsten Schritt parodiert, hinterfragt oder aufgehoben wird. Erst dadurch kann ein polyphones Sprechen entstehen. Die Konstruktion des Selbst erfolgt demgemäß paradoxerweise durch die Wahrnehmung seiner Unbeständigkeit: Als sich ständig wandelndes, einer Dynamik unterliegendes Subjekt kann es nur in

20 Vgl. Eco, Umberto: Carnival!, Berlin: Mouton 1984, S. 6. 21 Foucault, Michel: Zum Begriff der Übertretung, in: Ders.: Schriften zur Literatur, hg. v. Defert, Daniel/Ewald, François, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 69-89, hier S. 73. 22 Stam, Robert: Subversive Pleasures. Bakhtin, Cultural Criticism, and Film, Baltimore: Johns Hopkins Univ. Press 1989, S. 95.

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Relation zum Anderen und in der Anerkennung der Differenz ihm gegenüber bestehen. Man kann sagen, dass die Maskierung während des Karnevals zur Konstruktion des Selbst und seiner Erkennung und Abgrenzung vom ›Anderen‹ beiträgt. Die dynamische Beziehung und der Wechsel, die durch die Maskierung während dieses Fest gefeiert werden, öffnen einen Raum für die Selbstdefinition. Auf einer zweiten Ebene werden nicht nur ein ›Selbst‹ und ein ›Anderer‹ bzw. ›Eigenes‹ oder ›Fremdes‹ (de-)konstruiert; der Teilnehmer am Karneval ist selber Träger von einem sowohl außerhalb wie innerhalb des Rahmens von karnevaleskem Handeln existierenden Selbst. Verkleidet sich z.B. eine türkische Putzfrau als Opernsängerin (vgl. Kapitel 4.1), dann stellt sie zwei verschiedene Aktivitäten auf der Bühne dar, um durch die Differenz zwischen ihnen auf Machtapparate hinzuweisen, die sie ausgegrenzt haben. Der bewusste Wechsel zwischen den maskierten und unmaskierten Rollen erfolgt in manchen Fällen durch die Aufnahme und Verarbeitung von (kulturellen) Klischees, wie sich z.B. bei der Analyse des Kabaretts von Migranten in Kapitel 5 zeigt.23 Der bewusst eingesetzte Rollenwechsel zeigt, inwiefern die (angebliche) Zerrissenheit zwischen zwei Welten oder der Identitätskonflikt subversiv dargestellt werden können. Somit bietet der Karneval einen Raum – man kann auch sagen einen »dritten Ort« – für temporäre Rekonfigurationen von Identitäten, Sprachen und zwischen-menschlichen Verhältnissen. Grenzen, durch die homogene Trennungen erstrebt werden, werden ausgehandelt und mitunter ausgesetzt. Daraus ergeben sich die bereits in Kapitel 1 erwähnten Fragen: Wer verkleidet sich als wer? Und was hat diese Verkleidung zu leisten? Die Antwort auf diese Fragen wird sich bei der näheren Betrachtung der Fallbeispiele deutlicher zeigen, wobei sie je nach Einsatz und Kontext variiert. An dieser Stelle kann allgemein gesagt werden, dass die Karnevalisierung hauptsächlich als Reaktion auf Polarisierungen (z.B. Zentrum und Peripherie) entsteht und gegen sie gerichtet ist. Die Teilnehmer an karnevalesken Aktionen opponieren u.a. gegen den kategorialen Dualismus von ›Selbst‹ oder ›Anderem‹. Übertragen auf die Migrationsthematik kann die Annullierung

23 Mehr zur Funktionalisierung und zum Gebrauch des Klischees als Stilmittel und als Mittel der Kritik findet sich v.a. bei Aglaia Blioumi: Interkulturalität als Dynamik.

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kultureller Spezifika zeigen, inwiefern beispielsweise das homogene ›Deutsch-‹ oder ›Türkischsein‹ konstruiert ist und sich deswegen aushandeln und neu definieren lässt. In Bezug auf die zweite und dritte Generation von Migranten führt diese Annullierung zur kritischen Befragung der Differenzierung selbst. Anders formuliert: Wie kann man von statischen Trennungslinien ausgehen, wenn sie sich doch, aufgrund ihrer Unbeständigkeit, aufheben lassen? Und gerät die unterstellte Legitimität von Grenzziehungen nicht durch die Tatsache ins Zwielicht, dass sich Grenzen aufheben lassen? Man kann also sagen, dass die Maskierung, indem sie auf die Porosität der Grenze aufmerksam macht, das Konzept der Hierarchisierung offenlegt. Markant an der Vereinheitlichung während der Karnevalszeit ist insbesondere »der Sturz des Karnevalskönigs«,24 der ihr vorangeht. Die Erniedrigung des ursprünglich Heiligen, der durch den Hinweis auf seine weltliche Seite in gewisser Hinsicht verspottet wird, bildet den Höhepunkt des karnevalesken Umsturzes und die Verletzung des größten Tabus. Die Erhöhung des Narren und die Erniedrigung des Königs sind beide ein temporärer, allerdings sich alljährlich wiederholender Akt. In diesem Verstoß gegen die Konventionen, der durch die Verschiebung und Umkehrung initiiert wird, steckt die Lust am Karneval, aus der die Komik geboren wird. Sie hängt des Weiteren zusammen mit der Inkongruenz zwischen der Erscheinung des Narren als König und dem Wissen von seiner ursprünglichen sozialen Stellung. Desgleichen gilt für die Entthronung des Königs und sein Verweilen unter der Masse. Bei der Krönung der Masse und der Entthronung des Königs vermischen sich außerdem Realität und Spiel. Durch diese Zeremonie wird die Parodie geboren.25 Der Narr wagt während dieser einmaligen Gelegenheit die übertreibende oder auch schmähende Nachahmung des Königs. Die Krönung des Narren, die Erniedrigung des Königs und der Wechsel, der damit verbunden ist, tragen deswegen alle zum komischen Charakter des Karnevals bei. Durch diesen Umsturz versteht sich der Karneval auch als Fest des Spiels mit Gegensätzen: zwischen oben und unten, König und Narr, heilig und profan.

24 Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 50. 25 Bachtin betrachtet die Parodie als einen »integrierende[n] Bestandteil der ›menippeischen Satire‹ und aller karnevalisierten Gattungen überhaupt«. Vgl. Michail M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 142.

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Beide Handlungen, Krönung und Entthronung, sind wesentlich für die Wahrnehmung des Karnevals als Fest der Befreiung. Übertragen auf den Kontext der Migration wird hier nicht etwa ein Vergleich zwischen den Narren im mittelalterlichen Karneval und einer gegenwärtigen Minderheit beabsichtigt. Der Narr soll hier vor allem metaphorisch – als Angehöriger einer Peripherie bzw. als Bewohner eines ›dritten Orts‹ (einer Minderheit, marginalisierten Gruppe oder sozialen unteren Schicht) – verstanden werden, der in seiner Krönung auf spielerische Art eine zentrale Position einnimmt. Vor allem die genannte Umkehrung von Heiligem und Profanem ist von besonderer Bedeutung, da der Karneval dadurch seine eminente Schöpfungskraft generiert. Mit dem Umsturz ist zwar ein Ende verkündet, aber gleichursprünglich auch eine Erneuerung: die Macht, neue Verhältnisse zu erschaffen. Bachtin betrachtet die Karnevalszeit deswegen als »das Fest der allvernichtenden und allerneuernden Zeit«26 und unterstreicht dabei, »daß Erhöhung und Erniedrigung unteilbar sind, daß sie ineinander übergehen«.27 Der eine Akt weist von Anfang an auf den anderen Akt hin. Die Erhöhung und Erniedrigung oder differentielle Nachahmung geben dem Karneval weiterhin seinen parodistischen Charakter. Er schafft eine Verwirrung, mit der alles auf den Kopf gestellt wird. Die Auflösung aller Ordnung bildet das Wesen des Lachens, das mit diesem Fest entbunden wird. In Verbindung mit der Profanierung bzw. Degradierung spricht Bachtin vom grotesken Körper:28 Die Grenzen des Menschenleibs selbst werden erweitert und nehmen neue Dimensionen und Konturen an. Für Bachtin beginnt die Groteske »dort, wo die Übertreibung phantastische Ausmaße annimmt« und wo menschliche und tierische Züge sich vermischen,29 was vor allem durch die spielerische Freiheit des Karnevals ermöglicht wird. Wichtig für Bachtins Begriff der Groteske ist »[d]as fröhliche, befreiende, wiedergebärende, das schöpferische Lachen […]«, das nicht »verflacht und entstellt« erscheinen soll.30

26 Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 50. 27 Ebd., S. 52. 28 Vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 345-412. Die Aussage Bachtins bezieht sich auf den grotesken Körper bei Heinrich Schneegans. 29 Michail M. Bachtin: Literatur und Karneval, S. 15. 30 Ebd., S. 30.

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In der Romantik erhält die Groteske eine andere Funktion, die mehr auf das Abschreckende und Furchterregende abzielt. Hier grenzt sich Bachtin von Wolfgang Kaysers Konzept des Grotesken ab, dem, so Bachtin, viel von der Leichtigkeit der mittelalterlichen Groteske mangelt. Es unterstreicht vorwiegend die Fremdheit und Unheimlichkeit der umgebenden Welt. Der Begriff der Groteske meint bei Kayser nämlich »nicht nur etwas Spielerisch-Heiteres, Unbeschwert-Phantastisches, sondern zugleich etwas Beklemmendes, Unheimliches angesichts einer Welt, in der die Ordnungen unserer Wirklichkeit aufgehoben waren: die der klaren Trennung zwischen den Bereichen des Gerätehaften, des Pflanzlichen, des Tierischen und des Menschlichen […].«31

Im Allgemeinen erhält der Körper in grotesken Beschreibungen eine wichtige Bedeutung, da er zum Träger absonderlicher Darstellungen wird. Für Bachtin macht diese materiell-leibliche Ebene das Wesen des grotesken Realismus aus.32 Krönung und Entthronung werfen Fragen der Figuralisierung auf: Über welche Merkmale wird die Figur definiert, die sich bei diesem Akt von der Peripherie zum Zentrum bewegt? Und wie sieht ihre leibliche Darstellung aus? Der Narr, der Harlekin oder Trickster33 sind paradigmatische Erscheinungen von Homi Bhabhas Figur des Übersetzers, die in erster Linie über ihre Fähigkeit, Differenzen aufzudecken, definiert und als Träger einer kontinuierlichen Dynamik verstanden wird. Diese Figur gewinnt im Kontext karnevalesker Handlungen eine destabilisierende Funktion, vor allem indem sie die Widersprüchlichkeit und Brüche in kulturellen Konflikträumen aufdeckt. Die Tatsache,

31 Kayser, Wolfgang: Das Groteske, Tübingen: Stauffenburg 2004, S. 22. 32 Es lässt sich fragen, ob sich die zwei Begriffe widersprechen oder ob die Groteske der Romantik vielmehr als Fortsetzung und, genauer gesagt, als Übertreibung und Verzerrung der mittelalterlichen Leichtigkeit der Lachkultur zu verstehen ist. 33 Oft fallen die Figuren von Trickster und dem (mythischen) Helden zusammen, wie z.B. in den Figuren Hermes oder Merkur, der mit Hermes gleichgesetzt wird. Prometheus war ebenso ein Trickster und gleichzeitig Kulturheld, der von den Göttern Feuer für die Menschen stahl.

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dass diese Figur vielfältige Erscheinungsformen annimmt – sie ist gleichzeitig Trickster und Harlekin, Mensch und Tier, Mensch und Gott – macht sie zu einem Zentrum dialogischer Rede. Die verschiedenen Gestalten dieser Figur verweisen ebenso auf ihre Instabilität: Sie ist eine Figur der Ambivalenz par excellence. Das zeigt sich z.B. darin, dass die literarische Figur des Narren zugleich Marginalisierter und Weiser ist, der hinter der närrischen Maske die Wahrheit sagen darf, während Trickster die Gesellschaft überlistet und mitunter von ihr auch düpiert wird. Gleichzeitig kann diese Figur nur in Relation zu Anderen existieren. Im Spielraum der/mit Differenzen bewegen sich Figuren wie der Narr, der Harlekin oder Trickster, allesamt Figuren des »dritten Raums«, als nachahmende Subjekte. Der Narr ist eine Figur der Doppelung. Er verunsichert die binären Codes, indem er an zwei Orten zugleich anwesend sein kann bzw. an einem Ort gleichzeitig zwei Zugehörigkeiten demonstriert: als Narr, der die Maske des Königs trägt, d.h. die Erscheinungsform eines ›Narrenkönigs‹ bzw. Karnevalsprinzen annimmt. Auf die parallele Metapher der schwarzen Haut und weißen Maske bei Frantz Fanon greift Bhabha zurück: »›Black skin, white masks‹ is not a neat division; it is a doubling, dissembling image of being in at least two places at once […]. It is not the colonialist Self or the colonized Other, but the disturbing distance in-between that constitutes the figure of colonial otherness – the white man’s artifice inscribed on the black man’s body. It is in relation to this impossible object that the liminal problem of colonial identity and its vicissitudes emerges.«34

Die Figur des ›Dritten‹ lässt sich aufgrund ihrer Mobilität weder im Zentrum noch in der Peripherie positionieren. Sie nomadisiert an der Grenze und erhebt die Grenzzone selbst zum Zentrum ihres Handelns. Davon zeugen vor allem die Narren- und Possenspiele am Ende des Mittelalters, in denen der Narr als Außenseiter die Rolle der Hauptfigur einnahm. Die Figur des Narren, des Harlekins oder Tricksters, würde durch den Versuch ihrer Verortung bzw. festen Positionierung erstarren. Als Widerstand gegen statische Grenzen, die ihm gesetzt

34 Bhabha, Homi K.: Interrogating Identities. Frantz Fanon and the Postcolonial Prerogative, in: Ders. (Hg.): The Location of culture, London: Routledge 2003, S. 57-93, hier S. 64.

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werden, spielt diese Figur mit den Trennungslinien. Diese Figur ist das Medium für Dynamik, Wechsel und Bewegung. Mit ihrer destabilisierenden Aktivität enthüllt sie jede existierende Einheit als Trugbild. Sie ist somit eine Figur der Regeneration von Kultur.35 In vielen Kontexten wird das Geschehen der Grenzverwirrung zu einem Moment der Geburt der Komik, Parodie oder Groteske. Die Grenze erinnert durch ihre verbindende und gleichzeitig trennende Funktion daran, dass separate Einheiten, zwischen denen sie gezogen ist, erst durch den Akt der Grenzziehung arbiträr festgelegt werden. Die Verhandlung der Grenze macht neben der Aufhebung zeitlicher Ordnungen die räumliche Diskontinuität geltend: Die räumliche Normierung gerät ebenfalls aus dem Rahmen des Gewöhnlichen. Die Slawistin Renate Lachmann schreibt dazu: »Im Heraustreten aus dem Identität fixierenden Zentrum entfernt sich das Individuum nicht nur von sich selbst, um Teil der transindividuellen Gemeinschaft zu werden, sondern auch aus der Norm-Zeit und dem Norm-Raum und wird damit Teil eines Festes, des Festes der ›alles vernichtenden und alles erneuernden Zeit‹. Der Sprung in die Ekstase macht die Löschung der Zeit zum außerordentlichen, exorbitanten Ereignis, dem des Festes.«36

In diesem Sinn wird es in den Werkanalysen nicht nur um textuelle Topographien als Widerspiegelung der Migrationserfahrung, sondern außerdem um die karnevalesken Reaktionen auf die Erfahrung der Deplatzierung gehen.

3.2 K ARNEVAL

UND

M ASKIERUNG

Ohne Masken kann kein Karneval existieren. Das Auf- oder Ablegen der Maske ist ein ausschlaggebender Akt, der an der Grenze zwischen der Zeit außer- und innerhalb des Karnevals anzusiedeln ist. Zur Maske schreibt Bachtin:

35 Vgl. Cary W. Spinks: Semiosis, Marginal Signs and Trickster. A Dagger of the Mind, S. 177f. 36 Renate Lachmann: Die Schwellensituation, S. 314.

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»Die Maske ist verknüpft mit der Freude an Wechsel und Umgestaltung, mit der heiteren Relativität, auch mit heiterer Verneinung von Konformität, Eindeutigkeit und der stumpfsinnigen Identität mit sich selbst. Die Maske steht für Übergänge, Metamorphosen, Verstöße gegen natürliche Grenzen, für das Verspotten […]. Sie verkörpert das spielerische Lebensprinzip, und sie beruht auf jener spezifischen Wechselbeziehung zwischen Realität und Bild, die auch für die ältesten rituell-szenischen Formen gilt.«37

Das Anlegen von Masken hat einen spielerischen Zug, der je nach Kontext einen komischen oder tragischen Effekt zur Folge haben kann. Mit der Maske wird auf der einen Seite die Freude am Wechsel gefeiert. Auf der anderen Seite kann mit der Maske wieder eine tragischironische Seite verbunden sein, weil erst durch die Vertuschung und das Verbergen hinter den Masken der befreiende Charakter des Karnevals zum Ausdruck gelangt. Die während der Karnevalszeit getragenen Masken kann man als Medien der Metamorphose verstehen, da sie als Mittel für den Übergang zwischen dem karnevalesken und nicht-karnevalesken Leben dienen. Hinter den Masken bleiben die Unterschiede zwischen den Karneval-Teilnehmern verborgen, so dass eine utopische Gleichheit ermöglicht wird, wie sie außerhalb der Karnevalszeit nicht bestehen kann. Die Maske stellt jedoch ein paradoxes Motiv dar, da sie eine Zugehörigkeit zugleich negiert und affirmiert. Die ethnische Verkleidung ist ein Beispiel für diese paradoxe Funktion: Mit der Verkleidung als Angehöriger einer anderen Nation müssen Zeichen oder Stereotype über eine Ethnizität oder Nation zunächst affirmiert werden, bevor in einem zweiten Schritt der Wechsel zur ›neuen‹ Zugehörigkeit vollzogen wird. Was vor allem bei der Maskierung betont wird, ist die Differenz zwischen Bild und Abbild. Wirksam wird die Maske im Kontext ungleichmäßiger Machtverteilungen erst durch die verzerrte Nachahmung. Darin steckt die Ambivalenz der Maske, die zugleich Ablehnung und Affirmation, Teilnahme und Ausschließung, Unterwerfung und Rebellion codiert. Dergestalt hat die Maskierung eine Redefinition des Selbst sowie seine Repositionierung zur Folge. Wechselt ein Teilnehmer durch die ethnische Maskierung beispielsweise seine Zugehörigkeit zu einer

37 Vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 90.

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bestimmten Nation, um zu ihr überzulaufen, dann kann dies neue Möglichkeiten für seine Mobilität eröffnen: Das neue Erscheinungsbild, das mit dem Auflegen einer Maske verbunden ist, bietet ihm z.B. Zugang zu neuen sozialen Räumen. Die Ambivalenz der Maske besteht des Weiteren in ihrer Funktion: Der Teilnehmer am Karneval will und kann durch seine Maskierung die Rolle eines Anderen nicht vortäuschen, sondern nur spielen: Wenn der Narr sich als Heiliger verkleidet, dann ist dies eine Doppelung, bei der die Nicht-Übereinstimmung zu erkennen sein muss. Die Maske zeigt hier eine Möglichkeit für eine temporäre Alteritätserfahrung auf, ein Spiel mit der Differenz zwischen Selbst und Anderem, Eigenem und Fremdem. Verkleidet sich hingegen z.B. ein türkischer Junge als Deutscher, um eine Arbeit finden zu können, so will er in diesem Fall eine andere Identität bzw. Zugehörigkeit vortäuschen. Die Arbeitgeber sollen die zwei Identitäten nicht voneinander unterscheiden können. Den postmodernen bzw. postkolonialen Bezug zur Maskierung stellt Homi Bhabha durch die (post-)koloniale Mimikry her, die in der Nachahmung mit Differenz im Kontext ungleichmäßiger Machtgefüge – Bhabha bezieht sich auf die Beziehung zwischen Kolonisator und Kolonisiertem – eine wichtige Kategorie des Karnevalesken bildet. Mimikry beschreibt die ambivalente Beziehung zwischen Herrscher und Beherrschtem. Letzterer wird durch die Nachahmung zur Phantasmagorie, zum Inbegriff weißer Überlegenheit.38 Die untergeordnete (Rand-)Stellung und Anpassung des Kolonisierten ist zwar erwünscht, erweist sich aber im Fall einer kongruenten Nachahmung des Kolonisators als gefährlich. Aus dieser Situation entspringt der koloniale Wunsch nach dem »reformed, recognizable Other, as a subject of difference that is almost the same, but not quite«.39 Kommt es zur vollständigen Assimilation des Kolonisierten, so gerät die Macht des Kolonialherrn durch die Auslöschung der Differenz ins Wanken. Das führt zum widersprüchlichen Begehren des Anderen: Er wird anerkannt und gleichzeitig verleugnet. Nur auf diese Weise kann der Herrscher seine Macht beibehalten.

38 Man denke hier etwa an Frantz Fanons Konstatierung der schwarzen Seele als Artefakt des Weißen. 39 Bhabha, Homi K.: Of Mimicry and Man The Ambivalence Of Colonial Discourse, in: Ders. (Hg.): The Location of Culture 2003, S. 121-131, hier S. 122. Hervorhebung im Original.

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Mimikry kann auf der anderen Seite die Veränderung beschreiben, die subversive Kräfte bewirken können: Kolonisierte können mittels der Codes des Kolonialherren Veränderungen bewirken. Bhabha spricht in diesem Zusammenhang vom »disembodied evil eye, the subaltern instance, that wreaks its revenge by circulating, without being seen. It cuts across the boundaries between master and slave; it opens up a space in-between«.40 Der Akt der Tarnung versteht sich in diesem Fall als Möglichkeit für ein Manöver, das die Auflösung von Dualismen bewirkt und »die Durchlässigkeit, Verschieb- und Verwischbarkeit der kontinuierlich gezogenen Grenzen auf[zeigt]«.41 Es handelt sich dabei um eine bewusst eingesetzte Strategie, die zwar eine Nachahmung verspricht, dabei aber im Prozess der Imitation zu verändern und zu verschieben vermag, zumal Mimikry einen parodistischen und/oder ironischen Ton annehmen kann. Der ›Getarnte‹ kommt aus der Position des stummen Subalternen heraus und erhält eine Chance der Selbstartikulation mittels der Codes der dominierenden Mehrheitskultur. So lässt sich Mimikry als bewusst eingesetzte Taktik der Grenzverwirrung,42 der Identitätsverhandlung und damit auch der Destabilisierung und Dezentrierung herrschender Subjektivierungsweisen begreifen. In der jetzigen Phase postkolonialer Erzählungen meint Mimikry mehr als ein Zurückschreiben oder Zurückantworten: Sie ist Produkt und Ausdruck einer intertextuellen bzw. intermedialen Überdeterminierung und Verflechtung transkultureller Kontexte. Ein konkretes Beispiel ist das bereits erwähnte Rewriting: Figuren, z.B. aus bekannten Dramen, werden aus ihrem bekannten ›klassischen‹

40 Bhabha, Homi K.: Interrogating Identity, S. 79. Hervorhebung im Original. Das ›evil eye‹ bzw. das ›böse Auge‹ ist hier als Metonymie des ›I‹ zu verstehen und verweist auf das vermeintliche Verschwinden des Nachahmers, der doch präsent ist. 41 Breger, Claudia: Mimikry als Grenzverwirrung. Parodistische Posen bei Yoko Tawada, in: Benthien, Claudia (Hg.): Über Grenzen, Stuttgart: Metzler 1999, S. 176-206, hier S. 184. 42 Benthien, Claudia: Das Maskerade-Konzept in der psychoanalytischen und kulturwissenschaftlichen Theoriebildung, in: Dies. (Hg.): Männlichkeit als Maskerade. Kulturelle Inszenierungen vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln [u.a.]: Böhlau 2003, S. 36-58, hier S. 41.

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Kontext in eine neue Handlung übertragen.43 Hier öffnet der »dritte Ort« einen weit reichenden Spielraum für die Verhandlung von Identität und Differenz, wodurch die Figur des Migranten eine Veränderung bewirken kann, indem er z.B. mit der Sprache des Kolonisators sein Spiel treibt oder, wie im Fall der deutsch-türkischen Migranten, die Angehörigen einer Mehrheitskultur nachäfft.44 3.2.1 Karneval und die Ethnomaskerade Die ethnische Verkleidung wurde bereits an mehreren Stellen genannt. Sie führt zu einem der wichtigen Elemente postkolonialer Theorie: der Repräsentation. Lange Zeit wurde davon ausgegangen, dass Kolonisierte bzw. Angehörige der Minderheit nicht in der Lage sind, sich selber zu repräsentieren. Eines der historischen und wohlbekannten Beispiele ist die Minstrel-Show, die im 19. Jahrhundert in den USA populär war. In diesen Aufführungen nahmen Weiße Stereotypen über Schwarze auf und verkleideten sich, um auf der Bühne Schwarze zu verkörpern. Die Minstrel-Show war auf die Vorführung allgemeiner (negativer) Klischees reduziert und diente der Hervorhebung der Überlegenheit, die sich Weiße zuschreiben und durch die klischeehafte Darstellung des Schwarzen ausspielen wollten. Diese Art von Inszenierung klammerte jede Möglichkeit der Selbstrepräsentation von Schwarzen aus und ließ sie lediglich als Objekte figurieren.

43 Auch die inszenierte Naivität, auf die in Bezug auf Özdamars Werk eingegangen wird, wird in ihrem Schreiben als Mimikry verstanden. Auf dieser Folie liest Claudia Breger Emine Sevgi Özdamars und Yoko Tawadas orientalistisches Schreiben. Entgegen der in Rezensionen der Werke der beiden Autorinnen häufig geäußerten Kritik an dieser Schreibweise betrachtet Breger das orientalistische Schreiben in den Werken als eine strategische, bewusst eingesetzte Maske, hinter der Özdamar und Tawada auf parodistische Weise eine Änderung bewirken wollen. Auf eine ähnliche Hypothese bei der Analyse von Özdamars literarischer Sprache als »ein inszeniertes Sprechen und ironisierendes Nachahmen der deutschen Sprache« stützt sich Kader Konuk. Vgl. Claudia Breger: Mimikry als Grenzverwirrung, und Kader Konuk: Identitäten im Prozeß, S. 15. 44 Für Beispiele dafür, v.a. in Özdamars Die Brücke vom Goldenen Horn, vgl. Kader Konuk: Identitäten im Prozeß, S. 97ff.

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Eines der bekannten und erfolgreichen Beispiele der ethnischen Verkleidung aus der heutigen deutsch-türkischen Migrationsszene ist das Duo Erkan und Stefan, in dem zwei deutsche Schauspieler in den Rollen eines Deutschen und eines Türken auftreten. Ein zweites Beispiel ist der Detektiv Kemal Kayankaya aus Jakob Arjounis Roman Happy Birthday Türke und der gleichnamigen Verfilmung Doris Dörries.45 Ein vergleichbares, etwas älteres Experiment fand im Jahr 1985 statt: Günter Wallraffs Ganz unten, eine Form des kulturellen Voyeurismus.46 Wallraffs Versuch entstammt dem literarischen Topos vom Herrscher, der sich verkleidet, um unter den einfachen Leuten seines Volks nicht aufzufallen. Das Buch ist das Ergebnis einer ›Feldforschung‹, bei der Wallraff sich als »Südländer«47 verkleidete, um sich in das Ausländermilieu einzuschleusen und Missstände im Umfeld türkischer Gastarbeiter aufzudecken.48 Ein solches Experiment resultiert aus der Annahme, der Türke sei verstummt und könne sich selber nicht repräsentieren. Die Gefahr einer solchen Repräsentation besteht in der Überspitzung und Zementierung von ethnischen Kennzeichen.

45 Neben dem oben genannten Film untersucht Benbow in ihrem Aufsatz das Wesen der Ethnomaskerade auch in Dörries Keiner liebt mich und Erleuchtung garantiert. Vgl. Benbow, Heather Merle: Ethnic Drag in the Films of Doris Dörrie, in: German Studies Review 30:3 (2007), S. 517536. 46 Vgl. Wallraff, Günter: Ganz unten, Kiepenheuer & Witsch 1985. 47 Ebd., S. 11. 48 Ganz Unten ist ein tagebuchähnlicher Bericht, der zu Dokumentationszwecken bebildert ist. Kritisiert wurde Wallraff vor allem, weil er einer klischeehaft einseitigen Darstellung verhaftet blieb und die Zugehörigkeit türkischer Gastarbeiter zur untersten sozialen Schicht zur Regel machte. Mehr dazu findet sich in: Fachinger, Petra (Hg.): Rewriting Germany from the Margins. »Other« German Literature of the 1980s and 1990s, Montreal/Kingston: McGill-Queen’s Univ. Press 211, S. 99 und Sieg, Katrin: Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor: Univ. of Michigan Press 2002, S. 178-186. Außer auf das Experiment von Wallraff geht Sieg auf ein ähnliches von Gerhard Kromschröder ein, das er unter dem Titel Als ich ein Türke war veröffentlichte. Sie macht unter anderem darauf aufmerksam, inwiefern die Darstellung Fragen von Ethnizität und sozialer Schicht nicht scharf genug trennt.

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Wallraff bedient mit dem Ergebnis seines Experiments beispielsweise die allgemein verbreitete Vorstellung von Türken als Angehörigen der untersten sozialen Schicht. In den neunziger Jahren war die Figur von Ali Übülüd, gespielt vom deutschen Kabarettisten Helmut F. Albrecht, eine der populären Einwandererfiguren. Vor allem mit dem Spruch »Hallo Chefe, alles paletti«, auch Titel von vier von Albrechts Programmen, wurde die Figur des naiven Gastarbeiters Ali Übülüd identifiziert.49 Der bekannteste unter den deutsch-türkischen Künstlern, die auf komische Darstellungen durch ethnische Verkleidung spezialisiert sind, ist Kaya Yanar.50 Vor allem durch sein TV-Programm Was guckst du?, in dem er Angehörige anderer Nationalitäten verkörpert und u.a. einen Türken, einen Inder, einen Araber und einen Griechen parodiert, erlangte der deutsch-türkische Komödiant große Popularität in Deutschland. In Bezug auf Fragen der Repräsentation ist Yanar insofern interessant, weil der sonst lediglich als Objekt der Darstellung fungierende ›Türke‹ nicht nur als Subjekt auf der Bühne auftritt, sondern selber Angehörige anderer Ethnizitäten verkörpert. Er konstruiert somit nicht nur eine ›Hierarchie‹ unter von ›Fremden‹, sondern persifliert dabei die Nachahmung selbst. Hier zeigt sich des Weiteren die Wirksamkeit der Komik: Die humorvolle Darstellung ethnischer Klischees, die in einigen Fällen ein Tabu sein kann, wird durch das Lachen darüber entschärft.51

49 Mehr zu Albrechts Kabarett findet sich in: Erol M. Boran: Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts, S. 274-277. 50 Kaya Yanar wird unter den Komödianten sein, die in der Einführung zur Ethno-Comedy in Kapitel 5.2 besprochen werden. 51 Unter den Möglichkeiten des Umgangs mit der ›Pflicht‹ der Repräsentation nennt Cheesman die »parodistische Ethnisierung« im Werk deutschtürkischer Autoren. Vgl. Tom Cheesman: Novels of Turkish German Settlement, S. 477. Statt die Migration als Thema zu erwähnen oder zu vermeiden – das sind zwei andere Möglichkeiten, die Cheesman nennt –, werden in den Werken ethnische Zuschreibungen aufgenommen und verzerrt dargestellt. Cheesman nennt Feridun Zaimoglu und Engin als Beispiele für Autoren, die diesen Weg gegangen sind. Der Akt der (Selbst)‹Kanakisierung‹, den Zaimoglus Sprecher in Kanak Sprak, Koppstoff und Abschaum unternehmen, ist in der Tat das Ergebnis einer hyperbolischen Pose: Sie zeigt im Gegensatz zu Engin mehr das wütend-gefährliche Ge-

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Dies führt zum nächsten Punkt, der bereits in Kapitel 1 kurz angedeutet wurde: die Beweggründe von ethnischen Crossern. Was kann dazu führen, dass jemand sich als Angehöriger einer anderen Ethnizität verkleidet? Und was bewirkt diese Verkleidung? Die Fragen stehen in engem Zusammenhang mit dem postkolonialen Diskurs und weisen auch auf ein Phänomen hin, das oft mit den Themen Migration, Minderheiten und Leben in der Diaspora verbunden ist. In einigen deutschtürkischen Beispielen geht es um eine variierte Form der Repräsentation: Während in den Minstrel-Shows Weiße als Schwarze auftraten, wechseln die Figuren hier ihre nationale Zugehörigkeit als Teil der Handlung bzw. Bühnenshow. In vielen Fällen ist die ethnische Verkleidung nichts anderes als ein Weg, um Hierarchien zu umgehen, was aus der Erkenntnis entspringt, dass die eigene Ethnizität von Nachteil (geworden) ist. So sucht der ethnische Crosser in einer ›anderen‹ ethnischen Verkleidung einen Ausweg aus seiner situativen Misere. Gleichzeitig versteht sich das Cross-Dressing als Selbstbehauptung, indem der ethnische Crosser das Monopol über die Festlegung von nationalen Hierarchien zu haben glaubt und sich dementsprechend verkleidet. Als Maskeradephänomen soll ethnische Verkleidung ganz allgemein für die Destabilisierung von Zuschreibungen stehen, die nicht unbedingt auf die Aufteilung in ›Mehrheits-‹ und ›Minderheitsgruppe‹ hinausläuft. Cross-Dressing kann ohne den Verweis auf Hierarchien eine ›dritte‹ Möglichkeit öffnen, um eine antagonistische Einteilung von Ethnizitäten zu vermeiden. Es deplatziert darüber hinaus die starre Zugehörigkeit der Crosser z.B. zu einer bestimmten Nation und hinterfragt ihre immobile Verwurzelung in einer Gruppe.52

sicht der »parodistischen Ethnisierung«. Dieses Spiel mit bereits vorhandenem (stereotypen) Wissen ist ebenso eine Voraussetzung für ironisches und satirisches Schreiben. 52 Die Ironisierung von Ethnizität durch die Konstruktion eines Dritten kommt außerdem im deutsch-türkischen Kontext in Osman Engins satirischem Roman Kanaken-Ghandi vor. Der ›Dritte‹ ist in diesem Fall die Rolle eines Inders. Engins Roman dreht sich um die Figur von Osman, der eines Tages ohne Vorwarnung eine Benachrichtigung der deutschen Behörden über die Ablehnung seines Asylantrags bekommt, obwohl er nie einen gestellt hatte. Infolgedessen soll er innerhalb von einigen Tagen aus Deutschland abgeschoben werden. Der seit dreißig Jahren in Deutschland

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Der Akt der cross-ethnischen Verkleidung bedarf natürlich zunächst einer Festlegung und Definierung z.B. des Indisch- bzw. Arabischseins, was in der Regel durch weit verbreitete Kultursymbole oder stereotypisiertes Verhalten erfolgt. Das beinhaltet die Gefahr, dass dadurch Stereotype gefestigt werden. Durch die übertriebene Darstellung entblößt sich Ethnizität aber oft als reines Konstrukt und nicht als biologisch determinierte Tatsache. Ähnlich wie die geschlechtliche Identität kann Ethnizität erst durch die Performativität des Darstellers oder Schauspielers ins Leben gerufen werden: »Ethnic drag […] provides valuable insights into nation and ›race‹ as performative rather than organic.«53 Ethnizität lässt sich zudem auch manipulieren. Bei gelungenen Aufführungen können ethnische Klischees und Zuschreibungen auf diese Weise ihres Sinnes entleert und in Frage gestellt werden. Der gesamte Akt der ethnischen Kostümierung ist in transkulturellen Kontexten u.a. als Kritik oder Parodie der Idee eines multikulturellen Staates zu verstehen, in dem das getrennte Leben von Angehörigen verschiedener Nationen erwünscht ist, was durch die unkomplizierten Übergänge zwischen den ethnischen Grenzen ausgedrückt wird. Nicht nur die verborgene Ethnizität ist hier von Bedeutung. In dem Moment, in dem der Crosser sein bisheriges Gewand auflegt, ent-

lebende Gastarbeiter gerät in große Verwirrung, da er fälschlicherweise für einen indischen Asylanten gehalten wird. Dazu kommt noch, dass er zum Opfer eines Angriffs wird, bei dem ihm ein Ohr abgeschnitten wird. Mit dem Verband um das Ohr, der einem Turban ähnelt, kommt er für die deutschen Behörden nur noch als Inder in Frage. Das banalisiert die Reduktion einer ganzen Ethnizität auf bloße Äußerlichkeiten, wofür hier der Turban steht. Für Engins Protagonisten sind die ethnische Travestie und die gesamte Krise also keine freiwillige Entscheidung, sondern eine Situation, in die der Gastarbeiter gezwungen wurde. Vgl. Engin, Osman: Kanaken-Gandhi, Berlin: Elefanten-Press 1998. Die Auswahl der Verkleidung gerade als Inder begründet Göktürk unter anderem damit, dass Differenz oft artikuliert wird durch die Aneignung einer anderen ›popular ethnicity‹. Vgl. Deniz Göktürk: Strangers in Disguise. 53 Sieg, Katrin: Ethnic Drag and National Identity. Multicultural Crises, Crossings, and Interventions, in: Friedrichsmeyer, Sara/Lennox, Sara/Zantop, Susanne (Hg.): The Imperialist Imagination, Ann Arbor: Univ. of Michigan Press 1998, S. 295-319, hier S. 319.

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scheidet er sich für eine neue Zugehörigkeit, die zumindest für die Dauer und den Zweck der Verkleidung als vorteilhaft betrachtet wird. Soziale Hierarchien sowie die Abhängigkeit einer Unterschicht bzw. Minderheit von der Oberschicht bzw. Mainstreamkultur werden dabei affirmiert.54 Das veranschaulicht an dieser Stelle nochmal exemplarisch, inwiefern karnevaleske Phänomene erst im Dialog mit dem ›Anderen‹ stattfinden. 3.2.2 Transvestismus und die Geschlechtliche Verkleidung Die Maskierung und Kostümierung während des Karnevals beschränken sich nicht nur auf die Bewegung zwischen den sozialen Klassen oder Nationen, sondern finden auch zwischen den Geschlechtern statt. Oft dient die Verflüssigung der Trennungslinien zwischen den Geschlechtern der Selbstbehauptung bzw. der Kritik von stigmatisierten geschlechtlichen Zuschreibungen und will damit Widerstand gegen weit verbreitete soziale Normen leisten. Wenn Frauen sich als Männer verkleiden oder umgekehrt, so soll dadurch auf vorgegebene Geschlechterrollen aufmerksam gemacht werden. Gleichzeitig werden diese Rollen hinterfragt. Ähnlich wie die Nationalität zeigt sich die geschlechtliche Identität als grundsätzliches Kriterium in diesem Fall für die Aufnahme z.B. in einen bestimmten Arbeitsbereich.55 Im deutsch-türkischen Kontext findet das Cross-Dressing eine Erwähnung in Şenocaks bereits genanntem Gedichtessay Das Leben ist eine Karawanserei (Kapitel 2.2), in dem er die übertriebene Larmoyanz der orientalischen Frau bei Özdamar parodiert: Das lyrische Ich, eine Frau, sieht sich wegen ihres weiblichen Gewands benachteiligt und klagt, dass sie sich deshalb als Mann verkleiden muss: »ich hatte mich verkleidet genauso wie heute/erstens weil sich in orientalischen Geschichten alle Personen/verkleiden und Frauen sowieso/und zweitens weil ich die heiligen Stätten besuchen wollte/und als Frau keinen Zutritt gehabt hätte«.56 Die erwähnten Beispiele zeigen, dass Fragen

54 Katrin Sieg: Ethnic Drag, S. 12. 55 Mehr zu diesem Beispiel findet sich in: Garber, Marjorie B.: Verhüllte Interessen. Transvestismus und kulturelle Angst, Frankfurt a.M.: Fischer 1993, S. 15-20. 56 Zafer Şenocak: War Hitler Araber?, S. 56.

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der Macht in der Kostümierung codiert sind. Erst das Ab- und Anlegen von männlichem bzw. weiblichem Gewand bringt die geschlechtlichen Hierarchien zur Geltung. Ein komplexeres Beispiel bietet die Figur des Transvestiten, der nicht zwischen den Polen des binären Musters wechselt, sondern seine geschlechtliche Identität als männlich und weiblich versteht (anatomischer männlicher Körper und weibliches Kostüm bzw. Aussehen und umgekehrt). In Bezug auf die ethnische Verkleidung war von einem ›Dritten‹ die Rede, wenn beispielsweise ein deutsch-türkischer Migrant sich als Inder verkleidet. Im Kontext der geschlechtlichen Maskierung interveniert der Transvestit als ›Dritter‹ in die Ordnung der Geschlechter.57 Im Unterschied zu den bisher erwähnten geschlechtlichen Verkleidungen bilden sie für den Transvestiten Teil seiner sozialen Geschlechtsidentität. Beim Cross-Dressing kristallisiert sich der Körper als Träger einer von Natur aus klar definierten und vorgegebenen biologischen Identität heraus, die der Transvestit im Akt des Verkleidens verlässt. Dabei wird die Binarität der Geschlechter ins Wanken gebracht. Auf diese Weise werden Grenzen verflüssigt, unter anderem auch die Grenze zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit. Es eröffnet sich eine neue Perspektive, wenn man bedenkt, dass im Fall des Transvestismus geschlechtliche und soziale Identität nicht identisch sein müssen.58

3.3 K ARNEVAL , D IALOGIZITÄT UND H YBRIDISIERUNG Der Karneval fließt auch in die Sprache ein, und zwar auf verschiedenen Ebenen: Aus der Destabilisierung sprachlicher Grenzen sowie der Trennung zwischen Nationalsprachen und Dialekten resultiert z.B. eine Annäherung der sonst getrennten sozialen Gruppen. Der zwischenmenschliche Kontakt, der während der Karnevalszeit besteht, hat eine neue Redeform zur Folge.

57 Neben dem Transvestiten sind z.B. der Bisexuelle und der Hermaphrodit weitere Figuren, die die Geschlechterordnung destabilisieren. Für die Bedeutung des Transvestismus und der Bisexualität für den Karneval vgl. Robert Stam: Subversive Pleasures, S. 93. 58 Mehr dazu in Kapitel 6.2.

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Die Verschmelzung von Selbst und Anderem, Heiligem und Profanem, König und Narr, von oberer und unterer Schicht impliziert eine hybride Mischung unterschiedlicher Stimmen und führt gleichzeitig auch zur Dezentrierung der Machthaber, wodurch deren hegemoniale Position in Frage gestellt wird. Die Dialoge, die aus dieser Verschmelzung hervorgehen, exponieren, sofern sie in textueller Form erscheinen, eine Mehrsprachigkeit, die divergente Entstehungskontexte verkoppelt. Die Dialoge erlauben so den Wechsel zwischen unterschiedlichen sozialen, aber auch historischen Kontexten, die das polyphone Wesen eines Textes ausmachen. Im Wort oder in der Sprache verdichten und verschieben sich soziokulturelle Diskurse. Durch die Dialogisierung kommt es zur Enthierarchisierung von Sprachen oder Stimmen. Wörter können so nicht länger als abgeschlossene Einheiten fetischisiert werden. Indem sie in intertextuellen und auch transkulturellen Kontexten vorkommen, die nicht länger einem semantischen oder grammatischen Gesetz unterliegen, sehen sie sich dem Prozess permanenter Transformation ausgesetzt. Sprachen sind dadurch offen für neue Bedeutungen und gewinnen einen dynamischen Charakter. Die Vielstimmigkeit, die auf diese Weise entsteht, erschüttert damit gerade auch die Vorstellung von der Existenz einer zentrierten, in sich kohärenten Nationalsprache. In vielen Fällen manifestiert sich diese Vielstimmigkeit in Form der Kreolisierung von Sprachen. Im Gegensatz zu diesem dialogischen steht das monologische Prinzip, das die Dominanz einer einzigen Stimme oder eines ›Königswegs‹ behauptet und Erfahrungen sprachlicher Alterität und damit die Existenz ›anderer‹ Zentren bzw. den Prozess der Dezentrierung leugnet. Im Kontext hybrider Gattungen und Sprachmischungen, von denen häufig in Werken von Migranten die Rede ist, kann dieses Prinzip nur scheitern. Vielstimmigkeit meint in diesem Kontext nicht nur eine sprachliche, sondern auch eine inhaltliche und politische Ebene der Texte. Hier wird’s in der Analyse vor allem um die Frage nach der dezidierten Auswahl von Texten gehen, die auf bestimmte politische Kontexte hindeuten. In diesem Zusammenhang ist auf Bachtins Überlegungen zu verweisen, die in Julia Kristevas Theorie der Intertextualität einge-

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gangen sind.59 Sie lehren, dass jeder Text als ein literarisches Geflecht zu lesen ist: »Jedes Wort (jedes Zeichen) eines Textes führt über seine Grenzen hinaus. Jedes Verstehen ist das In-Beziehung-Setzen des jeweiligen Textes mit anderen Texten. […] Der Text lebt nur, indem er sich mit einem anderen Text berührt. Nur im Punkt dieses Kontakts von Texten erstrahlt jenes Licht, das nach vorn und nach hinten leuchtet, das den jeweiligen Text am Dialog teilnehmen läßt.«60

Wichtig ist hier nicht nur die Offenheit der Texte für die Aufnahme von neuen Inhalten und den dazu gehörigen Kontexten. Auch das antihierarchische oder, mit Deleuze und Guattari gesprochen, das rhizomatische Prinzip spielt im Migrationskontext eine wichtige Rolle.61 Selbstverständlich lassen sich die Theorien von Bachtin, Kristeva oder Deleuze nicht ausschließlich auf Werke von Migranten übertragen. Was hier aber hervorgehoben werden soll, ist, dass ausgehend von diesen Modellen und Ideen neue Perspektiven auf sowie Lesbarkeiten von deutsch-türkischen Werken eröffnet werden können.62 Die Grenze als Ort der Trennung und gleichzeitig der Verbindung öffnet den Raum für die genannten intertextuellen Verflechtungen. Die Grenze ist gleichzeitig Schnittstelle und Differenz, komplexe Konstellation von Vergangenheit und Gegenwart. Das kontrapunktische Lesen von sich gegenseitig beeinflussenden und einander ins Wort fallenden

59 Vgl. Kristeva, Julia: Dialog und Roman bei Bachtin, in: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik, Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, S. 345-375. 60 Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, hg. v. Grübel, Rainer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 352. 61 Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992. 62 In Bezug auf die Dialogizität in den Werken von Migrantenautoren spricht Amodeo in ihrer Arbeit neben der Präsenz von latenten Sprachen auch davon, inwiefern eine evidente Dialogizität zustande kommen kann. Als Beispiel dafür nennt sie die lexikalischen oder syntaktischen Anlehnungen und Verschiebungen, deren Gebrauch als bewusst eingesetzte Verfremdungsstrategie zählen. Vgl. Immacolata Amodeo: Die Heimat heißt Babylon, S. 121f.

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Geschichten wird zum Ausdruck des kulturellen Gedächtnisses der Migration.63 Durch derartige Interdependenzen sind die postkolonialen Literaturen und zeitgenössischen Werke von Migranten Fugen aus verschiedenen kulturellen Stimmen, die raum- und zeitübergreifend sind. Das Writing Back bzw. Performing Back findet z.B. in einem diskursiven Verhältnis zwischen Minderheit und Mehrheit statt (vgl. Kap. 2) und kann u.a. in Form eines Intertexts zur Geltung kommen. Intertextualität und Intermedialität werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit als Strategien der Konstruktion von Karnevaleskem erfasst. Die Öffnung von Grenzen zum ›Anderen‹ funktioniert auf der medialen Ebene der Sprache, der Texte und (audio-)visuellen Medien: Die Aufhebung von Grenzen umfasst die textuelle Ebene, die in mannigfache Konstellationen mit anderen Texten und Inhalten tritt. Wie bereits erwähnt, existiert die Figur des Dazwischen darüber hinaus erst in ihren Relationen zum ›Anderen‹, auf den sie z.B. mit intertextuellen und intermedialen Verweisen Bezug nimmt. Die ausgeführten Punkte demonstrieren, dass das Konzept der Dialogizität in engem Zusammenhang mit der Hybridität steht. Es ist das dialogische Potential der Werke, das sein hybrides Wesen ausmacht. Unter Hybridisierung im Roman versteht Bachtin nämlich Konstrukti-

63 Das kontrapunktische Lesen wird bei Said als die Wechselbeziehung disparater Praktiken definiert, die sonst unabhängig voneinander betrachtet werden. Der Begriff, der ursprünglich aus der Musiktheorie stammt, bezeichnet Kompositionen (wie z.B. die Fuge), in denen mehrere Stimmen simultan gleichberechtigt gleichgeführt werden. Das bedeutet, dass keine Stimme die anderen Stimmen dominiert. Said plädiert in Culture and Imperialism für die Re-Lektüre imperialistischer Texte vor dem sonst ausgeblendeten Hintergrund des Kolonialismus. Die kontrapunktische Lektüre wird bei Said folgendermaßen definiert: »Western cultural forms can be taken out of the autonomous enclosures in which they have been protected, and placed instead in the dynamic global environment created by imperialism, itself revised as an ongoing context between north and south, metropolis and periphery, white and native. […] As we look back at the cultural archive, we begin to reread it not univocally but contrapunctually, with a simultaneous awareness both of the metropolitan history that is being narrated and of those other histories against which (and together with which) the dominant discourse acts.« Edward W. Said: Culture and Imperialism, S. 59. Hervorhebung im Original.

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onen, die mindestens zwei Akzente und zwei Stile beinhalten.64 Eine hybride Konstruktion gehört im Grunde zu einem einzigen Sprecher. In ihr »[vermischen] sich in Wirklichkeit aber zwei Äußerungen, zwei Redeweisen, zwei Stile, zwei ›Sprachen‹, zwei Horizonte von Sinn und Wertung«.65 Hier spricht Bachtin von versteckten fremden Redeweisen und sieht im Spiel mit den Grenzen von Redeweisen, Sprachen

64 Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes, S. 195. 65 Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 195. Bachtin unterscheidet zwischen zwei Formen der Hybridisierung. Die erste ist die ›intentionale‹ Hybridität. In der deutschen Übersetzung wird diese Hybridität auch die »beabsichtigte Hybridität« genannt. Vgl. ebd., S. 244. Die Bezeichnung meint, dass die Vermischung bewusst und absichtlich gebraucht wird – im Unterschied zur »organischen Hybridität«, die Bachtin auch als »dunkle« und »blinde« Vermischung beschreibt. Sie stellt unterschiedliche Stimmen einander gegenüber, die auch einen intertextuellen Bezug aufweisen können. Diese Kontrastierung ohne Verschmelzung und die Differenz, die zwischen den sprachlichen Einheiten besteht, lassen die einzelnen Komponenten sich gegenseitig erhellen. In deutsch-türkischen Werken zeigt sich dies beispielsweise in Form von Mehrsprachigkeit. Bei der ›organischen‹ Hybridität hingegen verlieren die Sprachen ihre Konturen und lassen sich nicht mehr voneinander unterscheiden. Diese Form der Hybridisierung führt zur Fusion der verschiedenen Elemente. Bachtin spricht davon, dass diese Form der latenten, unbeabsichtigten organischen Hybridität Veränderungen in der Sprache bewirken kann. Kreole und synkretistische Formen sind nichts anderes als eine gegenseitige Beeinflussung und Verschmelzung verschiedener Sprachen und Mundarten. Zaimoglus kanonisiertes Werk Kanak Sprak kann als Beispiel für organische Hybridität betrachtet werden. Das Werk setzt sich aus unterschiedlichen Sprachinterferenzen, Anglizismen und Dialekten zusammen, deren Synthese eben die ›Kanak Sprak‹ bildet. Die Sprecher in den Interviews stehen damit jenseits jeder Nationalgruppe, da sie mit ihrem sprachlichen ›Potpourri‹ einen kosmopolitischen Jargon sprechen. Auch Özdamars Werke, wie z.B. Mutterzunge, wurden unter dem Aspekt der Hybridisierung analysiert, vor allem hinsichtlich der Gegenüberstellung und Verschmelzung verschiedener Sprachen. Vgl. Kader Konuk: Identitäten im Prozeß, S. 136-139 und 83-99.

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und Horizonten »Hauptelemente des humoristischen Stils«.66 Übertragen auf andere künstlerische Formen neben dem Roman macht diese Zwei- bzw. Mehrstimmigkeit z.B. das ironische Wesen des Kabaretts aus, wo es hauptsächlich um die Abweichung des Gesagten vom Gemeinten geht. Dabei sind es das Zusammenspiel und mitunter der Widerstreit von unterschiedlichen Stimmen, die zu einer dritten Bedeutung führen, die als ironische Bedeutung bezeichnet wird.67 Die Zwei- bzw. Mehrstimmigkeit gehört zu den entscheidenden Momenten bzw. Triebfedern in vielen Werken von Migranten. Durch die Redevielfalt zeigen sich Möglichkeiten der Grenzüberschreitung. Es ist gleichsam so, als ob die transkulturelle künstlerische Produktion nur geschehen kann, wenn sprachliche Grenzen expandiert oder gar gesprengt werden. Gleichzeitig führt die Erweiterung des Textgewebes nicht nur zu intertextuellen Dynamiken, sondern auch zur Entstehung hybrider Genres.68 Die Offenheit eines Textes für die Aufnahme neuer Inhalte schließt ebenso die Möglichkeit der Überschreitung von vorgegebenen Gattungen ein – etwa in Form der Entgrenzung von Genres. In Bezug auf die Sprache ist zum Schluss zu erwähnen, dass der Karneval keine sprachlichen Tabus kennt. Er lässt Raum für Schimpfwörter, Flüche, Schmähungen, vulgäre und obszöne Beschreibungen. Die Karnevalssprache lässt sich durch den Verstoß gegen grammatikalische Regeln und Semantiken charakterisieren. Sie betreibt die inhaltliche Sprengung der Grenzen des Sagbaren. Es kann auch zur Umdrehung der Semantik von Wörtern oder zu syntaktischen und lexikalischen Neuschöpfungen kommen. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Begegnung zwischen ›Selbst‹ und ›Anderem‹ den Beginn eines (kulturellen) Umbruchs markiert, der im Kontext der Migration als transkulturelles Moment zu verstehen ist. Im Laufe der fortgeschrittenen Migrationsgeschichte handelt es sich um mehr als eine Bewegung von bzw. zwischen zwei geographischen Grenzen. Was hier stattfindet, ist eher eine Entgren-

66 Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 198. 67 Vgl. Hutcheon, Linda: A Theory of Parody, New York: Routledge 1991, S. 60. 68 Gemeint ist hier nicht die Vermischung von Fakt und Fiktion, sondern die von verschiedenen Erzählgattungen oder das Einbeziehen von Medien (die intermedialen Bezüge), wo man nur schwerlich von einer einheitlichen Gattung wird sprechen können.

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zung und Deterritorialisierung eines als national aufgefassten Territoriums.69 Die Begegnung zwischen ›Selbst‹ und (kulturell) ›Anderem‹ bedarf demnach einer Redefinierung von Verhältnissen und Grenzen, der Bewegung eines außerordentlichen Transzendierens, wie sie im Rahmen des Karnevalsgeschehens vorkommt. Dieses Geschehen birgt dementsprechend subversives Potential. Subversion meint im Laufe der fortgeschrittenen Migrationsgeschichte nicht lediglich einen Widerstand gegen etablierte Machtapparate, sondern auch z.B. die Aufhebung und Hinterfragung von Trennungslinien bzw. das Aufbrechen geschlossener Räume. Manche Praktiken oder (subkulturelle) Orientierungen, z.B. die ›Kanak‹-Attack-Bewegung, haben als Widerstand angefangen und sind im Laufe der Zeit in eine soziale bzw. (sub-) kulturellen Pose umgeschlagen. Anhand der ausgeführten Punkte lassen sich die wichtigsten Konstituenten des Karnevals bzw. die Rituale, durch die die Umstülpung der Welt in Gang gesetzt wird, in drei (Analyse-)Kategorien zusammenfassen: Das sind die Sprache, der Körper, und zwar ganz allgemein der materielle und in einigen besonderen Fällen der groteske Körper, sowie Raum- und Zeitkonzeptionen. In diesen Kategorien und den Phänomenen, die sie umfassen, manifestiert sich das Karnevaleske. Der außergewöhnliche Sprachgebrauch, der Aufenthalt an Transitorten sowie die Figur des ›Dritten‹, die die Erscheinungsform eines Harlekins oder Transvestiten annehmen kann, sind Beispiele für ästhetische Konfigurationen des Karnevalesken u.a. im Theater, Film und Kabarett, die im Migrationskontext als Resultat kultureller Begegnungen erfasst werden.

69 Zum Begriff der Deterritorialisierung vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, S. 414 und Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 236-238.

IV Das deutsch-türkische Theater. Anfänge und Herausforderungen

Die Anfänge des deutsch-türkischen Theaters in Deutschland sind beim Schriftsteller und Übersetzer Yüksel Pazarkaya zu suchen, der als »Initiator des türkischen Theaters in Deutschland« bezeichnet wird.1 Als Mitbegründer der Studiobühne in Stuttgart führte er dort türkische Theaterstücke auf, die er für das deutsche Publikum übersetzt hatte, außerdem Inszenierungen von Tschechow, Brecht und Pinter sowie sein erstes Drama Ohne Bahnhof.2 Die Handlung seines Schauspiels ist in der Tradition des absurden Theaters entstanden, das einen passenden Rahmen für die Darstellung von Geschichten aus der Anfangsphase der Gastarbeit zu bieten scheint: Erzählt wird die Geschichte von sechs Personen, fünf Deutschen und einem Gastarbeiter, die an einem deutschen Bahnhof auf einen Zug warten, der sie in eine »gute Zukunft« führt.3 Der Zug kommt jedoch, ähnlich wie Samuel Becketts Godot, nicht. Die Wartezeit verbringen die Passagiere mit wirren Selbstgesprächen und Dialogen, die die Kommunikation untereinander verfehlen. Die Verstummung oder der Sprachverlust, die zu Beginn der türkischen Migration nach Deutschland den Gastarbeiter1

Vgl. Erol M. Boran: Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts, S. 81. Vor allem in Borans Dissertation findet sich ein ausführlicher Überblick über die Geschichte des deutsch-türkischen Theaters seit seinen Anfängen in Deutschland.

2

Vgl. ebd., S. 83.

3

Pazarkaya, Yüksel: Wieviel Sprache braucht der Migrant? Von der Verwandlung des Zickleins in ein Lamm, in: Die Zeitschrift für Erwachsenenbildung 4 (2001), S. 25-27.

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alltag dominierten, werden vom türkischen Gastarbeiter verkörpert, der im Laufe der ganzen Handlung kein Wort spricht.4 In den siebziger Jahren waren West-Berlin und insbesondere Kreuzberg das Zentrum der deutsch-türkischen Theaterbühnen. Dort formten sich mehrere Theatergruppen. Boran dokumentiert vor allem drei: das »Volkshaus Arbeiter-Theater«, die »Berliner Darsteller« und die »Kreuzberger Türkische Volksbühne«.5 Bis dahin waren die deutsch-türkischen Schauspielbühnen vom deutschen Theatergeschehen isoliert. Emine Sevgi Özdamar, die Mitte der siebziger Jahre als Schauspielerin und Regie-Assistentin am »Berliner Ensemble« arbeitete, war in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Die größten Probleme, mit denen türkische Theatergruppen in den sechziger und siebziger Jahren konfrontiert waren, betrafen die Finanzierung, weshalb die meisten Aktivitäten aus Eigeninitiativen entstanden und viele der Gruppen sich angesichts der finanziellen Schwierigkeiten auflösten.6 In der Spielzeit 1979/80 bestand erstmalig Interesse daran, eine türkische Theateraufführung auf einer deutschen Bühne zu realisieren: An der Berliner Schaubühne engagierte der deutsche Theater-, Operund Filmregisseur Peter Stein Schauspieler aus der Türkei, die zwar in türkischer Sprache aufführten, allerdings auch Musik- und Tanzelemente in ihre Darbietung integrierten, so dass sie nicht nur das türkische Publikum ansprachen.7 Vier Jahre später endete das Projekt jedoch. Anfang der achtziger Jahre wurden außerdem zwei Festivals organisiert mit Fokus auf das Migrantentheater, u.a. auch auf das von Deutsch-Türken: der »Theatersommer 83«, eine Veranstaltung, die in Stuttgart stattfand, sowie das »1. Europäische Theaterfestival der Arbeitsmigranten« in Frankfurt a.M. im Jahre 1984.

4

Mehr zu Pazarkayas Rolle für die Anfänge des deutsch-türkischen Theaters sowie die Gründung der Amateurgruppe »Türkische Theatergruppe« unter seiner Leitung findet sich in: Erol M. Boran: Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts, S. 92f.

5

Ebd., S. 97-101.

6

Sappelt, Sven: Theater der Migrant/innen, in: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland, Stuttgart: Metzler 2007, S. 275293, hier S. 277.

7

Vgl. ebd., S. 279 und Erol M. Boran: Eine Geschichte des türkischdeutschen Theaters und Kabaretts, S. 103.

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Zu den wichtigen Namen in den achtziger Jahren zählt die Schauspielerin und Autorin Renan Demirkan, die, ähnlich wie Özdamar, an bedeutenden deutschen Theaterhäusern engagiert war, u.a. am Schauspielhaus Nürnberg, Köln und Dortmund, und bis heute als Theaterund Filmschauspielerin tätig ist.8 Zu den bis heute noch bedeutenden deutsch-türkischen Theaterbühnen gehören das Arkadaş Theater in Köln und das Tiyatrom in Berlin. Ersteres wurde vom Schauspieler Necati Şahin 1983 geründet. Aktuell, im Jahre 2010, stehen dort eine Inszenierung von Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran, Auftritte des PutzfrauenKabaretts, von dem in Kapitel 5 die Rede sein wird, sowie die Performance Shakespeares Sämtliche Werke – leicht gekürzt und orientalisiert (eine Rekontextualisierung u.a. von Hamlet, Romeo and Julia und Macbeth unter Berücksichtigung der Frage, wie die Handlung im Orient verlaufen wäre) auf dem Spielplan.9 Das Tiyatrom wurde 1984 durch die finanzielle Förderung des Senats etabliert und anfangs von einem Karikaturisten, Theater-, Fernseh- und Filmschauspieler namens Meray Ülgen geleitet. In Bezug auf die Gründung und Entwicklung des Tiyatrom berichtet der jetzige Direktor, Schauspieler, Regisseur und Dramaturg Yekta Arman vor allem von der Kürzung der Fördergelder, unter der das Theater zur Zeit der Wiedervereinigung stark litt.10 Auf die prekäre Lage reagierte die Leitung damals mit dem Beschluss, Dramen aufzuführen, die sich an ein breiteres Publikum wenden: Es entstand das Bühnenwerk Hochzeit in Kreuzberg, bei dem die Schauspielerin Idil Üner mitwirkte: »Dieses Stück über das Leben und die Gebräuche der Berliner Türken, welches sich zudem auch mit der Generationsfrage befasst, war das bis dato bestbesuchte Stück des Tiyatroms und erhielt eine Reihe von Tourneeangeboten.«11 Bis heute werden am Tiyatrom Volks-, Jugendund Kinderdramen hauptsächlich in türkischer Sprache dargeboten. Die Entstehung des deutsch-türkischen Theaters zeichnet sich demnach zwischen Amateur- und Professionalisierungstendenzen,

8

Vgl. v.a. die Webseite der Schauspielerin: www.renan-demirkan.de.

9

Mehr dazu findet sich auf der Webseite Arkadaş Theaters. Vgl. www.arkadastheater.de/pages/de/inszenierungen/159.htm.

10 Erol M. Boran: Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts, S. 123. 11 Ebd.

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eigenen Initiativen und staatlicher Förderung ab. Im Laufe der Entwicklung blieb die deutsch-türkische Bühne nicht vom deutschen Theatergeschehen isoliert. Das zeigt sich exemplarisch am Entstehungshintergrund der zwei ausgewählten Dramen: Schwarze Jungfrauen ist 15 Jahre nach Keloğlan in Alamania geschrieben worden. Während Özdamars Theaterstück erst neun Jahre später am Oldenburger Staatstheater uraufgeführt wurde, ist Zaimoglus Drama im Auftrag des Festivals Beyond Belonging und in Zusammenarbeit mit Günter Senkel entstanden (mehr dazu in Kapitel 4.2).12 Im Allgemeinen kann man trotzdem bis heute von einer isolierten deutsch-türkischen Theaterlandschaft sprechen, in der überwiegend türkischsprachige Stücke gespielt werden.

4.1 K RISE DER F IKTION , F IKTION DER K RISE : E MINE S EVGI Ö ZDAMARS K ELOĞLAN IN A LAMANIA (1991) 4.1.1 Sprache und Sprachmasken im Werk von Emine Sevgi Özdamar Vor der Premiere ihres ersten Theaterstücks Karagöz in Alamania im Jahre 1986 im Frankfurter Schauspielhaus, so die deutsch-türkische Autorin Emine Sevgi Özdamar, wurden ohne vorherige Absprache mit ihr Erläuterungen zum Theaterstück am Eingang des Theaters verteilt. Sie sollten das Mitverfolgen einer »ungewöhnlichen« Struktur und der zahlreichen Szenenwechsel in der Handlung an verschiedenen Orten in Deutschland und der Türkei für das Publikum erleichtern.13 Da das deutsch-türkische Theater zu dieser Zeit in Deutschland noch unbekannt war, lag die Befürchtung nahe, dass das Drama den deutschen Zuschauern abstrus vorkommen könnte. Özdamars Karagöz gilt als das erste deutschsprachige Theaterstück von Migranten, das an 12 Während in Zaimoglus Theaterstück die Inszenierung von Neco Çelik aus dem Jahr 2006 berücksichtigt wird, liegt für Özdamars Theaterstück keine bekannte Dokumentation der Aufführung vor, so dass nur der Dramentext für die Analyse herangezogen wird. 13 Vgl. Göktürk, Deniz/Gramling, David/Kaes, Anton: Germany in Transit, Berkeley: Univ. of California Press 2007, S. 401.

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einer bedeutenden Bühne aufgeführt wurde. Die sprachliche Verfremdung, die zahlreichen intertextuellen Hinweise sowie das Märchenhafte, von denen das Theaterstück lebt, boten genug Anlässe, das Stück als sehr fremd zu empfinden.14 Unter den deutsch-türkischen Autoren hat Özdamar den meisten Ruhm erlangt. Obwohl sie vor allem wegen ihrer Prosawerke bekannt geworden ist, hatte sie ihre schriftstellerische Karriere am Theater begonnen, wo sie auch als Schauspielerin und Regisseurin arbeitete. Die ersten zwei Teile ihrer Berlin-Istanbul-Trilogie Das Leben ist eine Karawanserei (1992) und Die Brücke vom Goldenen Horn (1998) sowie die beiden Erzählungen Mutterzunge und Großvaterzunge (1990) wurden reichlich analysiert, insbesondere unter dem Aspekt des »Schreibens mit Akzent«.15 Dieser Begriff bezeichnet u.a. die Hybridisierungen, die aus dem Türkischen übersetzte Redewendungen beinhalten, sowie die türkischen Bilder und Metapher, die im Deutschen als solche nicht vorkommen. Es handelt sich dabei um ein bewusst eingesetztes fremdes Reden, eine sprachliche Maske, die die Ankunft des migrierenden Subjekts repräsentiert, das neues Kulturgut mitbringt. Özdamar erzählt nicht, sondern posiert als Ausländerin.16 Die bewusste Inszenierung einer sprachlichen Naivität hängt in den erwähnten Texten mit der Suche nach Wörtern in der fremden Sprache zusammen. Die Migration wird als (Wieder-)Geburt codiert und führt – ausgelöst von der Suche nach Worten und Ausdrucksmöglichkeiten – zu Erinnerungen an die Kindheit. Die Suche bildet eine Analogie zur Erfahrung der Entwurzelung, die in der neuen Sprache empfunden

14 Die bekannte Version des Theaterstücks ist die Prosafassung, die im Erzählband Mutterzunge erschienen ist. Die Originalversion (publiziert im Verlag der Autoren) ist vor allem durch die zahlreichen Szenen- und Figurenwechsel sehr komplex. 15 Konuk, Kader: Das Leben ist eine Karawanserei. Heim-at bei Emine Sevgi Özdamar, in: Ecker, Gisela (Hg.): Kein Land in Sicht, München: Fink 1997, S. 143-157. Für die Untersuchung der Wandelbarkeit des Originals im Schreiben von Özdamar vgl. Weber, Angela: Im Spiegel der Migrationen, Bielefeld: transcript 2009. 16 Vgl. Breger, Claudia: »Meine Herren, spielt in meinem Gesicht ein Affe? Strategien der Mimikry in Texten von Emine S. Özdamar und Yoko Tawada, in: Gelbin, Cathy (Hg.): AufBrüche, Königstein/Taunus: Helmer 1999, S. 30-59, hier S. 47.

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wird.17 Darauf beruht zu einem großen Teil die Komik in den Texten, die sich aus der Inkongruenz zwischen der Gestalt der erwachsenen Person und dem infantilen Sprachgebrauch sowie dem naiven Erzählton der Protagonistin ergibt. Das Schreiben und Erzählen als Medium des Rückblicks auf die Kindheit ist bei Özdamar verbunden mit der Wiedergabe von Geschichte. Sie figuriert bei ihr als Text, auf den sie mit dem Schreiben reagiert. Ihre Erzählungen werden zum Archiv historischer Ereignisse und zu einem Medium der Erinnerung, etwa an die Migration innerhalb der Türkei (Das Leben ist eine Karawanserei) oder an das Leben im geteilten Berlin (Die Brücke vom Goldenen Horn und Mutterzunge).18 In diesem Sinn lässt sich sagen, dass Özdamars Werke im Allgemeinen eine Absorption anderer »Texte« sind und demnach intertextuell arbeiten.19 Es überlagern sich Erinnerungen und Erfahrungen, so dass von einer Vielschichtigkeit des Erzählten gesprochen werden kann.20

17 So schreibt Özdamar in Mutterzunge: »In der Fremdsprache haben Wörter keine Kindheit.« Vgl. Özdamar, Emine Sevgi: Mutterzunge, Berlin: Rotbuch 1990, S. 44. 18 Vgl. Özdamar, Emine Sevgi: Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus, Köln: Kiepenheuer 1992 und Özdamar, Emine Sevgi: Die Brücke vom Goldenen Horn, Köln: Kiepenheuer 1998. Mehr zu Geschichte und Erinnerung bei Özdamar findet sich in: Pizer, John: The Continuation of Countermemory. Emine Sevgi Özdamar’s Seltsame Sterne starren zur Erde, in: Gerstenberger, Katharina (Hg.): German Literature in a New Century, New York: Berghahn Books 2008, S. 135-152. 19 Gemeint ist in dem oben genannten Fall die Intertextualität, wie sie bei Julia Kristeva verstanden wird. Kristeva knüpft an Bachtins Theorie der Dialogizität an und versteht Gesellschaft, Geschichte und Kultur als Texte bzw. als Zeichensysteme. Intertextualität meint bei ihr die Transposition zwischen Literatur und diesen Systemen, d.h. von einem Zeichensystem ins andere, wie z.B. zwischen Karnevalsszenen und der Romanform. Mehr dazu findet sich in: Kristeva, Julia: Revolution in Poetic Language, New York: Columbia Univ. Press 1984, S. 59f. 20 Roy spricht in Bezug auf Özdamars Schreiben vom »Re-membering«. Vgl. Roy, Kate: Re-membering Heterogeneous Histories. How the Writing of Emine Sevgi Özdamar and Leïla Sebbar Re-inscribes the Other in a »Eu-

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In Özdamars Erzählungen fließen oft verschiedene Dramen und Figuren aus der Weltliteratur ein. Dieser zusätzliche intertextuelle Aspekt erklärt sich vor allem aus ihrer Theaterarbeit: Sie ›verwebt‹ (autobiographische) Geschichten aus dem Theater in die Handlungen.21 Dieser Teil des poetologischen Konzepts bildet eine explizitere Form des Intertexts. Das ›Schreiben‹ bzw. ›Erzählen mit Akzent‹ führt zu einer Polyphonie in Özdamars Texten. Stellvertretend für diese Ebene kann die am häufigsten analysierte Neuschöpfung »Mutterzunge« anstatt »Muttersprache« genannt werden, in der die Inszenierung von Fremdheit in der Sprache selbst und auf der Ebene des einzelnen Wortes stattfindet.22 Sie steht für das fremde Reden in ihren Texten, und zwar nicht in der evidenten Form der Bi- oder Multilingualität, sondern in einem Wort verdichtet, das dem Deutschen fremd ist.23 Im einzelnen literarischen Wort werden Stimmen der Vergangenheit amalgamiert, die zudem verschiedenen geographischen Räumen angehören. Die fremden Stimmen, die in ihren Texten präsent sind, entstammen verschiedenen historischen und kulturellen Horizonten. Die Erzählungen werden somit zum Medium der Erinnerung bzw. zu einem Echo vergangener Geschichten. Die Polyphonie entsteht in Özdamars Texten außerdem durch das Zitieren fremder Texte. Diese Ebene besteht z.B. in der Belebung von

ropean« Past, in: Riccobono, Rossella (Hg.): The Poetics of the Margins. Mapping Europe from from the Interstices, Oxford: Peter Lang 2011, S. 101-118. 21 Ein Beispiel aus Karriere einer Putzfrau, das dies veranschaulicht, ist folgende Stelle: »Der Hund von Eva Braun beißt die Kinder von Medea und die Statisten, Nathan der Weise tritt auf und sagt, er sei der Friedenspfarrer mit Nobelpreis, man solle Medeas Kinder und Männerpissoirbesetzerstatisten in Ruhe lassen.« Vgl. Özdamar, Emine Sevgi: Karriere einer Putzfrau, in: Dies.: Mutterzunge, Berlin: Rotbuch 1993, S. 102118, hier S. 115. 22 Diese Neuschöpfung wurde u.a. unter den Aspekten der sprachlichen Hybridisierung, der Körperlichkeit von Sprache sowie der Inszenierung von Fremdheit in der Sprache analysiert. Vgl. u.a. Kader Konuk: Identitäten im Prozeß, und Bird, Stephanie: Women Writers and National Identity, Cambridge: Cambridge Univ. Press 2003. 23 Vgl. v.a.: Kader Konuk: Identitäten im Prozeß.

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literarischen Figuren sowie der Verflechtung von Handlungen aus verschiedenen Werken zur deutsch-türkischen Geschichte. Paradigmatisch zeigt sich dies in Karagöz in Alamania. Das Theaterstück ist in Anlehnung an die türkische Tradition des Schattenspiels entstanden. Karagöz (oder Schwarzauge) ist die Figur eines einfachen Bauern oder Zigeuners, der in Begleitung von Haçivat, einem großstädtischen Intellektuellen, Streitgespräche anfängt, die auf komischen Missverständnissen basieren und der Sozialkritik sowie der politischen Satire dienen.24 In Özdamars Karagöz in Alamania werden die Figuren aus dem türkischen Volkstheater in eine Erzählung über die Einwanderung nach Deutschland eingebettet. Karagöz migriert nach Deutschland und wird von einem intellektuellen Esel namens Şemsettin begleitet. Ein großer Teil der Handlung spielt an einem ideellen Ort der Schwelle, vor der »Deutschland-Tür«.25 Das wichtige Moment bilden das Öffnen und Schließen dieser Tür und das damit verbundene Ereignis des Betretens und Heraustretens sowie die Veränderungen, die die Figuren im Laufe ihres Pendelns zwischen Deutschland und der Türkei erleben. Die Dialoge zwischen Karagöz und Şemsettin setzen sich zu einem großen Teil aus fremden Texten zusammen, wie z.B. Karl Marx’ Kapital, Platons Theaitetos sowie auf humoristische Art simplifizierte Stellen aus einigen Suren im Koran.26

24 In Özdamars Theaterstück werden außerdem einige Strukturen der Erzählungen vom Karagöz übernommen, wie z.B. verschiedene Figurentypen: etwa Frauentypen oder Angehörige verschiedener Ethnizitäten. Mehr zur Geschichte des Karagöz-Theaters findet sich in: Pazarkaya, Yüksel: Rosen im Frost, Zürich: Unionsverlag 1989, S. 203-224 sowie in der Dissertation von Erol M. Boran: Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts, S. 48-56. 25 Emine Sevgi Özdamar: Mutterzunge. 26 Für die Analyse der Komik des Intertexts bei Özdamar sowie die Aufdeckung der Intertextualität im Karagöz in Alamania vgl.: Frölich, Margrit: Aufbrüche in geteilten Welten. Emine Sevgi Özdamars transkulturelle Spurensuche, in: Frölich, Margrit/Messerschmidt, Astrid/Walther, Jörg (Hg.): Migration als biografische und expressive Ressource. Beiträge zur kulturellen Produktion in der Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2003, S. 45-65.

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In dieser Hinsicht ist Karagöz in Alamania als Vorläufer von Özdamars zweitem Theaterstück Keloğlan in Alamania zu betrachten, das ebenfalls aus Zitaten aus verschiedenen Werken konstruiert ist, die den größten Teil der Handlung bilden. Während die intertextuellen Bezüge und Zitate in Karagöz in Alamania – mit Ausnahme des Titels – ohne explizite Verweise auf die Quellen im Text verarbeitet sind, wird die Handlung in Keloğlan in Alamania durch die Belebung bekannter Dramen-, Opern- und deutscher Märchenfiguren getragen, die an einigen Stellen in Dialog miteinander treten. Das Theaterstück ist eine Migration durch die europäische Literatur- und Musikgeschichte, die in seinem verschlungenen Textgewebe wiedergegeben wird. Özdamar bewegt sich in Keloğlan in Alamania mitten im europäischen Kanon. Das Theaterstück nutzt das Rewriting als besondere Form der Intertextualität und wählt dezidiert bestimmte europäische Werke aus, deren Inhalt durch das Verfahren der Wiederholung mit Differenz verschoben wird, um somit die Macht dieser Texte und die damit verbundenen Diskurse im Theaterstück zu ironisieren. Das Projekt der Autorin basiert auf dem Umschreiben und Neudichten dieser kanonischen Werke durch den Einbezug der Stimmen am Rand. Dies funktioniert in Keloğlan in Alamania jedoch nicht durch die Umkehrung von Zentrum und Peripherie oder das Umschreiben deutscher Texte. Die Geschichts(um-)schreibung findet stattdessen durch das Einbeziehen ›dritter‹ Texte, wie z.B. von William Shakespeare oder Giacomo Puccini, statt, d.h. durch eine Form der transkulturellen Intertextualität. Das Rewriting ist vor allem im Kontext der Entstehung des Theaterstücks zu Beginn der neunziger Jahre zu betrachten. Das Verfahren des Umschreibens ist im Theaterstück ein Ausdruck der Ausschließung des kulturell Anderen, d.h. der deutsch-türkischen Migranten. Obwohl die Wiedervereinigung an keiner Stelle im Theaterstück erwähnt wird, bildet dieses Ereignis den Hintergrund der absurden Handlung. Özdamars Keloğlan in Alamania entstand wenige Jahre nach dem Mauerfall. Die Wiedervereinigung, die Redefinition der deutschen nationalen und kulturellen Identität, Fragen der Erinnerung und der Vergangenheitsbewältigung sowie das restriktive Ausländer-

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gesetz von 1990 rahmen die Handlung des Theaterstücks ein.27 Die Geschichte der Abschiebung des Deutsch-Türken steht in diesem Kontext exemplarisch für die Exklusion, den Wunsch nach dem Abschneiden der Ränder des gesellschaftlichen Korpus. Die Vielstimmigkeit gehört, wie bereits besprochen, zum Wesen karnevalesker Phänomene (vgl. Kapitel 3.3).28 Die Maskierung und das Vertauschen von Hohem und Niedrigem oder Heiligem und Profanem stellen verschiedene soziale und kulturelle Stimmen nebeneinander. Die Parodie ist ebenso eine Form des literarischen Schreibens, die nur deshalb funktioniert, weil zwei Texte in Bezug zueinander gesetzt werden. In Özdamars Theaterstück nimmt die Vielstimmigkeit eine explizite Form an und entsteht durch die zahlreichen intertextuellen Bezüge.29 Es handelt sich nicht nur um die Offenheit jedes Textes für die Absorption von Zeichensystemen, wie sie seit den siebziger Jahren, v.a. seit der Intertextualitätstheorie von Julia Kristeva, verstanden wird.30 In Keloğlan in Alamania geht es zunächst um eine restriktive Form der Intertextualität, die durch die Verflechtung anderer Texte und Figuren in die deutsch-türkische Handlung zustande kommt.31

27 Dies wird im Theaterstück spielerisch anhand der Figuren von zwei sich bekämpfenden Polizisten angedeutet, die Unterhosen in den Farben der deutschen Fahne tragen. 28 Die Vielstimmigkeit ist bei Bachtin ein Merkmal des dialogischen Romans. Sie bezeichnet die verschiedenen sozialen Stimmen, die im einzelnen Wort zu hören sind. Vgl. Michail M. Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, S. 352. Die Vermischung verschiedener Stile und Stimmen ist nach Bachtin ein wichtiges Kriterium des karnevalistischen Romans. Vgl. Michail M. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 121. 29 Im vorliegenden Kapitel war bereits die Rede von der »Polyphonie« in Özdamars Werken. Die Begriffe Vielstimmigkeit und Polyphonie werden bei Bachtin meist als Synonyme verwendet. 30 Bei Kristeva heißt es, dass jeder Text sich als »Mosaik von Zitaten auf[baut]. Jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes.« Vgl. Julia Kristeva: Dialog und Roman bei Bachtin, S. 348. 31 In Genettes Terminologie fällt die Intertextualität in Keloğlan in Alamania unter die Kategorie der Hypertextualität. Sie bezeichnet das Verhältnis zwischen dem Hypotext (Prätext, Referenztext, Vorgängertext) und dem Hypertext, in diesem Fall Özdamars Keloğlan in Alamania. Dieser Text

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Warum verkleidet sich eine türkische Putzfrau als Puccinis Madame Butterfly? Welche politischen Diskurse werden in die Handlung verflochten, wenn diese Putzfrau aus Bedřich Smetanas Verkaufte Braut singt? Das sind u.a. diejenigen Fragen, um die es in der Analyse gehen wird. Durch dieses Rewriting in Zusammenhang mit den zahlreichen Verkleidungen erhält Özdamars Theaterstück eine parodistische Funktion, durch welche westliche Symbole manipuliert und für den deutsch-türkischen Kontext funktionalisiert werden. Deplatzierung und literarisches Nomadentum Das Karnevaleske lebt in Keloğlan in Alamania von der anarchischen Distribution von Stilmitteln: in der Aufführung von zahlreichen ethnischen und geschlechtlichen Verkleidungen, die zum Teil mit den zitierten Texten zusammenhängen, im Märchenhaften und im Phantastischen. Diese Elemente des Karnevalesken werden so in den Theatertext eingewoben, dass sie ständig seine innere Struktur aufbrechen und zur Polyvalenz führen, mit der der Text aufgefächert ist. Das literarische Programm besteht in Keloğlan in Alamania folglich in der inhaltlichen und szenischen Verwirrung. Im Theaterstück werden die realsatirischen Bestimmungen für Ausländer in der absurden Handlung und dem verfremdenden Erzählen wiedergegeben. Eine Geschichte über die Abschiebung eines seit jeher in Deutschland lebenden DeutschTürken ist gegen alle Vernunft, so dass die Darstellung auf der Bühne nur im Rahmen des Irrsinnigen funktionieren kann.32 Die Reflexion von realgeschichtlichen Ereignissen während einer krisenhaften Zeit gebiert eine Fiktion, die in eine Krise gerät. Vor diesem Hintergrund betrachtet wird im Folgenden gezeigt, wie die histoire über Deplatzierung im Theaterstück auf der discoursEbene durch die wiederholt destabilisierte narrative Struktur wiedergegeben und reflektiert wird. Das Bühnengeschehen setzt sich aus einer Überfülle von Disparatem zusammen, das an manchen Stellen für die Handlung von sekundärer Bedeutung ist und hauptsächlich der kontinuierlichen Verwirrung des Dargestellten dient. Aus diesem Grund werden in der Analyse die wichtigsten Szenen exemplarisch leitet sich durch Nachahmung und Transformation vom Hypotext ab. Vgl. hierzu: Genette, Gérard: Palimpseste, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. 32 Ein ähnliches literarisches Programm unternimmt Osman Engin in Kanaken-Ghandi. Vgl. auch S. 77, Anm. 52.

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behandelt und auf die verschiedenen Strategien des Rewriting sowie auf die Auswirkungen der (damit verbundenen) ethnischen und geschlechtlichen Verkleidungen untersucht. Die zahlreichen Zitate, Texte und Kostüme tragen einerseits zum derb-komischen Charakter des Theaterstücks bei. Andererseits schreibt Özdamar damit Elemente der europäischen Hochkultur in die deutschtürkische Handlung ein: »Anstatt nur wieder eine weitere Demontage von Herrschaftsdiskursen vorzunehmen und ethnisierte Subjektpositionen zu evakuieren, spannt Keloğlan den theatralen Apparat jedoch vor seinen eigenen Karren und nimmt Puccini, Smetana und Shakespeare an die Kandare für die Sache der türkischen Migration.«33

Durch die Verweise verwandelt sich die Bühne in manchen Szenen in einen Ort der Zeit- und Raumlosigkeit, denn die Zitate spielen in verschiedenen Epochen an den unterschiedlichsten Orten. Die meisten Figuren auf der Bühne stammen aus literarischen Werken (Märchen, Volksliteratur und klassische Dramen) und werden im Rahmen der Handlung von Keloğlan in Alamania animiert. In anderen Szenen wollen die deutsch-türkischen Protagonisten durch die Verkleidung bekannte Figuren aus klassischen Opern verkörpern.34 Özdamar erschüttert durch die Transformation kanonischer Texte die Vorstellung von ihrer festen Verankerung in der europäischen Kultur, was als ein Mittel der Subversion von Inhalten der archivierten Geschichte gilt. Das heißt, Intertext und Verkleidung funktionieren als Mittel zur Verwirrung von literarischen und kulturellen Grenzen. Die Migration findet in Form des literarischen und musikalischen Wan-

33 Sieg, Katrin: Ethno-Maskerade. Identitätsstrategien zwischen Multikultur und Nationalismus im Deutschen Theater, in: Frauen in der Literaturwissenschaft. Ethnizität. Rundbrief 49 (1996), S. 20-23, hier S. 22. 34 Die Belebung von literarischen Figuren ist ein Experiment, das einige Jahre nach Keloğlan in Alamania auch von Kemal Kurt in seiner Geschichte Ja, sagt Molly unternommen wurde. In der Erzählung geht es darum, dass der riesige Umfang der Bibliothek von Babel auf ein einziges Buch reduziert werden soll. Daraufhin fangen 150 bekannte literarische Figuren aus dem 20. Jahrhundert an, sich zu bekämpfen, da nur ein einziges fiktionales Werk die Jahrtausendwende überleben wird.

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derns zwischen Texten und Epochen statt, nach der Formel »Leben und Erzählen als Migration«, wie sie für Özdamars gesamtes Werk formuliert wurde.35 Die Intertextualität ist somit im Theaterstück als transitorisches Prinzip zu verstehen. Die Ankunft im (deutschen) Alltag wird durch das Aufstöbern von vergangenen Texten verzögert. Den Figuren im Theaterstück geht es ähnlich, denn sie sind trotz ihres Aufenthalts in Deutschland nicht dort angekommen. Rewriting und Rekontextualisierung Özdamars Heiratsburleske erzählt die Geschichte von Keloğlan, einem türkischen Jungen der zweiten Generation, der um Mitternacht achtzehn Jahre alt wird und bis dahin entweder eine Arbeit oder eine deutsche Braut gefunden haben muss. Sonst droht seine Abschiebung in die Türkei, ein Land, das ihm völlig fremd ist. Die erste Szene zeigt eine Probe von Puccinis Oper Madame Butterfly, die wegen einer Pause der Schauspieler unterbrochen wird. In der Anschlussszene erzählt Keloğlans Mutter Kelkari in einem kurzen Monolog von ihrer Vergangenheit. Sie war in der Türkei Opernsängerin und arbeitet in Deutschland als Putzfrau. Bei ihrem ersten Auftritt ist sie als Madame Butterfly gekleidet, während sie bohnert. Sie teilt dem Publikum ihren Plan mit, dass sie eine Braut für Keloğlan finden will, für die sie im Klavier 15.000 D-Mark versteckt hat. Gleichzeitig will sich Keloğlan, der DJ und Breakdancer ist, auf Arbeitssuche begeben, färbt sich seinen schwarzen Schnurrbart blond und setzt sich eine blonde Perücke auf. Als Blondoğlan – so wird er von der Katze Tekir, einem Kommentator in der Handlung, genannt – glaubt er, bessere Chancen bei potentiellen Arbeitgebern zu haben. Trotz der Simulierung eines Deutschen scheitert die Arbeitssuche. Die Handlung führt den männlichen Protagonisten über mehrere Stationen, auf denen er komischen Figuren begegnet und Groteskes erlebt: Er trifft auf einen Penner, zwei deutsche Polizisten, zwei Jugendliche auf der Arbeitssuche. Er wird beraubt und verliert seine Kleidung. In dieser Hilflosigkeit versinkt er in einen Tiefschlaf. An dieser Stelle schaltet sich die Figur der Autorin in das Bühnengeschehen ein und kündigt an, dass diese ausweglose Handlung in der realen Welt scheitern mag, jedoch auf der Bühne eine andere Wende nimmt. Ab diesem Moment überwiegt im Theaterstück das Phantastisch35 Vgl. Margrit Frölich: Aufbrüche in geteilten Welten.

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Märchenhafte. Die darauf folgende Szene zeigt ein Bühnenbild aus dem Märchen von Rotkäppchen, das schlafend neben Keloğlan im Wald liegt. Zwei Trolle aus Shakespeares Midsummer Night’s Dream treten in Erscheinung. Von William Shakespeare in das deutschtürkische Geschehen auf der Bühne entsandt, sollen sie mit ihren Zaubersprüchen dafür sorgen, dass »der Junge aus der Eselssippe« und das »hold[e] germanisch[e] Mädchen mit Wolf«36 sich beim Aufwachen ineinander verlieben. Aufgelöst wird das Problem weiterhin durch die Rückgabe des gestohlenen Brautgelds. Zum Schluss singen die Figuren gemeinsam aus Bedřich Smetanas Die verkaufte Braut. In diesem Moment nimmt Rotkäppchen ihre Maske ab und dahinter enthüllt sich das Gesicht einer alten Frau. Ähnlich wie in Karagöz in Alamania ist die Anwesenheit des Fremden im Titel codiert. Keloğlan, auf Türkisch »Kahlkopf«, ist in türkischen Märchen und in der Kinderliteratur die Figur eines törichten und dennoch oft gewieften und schlagfertigen Jungen.37 In Keloğlans Geschichten geht es nicht nur um Streiche, sondern auch um seine Träume von Reichtum und dem sozialen Aufstieg. Wird in Karagöz in Alamania die Geschichte der Ankunft des Fremden in Deutschland erzählt, so geht es im zweiten Theaterstück um abstruse Versuche, eine zwanghafte Rückkehr in die Türkei zu verhindern. In beiden Theaterstücken geht es um ein Wandern, und zwar nicht nur von Personen, sondern im Allgemeinen von Literaturerbe, nämlich durch die De- und Rekontextualisierung von tradierten Figuren in (post-)modernen Kontexten. Die zwei Figuren Karagöz und Keloğlan lassen sich außerdem als Metapher für die Situierung von (Volks-)Literatur im literarischen und kulturellen Geschehen in Deutschland lesen. Die erste Szene in Keloğlan in Alamania ist insofern signifikant, als sie die verschiedenen Implikationen des Intertexts verdichtet wiedergibt. Das Auffälligste am Anfang ist der Umstand, dass die Handlung vom deutsch-türkischen Theaterstück mit der Probe eines anderen Bühnenwerks, Giacomo Puccinis Oper Madame Butterfly, beginnt. Erst als die Probe wegen einer Pause der Schauspieler unterbrochen

36 Özdamar, Emine Sevgi: Keloğlan in Alamania oder Die Versöhnung von Schwein und Lamm, Frankfurt a.M.: Verl. der Autoren 1991, S. 25. 37 Außer Özdamar hat der Autor Kemal Kurt die Till-Eulenspiegel-ähnliche Figur dem deutschen Publikum vorgestellt. Vgl. Gisela Ecker (Hg.): Kein Land in Sicht.

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wird, setzt die Geschichte des jungen Deutsch-Türken ein. Özdamar verknüpft gleich zu Beginn des Theaterstücks das Schicksal der Protagonisten ihrer Erzählung mit der Handlung einer Oper, einer Gattung, die zu den stärksten Symbolen europäischer Hochkultur gehört. Diese Szene steht paradigmatisch für die Funktionalisierung von kanonischen Werken, um sich vom Rand ins Zentrum zu bewegen. Dabei ist zu bedenken, dass die Figur Kelkari die Verzahnung der drei Kategorien Gender, Ethnizität und soziale Klasse in der deutschen Gesellschaft repräsentiert. Während sie auf der Bühne bohnert, berichtet sie von ihrer Vergangenheit als Opernsängerin in der Türkei und von ihrer gegenwärtigen Arbeit als Putzfrau im Opernhaus, nachdem sie als Opernsängerin für untauglich gehalten wurde. Ähnlich wie Butterfly soll Kelkari das Frauenopfer darstellen, äfft jedoch stattdessen hinter der Maske jenes anderen orientalischen Frauenopfers die Diskurse über Macht nach. Die Oper, bei der Özdamars Komödie ansetzt, wird als die Verkörperung höchster exotischer und imperialistischer Phantasie verstanden, wie bei Katrin Sieg festgestellt wurde.38 Die weibliche Hauptfigur Butterfly steht für die orientalische Frau, die in Besitz des männlichen Kolonialherren, des amerikanischen Marienoffiziers Francis Blummy Pinkerton, genommen, ›erobert‹ und am Ende von ihm zurückgelassen wird. In Özdamars Theaterstück greifen Kelkari und Keloğlan in die Handlung dieser Oper ein und ironisieren das ›orientalische‹ Opfer erstens durch die komische Verarbeitung bzw. Verspottung des tragischen Themas und zweitens, indem sie das Ende umkehren. Die Macht europäischer Diskurse wird dadurch dezentriert. Die erste Szene steht außerdem exemplarisch für das verdrehte Konzept der ethnischen Verkleidung selbst. Sie ist eine Mimikry des Modells der ethnischen Nachahmung des Anderen. Die Kostümierung ist im Allgemeinen mit Fragen der Macht und der Aneignung verbunden (vgl. Kapitel 3.1.2). Wer darf wen repräsentieren? Und vor allem wie? Die Emanzipation von der Einschränkung auf die Rolle eines Objekts der Darstellung wird in einem ersten Schritt mit dem Recht auf Selbstrepräsentation ausgedrückt. Weitergeführt wird dies in Keloğlan in Alamania mit der spielerischen Nachahmung des ursprünglich im Zentrum stehenden Anderen. Sieg spricht in Bezug auf Özdamars Theaterstück von einer »minstrel mimicry«.39

38 Katrin Sieg: Ethnic Drag. 39 Katrin Sieg: Ethnic Drag and National Identity, S. 315.

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Die Szene der Probe von Puccinis Oper gewinnt in der darauf folgenden Szene eine weitere Bedeutung, als Kelkari im Kostüm von Madame Butterfly beim Putzen zu sehen ist. Hier zeigt sich die bereits besprochene Ambivalenz der Maske. Dieses Bild steht für die Dissonanz der verschiedenen Zugehörigkeiten: Eine türkische Putzfrau, die als Madame Butterfly gekleidet ist, ist eine Repräsentantin der Bourgeoisie und des Proletariats zugleich. Die Konflikte bzw. Gegensätze zwischen den verschiedenen sozialen Klassen werden auf einem weiblichen Körper verhandelt. Das singende Subjekt auf der Bühne, das im Zentrum des Blicks steht, bildet genau das Gegenteil vom verstummten Subjekt in der Peripherie bzw. am unteren Ende der Gesellschaft. Erst nach ihrer Ankunft in Deutschland ist Kelkaris Opernstimme verklungen; d.h. erst nach der Migration wurde sie zum Schweigen gebracht, so dass sie in dieser Szene ihre Präsenz durch die Maske des Anderen artikulieren muss. Die deutsch-türkische Protagonistin ist zum ersten Mal auf der Bühne zu sehen in der Rolle einer ›Anderen‹. Will Kelkari »gehört« werden, dann muss sie sich als Opernsängerin verkleiden und Texte aus europäischen Opern vortragen. Das Nachäffen des orientalischen Opfers Butterfly ist auf einer weiteren Ebene subversiv, da es eine Frau ist, die eine MaskierungsShow aufführt. Die literarischen ›Grenzverwirrer‹ sind überwiegend männliche Figuren, wie z.B. der Harlekin oder der Narr.40 Özdamars Theaterstück ist in dieser Hinsicht anders. Denn mehr als durch die männliche Figur von Keloğlan werden die Düpierungen von Seiten der Mutter Kelkari veranlasst. Ein weiterer Unterschied zur Nachahmung in den Minstrel-Shows besteht darin, dass die Verkleidung in Keloğlan in Alamania Teil der Handlung ist. Es handelt sich um einen intendierten Wechsel von Emblemen konstruierter Ethnizitäten als Teil der Bühnenshow. Dies heißt, dass das Ziel hinter der Verkleidung (Nachäffen, Ironie, Kritik) nur erreicht werden kann, solange das Publikum Zeuge der performativen Verkleidung auf der Bühne ist, während auf der Handlungsebene ein Objekt der Täuschung festgelegt wird (z.B. der deutsche Arbeitgeber). In Bezug auf die geschlechtliche Verkleidung spricht man von Passing und meint eine Kostümierung bzw. ein Crossing, bei der/m

40 Für die weiblichen Trickster vgl. Edith Kern: The Absolute Comic, S. 159169.

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man ›unentdeckt‹ bleibt.41 Im Fall von Keloğlan kann man demnach von einem ethnischen Passing sprechen. Kelkari ist eine Figur, die bereits in Özdamars Karriere einer Putzfrau. Erinnerungen an Deutschland vorkam. In dieser Erzählung berichtet die Protagonistin, ebenfalls eine Putzfrau, von ihrer Vergangenheit als Ophelia. Ähnlich wie in Keloğlan in Alamania wird die Geschichte vom Absturz einer arrivierten Künstlerexistenz in die unterste Sozialschicht erzählt.42 Ophelia und Butterfly sind Figuren des Wahns und des Untergangs, die beide wegen des Verlusts eines Mannes Selbstmord begehen. Durch die Darstellung dieser Figuren suggeriert die Putzfrau in den zwei Theaterstücken zunächst die Gefangenschaft in einer ähnlichen Randposition in einem patriarchalischen oder sozialen Konstrukt sowie die Verbindung zwischen Frau und Wahn. Kelkari dreht das tragische Schicksal, die höchste Resignation und Hingabe von Butterfly und Ophelia um, vor allem durch die groteske Darstellung im Gegensatz zur tragischen Handlung der beiden Prätexte: Kelkari erzählt ihre Geschichte so, als wenn es nicht ihr an Verstand mangelte, sondern der Gesellschaft, die sie marginalisiert und ihren Sohn abschieben will. Nomadentum, Deplatzierung und Generationswechsel In der Figur der Katze Tekir, eventuell aus Ludwig Tiecks Volksmärchen in die deutsch-türkische Handlung eingewandert, kommt der Anthropomorphismus zum Einsatz, ein Stilmittel des Karnevalesken, das bereits in Karagöz in Alamania in der Gestalt des marxistischen Esels vorkam und surreales Geschehen markiert. In der ersten Szene, wo Tekir zu sehen ist, begrüßt sie das Publikum und schildert anschließend in einem komischen Monolog Keloğlans Problem. Gleich zu Beginn der Aufführung wird der Wirbel der Handlung angedeutet. Während Kelkari von ihrer Vergangenheit in der Türkei berichtet, hat Tekir mit den Zuschauern vereinbart, ihnen ein Zeichen zu geben, ob die Aussagen der Putzfrau über ihre erfolgreiche Arbeit als Operndiva wahr sind oder nicht. Tekir ist eine Figur der Verfremdung in der 41 Vgl. Marjorie B. Garber: Verhüllte Interessen, S. 376. 42 In Karriere einer Putzfrau berichtet die Protagonistin, wie sie in ihrer Heimat als Ophelia auf der Bühne stand, während sie in Deutschland nur noch Putzfrau ist. Hinweise auf dieses Theaterstück finden sich in: Kader Konuk: Das Leben ist eine Karawanserei, S. 102-118.

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Tradition Bertolt Brechts. Sie erhebt sich als Erzählerstimme, die auf einer Ebene zwischen der erzählten Bühnenhandlung und dem Publikum steht, und bricht mithin die Bühnenillusion. Tekir übernimmt im Theaterstück außerdem die Rolle eines Übersetzers, allerdings nicht zwischen den Schauspielern und den Zuschauern,43 sondern zwischen den Generationen auf der Bühne. Ohne sie kann keine sprachliche Verständigung zwischen den Repräsentanten der ersten und zweiten Generation stattfinden, da Kelkari nur Türkisch und Keloğlan nur Deutsch spricht. So hört das Publikum wiederholt Aussagen, die ihm unverständlich sind. Hinter der Bi- oder Multilingualität stehen oft Fragen der Ermächtigung, wie wenn sie auf die Präsenz der Sprecher einer ›neuen‹ Sprache aufmerksam macht und die diktierte Sprache der Mehrheit sich als nicht mehr ausreichend für die Darstellung der Migrationserfahrung herausstellt. Die Fremdwörter sind bewusst eingesetzt und als pars pro toto des neu Eingewanderten zu verstehen. Der Mangel an Kommunikation zwischen Kelkari und Keloğlan erinnert außerdem an eine Kette von Entfremdungen, die in verschiedenen Werken Özdamars durchscheinen. Die Kette beginnt mit der Suche der Protagonistin in der Erzählung Mutterzunge nach ihrer »Mutterzunge« bzw. Muttersprache, die während der Migration verloren gegangen ist. Fortgesetzt wird die Suche in der zweiten Erzählung Großvaterzunge, in der die Protagonistin durch das Eliminieren der arabischen Schrift einen Schnitt zwischen ihrer Generation und der Generation ihres Großvaters sowie einen generellen Geschichtsverlust empfindet. Wurde die Kommunikation beim Verlust der Schrift in der (gesprochenen) Sprache konserviert,44 so sorgt in Keloğlan in Alama-

43 Das Phänomen der Bilingualität wird z.B. bei Sieg folgendermaßen verstanden: »While the earlier play [Karagöz], with its many untranslated Turkish passages, seems to address itself mainly to migrant audiences, Keloğlan uses the device of a narrator/translator, the cat Tekir, to make the play accessible to people with no knowledge of Turkish.« Vgl. Katrin Sieg: Ethnic Drag and National Identity, S. 313. 44 Vgl. die Protagonistin in Großvaterzunge: »wenn mein Großvater und ich stumm wären und uns nur mit Schrift was erzählen könnten, könnten wir uns keine Geschichten erzählen«. Özdamar, Emine Sevgi: Großvaterzunge, in: Dies.: Mutterzunge, Berlin: Rotbuch 1993, S. 14.

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nia eine anthropomorphe Figur dafür, dass der Kontakt zwischen Sohn und Mutter erhalten bleibt. Betrachtet man Keloğlan als Fortsetzung der Figuren in Karagöz in Alamania und Mutterzunge, so ist seine Distanzierung von der Generation seiner Eltern eine Fortsetzung eines ganzen Prozesses von Verlusterfahrungen und Loslösungen. In Mutterzunge begibt sich die Protagonistin auf die Suche nach ihrer Muttersprache. In Großvaterzunge wird die Rekonstruktion der Gegenwart der Protagonistin über die Rückkehr zur Sprache des Großvaters, das Arabische, versucht, das im Modernisierungsprozess der Türkei verloren geht. Keloğlan sucht weder Sprache noch Schrift, sondern eine Arbeit. Die (sprachliche) Entfremdung von der Generation seiner Eltern scheint ihm keine Probleme zu bereiten. Seine lose Verankerung in der Generation seiner Eltern wird im Theaterstück symbolisch durch einen Faden dargestellt, mit dem er während der Braut- und Arbeitssuche an seine Mutter gebunden ist, der allerdings abreißt. Die Gegenüberstellung der zwei Figuren im Theaterstück akzentuiert, dass die zweite Generation von Migranten allein über die Generation ihrer Eltern mit dem türkischen Kulturerbe in Verbindung steht. Die Zersplitterung der Familie und die Trennung zwischen der Eltern- und Kindergeneration durch die gesetzlichen Bestimmungen für Ausländer ist ein häufiger vorkommendes Thema in deutschtürkischen Werken, wobei es in der Regel Angehörige der ersten Generation sind, die benachteiligt werden.45 Dies wird in Keloğlan in Alamania invertiert, u.a. auch als Kritik an den stagnierenden Regelungen für Ausländer und am Mangel von Gesetzen, die Migranten der zweiten Generation das Recht auf dauerhaften Aufenthalt garantieren. Das Absurde daran wird hier verdeutlicht, indem die erste Generation das Recht auf Aufenthalt hat, während der zweiten Generation die Abschiebung aus Deutschland droht. Sollten im Laufe der Migrationsgeschichte Themen wie Rückkehr zu einem Ende kommen, so besteht das Außergewöhnliche in Keloğlan in Alamania in der stillstehenden Geschichte, die übersieht, dass es sich gegenwärtig nicht mehr um die erste Generation von Gastarbeitern handelt.

45 Z.B. in Kadir Sözens Film Winterblume. Vgl. S. 220, Anm. 28.

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Ethnische und geschlechtliche Maskeraden Das Nomadentum verläuft im Theaterstück parallel zum Verlust von bzw. zum fehlenden Recht auf Eigentum: Keloğlan verliert, wie bereits erwähnt, Geld und Kleidung; seine Mutter hat ihre Karriere aufgeben müssen. Das einzige Kapital der Figuren sind Masken und Perücken. In Keloğlan sind sie als Kennzeichen der Ethnizität zu verstehen, die ihnen den Zugang in die deutsche Gesellschaft gewähren sollen.46 Betrachtet man die zwei Hauptfiguren Kelkari und Keloğlan, so wird deutlich, dass ihre ethnische Zugehörigkeit sich erst durch den Akt der Verkleidung konstruiert. Ohne Perücke sind Keloğlan und Kelkari glatzköpfig und durch diese Stilisierung bei ihrer Darstellung ethnisch nicht an ihrem Aussehen definierbar. Keloğlans Wunsch nach Teilnahme und Anerkennung äußert sich in Form des Cross-Dressing. Das Scheitern seiner Versuche weist auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Wunsch nach Zugehörigkeit und dem Zwang zur Abgrenzung hin. Allein schon durch die Reduzierung der Anpassung auf die Perücke und die Haarfarbe als Zeichen der Zugehörigkeit wird Ethnizität banalisiert und ironisiert. Gleichzeitig entpuppt sie sich hier als reines Konstrukt oder als Akt der unbeständigen Performativität, der vom biologischen Körper des Subjekts unabhängig ist. Ironisiert wird im Theaterstück die von der deutschen Gesellschaft erwünschte Schattenexistenz deutsch-türkischer Migranten zu Beginn der neunziger Jahre in Deutschland. Indem die Figuren ›fremde‹ Texte sprechen und Insignien von Ethnizität und Geschlecht austauschen, äffen sie die damals angestrebte Assimilation oder Abschiebung von Migranten nach. Der Körper wird zum Träger von Zeichen, die ihm fremde Zugehörigkeiten anzeigen. Das Migrationssubjekt demonstriert somit im Rahmen der aufgeführten Handlung keine restriktive, sondern eine produktive Reaktion auf Machtphänomene und artikuliert seine Präsenz v.a. durch Strategien der Ironisierung von westlichen Aneignungsdiskursen. In bestimmten Situationen erlangt die Verkleidung für Keloğlan die Rolle der Selbstdefinierung. Als Geste der Hilf- und Ausweglosigkeit, vor allem nachdem das Brautgeld geraubt wurde, legt er sich die Perücke seiner Mutter und das Kostüm von Madame Butterfly an und will durch die doppelte, ethnische (orientalische) und geschlechtliche (weibliche) Travestieshow seine höchste Resignation signalisieren. 46 Katrin Sieg: Ethnic Drag, S. 246.

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Wie im Wahn bittet der junge Türke um Hilfe, bevor er vor lauter Verzweiflung in einen Tiefschlaf sinkt, was auch als Zeichen der Ohnmacht in dieser hoffnungslosen Situation zu verstehen ist. Madame Butterfly tritt als wiederkehrendes Motiv auf, als »default setting«47 für die orientalische Unterwerfung vor dem Westen im Allgemeinen und vor den deutschen Bestimmungen im Speziellen. Wenn man bedenkt, dass die Kleidung von Madame Butterfly eigentlich Keloğlans Mutter gehört, dann ist der Wechsel des jungen Türken durch das Cross-Dressing in die Generation seiner Mutter ein ironischer Akt der Travestie. Nach dem Scheitern der Jobsuche unterscheidet sich sein Schicksal, was das Verhaftetsein in der unteren sozialen Schicht betrifft, nicht von dem seiner Mutter: eine Operndiva, die als Putzfrau arbeitet, und ein Breakdancer und DJ, der arbeitslos ist. Interfiguralität und Nomadentum Die Intervention der Figur der Autorin in die Geschehnisse auf der Bühne bildet den coup de théâtre. War die fiktive Handlung bisher komisch und an manchen Stellen grotesk, so wird sie ab diesem Moment im Rahmen des Phantastischen fortgesetzt. Özdamar rundet die erste Hälfte des Theaterstücks ab, indem sie eine Szene aus einem Dokumentarfilm über die Abschiebung eines Ausländers zeigt. Dies wäre, so die Autorin in dieser Szene, das zu erwartende Schicksal Keloğlans. Die Deplatzierung und Destabilisierung findet nicht nur im Modus der Erzählung (grotesk, phantastisch), sondern außerdem auch auf der Ebene der Theatergattung selbst statt. War dies seit dem Anfang der Handlung bereits in vielen Szenen der Fall, so komprimiert sich die Vermischung unterschiedlicher Gattungen ab dieser Episode: Komödie (Midsummer Night’s Dream), Märchen, Tierfabel (Rotkäppchen und der Wolf) und im weiteren Verlauf der Handlung Volkslieder und Opern. Die Gattung wird durch das Alternieren der zitierten Texte und Gattungen, die zum Teil selber synkretistisch sind (wie z.B. die Oper), ständig dynamisiert. Die männliche Ohnmacht wird in dieser Szene der weiblichen Handlungsfähigkeit gegenübergestellt. Denn genau in dem Moment, als Keloğlan in Tiefschlaf versinkt, schaltet sich die Figur der Autorin in die Handlung des Theaterstücks ein und erhebt sich über die Absur47 Ebd., S. 248.

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dität des Bühnengeschehens. Sie erlangt diese Autonomie über die Macht bzw. über die performative Kraft des dichterischen Worts. In dieser Szene wird das Rewriting auf einer Metaebene thematisiert. Die Oralität sowie der Inszenierungscharakter, die bis zu diesem Punkt die Geschichte stark geprägt haben, werden dem Schreibakt gegenübergestellt (das Geräusch einer Schreibmaschine und die Stimme der fiktionalisierten Autorin sind laut Bühnenanweisung in dieser Szene zu hören, der getippte Text wird auf eine Leinwand projiziert). Durch die Wanderschaft in der Shakespeare-Episode wird die Ordnung der Erzählung auf mehreren Ebenen erschüttert. Hier gerät die Zeit- und Raumorganisation in eine anarchische Komposition und die Erzählung in die zeit- und ortlose Struktur eines Traums. Der anarchische Aufbau ist zwar charakteristisch für jede Szene in diesem Theaterstück, da durch die Maskierung und Kostümierung sowie die intertextuellen Verweise die Raum-Zeit-Ordnung durcheinander-gebracht wird. Im Unterschied zur Verkörperung von Madame Butterfly findet sich in dieser Szene jedoch eine besondere Form des Rewriting, die die herrschende Ordnung auf der Theaterbühne verkehrt. Es handelt sich nicht nur um den Querverweis auf den Inhalt von Midsummer Night’s Dream und nicht um die Maskierung als Shakespeare’sche Figuren, sondern um die Belebung und Rekontextualisierung von Figuren aus einem englischen Drama und einem deutschen Märchen in das deutsch-türkische Bühnengeschehen, was hier als »Interfiguralität« bezeichnet wird. In ihr kulminiert die Herrschaft der Autorin über Dramen- und Märchenfiguren. So werden Geschichten aus drei verschiedenen Epochen im Rahmen des Phantastischen nahtlos verknüpft. Sie führen des Weiteren zu einem Anachronismus und Anatopismus auf der Bühne. Dergestalt bleibt die Lokalisierung der Figuren in Zeit und Raum unmöglich. Diese Aufhebung der zeitlichen Norm und der Wald als Bühnenbild führen Keloğlan in eine Ur-Wildnis, wo er zudem die Bekanntschaft mit einer märchenhaften Figur macht. Der Primitivismus in dieser Szene markiert eine favorisierte westliche Phantasie vom barbarisch Anderen, der als Bewohner eines Dschungels imaginiert wird. Keloğlan befindet sich in einer Raumorganisation, die im Gegensatz zur zivilisatorischen ›Außenwelt‹ – in der die Handlung vorher verortet war – steht; er verlässt sie jedoch und darf in die städtische Ordnung zurückkehren.

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Was die Ortlosigkeit in dieser Episode betrifft, so wird die geographische Landkarte derangiert bzw. durch die Aufhebung der Grenzen neu kartiert. Die geographische Grenzziehung ist ein Zeichen der Macht. In der Zeit der imperialistischen Expansion wurden die Demarkationslinien allein vom Kolonialherrn festgelegt, woraufhin sich Nationen formten, die sich selber nicht unbedingt als einheitliche Völker betrachteten.48 Die Shakespeare-Szene verläuft im Theaterstück ähnlich, mit dem einzigen Unterschied, dass die Grenzziehung von einer marginalisierten Figur unternommen wird und als mokante Art des Writing Back zu verstehen ist. Nicht zu vergessen ist, dass die Herrschaft der Autorin über die ›geographische Gestaltung‹ der Bühne zu Beginn der neunziger Jahre stattfindet, d.h. parallel zur Neuformierung der deutschen Landkarte nach der Wiedervereinigung. In dieser Episode tritt der Unterschied zwischen Migration und Nomadentum hervor: Während eine Gefangenschaft in inneren Räumen Kelkaris Dasein durchzieht (Opernhaus, Familienhaus), verbindet sich Keloğlans nomadenhafte Existenz mit einer sich permanent wandelnden Struktur, die sich durch wechselnde Orte (Straßen, Wald sowie einige Szenen am Bahnhof, im Supermarkt) ausdrückt. Wenn sich Anhaltspunkte während der Wanderschaft vorfinden, bilden sie für die wandelnde Figur keine festen Bezugsorte. Keloğlans Schicksal wird durch ein ständiges Flanieren bestimmt. Keloğlans Präsenz als Nomade vor allem in dieser zeitlosen Szene führt zur Destabilisierung des Körpers der sich formenden vereinigten Nation. Als Repräsentant der zweiten Generation von Migranten erinnert er durch seine Anwesenheit daran, dass die Erweiterung der Grenzen der Nation in Erwägung gezogen werden soll. Der Status des wandernden deutsch-türkischen Jungen bildet in dieser Episode außerdem das Negativbild zum Projekt des Nationalstaats. Das heißt, sein Nomadentum steht der Polis gegenüber, verstärkt durch das Bühnenbild in dieser Episode sowie die Kontrastierung zu den Schauplätzen der Handlung in der ersten Hälfte (Opernhaus, Familienhaus sowie verschiedene städtische Stationen während der Arbeitssuche). Durch seine Wanderschaft ist Keloğlan der ›Andere‹ der Nation bzw. im nationalen Gefüge. Befindet sich die Gesellschaft in einer Umbruchsphase, während der Nation, Grenzen und Heimat neu definiert werden,

48 McClintock, Anne: Imperial Leather, New York: Routledge 1995, S. 2836.

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so ist er als Kehrseite dieses Körpers zu verstehen. Durch seine Präsenz und sein Schicksal werden viele Gegensätze der damaligen Zeit offenbar, wie z.B. die Heimatgründung im wiedervereinigten Deutschland und die Heimatlosigkeit, im Fall des Theaterstücks, des deutschtürkischen Jugendlichen. Ehenhandel und Nationenbildung Das Thema der Brautsuche als Problemlösung ist in den deutschtürkischen Werken genauso alt wie die künstlerische Produktion von Migranten selbst und steht im Kontext von Özdamars Theaterstück für den Wunsch nach Einheit mit dem national Überlegenen im sozialen Konstrukt.49 Eingewoben wird dieses Sujet in Özdamars Theaterstück sowohl thematisch als auch durch den intertextuellen Verweis über das wiederholte Singen aus Bedřich Smetanas Die verkaufte Braut. Die Suche nach Territorium und Recht auf Aufenthalt wird mit einem Projekt der Eheschließung verzahnt. Die Implantation des Fremden kann im Theaterstück nur im Rahmen der privaten Gemeinschaft erfolgen. Erst durch die Eheschließung kann von Zugehörigkeit und Heimatgründung die Rede sein. Es handelt sich dabei nicht nur um die Politisierung von Privatem, sondern auch um die Ökonomisierung der Ehe. Diese Eheschließung ist durch die Symbolik der Heiratsszene jedoch als defizitär markiert. Keloğlan heiratet eine märchenhafte Figur, die in der letzten Theaterszene ihre Maske ablegt und sich als alte Frau entpuppt und somit die erreichte Kohäsion nicht bewahren kann. Die erste Aussage durch die Heirat mit einer Märchenfigur lautet, dass es diese Nation nicht gibt: Sie ist ein Traum oder ein Phantasma. Im Moment der Demaskierung verlässt die Handlung den Bereich des Märchenhaften und kehrt in die Ebene der ersten Hälfte des Theaterstücks zurück. Das Theaterstück verweist ab diesem Moment auf die Impotenz der Nation. Das Motiv der Heirat mit einer alten Frau kehrt steht hier für die Unfruchtbarkeit der Nation. Diese (Un-)Fruchtbarkeit verweist auf die Pathologie des politischen Körpers, der nicht in der Lage ist, einen seiner Bestandteile in den großen Organismus zu integrieren. Aufgrund ihrer Erkrankung befindet sich die Nation noch nicht bzw. nicht mehr in einem vermählungs- (Rotkäppchen als Märchenfi49 Beispiele dafür sind Yasemin Şamderelis Film Alles getürkt oder Stefan Holtz’ Meine verrückte türkische Hochzeit.

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gur) und gebärfähigen (die bejahrte Frau) Zustand, durch den erst die Aufnahme des Anderen möglich wird. Das als fremd empfundene Organ wird verdrängt bzw. als amputiert imaginiert, was als Zeichen des Scheiterns der Machtapparate zu verstehen ist. Bei Özdamar wird die Nation demnach als weiblich dargestellt – eine Umkehrung der Phantasie von Deutschland als kriegerischem Mann. Der Zutritt in die Nation wird als sexuelle Metapher imaginiert, bei der der männlich Andere seine Potenz im Traum von der Vermählung und Einheit mit der Nation beweisen will. Analog zur imperialistischen Phantasie von der Eroberung des Anderen ist die Vermählung demnach als Metapher für die männliche Macht des Eingewanderten zu verstehen. Neu ist im Theaterstück, dass die Phantasie am Rand der Gesellschaft erdichtet und ironischerweise mit der Impotenz der weiblichen Partnerin bzw. der Nation erwidert wird. Trotz ihrer Zeugungsunfähigkeit bleibt die weibliche Nation nicht nur ein Objekt des Begehrens, sondern sogar der stärkere und Entscheidungen fällende und tragende Kompagnon. Der dargestellte Ehenhandel hat sich in der Gesellschaft fast zur Norm erhoben, denn Keloğlan ist nicht der einzige Bräutigam auf der Suche nach Aufenthalt: In einer Rahmenhandlung, die parallel zum märchenhaften Geschehen in der Shakespeare-Episode verläuft, glaubt Kelkari ein »Plem-Plem-Mädchen« als Braut für ihren Sohn gefunden zu haben, die durch das Manko ihres fehlenden Verstands gekennzeichnet ist, d.h. ebenso einen funktionalen Zusammenschluss markiert, in dem die Ehe im Dienst des Politischen und nicht der Liebe steht. Es stellt sich außerdem heraus, dass sie bereits an einen türkischen Bühnenarbeiter »verkauft« worden ist.50

50 Dem Projekt der Nationenbildung steht oft im deutsch-türkischen Kontext der Versuch entgegen, eine Nation innerhalb der Nation zu gründen. Vor allem die Elterngeneration strebt in diesem Fall die Konstruktion einer ›reinen‹ türkischen Gemeinschaft an. Die Eheschließung mit dem europäisch ›Anderen‹ steht für eine ›Kontamination‹ eines als türkisch konstruierten Apparats. In den meisten Fällen ist der weibliche Körper das Objekt der Begierde und trägt zugleich die Verantwortung für die Pflege einer türkischen ›Reinheit‹, um den ›Autonomieverlust‹ durch die Konservierung einer türkischen Identität bzw. nationalen Zugehörigkeit zu verhindern. Auch dieses Thema wurde in mehreren populären Filmen humoristisch verarbeitet, wie z.B. in Sinan Çetins Berlin in Berlin (1993) sowie in

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Das politische Projekt der damaligen Zeit, dem absolute Priorität eingeräumt wurde, bestand allein in der Integration von Ostdeutschland in den Westen. Unter diesen Umständen wurde das ausländische Organ als Fremdkörper empfunden, obwohl es bereits seit mehreren Jahrzehnten Teil des sozialen, kulturellen und politischen Geschehens (auch in Westdeutschland) war. Aufgrund einer bezweckten sozialen Sterilisation wird dieser Fremdkörper im Theaterstück aus der Gesellschaft entfernt, entweder durch seine Marginalisierung (Kelkari) oder durch seine Abschiebung (Keloğlan), obwohl dieser Fremdkörper jedoch nicht so fremd ist, wie er erscheinen mag, sondern trotz seiner Unerwünschtheit einen Teil der Gesellschaft bildet. Das Projekt der Nationenbildung, das sich in dieser Szene realisiert, erfolgt in einer Traumszene, die das Geschehen beim Erwachen in die Welt des Märchenhaften münden lässt. Das Märchen wird zu einer Ersatzbefriedigung, zur Triebkraft der Nation. Die surreale Szene endet mit dem gemeinsamen Singen aus der verkauften Braut zusammen mit dem Publikum, als wäre die Eheschließung zur Nationalhymne geworden und stände im Zeichen eines aufgeweckten Patriotismus. Auch hier erklingt im Hintergrund der Traum von einer einheitlichen Nation.

4.2 H EILIG , PROFAN , DIFFAMIERT . Z UR K ONSTRUKTION WEIBLICHER MUSLIMISCHER I DENTITÄT IN F ERIDUN Z AIMOGLUS UND G ÜNTER S ENKELS S CHWARZE J UNGFRAUEN (2006) Seit der Jahrtausendwende zeichnet sich ein Wandel bei der Darstellung der Figur der muslimischen Frau in deutsch-türkischen Produktionen ab. In der ersten Phase der Betroffenheit ist diese Figur entweder ein Objekt der Unterdrückung in einem patriarchalischen Konstrukt oder in einem fremden Alltag, wie an verschiedenen Stellen der vorliegenden Arbeit z.B. in Bezug auf Saliha Scheinhardts Schreiben bereits angemerkt wurde. Im Rahmen der Hinwendung zu transkulturellen Themen erlebt diese Figur eine Erneuerung als selbstbestimmtes den bereits erwähnten Filmen Meine verrückte türkische Hochzeit (2006) von Stefan Holtz oder Yasemin Şamderelis Alles getürkt (2002).

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Subjekt. In der Literatur zeigt sich dies etwa in Form von LifestyleRomanen, der sogenannten »Chick-Lit«,51 oder der Culture-ClashFilmcomedy, wie z.B. in Yasemin Şamderelis Alles getürkt! von 2002. Parallel zu dieser Tendenz findet eine (Selbst-)Darstellung durch ein aufkeimendes Bewusstsein über die Selbstdefinierung in der Religion statt. Im Vordergrund steht nicht die (Selbst-)Repräsentation als Türkin, sondern als Muslimin. So startete ungefähr zur gleichen Zeit wie die Premiere von Schwarze Jungfrauen im Jahre 2006 auf ARD die Familienserie Türkisch für Anfänger, in der die Figur der radikalen Muslima in einer Patchwork-Familie in der dritten Generation von Migranten vertreten wird.52 Weniger populär ist eine weitere Serie, die 2005 auf RTL ausgestrahlt wurde. Alle lieben Jimmy dreht sich um eine türkische Mittelstandsfamilie, unter deren Mitgliedern sich eine strenge Muslimin findet, die den anderen Figuren gegenübergestellt wird. In beiden Serien wird diese Figur in einem Comedy-Format gezeichnet. Sie repräsentiert sich nicht nur selber, sondern ist im Weiteren ein autonomes Subjekt des Lachens.53 Auch bei Feridun Zaimoglu kommt die Figur der radikalen Muslima als Protagonistin in verschiedenen Büchern vor, wie im Folgenden ausführlicher besprochen wird. In seinem Theaterstück Schwarze Jungfrauen wandelt sich der humorvolle Ton, wie er in den beiden Serien angeschlagen wird, in einen gewaltsamen, hasserfüllten Ton: In diesem neuen Ton besteht der wesentliche Unterschied zur bisherigen Darstellung der muslimischen Frau. Zaimoglus Theaterstück steht

51 Vgl. Kapitel 2.2. 52 Türkisch für Anfänger handelt von der deutsch-türkischen PatchworkFamilie Schneider-Öztürk, einem Mikrokosmos der deutschen Gesellschaft. Die bisher drei gedrehten Staffeln sind eine komische Überzeichnung des gegenwärtigen Zusammenlebens in Deutschland. Vor allem in der ersten Staffel basiert die Komik des kulturellen Zusammenpralls in der Kindergeneration auf der Aufnahme von Klischees und der Ironie als Stilmittel. Unter den türkischen Familienmitgliedern wird die Strenggläubigkeit in der weiblichen Figur codiert – sie trägt ein Kopftuch und hält sich an islamischen Vorschriften wie Beten und Fasten –, während die zwei männlichen Figuren des Vaters und Bruders weniger in diesem islamischen Kontext leben. 53 Mehr zu den beiden Serien findet sich in: Karin E. Yeşilada: TurkishGerman Screen Power, v.a. S. 84-94.

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demnach für eine künstlerische Orientierung, die genau das Gegenteil zum bereits erwähnten neuen literarischen Trend der Harmlosigkeit junger Autorinnen der »Chick-Lit alla turca« signalisiert: Seine Rednerinnen wollen keinesfalls friedlich sein, sondern im »Neo-Islam« ein modernes Inferno gründen. Die Aussagen in Schwarze Jungfrauen sind »politischer Zündstoff«.54 Zaimoglu tritt somit als »Bürgerschreck«55 auf. 4.2.1 Karnevaleske Posen und Tendenzen im Werk von Zaimoglu Neben Emine Sevgi Özdamar gehört Feridun Zaimoglu zu den renommiertesten deutsch-türkischen Autoren in Deutschland. Mit seinem Debütwerk Kanak Sprak. 24 Mißtöne aus dem Rande der Gesellschaft hat er sich als Kultautor etabliert. Für dieses Buch hat der Schriftsteller Interviews mit deutsch-türkischen Migranten der zweiten Generation in Deutschland geführt. Die Frage, die er ihnen gestellt hat, war, wie es sich als ›Kanake‹ in Deutschland lebt. Nach der Beendigung der Interviews begann die schriftstellerische Arbeit: Zaimoglu transformierte die Aussagen der ›Kanaken‹ in die literarisierte Kunstsprache der ›Kanak Sprak‹, »eine Art Creol oder Rotwelsch mit geheimen Codes und Zeichen«.56 Sie bezeichnet eine hybride Mischung aus unterschiedlichen Dialekten, Anglizismen und sonstigen Sprachinterferenzen, lebt von Bildern und Metaphern, die weder das Türkische noch das Deutsche in dieser Form kennen. Die Sprache versucht zu-

54 Keck, Annette: »Pop is ne fatale Orgie«. Zu Konstruktion und Produktivität der Figur des ›Kanaken‹ in Gegenwartsliteratur und Populärkultur, in: Beise, Arnd/Hofmann, Michael/Rector, Martin et al. (Hg.): Peter-WeissJahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert, St. Ingbert: Röhrig 2007, S. 103-118, hier S. 103. 55 Mecklenburg, Norbert: Karnevalistische Ästhetik des Widerstands. Formen des Gesellschaftlich-Komischen bei Emine Sevgi Özdamar, in: Beise, Arnd/Hofmann,Michael/Rector,Martin et al. (Hg.): Peter-Weiss-Jahrbuch für Literatur, Kunst und Politik im 20. und 21. Jahrhundert, St. Ingbert: Röhrig 2007, S. 85-102, hier S. 96. Die Aussage bezieht sich auf Kanak Sprak. Dies gilt auch für die vorige Anmerkung. 56 Zaimoglu, Feridun: Kanak Sprak, Hamburg: Rotbuch 1995, S. 13.

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dem, den mündlichen Gestus der Sprecher nachzuahmen.57 Die Arbeit, die Zaimoglu dabei als Verfasser geleistet hat, bezeichnet er im Vorwort zu seinem Buch als »Übersetzung«, oder »Nachdichtung«, die der »Folklore-Falle«58 des gewöhnlichen ›Kanaken‹-Geredes auf den Straßen entgehen will. Die Interviews sind als Monologe erschienen, in denen die ›Kanaken‹ die abwertende Bezeichnung umcodieren und sie als ›Raum‹ für ihre Entfaltung nutzen: »Das verunglimpfende Hetzwort wird zum Identität stiftenden Kennwort.«59 Die Aussagen umfassen Versuche der Selbstbehauptung jenseits der nationalen Zuordnung zur Generation ihrer Eltern oder der deutschen Gesellschaft. Mit diesem literarischen Experiment positioniert sich Zaimoglu als ›Hermes‹ zwischen einer marginalisierten Gruppe, die trotz ihrer spitzen Töne nicht gehört wird, und dem Zentrum des literarischen und kulturellen Geschehens.60 Nach dem ersten Buch folgten mehrere Werke, die methodisch ähnlich angelegt sind. Abschaum. Die wahre Geschichte des Ertan Orgun (1997) entstand nach dem Vorbild der Essays in Kanak Sprak, dreht sich allerdings um das Leben eines einzigen ›Kanaken‹ im gefährlichen Kieler Drogenmilieu.61

57 Ebd., S. 15. 58 Ebd., S. 14. 59 Ebd., S. 17. 60 Als Kanak Sprak im Jahre 1995 erschien, waren vor allem die subversive Sprache der interviewten Gruppe und der Akt der Selbst-›Kanakisierung‹ eine große Provokation in der öffentlichen Debatte über Migration. Im Jahre 1998 wurde die ›Kanak Attak‹-Bewegung ins Leben gerufen, zu deren Gründungsmitgliedern Zaimoglu gehört. In ihrem Manifest heißt es: »Kanak Attak ist der selbstgewählte Zusammenschluss verschiedener Leute über die Grenzen zugeschriebener, quasi mit in die Wiege gelegter ›Identitäten‹ hinweg. Kanak Attak fragt nicht nach dem Paß oder nach der Herkunft, sondern wendet sich gegen die Frage nach dem Paß und der Herkunft. Unser kleinster gemeinsamer Nenner besteht darin, die Kanakisierung bestimmter Gruppen von Menschen durch rassistische Zuschreibungen mit allen ihren sozialen, rechtlichen und politischen Folgen anzugreifen.« Vgl. www.kanak-attak.de/ka/about.html. 61 Vgl. Zaimoglu, Feridun: Abschaum. Die wahre Geschichte von Ertan Ongun, Hamburg: Rotbuch 1997. Das Buch wurde 2001 von Lars Becker unter dem Titel Kanak Attack verfilmt.

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In den ersten zwei Büchern beschränkte sich die Darstellung auf die Welt der Männer. Zaimoglu stellt im Vorwort zu Kanak Sprak fest, dass die türkische Frau »unter Hausarrest [steht], von der Außenwelt abgeschnitten und für jeden Fremden, somit auch für mich, unerreichbar«.62 Zaimoglu stärkt somit das Klischee von der Isolation der türkischen Frau. Als Deutsch-Türkinnen jedoch eine »weibliche Sichtweise«63 forderten, folgte eine »Frauenversion« des Experiments. Im Jahr 1998 erschien Koppstoff, wiederum eine Sammlung von essayähnlichen Monologen. Während die Sprecher in Kanak Sprak nicht nur als Türken, sondern meistens auch durch ihre Tätigkeit (Rapper, Zuhälter, Gigolo) am Rand der Gesellschaft stehen, kommt in Koppstoff eine soziale Gruppe zu Wort, die einen Widerspruch zum proklamierten »Hausarrest« darstellt (Schriftstellerin, Abiturientin, Dolmetscherin). In Koppstoff ist ein eindeutiger Unterschied zum sprachlichen Gestus der ›Kanak-Sprak‹-Männerwelt zu bemerken. Eingeleitet werden die Monologe außerdem mit einer kurzen Beschreibung, wie das ›Ich‹ die interviewten Frauen kennengelernt hat.64 In den drei erwähnten Werken kommen karnevaleske Elemente vereinzelt vor, wie z.B. die Sprache in Kanak Sprak, die aus einer Überfülle von Schimpfwörtern, Schmähungen und obszönen Beschreibungen besteht. Die Figur des ›Kanaken‹ ist des Weiteren als Hyperbel karikiert, durch die Zaimoglu in einer Art ›Kanakenmaskerade‹ die alten Stereotype gegen die Figur des ›Kanaken‹ überspitzt. Den größten subversiven Akt in Kanak Sprak bildet die ›Selbstkanakisierung‹, die als »karnevalistische Dämonisierung«65 bezeichnet wird. Durch die Umkehrung aller sonst herrschenden Verhältnisse können sich die ›Kanaken‹ rehabilitieren bzw. vom Schriftsteller rehabilitiert werden. Das gesamte literarische Programm in diesem Buch ist als Mimikrystrategie zu verstehen, bei der die Sprecher sich in ihrer Tarnung in etablierten Machtapparaten bewegen.

62 Feridun Zaimoglu: Kanak Sprak, S. 15. 63 Zaimoglu, Feridun: Koppstoff, Hamburg: Rotbuch 1999, S. 9. 64 Mehr dazu findet sich in: Annette Keck: »Pop is ne fatale Orgie«. 65 Wertheimer, Jürgen: Kanak/wo/man contra Skinhead – zum neuen Ton jüngerer AutorInnen der Migration, in: Blioumi, Aglaia (Hg.): Migration und Interkulturalität in neueren literarischen Texten, München: Iudicium 2002, S. 130-135, hier S. 134.

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Auch die pornographischen Beschreibungen und die grotesken Darstellungen des Körpers in Kanak Sprak bilden einen Aspekt des Karnevalesken, den Fachinger in ihrer Analyse der Essays unter dem Begriff des grotesken Realismus bespricht,66 wobei das Groteske in diesem Kontext das Abschreckende, Furchterregende meint.67 Ein weiteres karnevaleskes Phänomen findet sich in Kopf und Kragen. Kanak-Kultur-Kompendium, das 2001 erschienen ist. Das Buch ist eine Sammlung aus bereits veröffentlichten Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln des Autors. Den fiktiven Teil des Buchs bilden vier Gruppen von Interviews unter dem Titel »Um Kopf und Kragen: Galaxy im Gespräch«. In den Gesprächen mit Herrn Galaxy kommen zum Teil real existierende, zum Teil fiktive Figuren unter einem ›Tarnnamen‹ zu Wort. Für die Persiflagen hat Zaimoglu Missgestalten kreiert, um seine Kritik z.B. an der Popliteratur, der Integrationsdebatte, aber auch ganz allgemein am Spießbürgertum zu äußern.68 Die Interviews sind Rededuelle, die vor allem durch den parodistischen, schmähenden Bezug zu vorangegangenen Texten karnevalistisch arbeiten, z.B. durch die fäkale Sprache und die groteske Darstellung der Figuren.69

66 Fachinger, Petra: Writing Back to Liberal Discourse. Feridun Zaimoglu’s Grotesque Realism, in: Dies.: Rewriting Germany from the Margins. »Other« German Literature of the 1980s and 1990s, Montreal: McGillQueen’s Univ. Press 2001, S. 98-111, v.a. S. 104f. 67 Zur Differenzierung der Groteske bei Michail Bachtin und Wolfgang Kayser vgl. Kapitel 3. 68 So erscheint der deutsche Satiriker Wiglaf Droste unter dem Namen Iglav Borste, während Benjamin von Stuckrad-Barre Tassilo von Talkau-Marl heißt. Aber auch ein »Herr Tarntürk« und »Herr Zett« tritt in Erscheinung, die wahrscheinlich Zaimoglu selber sind. Vgl. Zaimoglu, Feridun: Kopf und Kragen. Kanak-Kultur-Kompendium, Hamburg: Rotbuch 2001. 69 So bildet z.B. eine Glosse, die der deutsche Satiriker Droste 1998 in der TAZ unter dem Titel »Elefanten im Paul-Celan-Laden« verfasste, den Hintergrund für das fiktive Interview mit Iglav Borste. Diese ist eine Verspottung des deutsch-türkischen Autors, der im Zeitungsartikel u.a. als »Ghetto-Darsteller« oder »Kieler Salontürke« bezeichnet wird. Im Interview in Kopf und Kragen nimmt Herr Galaxy zum größten Teil Bezug darauf und zahlt Borste die Schmähungen mit der gleichen Münze heim, indem er ihn als »überbackenes Gipsklößchen« oder »Grunzgeschöpf« beschreibt.

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Zwischen Kanak Sprak und Schwarze Jungfrauen hat sich das literarische Programm des Schriftstellers nur wenig geändert. Zaimoglu behält seine ›empirische‹ Methode bei, die er in den Essay/InterviewWerken angewandt hat.70 Schwarze Jungfrauen besteht aus zehn semidokumentarischen Monologen, die sich an Interviews als Vorlage orientieren, die Feridun Zaimoglu und Günter Senkel angeblich mit muslimischen Frauen geführt haben und die anschließend von Zaimoglu literarisiert wurden. 71 Neu ist nun die Gruppe der Interviewten, die keine Türkinnen, sondern allgemein Musliminnen umfasst, sowie die formale Gestaltung als Theaterstück. Die in Theater heute gedruckte Version, die für die Analyse in der vorliegenden Arbeit herangezogen wird, besteht lediglich aus den gesprochenen Monologen und beinhaltet z.B. keine Bühnenanweisungen. Die Schauspielerinnen sind auf der Bühne einheitlich gekleidet. Erst über die biographischen Angaben, die in ihrer Rede verteilt sind, werden die Rednerinnen als Individuen identifiziert, allerdings nicht durch eine fiktive Namensgebung, sondern durch ihre religiöse Orientierung (Konvertierte), Nationalität (Bosnierin) oder ihre Lebensweise (Partymädchen).72 Das Theaterstück wurde für das Theaterfestival Beyond Belonging – Migration² geschrieben, das von der deutsch-türkischen Theaterregisseurin Shermin Langhoff kuratiert wurde. Die Premiere fand am 17. März 2006 am Berliner Theater »Hebbel am Ufer« statt. Die Regie führte der Kreuzberger Filmregisseur Neco Çelik. Das Festival, an dem die Regisseure Ayşe Polat und Tamer Yiğit, die Schauspielerin und Sängerin Idil Üner und andere mitgewirkt haben, nutzt die Thea-

70 So werden im Folgenden Zaimoglus Werke bezeichnet, die methodisch ähnlich verfahren, d.h. auf Interviews basieren, die vom Autor geführt werden und nach ihrer literarischen Transformation in Essayform erschienen sind. Das sind Kanak Sprak, Koppstoff, Abschaum und das Theaterstück Schattenstimmen. 71 Schwarze Jungfrauen ist nicht die erste Kooperation zwischen den zwei Autoren. Im Jahre 2003 wurden Ja. Tu es. Jetzt, Casino Leger sowie eine Bearbeitung von Othello aufgeführt. 2004 folgte Halb so wild und 2006 − kurz vor der Uraufführung von Schwarze Jungfrauen − brachten Senkel und Zaimoglu eine Bearbeitung von Romeo und Julia auf die Bühne. 72 Im Folgenden wird die gedruckte Version der Monologe, erschienen in Theater heute, zitiert und mit Aussagen aus dem gleichnamigen Hörbuch ergänzt.

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terbühne als Schnittstelle zwischen Kunst und Politik. Dafür wurde die Figur der »Neo-Muslima« kreiert, eine Bezeichnung, unter der Zaimoglu die religiös-kulturelle Orientierung der interviewten Frauen zusammenfasst.73 Demgemäß formt sich die Gruppe in Schwarze Jungfrauen nicht durch die Umcodierung des Schimpfworts in einen Namen, wie z.B. bei der Bezeichnung als ›Kanake‹. Stattdessen handelt es sich um eine palimpsestartige Formung: Der »Neo-Islam« knüpft an Früheres an und grenzt sich zugleich davon ab. Der neue Name meint auch die Wiederbelebung von alten Ansichten, die bei ihrer Wiederkehr eine Veränderung erfahren bzw. zeitgemäß angepasst werden, wie sich z.B. im Teil über die Ökonomisierung von Heiligem zeigt. Beyond Belonging umfasst Geschichten jenseits von Grenzen sowie die Suche nach Themen, die in einer Phase nach den Debatten über Zugehörigkeit aktuell werden. In Schwarze Jungfrauen geht es in der Tat nicht mehr um die Themen der Inklusion oder Exklusion. Stattdessen positionieren sich die Sprecherinnen mit ihrer radikalen Rede freiwillig am Rand der Gesellschaft und proklamieren ein ›neues‹ Dasein muslimischer Frauen. Das heißt, Zaimoglu beteiligt sich am Projekt ›Jenseits von Zugehörigkeit‹ mit einem Beitrag über die islamische Gegenwart Europas. Das »Neo« ist das subversive Element im Theaterstück, denn es steht für radikale, hasserfüllte, schmähende, pornographische Ansichten der interviewten ›Jungfrauen‹. Der Islam wird zu einer Form der Abgrenzung, der Selbstdefinierung sowie der Betonung von Differenz. Mehrere der interviewten Jungfrauen identifizieren sich erst über ihren Glauben (als »bekennende Muslima«). An dieser Stelle kann diese ›neue‹ religiöse Selbstpositionierung in einer Aussage von einer der interviewten Frauen zusammengefasst werden: »[…] ich weiß doch, dass ich Zumutung gegen Vermutung setze, ihr glaubt, zu wissen, wie ich bin, und ich spreche dagegen an, um einen richtig vulgären Eindruck zu hinterlassen.«74 Die Aussage ist paradigmatisch für das agonale Prinzip der meisten Reden im Theaterstück. Die Monologe sind in Form eines Rededu-

73 Behrendt, Eva: »Mal sehen, was Gott sagt«. Ein Gespräch über Glauben, Frauen und die Notwendigkeit der Aufklärung mit dem Filmregisseur Neco Çelik, der am Berliner HAU Zaimoglus »Schwarze Jungfrauen« inszenierte, in: Theater heute 2006, S. 43-45, hier S. 44. 74 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen, S. 52.

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ells konzipiert. Die Ansichten der »Neo-Muslimas« sind mithin ein Gegendiskurs, der auf eine herrschende Macht antwortet. Der »NeoIslam« existiert demnach nicht in dieser Form als solcher, sondern entsteht als Reaktion auf Gesellschaftsdiskurse. Auf den Namen Migration hoch zwei wird eine Minderheit getauft, die sich sowohl von der Generation der Eltern sowie von der deutschen Gesellschaft abgrenzt. Migranten hoch zwei bezeichnet die Migranten, »die die eigenen Wanderungsbewegungen und die der Eltern und Großeltern reflektieren und analysieren und dabei oft zu anderen Schlussfolgerungen als den im offiziellen politischen Diskurs favorisierten Schlagworten wie Multikulturalität und Integration gelangen«.75

»Neo-Islam« bezeichnet außerdem eine Minderheit in der Minderheit, da sie sich in erster Linie über ihre Nonkonformität kennzeichnet. War diese Randstellung in Keloğlan in Alamania erzwungen, so markiert sie in Schwarze Jungfrauen eine freiwillige Selbstpositionierung, die durch den Extremismus von Ansichten und Rede gelingt. Der Generationenwechsel soll außerdem radikaler in den Mittelpunkt gestellt werden. Die jetzige Generation, für die Deutschland das Zuhause ist, erinnert daran, dass es sich nicht mehr um Zugewanderte handelt. Ein Beispiel für den Wandel zwischen den Generationen bildet die in den sechziger Jahren fremde, ›mitgebrachte‹ islamische Religion, die u.a. durch die jetzige Generation zu einem Teil der deutschen Gesellschaft geworden ist. Auch hier zeigt sich, dass der ›Glaube‹ keine religiöse Orientierung, sondern eine sozio-politische Haltung bezeichnet, mit der die muslimischen Frauen ihre ›Sonderstellung‹ in der Gesellschaft formulieren. Diese Entscheidung des Autors, eine Form der Identität in der Religion zu gründen, steht für eine notwendig gewordene DeEthnisierung: Religion anstatt Nation. Letztere kann vor allem in der jetzigen Phase der Migration in vielen Fällen nicht mehr der Selbstpositionierung und -differenzierung dienen. Aus diesem Grund wird ein ›neues‹ Unterscheidungsmerkmal gesucht.

75 Mustroph, Tom: Jenseits der Zugehörigkeiten, in: Neues Deutschland vom 4.11.2009. Eigene Hervorhebung.

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Die Anwesenheit einer konvertierten Deutschen unter den interviewten Frauen zeigt, wie die religiöse Identität im Gegensatz zur nationalen nicht nur als Stimme aus der Peripherie ertönt, sondern auch aus dem Zentrum der deutschen Gesellschaft schmettert. Die Gruppenzusammensetzung stellt heraus, dass die Marginalisierten das Zentrum der Gesellschaft nicht unverändert gelassen haben. In dieser neu geformten Gruppe vermischen sich ›fremde‹ und deutsche Namen. Der nationale Hintergrund spielt somit eine kleinere Rolle, da der Akzent auf das Praktizieren der Religion verschoben wird. Ähnlich wie bei seinen bisherigen Essay/Interview-Werken stellt sich hinsichtlich der Vorarbeiten zum Theaterstück die Frage, wer überhaupt in den Monologen spricht und inwiefern die originale Version geändert wurde. Handelt es sich in der Tat um biographische Aussagen, die von »Neo-Muslimas« stammen, oder ist es der Autor Zaimoglu selbst, der in diesem Fall einen männlichen voyeuristischen Blick in eine fern gebliebene weibliche Welt wagt? Und handelt es sich bei diesem literarischen Experiment nicht um die Exotisierung der Peripherie u.a. durch das stellvertretende Sprechen des männlichen Autors?76 Inwieweit haben die ursprünglichen Aussagen bei der Neudichtung bzw. Literarisierung eine Verschiebung erfahren? Und inwiefern ist die Stimme des Erzählers durch den Prozess der Transformation in den Aussagen zu hören?77 Es besteht sogar Grund zur Annahme,

76 Sieg stellt fest: »In the eyes of the press, the playwright’s claim to give voice to a social group that is at the center of ideological debates but has not previously articulated itself warrants the German public’s attention for that very reason; not one reviewer wondered why women who are such eloquent critics of male privileges would petition a man to speak for them.« Vgl. Sieg, Katrin: Black Virgins: Sexuality and the Democratic Body in Europe, in: New German Critique 109 (2010), S. 147-185, hier S. 171f. 77 Vgl. hierzu auch das Interview mit dem Regisseur des Theaterstücks Neco Çelik: »Aber die Art und Weise, wie sie [die ›Neo-Muslimas‹] reden, das ist schon Feridun. Der legt ihnen das in den Mund. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie so reden. Natürlich geht es um Fetzen aus ihrer Gedankenwelt, die Feridun dann gepusht und zum Schäumen gebracht hat. Eine linksintellektuelle Türkin hat mir nach der Vorstellung gesagt: ›Das sind doch Männerfantasien, was ihr da gemacht habt. Du hättest da Männer reinstellen sollen!‹« Behrendt, Eva: »Mal sehen, was Gott sagt«. Ein Ge-

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dass keine Interviews als Vorlage vor dem Schreibprozess geführt wurden und dass die aufgeführten Monologe das Ergebnis fiktionaler Arbeit sind, d.h. dass eine manipulative schriftstellerische Arbeit stattgefunden hat, die gleichzeitig den Anspruch auf Authentizität erhebt.78 Aufgrund der literarisierten Sprache und des Bühnenbilds, das als Interpretation der Aussagen verstanden wird bzw. sie unterstützt, kann wohl kaum von einer realitätsnahen Darstellung auf der Bühne die Rede sein. Trotz der Authentifizierung, die vom Autor intendiert wird, werden im Folgenden die »Neo-Muslimas« als fiktive Bühnenfiguren betrachtet. Die Frage, ob und bis zu welchem Grad diese Figuren authentisch sind, ist für die vorliegende Arbeit nicht von Belang. Das Karnevaleske lebt in Schwarze Jungfrauen von der Profanierung bzw. Diffamierung des Heiligen. Dies funktioniert im Theaterstück auf den zwei Ebenen der Figurenkonzeption der Neo-Muslima und der Sprache. Der Entwurf der Figur einer ›Jungfrau‹ basiert auf ihrer Sexualisierung v.a. durch ein anatomisches Merkmal. Obwohl dieses Merkmal der Sakralität dienen soll, wird das Heilige durch seine Bindung an die weibliche Sexualität bzw. die weltlichen Lüste zum Irdischen. Was die Sprache betrifft, so zeigt sich z.B., wie der pornographische Sprachgestus in einem sakralen Kontext die Scheinheiligkeit enthüllt. Es handelt sich nicht um das Wechselspiel zwischen den gegensätzlichen Rollen des Sakralen und des Irdischen durch die Maskierung. Die Profanierung, von der in Bezug auf Bachtins Theorie die Rede war, wird durch die Umkehrung von Heiligem und Ordinärem verwirklicht. In Zaimoglus Theaterstück ist sie in Bezug auf den Islam kein von den Sprecherinnen intendierter Akt. Die ›Jungfrauen‹ wollen im Grunde in ihrem keuschen Leben Gott preisen. Indem der Kerngedanke meist auf ein triebhaftes Verhalten fokussiert ist, werden religiöse Kontexte jedoch sexualisiert, d.h. profaniert. In Schwarze Jungfrauen zeigt sich, dass die sprechenden »Neo-

spräch über Glauben, Frauen und die Notwendigkeit der Aufklärung mit dem Filmregisseur Neco Çelik, der am Berliner HAU Zaimoglus »Schwarze Jungfrauen« inszenierte, in: Theater heute, v.a. S. 44. 78 In der Diskussion der Jury über die Verleihung des Mülheimer Dramatikerpreises, so Hentschel in ihrem Aufsatz, wurde das Theaterstück u.a. deswegen nicht ausgezeichnet, da es durch die Veränderung der Sprache bei der Literarisierung manipulativ sei. Vgl. Hentschel, Ingrid: Dionysos kann nicht sterben, Berlin: LIT 2007, Anm. 117.

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Muslimas« nicht nur heilig sein können. Das führt meist im Theaterstück zu einer Inkongruenz zwischen Körper und Sprache, die in jeder Rede neu hervorgebracht wird, d.h. einer Dynamik unterliegt. Dieser Widerspruch wird aus dem Versuch der (Selbst-)Positionierung im Spannungsverhältnis zwischen Religion und Moderne erzeugt. In den Interviews äußern sich die »Neo-Muslimas« zu ihrem Verhältnis zur Gesellschaft, zum Glauben, zum Sex und flechten in ihre Rede Ansichten über die Jungfräulichkeit und den Schleier. In den Aussagen befassen sie sich z.B. mit ihrem Verständnis von der Religion u.a. auch im Vergleich zur Generation ihrer Eltern, mit der Artikulation einer religiösen Identität in einer kriegerischen Haltung, mit Islam und Mode und vor allem mit der (fehlenden bzw. abgelehnten) Beziehung zum anderen Geschlecht. Im Folgenden geht es in einem ersten Schritt um die Figur der »Neo-Muslima«, die sich als Trägerin von verschiedenen religiösen und kulturellen Diskursen erweist. In Schwarze Jungfrauen funktioniert die »neo-islamische« Identität hauptsächlich, weil das Theaterstück auf Frauen beschränkt bleibt. Dies hängt mit verschiedenen Diskursen zusammen, die dem weiblichen Körper inskribiert sind und mit der konstruierten religiösen Orientierung zusammenhängen. In einem zweiten Schritt geht es in der Analyse um die Macht der Sprache im Theaterstück, durch die Sakrales dämonisiert wird. Die Rede über heilige Kontexte wird in Schwarze Jungfrauen durch die Sprache und die Themenauswahl sexualisiert, ökonomisiert oder politisiert. Das Theaterstück ist im Allgemeinen eine performative Schmähung des kulturell, geschlechtlich und religiös Anderen, die komplementär zur Lobpreisung des Eigenen verläuft. Die Figuren erscheinen auf der Bühne in diesem Kontext als Trägerinnen von sich widersprechenden Zeichen. Die Ansichten der ›Jungfrauen‹ funktionieren im Theaterstück durch die Spaltung zwischen Körper und Sprache, die in Gegensatz zueinander stehen. Vor allem im Teil über die Ökonomisierung des Heiligen erweist sich das Spannungsverhältnis zwischen archaischer Religion und agnostischer Moderne: Die ›Jungfrauen‹ wünschen die Konservierung ihrer archaischen Ansichten. Gleichzeitig droht jedoch das Zurückbleiben und das Verpassen des Anschlusses an die Moderne. Was daraus resultiert, ist auf der einen Seite ein gezähmter, unbefleckter Körper, der zunächst unbekannt und exotisch wirkt. Auf der anderen Seite entfesselt die Sprache diesen Körper aus seiner Gefangenschaft, beispielsweise

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durch die Rede über sexuell wilde Geschichten und Phantasien. Das Unberührte wird zum Vulgären, Nicht-Domestizierten. Diese DeExotisierung dezentriert Diskurse über Macht, denn der kulturell ›Andere‹ ist in diesem Fall das furchterregende, weibliche Wesen, das außer Kontrolle geraten ist. 4.2.2 Der weibliche Körper als religiöse und kulturelle Inschrift Zaimoglu praktiziert in seinen Essay/Interview-Werken eine strikte Geschlechtertrennung.79 Koppstoff kann hinsichtlich der interviewten Gruppe als Vorläufer von Schwarze Jungfrauen verstanden werden, da die Interviewten in beiden Fällen ausschließlich Frauen sind. In Koppstoff zeigt sich, dass die Rede und die Themen der weiblichen ›Kanaka‹ sich von denen der Männerwelt in Kanak Sprak unterscheiden.80 In diesem Zusammenhang wird ein Islamo-Feminismus entworfen,81 der auf der Religion als differenzierendes Merkmal aufbaut. Aus diesem Grund zählt die ethnische Einheit nicht als Auswahlkriterium der Interviewten, wie es z.B. in Koppstoff der Fall war, und verschiebt sich stattdessen in Schwarze Jungfrauen zugunsten einer religiös homogenen und gleichzeitig ethnisch gemischten Gruppe. Ver-Körperung religiöser Diskurse Schwarze Jungfrauen orientiert sich in mancher Hinsicht – ob nachahmend oder ablehnend – am Kurzfilm Submission des niederländischen Regisseurs Theo van Gogh, der auf dem Drehbuch der Politikerin und Islamkritikerin somalischer Herkunft Ayaan Hirsi Ali basiert. Submission besteht aus einem Monolog bzw. einer Beichte einer mus79 Eigentlich nicht nur in den Essay/Interview-Werken, sondern auch in seinen bis dahin erschienen Romanen. Die Helden seines Briefromans Liebesmale, scharlachrot (2000) sind zwei männliche ›Kanaken‹, während die Handlung von Leyla (2006) sich um eine weibliche Protagonistin aus Anatolien dreht. Erst in Liebesbrand (2008) und Hinterland (2009) wird die Geschlechtertrennung aufgehoben. 80 Annette Keck: »Pop is ne fatale Orgie«, S. 113-115. 81 Vgl. Seker, Nimet: Hörspiel »Schwarze Jungfrauen« von Feridun Zaimoglu. Islamo-Feminismus radikal 2010. Hier aus: http://de.qantara.de/webcom/show_article.php/_c-299/_nr-589/i.html.

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limischen Frau, die während des Gebets »Allah« eigene Geschichten über Gewalt in der Ehe, Missbrauch und Unterdrückung offenbart. Obwohl die Sprecherin einen Vollschleier trägt und dadurch – ähnlich wie in Schwarze Jungfrauen – anonym bleibt, ist ihr Körper nur mit einem transparenten Stoff bedeckt, so dass der nackte weibliche Leib ›unter dem Schleier‹ identifiziert werden kann (vgl. Abb. 1). Abbildung 1: Der weibliche muslimische Körper

Submission – Theo van Gogh

Hier liegt der Unterschied zu Neco Çeliks Inszenierung von Schwarze Jungfrauen, wo bei den Darstellerinnen nur minimale Kennzeichen des Frauenkörpers erkennbar sind. In der Uraufführung am Berliner »Hebbel am Ufer« erscheinen die fünf sprechenden ›Jungfrauen‹ in hautfarbener Herrenunterwäsche, tragen kein Kopftuch, sondern eine künstliche Glatze und sind u.a. aus diesem Grund schwer voneinander zu unterscheiden. Sowohl in Schwarze Jungfrauen als auch in van Goghs Film erscheint der weibliche Körper als religiöser ›Text‹, der im Fall des niederländischen Films durch die Beschriftung des Körpers der beichtenden Muslima mit Koranversen konkretisiert wird. Dem Körper wird die Pflicht der Darstellung von Religion bzw. (sub-)kultureller Orientierung auferlegt, wobei der Unterschied zwischen den beiden Werken darin besteht, dass die Sprecherinnen in Schwarze Jungfrauen diese

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Pflicht freiwillig auf sich nehmen. Im Unterschied zu van Goghs Kurzfilm, der kontroverse Reaktionen auslöste (die in der Ermordung des Regisseurs kulminierten), wird das Selbstbild der Frauen bei Zaimoglu nicht durch ihre Unterdrückung geprägt. In den Monologen ist es stattdessen ein selbstbestimmtes Bild, das sie von sich geben wollen bzw. über das sie sich definieren. Die wohlbekannte Vorstellung von der muslimischen Frau als Objekt der Gewalt wird des Weiteren umgedreht, da ›die Jungfrauen‹ im Theaterstück selbst zu aggressiven Subjekten werden, z.B. indem sie den »Heiligen Krieg« erklären bzw. radikale politische Ansichten vertreten.82 Die Verhandlung von Diskursen würde demnach ohne die Identifizierung des (weiblichen) Geschlechts scheitern. Anders gesagt: Das weibliche Geschlecht muss unverhüllt bleiben. Hier zeigt sich die Sexualisierung des verschleierten Subjekts, das ja nur eine Frau sein kann: Die Funktion des Schleiers, der bekanntlich die Weiblichkeit verdecken soll, wird also in ihr Gegenteil verkehrt. Dies bedeutet, dass die Sexualisierung auf einer ersten Ebene durch die Ausstellung des weiblichen Geschlechts stattfindet. Die Erotisierung wird darüber hinaus fortgesetzt, indem die Religion über ein anatomisches Merkmal des Frauenkörpers definiert wird, nämlich über die Jungfräulichkeit. Es handelt sich also um eine VerKörperung des religiösen Diskurses, d.h. eine Verkörperung durch ein Merkmal des Körpers, der den »Neo-Muslimas« eine ›Möglichkeit‹ für das Praktizieren des Glaubens bietet. Viele von den Sprecherinnen definieren ihre Einstellung zur Religion allein und erst durch ihre Relation zu ihrem Körper und ihrer Sexualität. Hier wird die Sexualisierung des Sakralen deutlich, da die Definierung der religiösen Identität hauptsächlich über das Verhältnis zur weiblichen Sexualität, ihrem Körper und ihrer Beziehung zum männlichen Geschlecht erfolgt. Die sakrale Figur konstruiert sich in Schwarze Jungfrauen erst durch den Verzicht auf die sexuellen Lüste, so dass sich eine Paradoxie zur keuschen Haltung ergibt. Denn im Moment der Sexualisierung wird der Körper, der heilig zu sein versucht, durch den Hinweis auf seine weltlichen Lüste profaniert, auch wenn diese Lüste im Namen der Religion abgelehnt werden sollen. In Schwarze Jungfrauen wird der Widerspruch durch die Benennung von weiblichen Genitalien und die detaillierte Beschreibung der sexuellen Begierden auf die Spitze getrieben.

82 Mehr dazu unter dem Aspekt der Politisierung des Heiligen.

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Die Ansichten, die die konvertierte Deutsche vertritt, sind ein Beispiel dafür, wie die Ausübung der Religion am weiblichen Körper im islamischen Kontext funktioniert. In diesem Monolog schildert die Sprecherin ihr Leben vor und nach der Konversion in erster Linie über den Wandel vom (exzessiven) Sexualleben zur Hinwendung zur Religion. Die weibliche bzw. sexualisierte Ver-Körperung religiöser Diskurse ist kein Thema, das islam-spezifisch ist. In der sakrifiziellen Haltung der ›Jungfrauen‹ zeigt sich eigentlich eine Ähnlichkeit mit der sakralen Prostitution, der Hierodulie, die in den Tempeln vieler Gottheiten im griechischen Altertum Brauch war. Obwohl die beiden Ausprägungen auf einen ersten Blick gegensätzlich zu sein scheinen – Erstere lebt von der sexuellen Abstinenz, während Zweitere erst durch die sexuelle Hingabe ihre Funktion erfüllt –, wird der weibliche Leib in beiden Fällen dem Göttlichen aufgeopfert. Mit dieser Einstellung zum jungfräulichen Dasein als Ausdruck einer islamischen Identität wird der Körper zu einem kulturellen Text: Die religiösen Ansichten und Zugehörigkeit funktionieren lediglich über die Semantisierung des Leibs. In diesem Kontext dominieren die religiös-kulturellen Praktiken am Frauenkörper über seine biologische Metamorphose: Sie werden im Theaterstück in Form der Ablehnung der Defloration konkretisiert und stellen die (fehlende) sexuelle Annäherung an das andere Geschlecht nicht in den Dienst der Liebe, sondern der Religion. Die Verklammerung des religiösen Glaubens mit dem anatomischen Körper codiert die körperliche Enthaltsamkeit ferner als kulturellen Status und nicht als natürliches Stadium. Der unversehrte Zustand suggeriert den Wunsch nach (kultureller) Reinheit. Vermieden wird die Konfrontation mit dem Fremden. Gemeint ist damit zunächst der Mann (als der Frau fremdes Geschlecht) und darüber hinaus ganz allgemein die (Nicht-)Begegnung mit dem ›Anderen‹. Der weibliche Körper wird demnach als ›Territorium‹ codiert, das dem Fremden in diesem Fall versperrt bleibt. Das Theaterstück kehrt bei dieser Unzulänglichkeit die weit verbreitete Vorstellung von der Unterdrückung der Frau im Islam um, denn diese misanthropische Haltung wird von den Sprecherinnen selbst erwünscht, da sie dadurch ihre Autonomie zu erlangen glauben. Diese Haltung ist somit keine Kritik an einer den Rednerinnen aufoktroyierten Isolation, sondern eine bewusste und gewollte Haltung, bei der das agonale

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Prinzip der Schmähung deutlich wird, indem die Sprecherinnen sich z.B. mit der »Jungfräulichkeit« von den »Pornographen«83 abgrenzen. Die Abstinenz und Abgrenzung vom Anderen durch die Jungfräulichkeit wird im Theaterstück durch die Bühnengestaltung unterstützt. In Schwarze Jungfrauen ist eine Kongruenz zwischen dem Inhalt der Reden und dem dramaturgischen Raum zu beobachten. Das Bühnenbild von Neco Çeliks Inszenierung, auf die im Folgenden Bezug genommen wird, ist im Allgemeinen enthaltsam (vgl. Abb. 2) und spiegelt dadurch den Zustand der gesellschaftlichen bzw. kulturellen Isolation wider: Abbildung 2: Das jungfräuliche Dasein als kulturelle Isolation

Schwarze Jungfrauen – Feridun Zaimoglu. Inszenierung von Neco Çelik

Das Bühnenbild besteht aus zwei Ebenen, die nochmals in kleine Kästen unterteilt sind. In jedem steht eine der fünf Rednerinnen. Ein Kasten bleibt unbesetzt, wobei die Frauen immer wieder in wechselnden Konstellationen stehen. Die Kästen bleiben dunkel. Beleuchtet wird jeweils der Kasten, in dem die Rednerin steht, die gerade zu Wort kommt. Während der Aufführung werden die Monologe montiert. Das heißt, sie werden nicht en bloc gesprochen, sondern durch den Wech83 Zaimoglu, Feridun: Schwarze Jungfrauen, Hamburg: Hoffmann und Campe, Nr. 4. Im Folgenden wird auf den Abdruck des Theaterstücks mit »a« und das Hörspiel mit »b« verwiesen.

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sel zur nächsten Rednerin unterbrochen und ohne bestimmte Reihenfolge wieder aufgenommen. Zeichen der spezifischen religiösen oder nationalen Zugehörigkeit werden aufgrund der Stilisierung des Körpers äußerlich getilgt. Erst in ihren Monologen erfährt der Zuschauer, dass/ob die Rednerinnen verschleiert sind: Distinktiv wird eine Zugehörigkeit erst über die Sprache. Das einzige Bühnenrequisit ist in der Regel im unteren mittleren Kasten ein Rollstuhl, da eine der Rednerinnen gelähmt ist. Vor allem durch ihre körperliche Behinderung ist sie unter den Rednerinnen am leichtesten zu identifizieren. In dieser körperlichen Beschränktheit sind Fragen über die Beziehung zwischen Macht und dem weiblichen Geschlecht codiert, die die Sprecherinnen umdrehen, indem sie die Beschränktheit als erwünschte Abgrenzung und Selbstisolierung zum Zeichen der Ermächtigung recodieren. Im Kontext der Migration wird die Metapher der Jungfräulichkeit zum Zeichen der Ambivalenz: Auf der einen Seite bezeichnet sie die Bemühung um die Erhaltung eines unberührten Körpers, um eine Erweiterung des Göttlichen zu ver-körpern. Auf der anderen Seite ist es genau diese Bemühung, die die Möglichkeit ihrer Fortpflanzung ausschließt und die ›Jungfrauen‹ im Zustand der Nicht-Zeugung kulturell verwahrlosen lässt. Somit wird der Wunsch nach kultureller ›Reinheit‹ in der gesellschaftlichen (zum Teil durch die geschlechtliche) Isolation gelebt (es war generell die Rede von der NichtBegegnung mit dem ›Anderen‹). In der Vermischung mit dem Anderen wird die Kontamination des Eigenen gefürchtet, wovor die ›schwarzen Jungfrauen‹ sich durch das Pflegen einer ›kulturellen Unbeflecktheit‹ zu schützen versuchen. Ein weiteres Medium der Beschriftung des weiblichen Körpers mit religiösen und kulturellen Diskursen ist die Stimme selbst. In seinen bisherigen Essay/Interview-Werken war Zaimoglus Ziel, ›Stummen‹ bzw. gesellschaftlich Marginalisierten eine Stimme zu geben. In Schwarze Jungfrauen spricht die Frau, deren Stimme in der Regel nicht gehört wird, frontal zum Publikum über Leben und Religion. Die Stimme steht im Theaterstück außerdem für eine radikale Inversion des Verstummens (muslimischer) Frauen, ein Aspekt, der bereits im Titel des Theaterstücks codiert ist: »Schwarz« meint ein Dasein im Schatten (männlicher Existenz). Mit dieser männlichen Existenz wird im islamischen Kontext die Figur des Muezzins assoziiert. Vor allem das Bühnenbild, in dem einige Rednerinnen in Kästen auf einer höheren Ebene weilen, spielt optisch auf den Gebetsruf von

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der Spitze des Minaretts an. Dieser visuelle Verweis wird außerdem durch das Sprechen in der Öffentlichkeit bzw. die ›Belehrung‹ über religiöse Einstellungen performativ ergänzt. Die religiöse Tätigkeit des Muezzins darf jedoch nur von Männern praktiziert werden und auch Prediger können im Islam nur Männer sein: Es besteht also eine kulturell codierte Verbindung zwischen der hörbaren Stimme und dem Geschlecht. Das traditionell-religiös vorgegebene Schweigen der Frauen wird umgedreht in Gebete voller religiöser Inbrunst.84 Der jungfräuliche weibliche Kontinent Jungfräulichkeit bedeutet im Kontext des Theaterstücks mehr als nur der unbefleckte biologische Körper, denn es sind nicht alle Rednerinnen Jungfrauen, sondern sie erzählen z.B. teilweise sogar von ihren (ersten) sexuellen Erfahrungen. Was bedeutet also die Insistenz auf der Rede von der Jungfräulichkeit und dem islamischen Schleier? Geht es um den (islamischen) Wunsch nach weiblicher Enthaltung? Oder werden die berühmten Geschichten über die paradiesische Belohnung von Märtyrern mit Jungfrauen ironisiert? In Schwarze Jungfrauen stellt die nicht-anatomische Jungfräulichkeit eine Verbindung zum Kolonialismus her. Entdeckungsreisen und imperialistischen Eroberungen ging die Vorstellung voraus, die Terra incognita sei weiblich und müsse von einem Mann erforscht bzw. erobert werden.85 Die Erkundung des neuen Landes diente dem Nachweis männlicher Potenz. Dem unbekannten Land wurden dabei Merkmale zugeschrieben, mit denen Frauen in vielen patriarchalischen Gesellschaften von Männern und durch Männer unterschieden werden (unterlegen, schwach, unvernünftig). Diese Charakteristika wurden zu den wichtigsten Differenzierungen zum ethnisch Anderen. Man denke

84 Als Zeichen der Befreiung und Gleichberechtigung von Sklaven wird davon berichtet, dass Mohamed den ›schwarzen‹ Sklaven Bilal Ibn Ribah zum ersten Muezzin im Islam ernannte. Der Titel des Theaterstücks spielt also auf die Anfänge der islamischen Zeit an. Hierin zeigt sich ein Aspekt der bereits erwähnten Wiederbelebung von alten Ansichten. In beiden Fällen wird in der Be-Stimmung ein Weg aus einer Randposition gesucht. 85 Vgl. Anne McClintock: Imperial Leather, v.a. S. 22-74.

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an Saids Orientalismuskritik, die auf der Konstruktion von »Zivilisierten« in Relation zu »Barbaren« fußt.86 Die Ambivalenz dieser Phantasie steckt in der Sehnsucht nach der Entschleierung des Unbekannten und gleichzeitig in der Angst vor der damit verbundenen Impotenz bzw. dem Machtverlust. Ein Teil des Landes muss folglich geheimnisvoll und dem männlichen Eroberer unerreichbar bleiben, etwa in Form einer imaginierten Welt unter dem Schleier. Sie wird von einem unerreichbaren weiblichen Wesen bewohnt, das zudem aufgrund seiner Verhüllung unheimlich wirkt, so dass die männliche Überlegenheit im Traum von der Entblößung fortgesetzt wird.87 In diesem Sinn hat die Unberührtheit bzw. Isolation im Theaterstück nicht nur religiöse, sondern auch kulturelle Implikationen. Sie reflektiert die kolonialistische Metapher, die mit der Suche nach dem Exotischen durch den Ethnographen beginnt.88 Weiblichkeit wird als ›dunkler Kontinent‹ erfasst, in diesem Fall sogar als ein finsterer, da die (jungfräuliche) Existenz unter einem Schleier praktiziert wird. Die Geschlechtertrennung, die im Theaterstück praktiziert wird, suggeriert zunächst eine Exotisierung des Randes. Die Aufführung ist das Ergebnis des Blicks in einen ›verbotenen‹ Raum weiblicher und – noch tabuisierter – muslimischer Privatsphäre und stellt das Resultat auf der Bühne zur Schau. In diesem Moment findet die DeExotisierung statt. Hier bildet das Medium des Theaters im Vergleich zu Zaimoglus vorangegangenen Werken, wie kurz erwähnt, eine Erneuerung und ist gleichzeitig eine Abweichung von der gewöhnlichen

86 Diese Metapher der Erkundung des ›Anderen‹ ist ein Motiv sowohl ethnographischer Arbeiten als auch exotischer und/oder (post-)kolonialer (Welt-) Literatur, wie z.B. in Joseph Conrads Heart of Darkness (1899), Robert Müllers Tropen. Der Mythos der Reise. 87 Mit der imaginären Gleichsetzung von Schleier und Hymen befassen sich Braun, Christina von/Mathes, Bettina: Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin: Aufbau 2007, S. 184-191. 88 Hier entsprechen die Durchführung von Interviews und im Allgemeinen die Vorarbeiten für den literarischen Text der ethnographischen Metapher von Erkundung bzw. Eroberung des weiblichen Körpers bzw. des unerforschten, unbefleckten Lands. Zaimoglu kultiviert mit seinem Experiment die exotische Vorstellung vom isolierten Leben muslimischer Frauen.

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Darstellungsform muslimischer Welten. Statt eines verbergenden Schleiers findet sich hier eine konfrontierende Bühnenperformance. Die Bühne bietet einen idealen Rahmen für die Inszenierung von Fragen der Körperlichkeit. Die Bühnendarstellung fixiert den Blick auf den weiblichen (sonst verdeckten) Körper sowie den retournierenden Blick auf die Phantasien über die Welt hinter dem Schleier, die oft in (europäischen) Köpfen herumgeistern.89 Wird das Exotische in der Regel als passives Objekt imaginiert, das einzig der Befriedigung des Zuschauers dient, so wird diese Erwartung im herausfordernden Blick der Frauen destruiert.90 Die Macht des Betrachters, die in der Konservierung des Exotischen besteht, geht dadurch verloren, u.a. auch aufgrund der stilisierenden Darstellung auf der Bühne als äußerlich entsexualisierte Figuren. Der die Frauen verfolgende Blick wird trotzdem nicht komplett ausgeblendet, sondern zum penetrierenden bzw. deflorierenden Blick, der die sexualisierte Frau auf der Bühne verfolgt, jedoch aufgrund der aggressiven Rede und des androgynen Erscheinens desillusioniert wird. Die Macht des Blicks bzw. die Selbstermächtigung durch den konfrontierenden Blick wird außerdem durch die Rede über den Vollschleier in einem Monolog exemplarisch veranschaulicht. Die Vollverschleierung ist eine Metapher für das Sehen und gleichzeitig NichtGesehen-Werden. Die Möglichkeit der Selbstbestimmung wird dadurch erlangt, dass die komplette Körperbedeckung der Frau den Betrachtern den Blick auf sie verwehrt und zugleich die Macht ihres eigenen Blicks bewahrt. Während die Sprecherin hinter ihrer Vollverhüllung ihre Zuschauer erkennt, besteht ihre überlegene Position darin, dass sie selbst umgekehrt nicht identifiziert werden kann.

89 Ein ähnliches, ›dokumentierendes‹ Verfahren unternimmt Zaimoglu im Theaterstück Schattenstimmen, das 2008 uraufgeführt wurde. Es handelt von neun in Deutschland illegal lebenden Migranten u.a. aus Marokko, Russland und Kolumbien, die als Tellerwäscher, Prostituierte, Drogendealer etc. leben, d.h. es repräsentiert Stimmen aus dem Schatten der Gesellschaft. 90 In Bezug auf den Schleier wird im Islam vom gesenkten Blick des Mannes beim Anblick des Schleiers gesprochen. Vgl. Christina von Braun/Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit, S. 70f. Auch aus diesem Grund überrascht die Selbstrepräsentation im Rahmen einer Bühnenperformance.

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Bei der Verortung des zu betrachtenden Subjekts auf der Bühne wird die Semantik des Harems als Raum des Häuslichen verwandelt in einen Raum, der der betrachtenden Öffentlichkeit zugänglich wird.91 Dieser Wandel wird außerdem durch den Inhalt mehrerer Monologe über die weibliche Intimsphäre untermauert, die von Geschichten jenseits eines asketischen Verhaltens handeln. Die Destruktion des Mythos der weiblichen Unschuld erfolgt in diesem Fall durch die Themenauswahl. In den Reden geht es u.a. um Oralverkehr oder Geschichten über Begegnungen mit lesbischen Frauen. Mit diesen in der Regel islamfernen Themen formulieren sie eine Einladung in das sonst den Zuschauern unzugängliche, abgeriegelte – weil auch verschleierte – Privatleben muslimischer Frauen. Die Porträts der einzelnen interviewten Frauen ergänzen sich auf der Bühne zu einem Vexierbild, das zunächst dem Malsujet von Odalisken zu ähneln scheint und im nächsten Moment in sein Gegenteil umkippt. Die Ähnlichkeit wird zuerst durch die Inszenierung eines scheinbar nackten Körpers durch die hautfarbene Kleidung erzeugt. Außerdem werden die ›Jungfrauen‹ als schwarz beschrieben und zunächst, ähnlich wie die Dienerinnen im Harem, mit der Sklaverei assoziiert.92 »Schwarz« im Titel meint aber nicht nur eine Hautfarbe, sondern ist außerdem eine Anspielung auf die (körperliche) Verdeckung. Auch hier steht das Beschriebene im Gegensatz zum stilisierten Erscheinungsbild, dass Nacktheit suggeriert. Die weibliche Weichheit und Erotik, deren Abbildung vor allem in der orientalistischen Malerei des 19. Jahrhunderts gängig war, verwandelt sich auf der Bühne durch die Sprache und den Inhalt in harte Misandrie, die die Jungfräulichkeit als Zeichen der NichtUnterwerfung versteht, eine Umkehrung der sinnlichen Darstellung der orientalischen Frau. Im biologisch und sozial gelebten Männerhass vollzieht sich die Emanzipation der Frau vom Objekt (Odaliske) zum autonomen Subjekt (›Jungfrau‹). Letzeres wird durch die Bemühung um die Beherrschung des Körpers und die vehemente Ablehnung

91 Komplementär zum Harem gab es den Selamlik als Teil eines türkischen Hauses, der von Männern bewohnt wurde und von Fremden betreten werden durfte. ›Der weibliche Harem‹ öffnet sich im Theaterstück fremden Zuschauern als Ausdruck der Emanzipation auf der Bühne. 92 Auch wenn die Dienerinnen im Harem in der Regel tscherkessische Frauen waren, d.h. nicht unbedingt dunkelhäutig.

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männlicher Avancen erreicht. Ihre Selbstbehauptung als autonome Subjekte besteht u.a. in der Ablehnung ihrer Deflorierung und damit der männlichen Machtstellung.93 Darin zeigt sich auch die grundlegende Ironie der weiblichen Einstellung zur sexuellen Unterwerfung im Theaterstück, da die Jungfrauen ihre Selbstbestimmung erst in Bezug auf das (fehlende) andere Geschlecht erlangen wollen. Androgynes Erscheinen Durch die Kostümierung (Herrenunterwäsche und künstliche Glatze) distanzieren sich die ›Jungfrauen‹ äußerlich von Assoziationen nicht nur mit dem Islam, sondern auch mit Weiblichkeit. In Form einer modernen Nachahmung der Jungfrau von Orléans begründen sie im jungfräulichen Ideal und dem Verwerfen des weiblichen Aussehens einen (religiösen) Heroismus (vgl. Abb. 3). Durch die Maskierung und Kostümierung verschwimmt die Genderidentität der Sprecherinnen auf der Bühne, da sie zur Konstruktion einer männlichen bzw. geschlechtsneutralen Seite der ›Jungfrauen‹ beitragen. Das androgyne Erscheinen ist kein karnevaleskes Phänomen per se. Im Rahmen des Theaterstücks wird es als solches interpretiert, da die Sprecherinnen die simultane Verkörperung von Merkmalen beider Geschlechter mit der Rede über Sakrales verbinden. Die Androgynie verstärkt außerdem die von den Sprecherinnen beabsichtigte groteske Monstrosität, mit der sie ihr ungeheuerliches Wesen zur Schau stellen wollen. Das martialische Erscheinungsbild unterstützt den von den Frauen deklarierten Kampf und funktioniert über die Ambivalenz des Geschlechts der Bühnenfiguren. Das monströse Aussehen reflektiert die Rede an manchen Stellen. So findet der weibliche Dämon vor allem in der hasserfüllten Rede der behinderten Muslima ein konkretes Muster. Als »verschleierte Krüppelidiotin«, »Islamistenzwerg« und als »verhülltes Monster im Gestell«,94 das vom Schleier als »Gesichtsgitter«95 spricht, wird sie zur weiblichen Verkörperung des Erschreckend-Bestialischen, das sich jenseits von jedem Klischee des Exotisch-Verführerischen befindet.

93 Vgl. Christina von Braun/Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit, S. 207f. 94 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen a, S. 53f. 95 Ebd., S. 52.

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Abbildung 3: Das androgyne Erscheinen muslimischer Jungfrauen

Schwarze Jungfrauen – Feridun Zaimoglu. Inszenierung von Neco Çelik (17.3.2006, Berliner Theater »Hebbel am Ufer«)

In Verbindung mit der Rede über Religion ist dieses äußere Erscheinen als ein Entwurf neuer Geschlechterverhältnisse zu verstehen. Wenn das Predigen über Keuschheit nur in der Trennung der Geschlechter fortbestehen kann, dann ersetzen die ›schwarzen Jungfrauen‹ das abwesende Männliche durch die Nachahmung seiner Gestalt. Damit grenzen sie sich eindeutig von erotischen Motiven ›orientalischer‹ bzw. türkischer Frauenwelten ab. Die wohlbekannte Laszivität von Odalisken wird in männliche, fast militärhafte Posen verkehrt. Der weibliche Körper inszeniert somit durch das intimidierende Erscheinen eine weitere Abgrenzung vom ›Anderen‹. Das männliche Auftreten eines weiblichen Körpers mag auf den ersten Blick im Gegensatz zur Rede über Jungfräulichkeit erscheinen. Betrachtet man die Haltung der Sprecherinnen jedoch genauer, dann stellt sich heraus, dass Androgynität und Jungfräulichkeit sich zu einem Bild von Gebärunfähigkeit bzw. Ablehnung der Maternität fügen. Mit dieser ablehnenden Haltung befreien sich ›die Jungfrauen‹

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von den weiblichen Rollen, auf die sie kulturell sowie im männlichen Machtsystem beschränkt werden. Hier wird nochmals deutlich, dass das weibliche Geschlecht identifizierbar bleiben soll, denn das Selbstverständnis der Sprecherinnen auf der Bühne besteht in der weiblichen Verkörperung von (klischeehaft) männlichen Attributen, die durch die intime männliche Kostümierung suggeriert werden. In Bezug auf die bereits besprochenen Parallelen zum Kolonialismus zeugt die Nachahmung des Männlichen des Weiteren von subversivem Verhalten, indem männliche Zuschreibungen abgelehnt und umgekehrt werden: Der weibliche, ›dunkle Kontinent‹ lässt sich nicht erobern bzw. besiegen. 4.2.3 Dämonisierung des Sakralen durch die Sprache Spätestens nach den ersten gesprochenen Sätzen wird das Bild des Heiligen durch den Text zum Weltlichen diffamiert. In Schwarze Jungfrauen scheinen der Körper und die Sprache einer Person an vielen Stellen inkohärent. An ihnen zeigt sich die Spaltung zwischen einem erwünschten strengen Lebensstil und der sie umgebenden Modernisierung. Diese Haltung resümiert die Aussage einer der »NeoMuslimas«: »Andere sagen, ich bin eine Islamistin, die aussieht wie ein Partymädchen.«96 Ging es im vorigen Teil der Analyse um die Entweihung des Sakralen durch die (Selbst-)Definierung der »Neo-Muslimas«, so beschäftigt sich der folgende Teil mit der Abwertung des Göttlichen durch die Sprache, die durch das »neo-islamische« Leben sexualisiert, politisiert oder ökonomisiert wird. Sexualisierung sakraler Kontexte Die Sexualisierung des Sakralen funktioniert, wie bereits besprochen, dadurch dass der mit religiösen und kulturellen Diskursen aufgeladene weibliche Körper sowie ein anatomisches Merkmal desselbigen das Zentrum des Redens über das Göttliche bilden. Die Sprache ist in Schwarze Jungfrauen eine weitere Komponente der Erotisierung. Das Thema der Erotik lässt sich auf den ersten Blick nicht mit Religion und vor allem nicht mit dem Islam in Verbindung bringen. Genauso wenig wird von muslimischen Frauen erwartet, dass sie sich zum Thema Sex 96 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen b, Nr. 10.

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äußern.97 Das subversive Moment besteht in Schwarze Jungfrauen allerdings nicht in erster Linie im Sprechen über tabuisierte Themen, sondern in der Art, wie darüber geredet wird. An den meisten Stellen geht es nicht nur um erotische, sondern pornographische Beschreibungen, die in Widerspruch zum enthaltsamen Körper stehen. So spricht eine ›Jungfrau‹ in einem Monolog von der »Gesichtsmaske« (gemeint ist der Schleier) und parallel dazu auch vom »Gesichtssex«.98 Der exzessive Gebrauch obszöner Sprache trotz keuscher Haltung ist, wenn auch nicht von den Sprecherinnen beabsichtigt, eine Parodie heiliger Texte und Kontexte.99 Die schamlose Sprache und der heidnische Wortschatz für die Rede über die weibliche Keuschheit sowie über das Kopftuch, das einerseits den unbefleckten Körper widerspiegelt, andererseits eine Einschränkung darstellt, kennzeichnen den Widerspruch in den meisten Aussagen. Was körperlich verschwiegen wird, wird in den Monologen sprachlich verlautbart und ist somit eine Umkehrung der in der Religion und im Geschlecht codierten Ver-

97 Nichtsdestotrotz findet man diese Themenverbindung in mehreren Werken deutsch-türkischer Migranten. Bekanntestes Beispiel sind die Anspielungen in Emine Sevgi Özdamars Werk, die z.B. in Großvaterzunge explizit thematisiert werden. Die Erzählung handelt von der Liebesgeschichte zwischen der Protagonistin und dem arabischen »Schriftgelehrten« Ibni Abdullah. Die Geschichte entwickelt sich aus der Sehnsucht des weiblichen Körpers nach einer Einheit mit ihrem islamischen Lehrer, wird zunächst zu einem Epos aus Sinnlichkeit und Spiritualität und findet zum Schluss ihre Auflösung im asketischen Verhalten des Lehrers. Mehr zu islamischen Motiven und Themen in Großvaterzunge und Die Brücke vom Goldenen Horn von Özdamar sowie Gottes Krieger aus Zaimoglus Erzählungen 24 Gramm Glück findet sich in: Littler, Margaret: Profane und religiöse Intensitäten. Die islamische Kultur im Werk von Emine Sevgi Özdamar und Feridun Zaimoglu, in: Helmut Schmitz (Hg.): Von der nationalen zur internationalen Literatur, S. 143-154. Zur Verbindung von Religion und Erotik bei Özdamar vgl. Norbert Mecklenburg: Das Mädchen aus der Fremde, S. 514. 98 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen a, S. 52f. 99 Hier sind Parallelen zu den Darstellungen des grotesken Körpers und vor allem des Unterleibs erkennbar, wie sie bei Bachtin beschrieben und vor allem als Parodierung des Fleischverbots während der Fastenzeit interpretiert werden.

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stummung als Muslimin und als Frau. Gleichzeitig kommt es dadurch zur Destruktion des heiligen Ideals, das die Sprecherinnen verkörpern wollen. Der Monolog der behinderten Muslima steht exemplarisch für die Haltung einiger Sprecherinnen, ihre Sexualpraktiken mit der von ihnen gewünschten Sakralität zu vereinen. Anhand schamloser, detaillierter Beschreibungen schildert diese Sprecherin ihr sexuelles Verhältnis mit ihrem Pfleger als Erwiderung seiner Avancen: »Krüppel verdienen von Gott eine Sonderbehandlung«,100 verteidigt die Sprecherin den sexuellen Exzess mit ihrem Krankenpfleger. In anderen Fällen lässt die Radikalität der Sprecherinnen keinen Raum für die Definition von weiblichem Dasein außer in den zwei Extremen Jungfräulichkeit oder Prostitution. Auch hier zeigt sich, wie die Sakralität durch die sexuell konnotierte Wortwahl definiert wird. So verläuft die Abgrenzung der (sakralen) Jungfräulichkeit beispielsweise durch die sexistische Schmähung anderer (profaner) Frauen. In den Monologen ist z.B. die Rede von »Pornographen, die uns [Moslems] bekämpfen«101 oder den »unbedeckten Frauen«, die als »Flittchen« bezeichnet werden.102 Die Sexualisierung und Erotisierung des weiblichen Körpers durch das hautfarbene Kostüm, die promisken Episoden in einigen Monologen und die abwechselnde Beleuchtung der Kästen zitieren ein Motiv aus dem Rotlichtmilieu, das durch die Anonymität der Rednerinnen unterstützt wird. Der weibliche Körper fungiert erneut als Austragungsort von Diskursen. Die infame Rede über sexuelle Praktiken entspricht einer Form der (Selbst-)Ausstellung hinter den Vitrinen, durch die die Jungfräulichkeit in (weibliche) Unzucht und die gewohnte körperliche Verdeckung in eine figurative Enthüllung verwandelt wird. Politisierung des Heiligen In Monolog drei stellt die »Bosnierin« fest: »Deutschland hat mich verdorben ich denk ist schön dass Deutschland mich verdorben hat denn sonst wär ich ne bosnische Bäuerin und darauf geb ich n

100 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen, S. 52f. 101 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen b, Nr. 4. 102 Ebd., Nr. 1.

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Scheiß.«103 Eine andere ›Jungfrau‹ predigt in einem Monolog: »Die islamische Renaissance, sie ist in vollem Gange. Ich glaube nicht an die Idee der Avantgarde. Wenn schon, dann sind wir schwarze Jungfrauen so etwas wie die Postgarde der kaputten Moderne. Wir passen nicht ins Bild, also drängt man uns an die Peripherie.«104 Die beiden Aussagen stehen für zwei gegensätzliche Reaktionen auf die Selbstpositionierung in der Moderne. Die erste Frau heißt die »Verdorbenheit« gut – vor allem in Relation zu ihrer Alternative, nämlich der Rückständigkeit. Die zweite zitierte Aussage ist stellvertretend für die radikale Position einer Gruppe der ›Jungfrauen‹, die auf die befürchtete Distanzierung vom traditionellen bzw. religiösen Leben mit der Abspaltung von der Mehrheit reagieren. Es werden keine kämpferischen Versuche unternommen, um ins Zentrum der Gesellschaft zu gelangen, sondern militante, apokalyptische Visionen in der Peripherie phantasiert. Dies zeigt sich beispielsweise in der hasserfüllten Prophezeiung einer islamischen Zukunft Deutschlands, die eine kriegerische Haltung zum Ausdruck bringt: »Ich will errettet werden. Ich will mich Gott unterwerfen. Ich will auch zu den Gläubigen zählen, die für ihn streiten. Denn Allah ist mein Herrscher und der Prophet mein Menschenkönig. Die Deutschen werden sich ihrem Glück nicht versperren können. Früher oder später wird Deutschland ein islamisches Land werden. Heute lacht man mich aus wegen meiner Worte. Morgen, wenn die deutschen Kindeskinder sich am neuen Glauben berauschen, wird man sich an die heutigen Zeiten erinnern.«105

Die (durch die Hervorhebung markierte) Wortwahl suggeriert hier Kampf, Sieg und Niederlage. Die Vorstellung von Deutschland als

103 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen a, S. 49. 104 Vgl. Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen b, Nr. 10. 105 Vgl. ebd., Nr. 4. Eigene Hervorhebung. In einem zweiten Monolog heißt es: »Die schleichende Landnahme ist in vollem Gange. Wir sind gebildet. Wir sprechen ein ausgesucht gutes Deutsch. Wir sind hoch motiviert. Wenn man so will, kann man von einer Bewegung sprechen. Nur: ich und meinesgleichen bewegen uns nicht. Wir warten ab. […] Ihre Marktforschungsanalysen [der Deutschen] sind nicht das Papier wert, auf dem sie gedruckt sind. Der künftige Markt und die heutige Wirklichkeit, das sind wir.« Vgl. ebd., Nr. 10.

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zukünftigem islamischem Land nimmt sich in der Aussage der ›NeoMuslima‹ wie eine erwünschte Rache aus. In der deutschen Gegenwart scheinen sich zwei Fronten gebildet zu haben: eine deutsche und eine ›neo-islamische‹, zwischen denen ein religiös motiviertes kriegerisches Verhältnis besteht. Am Rand dieses ›Kriegsschauplatzes‹ verbünden sich Marginalisierte, die ihren ›Trost‹ in der Invasion des Zentrums imaginieren. Im Monolog der konvertierten Deutschen wird die Religion von der Sprecherin in einen ›Ausländer‹- und einen ›Inländer-Islam‹ unterteilt. Die Differenzierung führt zur Frage nach den Wurzeln des Glaubens der in Deutschland lebenden Muslime. Wie bereits an mehreren Stellen erwähnt, wird das Verständnis einer islamischen Identität im Theaterstück hauptsächlich durch die Abgrenzung vom Anderen geformt. Das heißt, im Fall der in Deutschland lebenden Muslime ist der Islam bzw. »Neo-Islam« keine von außen importierte ›Ware‹, sondern bewegt sich im Mittelpunkt westlicher oder europäischer Diskurse. Der Rede der ›Jungfrauen‹ ist zu entnehmen, dass sie mit dieser Einstellung auf eine sie (vermeintlich) abstoßende bzw. ausgrenzende Gesellschaft reagieren wollen: »Diese Verhaltensmuster zeigen, dass die ›Re-Islamisierung‹ muslimischer Migranten tief in den Kulturmustern des Westens wurzelt und nicht einfach ein fremder Import ist.«106 Wenn von der Positionierung zwischen Tradition und Moderne die Rede ist, dann entscheiden sich die Sprecherinnen mit ihrer »Protestidentität«107 nicht für das Vertreten einer Tradition, sondern für das Kreieren einer separatistischen Haltung: ein Akt, der als »ReIslamisierung« bezeichnet wird. Die Differenzierung zwischen dem Islam in Deutschland und dem in islamischen Ländern deutet auf die Verflechtung von politischen und religiösen Fragen hin. Das heißt, im Glauben werden unbewältigte (politische) Konflikte projiziert und verhandelt.108 Die Ausgrenzung

106 Herzinger, Richard: Regeln des Zusammenlebens, in: Behrendt, Eva (Hg.): Theater heute, Berlin: Friedrich Verl. 2006, S. 4-14, hier S. 11. 107 Ebd., S. 10. 108 Damit ist nicht etwa gemeint, dass die Macht des Politischen in islamischen Ländern wegfällt. Der größte Unterschied besteht darin, dass es sich dort nicht um die Orientierung einer Minderheit handelt, die sich von der Mehrheit z.B. über das Praktizieren einer anderen Religion abzugrenzen versucht.

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und der daraus resultierende Versuch der Selbstbehauptung erfolgen nicht mehr über nationale Zugehörigkeiten, da z.B. die jetzige Generation von Migranten sich zwar national zugehörig fühlt, jedoch marginalisiert wird. Infolgedessen werden politische Positionierungen über religiöse Symbole gesucht. Dies geschieht im Theaterstück anhand verschiedener Beispiele, die jenseits politischer Korrektheit sind. So werden in den Monologen beispielsweise Kriminalität, Krieg und Zerstörung im Namen der Religion legitimiert. Die fanatische Position der Frauen – oft ist die Rede von den »Schwestern«, als ob es sich um eine Gruppe von Verbündeten handelt – gründet in der religiösen Radikalität ein »Unterscheidungsmerkmal«.109 Begrüßt werden z.B. der Dschihad, Bin Laden, die Terroranschläge des 11. Septembers, der Krieg in Afghanistan und sogar der Antisemitismus. Eine »NeoMuslima« lobt die »Helden mit Teppichmessern« in Afghanistan: »Die Taliban haben Kriminalität für Gott gemacht. Sie dachten nicht an irgendeinen Lohn. […] Sie hassen und der Hass veredelt ihren Glauben.«110 In der Rede wird ein ›Bündnis der Muslime‹ imaginiert, das sich für das weitverbreitete Bild des ›Barbaren‹ rächt. Auf diese Weise wird die Religion zur Waffe erklärt, mit der die ›Jungfrauen‹ das Andere vernichten: »Ich mache Kriminalität für das, was oberhalb der Wolken ist. Ganz bestimmt suche ich nicht die Anerkennung der Menschen, die für den Allmächtigen nur ihr müdes Lächeln übrig haben.«111 Auch hier unterstützt die Monologform des Theaterstücks die von den Rednerinnen erwünschte anti-ökumenische Haltung. In der von ihnen gewollten und umgesetzten ›Selbstghettoisierung‹ innerhalb der deutschen Gesellschaft suchen sie in der Religion eine Allianz über nationale Grenzen hinweg.112

109 Richard Herzinger: Regeln des Zusammenlebens, S. 8. 110 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen b, Nr. 9. 111 Vgl. ebd., Nr. 10. Im Monolog heißt es weiter: »Im heiligen Krieg finde ich meine Unterweisung. Er bedeutet nichts Geringeres als den Krieg gegen alles, was den einen Gott bekämpft.« 112 In Bezug auf die Politisierung religiöser Symbole ist an dieser Stelle auf die Verbindung des Kopftuchs mit den kemalistischen Reformen hinzuweisen: Der türkische Nationalismus wurde u.a. an der Entschleierung der Frau als Symbol der Befreiung bzw. Annäherung an ›westliche‹ Stile und Distanzierung von der islamischen Welt verhandelt. Mehr dazu fin-

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Ökonomisierung des Heiligen Aus der Rede von einem »Ausländerislam« ergibt sich die Frage nach der Ökonomisierung religiöser Praktiken. Wird diese Religion nach Europa importiert und trägt sie eine Warenmarke ›Not Made in Germany‹? Und unterscheidet sich der »Ausländerislam« in der Qualität vom »Inländerislam«? Insbesondere die Figur des konvertierten Deutschen stellt eine Verbindung zum Islam-Boom in Europa her. Schon das Bühnenbild erscheint als Schaufenster, in dem »Schaufensterpuppen« einen Islam for Sale bzw. Islam on Sale ankündigen – ein Eindruck, der durch ihre eingeschränkte körperliche Mobilität während der Aufführung verstärkt wird. Mit ihrer Sprache und ihrem Lebensstil werben die ›Jungfrauen‹ für eine moderne Modeware, den LifestyleIslam bzw. ›Laufsteg-Islam‹. Der Islam wird in der Tat im Theaterstück als Produkt präsentiert, das im Angebot ist. Wenn der Inhalt der Monologe sich um die Kopfbedeckung dreht, d.h. um ein Stück Textil, dann ist zu erwarten, dass die Wirtschaft darauf reagiert und aus dem ›neuen‹ Glauben Kapital schlägt. So sprechen die Frauen z.B. von ihrem »Marktwert«, vom Kopftuch als »hochmodische Seidenhaube«113 oder davon, dass sie sich nach ihrem Islamstil schmücken.114 Obwohl die verschleierten bzw. konservativen Frauen, so die Rednerin in Monolog vier, »bei der Mehrheit der Deutschen nicht unbedingt wohlgelitten« sind, zeige die Modeindustrie sofort eine marktorientierte Reaktion auf den neuen islamischen Trend: Hinter der Popularisierung bzw. Verbreitung des muslimischen Glaubens in Europa stecke u.a. eine wirtschaftliche Motivation, die in einer zunehmenden Frömmigkeit bzw. in der Konversion eine Möglichkeit für Handel und Gewinn sieht.115 Die Aussage impliziert die komplexe Verflechtung von Wirtschaft, Politik und Religion, die vor allem durch die Modeindustrie rentabel wird. det sich in: Christina von Braun/Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit, S. 309-322. 113 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen, S. 46. 114 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen b, Nr. 2 und Nr. 5. 115 »Was macht aber die Industrie? Sie lässt verschleierte Models über den Laufsteg stolpern […]. Die Industrie klaut die Idee, sie klaut das Textil, an der Seele ist sie ja nicht interessiert.« Vgl. Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen, S. 50.

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Mit Gott wird in den Monologen ebenfalls gehandelt. So ist z.B. in Zusammenhang mit dem islamischen Gebot vom »Schachern« oder »Feilschen« mit ihm die Rede.116 Die kommerzielle Sprache garantiert, dass das neu getaufte Produkt, der »Neo-Islam«, jedem zur Verfügung steht. Der weibliche Körper wird zur Zielscheibe von Ökonomisierung und bietet sich wie ein ›Werbeplakat‹ zur Beschriftung bzw. Etikettierung an. In einem Monolog steht die Aussage einer »Neo-Muslima« stellvertretend für die Bekämpfung der Vermarktung des Islams. Sie sieht die Kulturindustrie daran beteiligt, das exotisch-bedrohliche Produkt an die Öffentlichkeit zu bringen. Die Sprecherin berichtet von den Buchveröffentlichungen über unterdrückte Frauen, die in der westlichen Welt ihre Freiheit erlangen. Sie will die Produzenten der Ware, »diese Nestbeschmutzerschlampen«,117 bekämpfen, die mit ihrem Glauben lediglich Gewinn machen wollen: »Die Frage lautet: was haben all diese pseudo-modernen Tussen davon? Sie betreiben ein kleines mieses Geschäft. Es bringt einbisschen Geld, einbisschen Ruhm. Morgen sind sie schon vergessen. Morgen wird man sie als untalentierte Entfesslungskünstler belächeln. Sie haben keine Kraft. Deshalb müssen sie Zorn vortäuschen.«118

Nicht nur die Produzenten von Geschichten über das weibliche islamische Märtyrertum werden attackiert, sondern auch die Konsumenten, die in einen negativen Exotismus involviert sind: »Die Deutschen schauen sich das Schlampentheater an. Sie füllen die Zuschauer rein bis zum letzten Platz. […] Und was ist das dramatische Element? Das Moslem-Mädchen kommt in die europäische Metropole. Es lässt sich den Wind der Freiheit um die ungepuderte Nase wehen.«119

116 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen b, Nr. 9. 117 Ebd., Nr. 5. 118 Ebd. 119 Ebd.

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Religionssynkretismus versus sprachliche Orthodoxie Obwohl die Interviews in Schwarze Jungfrauen um das Wesen der (neo-)islamischen Identität kreisen, werden auf der Bühne sowohl (vor-)islamische als auch christliche Symbole vor allem durch das Bühnenarrangement und die Kostümierung miteinander in Verbindung gebracht. Der Monolog der konvertierten deutschen Muslima liefert ein erstes konkretes Beispiel für die Gegenüberstellung der christlichen und der islamischen Religion: »Ich bin eine deutsche Muslima, ich bin die Tochter einer kreuzkatholischen Frau, die mir zuliebe das Kruzifix in meinem Kinderzimmer abgehängt hat. Vielleicht wird auch meine Mutter einsehen, dass Allah kein Ausländer ist.«120 In diesem Monolog wird der religiöse Umbruch, der in Europa stattfindet, anhand der Entwicklung über zwei Generationen innerhalb einer Familie erfasst. Demgegenüber steht die sprachliche Orthodoxie, die Rede von einer einzig »wahren Religion« sowie die Diffamierung anderer Religionen. Denn die Konstruktion des Heiligen funktioniert in vielen Monologen erst, indem Sakrilege an anderen heiligen Kontexten begangen werden: Es ist u.a. die Rede von »den verpfuschten Evangelien« und »den verpfuschten Gesetzen der Juden«.121 Der Begriff des Synkretismus stammt ursprünglich aus dem Bereich der vergleichenden Religionswissenschaft und bezeichnet die Fusion von Elementen, die verschiedenen Religionen entstammen.122 Der Begriff wurde für kulturwissenschaftliche Kontexte übernommen und erwies sich als ergiebig für die Bezeichnung der Verschmelzung von ursprünglich entgegengesetzten Orientierungen oder Prinzipien, die z.B. für den Postkolonialismus sowie für Migrationskontexte charakteristisch sind. In Schwarze Jungfrauen wird die Bühne in einen Ort verwandelt, wo diverse religiöse Praktiken ineinander aufgehen könnten, allerdings durch die praktizierte Strenggläubigkeit schließlich getrennt bleiben. So ist im Theaterstück beispielsweise mehrfach vom Akt des »Beichtens« die Rede, das außerdem als Sprechakt das ganze 120 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen a, S. 55. 121 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen b, Nr. 5. 122 Wobei der Begriff im Laufe seiner Entwicklung nicht immer positiv konnotiert war, sondern zunächst eine »illegitime« Vermischung bezeichnete. Vgl. Fahlbusch, Erwin: The Encyclopedia of Christianity, Michigan: Eerdmans 2008, S. 267.

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Theaterstück charakterisiert und sich als adäquate Form für das Verbalisieren tabuisierter Inhalte erweist. Vor allem die Anonymität der Rednerinnen und die Rhythmisierung der gesprochenen Bekenntnisse durch die Montage betonen die Absicht des Ablegens eines Geständnisses in einer Form, die es im Islam nicht gibt. Die tempelähnliche Bauform soll ferner die ›Jungfrauen‹ in ihrer Zurückgezogenheit und dem damit verbundenen Wunsch der Annäherung an das Heilige unterstützen. In ihrer Abkapselung und dem Streben nach Jungfräulichkeit erheben die Sprecherinnen die nonnenhafte Lebensform in einem Kloster zum (räumlichen) Isolationsprinzip. Der Verzicht auf weltliche Lüste und die ersatzweise ›Vermählung‹ mit Gott basieren ebenso auf christlichem Vorbild, das die ›Jungfrauen‹ im Theaterstück nachahmen wollen. In einem Monolog heißt es: »Mein Glaube sieht nicht vor, dass ich mich aus dem Leben zurückziehe. Ich würde es gerne. Verschwinden. Meinen Morgen und meinen Abend mit Gottesdienst verbringen.«123 Der weibliche Schleier, den die ›Jungfrauen‹ zu einem wichtigen Konstituenten ihres Glaubens erklären, wird eher im Christentum (z.B. in der Nonnentracht) als im Islam mit Jungfräulichkeit verbunden, denn die Haarbedeckung wird im Islam ab dem fortpflanzungsfähigen Alter erwünscht bzw. praktiziert, unabhängig vom Familienstand einer Frau. In einem Monolog spricht die Rednerin in der Tat anstatt vom Kopftuch von der »Nonnentracht«.124 Die Kopfbedeckung an sich ist außerdem eine christliche Tradition. In Verschleierte Wirklichkeit schildern die Kulturwissenschaftlerinnen Christina von Braun und Bettina Mathes die Genese des Schleiers, der im siebten Jahrhundert in christlichen Gebieten z.B. des Nahen Ostens getragen wurde. Die Christen hatten die Kopfbedeckung wiederum von Juden und Griechen übernommen. Erst ab dem neunten Jahrhundert fingen muslimische Frauen an, auch ein Kopftuch zu tragen, wobei dieses Kleidungsstück damals keine religiöse Bedeutung hatte, sondern als Zeichen der Zugehörigkeit zur oberen sozialen Schicht verstanden wurde.125 Die Verbindung zwischen den verschie-

123 Feridun Zaimoglu: Schwarze Jungfrauen a, Nr. 9. Eigene Hervorhebung. 124 Vgl. ebd., Nr. 1. 125 Christina von Braun/Bettina Mathes: Verschleierte Wirklichkeit, S. 184191. Die Autorinnen setzen ihre Argumentation fort, indem sie den als fremd empfundenen Schleier der muslimischen Frau heutzutage mit der

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denen religiösen, vor allem aber auch kulturellen Einflüssen, zeigt, inwiefern die Kopfbedeckung mit den bereits ausgeführten Aspekten der Ökonomisierung, Politisierung und Sexualisierung aufgeladen ist. Die Kopfbedeckung ist das Ergebnis einer sozialen und kulturellen Entwicklung. Ein weiterer Wandel vollzieht sich, indem das Kleidungsstück und im Allgemeinen der Islam im Theaterstück eine Projektionsfläche bieten, an der die radikalisierte Selbstermächtigung verübt wird.126

als familiär betrachteten Kopfbedeckung von Nonnen oder Bäuerinnen vergleichen. 126 In Verschleierte Wirklichkeit wird die These aufgestellt, dass am Kopftuch muslimischer Frauen sowie an der islamischen Geschlechterordnung Probleme der westlichen Gesellschaft verhandelt werden. Der Schleier wird bei den zwei Autorinnen somit als Projektionsfläche europäischer Diskurse betrachtet. Vgl. ebd.

V Das deutsch-türkische Kabarett

5.1 Ü BER

DIE E NTSTEHUNG UND E NTWICKLUNG DES DEUTSCH - TÜRKISCHEN K ABARETTS

Anders als der Roman und die Lyrik, von Anfang an künstlerische Ausdrucksformen der Migration, wurde das Kabarett als Chance, Migrationserfahrungen zu verarbeiten, später entdeckt.1 Erst in den achtziger Jahren kamen das Kabarett und die Satire als Möglichkeit der Selbstrepräsentation für deutsch-türkische Migranten in Frage und boten ein passendes Format für die Darstellung der Gastarbeiter- und Migrationsthematik. Nicht nur Klischees über das ›Aufnahmeland‹, sondern auch über die eigene Heimat wurden zur Kritik sozialer Missstände funktionalisiert. Bekannt waren unter den ausländischen Kabarettisten und Satirikern nur die deutsch-türkischen: »Dass die Satire zu einem starken Genre der türkisch-deutschen Literatur wurde, verdankt sich zum einen dieser Häufung gegenseitiger Vorurteile und

1

Vgl. Terkessidis, Mark: Kabarett und Satire deutsch-türkischer Autoren, in: Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland, Stuttgart: Metzler 2007, S. 294-301, hier S. 294. Ein detaillierter Überblick zur Geschichte des deutsch-türkischen Kabaretts findet sich in: Erol M. Boran: Eine Geschichte des ürkisch-deutschen Theaters und Kabaretts, vor allem S. 201-290. Im Folgenden werden nur die wesentlichen Punkte erwähnt, die für die Anaylse des Werks der zwei ausgewählten Kabarettisten von Belang sind.

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Klischees, zum anderen dem Umstand, dass es auch in der Türkei-türkischen Literatur ein beliebtes Genre ist.«2

Die Beliebtheit dieser Gattungen hängt u.a. mit ihrer politischen Orientierung zusammen: Neben der Karikatur bilden Satire und Kabarett in der Türkei »getarnte« künstlerische Formen, die beispielsweise mit Stilmitteln der Ironie die Zensur oder die Einschränkung der Meinungsfreiheit umgehen können.3 Die Anfänge des deutsch-türkischen Kabaretts sind bei Şinasi Dikmen und Muhsin Omurca zu finden. Zusammen gründeten sie das Kabarett Knobi-Bonbon, das bis zu seiner Auflösung im Jahre 1997 unterschiedliche migrationsspezifische Themen aufgriff. Dikmen, auch der »Dieter Hildebrandt des türkischen Kabaretts«4 genannt, schloss sich danach mit seiner Frau Ayşe Aktay zusammen und formte mit ihr das Kabarett Änderungsschneiderei KÄS, das schon durch den Namen auf mehrere Themen verweist, mit denen sich die Programme befassen: z.B. die Kreolisierung der Sprache als ›Flickwerk‹ oder die entstandenen Patchwork-Identitäten.5 Mit Bühnenrequisiten, etwa einer Nähmaschine und Kleiderständern, stellt Dikmen in seinem Programm Kleider machen Deutsche Formen der ethnischen Maskierung als

2

Yeşilada, Karin E.: Deutsch? Türkisch? Deutsch-türkisch? Wie türkisch ist die

deutsch-türkische

Literatur?

Hier

aus:

www.migration-

boell.de/web/integration/47_1852.asp. Das Genre der Satire konnte bei Migranten anderer Herkunftsländer (bisher) nicht als signifikante Ausdrucksform identifiziert werden. Auch in Chiellinos Handbuch Interkulturelle Literatur in Deutschland, in dem ein ausführlicher Überblick u.a. zum Kabarett von Migranten in Deutschland gegeben ist, findet nur das deutsch-türkische Kabarett Erwähnung. Vgl. Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. 3

Mark Terkessidis: Kabarett und Satire deutsch-türkischer Autoren, S. 294.

4

Vgl. Stahr, Volker S.: Lustige Integraten. Die Deutschtürken auf der Kleinkunstbühne verstehen sich nicht als Vertreter einer bedauernswerten Randgruppe. Sie wollen weg vom ewigen Ali, in: Rheinischer Merkur am 13.9.2007, S. 19-22, hier S. 20. Dieter Hildebrandt entdeckte den deutschtürkischen Künstler und engagierte ihn 1983 für sein Programm Scheibenwischer.

5

Vgl. Erol M. Boran: Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts, S. 239ff.

D AS DEUTSCH- TÜRKISCHE K ABARETT

| 147

Deutscher als Voraussetzung für die Ankunft und Akzeptanz in der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Dikmen spielt bis heute im KÄS, wo er 2007 auch sein aktuelles Programm Islam für Anfänger uraufführte.6 Sein Humor bleibt in den Aufführungen nicht auf eine dem Publikum fremd erscheinende Religion beschränkt: Auf satirische Weise stellt er Verbindungen zwischen der islamischen Religion und der deutschen Alltagspolitik her und schafft den Zuschauern einen gemeinsamen Lachnenner: Wolfgang Thierse, dem man sein Doppelleben als Imam ansehe; Joschka Fischer mit seinen vier Frauen; Herbert Grönemeyer, der sich in der Freizeit als Muezzin betätige, und Otto Schily, der sich gerade zum Ajatollah ausbilden lasse.7 Omurca, auch bekannt als ›Vater des Migrantenkabaretts‹, ist nicht nur als Kabarettist, sondern auch als Cartoonist und Karikaturist berühmt geworden. Nach der Auflösung von Knobi-Bonbon setzte er seine Karriere als Solo-Kabarettist fort. Ähnlich wie viele Kabarettisten, die eine Musik-Performance in ihre Show integrieren, arbeitet auch Omurca intermedial, allerdings nicht mit Musik, sondern mit selbstgezeichneten Karikaturen, die während der Aufführungen an die Wand projiziert werden. Damit gründet er das erste Cartoon-Kabarett in Deutschland. Bekannt wurde er mit seinem ersten Solo-Programm Tagebuch eines Skinheads in Istanbul: Omurca spielt auf der Bühne die Figuren des Skinheads Hansi, des Simultandolmetschers Ali, auch Simulti-Ali genannt, und des Pädagogen Dr. Botho Kraus. Der Skinhead muss nach einer fremdenfeindlichen Brandstiftung eine »Umerziehungstherapie« in der Türkei unternehmen. Ziel der Reise, die Omurca während der Aufführung mit Cartoons auf Dias zeigt, ist der Abbau von Klischees. In diesem Sinn kann Somunçus Lesung aus Hitlers Mein Kampf als Entfaltung des bereits bei Omurca aufgenommenen Themas des Nationalsozialismus betrachtet werden, wovon nochmals bei der Analyse von Somunçus Kabarett die Rede sein wird. Omurcas Programm Kanakmän – Tag Deutscher, nachts Türke aus dem Jahr 2000 – mit der Titelfigur Kanakmän, einem türkischen ›Superman‹ – befasst sich u.a. mit Fragen der doppelten Staatsangehörigkeit sowie mit Vor- und Nachteilen des türkischen und deutschen

6

Das Lachen über ein Thema, das sonst mit Gewalt verbunden wird, wurde ungefähr zur Zeit der Entstehung seines Programms auch in der TVFamilienserie Türkisch für Anfänger aufgegriffen.

7

Vgl. Volker S. Stahr: Lustige Integraten, 20.

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Passes.8 Im Jahre 2009 führte Omurca seine zwei neuesten Programme auf: Türkenhimmel und die EUmanen kommen. Letzteres setzt sich mit der Vermählung der Türkei mit der EU, wie der Inhalt des Programms oft angekündigt wurde, auseinander.9 Das Programm ist in der Tat als Hochzeit konzipiert: Die Türkei bereitet sich auf die Hochzeit des Jahrtausends vor, die Wünsche der »EU-Braut« nehmen kein Ende. Trotzdem wird von der Hochzeitsnacht und den gemeinsamen Kindern geträumt.10 In den neunziger Jahren formten sich weitere Ensembles: zwei deutsch-türkische Frauen-Kabarettgruppen, die sich in ihrem Programm vor allem mit Fragen beschäftigen, die aus der Position einer doppelten Minderheit resultieren. Das erste Ensemble gründete 1992 die Schauspielerin und Kabarettistin Nursel Köse unter dem Namen Bodenkosmetikerinnen. Die zunächst als Quintett begonnene Zusammenarbeit (eine deutsche und vier türkische Frauen) löste sich angesichts des Comedy-Booms auf. Bis 2007 schließlich auch die Zusammenarbeit zwischen den beiden Frauen pausierte, führten nur noch Nursel Köse und Serpil Pak auf.11 Allein durch den Kontrast zwischen der auf der Bühne verkörperten Opferrolle und der Selbstrepräsentation als Kabarettistin sollte den Klischees über die Isolation und Unterdrückung türkischer Migrantinnen entgegengewirkt werden. Die Arbeit als Putzfrau steht dabei einerseits für die Tätigkeit, die viele Frauen zu Beginn der Gastarbeitermig-

8

Erol M. Boran: Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und

9

Vgl. u.a. die Webseite des Kabarettisten: www.omurca.de.

Kabaretts, S. 257f. 10 Mehr zum Kabarett von Omurca und Dikmen findet sich in: Dunphy, Graeme: Cold Turkey. Domesticating and Demythologising the Exotic in the German Satires of Sinasi Dikmen, Muhsin Omurca and Django Asül, in: Ders. (Hg.): Hybrid Humour. Comedy in Transcultural Perspectives, Amsterdam/New York: Rodopi 2010, S. 139-168. 11 Die Darstellung eines Gastarbeiterinnen-Kollektivs wurde bereits in Bezug auf Özdamars Erzählungen erwähnt. Das Theaterstück Karriere einer Putzfrau (Kapitel 4.1) befasst sich mit einer ähnlichen Schicht. Die Brücke vom Goldenen Horn dreht sich um Geschichten über Gastarbeiterinnen anhand einer Gruppe von türkischen Arbeiterinnen in einer Fabrik in Deutschland. Die Figuren der Putzfrauen und Fabrikarbeiterinnen gewähren Einblick in eine getrennte, entfernte und geschlossene Frauenwelt.

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ration ausüben, und andererseits für den Anspruch, Themen wie Gewalt oder Benachteiligung sowohl in der Gesellschaft als auch in den eigenen Familien ›wegzuräumen‹. Das zweite Frauenkabarett dreht sich, ähnlich wie bei den Bodenkosmetikerinnen, um die Figur der Putzfrau, die als Paradigma für die türkische Eingewanderte der ersten Stunde fungiert. Im Kölner Putzfrauen-Kabarett, das sich in den neunziger Jahren formte, geht es um die untere Schicht türkischer Gastarbeiterinnen. Im Jahre 2009 führte das Ensemble das Programm Multi-Kultimo – Das kultimative 7. Programm am Arkadaş Theater – Bühne der Kulturen auf. Neben Dikmens Islam für Anfänger ist dieses Programm stellvertretend für eine thematische Entwicklung des deutsch-türkischen Kabaretts zu nennen: Ging es in den ersten Jahren um den Alltag türkischer Frauen im Allgemeinen, so ist im Laufe der Zeit eine starke Hinwendung in Richtung aktueller islamischer Themen zu bemerken. So greift ihr Programm u.a. die Debatte über das Kopftuch auf. Im Laufe der Zeit lösten sich, wie schon erwähnt, die Ensembles auf. Die Kabarettisten traten anschließend als Solisten auf, was zum Teil in der Entwicklung des deutschen Kabaretts seit dem Anfang der achtziger Jahre begründet ist.12 Zum anderen wird die »Popularität des Monodramas im türkischen Theater« als möglicher Einfluss auf diese Entwicklung verstanden.13 Zu den bedeutenden Solisten der ersten Generation, die allerdings auf wenig Medienresonanz stieß, zählt Sedat Pamuk, der als erster deutsch-türkischer »Meddah« bezeichnet wird.14 In seinem Programm Gastarbeiter-Los geht es um das Thema der Arbeitslosigkeit: Pamuk spielt die Figur eines Türken und die eines deutschen Sozialarbeiters, der nach zwanzig Jahren seine Doktorarbeit über Migranten abge-

12 Erol M. Boran: Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts, S. 237. 13 Ebd. 14 Ebd. Die Meddah-Erzählkunst bezeichnet Aufführungen einer Person, die meist in Kaffeehäusern stattgefunden haben. In ihren Shows mischten die Meddahs, so heißen die Erzähler, Lyrik und Anekdoten und inszenierten dabei verschiedene Rollen. Den Höhepunkt ihrer Popularität erreichten die Meddahs, so Boran, im 17. und 18. Jahrhundert. Vgl. S. 43f. Mehr zu dieser Erzählkunst findet sich in: Yüksel Pazarkaya: Rosen im Frost.

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schlossen hat.15 So sieht sich der Türke verpflichtet, ein Problemfall zu sein, damit der Sozialarbeiter seine Tätigkeit ausüben kann und nicht arbeitslos wird. Pamuk dreht in seinen satirisch-kabarettistischen Darstellungen die »gewöhnlichen« Rollen der türkischen »Problemfälle« um: Es stellt sich in seinem komischen Programm heraus, dass Türken keine Problemfälle haben, sondern nur welche fingieren. Ähnlich wie die Literatur und das Kino der Migration durchlief das deutsch-türkische Kabarett wesentliche Veränderungen. Die aufklärerische Rolle, die dem deutsch-türkischen Kabarett zugeschrieben wird,16 gilt eher für die Anfänge des Migrationskabaretts. Die neue Phase, verkörpert etwa von Serdar Somunçu und Django Asül, zeigt eine Hinwendung zu ›deutschen‹ alltagspolitischen Themen. Präsentiert wird diese Phase nicht ausschließlich durch die junge Generation. Auch die Pioniere der ersten Stunde greifen in ihrem Programm neue Themen auf, wie z.B. Omurca, der – genauso wie Serdar Somunçu – ein Programm verfasst, das sich mit der deutschen Nazi-Vergangenheit bzw. der Neonazi-Gegenwart auseinandersetzt und eine Wende in den Live-Darstellungen bildet: »Dieser gewagte Vorstoß in innerdeutsche Themen und Fragestellungen, der im Bereich der Literatur bei Autoren wie Feridun Zaimoglu und vor allem Zafer Şenocak Parallelen findet, stellt eine neue Phase in der Entwicklung des türkisch-deutschen Kabaretts dar.«17

Anhand der Aufführungen der ›neuen‹ Generation kann man außerdem feststellen, dass das deutsch-türkische Kabarett ähnliche Entwicklungen wie das Migrantenkino durchlief, vor allem was die Themen und die kreierten Figuren betrifft. Spielten die Kabarettisten der ersten Generation die Figur der Putzfrau oder des Schneiders, die als Prototypen des Deutsch-Türken dargestellt wurden, so handelt es sich im

15 Vgl. Erol M. Boran: Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts, S. 237f. und Brandt, Bettina: German Comedy, in: Charney, Maurice (Hg.): Comedy. A Geographic and Historical Guide, Westport: Greenwood 2005, S. 350-362, hier S. 359f. 16 Mark Terkessidis: Kabarett und Satire deutsch-türkischer Autoren, S. 300. 17 Vgl. Erol M.: Eine Geschichte des türkisch-deutschen Theaters und Kabaretts, S. 203.

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Kabarett der zweiten Generation beispielsweise um die Figur des Polizisten, Bankkaufmanns oder Musikers. Eine neue Generation von Komödianten erlangte in den letzten Jahren Bekanntheit, von denen Kaya Yanar den meisten Erfolg hat.18 Während die bisher erwähnten Kabarettisten ihre Karriere auf der Kleinkunstbühne begannen, sind Yanar und neben ihm eine Gruppe von deutsch-türkischen Komödianten im Fernsehen bekannt geworden, wie z.B. Fatih Çevikkollu, Bülent Ceylan und Murat Topal. Von der klassisch politischen Kabarettszene haben sie sich abgegrenzt und sich mit einem zum größten Teil (inter-)kulturellen Programm selbständig gemacht. Ihr Programm lässt sich mehr den Comedy-Shows zuordnen, da es wenig politisch-satirische Töne und hauptsächlich Unterhaltung zum Ziel hat. Das Kabarett bezeichnet hingegen – und darin besteht der hauptsächliche Unterschied zur Comedy – die Kleinkunst, die als eigenständige Bühnenform existiert.19 Das heißt, dass es sich zunächst um einen medialen Unterschied handelt, der jedoch auch verschiedene Darstellungsziele und -modi zur Folge hat (z.B. Unterhaltung versus Kritik, Komik versus Satire). Neben Yanar genießt vor allem Ceylan Renommee unter den Comedians. Sein Programm zeigt einige Ähnlichkeiten zu VarietéShows: Die künstlerische Form, die vor allem im Frankreich des 19. Jahrhunderts populär war, bezeichnet im Unterhaltungstheater die nummernlosen Folgen aus Tanz, Musik und Text, die in schneller Folge nacheinander abwechseln.20 In seinen Aufführungen baut Ceylan Musik-Intermezzos ein und verkleidet sich auf der Bühne, um die verschiedenen Figuren seines Programms darzustellen, worauf noch genauer eingegangen wird. Am bekanntesten ist sein Programm Halb

18 Vgl. Kapitel 3.2.1 der vorliegenden Arbeit. 19 Mehr zum Unterschied zwischen Kabarett und Comedy sowie zur Entwicklung der zwei Formate findet sich in: Reinhard, Elke: Warum heißt Kabarett heute Comedy? Metamorphosen in der deutschen Fernsehunterhaltung, Münster: LIT 2006. 20 Die Bezeichnung »Nummer«, die heutzutage zur Beschreibung der einzelnen Teile eines Kabarettprogramms benutzt wird, stammt ursprünglich aus dem Bereich des Varietés. Vgl. McNally, Joanne Maria/Sprengel, Peter: Hundert Jahre Kabarett. Zur Inszenierung gesellschaftlicher Identität zwischen Protest und Propaganda, Würzburg: Königshausen & Neumann 2003, S. 15.

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getürkt, mit dem er im Jahre 2005 zum ersten Mal auf Tournee ging. Weitere Programme sind Döner For One (2002), Kebabbel net (2007) und das neueste Ganz schön turbülent (2009). Weniger prominent ist Murat Topal, der türkische Polizist, der vor allem im Quatsch Comedy Club bekannt wurde und in seine Shows, wie z.B. im Programm Getürkte Fälle. Ein Cop packt aus! (2005), Fälle aus seiner Karriere als Polizist einbaut. Anders als Topal erlangte Çevikkollu zuerst auf der Bühne Ruhm mit dem Programm Fatihland (2005). Çevikkollu versuchte sich wie Somunçu und Asül auch als Autor: Im Jahre 2008 erschien seine Satire Moslem-TÜV: Deutschland einig Fatihland. Vor allem im Programm von Yanar und Ceylan bietet die Komik einen passenden und breiten Rahmen für die Entstehung neuer Genres, wie z.B. die Ethno-Comedy. Dieses Genre basiert auf der komischen Verarbeitung ethnischer Stereotypen sowie der Verkörperung u.a. indischer, türkischer, chinesischer und arabischer Charaktere.21 Ein weiteres Genre bilden die aus den USA importierten Sitcoms (kurz für situational comedy), zu denen die Familienserien Türkisch für Anfänger oder Alle lieben Jimmy gehören.22 Wie an verschiedenen Stellen der Arbeit angemerkt, kann nicht pauschal von einer zweiten Generation deutsch-türkischer Kabarettisten gesprochen werden, denn innerhalb dieser Generation lassen sich verschiedene Tendenzen bemerken. Während sich nur wenige Kabarettisten von interkulturellen Themen losgelöst haben, genießen die meisten von ihnen Renommee vor allem deshalb, weil sie mit dem Culture-Clash-Kabarett Programm machen, das seine Nummern hauptsächlich aus deutsch-türkischen Themen und Klischees schöpft. Aber auch innerhalb der interkulturellen Themenorientierung unterscheiden sich die Kabarettisten untereinander. Murat Topal und Bülent Ceylan bauen zwar türkische Rahmenfiguren in ihre Handlung ein, bleiben aber in ihrem Programm bei der Darstellung von alltäglichen

21 Keding, Karin: Ethno-Comedy im deutschen Fernsehen, Berlin: Frank & Timme 2006. Viele der genannten deutsch-türkischen Ethno-Comedians sind nach dem Vorbild der »Da Ali G. Show« in Großbritannien entstanden. Vgl. Karin E. Yeşilada: Turkish-German Screen Power. 22 Mehr zu den Sitcoms findet sich in: Elke Reinhard: Warum heißt Kabarett heute Comedy?

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Situationen. Asül funktionalisiert hingegen die national-basierte Rahmenfigur für seine politische Agenda.

5.2 W ER IST DAS »I CH « AUF DER B ÜHNE ? Ü BER DIE B ESONDERHEITEN SATIRISCHER L IVE -D ARSTELLUNGEN IM H INBLICK AUF DEUTSCH - TÜRKISCHE A UFFÜHRUNGEN Die Dramenanalyse in Kapitel 4 zeigte verschiedene Möglichkeiten der Illusionsdurchbrechung. In Keloğlan in Alamania fügte sich eine Autorin-Figur in die Handlung ein, während in Schwarze Jungfrauen die durchgeführten Interviews als Vorlage für das Theaterstück Authentizität versprechen sollten. In beiden Fällen bleibt jedoch die »vierte Wand«, die unsichtbare Trennungslinie zwischen Schauspielern und Zuschauern, bestehen. Die Theaterschauspieler bleiben auf der auf der Bühne dargestellten fiktionalen Ebene und führen ihre Rolle losgelöst von der Anwesenheit des Publikums auf. Während die Durchbrechung dieser Konvention eher eine Ausnahme im Theater ist, bildet die Aufhebung der vierten Wand bzw. der »Fiktionskulisse«23 Teil des Kabaretts. Damit wird das Verständnis von der Bühne als Ort, der von den Geschehnissen der realen Welt getrennt ist, aufgelöst. Kabarettisten adressieren direkt das Publikum, dessen Anwesenheit ein konstituierendes Merkmal der Kabarettaufführung bildet. Abgesehen davon bildet das angenommene (Vor-)Wissen des Publikums die Basis, auf der der Kabarettist seine Aufführung baut, denn das Kabarett ist ein Spiel mit dem erworbenen Wissenszusammenhang des Publikums.24 Die möglichen Gegenstände des Kabaretts, so Henningsen, sind die »Bruchstellen d[ies]es Wissenzusammenhangs«.25 Kabarettistische Darstellungen zeichnen sich also vor allem durch die Sprengung der Grenze zwischen Künstler und Publikum aus. Man kann sagen, dass der Kabarettist kein ›fertiges‹ Programm mitbringt. 23 So heißt Benedikt Vogels Studie zum Kabarett. Vgl. Vogel, Benedikt: Fiktionskulisse. Poetik und Geschichte des Kabaretts, Paderborn: Schöningh 1993. 24 Henningsen, Jürgen: Theorie des Kabaretts, Ratingen: Henn 1967, S. 9. 25 Ebd., S. 29.

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Vervollständigt wird es erst durch die Reaktion des Publikums (Lachen, Applaus, Schweigen, eventuell Antworten auf Fragen des Kabarettisten), die in das Programm eingebaut werden kann. Der Bezug zum Publikum stellt demnach eine interaktive Kommunikationssituation dar und zeigt, inwiefern das Kabarettmachen ein dialogischer Prozess zwischen Kabarettist und Publikum ist.26 Eine zentrale Frage bei der Analyse von Kabarettprogrammen, die außerdem in engem Zusammenhang mit der Fiktionskulisse steht, ist die Frage nach der Identität bzw. Rolle des Kabarettisten. Jürgen Henningsen spricht in seinem Buch über die Theorie des Kabaretts von drei verschiedenen Rollen, die der Kabarettist gleichzeitig realisieren soll: Der Kabarettist trägt einen bürgerlichen Namen, unter dem er in der Regel auf der Bühne auftritt, was im Folgenden als erste Rolle bezeichnet wird. Die zweite Rolle ist die des Kabarettisten, des Bühnendarstellers an einem bestimmten Abend an einem konkreten Ort. Neben der ›realen‹ und der ›künstlerischen‹ Rolle des Kabarettisten kommen die Rahmenfiguren hinzu. Hierbei handelt es sich in der Regel um Charaktertypen, die der Kabarettist in sein Programm integriert.27 Das heißt, auch wenn die Person auf der Bühne unter ihrem Geburtsnamen aufführt, ist der Kabarettist auf der Bühne nicht mit der Person außerhalb des Kabaretts zu verwechseln. In literaturwissenschaftlicher Terminologie wäre dies der Unterschied zwischen Autor und Erzähler. Für deutsch-türkische Kabarettisten ist diese Frage von Belang, insbesondere weil oft seitens des Publikums der Wunsch nach der Ethnisierung bzw. Rückführung der Darsteller auf einen nationalen Kontext oder der Anspruch auf Authentizität durch die Darbietung von Autobiographischem besteht. In diesem Fall wird die zweite Rolle des Kabarettisten als Bühnendarsteller ausgeblendet bzw. mit der ersten zusammengefügt.28

26 Vgl. Pschibl, Kerstin: Das Interaktionssystem des Kabaretts. Versuch einer Soziologie des Kabaretts, Dissertation 1999. Hier aus: http://epub.uniregensburg.de/9858/1/Dissertation-Pschibl.pdf. 27 Vgl. Jürgen Henningsen: Theorie des Kabaretts, S. 19. 28 Vgl. Mark Terkessidis: Kabarett und Satire deutsch-türkischer Autoren, S. 298: »In ihrem Kabarett [das Kabarett der deutsch-türkischen Künstler] geschieht etwas Seltsames: Zwar führen auch sie bestimmte Figuren vor

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Vor allem beim Spiel der dritten Rolle befreien sich die Kabarettisten von der ›Pflicht der Repräsentation‹ als Türke. Anstatt Anspruch auf Authentizität in einer deutsch-türkischen kabarettistischen Aufführung zu erheben, sind die Migrationsangaben als Teil der Kabarettnummern zu betrachten.29 Das wird sich vor allem bei der Analyse von Somunçus Kabarett zeigen, in dem der Bühnendarsteller Somunçu eine kabarettistische Rolle spielt, aus der heraus er die Rahmenfigur Hitlers oder Goebbels verkörpert. In diesem Fall wird durch die Nivellierung von Nationalität durch die Themenauswahl das Publikum zur Wahrnehmung des Unterschieds zwischen Kabarett und autobiographischen Satire-Darstellungen provoziert. Neben den biographischen Nummern bzw. Elementen in ihrem Programm bilden u.a. regionale Aspekte Referenzpunkte für weitere Rahmenfiguren – in Asüls Fall beispielsweise das Niederbayrische. Die Komik des Programms von Somunçu und Asül basiert auf dem Bruch der Erwartung des Publikums. Durch das kontinuierliche Spiel der Maskierung und Demaskierung wird dieser Bruch hervorgerufen, beispielsweise durch die Darstellung verschiedener national basierter Rahmenfiguren.30 Das heißt, dass viele deutsch-türkische Kabarettisten mit der Ambivalenz spielen, die sich aus der Absenz ihrer (erwarteten) türkischen Identität ergibt. Gelacht wird etwa über Murat Topals Erzählungen von seiner Tätigkeit als Polizist, die die klischeehafte Rolle vom türkischen Kriminellen umkehrt.31 Auch wenn viele deutsch-türkische Kabarettisten, wie z.B. Asül oder Topal, sich in ihrem Kabarettprogramm Details aus der eigenen Biographie bedienen und ihren Bühnenauftritt unter ihrem bürgerli-

und markieren damit eine Nicht-Identität mit dem Dargestellten, aber sie zeigen Figuren, die sie sind.« Hervorhebung im Original. 29 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Somunçu in zwei verschiedenen Aufführungen nicht-identische (pseudo-)biographische Aussagen über seine Mutter macht. Das bestätigt, dass die Person »meine Mutter« eine fiktive (Rahmen-)Figur bezeichnet. Hier täuscht das Reden in der IchForm bzw. das Possessivpronomen »mein«. 30 Gemeint ist in diesem Fall keine (De-)Maskierung im wörtlichen Sinn des Auf- und Ablegens von Masken, sondern der schauspielerische Wechsel zwischen verschiedenen Rollen. 31 Topal, Murat: Getürkte Fälle – Ein Cop packt aus!, Berlin: fun station 2007.

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chen Namen aufführen, sind ihre Nummern nicht strikt als Ausdruck autobiographischen Schaffens zu betrachten: Der Einbezug ihrer Heimatstadt, die Thematisierung ihrer nationalen Zugehörigkeit oder beruflichen Tätigkeiten auf der Bühne geschieht im Rahmen der fiktiven Bühnendarstellung. In seinem Programm ist Django Asül also nicht Django Asül, sondern spielt den Django Asül. Der Kabarettist Django Asül kann in seiner Show zum Teil die eigene Person spielen und z.B., wie in der Analyse herausgearbeitet wird, auf seine niederbayrische Identität rekurrieren, manipuliert aber durch die verschiedenen Rahmenfiguren die Vorstellung von einer einheitlichen Identität bzw. die Vorstellung von der Übereinstimmung der ersten mit der zweiten Rolle des Kabarettisten. Vor allem mit seinen ungenierten Kommentaren und Äußerungen erinnert Somunçu z.B. in seinem Programm Bild lesen sein Publikum daran, dass er zwar unter seinem echten Namen, jedoch ›nur‹ eine Rolle spielt. Bei Somunçu soll dies vor allem die in der Regel vulgäre Darstellerfigur erklären. Die Bühne wird zum adäquaten Ort thematischer Grenzüberschreitungen und obszöner Darstellungen. Hinter der Maske der Komik, die die Bühnenfigur aufsetzt, findet er genügend Spielraum für groteske Aussagen und Anspielungen und übernimmt zudem eine belehrende Funktion. In Somunçus Programm kursiert beispielsweise der Witz, man habe auf den »hergereisten Türken« gewartet, um das Publikum über den Inhalt des verbotenen Buchs aufzuklären.32 Im Unterschied zur konstanten Rolle des Kabarettisten ermöglicht die Rahmenfigur als Stilmittel des Kabaretts des Weiteren das Spielen mehrerer Figuren bzw. den Rollenwechsel zwischen verschiedenen Typen auf der Bühne. Im deutsch-türkischen Kontext ist die Verkleidung als Leit- oder wiederkehrende Rahmenfiguren Teil von Bülent Ceylans Programm. So spielt er z.B. den Mannheimer Hausmeister Manfred oder den türkischen Gemüsehändler Aslan. Meist erhält die kabarettistische oder ironische Aussage erst durch ihre Koppelung an eine dezidiert ausgesuchte Rahmenfigur ihre Bedeutung, die meist auf Klischees aufbaut. So verbinden sich die scherzhaften Aussagen über den Gemüseverkäufer bei Ceylan mit weitverbreiteten Vorstellungen z.B. über den Orientalen als übertreibende, trickreiche Figur.

32 Somunçu, Serdar: Hitler Kebab. Live aufgenommen im Mai 2005 in Köln, München: Sony BMG Music Entertainment 2006.

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Durch die Metaebene der Fiktion und die Verkörperung von Rahmenfiguren auf der Bühne erinnern die Bühnendarsteller daran, dass sie eine ›Rolle‹ spielen. Das Kreieren und Spielen dieser Figuren ist in diesem Sinn als Metaspiel zu verstehen. Die Kabarettisten wirken mit ihrer Loslösung von nationalen Zugehörigkeiten auf der Bühne der Neigung entgegen, die Trennung zwischen darstellerischer und realer Identität deutsch-türkischer Kabarettisten nicht wahrzuhaben. Ähnlich wie in deutsch-türkischen Satiren werden im Kabarett deutsch-türkischer Migranten nicht nur »deutsche Verhaltensmuster und Denkstrukturen angegriffen, sondern auch türkische Eigenschaften«.33 Diese ›Doppelperspektive‹, die die Kabarettisten in ihren Shows konstruieren, entsteht oft durch die Einnahme der Rolle eines Außenseiters. Vor allem die Ungeniertheit bei den Aufführungen und die auf zwei Gruppen gerichteten Attacken entstammen einer ›neutralen‹ Perspektive, die den Eindruck der NichtZugehörigkeit zur einen oder zur anderen Gruppe vermitteln soll. Auch dadurch wird die Erwartung an die Identität des Kabarettisten enttäuscht und daran erinnert, dass der Kabarettist auf der Bühne lediglich eine Rolle spielt und nicht notwendigerweise einer Gruppe angehört. Die Unterscheidung zwischen Rahmen- und Kabarettistenfigur wird im deutsch-türkischen Kabarett z.B. sprachlich (v.a. durch das gebrochene Reden oder den Dialekt), mimisch und gestisch oder in einigen wenigen Fällen, etwa in den Comedy-Shows von Bülent Ceylan oder Kaya Yanar, vestimentär durch ein ethnisches Kennzeichen (Turban, die islamische Gebetskette) hervorgehoben. Während im Theater der Darsteller in der gespielten Rolle ›aufgeht‹, wird der Wechsel zur Rahmenfigur im Kabarett als Teil der Bühnenaufführung inszeniert. Die eindeutige Trennung zwischen der Rolle des Kabarettisten und der Rahmenfigur wird immer beibehalten. Das Publikum soll die Nicht-Übereinstimmung der zwei Figuren identifizieren können, worauf vor allem bei der Analyse von Asüls Programm näher eingegangen wird. Die schwierigere Differenzierung ist diejenige zwischen dem Kabarettisten und der ›realen‹ Figur (der ersten und zweiten Rolle). Ein

33 Yeşilada, Karin E.: Schreiben mit spitzer Feder. Die Satiren der deutschtürkischen Migrationsliteratur, in: Reulecke, Jürgen (Hg.): Spagat mit Kopftuch 1997, S. 529-564, hier S. 538.

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wesentlicher Teil der Komik besteht im Migrantenkabarett im Spiel mit und im Verwischen der Grenze zwischen diesen zwei Rollen. Bülent Ceylan konfrontiert z.B. gleich zu Beginn seines Programms seine Zuschauer mit ihrer ›Enttäuschung‹, sie hätten Geld bezahlt, um den Türken zu sehen.34 Die Komik basiert auf der vom Publikum festgestellten Inkongruenz z.B. zwischen Ceylans Mannheimer Dialekt und dem erwarteten Gastarbeiterdeutsch. Wenn Maskierung und Schauspiel immer das entstellte Subjekt bedeuten, so findet im Kabarett meist eine Hyper-Entstellung statt: Der Kabarettist spielt nicht nur einen anderen, sondern mehrere Figuren hintereinander. Der Wechsel zwischen Rahmenfiguren, die Darstellung von Charaktertypen, aber auch die Variierung zwischen den Charaktertypen (verschiedene Türken, verschiedene Niederbayern) spiegelt an vielen Stellen die multiple Identität sowie den heterogenen Ursprung des Kabarettisten wider. Das sprechende »Ich« auf der Bühne kann im Rahmen der verschiedenen Rollen mehrere Gestalten annehmen. Indem einige deutsch-türkische Kabarettisten beispielsweise die türkischen Angehörigen ihrer Familie zum Objekt ihres Humors machen, integrieren sie häufig auch Einzelheiten aus der eigenen Biographie in ihr Programm. Der Dialog, der z.B. zwischen der Figur des Kabarettisten und einer Rahmenfigur inszeniert wird, eignet sich für die Thematisierung von Familienverhältnissen sowie kulturellen Unterschieden zwischen der ersten Generation von Gastarbeitern und der zweiten Generation von Migranten. Das Reden mit Akzent und die Inszenierung der Naivität der Gastarbeiter der ersten Stunde sind dabei die wichtigsten Merkmale zur Identifizierung von Typen, die der Elterngeneration angehören. Beim Führen dieses Dialogs schließt sich der Kabarettist aus der Gruppe, für die die Rahmenfiguren stehen, aus und erinnert durch seine Position als Außenseiter an die Veränderungen, die sich im Laufe der Migrationsgeschichte ereignet haben. Außer dem Spiel mit der Komik der eigenen Biographie arbeitet das Migrantenkabarett mit der Komik der Tabuisierung bzw. Enttabuisierung deutsch-türkischer Sensibilitäten. Wenn man davon ausgeht, dass das Kabarett auf einer unausgesprochenen Einigung zwischen Darsteller und Publikum auf gemeinsames Wissen basiert und die Komik in den Wissenslücken z.B. mit Mitteln der Ironie entsteht, dann

34 Ceylan, Bülent: Halb getürkt, Burgwedel: tonpool Medien 2006.

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setzt dies das Wissen der Zuschauer über Klischees voraus. In diesem Sinn entschleiert das Kabarett eine allgemeine Tabuhaltung. Die Komik gründet außerdem auf der Tatsache, dass der Kabarettist in diesem Fall Objekt seines eigenen Humors sein kann, was wiederum mit der Frage nach der Identität des Kabarettisten zusammenhängt.35 Die (Ent-) Tabuisierung führt im deutsch-türkischen Kabarett außerdem dazu, dass das Publikum mittels des Kabarettisten zur Zielscheibe des eigenen Lachens wird. Die Zuschauer lachen über ihre Ignoranz, ihre klischeehaften Vorstellungen bzw. über die Normierung dieser Vorstellungen, die beispielsweise durch die ironischen Aussagen des Bühnendarstellers auseinandergenommen werden. Für die meisten deutsch-türkischen Kabarettisten ist die distanzierende oder inszenierte ›neutrale‹ Haltung ein wichtiger Konstituent ihrer Bühnenkomik. Das Publikum lacht, weil es den Darsteller Witze über ›Eigenes‹ machen hört. Auch hier wird durch die Distanzierung des Kabarettisten von seiner Rahmenfigur beim Publikum Verwirrung gestiftet. Der Träger des bürgerlichen Namens im Programmheft und die Figur des Bühnendarstellers entblößen sich unerwarteterweise als nicht-identisch. Dementsprechend wird es in der Analyse um die Frage nach der Rolle der Darstellerfigur bzw. nach der Rolle der eigenen Biographie bei der Gestaltung des Kabarettprogramms gehen. Allein die verschiedenen aufgeführten Rollen bzw. Identitäten des Kabarettisten machen diese künstlerische Form zum karnevalesken Medium par excellence und im Rahmen des besprochenen »Spiels im Spiel« zum Medium (meta-)karnevalesker Darbietungen. Durch die verschiedenen Rollen eignet sich das Kabarett als Medium der Darstellung fremder Rede schlechthin. Bei ironischen Äußerungen, ohne die kabarettistische Aufführungen nicht funktionieren würden, verdichten sich mehrere Stimmen.36 Aufgrund der Vielstimmigkeit, die dem Kabarett inhärent ist, bietet sich dieses Medium für die Darstellung von Themen der Migration an. Die meisten deutschtürkischen Kabarettisten gestalteten ihre ersten Kabarettprogramme mit Geschichten über die Anfänge der Einwanderung ihrer Eltern nach Deutschland. Durch die Rahmenfiguren lassen sich zeitliche und örtliche Schranken aufheben, was z.B. die spielerische Darstellung des

35 Mark Terkessidis: Kabarett und Satire deutsch-türkischer Autoren, S. 299. 36 Waldenfels, Bernhard: Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, S. 163.

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Alltags in den sechziger Jahren ermöglichte. Die Komik, die aus der Gegenüberstellung von zwei Welten resultiert, wird hauptsächlich durch ironische Aussagen und die Abweichung zwischen einer manifesten und einer latenten Stimme produziert. Die Vielstimmigkeit kommt des Weiteren durch den kabarettistischen Bezug zu Texten, Personen und dem Alltagsgeschehen. Durch die Intertextualität, z.B. in Form der Thematisierung alltagspolitischer Fragen oder der Parodierung bekannter Persönlichkeiten, kommt es im Kabarett zur permanenten Fiktionsdurchbrechung. Die Fiktionskulisse, die der Kabarettist auf der Bühne aufbaut, wird außerdem durch das selbstreferentielle Potential des Kabaretts ständig gebrochen. Häufig rekurrieren Kabarettisten auf bereits aufgeführte Nummern ihres Programms und basieren im Laufe eines Abends die nächsten Nummern und Pointen auf bereits Gesagtem. Dem Kabarettprogramm ist demnach ein Dialog immanent. Oft ist diese Selbstreferenzialität auch Teil des komischen Effekts. Typisch für sie sind außerdem die Running Gags, die in einigen Fällen figurgebunden sind und in anderen Fällen eine Verbindung zwischen den verschiedenen Programmen im Gesamtwerk eines Kabarettisten herstellen. Verhindert wird dadurch die ausschließlich fiktionale Geschlossenheit einer Aufführung, allerdings ohne dem ›Text‹ seine Fiktionalität zu entziehen. Wer ist es also, der auf der Bühne redet? Von wem stammen die Äußerungen? Der Kabarettist ist in diesem Zusammenhang ein Beispiel für die Figur der mehrfachen Doppelung, die an einem Ort zwei Figuren verkörpert; ein organischer Körper, der zwei Redner darstellt37 – und dies sogar in einer dynamischen Form durch das permanente Spielen verschiedener Rahmenfiguren. Der Kabarettist bringt bei der Verkörperung einer Rahmenfigur eine ironische oder spöttische Aussage zum Ausdruck, die er qua einer ›außerordentlichen Figur‹ – außerordentlich, weil sie sich z.B. geographisch außerhalb des Bühnengeschehens befindet – vergegenwärtigt. Gleichzeitig distanziert er sich z.B. bei der Nachahmung einer fremden Stimme oder beim akzentuierten Reden von dieser Figur. So lässt sich generell über die Vielstim-

37 Vgl. Kapitel 3 der vorliegenden Arbeit. In seinen Shows verkörpert der US-amerikanische Stand-up-Comedian Jeff Dunham mittels des Bauchredens weitere Figuren auf der Bühne, wie Peanut oder noch bekannter die Figur von Achmed, the Dead Terrorist. Das ›doppelte Reden‹ (ein Körper, zwei Stimmen) ist in diesem Fall konkret.

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migkeit im Kabarett feststellen, dass sie sich sowohl sprachlich als auch figural bildet.

5.3 K OMIK DES T ABUBRUCHS S ERDAR S OMUNÇU

IM

K ABARETT

VON

Im geschichtlichen Überblick hat sich gezeigt, wie sich ein Wandel in Bezug auf den deutsch-türkischen Humor vollzogen hat: Der Türke ist nicht mehr ein(e) Witz(figur), sondern macht selber Witze. Das deutsch-türkische Kabarett der Gegenwart kann als karnevalesk aufgefasst werden: Das Programm der Kabarettisten ist auf satirische Weise oppositionell gestaltet, der Humor richtet sich gegen etablierte Machtstrukturen, spielt mit ›getürkten Türkenbildern‹ sowie Klischees und kehrt dabei die Richtung des Lachens um (vgl. Kapitel 2).38 Das Kabarett von Serdar Somunçu und Django Asül geht einen Schritt weiter: Die interessantere Frage ist im Fall der beiden Kabarettisten, wie sie ihren Witz machen. Anhand der Analyse ihres Programms wird gezeigt, wie durch ›interne‹ deutsche Codes – mit Codes sind hier u.a. Themen, Sprache, Dialekt, Stereotype gemeint – eine Gegenstimme am Rand der Gesellschaft entsteht, die die Trennung zwischen Zentrum und Peripherie hinterfragt. Während viele der genannten Kabarettisten und Comedians mit ihren Themen außerhalb des Zentrums geblieben sind, zeigt sich bei Somunçu durch die Themenauswahl (Lesung aus Hitlers Mein Kampf) und bei Asül durch den niederbayrischen Dialekt eine Bewegung weg von migrationsspezifischen oder interkulturellen hin zu ›internen‹ deutschen Themen, eine Bewegung ins Zentrum des deutschen Geschehens. Wie in der Analyse noch genauer besprochen wird, kam es bei der Rezeption der Programme von Somunçu und Asül deshalb zur Rückführung der zwei Kabarettisten auf ihren türkischen Ursprung, da der fremde Hintergrund in Bezug auf die Themen ihres Kabaretts als provokant empfunden wurde. Während der satirisch-ironische Umgang deutscher Kabarettisten mit (heiklen) politischen und gesellschaftlichen Themen akzeptiert ist, erregt die Auseinandersetzung mit denselben Themen bei Kabarettisten ›fremden‹ Ursprungs Aufsehen. In der Analyse von

38 Hier zeigt sich der Bezug zur Figur des Narren, der in diesem Fall hinter der Maske satirisch-ironischer Aussagen gegen eine Herrschaft spricht.

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Somunçus Kabarett wird beispielsweise Harald Schmidt unter den Personen erwähnt, die die Figur Hitlers gespielt haben. Seine Show wird jedoch als ›interne‹ Kritik verstanden – intern meint hier: von einem ›Dazugehörigen‹. Bei Somunçu sorgte seine fremde Herkunft für Furore: Der Türke, der Hitler aufführt. Darin besteht das karnevaleske Potential seines Programms. Er geht ein Wagnis ein, indem er als Türke in die schuldhafte deutsche Geschichte eindringt und damit ein Tabu bricht, so lautet die These für die folgende Analyse. Damit antwortet er auf eine existierende Machtstruktur, die ihn z.B. als von der öffentlichen bzw. satirischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust ausgeschlossen betrachtet. Die Analyse befasst sich mit dieser Frage der Grenzüberschreitung und insbesondere damit, wie er die Figur Hitlers darstellt, da Somunçu nicht der Erste ist, der diese Figur satirisch-parodistisch auf die Bühne bringt, und sich seine Darstellung dennoch eindeutig von bisherigen Darbietungen unterscheidet: Der deutsch-türkische Kabarettist deckt Widersprüche innerhalb des Textes auf, führt die Absurdität mancher Tabuisierung vor, deformiert durch seine Darstellung die Figur Hitlers und wirkt somit dem Klischee über die Sprachlosigkeit des Gastarbeiters der ersten Stunde entgegen. Anhand der Analyse wird gezeigt, dass eine klare Trennung zwischen den erwähnten drei Rollen im Kabarett von Serdar Somunçu und Django Asül nicht funktioniert bzw. die Auflösung der Trennung bewusst als Teil der Bühnenkomik und der Hinterfragung der herrschenden Diskurse in das Programm eingebaut wird. Die Darstellung von Rollen, die biographische Einzelheiten beinhalten, ist ein konstituierender Teil des Programms der zwei Kabarettisten. Beim Spielen von autobiographischen Rollen geht es um Ähnlichkeiten und Differenzen bei der Darstellung von Episoden aus der eigenen Geschichte. Während Asül eine doppelte Fremdheit auf der Bühne spielt, die nicht Deutsch, sondern Niederbayrisch ist (vgl. Kapitel 5.4), bildet die Themenauswahl bei Somunçu einen Verstoß gegen inhaltliche Tabus. Auf dem Hintergrund dieser Überlegungen betrachtet, wird sich in der Analyse zeigen, wie die bereits existierenden Codes (in diesem Fall die deutsche Geschichte und der niederbayrische Dialekt) durch die deutsch-türkische Artikulation eine neue Bedeutung erhalten. Sowohl in Somunçus als auch in Asüls Kabarett wird demnach keine neue Machtstruktur etabliert, sondern die bereits existierende entstellt, variiert und dekonstruiert, worin das Phänomen des Performing Back besteht.

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Mischen sich Deutsch-Türken ›unerlaubt‹ in Fragen der deutschen Geschichte ein, wenn sie in ihren Werken den Nationalsozialismus thematisieren, oder ist es vielmehr eine Selbstverständlichkeit, da es sich um eine ›einheimische‹ Generation handelt, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist? Auf diese Fragen gibt Zafer Şenocak in Atlas des tropischen Deutschland eine der ersten Antworten, indem er behauptet, dass die Geschichte des Judentums für deutsch-türkische Migranten einen bislang noch nicht ausreichend analysierten Erfahrungshintergrund bilde.39 Für den deutsch-türkischen Schriftsteller und Essayisten soll die Einwanderung von Ausländern nach Deutschland auch eine Auseinandersetzung mit der jüngeren deutschen Vergangenheit zur Folge haben, die nicht nur die gemeinsame deutsch-türkische, sondern auch die europäische Gegenwart prägt: »Auch die bitteren Erfahrungen, die zur Auslöschung der jüdischen Minderheit in Europa geführt haben, müssen in die Konzeption eines multikulturellen Europas einfließen.«40 Serdar Somunçu vertritt eine ähnliche Position und schreibt im Tagebuch, in dem er die jahrelange Tournee mit seinem Kabarettprogramm über Hitlers Mein Kampf dokumentiert: »Auch wenn wir Türken keinen Großvater haben, der in der NSDAP war, auch wenn wir niemanden in der Verwandtschaft haben, der eine braune Vergangenheit hat, so sind wir doch mitverantwortlich für die Aufarbeitung der deutschen Thematik, weil wir keine gemeinsame Gegenwart und Zukunft verlangen dürfen, ohne auch einen Besitzanspruch auf die Bewältigung der deutschen Vergangenheit zu stellen.«41

Dies ist der Hintergrundgedanke seines ersten Kabarettprogramms, mit dem Serdar Somunçu seit 1996 in Deutschland auf Tournee ging und aus Hitlers Mein Kampf las. Der deutsch-türkische Kabarettist erreichte großen Publikumserfolg, obwohl die Reaktionen auf dieses Programm stark kontrovers waren. Somunçus Hauptziel ist die Entmystifizierung eines tabuisierten Themas. Im Tagebuch erwähnt er einige Reaktionen der Presse, er würde mit seiner Lesung sein »eigenes

39 Şenocak, Zafer: Atlas des tropischen Deutschland, Berlin: Babel 1993, S. 16. 40 Ebd. 41 Somunçu, Serdar: Nachlass eines Massenmörders, Bergisch Gladbach 2002, S. 173.

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Schicksal zum Mythos stilisieren und somit den Umgang mit dem Thema Nationalsozialismus verharmlosen« oder damit Auschwitz »vergessen machen«.42 Somunçu arbeitet jedoch mit einer Strategie der Entlarvung und nicht der Verharmlosung des verbotenen Buchs: »Hitler ist also ein gesellschaftliches Phänomen. Das Grauen bei dem Thema Hitler ist die Frage, wie er so weit kommen konnte. Und wozu soll ich dann noch dieses Buch lesen? Ganz einfach. Um den Mythos aufzuheben. Transparenz. Durchsichtigkeit.«43

Die Tabuisierung des Buchs versteht sich für Somunçu als ›besondere‹ Behandlung, die es sicherlich nicht verdient: »Muss ja wirklich ein gefährliches Buch sein. Eine Waffe.«44 Im Laufe der Lesung wird der Inhalt des Texts sprachlich zerlegt, dekonstruiert, sinnentleert und damit nicht verboten, sondern stattdessen als Mythos, der durch die Tabuisierung geschaffen wird, vernichtet. Dies kann nur durch die Aufhebung der Distanz zum Tabu erfolgen. Während der Lesung aus Hitlers Buch stellt Somunçu die Frage, wie man von Vergangenheitsbewältigung reden könne, wenn die Lektüre von Mein Kampf nicht erlaubt sei,45 und nennt damit eines der Ziele seiner jahrelangen Tournee. Somunçus Folgeprogramm aus dem Jahre 2000 war die Lesung aus Joseph Goebbels Sportpalastrede, mit der er das gleiche Ziel verfolgt. Obwohl es sich in diesem Fall nicht um eine verbotene Rede handelt, behauptet Somunçu nach dem Lesen des ersten Teils der Rede, sein Publikum kenne von dieser Rede einzig die Frage: »Wollt ihr den totalen Krieg?«46 Mit dem Programm Bild lesen tourte der in der Türkei geborene und in Deutschland aufgewachsene Kabarettist im Jahre 2008. In seiner Show schlägt Somunçu die aktuelle Tagesausgabe aus Deutschlands populärster Boulevardzeitung sowie eine aktuelle Ausgabe der

42 Ebd., S. 83. Somunçu bezieht sich hier auf die Aussage der Zittauer Zeitung und die Antirassismusgruppe Würzburg. 43 Ebd., S. 19f. 44 Vgl. ebd., S. 12. 45 Somunçu, Serdar: Serdar Somunçu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders – Mein Kampf, Köln: WortArt 2000, Nr. 5. 46 Somunçu, Serdar: Serdar Somunçu liest Joseph Goebbels. Diese Stunde der Idiotie »Wollt ihr den totalen Krieg?«, Köln: WortArt 2003, Nr. 3.

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Lokalpresse aus der Stadt auf, in der er spielt, und fängt an, das Tagesgeschehen vorzutragen und zu kommentieren. Im Laufe der Lesung zeigt sich, dass die Nachrichtenredaktion von Deutschlands auflagenstärkster Zeitung nichts anderes erreicht, als eine »Verblödung der Masse«.47 Somunçu kommt am Ende seiner Show zum Ergebnis, dass es sich im Fall des deutschen Boulevardblatts ebenfalls um eine Form von Diktatur handelt. Außerdem enthält dieses Programm Ausschnitte aus seinen alten Programmen Mein Kampf und Goebbels Sportpalastrede.48 5.3.1 Komisch-satirische Darstellungen eines Abgesonderten Schon mehrere Jahrzehnte vor Somunçus Kabarettprogramm gab es verschiedene filmische und kabarettistische Beispiele für die ironischparodistische Darstellung der Figur Hitlers und im Allgemeinen seines Regimes. Das älteste und vielleicht auch bekannteste Beispiel ist Charles Chaplins erfolgreichster Film The Great Dictator von 1940. Mit Verdrehungen und Verschiebungen von Personen- und Ortsnamen sowie Chaplins berühmter Mimik und Gestik zeichnete er eine persiflierte Figur des Führers. Chaplins Film inspirierte weitere Regisseure zu der satirischen Bearbeitung des nationalsozialistischen Themas. Der deutsch-amerikanische Regisseur Ernst Lubitsch liefert mit Sein oder Nichtsein von 1942 ein weiteres Beispiel für Anti-Nazi-Satiren. Die Raffinesse des Drehbuchs besteht unter anderem im Spiel mit doppeldeutigen Aussagen. Die Handlung des Films spielt vor dem Kriegsausbruch und stellt die politischen Ereignisse der damaligen Zeit vor allem vor einem künstlerischen Hintergrund auf der Schauspielbühne

47 Somunçu, Serdar: Bild lesen. Aufführung im Kulturhaus Osterfeld in Pforzheim am 27.11.2008. 48 Zu den weiteren Veröffentlichungen des deutsch-türkischen Kabarettisten gehört u.a. Hitler Kebab (2006). Somunçus Kabarett ist im Allgemeinen eine Mischung aus literarischem und politischem Kabarett. Jedes seiner Programme baut auf einem Text auf, sei es ein Buch, eine Rede oder Textbeispiele aus den Printmedien. Von Somunçu existiert weiterhin eine Lesung von Edgar Allan Poes The Pit and The Pendelum und The Tell-Tale Heart, die allerdings nicht als kabarettistische, sondern als literarische Lesung inszeniert werden.

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in Warschau dar. Die Filmhandlung ist eine Metareflexion über die komische Verarbeitung von verbotenen Themen. Sowohl Chaplins als auch Lubitschs Film entstanden während der nationalsozialistischen Diktatur. Beide Filme machen Satire und Parodie zu Instrumenten des politischen Widerstands. Die Filme entstanden auch zu einer Zeit, in der die grauenvollen Ereignisse seit 1939 noch nicht in vollem Umfang aufgedeckt worden waren. Besonders stark kritisiert wurde z.B. vor allem die übertrieben lächerliche Darstellung der Szenen im Konzentrationslager in The Great Dictator.49 Mel Brooks’ The Producers von 1968 lehnt sich an Lubitschs Thematik an und handelt vom Versuch einer Theaterproduktion am Broadway, die Springtime for Hitler heißt.50 Dani Levys Mein Führer – die wirklich wahrste Wahrheit (2007) über Adolf Hitler wurde wegen der harmlosen Darstellung Hitlers bemängelt. Im Film werden Joseph Goebbels und Innenminister Heinrich Himmler als brutale Attentäter dargestellt, während Adolf Hitler zwar verspottet, aber durch seine weiche Darstellung als Opfer einer schweren Kindheit und brutalen Erziehung bagatellisiert wird. Obwohl Levys und Somunçus Wege sich eindeutig voneinander unterscheiden, folgen beide der gleichen Absicht, nämlich der Entmystifizierung Hitlers, die im Fall der zwei Künstler über skurrile Aussagen und Darstellungen sexueller Praktiken des damaligen Reichskanzlers funktioniert. In beiden Fällen erfolgt die Schmähung einer durch

49 In seiner Autobiographie schreibt Chaplin, er hätte den Film nicht gedreht, wenn er gewusst hätte, wie schrecklich es in den Konzentrationslagern in der Tat war, und setzt damit eine Grenze für satirische Verzerrungen und Übertreibungen. 50 Der Film handelt vom Produzenten Max Bialystock, der die Aufführung Springtime for Hitler als Misserfolg plant, damit er mit den Produktionskosten fliehen kann. Obwohl das Publikum zunächst über die Darstellung mit Tanz und Musik entsetzt ist und den Saal verlassen will, kommt es zum Wendepunkt, als es die Show als gelungene Satire über Hitler wahrnimmt. Diesmal geht es nicht nur um die komische Verarbeitung der nationalsozialistischen Thematik: Brooks wagt darüber hinaus ein weiteres ungewöhnliches Format. Das im Film aufgeführte Theaterstück ist nämlich eine Musikrevue und reflektiert, ähnlich wie bei Lubitsch, auf einer Metaebene die Rezeption des verbotenen Themas seitens der Theaterzuschauer in der Filmhandlung.

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die Tabuisierung für ›sakral‹ gehaltenen Person durch den Hinweis auf ihre weltliche Seite.51 ›Sakral‹ meint hier das durch die Tabuisierung Unberührbare, die Abtrennung einer Sache oder Person bzw. ihre Absonderung von alltäglichen Praktiken, jene Absonderung, die durch Zensur und Kontrolle zur Erzeugung eines unangetasteten ›Heiligen‹ führt. In diesem Zusammenhang ist auf Giorgio Agambens Begriff der Profanierung zu verweisen. Für den italienischen Philosophen bedeutet Profanieren, »die Möglichkeit einer besonderen Form von Nachlässigkeit auftun, welche die Absonderung mißachtet oder – eher – einen besonderen Gebrauch von ihr macht«.52 In diesem Sinn heißt Profanieren nicht »einfach die Absonderungen abschaffen und auslöschen, sondern lernen, einen neuen Gebrauch von ihnen zu machen, mit ihnen zu spielen«.53 Durch diesen erneuten Gebrauch wird der Übergang vom Heiligen zum Profanen vollzogen.54 Ein erneuter Gebrauch werde z.B., so Agamben, durch das Spiel ermöglicht, durch das das Zerbrechen eines (abgesonderten) Mythos veranlasst wird.55 Übertragen auf Somunçus Lesung aus Hitlers Buch funktioniert die Profanierung demnach durch die Entkräftigung des Tabus durch die Vergegenwärtigung eines verbotenen Inhalts. Eine der einfachsten Formen der Profanierung bestehe nach Agamben in der Berührung,56 und dies ist genau das Ziel von Somunçus Programm: eine Auseinandersetzung mit einem tabuisierten Buch, um einen unmittelbaren Kontakt mit dem Inhalt herzustellen. Dementsprechend bedeutet die Bezeichnung ›sakral‹ nicht, dass die Negativität der Figur reduziert wird, sondern dass eine Person an sich überhöht wird – und hier setzt Somunçus Kabarett ein –, wo man glaubt, sich negativ auf sie zu beziehen. Die Figur wird somit zum Mythos, und hier tritt die Rolle der Profanierung, die in

51 Im Tagebuch über das Programm, das nach den Aufführungen veröffentlicht wurde, stellt Somunçu ironisch die Frage, ob Hitler »heilig« sei, damit er, sein Buch und das Thema diese besondere Behandlung verdienen. Mit »heilig« ist das Verbotene bzw. das Objekt gemeint, das durch seine Distanzierung eine besondere Bedeutung erhält. 52 Agamben, Giorgio: Profanierungen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 72. 53 Ebd., S. 85. 54 Vgl. ebd., S. 72. 55 Vgl. ebd., S. 72f. 56 Ebd., S. 71.

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Somunçus Kabarett stattfindet, hervor: Sie zielt auf die Neutralisierung dieses Mythos durch den Tabubruch. Der deutsch-türkische Kabarettist fragt sich zu Beginn der Aufführung, ob das Buch so »besonders« sei, wie der Gesetzgeber es durch das Verbot mache.57 Das Lesen aus Hitlers verbotenem Buch »[erstattet] dem allgemeinen Gebrauch zurück, was in der Sphäre des Heiligen abgesondert war«.58 Die Bezeichnung des tabuisierten Inhalts als ›sakral‹ ist weiterhin etymologisch zu begründen. ›Sakral‹ kommt nämlich vom Lateinischen ›sacer‹, was nicht nur das Heilige, sondern auch das Verdammte bzw. Verfluchte bezeichnet. Damit erhält Satan ebenfalls eine ›sakrale‹ Stellung, und hier zeigt sich, inwiefern es auf den Akt der Absonderung selbst ankommt – sei es in die göttliche oder unterirdische Sphäre. Um zu zeigen, dass die Absonderung heutzutage immer noch funktioniert, phantasiert der deutsch-türkische Kabarettist in seiner Aufführung wiederholt Alltagssituationen, z.B. in der Buchhandlung, wo er beispielsweise nach dem verbotenen Buch fragt.59 In der Nummer stellt Somunçu der Tabuhaltung der Buchhändlerin die des Käufers entgegen. Während er sich ›lediglich‹ nach einem Buchtitel erkundigt, geht sie zunächst davon aus, er meine bestimmt George Taboris gleichnamiges Theaterstück. Als der Käufer sie mit Gelassenheit korrigiert, er meine Hitlers Buch, reagiert die Verkäuferin mit einer Mischung aus Erstaunen und Entsetzen. Diese und andere ähnliche Situationen, die Teil der kabarettistischen Nummern sind, zeugen von der abgesonderten Stellung des Buches bzw. seines Verfassers. Was der Kabarettist mit diesen imaginierten Begegnungen erreichen will, ist das, was Agamben unter der Profanierung versteht: bestimmte Dinge »dem freien Gebrauch der Menschen zurückzugeben«.60 Somunçu baut außerdem in eine Nummer in seiner CD-Veröffentlichung Hitler Kebab die Reaktionen auf Oliver Hirschbiegels Film Der Untergang (2004) ein, für den Bernd Eichinger das Drehbuch schrieb, und kriti-

57 Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders, Nr. 2. 58 Giorgio Agamben: Profanierungen, S. 72. 59 Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders, Nr. 2. 60 Giorgio Agamben: Profanierungen, S. 70.

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siert vor allem die (filmische) Distanzierung bei der Darstellung der Figur Hitler, die ihn in den Bereich des Abgesonderten führt: »Da gehen die Leute, Intellektuelle, ins Kino und wundern sich über den ›Untergang‹ von Bernd Eichinger […]. Und da gehen die Leute ins Kino und wundern sich über die letzten Tage des größten Arschlochs dieser Welt aus der Sicht seiner Privatsekretärin geschrieben.«61

Somunçu ersetzt auf der Bühne das Erzählen aus der Sicht von Hitlers Privatsekretärin durch die Nachahmung der Person Hitlers. Man kann demnach sagen, in Somunçus Programm soll Hitler nicht als (abgesonderter) Dämon erscheinen, sondern als (profanierter) Idiot. Somunçus Programm wirkt der Satanisierung Hitlers entgegen, indem er genau die Distanz aufhebt und das Satanische durch die Betonung seiner überheblichen Idiotie in die weltliche Sphäre zurückholt. Wie 61 Serdar Somunçu: Hitler Kebab, Nr. 4: Hitler spielen. Eigene Hervorhebung. Im Folgenden wird durch die Hervorhebungen eine annähernde Wiedergabe der Betonungen des Kabarettisten unternommen. Außerdem werden weitere Stilmittel des Kabaretts wie z.B. Auslassungen, Redepausen, Ellipsen oder Paralleltexte, die meist der Hervorhebung der Aussagen des Kabarettisten dienen, in Klammern vermerkt. Zitiert wird hier die CD-Aufnahme vom 11.11.2000 in der NSDokumentationsstelle Köln. Ich bin mir der Schwierigkeit bewusst, Aussagen über ein Kabarettprogramm zu machen, da die Aufführungen situationsbedingt sind und sich deswegen nie zweimal in der gleichen Form finden. Außerdem wurde bereits unter Punkt 5.2 erwähnt, dass es sich meist in Aufführungen um ein dialogisches Verhältnis zwischen dem Publikum und dem Kabarettisten handelt, wobei der Kabarettist auf die jeweilige Reaktion des Publikums eingeht und das Programm demnach variieren kann. Jede Aufführung hat somit einen einmaligen Charakter, da sie situationsbedingt ist und zum Teil auf der Reaktion des Publikums baut, die in jeder Aufführung variieren kann. Das bedeutet allerdings nicht, dass das Programm nicht prinzipiell feststeht: Die Nummern eines Programms, mit dem der Kabarettist auf Tour ist, bleiben zum größten Teil unverändert. Was sich ändert, sind die Beispiele aus dem aktuellen Alltagsgeschehen oder minimale Improvisationen in Bezug auf die Reaktion des Publikums. Serdar Somunçus Programm Bild lesen mag hier eine Ausnahme sein. Da die Show auf dem Kommentieren der aktuellen Ausgabe der Bildzeitung basiert, ändert sich ihr Inhalt bei jeder Aufführung.

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sich in der Analyse zeigen wird, liest Somunçu genau die Textpassagen, anhand derer er die Banalität des Dämonischen und seine Idiotie herausstellen kann: Pleonasmen, Widersprüche sowie sexuelle Anspielungen, hinter denen sich die Abartigkeit der Person verbirgt, die den Text geschrieben hat. Um die Skurrilität des Inhalts der Lächerlichkeit preiszugeben, liest Somunçu darüber hinaus verschiedene Stellen aus Mein Kampf vor, in denen unterschiedliche Beispiele aus dem Tierreich genannt werden, die noch ausführlicher besprochen werden. Lubitsch, Levy und Brooks werfen einen wichtigen Aspekt auf, der eine entscheidende Rolle bei der Rezeption von Somunçus Programm spielt. Die jüdische Herkunft der drei Regisseure brachte nämlich eine Form von ›Entschuldigung‹ für ihre komisch-parodistische Verarbeitung des Themas. Durch ihre jüdische Abstammung genießen sie einen freieren Umgang mit dem Thema. Im Fall Somunçus ist dies gerade aufgrund seiner türkischen Abstammung anders. Obwohl Somunçu im Alter von nur einem Jahr nach Deutschland kam und inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft besitzt, gab die ›türkische‹ Herkunft des Kabarettisten Anlass für Diskussionen und Kritiken. Unter den Fragen, die ihm von Redakteuren gestellt wurden, war z.B. jene, ob er als »Türke« kein schlechtes Gewissen habe, wenn er faschistische Texte lese.62 Die Reaktion auf das kontroverse Thema von Somunçus Programm wirft die Frage nach seiner Nationalisierung und Rückführung auf eine ›fremde‹ Herkunft auf. Somunçu dokumentiert im Tagebuch über die Lesung: »Alle wollen sie nur da sein: dabei sein, wenn ein Türke aus Mein Kampf liest. Moment mal, daran habe ich noch gar nicht gedacht. Zum ersten Mal erinnere ich mich bei dieser Sache an meine Nationalität. Das hatte ich ja im Eifer des Gefechts vollkommen vergessen. So stellt sich eine völlig neue Dimension bei der ganzen Angelegenheit ein.«63

Nicht nur in Filmbeispielen kommen Hitler-Parodien vor, sondern auch im Kabarett. Eines der ältesten politischen Kabaretts gegen Hitler ist die Pfeffermühle von Erika Mann, die ihr Programm in der Zeit von 1933 bis 1937 zuerst in Deutschland und dann in der Schweiz und den Benelux-Staaten auf die Bühne brachte. Auch die Lesung aus Mein

62 Serdar Somunçu: Nachlass eines Massenmörders, S. 54. 63 Ebd., S. 36.

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Kampf wurde bereits in den siebziger Jahren vom österreichischen Schauspieler und Kabarettisten Helmut Qualtinger inszeniert. Der deutsche Kabarettist und Schauspieler Harald Schmidt verkleidete sich während der Harald Schmidt Show und spielte ebenfalls die Rolle Hitler.64 Im Unterschied zu den erwähnten Filmen und Kabarettaufführungen basiert die Komik bei Somunçu zu einem großen Teil auf dem Spiel mit Differenzen. Durch die Inszenierung der Rahmenfigur Hitlers wird die Trennung zwischen der ersten Rolle (Somunçu als Türke) und der zweiten (ein Kabarettist, der in seinem Programm u.a. Hitler spielt) durcheinandergebracht. Das Lachen entsteht aus der Inkongruenz zwischen der Erwartung an einen deutsch-türkischen Kabarettisten und dem Thema des Programms bzw. dessen Inszenierung. So überrascht Somunçu z.B. in der Nummer »Volk und Rasse« – benannt sind die Nummern nach den Kapiteln aus Mein Kampf – mit dem plötzlichen Wechsel zur Figur des Gastarbeiters durch die Inszenierung des gebrochenen Redens eines Türken: »i kann nix mehr Deutsch. Kaputt«.65 Somunçu wechselt dann wieder zur Rolle des Kabarettisten und ironisiert die Schlagzeilen in Zeitungsartikeln, die seine fremde Herkunft in den Vordergrund stellen: »Türke führt Hitler vor«.66 Darauf folgt ein weiterer rascher Übergang zur Rahmenfigur, durch den Somunçu die Erwartung am ignoranten Türken sprachlich und inszenatorisch umsetzt: Er spielt den naiven, dummen Gastarbeiter: »Kollega wie geht? Bist gelesen Mein Kampf? […] Aber ich arbeit hier viele Jahre, schneiden Döner, nix gut sprechen Deutsch aber biß-

64 In diesem Sketch wird die Figur Hitlers allerdings verharmlost: Er spricht aus der Perspektive der Gegenwart, rückblickend auf den Nationalsozialismus, und warnt deswegen aus der Position eines Erfahrenen vor den Gefahren von Rechtsradikalismus, Gewalt und Fremdenhass. Gesendet wurde die Show am 14.6.2007 in »Best of«. Die ursprüngliche Show fand zwei Jahre vorher statt. Vgl. Klettke, Sascha: Hundeaugen und Hitler. Der Tagesspiegel, 15.6.2007, www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,488627, 00.html. 65 Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders, Nr. 6. Zitiert wird im Folgenden die Aufnahme aus dem Haus der Jugend, Mainz, am 29.1.2003. 66 Ebd.

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chen erzählen von Buch. Warum verboten? Kaufen Döner bei mir?«67 Somunçu spielt den netten türkischen Gemüsehändler bzw. in diesem Fall Dönerverkäufer, wie er zu Beginn der Gastarbeitermigration bekannt war, der sich in hochkomplexe und zudem deutschlandinterne Themen einmischen will. Demgegenüber steht die Figur des Kabarettisten auf der Bühne, der neben der Darstellung der Figur des türkischen Gastarbeiters auch Hitler sowie die Groteske und Absurdität des Inhalts dekomponiert. Die Raffinesse dieser Nummer besteht in der simultanen Verkörperung der drei Rollen des Kabarettisten: Der Bühnendarsteller liest die Schlagzeilen, die sich auf Somunçus bürgerliche Rolle beziehen. Durch die Rahmenfigur des Gastarbeiters wird die Annahme von seiner Ignoranz und Nicht-Beteiligung auf ironische Weise wiedergegeben und dekonstruiert. Somunçus Programm bringt somit die Frage nach der Nationalisierung von Erinnerung und dem Streben nach national orientierter Geschichtsschreibung auch im Fall nationenübergreifender Themen ins Spiel. Die Frage nach den geschichtlichen Trennungen wird umso suspekter, wenn sie in Deutschland lebende Migranten betrifft. Grundsätzlich werden Themen wie Teilnahme und Exklusion in Frage gestellt. Hier zeigt sich die Grenzüberschreitung anhand der Auseinandersetzung mit Themen, die bis dato als ›deutsches‹ Territorium betrachtet wurden. Die Hinterfragung von Zentrum und Peripherie wird offensichtlich, wie an verschiedenen Stellen bereits besprochen wurde: Somunçu verlässt durch die Themenauswahl die ihm auferlegte marginale Stellung, in der er als Türke verstummen soll. Für Rezensenten besteht der Tabubruch demnach nicht nur in der Thematisierung des verbotenen Texts, sondern in der Tatsache, dass ein ›Ausländer‹ bzw. ein Türke es wagt, aus diesem Buch zu lesen: Ähnlich wie bei der erwähnten Nummer werden hier also ebenfalls die Person Somunçu und die Figur des Bühnendarstellers zusammengeführt. Somunçu nutzt die Möglichkeit des Kabaretts, Rahmenfiguren darzustellen zur Konstruktion eines simultanen, oppositionellen Redens. In der Nummer »Ansturm der Steppe« aus der Lesung aus Goebbels Sportpalastrede alterniert der Kabarettist Somunçu zwischen der Figur Goebbels, die die Rede hält, und der zweiten Figur eines Kommentators bzw. Berichterstatters, der über Umfragen zum Ausländeranteil in

67 Ebd.

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Deutschland referiert.68 Das Kreieren der zwei Figuren hebt die zeitlichen Grenzen zwischen (deutsch-jüdischer) Vergangenheit und (deutsch-türkischer) Gegenwart auf und stellt sie zunächst einander gegenüber. Die Figur des Kabarettisten, der die zwei Figuren spielt, rückt mit seiner objektiven Haltung an einen Nicht-Ort, an dem die Trennung zwischen Geschichte und Gegenwart brüchig wird. Der Kabarettist ist in diesem Fall nicht nur eine Figur der Doppelung, sondern der Verdreifachung. Interessant ist dabei die Paradoxie, denn erst mit seiner Intervention in Linearitäten als dritte Figur, hier die des Kabarettisten Somunçu, kann eine Überbrückung bzw. Verbindung zwischen deutsch-jüdischer Vergangenheit und deutsch-türkischer Gegenwart hergestellt werden. Durch die zeitliche Unterbrechung verweist der Kabarettist auf die Aktualität des Themas seiner Lesung und beantwortet die Frage nach dem Grund für die ›Ausgrabung‹ geschichtlicher Ereignisse. Somunçus Programm ist, wie die bisher erwähnten Zitate vermuten lassen, nicht lediglich eine Lesung. Was der deutsch-türkische Kabarettist auf der Bühne aufführt, ist gleichzeitig Lesung, Schauspiel und Kabarett. Die Textausschnitte markieren nur den Anfangspunkt für die satirische Darstellung, die aus dem Kommentieren und Parodieren des Vorgelesenen, der Wiedergabe vom Text in Form von Tierlauten sowie dem Spielen von Rahmenfiguren entsteht. Wie sich im Folgenden zeigen wird, geht es in der Aufführung um eine immanente Dekonstruktion des verbotenen Textes, bei der eine Profanierung des ›Sakralen‹ vollzogen wird. Sprachliche Verzerrungen, vulgäre Beschimpfungen sowie die Verweise auf den grotesken Körper erweisen sich als Möglichkeit der Diffamierung der Figur Hitlers. Parallel dazu verläuft die Theatralität in Somunçus Aufführungen, wenn er eine Performance der Exaltation bietet: An manchen Stellen spielt er parallel zum (vorgetragenen) Inhalt auch gestisch und mimisch die Figur eines Hysterischen oder Wahnsinnigen, so dass die Diffamierung auf verschiedenen Wegen kommuniziert und auf die Spitze getrieben wird.

68 Vgl. Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest Joseph Goebbels.

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5.3.2 Profanierung des ›Sakralen‹ Ein wichtiger Bestandteil der Komik zu Beginn des Programms bildet die Absurdität der Regelungen um das Verbot des Buches selbst, die als Paradigma für die Tabubildung begriffen wird.69 Somunçu beginnt die Aufführung mit der Frage, ob man über dieses Buch, Adolf Hitlers Mein Kampf, lachen dürfe – eine grundsätzliche Hinterfragung seiner kabarettistischen Darbietung überhaupt: »Die Antwort ist ganz einfach: Nein. Aber man kann gar nicht anders.«70 Auf diese Weise wird in den ersten Teilen des Programms die Widersprüchlichkeit des verbotenen Buchs offengelegt. Der Besitz von Mein Kampf, so Somunçu, sei weiterhin zwar erlaubt, jedoch weder das Kaufen noch Verkaufen, weshalb sich für den Kabarettisten die Frage ergibt, wie man das Buch überhaupt besitzen kann. Öffentlich aus dem Buch vorzutragen, wie etwa in Somunçus Aufführung, sei ebenso untersagt, wenn man – und hier folgt eine weitere absurde Regelung – das Ganze an einem Stück vortrage. Die Publikation von Mein Kampf, so das Bayrische Finanzministerium, dem das Buch heute gehöre, sei außerdem verboten, da es dem Ansehen der Deutschen im Ausland schaden könne, obwohl Mein Kampf, so Somunçu, im Ausland erlaubt sei und sogar mehrfach übersetzt wurde (u.a. auch ins Hebräische).71 Somunçu will v.a. den Wider-

69 Nicht nur Mein Kampf oder die Sportpalastrede werden als Texte der Gehirnwäsche thematisiert. Somunçus grundlegende Kritik an der mangelnden Auslegung ›heiliger‹ Texte wendet er auch auf religiöse Texte, wie z.B. auf den Koran, an. Dieses Buch wird ebenfalls als politisch instrumentalisierter und deswegen auch gefährlicher Text in Somunçus Programm zur Zielscheibe seines Spottes. Vor allem in seinen späteren Programmen schafft Somunçu eine Verbindung zwischen rechtsextremer Orientierung und einem erstarkenden Islamismus, den Somunçu anhand des »Kopftuch-Syndroms« und der Debatte über den Bau von Moscheen darlegt. Auch hier wird die Sprache zum Medium kabarettistischer Darstellungen, indem mit Wortspielen die zwei Extreme des Heiligen und des Vulgären ineinander geführt werden. Vgl. Serdar Somunçu: Hitler Kebab, und Somunçu, Serdar: Der Hassprediger liest BILD, Burgwedel: tonpool Medien 2009. 70 Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders, Nr. 1. 71 Ebd., Nr. 2.

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spruch zwischen der Rede über Vergangenheitsbewältigung einerseits und der Tabuisierung von Hitlers Buch andererseits zeigen. Wäre die Entzauberung von Mein Kampf Geschichte gewesen, so wäre das Verbot nicht nötig. Das führt zur Frage nach der Aktualität einer solchen Lesung. In seinem Tagebuch schreibt Somunçu dazu: »Immer wieder werde ich auf meiner Tour gefragt, ob ich an eine Wiederkehr des Naziterrors in Deutschland glaube. Welche Antwort kann besser sein auf diese Frage als Mölln selbst? Ist Hitler nicht präsent genug, wenn seine Theorien immer noch dazu ausreichen, Menschen zu verbrennen aufgrund ihrer Hautfarbe, ihrer Nationalität oder ihres Glaubens?«72

Somunçu baut in die Nummer seiner Aufführung Begegnungen mit Neonazis ein. Aufgrund der Absurdität des Inhalts habe z.B. einer den deutsch-türkischen Kabarettisten nach einer Show gefragt, ob das Vorgetragene wirklich im Buch stehe.73 Somunçu enthüllt die Gefahr des Verbots, die dazu führt, dass Gruppen einem Inhalt folgen, den sie gar nicht kennen, und begründet seine Bühnendarbietung folgendermaßen: »Einzig die inhaltliche Auseinandersetzung bleibt die wirksamste Entkräftigung und beugt einer Anfälligkeit vor.«74 Während einer Aufführung in Dippoldiswalde am 12. Oktober 2005 wird berichtet, dass Neonazis die Bühne betraten und die Show unterbrachen: »Sie enthüllten ein Transparent mit der Aufschrift ›Schluss mit lustig. Gegen Zivilblamage‹.«75 Daraufhin verließ der deutsch-türkische Kabarettist die Bühne und setzte seine Lesung zunächst im Saal fort, bevor er die Neonazis bat, die Bühne wieder zu verlassen, nachdem sie ihre Mitteilung kundgegeben haben. Entgegen der Meinung, die besagt, dass die Lesung heutzutage wenig Bedeutung hätte und dass Mein Kampf schon längst Geschichte wäre, geht Somunçu auf das Internet als »wichtige Zugangsquelle zu nationalsozialistischer Propaganda« ein und berichtet von seiner Erfahrung von der Aktualität rechtsextremer Propaganda: »Wenn Sie mal in eine Suchmaschine ›Hitler‹ eingeben, dann kommt da tatsächlich

72 Serdar Somunçu: Nachlass eines Massenmörders, S. 208f. 73 Ebd., Nr. 6. 74 Serdar Somunçu: Nachlass eines Massenmörders, S. 266. 75 www.somuncu.de.

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eine Adolf-Hitler-Homepage ans Tageslicht.«76 Somunçu geht auf den Inhalt der Seite ein, eine »social discussion of racial differences«, mit rassistischen Äußerungen gegen Afroamerikaner.77 Eine weitere Seite ist »das Adolf Hitler Message Board«, eine Art schwarzes Brett, »an dem man seine persönlichen Nachrichten an den Führer hinterlassen kann. Und das Schöne ist man bekommt persönliche Antworten von Leuten, die sich für den Führer halten.«78 Aus dieser Seite zitiert Somunçu die rassistischen Aussagen, diesmal gegen in Deutschland lebende Türken, u.a. dass sie alle »angezündet werden sollten«.79 Komik tabuisierter Inhalte Während im Slapstick und der Pantomime die Komik in erster Linie durch die Mimik und Gestik entsteht, ist es die Sprache, die das Fundament für kabarettistisch-satirische Aufführungen bildet. Sprachspiele, Wortverdrehungen, Irreführungen, Ellipsen sowie die semantischen Verdopplungen zur Ironiebildung sind Bestandteil jedes satirischen Programms. Die Sprache ist jedoch bei Somunçu nicht nur ein kabarettistisches Mittel, sondern auch das Medium der Dekonstruktion der Demagogie einer teuflischen Figur. Indem der deutsch-türkische Kabarettist z.B. die Doppeldeutigkeit von Aussagen sowie die sexuellen Anspielungen des Inhalts demaskiert, zeigt sich – laut Somunçus Einstellung zur Tabuisierung – der Widerspruch des Verbots. Denn der Inhalt des Verbotenen ist eigentlich banal bzw. unsinnig. So konstatiert der deutsch-türkische Kabarettist im Kapitel »Der Arier als Kulturbegründer«, dass die grammatikalische Schwäche des Buchs Mein Kampf es zur Waffe gegen sich selbst mache.80 Die meisten Teile von Somunçus Programm basieren auf der Defiguration des Originaltexts, die in erster Linie über die sprachliche Verzerrung und die Zitatdemontage selektierter Kapitel und Ausschnitte aus Mein Kampf erfolgt. Auch hier zeigt sich die Dezentrierung von binären Einteilungen: Der

76 Ebd., Nr. 2. 77 Somunçu zitiert den Text auf der Seite: »Platon und Aristoteles [hätten] schon heraus gefunden, dass die Gehirnkapazität von Kaukasiern im Vergleich zu Afroamerikanern 25 IQ Punkte mehr betragen würde.« Ebd. 78 Ebd. 79 Vgl. ebd. 80 Ebd., Nr. 3.

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»Türke« deckt die sprachlichen Widersprüche des verbotenen Textes auf und führt sie dem deutschen Publikum vor. Durch die Groteske der Fäkalsprache bzw. die Komik der Perfidie – beides übertriebene Formen sprachlicher (Ver-)Zerrungen – in Somunçus Programm wird die Distanz zum besprochenen Thema verringert. Der Tabubruch und das Lachen über das Verbot funktionieren über den schamlos vulgären Sprachgebrauch, z.B. Flüche und Beschimpfungen. So echauffiert sich Somunçu in der Nummer »Wiener Lehr- und Leidensjahre«, weil er im Stichwortverzeichnis von Mein Kampf nach verschiedenen Begriffen gesucht, beispielsweise »Adel«, »Entartung« sowie nach »Sauerbraten« oder »Schweineschnitzel«, selbige allerdings nicht gefunden habe – auch hier zeigt sich die Absicht, das Buch zu einem ›alltäglichen‹ Gegenstand zu machen. Ebenso recherchierte er nach dem Wort »Ficker«: »Aber Ficker steht hier nicht drin. Ficker nicht, aber Führer. Ist ja das Gleiche«.81 Durch den vulgären und herabsetzenden Sprachgebrauch sowie die exzessive Benennung von Genitalien wird das Menschliche auf Körperhaftes, Ekelerregendes, Gestank und Fäkalien reduziert: »Arsch«, »Anus«, »Pimmel« oder »Vorhaut« sind einige wenige Beispiele für die Benennung von Geschlechts- bzw. Körperteilen, die in Somunçus Gesamtprogramm wiederholt vorkommen.82 In der Lesung aus Mein Kampf funktioniert sowohl die Komik als auch die Entmystifizierung durch die Offenlegung der Doppeldeutigkeit der Aussagen auf einer Metaebene: Die Doppeldeutigkeit der Pointen des Kabarettisten wird aus der Doppeldeutigkeit des thematisierten Textes geformt. Somunçu bewegt sich während der Lesung vom Lachen über die Widersprüchlichkeit der Tabuisierung zum Lachen über die inhaltlichen und sprachlichen Widersprüche des Textes. So basiert das Lachen über den Inhalt der Texte z.B. auf der Zerlegung der Sätze zur Aufdeckung sprachlicher Pleonasmen: »Schöpferisch tätige Völker sind jeher und von Grund aus schöpferisch veranlagt [Pause], auch wenn dies in Augen oberflächlicher Betrachter nicht

81 Ebd., Nr. 4. 82 In diesem Kontext ist Rabelais’ Romanzyklus Gargantua und Pantagruel eine wichtige Vorlage, die Bachtin als Grundlage für seine Ausführungen über das Groteske heranzieht. Exemplarisch ist die sogenannte »Arschwisch-Episode«. Vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 416-426.

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erkenntlich sein soll.«83 In der Lesung aus der Sportpalastrede liest Somunçu u.a. aus den zehn Fragen des Propagandaministers Joseph Goebbels folgenden Satz: »Vor mir sitzen deutsche Verwundete von der Ostfront, Bein- und Armamputierte mit zerschossenen Gliedern.«84 Ein weiteres Beispiel stammt aus der Nummer »Wiener Lehr- und Leidensjahre«, in der Hitler eine Aussage macht, die eigentlich von der Trivialität des Gesagten sowie des Sprechers zeugt: »Ich habe mich seit früher Jugend bemüht, auf richtige Art zu lesen, und wurde dabei glücklicherweise von Gedächtnis und Verstand unterstützt.«85 Ein wichtiges Element der Konstruktion der Rahmenfigur Hitlers und des Alternierens zwischen ihr und dem Kabarettisten auf der Bühne bildet das Medium der Stimme. Die Mehr-Stimmigkeit verläuft parallel zu den verschiedenen Rollen des Kabarettisten. Die Stimme ist ferner das Medium der Vergegenwärtigung der satanischen Person auf der Bühne und dient damit der Aufhebung der Distanz zu einer mystifizierten Figur. Die Loslösung vom bzw. die Tötung des Objekt/s funktioniert durch seine Animation bzw. durch die Verkörperung eines Teilobjekts, in diesem Fall seiner Stimme, das heißt u.a. seines Dialekts sowie seiner Redeart und vor allem Hitlers berühmten Kasernenhoftons. Durch die Nachahmung der Stimme und auch der Körperhaltung, auf die noch genauer eingegangen wird, entsteht eine Komik aus der Inkongruenz zwischen der dröhnenden Redeart einer dämonischen Figur und dem banalen, leeren Inhalt ihrer Rede, die durch das Auftreten verhüllt werden soll. Überdeutlich werden die Verzerrungen der Figur durch den Wechsel zwischen der Rahmenfigur Hitlers und der Figur des kommentierenden Kabarettisten Somunçu: Die hyperbolische Darstellung der Rahmenfigur, die ins unendlich Große oder unvorstellbar Kleine entstellt wird, zeigt sich mit Nachdruck. Übertreibung und Überdimensioniertheit erweisen sich als Stilmittel, durch die die inhaltliche Leere von Hitlers Äußerungen umso deutlicher hervortritt.

83 Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders, Nr. 3. 84 Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest Joseph Goebbels, Nr. 12. Eigene Hervorhebung. 85 Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders, Nr. 4.

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Eine weitere Ebene der Komik seines Programms erzielt Somunçu mit der Aufdeckung der zahlreichen sexuellen Anspielungen im verbotenen Buch.86 Die Vergegenwärtigung der tabuisierten Figur durch die Nachahmung ihrer Stimme sowie die inszenierte Seriosität des Gelesenen (u.a. durch die dröhnende Stimme), während sich der Inhalt dabei als lächerlich entpuppt (durch den Wechsel vom theatralischen Vortragen zum Plappern), führen in der Aufführung zur Frage, wie nun solch ein Buch eine solche ›Wichtigkeit‹ erlangen konnte, die es nicht verdient. Die Hervorhebung der sexuellen Anspielungen im Buch erweist sich hierbei als ergiebiger Weg zur Profanierung, denn hinterfragt wird somit die Tabuisierung bzw. Absonderung eines an sich lächerlichen Inhalts. In der Nummer »Volk und Rasse« heißt es: »Es gibt Wahrheiten, die so sehr auf der Straße liegen, daß sie gerade deshalb von der gewöhnlichen Welt nicht gesehen oder wenigstens nicht erkannt werden. Die Welt geht an solchen Binsenwahrheiten manchmal wie blind vorbei und ist auf das höchste erstaunt, wenn plötzlich jemand entdeckt, was doch alle wissen müßten. Es liegen die Eier des Columbus [Pause] zu hunderttausenden [Pause] rum. Nur die Columbusse [sic!] sind eben seltener zu treffen.«87

Was Somunçu anhand der Zitate veranschaulichen will, sind vor allem die grammatikalischen Schwächen eines durch das Verbot abgesonder-

86 Dies begründet Somunçu damit, dass Hitler in Wien nach der Ablehnung seiner Aufnahme in die Kunstakademie zunehmend in esoterische Kreise gerät, wie die Ostara-Bewegung. In diesen Kreisen werden zu Beginn des Jahrhunderts, so Somunçu, die Unterschiede zwischen den ›Tschandalen‹, den Untermenschen, und den ›Ariern‹, den angeblichen Herren, besprochen. Der maßgeblichste Unterschied zwischen den zwei Gruppen ist das priapeische Geschlechtsteil: Der griechische Gott Priapus diente den Tschandalen als Namens- bzw. ›Penisgeber‹. Aufgrund ihrer hohen Potenz schänden die Tschandalen die ›arischen Frauen‹. Somunçu zieht daraus eine latent implizierte Aussage, die Hitler über die Impotenz des ›arischen‹ Mannes macht: Der Kabarettist stellt fest, dass diese sexuellen Beispiele im Text andere Hintergründe des Menschenhasses enthüllen als die propagierte Ablehnung des »Schändens« aus angeblich religiösen Gründen, die die Juden als Verkörperung Satans darstellen. Vgl. Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders, Nr. 4. 87 Ebd., Nr. 6.

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ten Inhalts. Somunçu zählt weitere Stellen auf, um zu zeigen, dass der Inhalt durch die Tabuisierung viel ernster genommen wird als es die sexuellen Anspielungen im Buch verdienen. In der Nummer »Wiener Lehr- und Leidensjahre« spricht der deutsch-türkische Kabarettist von der Zweideutigkeit der Sätze – »[…] bzw., noch schlimmer, die Sätze sind alle eindeutig«88 – und liest folgenden Satz vor: »Natürlich, je niedriger das geistige und sittliche Niveau eines solchen Kunstfabrikanten ist, umso unbegrenzter ist seine Fruchtbarkeit, bis so ein Bursche schon mehr wie eine Schleudermaschine seinen Unrat der anderen Menschheit ins Antlitz spritzt.«89

Nicht nur das sprachlich Absonderliche ist also konstituierender Teil der Bühnenkomik. Auch die Bagatelle bildet eine wichtige Grundlage für die Zerlegung des Inhalts des tabuisierten Buchs. Die Nobilitierung von Trivialem in Mein Kampf verläuft parallel zu dessen Entmystifizierung durch Somunçu. Hier erweist sich die Bindung phrasenhafter Aussagen an eine für ›sakral‹ gehaltene Figur als Teil ihrer Degradierung. Ein Beispiel dafür ist die Nummer »Volk und Rasse«, bei der Somunçu in der Lesung auf die Tierbeispiele zurückgreift, die die Banalität und die Lächerlichkeit der leeren, aussagelosen Sätze aus Mein Kampf verraten, die Somunçu an manchen Stellen durch die lautliche Nachahmung des Vorgelesenen (z.B. wiehernde Pferde) ergänzt. Die kabarettistischen Pointen bestehen darüber hinaus in der Veranschaulichung sprachlicher Doppeldeutigkeiten, die in der Mischung von tierischen und menschlichen Zügen auf eine der ältesten Varianten der Groteske rekurrieren.90 Die ›Rassentheorie‹ Hitlers wird an der vorgetragenen Stelle aus dem Buch anhand der Paarung von Tieren dargestellt. So kommt es zu folgender Auflistung: »Meise geht zu Meise [Paralleltext 1], Fink zu Fink, Storch zu Störchin, Feldmaus zu Feldmaus, [langer Paralleltext 2] Hausmaus zu Hausmaus, Wolf zur Wölfin [Paralleltext 3]. Der Fuchs ist immer ein Fuchs. [Paralleltext 4] Die Gans ist immer eine Gans. Der Tiger ist immer ein Tiger. Es wird aber nie ein

88 Ebd., Nr. 4. 89 Ebd. 90 Vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 357.

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Fuchs zu finden sein, der seiner inneren Gesinnung nach [Pause] etwa [Pause] humane Anwandlungen Gänsen gegenüber haben könnte.«91

Die dämonische Person des damaligen Führers ergeht sich in Plattitüden. Durch die Unterbrechung des Aufzählens etlicher Tierbeispiele wird eine Komik der Redundanz erzeugt, mit der der Text seiner Aussage entleert wird. Die Komik funktioniert allerdings in erster Linie über die Fragmentarisierung der Aussagen: Das Gelesene wird über die Zitatmontage bzw. die Auslassung von Textstellen verzerrt. In den Paralleltexten kommentiert Somunçu die Aussagen oder schweift vom Text ab und fügt eine Rahmenhandlung ein. Im »Paralleltext 2« wechselt der deutsch-türkische Kabarettist zur bereits erwähnten Figur des türkischen Gastarbeiters und erzählt außerdem von den bereits erwähnten Begegnungen mit Neonazis während einer Bühnenaufführung. Die Komik funktioniert anschließend durch die Rückkehr zum vorgelesenen Text, die die Aufzählung der Tierbeispiele endlos und geschwätzig erscheinen lässt. Die Fortsetzung des Zitats führt nochmals zu sprachlichen Redundanzen, wie z.B. in »Paralleltext 4«, wobei Somunçu den Text unterbricht und die Zuschauer ironisch fragt, wer denn nun einer der vorgelesenen Aussagen zustimmen würde.92 Der deformierte Körper Die Fleischwerdung des ›Sakralen‹ funktioniert im Programm über Hitlers Mein Kampf als Grundprinzip seiner Degradierung.93 Neben der Sprache und der Stimme figuriert der groteske Körper als Lachparadigma bzw. als Medium oder Ort der Inszenierung von Tabus. Das Performative ist wesentlicher Bestandteil in Somunçus Kabarett, was sicherlich mit seiner Tätigkeit als Schauspieler am Theater zusammenhängt. Dies beginnt mit der (übertriebenen) Inszenierung der nichtfiktiven Figur Hitlers. (Gestikulatorische) Mimik, Motorik und Gri91 Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders, Nr. 6. 92 Ebd. 93 Bei Bachtin ist diese Bewegung oder Ausrichtung »nach unten« das grundlegende künstlerische Prinzip des grotesken Realismus und bestimmt »alle Formen volkstümlicher Belustigung«. Bachtin spricht in diesem Kontext von der »Beerdigung« alles Hohen. Vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 415.

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massen sind Elemente der physiognomischen Nachahmung zur Belebung und Vergegenwärtigung einer ›abgesonderten‹ Figur bzw. der Exkarnation von Hitlers Figur und der Destruktion des Mythos des Unbekannten. Später werden verborgene Details des grotesken Körper freigegeben (es ist z.B. die Rede von Hitlers »Pimmel«94). Absonderungen und Exkretionen werden zu Mitteln der Deformation der einst für ›sakral‹ gehaltenen Person und sind darüber hinaus Teil einer Komik der Indignation. Die kolossale Sexualisierung des menschlichen Leibs bietet eine Möglichkeit für den Tabubruch und die Entstehung der Groteske. Der groteske Körper und die Fokussierung auf die Genitalien fungieren als Verspottung allgemein und insbesondere der sakralen Figur. Ähnlich funktionieren die Entmystifizierung und Parodierung des Verbots bei Somunçu: Die zahlreichen sexuellen Einzelheiten, die zum Teil abstoßende Details beinhalten, weisen zunächst auf die weltliche Seite einer mystifizierten Figur hin. Die Degradierung durch die Aufhebung der Distanz des Sakralen zum Weltlichen ist bei Bachtin der allvernichtende Moment bzw. ein Moment des Begrabens. Der Weg, den Somunçu in seinem Programm zurücklegt, entspricht dem Folgenden: Die Thematisierung fleischlicher Lüste und die Fokussierung auf den (Unter-)Leib und den Phallus bringen das ›Heilige‹ dem Weltlichen bzw. dem Irdischen näher und schaffen durch die Degradierung, die vor allem über die Verwischung und Überstrapazierung der Grenze des Körpers erfolgt, eine bestialische Figur.95 Somunçus Nummern arbeiten an manchen Stellen mit der visuellen Wiedergabe von Inhalten. Die bildliche Konkretisierung des zitierten abstrakten Textes ist ein Instrument der Profanierung und dient der Herabsetzung durch den Hinweis auf die irdische Seite der Figur des Führers. Exemplarisch ist hier die Nummer »Lieber Führer« aus der Lesung aus der Sportpalastrede, in der Somunçu seinem Publikum das Vorlesen aus einem Liebesbrief an den Führer vortäuscht. Die Briefzeilen bzw. -sätze werden durch die Rahmenfigur Hitlers wiederholt unterbrochen. Der Wechsel zwischen der Stimme der imaginierten Verfasserin des Briefes und den inszenierten Antworten oder Kommentaren Hitlers steigert sich förmlich orgiastisch in zunehmendem

94 Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders, Nr. 2. 95 Vgl. Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt.

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Tempo und wird dabei akustisch durch die Modulation der Stimmlagen und des Stöhnens unterstützt. Somunçu rundet die Nummer mit der Pointe ab, es stehe alles gar nicht im Brief, er habe jedoch geglaubt, es könnte das Publikum interessieren, dass Hitler nicht antiseptisch und asexuell war, wie man gerne denken möchte.96 Neben der herabsetzenden Sexualisierung in dieser Nummer erfolgt die Profanierung durch das bildliche Phantasieren beispielsweise der Entkleidung des damaligen Reichskanzlers, wodurch er in den Bereich des IrdischNahen gerückt werden soll. Wird das ›Heilige‹ durch den Hinweis auf seine absonderliche Seite zum Irdischen, so kann seine Verzerrung z.B. durch die Groteske der Perversion fortgesetzt werden, etwa durch die Anspielungen auf sodomitische Praktiken der Person Hitlers, was ebenso durch die erwähnte Doppel- bzw. Eindeutigkeit der Aussagen funktioniert. Somunçu liest folgenden Satz aus dem Buch: »Jedes Tier paart sich nur mit einem Genossen der gleichen Art.«97 Die Verspottung gelingt an dieser Stelle durch die Animalisierung und die Anomalie des ›Sakralen‹: »Das Verhältnis des Judentums zur Prostitution und mehr noch zum Mädchenhandel selber konnte man in Wien [Pause] studieren [Paralleltext 1], wie wohl in keiner sonstigen westeuropäischen Stadt, südfranzösische Hafenorte vielleicht ausgenommen [Paralleltext 2]. Schon im tagtäglichen Verkehr [Pause] mit meinen Arbeitsgenossen fiel mir die erstaunliche Wandlungsfähigkeit auf, mit der sie zur gleichen Frage verschiedene Stellungen einnahmen. […] Gleich dem Weibe, dessen seelisches Empfinden weniger durch Gründe abstrakter Vernunft bestimmt wird als durch solche einer undefinierbaren, gefühlsmäßigen Sehnsucht nach ergänzender Kraft, und das sich deshalb lieber dem Starken beugt als den Schwächling beherrscht.«98

Dieses Zitat veranschaulicht den Unterschied zwischen dem Dämonischen und dem Idiotischen anhand der sexuellen Andeutungen, denn der verbotene Text erweist sich als nichts anderes als ein Elaborat aus unsinnigen Aussagen. Somunçu entmachtet das legendäre Buch durch

96 Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest Joseph Goebbels, Nr. 11. 97 Serdar Somunçu: Serdar Somunçu liest aus dem Tagebuch eines Massenmörders, Nr. 4. 98 Ebd.

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die Bloßstellung von dessen Sinnentleertheit: Mit der zitierten Passage wollte Hitler das unsittliche Handeln der Juden und somit ihre Gefahr für Deutschland betonen. In den hervorgehobenen Stellen zeigt sich jedoch die Doppeldeutigkeit durch den Hinweis auf den gleichgeschlechtlichen Geschlechtsverkehr des sexuierten Hitler mit seinen »Genossen«. Die Inszenierung umfasst an dieser Stelle außerdem die Nachahmung der »verschiedenen Stellungen« zur Wiedergabe des Inhalts (»beugt«, »beherrscht«) auf der Bühne, womit Somunçu das Vorgelesene auch visuell konkretisiert, so dass dem Publikum durch die bildliche Wiedergabe des Inhalts die damit verbundene Perversion deutlich wird. Die Lesungen münden meist klimaktisch in der Destruktion des Bühnengeschehens, wodurch Somunçu den Inhalt seines Programms performativ reflektiert: So zerstört er häufig das Bühnenbild, die Requisiten und/oder den Text, aus dem er liest. Ähnlich wie der Inhalt zerlegt und auseinandergenommen wird, soll auch das Medium selbst vernichtet werden. Die Lesung aus Hitlers Mein Kampf endet beispielsweise mit der Inszenierung einer zunehmenden Echauffierung sowie des Verlusts der Selbstbeherrschung aufgrund des Buchinhalts. Während der Lesung aus der Bildzeitung entwertet Somunçu den Inhalt der Zeitung performativ, indem er im Laufe des Abends die einzelnen Seiten des Printmediums über die Bühne wirft. So endet das Programm mit der expliziten Aufhebung der vierten Wand.99

99 Während des Programms führen mehrere Strategien zur wiederholten Aufhebung der vierten Wand, wie z.B. die intertextuellen und intermedialen Bezüge sowie die Metareflexionen über das Medium Kabarett durch die Hinterfragung kabarettistischer Besonderheiten und die Selbstreferenzialität seiner Nummern. Das selbstreferentielle Potential von Somunçus Programm besteht erstens in den Reflexionen über seine bisherigen Aufführungen und im Rekurrieren auf Beispiele aus bisherigen Programmen z.B. durch Zitate oder Hinweise auf besondere Situationen. Damit schafft er eine Querverbindung durch sein Gesamtwerk. Somunçus Nummern beinhalten zweitens Äußerungen über kabarettistische Stilmittel wie z.B. den Anspruch auf Pointen. Eine weitere Methode, mit der Somunçu die Fiktionalität seiner Lesung auf der Bühne zu verringern sucht, bilden die Auswahl der Orte bzw. Räume und auch die Daten der Aufführungen. Mit der Herstellung des Bezugs zu einem historischen Ort zum Zeitpunkt eines historischen Ereignis-

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5.4 K OMIK DER P OLYPHONIE D JANGO ASÜL

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VON

Wenn man Django Asüls Zugehörigkeit nach seiner Staatsangehörigkeit festlegt, dann sollte vom »türkischen Kabarettisten« die Rede sein. Obwohl er in Deggendorf geboren und aufgewachsen ist, besitzt er bis heute den türkischen Pass. In erster Linie ist er in Deutschland jedoch für seinen niederbayrischen Dialekt bekannt. Doch der Dialekt an sich ist nicht der Grund für die Popularität des Kabarettisten, sondern dessen Kombination mit Asüls türkischer Herkunft. Wie kann ein Niederbayer fremde Wurzeln haben? Oder anders gefragt: Wie kann man Niederbayer sein, wenn das Vaterland und die Muttersprache, zwei elementare Konstituenten nationaler oder regionaler Zugehörigkeit, nicht niederbayrisch sind? Ist dies nicht der erste Widerspruch und gleichzeitig ein Anzeichen für Asüls Strategie der Wiederholung mit Differenz, wie sie etwa bei Bhabha in Bezug auf die postkoloniale Mimikry als »the same but not quite« formuliert wurde (vgl. Kapitel 3)? Im Folgenden wird gezeigt, wie die Zugehörigkeiten in Asüls Programm ständig dekonstruiert werden, was zum Teil durch die Darstellung (klischeehafter) Rahmenfiguren sowie durch das Spiel mit den bereits erwähnten Rollen des Kabarettisten ermöglicht wird. Der deutsch-türkische Kabarettist Asül inszeniert in erster Linie eine niederbayrische Zugehörigkeit, die jedoch als Mimikrystrategie funktioniert, um Identitäten zu verhandeln, Aus- und Inland neu zu definieren und Stereotype zu dekonstruieren. Analog zu Somunçus ›Einwanderung‹ in die deutsche Geschichte migriert Asül in eine ›erzdeutsche‹ (Sub-)Kultur und destabilisiert hinter der Maske konstruierte Dichotomien (Deutsch/Niederbayrisch, Deutsch/Türkisch, West- /Ost -

ses will er auf die Aktualität der Bühnendarstellung hinweisen. Somunçus tausendste Lesung fand beispielsweise am 30. Januar 2001 statt, dem Tag, an dem Hitler 1933 an die Macht kam. Andere Auftritte fanden an Orten statt, die eine unmittelbare Verbindung zum Inhalt von Somunçus Programm haben. Am 10.12.1998 las der deutsch-türkische Kabarettist aus dem verbotenen Buch in Mölln in einem der zwei Häuser, in denen türkische Familien wohnten und die im Jahre 1992 von Neonazis in Brand gesetzt wurden. Somunçu las auch vor ehemaligen Häftlingen der Konzentrationslager in Oranienburg und Sachsenhausen.

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deutsch). So ist sein Kabarettprogramm ebenso als Gegendiskurs zu verstehen, in diesem Fall durch die Konstruktion einer Binnenidentität. Dabei stellt sich die Frage: Wie deutsch ist denn eigentlich das Niederbayrische? Asül demonstriert mit dem Dialekt, einer internen Eigenheit, dass die Mundart nicht ausschließlich auf eine geschlossene Gemeinschaft beschränkt geblieben ist, sondern Bruchstellen aufweist. Am deutsch-türkischen Kabarett lässt sich im Allgemeinen bemerken, dass die türkische Kultur zur Zielscheibe des Humors wird. Darin zeigt sich eine Transzendierung des ›Zurücklachens‹, das hier nicht nur gegen ein herrschendes Zentrum gerichtet ist. Auch dies ist Teil des operierenden Gegendiskurses, der sich als dynamisch erweist.100 Es kommt zur Enthierarchisierung der Bühne durch die Festlegung von und vor allem durch den Wechsel zwischen verschiedenen Lachobjekten. Wenn die Kabarettisten, wie bereits besprochen, ›neutrale‹ Positionen einnehmen, dann umgehen sie die Einteilung in Dichotomien (z.B. Deutsche als Lachobjekt versus Türken als Lachsubjekt).101 Wie geht Asül in seinem Programm mit Fragen der Zugehörigkeit um? Und um welche Zugehörigkeiten geht es überhaupt? In seinen bisherigen vier Programmen Hämokratie (1997) – eine Neuschöpfung, die sich aus Hämorrhoiden und Demokratie zusammensetzt –, Autark (2002), Hardliner (2004) und Fragil (2009) werden diese Fragen auf verschiedenen regionalen, kulturellen und familiären Ebenen thematisiert. Hier bieten das Kabarett sowie dessen bereits ausgeführte Möglichkeit, verschiedene Identitäten einzunehmen, einen idealen Rahmen

100 Vgl. Reichl, Susanne/Stein, Mark: Introduction, in: Dies. (Hg.): Cheeky Fictions. Laughter and the Postcolonial, Amsterdam/New York: Rodopi 2005, S. 1-23, hier S. 15. 101 In einigen Studien zum postkolonialen bzw. hybriden Humor bei Migranten wird von einer ›Selbst-Ironie‹ bzw. ›self-directed humor‹ gesprochen. Vgl. ebd., hier S. 15. Das ›Selbst‹ ist in diesem Fall problematisch, denn es setzt die Zugehörigkeit des Kabarettisten z.B. zur türkischen Kultur voraus und würde außerdem zu einer dichotomen Konzeption des Lachens führen anstatt komplexere und produktivere Strategien zu berücksichtigen, wie z.B. die erwähnte Transzendierung des Performing Back oder Laughing Back. Für die vorliegende Analyse wird die Transzendierung als Ergebnis der ›neutralen‹ Selbstpositionierung bzw. der Einnahme einer Außenperspektive verstanden und nicht als ›Selbst-Ironie‹.

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für die spielerische Übernahme von fremden Rollen sowie die Darstellung einer vielstimmigen und vielschichtigen Zugehörigkeit. 5.4.1 Nationale und dialektale Zugehörigkeiten Asüls Programm baut zum Teil auf autobiographischen Elementen, wie z.B. seiner Geburt in Niederbayern, seiner Ausbildung als Bankkaufmann sowie seiner türkischen Herkunft, auf. Er verkörpert jedoch nicht sich selbst auf der Bühne, sondern integriert diese Elemente als Rahmenfiguren in sein Programm. Das heißt, Asüls Biographie verteilt sich während der Aufführungen auf mehrere ›Teilbiographien‹, die verschiedenen konstruierten Rahmenfiguren zugeordnet werden. Der deutsch-türkische Kabarettist bietet hiermit ein Beispiel für den Facettenreichtum der Identitäten. Die Vielstimmigkeit des Kabaretts – vielstimmig ist es durch die Rahmenfiguren, das gebrochene Reden der Figuren, aber auch durch die ironischen Aussagen selbst, die doppeldeutig und hybrid sind – erweist sich als das passende Medium der Darstellung von Angehörigen verschiedener Herkünfte schlechthin. Die Irreführung als Stilmittel des Kabaretts wird in diesem Fall nicht nur auf der Ebene des ›kabarettistischen Texts‹ angewandt: Im Migrantenkabarett beginnt die Irreführung mit der Fehlerwartung an die Identität des Kabarettisten, die zudem im Laufe des Abends, wie bereits erwähnt, immer wieder neu konstruiert wird. Asül setzt also Autobiographisches in seinem Kabarett ein, das für die Bühnenperformance fiktionalisiert wird, wofür der niederbayrischtürkische Kabarettist hauptsächlich zwei (sub-)nationale Rahmenfiguren bzw. Charaktertypen kreiert hat: In jedem seiner Programme kommt die Figur eines in der Regel unintelligenten, in seinem Denken provinziellen Niederbayern (u.a. Bankangestellter, Beamter) wie auch die Figur des naiven Ausländers, eines türkischen Gastarbeiters vor (Asüls Vater, ein Familienfreund oder ganz einfach »ein Türke«). Letzterer beteiligt sich aus der Position eines scheinbar Wissenden an der Diskussion über aktuelle politische Fragen, simplifiziert mit der wohlbekannten Gutgläubigkeit eines ignoranten, ausländischen Renommisten Meinungen und Lösungsvorschläge und bringt dabei mit dem inszenierten Unwissen nicht nur Wörter, Sätze und Aussprache, sondern auch politische Zusammenhänge durcheinander, was als Stilmittel zur Komik des Programms beiträgt. Die Komik basiert vor allem auf der Inkongruenz zwischen dem akzentuierten Reden, das ein

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Außenseitertum suggeriert, und dem aktuellen Inhalt der Aussagen und äfft somit das Positionieren von Ausländern als ›Gäste‹ in der Gesellschaft nach, von denen kaum eine Beteiligung am soziopolitischen Geschehen erwartet wird. Die zwei Figuren werden in erster Linie über die Sprache auf der Bühne geformt und als solche identifiziert. Die türkische Figur dient des Weiteren der Entblößung der niederbayrischen Provinzialität. Während der Türke einen ›neuen‹ Blick auf die aktuellen politischen Geschehnisse wirft, sich für außenpolitische Fragen sowie das gegenwärtige Geschehen in Deutschland interessiert und meist eine belehrende Funktion innehat, bleibt der Niederbayer in seiner dörflichen Sicht eingeschränkt und kommentiert beispielsweise den sozialen Wandel in der Gesellschaft aus der Distanz eines Unbeteiligten, die ihn trotzdem nicht daran hindert, Allwissenheit zu suggerieren. Er redet meist aus Neugier über Neuigkeiten aus seiner engen Umgebung, z.B. in Gestalt der Figur eines Fitnesstrainers, der aus Langeweile in seinem Berufsalltag eine Konversation über das Privatleben von Prominenten betreibt. Der Niederbayer wird durch sein dörfliches Denken zum Ausländer im eigenen Land, vor allem dadurch, dass er im Gegensatz zum Türken, der in zwei Ländern gelebt hat, ein Bewohner der Provinz geblieben ist. Die inszenierte Naivität des Türken exponiert die Krise sozialer Zugehörigkeit: Der Türke redet zwar gebrochen und täuscht mithin die Fortsetzung des ›naiven Ali‹ der Gastarbeiterliteratur vor. Hinter diesem Akzent ironisiert er jedoch durch seine Beteiligung an internen politischen Debatten nicht nur die Themen Migration und Integration, sondern vor allem auch seine Nicht-Wahrnehmung als Mitglied der deutschen Gesellschaft. Der Niederbayer dokumentiert mit seiner beschränkten Weltsicht diesen sozialen Wandel in einer Aussage: »Interessant is ja scho, wie weit es da Türk bei uns gebracht hat, ha? […] Ich kenn selber genug, die waren früher Türken, die sind heute Unternehmer.«102 Das heißt nichts anderes, als dass die Zugehörigkeit

102 Asül, Django: Hardliner, München: BMG 2004, Nr. 12: Herr 12Zylinder. Ähnlich verhält sich der niederbayrische Bankangestellte, der die Figur des Kabarettisten bei einem Besuch empfängt und lobt: »Hud ab! Wie weit Sie es mit Ihrem Witz gebracht haben. […] Über Ihren Witz bringen Sie uns praktisch Ihre Kultur näher. […] Hud ab, dass Sie sich ba uns sesshaft machen wollen, obwohl Sie scho eh da sind.« Vgl. Asül,

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zu einer sozialen Klasse nicht mehr an der nationalen Identität abgelesen werden kann, was für die provinziellen Verhältnisse des Niederbayern erstaunlich ist. Was ist für Django Asül das Ausland? Und wo ist er zu Hause? Das sind Fragen, um die es im Programm des niederbayrischtürkischen Kabarettisten wiederholt geht. Schon der Titel seines zweiten Programms Autark bezeichnet in seiner Aufführung die Unabhängigkeit u.a. vom Ausland, was jedoch erst durch die Festlegung einer Zugehörigkeit zu einem Inland möglich ist. Ähnlich wie bei Somunçu funktioniert die Komik im Kabarett von Django Asül über das Phänomen des Spiels mit Rollen, das allerdings bei Asül durch die Konstruktion einer mehrfachen Fremdheit und der Distanzierung durch die Selbstpositionierung an einem »dritten Ort« gelebt wird. Die ›dritte‹ Zugehörigkeit ist bei Asül die niederbayrische, die insbesondere durch die Sprache und dann durch die Aufnahme übertriebener regionaler Klischees entworfen wird. Die Identifikation mit einem Gebiet in Deutschland u.a. durch die Übernahme seines Dialekts ist ein beliebtes Phänomen unter einigen deutsch-türkischen Kabarettisten der zweiten Generation. Wie im Kabarett von Asül lässt sich eine Binnenidentität im Programm von Bülent Ceylan beobachten, der im Mannheimer Dialekt einen Ausgangspunkt für seine Rollen auf der Bühne gründet und daraus seine Nummern entwickelt. Durch die Selbstidentifizierung nicht mit Deutschland, sondern mit einem Teilgebiet, distanzieren sich die Kabarettisten vom Thema der Migration, das hauptsächlich die Generation ihrer Eltern betrifft. Ceylan und Asül sind beide in Deutschland geboren und aufgewachsen und erinnern daran, dass es gegenwärtig nicht mehr um die Funktionalisierung der Satire zur Verarbeitung eines Lebens in der Fremde oder des Gastarbeiteralltags geht. Indem sie andere lokale Regionen in Bezug auf ihren Wohnort zum ›Ausland‹ machen, führen sie außerdem zu einer Dynamik der Gruppenbildung, die nicht mehr Deutsch versus Türkisch zu sein versucht, sondern z.B. Niederbayrisch versus Deutsch. Die Dichotomie von Innen und Außen wird – und dies ist das interessante Phänomen, für das Asüls und Ceylans Kabarett stellvertretend steht – durch einen zweiten Schritt der

Django: Autark, München: BMG 2002, Nr. 14: Finanzhumanismus. Zitiert werden im Folgenden die CD- bzw. DVD-Aufnahmen der jeweiligen Programme.

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Einwanderung bzw. durch die Bewohnung eines Binnengebiets dekonstruiert.103 In diesem Sinne werden Dialekte »zu runden fertigen Rede- und Denktypen, sozusagen zu sprachlichen Masken«,104 die die Nationalsprache aufspalten105 – ein Effekt, der in diesem Fall durch Angehörige der zweiten Generation von Migranten herbeigeführt wird. Die Selbstpositionierung der erwähnten Bühnendarsteller erfolgt demnach durch ihre Bindung an eine provinzielle Zugehörigkeit, weshalb z.B. sowohl die deutsche als auch die türkische Außenwelt dem Kabarettisten Asül fremd vorkommen. Gleich zu Beginn einer Aufführung stellt er sich beispielsweise den Zuschauern vor, indem er seine Herkunft aus einer fremden Kultur kundgibt, und enttäuscht anschließend die Erwartung des Publikums mit der Benennung dieser Kultur, denn es handelt sich dabei nicht um die türkische, sondern die niederbayrische. Das Ausland ist für Asül dementsprechend zwar Deutschland, allerdings nicht aus türkischer, sondern aus niederbayrischer Sicht. Das Niederbayrische wird zu einem Territorium, das in diesem Fall an Deutschland und die Türkei grenzt und für eine Isolierung von der Umgebung steht, worauf Asül oft die Komik seiner Nummern baut. Auf humoristische Art setzt er z.B. seine Behauptung mit einer klaren Aussage über seine Identität in einer Nummer in Autark fort: Der Kabarettist erzählt, wie er ein Programm über das Thema »Geheimdienst« machen will und dafür aktuellen Stoff sucht. Daraufhin beschließt er, sich an den Bundesnachrichtendienst zu wenden, wo er sich dann vorstellt, um Spion zu werden (allein der erträumte bzw. phantasierte Job ist aufgrund der vorausgesetzten Tarnung als Mimikrystrategie gut geeignet!). Die zwei Voraussetzungen, die er für diesen Job erfüllen solle, so der Mitarbeiter des BND in Pullach, ist das Interesse an fremden Kulturen sowie an außenpolitischen Fragestel-

103 Im deutsch-türkischen Kino lässt sich Ähnliches an der Identifikation der Protagonisten nicht mit Deutschland, sondern mit einer deutschen Metropole bemerken, wie z.B. Hamburg in Akins Kurz und Schmerzlos (1998), Gegen die Wand (2004) und Soul Kitchen (2009) oder Berlin in Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid oder Thomas Arslans Geschwister (1996). 104 Michail M. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 514. Bachtin überträgt seine Aussage beispielsweise auf die Rolle der italienischen Dialekte in der Commedia dell’arte. 105 Julia Encke/Caroline Pross: Arena des Wortes, S. 279.

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lungen, woraufhin Asül antwortet, er sei der ideale Kandidat: »Schauen Sie, als fremde Kultur: ich komme aus Niederbayern. Und ich stelle mir schon so lange die außenpolitische Frage, wie soll’s mit dem Österreicher weitergehen? [Pause] Und vor allem warum?«106 Von dieser dritten niederbayrischen Zugehörigkeit aus wird die Konstruktion einer den Kabarettisten von allen Seiten umkreisenden Fremdheit intendiert. Asüls drittes Programm Hardliner beginnt mit der Feststellung, nach einer Tour »in Baden-Württemberg drüben« freue er sich darauf, sich wieder in Bayern aufzuhalten und »ned so im deutschen Ausland«.107 Den Sommerurlaub, den er als Kind in der Türkei machen musste, lehnt er aufgrund der ihm fremden Traditionen und Verhaltensweisen seiner Familienangehörigen ab.108 Um sich zwischen beiden Ländern zu situieren, definiert er Niederbayern als »ideologische Mitte zwischen Deutschland und der Türkei«.109 Anhand der verschiedenen Aussagen wird die komplexe Selbstdefinierung zusammengefasst, die in manchen Migrantenbiographien herkömmlich ist. Es zeigt sich darüber hinaus, wie sich jede der genannten Definitionen relativ an einer anderen Zugehörigkeit misst, so dass Asül mit diesen Aussagen seine Position im »Dazwischen« markiert. Durch diese komplexen Neudefinierungen wird außerdem eine Fehlerwartung an seine türkische Identität enthüllt: Asül parodiert die Erwartungshaltung durch die inszenierte Naivität bei der Darstellung von Alltagssituationen, in denen es um Fragen seiner Abstammung und Zugehörigkeit geht. Die Irreführung und der Erwartungsbruch charakterisieren das Gesamtprogramm des deutsch-türkischen Kabarettisten. Die inszenierte Naivität bzw. Dummheit sowie die Nivellierung von Außergewöhnlichem sind grundlegende Elemente seiner Bühnenrhetorik. Asül nutzt sie beispielsweise, um seine Wahrnehmung als Fremder, d.h. als niederbayrischer Fremder, satirisch zu erfassen. In der Nummer »A 92 München – Deggendorf« erzählt der Kabarettist, wie er nachts auf der Autobahn von der Polizei angehalten wird. Die kleinstädtische Mentalität der Figur des niederbayrischen Darstellers wird in dieser Situation für die Aufdeckung der Divergenz

106 Django Asül: Autark, Nr. 2: Geheimdienstleister. 107 Django Asül: Hardliner, Nr. 1: Errorkommando. 108 Asül, Django: Hämokratie, München: BMG 1997, Nr. 8. Mein privater Gazastreifen. 109 Django Asül: Autark, Nr. 13: Auslandverweigerer.

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zwischen Selbstverortung einerseits und der Wahrnehmung durch die Außenwelt andererseits funktionalisiert. Für den Ich-Erzähler auf der Bühne versteht sich die niederbayrische Zugehörigkeit von selbst. Anderen fällt sein türkischer Name jedoch als Erstes ins Auge. Sein engstirniges Denken – als (klischeehafter) Teil der inszenierten niederbayrischen Identität des Bühnendarstellers – hindert ihn in vielen Situationen daran, die Fehlkommunikation zu erkennen, die aus dieser Diskrepanz resultiert. Auf diese Weise beruht die Komik u.a. auf dem Missverständnis in alltäglichen Situationen: »Zwei Polizisten: Du, hast du schon mal so einen komischen Namen gelesen? Du, das is ja a Fremder. Was meinste, wo der herkommt? Eh, wo kommen Sie eigentlich her? Der Sprecher: Von der Jutta. P:

Wo fahren Sie denn hin?

S:

Heim.

P:

Ich sehe da gar nichts raus. Was haben Sie für einen Status?

S:

Heimfahrer.

P:

Können Sie sich ausweisen?

S:

Das darf nur der Innenminister und dafür muss er einen guten Grund

P:

Machen wir das mal ganz einfach. Dürfen Sie hier bleiben?

S:

Ja, warum nicht? Das ist Standspur.«110

haben.

Auf der manifesten Ebene scheint es zunächst aufgrund der ländlichen Mentalität des Sprechers zu einer Misskommunikation zu kommen. Die latente, ironische Aussage des inszenierten Dialogs ist jedoch eine andere: Die Polizisten sind diejenigen, die begriffsstutzig erscheinen. Während sie noch mit dem Entziffern des ungewöhnlichen Namens beschäftigt sind, hat sich für den Sprecher schon längst die Frage nach seiner Zugehörigkeit normalisiert, so dass er den Sinn hinter den Fragen der Polizisten nicht erkennt. Es ist also nicht nur die enge Sicht des Niederbayern, die den Sprecher in eine Situation der Fehlkommunikation führt, sondern dieses provinzielle Denken in Verbindung mit Zeichen von Fremdheit, in diesem Fall einem fremden Namen. Nicht nur auf der Autobahn bereitet die ungewöhnliche Zusammensetzung aus der niederbayrischen Zugehörigkeit und dem türki-

110 Ebd., Nr. 12: A 92 München – Deggendorf.

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schen Namen und Pass Probleme, sondern auch im türkischen Konsulat. In einer seiner Nummern spielt Asül, dass er eines Tages dort eingeladen wird. Parallel dazu wird die Rahmenfigur des türkischen Konsuls eingebaut, die Asül fragt, warum er den deutschen Pass nicht beantragt habe, woraufhin die Figur des Kabarettisten verwundert antwortet: »Als Niederbayer? [gestisch und mimisch inszeniert, als wäre die Frage verrückt bzw. lächerlich]«.111 Der Konsul macht ihn darauf aufmerksam, dass er den türkischen Pass nur weiterhin besitzen könne, wenn er über ausreichende sprachliche und kulturelle Kenntnisse verfüge und seinen Wehrdienst ableiste. Im Gespräch frönt der Vizekonsul dem türkischen Patriotismus – Türke sein bedeutet für ihn z.B., in der Türkei zu leben –, weshalb Asül den Voraussetzungen nicht entspreche. Das Gespräch endet mit der Feststellung des Konsuls, Asül sei ein Fall für die Psychiatrie, nachdem Asül seine ideale Vorstellung von der Erweiterung der Grenze der Türkei, so dass sie bis Niederbayern reiche, dargelegt hat.112 Die ›dritte‹ Zugehörigkeit bildet keine Konstante, sondern wird während Asüls Programm dynamisch rekonstruiert. Kompliziert wird z.B. die Frage nach der Definierung von Identität, Ausland und Inland, wenn es in den Aufführungen des deutsch-türkischen Kabarettisten um die Wiedervereinigung geht. In diesem Fall ändert sich die Gruppenzusammensetzung; die Zugehörigkeiten müssen neu definiert werden: »Hätte Helmut Kohl erst Spione in die DDR geschickt, bevor er sich das Ganze unter dem Nagel reißt, […] dann wäre uns ja heute manches Problem erspart geblieben.«113 Das »uns« legt in diesem Fall neue Gruppendynamiken fest. Das Niederbayrischsein versteht sich hier als Teilidentität der westdeutschen Zugehörigkeit. Deutschland, das in seinem Programm zunächst als fremdes Ausland definiert wird, zerfällt nochmals in West- und Ostdeutsch. In diesem Fall verschiebt sich

111 Ebd., Nr. 13: Auslandverweigerer. 112 Ebd. 113 Ebd., Nr. 2: Geheimdienstleister. Eigene Hervorhebung. Die Aussage legt Asül als Analogie zu einem Zitat aus der Bibel an, die er zudem parodiert: Als der Kabarettist beschließt, ein Programm über den Geheimdienst zu machen (vgl. S. 176), beginnt er nach Stoff zu suchen, bis er am Ende zufällig den ersten Geheimdienstauftrag in der Bibel entdeckt, als Gott Moses anweist, Spione nach Kanaan zu schicken. Analog dazu hätte Kohl dies in der Gegenwart tun sollen.

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seine niederbayrische Selbstpositionierung so, dass er sich den Westdeutschen anschließt, die ihm als Niederbayer bislang fremd waren. Hier kommt die Figur des naiven Türken vor, der sich gegen die Deutsche Einheit äußert und mit seinen Vorschlägen die neudefinierten Verhältnisse nach dem Mauerfall verharmlost: »Einheit lieber mit der Türkei anstatt mit der DDR. Jaa, dann kann Türke arbeiten im eigenen Land und Deutsche Urlaub machen im eigenen Land.«114 Was ihre Wahrnehmung als Fremde betrifft, so schlägt die Rahmenfigur indirekt vor, den Türken und den Ostdeutschen miteinander gleichzusetzen, zumindest was ihr Verhältnis zum Westdeutschen betrifft. Hier ›siegt‹ sogar der Türke, der dem Westdeutschen mehr zu bieten scheint, als dies der Ostdeutsche kann. Mit der Gleichsetzung der zwei Gruppen verweist Asül darauf, dass beide Teil der deutschen Realität sind. In Asüls letztem Programm Fragil banalisiert und ironisiert diese türkische Figur die Debatte über die Integration von Türken in Deutschland. Ähnlich wie der Türke in Somunçus Programm, der unterschwellig die Annahme eines stagnierten Wesens der Türken wiedergibt, verfährt diese Figur bei Asül. In der Nummer »Integrationsdöner« wechselt Asül z.B. zur türkischen Rolle, die wieder an seinem gebrochenen Reden zu erkennen ist, und stellt fest: »Seit 35 Jahre jetzt ich bin in Deutschland und jetzt auf einmal ich soll machen Integrasion.«115 Der zu integrierende Türke setzt seine Verwunderung fort über den Umweg der Wiedervereinigung und lässt die Bundeskanzlerin Angela Merkel als diejenige erscheinen, die in Deutschland integrationsbedürftig ist: »Wann ist gekommen Merkel nach Deutschland? 1990. Wann ist gekommen Türke nach Deutschland? [als rhetorische Frage intoniert] Ja, dann jede normale Mensch sagt erst Türke muss werden Kanzler und dann jemand aus Ostblock [Pause]. Und von Merkel niemand hat verlangt Sprachtest.«116

114 Ebd. 115 Asül, Django: Fragil, München: Sony Music Entertainment 2009, Nr. 7: Integrationsdöner. Diese Nummer, in der die Integrationsbestimmungen ihn bis an die Grenze des Wahnsinns treiben und er zu einem Fall für die Psychiatrie wird, spielte der niederbayrisch-türkische Kabarettist im Jahre 2007 in der politischen Kabarett-Sendung Neues aus der Anstalt. 116 Ebd.

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Die Rahmenfigur nivelliert die Debatte über Zugehörigkeit und Außenseitertum, indem sie ›andere‹ Gruppen von Außenseitern konstruiert. Durch die Strategie der Auslassung der Antwort auf die zweite Frage wird etwas Augenscheinliches impliziert. Der ›Türke‹ klärt das Publikum in seinem Irrtum auf und negiert somit das ihm zugeschriebene Charaktermerkmal des naiven nichtwissenden Menschen, zum Schluss vor allem durch die Bemängelung von Merkels Sprachkompetenzen. Nicht nur die deutsche Identität ist heterogen (Niederbayrisch, West- und Ostdeutsch), sondern auch die niederbayrische selber, die sich außerdem erst durch die Abgrenzung und Ausschließung von anderen (dialektalen) Gemeinschaften konstruiert, wie z.B. den Franken: »Der bayrische Innenminister Beckstein ist ja gar kein Bayer. Er ist ja Franke. Und die Franken, die haben alle einen Komplex, weil die sind in Bayern ja die Underdogs. Und was macht ein Underdog? Er sucht sich einen anderen Underdog! Im Falle von Beckstein ist es der Ausländer. Jetzt gibt es böse Menschen, die sagen ja, der Beckstein, das ist ein Ausländerfeind. Das ist natürlich Blödsinn. Ich meine, nur weil einer keine Ausländer mag, ist er noch lange kein Ausländerfeind.«117

Die Aussage steht paradigmatisch für verschiedene Strategien, die in Asüls Programm wiederholt vorkommen. Ironisiert wird die Vorstellung von monolithischen Identitäten, denn die bayrische selber ist nicht einheitlich, sondern setzt sich intern aus weiteren regionalen (Teil-)Zugehörigkeiten zusammen, die hier durch die klischeehafte Beziehung zwischen dem Bayern und dem Franken kabarettistisch dargestellt werden. In der zitierten Aussage wird die angesprochene Ausländerfeindlichkeit als das Ergebnis einer hierarchischpyramidalen Struktur verstanden, innerhalb der jeder die eigene Hochstufung erst über die Abwertung eines Anderen erlangt. Die Raffinesse dieser Form der Einwanderung besteht darin, dass z.B. die niederbayrische Zugehörigkeit sich, ähnlich wie die nationale Identität, als nicht in natura vorgegeben, sondern als Konstrukt erweist – und daraus folgend die deutsche oder türkische Identität ebenso. In diesem Fall destabilisiert der Kabarettist durch die differentielle Nach-

117 Django Asül: Autark, Nr. 3: Diplomatengyros.

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ahmung, d.h. also durch die Mimikry, die (sub-)nationale Einheit, die sich als reine Imagination entpuppt. Die Strategie wirkt hierbei erosiv auf die lokale Eigenständigkeit, die sich durch den Dialekt innerhalb einer Nationalsprache zu konstruieren versucht, durch die Einschließung der deutsch-türkischen Perspektive jedoch immer wieder in kleinere Einheiten zerfällt. Das Niederbayrische entsteht, vergleichbar mit jeder lokalen Identität, erst und hauptsächlich in Relation zu anderen ebenso konstruierten Zugehörigkeiten.118 Zum Schluss wird das Spiel mit Differenzen durch die Thematisierung des Beitritts der Türkei in die EU erneut dynamisiert. Auch hier wird die Definierung von Territorien und Gruppen erforderlich. In Hardliner eignet sich die Figur des ignoranten türkischen Angebers dafür, sich zu Angela Merkels Einstellung zum Betritt der Türkei in die EU zu äußern: »Ja, aber diese Merkel ist gefährlich für Deutschland. Sie ist gegen alles. Jetzt ist sie gegen Zuwanderung, weil sie sagt, nein, dann kommen Fremde [Pause]. Dann will sie auch nicht Türkei in EU. Ist extra gefahren nach Türkei und hat gesagt, jo, bleib daheim! Da hat sie gesagt zu Türkei, kannst du haben piri-livi-gierte Partnerschaft. Ja, das ist wie Homoehe. Sagst du mal zu Türke, willst du Homoehe? Na, jetzt ist sie auch gegen Kopftuch. Frau Merkel sagt, mit Kopftuch muslimische Frau in Deutschland macht Parallelgesellschaft. Ja aber jetzt mit neue EU kommen Frauen aus Polen und Tschechien und jetzt hast du horizontale Gesellschaft.«119

Das inszenierte Unwissen dieser Figur eignet sich als Maske, hinter der die Kritik an erfundenen politischen Konzepten spielerisch artikuliert wird. Auf einen ersten Blick scheint es am ignoranten Türken zu liegen, dass eine tautologische Aussage zustande kommt, wie z.B. die Bundeskanzlerin sei gegen Zuwanderung, weil die Gefahr bestehe, es könnten Fremde kommen. Die latente ironische Stimme verrät jedoch, dass die Tautologie aufgrund der ungenügend begründeten Ablehnung der Zuwanderung zustande kommt. Das (scheinbar) sinnfreie Reden

118 In Bezug auf die Sprache konstatiert Benedict Anderson ihre »capacity for generating imagined communities, building in effect particular solidarities«. Anderson, Benedict: Imagined Communities. Reflections On the Origin and Spread of Nationalism, London: Verso 1991, S. 133. 119 Django Asül: Hardliner, Nr. 8: Senilitätsgarantie.

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des Türken ist somit als Resultat der politischen Bestimmungen und nicht seines vermeintlichen Außenseitertums zu verstehen. Neben dem gebrochenen Reden fällt der Figur außerdem die Aussprache von »privilegiert« schwer, offensichtlich aufgrund sprachlicher Mängel, im Grunde aber wegen des von der Bundeskanzlerin vorgeschlagenen Konzepts einer ›besonderen‹ Partnerschaft, das somit indirekt als befremdlich und unverständlich dargestellt wird. Eine weitere, durch die gespielte Naivität verborgene Aussage besteht in der Ironisierung der Vorstellung von der EU als homogener Einheit: Der türkische Redner setzt Merkels Äußerung zur Gefahr einer Parallelgesellschaft gleich mit der Aussage über Polen und Tschechien fort. Hinter der Maske des ahnungslosen Türken und anhand des Antagonismus (parallel, horizontal) sowie der sexuellen Anspielung, die damit verbunden ist, karikiert der Sprecher die herrschenden politischen Machtapparate, die sich durch die Bestimmung über Inklusion und Exklusion von Mitgliedstaaten konstruieren. Der Kommentar des Türken hört nicht an dieser Stelle auf, sondern zeigt als Nächstes exemplarisch, wie die Rhetorik der Inkongruenz und die Technik der Banalisierung in Asüls Programm funktionieren: »Ja, Frau Merkel sagt, Kopftuch ist Sache von Fundamentalist. Im Winter meine Mutter auch trägt Kopftuch und jetzt sie ist Halbjahresfundamentalist oder was?«120 Gelacht wird über die Unvereinbarkeit der kulturellen Ansichten, die sich in der Disparität der Aussagen widerspiegelt und zur ironisierenden Neuschöpfung »Halbjahresfundamentalist« führt, die exemplarisch zeigt, wie die kulturelle Zweistimmigkeit ironischer Aussagen im Kabarett entsteht. In dieser Wortzusammensetzung verdichtet sich der Zusammenprall der verschiedenen kulturellen Positionen und Weltanschauungen. Der Türke versucht die Behauptung der Bundeskanzlerin auf seine private Situation anzuwenden, während Merkels Überzeugung ohne Bezug zu konkreten Einzelbeispielen, in diesem Fall dem Türken und seiner Mutter, zustande zu kommen scheint. Die Schlussfolgerung, die der Sprecher aus der Divergenz zwischen der politischen Aussage und der sozialen Praxis zieht, kann von ihm nur in einem originellen Wort kompensiert wiedergegeben werden. Nicht nur durch die Rahmenfigur fließt eine türkische Stimme bzw. Zugehörigkeit in die Aufführung ein, sondern auch durch den

120 Ebd., Nr. 8: Senilitätsgarantie.

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Sprecher, der seine Zugehörigkeit, trotz des niederbayrischen Dialekts, zur türkischen Gruppe wechselt, beispielsweise wenn Asül vom türkisch-griechischen Verhältnis spricht: »Ich bin Türke. Das sagt doch lange nicht, dass ich keine Griechen mag.«121 Ähnlich wie das Bayrische zum Teil über die Abgrenzung von den Franken bestimmt wird, gehört zum Türkischsein vermeintlich eine festgelegte Haltung den Griechen gegenüber. In Bezug auf den Beitritt der Türkei in die EU – ein Thema, das in seinem Programm öfters vorkommt und im Folgenden ausführlicher besprochen wird – spricht Asül außerdem von »meinen türkischen Landsleuten«.122 Die besprochenen Zugehörigkeiten – im türkischen Konsulat war die Rede von einer ironischen Vorstellung der Expansion der Türkei bis Niederbayern – beruhen auf einem Phänomen der imaginierten Grenzziehung und -verwirrung. Asüls (dialektale) Wanderschaft bleibt zwar auf Gebiete innerhalb Deutschlands und der Türkei begrenzt, passiert jedoch geographisch markierte Grenzen in und zwischen den beiden Ländern, so dass die Landkarte einem Prozess der De- und Reterritorialisierung, eines dynamischen, kabarettistischen Remappings unterliegt. Die Autonomie konstruiert sich nicht nur über die Festlegung und Abgrenzung von einem ›Ausland‹, sondern über eine satirisch phantasierte Umkartierung. Asül bietet mit seiner mokanten Anregung eine alternative Konstruktion von Lokalitäten: Er spricht sich für die Einheit der BRD mit der Türkei aus,123 setzt Ostanatolien und die Oberpfalz gleich (in beiden war laut Asül vor 6.000 Jahren nichts und heute sei dort immer noch nichts)124 und deutet an, dass es sein könne, dass Brandenburg an Georgien verpachtet werde, wenn der Solidarpakt im Jahre 2018 auslaufe.125 In Autark stellt der deutschtürkische Kabarettist sich das Meer als Kulisse für seine Aufführung vor, da es für ihn ein Symbol für Autarkie, Souveränität und Erhabenheit sei, aber auch für die Gewissheit, man könne gen Horizont segeln

121 Django Asül: Autark 2002, Nr. 3: Diplomatengyros. 122 Ebd., Nr. 6: Zwangseuropäer I. Somunçu thematisiert den oft vorkommenden Wechsel explizit in einer Nummer auf seiner CD Hitler Kebab und lacht darüber, wie die Zuordnung situationsabhängig variiert. Vgl. Serdar Somunçu: Hitler Kebab. 123 Django Asül: Autark, Nr. 2: Geheimdienstleister. 124 Ebd. 125 Django Asül: Fragil, Nr. 8: Deutscher werden.

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und lande nie in Thüringen.126 Asül bietet eine imaginierte Alternative für die Organisation von Gebieten und Ländern. Die Weltkarte, die er dabei entwirft, verfolgt rhizomatische, d.h. offene und auch antihierarchische Formen im Gegensatz zur sonst suggerierten Homogenität.127 Diese Vorstellung, welche in seinem Programm parallel zur Frage der Zugehörigkeit verläuft, verweist deutlich auf das Fehlen eines fixen Zentrums. 5.4.2 Homo ludens. Komik des Pränatalen und der Regression Viele der deutsch-türkischen Kabarettisten rekurrieren in ihrem Programm auf Geschichten aus ihrer Kindheit. So ist beispielsweise die Thematisierung des kabarettistischen Werdegangs, ihres ersten Schultags oder des Lebens ihrer Eltern ein herkömmliches Phänomen. Darauf basiert ein großer Teil der Komik der Biographie. Asül gibt ebenfalls dem Publikum einen Einblick in sein Leben: Anekdoten mit den türkischen Nachbarn, Geschichten aus der Zeit seiner Ausbildung als Bankkaufmann oder aus seiner Jugendzeit. Asül thematisiert dabei ebenfalls Fragen von Zugehörigkeit, die auf der Ebene des Privaten stattfinden: Die Abhängigkeit von der Mutter, die Suche nach Versorgung als Ausdruck eines regressiven Verhaltens oder die Loslösung von den Eltern sind wiederkehrende Themen im Programm des deutsch-türkischen Kabarettisten. Die Komik des Pränatalen sowie die Komik der Regression sind zwei wiederkehrende Elemente in Django Asüls Kabarett, die die Fiktionalität des Autobiographischen offenlegen. Die zwei Verfahren stehen außerdem in engem Zusammenhang mit dem Thema der Migration bzw. des Aufwachsens in einem Land, das den eigenen Eltern fremd ist.

126 Django Asül: Autark 2002, Nr. 1: Problemprogrammatik. 127 Zum ›flexiblen‹ Entwurf von geographischen Landkarten schreiben Deleuze und Guattari: »The map is open and connectable in all its dimensions; it is detachable, reversible, susceptible to constant modification. It can be torn, reversed, adapted to any kind of mounting, re-worked by any individual, group or social formation.« Dies wird bei ihnen mit dem Rhizom verglichen. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix: A Thousand Plateaus, Minneapolis: Univ. of Minnesota Press 1987, S. 12.

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Die Thematisierung von Asüls Beziehung zu seinen Eltern ist mit Fragen der Nationalität verknüpft und bildet, wie zu Beginn des Kapitels in Bezug auf das Vaterland und die Muttersprache erwähnt wurde, den Kern der bisher besprochenen Fragen der Einschließung in national und kulturell basierte Gruppen. So entsteht die Bühnenkomik an einigen Stellen z.B. anhand der nicht stattgefundenen Abnabelung von der Mutter, was eine weitere Ebene der Thematisierung von Ursprung und Zugehörigkeit bzw. der Abhängigkeit ins Spiel bringt. Es heißt beispielsweise in seinem Programm Autark, es gebe nichts Schlimmeres für einen Mann als seine Abhängigkeit, die schon während der Schwangerschaft im Bauch der Mutter beginne.128 Die Erzählungen führen u.a. in den Bauch der Mutter zurück, wo er beispielsweise ein Gespräch mit ihr während der Schwangerschaft führt und ihr Anweisungen gibt, dass sie sich z.B. nicht stressen solle, sonst könnte das männliche Geschlechtsteil nicht vollständig gebildet werden.129 In Hardliner erzählt er außerdem von Traumata, die er schon im Bauch seiner Mutter erlitten hatte.130 In seiner Geschlossenheit zeigt der Bauch der Mutter eine Ähnlichkeit zur inszenierten Geborgenheit im provinziellen Leben in Deggendorf. Was die Zugehörigkeit zum Vater anbelangt, so geht es bei Asül um Fragen der Einbürgerung. Sein Programm handelt an mehreren Stellen beispielsweise davon, dass sein Vater Deutscher geworden ist, während der Kabarettist Asül die türkische Staatsangehörigkeit beibehielt: »Mein Vater hat es nicht geschafft, aus mir ein ganz normales Kind mit Migrationshintergrund zu machen. […] Mein Vater wurde später dann selber Deutscher und ließ mich als Türke zurück.«131 Bei Asül liegt also keine gescheiterte Integration, sondern Migration vor. Auch hier kommt es beim Publikum zum Erwartungsbruch, da es in der Regel mit der Einbürgerung der Generation der Kinder und nicht der Eltern vertraut ist. Asül beharrt jedoch darauf zu zeigen, wie seine Selbstpositionierung eine neue Möglichkeit für den Verlauf der Biographien von deutsch-türkischen Migranten bieten kann. Er wird zum Problemkind, das mit dem fehlenden Migrationshintergrund nicht eindeutig in die Kategorie der deutsch-türkischen Einwanderer fällt,

128 Django Asül: Autark, Nr. 9: Navigationsexzess. 129 Ebd. und auch Django Asül: Hardliner, Nr. 6: Pränatalabhärtung. 130 Ebd. 131 Django Asül: Fragil, Nr. 10: Migrationshintergründig.

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und lässt sich erneut keiner Gruppe zuordnen. Bei der Thematisierung der »neuen« Identität seines Vaters gerät der Ursprung selber in eine Krise – und zwar auf der Ebene des Vaterlands sowie der Paternität. Im türkischen Konsulat spricht der Vizekonsul Asül auf seinen unpassenden Umgangston gegenüber seinem Vaterland an, woraufhin Asül antwortet, seit einem Jahr sei sein Vater Deutscher, weshalb die Türkei nicht sein Vaterland sein könne.132 Der Vater, der sich hier als Metonymie des Vaterlandes versteht, durchlief also eine Änderung. Sie ist verbunden mit einem Verlust bzw. einer Trennung, die exemplarisch im Satz »und ließ mich als Türke zurück« codiert ist. Auch die Mutter ist als Ursprung wandelbar. So berichtet der deutsch-türkische Kabarettist in einer Nummer in Autark: »Meine Mama hat seit dem letzten Jahr einen deutschen Pass und schaut den ganzen Tag türkisches Fernsehen [Pause]. Das heißt, erstmals in ihrem Leben beschäftigt sie sich mit fremden Kulturen.«133 Mit dem deutschen Pass werden Wurzeln und kulturelle Abhängigkeiten der Mutter eliminiert und geraten in Vergessenheit, so dass die türkische Kultur ihr fremd wird. Gleichzeitig scheint sie sich genauso wenig mit der deutschen Kultur beschäftigt zu haben. Ähnlich wie der Vater gerät die Mutter als Bezug für die Muttersprache in die Krise: Einer der wesentlichsten Konstituenten nationaler Identität unterliegt einer Veränderung und zeigt sich als historischer Prozess von Wandlungen, z.B. zum niederbayrischen Dialekt. In dieser Nummer ist das Elternhaus ein Mikrokosmos für Migrationsgeschichten, die sich normalisiert haben und Teil der deutschen Gesellschaft geworden sind: Die Aussage über seine Mutter wird abgerundet mit der Definierung von Asüls Dasein in seinem Elternhaus: »Es ist überhaupt so, dass ich derjenige in der Familie bin, der am schlechtesten Türkisch spricht. Aber ich habe als Letzter noch den türkischen Pass. Ich bin praktisch bei mir daheim eine Randgruppe [Pause]. Und so als einziger Ausländer in einem deutschen Haushalt [Pause, Geste eines Hilflosen]. Früher war ich gewohnt, wenn ich mal auf Tournee war, dass meine Mutter mein Zimmer ein bisschen herrichtet. Heute, wenn ich heim komme, steht auf der Zimmertür ›Ausländer raus!‹ Am 17. November des vergangenen Jahres werde

132 Django Asül: Autark, Nr. 13: Auslandverweigerer. 133 Ebd., Nr. 16: Ethno-Hasardeur.

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ich um 6.30 Uhr von zwei Beamten der Ausländerbehörden wach geklingelt: ›Sie haben einen anonymen Hinweis von Ihrem Vater eee [Auslassung].«134

Der Raum der häuslichen Geborgenheit und des Schutzes verwandelt sich in ein Sinnbild der Nation, vor allem, wie der latenten ironischen Stimme in der Nummer zu entnehmen ist, nach dem Besitz des deutschen Passes. Die Nation, die sich eigentlich nur durch offizielle Papiere geformt hat, weigert sich, den eigenen Sohn aufzunehmen. An der Aussage zeigt sich des Weiteren die Darstellung eines regressiven Verhaltens, ein Element, das in vielen Nummern von Asüls Programm wiederkehrt. Ähnlich wie die inszenierte Naivität bei Özdamar, zu der die Rekonstruktion von Vergangenem parallel verläuft, führen Erzählungen über Asüls Abhängigkeit von seinen Eltern, d.h. über eine nicht erreichte Autarkie, zu Erinnerungen an die Kindheit oder zur Inszenierung einer infantilen Identität (u.a. Lektionen und Situationen über das Selbständigwerden und die Erlangung von Autonomie, Komik der nicht abgeschlossenen Sauberkeitserziehung).135 Darin zeigt sich eine latente Sehnsucht nach dem paternalen und maternalen Erbe und einer fortbestehenden Zugehörigkeit zu einem Ursprung. Dieses Verlangen muss jedoch unerfüllt bleiben, da der Ursprung selber in die Krise geraten ist und sich als nicht gleichbleibend erweist.

134 Ebd. 135 Vgl. ebd., Nr. 7: Erlebnispädagogik, und Django Asül: Hardliner, Nr. 6: Pränatalabhärtung.

VI Das deutsch-türkische Kino der Gegenwart

6.1 T HEMEN , E NTWICKLUNGEN UND T ENDENZEN DES DEUTSCH - TÜRKISCHEN F ILMS Seit seinen Anfängen durchlief das deutsch-türkische Kino mehrere Entwicklungsphasen, beginnend mit der Phase des Problemfilms und der bevorzugten Darstellung von Opferfiguren in der Fremde. Hinter dieser Orientierung stand nicht nur die Selbstdarstellung als Subjekte der Betroffenheit, sondern auch ökonomische Bedingungen. Die Auswahlkriterien für eine Filmförderung richteten sich oft nach bestimmten Themen wie z.B. die Probleme der Integration, was wiederum die Filmemacher beeinflusste. In vielen Fällen blieb ihnen keine Wahl außer der Beschäftigung mit Problemfällen der Migration.1 Eine Variante zeigt sich in Form der komischen Verarbeitung interkultureller Begegnungen.2 Anstatt bei der Darstellung von Gefangenschaft in einer Opferrolle zu verharren, werden Humor und Ironie zu Möglichkeiten der Grenzüberschreitung und Überbrückung einer marginalen Position und Erstarkung: »Possibilities of transgressing these symbolic regimes of victimization and marginalization might be opened through strategies of humor and irony, carni-

1

Mehr dazu findet sich in: Deniz Göktürk: Beyond Paternalism, S. 248-256.

2

Beispiele dafür sind Anno Sauls Kebab Connection (2004), für den Fatih Akin et al. das Drehbuch schrieben, die Fernsehproduktion Meine verrückte türkische Hochzeit (2006) von Stefan Holtz, Thorsten Wackers Süperseks (2004) oder Fatih Akins Im Juli (2000) und Soul Kitchen (2009).

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val and anarchy, distancing and reversal, masquerade and mutual mimicry, delusion and role-play, in short monkey business. Comic moments in the transnational and transethnic imagination can suggest liberating rhetorical positions beyond territorially grounded notions of identity and belonging and destabilize dominant practices of inclusion and exclusion.«3

Diese Phase des deutsch-türkischen Kinos steht in enger Verbindung mit der jetzigen Phase der Fusion verschiedener transkultureller Themen und Settings. Kreiste die Handlung in Filmen der ersten Phase überwiegend um das Thema der Migration, so rückt es im Laufe der Zeit entweder in den Hintergrund, vor dem sich die Handlung abspielt, oder wird in einigen Fällen nicht mehr berücksichtigt. Während hauptsächlich männliche Regisseure die Filmszene in der ersten Phase der ›Fremdheit‹ dominierten, so nimmt die Anzahl der Regisseurinnen ab den neunziger Jahren merklich zu. Aysun Bademsoy drehte u.a. die Dokumentarfilme Deutsche Polizisten (1999) und Am Rande der Städte.4 Ayşe Polat, eine Regisseurin mit kurdischen Wurzeln, wurde in der Forschung über das deutsch-türkische Kino vor allem für ihr Roadmovie Auslandstournee (2000) bekannt. Aufsehen-

3

Deniz Göktürk: Strangers in Disguise, S. 189f.

4

Aysun Bademsoy, die selber in Berlin lebt, dokumentiert in Deutsche Polizisten Schwierigkeiten und Herausforderungen, denen sich u.a. zwei deutsch-türkische Polizisten in Kreuzberg und Neukölln, zwei Stadtteile in Berlin, die hauptsächlich von Migranten bewohnt sind, ausgesetzt sehen. Der ›Migrant als Polizist‹, eine Umkehrung des gewöhnlicheren Version vom ›Migranten als Kriminellen‹, wird durch den Polizisten und StandUp-Komödianten Murat Topal repräsentiert, worauf im einleitenden Teil zur Ethno-Comedy nochmals eingegangen wird. In Am Rande der Städte werden Siedlungen in Mersin, einer Küstenstadt im Süden der Türkei und gleichzeitig auch Heimatstadt der Regisseurin, dargestellt, die hauptsächlich von »Deutschländern«, den Zurückgekehrten in die Türkei, bewohnt sind. In ihrem Aufsatz untersucht Rendi den Beitrag, den deutsch-türkische Regisseurinnen, insbesondere Seyhan Derin und Ayşe Polat, in einem von Männern dominierten Kino leisten, und hinterfragt, inwiefern wiederkehrende Elemente in den Filmen eine Konsequenz von Genderfragen sind. Vgl. Rendi, Giovannella: Kanaka Sprak? German-Turkish Women Filmmakers, in: GFL. German as a foreign language 3 (2006), S. 78-93. Hier aus: www.gfl-journal.de/3-2006/rendi.pdf.

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erregend, vor allem wegen der schauspielerischen Leistung, war ebenso ihr letzter Film En garde, den sie 2004 drehte. Yasemin Şamdereli ist Schauspielerin, war am Drehbuch von Türkisch für Anfänger beteiligt und drehte hauptsächlich Komödien wie Sextasy (2004) oder die zwei Fernsehproduktionen Alles Getürkt (2002) und Ich Chef, Du nix (2007). In ihrem ersten Film IMPORT-EXPORT. Eine Reise in die deutsch-türkische Vergangenheit (2006) sucht Eren Önsöz nach den Wurzeln der Vorbehalte und Klischees in der Begegnung zwischen Deutschen und Türken. Indem sie im Roadmovie Etappen der historischen Beziehung zwischen den zwei Ländern über fünf Jahrhunderte hinweg nachgeht, beweist sie, dass die Wahrnehmung von Gastarbeitern schon vor ihrer Ankunft in Deutschland mit Vorurteilen und Ängsten belastet war.5 Eine entscheidende Wende erlebte das Migrationskino durch die Filme von Fatih Akin, dem renommiertesten unter den deutschtürkischen Filmemachern. Die Gründung der eigenen Produktionsfirma Corazón International und sein Einsatz als Produzent z.B. auch für türkische Filme öffneten den deutschen Markt für türkische Filmemacher.6 Die finanzielle Unabhängigkeit bedeutet u.a. weniger Einschränkung bei der Themenorientierung, die in eindeutigem Gegensatz zu den Bedingungen in der ersten Phase des deutsch-türkischen Kinos steht. Auf die Frage nach der Transnationalität des deutsch-türkischen Kinos der Gegenwart reagiert die aktuelle Forschung zwiespältig. Einige Positionen gehen der Entwicklung seit den Anfängen nach und sprechen von den neuen Stilrichtungen, Genres und Themen in den

5

Mehr Informationen zum Film finden sich auf der Homepage der Regis-

6

Wie z.B. der türkische Film Takva, den Akıns Corazon International im

seurin: www.import-export-der-film.de/htm/film.htm. Jahre 2006 produzierte. Die Regie führte Özer Kiziltan. Bereits vor Akin gab es einige wenige, jedoch wichtige Koproduktionen im Kino. Zu den erwähnenswerten Beispielen gehört die schweizerisch-türkische Produktion von Yilmaz Güneys Yol – Der Weg, für den Güney das Drehbuch schrieb, die Regie allerdings nicht selber führen konnte, da er sich in der Türkei in Haft befand. Die Regie führte nach Güneys genauen Anweisungen Serif Gören. In diversen Interviews gibt Akin bekannt, dass er einen Film über das Leben Güneys plant.

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Filmen des ›dritten Kinos‹.7 Dieser Auffassung stehen andere Forschungspositionen entgegen, die beispielsweise in den Filmen von Akin eine Rekonstruktion eines binären Kulturschemas sehen. Behauptet wird z.B., dass die meisten Filmemacher einschließlich Fatih Akin eine traditionelle Form von Kultur kreieren und pflegen, auch wenn sie sonst für transkulturelle Stimmen und Tendenzen plädieren.8 Auf der einen Seite wird davon ausgegangen, dass die Gefangenschaft der Protagonisten zwischen zwei Welten oder Kulturen für die Beschreibung der jetzigen Migrationsphase nicht mehr angemessen ist. Auf der anderen Seite entstanden Untersuchungen, in denen der Tatsache nachgegangen wird, dass die meisten Figuren in den Filmen mehr oder weniger zwischen ihrer ›deutschen‹ und ›türkischen‹ Identität oszillieren.9 Insgesamt sei eher die Rede von der Koexistenz als von der Interaktion der Kulturen.10 Eine nähere Betrachtung vieler Handlungsspielorte zeigt, dass die geographischen Schauplätze der erzählten Geschichten eigentlich als topographisches Paradigma transkulturelle Themen exponieren und oft für eine »Kultur der Ortlosigkeit«11 stehen. Wie bereits besprochen, lenkt die Reduzierung der Filme auf Fragen der Zugehörigkeit zu

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Vgl. die Hinweise in Kapitel 1.3.

8

Vgl. Guido Rings: Blurring or Shifting Boundaries?

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Vgl. Fincham, Victoria: Violence, Sexuality and the Family. Identity ›Within and Beyond Turkish-German Parameters‹ in Fatih Akın’s Gegen die Wand, Kutluğ Ataman’s Lola + Bilidikid and Anno Saul’s Kebab Connection, in: GFL. German as a foreign language 1 (2008), S. 40-72. Hier aus: www.gfl-journal.de/1-2008/fincham.pdf.

10 Vgl. Guido Rings: Blurring or Shifting Boundaries? Rings bezieht sich auf das von Welsch kritisierte Konzept der Volkskultur Herders und will zeigen, inwiefern viele Regisseure beispielsweise eine ›türkische‹ Welt in ihren Filmen konstruieren, die für eine gewisse Homogenität einer Nationalkultur steht, und sich von dem Vermischen mit anderen Kulturkreisen distanzieren wollen. Mehr zu Welschs Konzept findet sich in: Welsch, Wolfgang: Transkulturalität. Zur veränderten Verfassung heutiger Kulturen, in: Schneider, Irmela (Hg.): Hybridkultur. Medien, Netze, Künste. Köln: Wienand 1997, S. 67-90. 11 Scherer, Sigrid: Geteilte Stadt, geteiltes Mädchen. Emine Sevgi Özdamar blickt zurück auf Deutschland im Herbst, in: Die Zeit. Sonderbeilage ZeitLiteratur 2003.

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festen Kulturkreisen von Themen in den Filmen ab, die jenseits von nationalen Grenzen stehen.12 Das Reisen, der Ortswechsel sowie die Raumdarstellung und Raumkonzeption gehören zu den wichtigsten wiederkehrenden Themen und Motiven im transnationalen Kino. Meist lassen sich die Schauplätze in den Filmen als translokale oder »glokale« Orte beschreiben.13 Von daher ist die Komödie nicht das einzige Darstellungs-

12 So versteht Rings in seiner Analyse von Akins Film Im Juli das Filmende als ein konservatives monokulturelles Ende (»very conservative monocultural note«). Vgl. Guido Rings: Blurring or Shifting Boundaries? Im Film begibt sich der Protagonist Daniel auf eine Reise in die Türkei, um die Türkin Melek wieder zu finden, von der er glaubt, sie sei die wahre Liebe. Begleitet wird er auf der Reise von Deutschland über Österreich, Ungarn und Rumänien von Juli, die in ihn verliebt ist. In der Türkei angekommen, trifft er Melek und erkennt nach dem Treffen mit ihr seine Liebe zu Juli. Das Ende des Films in Form einer deutsch-deutschen Liebesgeschichte, anstatt der zunächst ersehnten deutsch-türkischen, wurde als Unfähigkeit des Protagonisten interpretiert, ein europäischer Kosmopolit zu sein. Vgl. Jones, Stan: Turkish-German Cinema today. A Case Study of Fatih Akın’s ›Kurz und Schmerzlos‹ and ›Im Juli‹, in: Rings, Guido (Hg.): European Cinema: Inside Out. Images of the Self and the Other in Postcolonial European Film, Heidelberg: Winter 2003, S. 75-91, hier S. 89. Der Film handelt von Liebe und Erkenntnis. Deutsch oder Türkisch sind in diesem Fall als kulturelle Paradigmen zu verstehen. Das deutsch-deutsche Ende des Films wird nach der Reise durch mehrere Länder vollzogen, die nicht nur von deutsch-türkischen Grenzüberschreitungen lebt. Mehr zur Transkulturalität von Akins Filmen findet sich in Yeşilada, Karin E.: Citizens With(out) Belonging?, in: Garde, Ulrike/Meyer, Anne-Rose (Hg.): Belonging and Exclusion. Case Studies in Recent Australian and German Literature, Film and Theatre, New Castle: Cambridge Scholars 2009, S. 75-93. 13 Gemeint ist der Begriff des »glocalism«, eine Zusammensetzung aus »Globalisierung« und »Lokalisierung«, mit der ein lokales Handeln gemeint ist, dass sich aber als »global« charakterisieren lässt. Mehr dazu in: Robertson, Roland: Glokalisierung. Homogenität und Heterogenität in Raum und Zeit, in: Beck, Ulrich (Hg.): Perspektiven der Weltgesellschaft Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 192-220. In Bezug auf die Migrationsautoren schreibt Cheesman, dass damit die Ablehnung des ethnisch-

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format, das sich im Laufe der Entwicklung als passend für Migrationsthemen herausstellt. Für die Mobilität der Figuren bietet sich des Weiteren das Roadmovie als Filmgenre gut an. Filme wie Ayşe Polats Auslandstournee oder Fatih Akins Im Juli machen den Weg zum Identitätsmaßstab. In beiden Filmen exponiert das Deutsch-Türkische paradigmatisch transkulturelle Themen, wie die Suche nach einer verlorenen Vergangenheit im Fall des ersten Films oder Liebe, Erkenntnis und (Ver-)Irren im Fall des zweiten. Was das Reisen betrifft, so führt die Fahrt in vielen Fällen in die Heimat der Eltern. Egal ob als Flucht, phantasierter Wunsch oder Zwang, scheint die ›Heimat‹ eine Option zu sein, die, wenn auch oft widerwillig, von den Protagonisten in Erwägung gezogen wird. Im Laufe der Migrationsgeschichte erhält die Türkei als Reiseziel jedoch eine neue Bedeutung. Ging es in der ersten Phase um die Suche nach zurückgelassenen Wurzeln und zum Teil um eine entfremdende Rückkehr, so entwickelt sich das Reisen im Laufe der Zeit zu einer Suche nach einem Ort der Ankunft, die sich in einigen Fällen als eine temporäre herausstellt. Von einer ›Rückkehr‹ kann wohl kaum mehr die Rede sein, da es sich dabei nicht um eine Reise in die Heimat der Protagonisten, Angehörigen der jüngeren Generation, handelt. Die Ortsnamen, die mit dem Wunsch auf Rückkehr genannt werden, werden »zum Zeichen einer Abwesenheit«.14 Im Allgemeinen wirft dies Fragen über (das Fehlen einer) Territorialität, Zugehörigkeit und Exklusion auf. In vielen Filmen kommt zum Reisen das Problem der Illegalität hinzu, die Themen wie Heimatlosigkeit, Ortlosigkeit, Fragen der Selbstdefinierung (oft fehlen Ausweise, Papiere oder das Recht auf

orientierten Schreibens gemeint ist. Neben den vereinzelten Tendenzen dazu nennt er zwei ausgeprägte Beispiele für diese Form des Schreibens: Hilal Sezgins Der Tod des Maßschneiders und Kemal Kurts Ja, sagt Molly. Vgl. Rings, Guido (Hg.): European Cinema: Inside Out. Images of the Self and the Other in Postcolonial European Film, Heidelberg: Winter 2003. 14 Müller-Richter, Klaus: Phantasmagorien der Rückkehr aus der Migration. Fatih Akins kinematografische Konstruktion und Inszenierung von Heimaträumen, in: Ders. (Hg.): Imaginäre Topografien. Migration und Verortung, Bielefeld: transcript 2006, S. 177-194, hier S. 179. Müller-Richter bezieht sich mit der oben zitierten Aussage auf den Namen der Geburtsstadt des männlichen Protagonisten in Gegen die Wand.

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Aufenthalt) ins Spiel bringt.15 Ohne Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land werden Migranten, Exilanten oder Asylanten zu wandernden Grenzgängern, die sich ohne jegliche Bindung an verschiedenen Orten niederlassen (müssen). Der Bus, das Schiff und der Flughafen sind Orte des Aufenthalts transnationaler Charaktere. Sie heben den Moment des Übergangs hervor und markieren zum Teil das Ende einer Phase, bevor eine neue beginnt. Wie sich vor allem bei der Analyse von Ich Chef, Du Turnschuh zeigen wird, spielen einige Szenen an Orten, die geographisch an einer Grenze zu positionieren sind, wie z.B. auf dem Schiff oder am Flughafen. Das Nomadentum der Figuren wird dadurch als grundsätzliches Lebensprinzip konzipiert. Die Grenze wird in vielen Fällen im Kontext der Darstellung als Ort und Moment der Verhandlung geographischer, räumlicher und geschichtlicher Erfahrungen verstanden. In seiner Funktion als Transportmittel bringt beispielsweise das Schiff in Ich Chef, Du Turnschuh in Bezug auf die Figuren mehrere Begriffe ins Spiel: Mobilität und Einschränkung, Reisen, Wechsel und Verlust, worauf in der Analyse näher eingegangen wird.16 In Verbindung mit dem Ortswechsel wird auf Themen der Gefangenschaft und Befreiung und ihre Konzeptualisierung in Räumen eingegangen. Das Gefängnis ist z.B. in vielen Filmen des Migrationskinos ein wiederkehrender Ort der Handlung, etwa in Tevfik Başers 40 qm Deutschland, Fatih Akins Gegen die Wand, Auf der anderen Seite (2007) sowie Soul Kitchen (2009). Die Handlung in Kurz und schmerzlos (1998) setzt beispielsweise ein, als der türkische Protagonist Gabriel das Gefängnis verlässt.17 Die Bedeutung dieses

15 Beispiele dafür sind Kadir Sözens Winterblume (1996) und Fatih Akins Auf der anderen Seite (2007). 16 Andere Filme, in denen Wagen Momente des Übergangs und des Identitätswandels hervorheben, sind Fatih Akins Gegen die Wand und Kadir Sözens Winterblume. 17 Fachinger bemerkt in diesem Zusammenhang, dass der Unterschied zur ersten Phase des Migrationskinos darin besteht, dass die Zeit im Gefängnis off screen läuft und die Gefangenschaft in Akins Filmen mehr in den Wohnräumen konnotiert ist. Vgl. Fachinger, Petra: A New Kind of Creative Energy. Yadé Kara’s Selam Berlin and Fatih Akin’s Kurz und Schmerzlos and Gegen die Wand, in: German Life and Letters 60:2 (2007), S. 243260, hier S. 258.

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Orts besteht in seiner Funktion als soziale Quarantäne oder als Exilort in der Fremde: Er eröffnet Möglichkeiten der Entwicklung der transnationalen Figuren. In vielen Fällen bleibt das Gefängnis in den Filmen ein Aufenthaltsort für die männlichen Figuren, verbunden mit der Darstellung von Kriminalität und gefährlichen Straßenszenen, die im Migrantenkino eher »männliche« Themen sind. Was das Thema der Gefangenschaft der Frauen betrifft, so wurde in der Forschung bereits mehrfach festgestellt, dass es in den Anfängen des Migrationskinos in erster Linie um die Frau als Opfer ging, das sich im übertragenen Sinn vom Gefängnis einer patriarchalischen Männergruppe befreien muss.18 Erst in der späteren Phase des deutsch-türkischen Kinos geht es in den Filmen auch um die Darstellung und das Verständnis von Männlichkeit, was vor allem in Lola und Bilidikid unter den Aspekten der Homosexualität und des sadomasochistischen Verhaltens zum Ausdruck kommt.19 Die Ausnahme in der ersten Phase der siebziger Jahre bildet Fassbinders Angst essen Seele auf (1974), da in diesem Film das männliche Subjekt als erotisches und exotisches Objekt der Begierde eine zentrale Stellung einnimmt,20 ein Thema, das bei der Analyse von Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid von Belang sein wird. In den aktuellen Filmen zeigt sich weiterhin eine Änderung bei der Repräsentation der ersten Generation von Gastarbeitern, die vor allem berücksichtigt, dass diese Generation älter wird, und gleichzeitig daran erinnert, dass die neuen Generationen nicht im Kontext ihrer Eltern gedacht werden sollten. War der Gemüsehändler bisher die Lieblings-

18 Damit befasst sich u.a. Göktürk. Vgl. Göktürk, Deniz: Turkish Women on German Streets. Closure and Exposure in Transnational Cinema, in: Konstantarakos, Myrto (Hg.): Spaces in European Cinema, Exeter: Intellect 2000, S. 64-76. 19 Mit den Themen Gender, Sexualität und Fragen über die Männlichkeit der Protagonisten in den Filmen von Thomas Arslan und Fatih Akin befassen sich Leal und Rossade in ihrem Aufsatz. Vgl. Leal, Joanne/Rossade, Klaus-Dieter: Negotiating Gender, Sexuality and Ethnicity in Fatih Akın’s and Thomas Arslan’s Urban Spaces, in: GFL. German as a foreign language 3 (2008), S. 59-87. Hier aus: www.gfl-journal.de/3-2008/lealrossade.pdf. Beispiele für Filme, in denen es überwiegend um das Thema Männlichkeit geht, sind Fatih Akins Kurz und Schmerzlos, Yüksel Yavuz’ Aprilkinder und Lars Beckers Kanak Attack (2000). 20 Deniz Göktürk: Beyond Paternalism, S. 249.

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figur vieler Regisseure und stand als Prototyp für den ›fremden‹ Gastarbeiter, so fallen die Eltern der weiblichen Hauptfigur Sibel in Gegen die Wand mehr in die bürgerliche Schicht, während in Auf der anderen Seite die Figur des Rentners Ali Aksu als Vertreter der ersten Generation auftritt. Die meisten genannten Filme fallen unter die Gattung Autorenfilm, die im deutsch-türkischen Kontext eine besonders beliebte Stilrichtung ist. Sie lässt den Regisseuren Raum, Elemente des Films, wie z.B. das Drehbuch oder den Schnitt, mitzubestimmen oder selber als Schauspieler vor die Kamera zu treten. Spätestens seit der Nouvelle Vague in den fünfziger Jahren ist die Frage nach dem Autor im Film eine sehr umstrittene. Ausschlaggebend für die Diskussion war François Truffauts Artikel Une certaine tendance du cinèma français.21 Der Artikel galt als Manifest für eine neue Orientierung vor allem im französischen Kino der Nachkriegszeit. In diesem Artikel wendet sich Truffaut in erster Linie gegen die »tradition de qualité« im französischen Kino, die sich mehr an literarischen Vorlagen orientiert, anstatt den cineastischen Raum des kreativen Filmemachens zu nutzen. Truffaut plädiert deswegen für eine größere Rolle der Regisseure beim Verfassen des Drehbuchs, das, so Truffaut, mehr von den Filmemachern als von den Literaten gestaltet und geprägt werden soll. Auf diese Weise soll dem Regisseur eine Autorenrolle (von daher die Bezeichnung als Auteur) eingeräumt werden. Für Truffaut soll ein Film seinem Erschaffer ähneln, was allerdings nicht bedeutet, dass der Film autobiographische Angaben darzubieten hat, sondern er soll vor allem den Stil seines Autors markieren.22 Da es in den deutsch-türkischen Filmen überwiegend um das Thema Migration geht, kann es als Widerspiegelung der eigenen Erfahrung betrachtet werden, wenn der Filmemacher verschiedene Rollen übernimmt.23 Die ›Selbst-Einfügung‹ in den Film als Schauspieler o.ä.

21 Erschienen 1954 im Cahiers du cinèma Nr. 31. Vgl. Truffaut, François: Une certaine tendance du cinèma français, in: Cahiers du cinèma 31 (1954), S. 15-29. 22 Vertreten wurde die Haltung außer von der Nouvelle Vague auch vom Neuen deutschen Kino und dem Italienischen Neo-Realismus. 23 Als weitere Begründung nennt Naficy in Bezug auf das transnationale Kino den Fall der unabhängigen Filmemacher. Aus ökonomischen Gründen bevorzugen sie die Übernahme verschiedener Rollen im Film, wo-

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darf trotzdem nicht mit dem Anspruch auf das Dokumentieren deutsch-türkischer Lebensgeschichten verwechselt werden. Nach Truffaut ähnelt der Autorenfilm seinem Schöpfer nicht etwa durch die Wiedergabe autobiographischer Elemente, sondern durch das Einfließen des persönlichen Stils des Filmemachers in die verschiedenen Elemente der Mise-en-scène. Die Übernahme verschiedener Rollen durch die Regisseure ist deswegen als Zeichen der Subjektivität und nicht par force der Darstellung individueller Biografien zu betrachten. Der Autorenfilm wird vor allem als cineastische Ausdrucksform künstlerischer Subjektivität aufgefasst,24 die Mise-en-scène als Mittel oder als Teil des Selbstausdrucks versteht.

6.2 V ON H ELDEN , N ARREN UND G EÄCHTETEN : HUSSI K UTLUÇANS F ILMKOMÖDIE I CH C HEF , DU T URNSCHUH (1998) In Sebastian Brants spätmittelalterlicher Moralsatire Das Narrenschiff von 1494 wird das Schiff zum Ort der Darstellung verschiedener Torheiten. Mehr als 100 Narren werden auf einem Schiff vereint, mit dem sie Richtung Narragonia fahren. Brant macht den Narren zum repräsentativen Symbol des menschlichen Fehlverhaltens, etwa der Habgier

durch sie Kosten sparen können. Vgl. Naficy, Hamid: Phobic Spaces and Liminal Panics. Independent Transnational Film Genre, in: Wilson, Rob (Hg.): Global – Local, Durham: Duke Univ. Press 1996, S. 119-144, hier S. 125f. Naficy nennt außerdem Beispiele für transnationale iranische und türkische Regisseure, die auf der einen Seite aufgrund des politischen Inhalts ihrer Filme keine Förderung vom Herkunftsland bekommen. Auf der anderen Seite finden ihre Filminhalte oft keine Resonanz auf dem Markt des ›Gastlands‹: »It is homelessness and unbelonging and the filmmakers’ split subjectivity and multiple involvements in every aspect of production that turns them from ›auteur directors‹ (implying benefiting from mainstream institutions of cinema) to ›filmmaking authors‹ (implying individual efforts and involvement at all levels of production and distribution)«. Vgl. ebd., S. 128. 24 Barg, Werner: Erzählkino und Autorenfilm. Zur Theorie und Praxis filmischen Erzählens bei Alexander Kluge und Edgar Reitz, München: Fink 1996, S. 13.

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oder des Ehebruchs. Die Geschehnisse auf dem Schiff sind bei Brant eine Widerspiegelung des damaligen Zeitgeists. So warnt er u.a. vor der Gefahr durch die Türken nach der Belagerung von Byzanz 1453.25 In Wahnsinn und Gesellschaft deutet Foucault das Narrenschiff als Irrenanstalt: »Möglicherweise sind diese Narrenschiffe, die die Vorstellungen der Menschen während der ganzen Frührenaissance bewegt haben […] stark symbolische Schiffe mit Geisteskranken auf der Suche nach ihrer Vernunft.«26 In beiden Fällen bildet das Schiff einen Ort der Internierung, eine soziale bzw. kulturelle Quarantäne, in der Träger von Differenz von der Gesellschaft ausgesondert bleiben. Hussi Kutluçans Film Ich Chef, Du Turnschuh von 1998 ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Ein am Hafen in Hamburg liegendes Schiff wurde in ein Asylantenheim verwandelt. Die chaotischen Ereignisse zwischen den versammelten Menschen auf dem Schiff, der Mangel an sprachlicher Verständigung, das Scheitern der Kommunikation, das Sich (Ver-)Irren bzw. die Irrfahrt werden im Film zu wesentlichen Elementen einer Erzählung über Deplatzierung, Ausgrenzung und Migration. In Ich Chef, Du Turnschuh bildet die Inkongruenz zwischen Filmgenre und Filminhalt das Fundament der Komik. Die humoristische Herangehensweise und die Geschichte über Asyl und Asylbewerber lassen sich auf den ersten Blick nicht vereinbaren. Die Auflösung der inneren Ordnung manifestiert sich in der äußeren Form des Komischen. Kutluçan distanziert sich durch die Gattung der Komödie von der favorisierten Opferhaltung der ersten Phase des Gastarbeiterkinos, in der das Melodrama das bevorzugte Genre für die Asylproblematik war.27 Die umcodierte Semantik des Raums, Physiognomie, Rollen-

25 Brant, Sebastian: Das Narrenschiff, hg. v. Knape, Joachim, Stuttgart: Reclam 1980. 26 Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 27. 27 Ein Beispiel ist Kadir Sözens Winterblume von 1997. Obwohl der Film ungefähr zur gleichen Zeit wie Kutluçans Ich Chef, Du Turnschuh gedreht wurde, steht Winterblume in der Tradition der Betroffenheit der ersten Generation. Der Film erzählt die Geschichte der Abschiebung eines in Deutschland lebenden Türken und seiner Trennung von seiner Frau und seinem Sohn. In der Türkei angekommen beginnt für ihn die Geschichte des Kampfs für die Rückkehr zu seiner Familie, der ihn über mehrere Sta-

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spiel, inszenierte Naivität, Sprachgebrauch und Sprachverlust sind einige Grundzüge der prekären Komik. Während der Karneval bei Michail Bachtin, Umberto Eco und Florens Christian Rang in erster Linie über seine zeitliche Begrenztheit bzw. als Ausnahmezeit definiert wird,28 wird das Karnevaleske in Kutluçans Film zur Norm erhoben. Das Konzept des Karnevals selbst wird ausgedehnt, denn es ist nicht lediglich eine Zeit außerhalb der Zeit, sondern ein dauerhafter Zustand verkehrter Ordnung. Die Groteske des Filminhalts, eine Geschichte über Asylbewerber, sprengt den Leitsatz des Karnevals und lässt sich nicht rückgängig machen. Man kann im Film von der irreversiblen Gefangenschaft in karnevalesken Verhältnissen sprechen. Aufgrund des übermäßig Grotesken gerät das transgressive Verhalten in Ich Chef, Du Turnschuh außer Kontrolle und führt zu einer Ausnahme (der Ausnahme). Für die Analyse von Kutluçans Filmkomödie wird im Folgenden die Bezeichnung »anarchistische Filmkomödie« (und nicht »anarchische«!) vom US-amerikanischen Medienwissenschaftler Henry Jenkins übernommen. Jenkins bezieht sich mit diesem Begriff auf die Filme von den Marx Brothers und meint damit: »a sense of the process in the texts, a movement from order to disorder«.29 Der Begriff fasst demnach die Anarchie im Film nicht als vorgegeben auf, sondern markiert den Wandel bzw. einen Prozess im Laufe der Handlung. Jenkins Bezeichnung stellt außerdem vor allem die Rolle der Clowns in den Vordergrund: »[…] anarchistic comedy foregrounds the active and central role of the clowns as bringers of anarchy.«30 Die Wurzeln der anarchistischen Komödie sind im Vaudeville zu suchen und sind, so Jenkins, aus dem Versuch des klassischen Hollywood-Kinos entstanden, sich ästhetische Formen des Vaudevilles anzueignen. Während das Hollywood-Kino das Erzählen (das Storytelling) betont, steht beim Vaudeville die Performance, die Showmanship, im Vordergrund:

tionen (Ungarn, Österreich) führt. Das offene Filmende lässt die Frage, ob er die Reise überlebt hat oder an der deutschen Grenze gestorben ist, unbeantwortet. 28 Vgl. Kapitel 3. 29 Jenkins, Henry: What made Pistachio Nuts? Early Sound Somedy and the Vaudeville Asthetic, New York: Columbia Univ. Press 1992, S. 22. 30 Ebd., S. 22f.

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»Anarchistic-comedy films are characterized by subordination of visual and aural style, narrative structure and character development to foreground comic performance; they are marked by general questioning of social norms. They celebrate the collapse of social order and the liberation of the creativity and impulsiveness of their protagonist.«31

Kutluçans Ich Chef, Du Turnschuh gehört ebenfalls zu diesem Subgenre.32 Die Hauptfigur Dudie ist als Schelm oder Picaro zur Aufdeckung gesellschaftlicher Widersprüche konzipiert. Auf der Suche nach einer Heimat wechselt der Protagonist in fintenreichen Aktionen zwischen Harlekin, sozialem Parasit, Trickster, manipuliert seine Umgebung und wird zum Schluss selber düpiert. So steht im Unterschied zu Özdamars Theaterstück nicht die narrative Diskontinuität aus disparaten Elementen im Vordergrund, sondern die Figurenshow selber. Im Laufe der Filmhandlung schließen sich zudem mehrere Figuren Dudies gaunerhaftem Verhalten an. Vor allem im Fall der Asylanten, zu denen Dudie gehört, zeigt sich die Unordnung des Geschehens in Form einer ethnischen ›Performance‹, in der die Hauptfigur Dudie zum Harlekin bzw. zu einem Jongleur zwischen den Ethnizitäten wird. Paradigmen kultureller Komik tragen darüber hinaus zur Konstruktion der »anarchistischen Komödie« bei, die von der Groteske missglückter Situationen lebt. Das Karnevaleske wird im Film vor allem von der Hauptfigur verkörpert, deren »verkehrtes Verhalten« für die Verhandlung ihres Zustands der Gefangenschaft zwischen Inklusion und Exklusion in und von der Gesellschaft steht. Wie sich in der Analyse zeigen wird, fangen Dudies Täuschungsmanöver an, als er den Ort seiner gesellschaftlichen Exklusion, das Asylantenheim auf dem Schiff, verlässt. Seine Überlebensstrategie besteht ab diesem Moment in der Annahme der genannten Rollen. Vor diesem Hintergrund betrachtet, geht es im Folgenden in erster Linie um Fragen der Figuralisierung. An verschiedenen Stellen wird in der Analyse des Weiteren auf das Handeln sowie die Physiognomie anderer Nebenfiguren eingegangen, um die Anarchie sowie die Komik bestimmter Szenen auszuführen. Die Aktivierung des Komischen läuft im Film auf mehreren Ebenen, die oft kulturell bedingt und/oder co-

31 Ebd., S. 22. 32 Vgl. Deniz Göktürk: Strangers in Disguise.

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diert sind. Eine wesentliche Komponente des Grotesken bildet der dokumentarische Stil vor allem des ersten Filmteils, der ein ›ersticktes Lachen‹ über die Lebensverhältnisse der Ausländer auslöst, vor allem durch die Erhebung der Ausnahme zur Norm. Anhand der Analyse der Raumdarstellungen werden die sozialen Verhältnisse beschrieben, auf die die Hauptfigur mit ihrem gaunerhaften Verhalten reagiert. Wie sieht nun der anarchistische Raum aus und welcher Finten bedienen sich die Figuren, um ihre Aufnahme in die Gesellschaft zu erlangen? In Kutluçans Film geht es nicht um die dichotome Darstellung deutsch-türkischer Verhältnisse, sondern um die deutsch-türkischarmenische Triadebeziehung. Bei diesem ›dritten‹ Element handelt es sich um Brüche und Diskontinuität von Geschichte, wie in Kapitel 6.2.2 über den Ethnic Drag gezeigt wird. 6.2.1 Paradigmen einer »anarchistischen Filmkomödie« Kutluçans Ich Chef, Du Turnschuh wurde von Das Kleine Fernsehspiel produziert und gewann im Jahre 2000 den Adolf-Grimme-Preis.33 Für Ich Chef, Du Turnschuh schrieb der in der Türkei geborene und in Deutschland aufgewachsene Regisseur das Drehbuch und spielt selber vor der Kamera nicht die Rolle eines türkischen, sondern eines armenischen Asylbewerbers namens Dudie. Während die Handlung in Kutluçans erstem Film Sommer in Mezra (1991) die Hauptfigur in die Türkei zurückführt, spielt die erste Szene der »Überlebenskomödie«34 Ich Chef, Du Turnschuh in einem Bus und es wird, wie auch schon im Filmvorspann, die Ankunft einer indischen Asylbewerbergruppe in Hamburg angekündigt. Eine Parallelmontage zeigt, wie eine türkische Migrantengruppe den Platz vor dem im Hafen liegenden Schiff für die neu Angekommenen frei macht. Gleich in der ersten Szene, in der Dudie im Film zu sehen ist, werden Heimatlosigkeit und das Recht auf Landbesitz und Territorium verhandelt. »Nicht abschieben!«, ist der erste Satz, den er in die Kamera spricht. Das Schiff wird zum Schauplatz kultureller Turbulenz: Cholerische Reaktionen der deutschen Beamten, die die Ausländer bewachen, Auseinandersetzungen zwischen den Asylanten, die zudem in verschiedenen Sprachen und Dia-

33 Das kleine Fernsehspiel fördert junge talentierte Film- und Filmemacher, u.a. Regisseure, Schauspieler und Produzenten. 34 Deniz Göktürk: Strangers in Disguise, S. 200.

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lekten geführt werden, sowie Intrigen und der Kampf um einige wenige Quadratmeter zum Wohnen kennzeichnen den ersten Filmteil, worauf noch näher eingegangen wird. Für Dudie wird die dauerhafte Gefangenschaft an einem Ort zwischen Innen und Außen unerträglich. Als seine Freundin ihn verlässt und eine Scheinehe mit einem deutschen Mann eingeht, um ihre Abschiebung zu verhindern, sieht er auf dem Schiff keinen Platz mehr für sich, zumal er ebenso auf seine Abschiebung wartet. Er flieht nach Berlin und findet in einer Wohnung zusammen mit einem Ghanaer, einem Afghanen und einem Iraner ein zweites Zuhause. Die drei ausländischen Mitbewohner beschaffen ihm eine illegale Arbeit auf der Baustelle am Potsdamer Platz, wo sie selber tätig sind. Aus Angst vor seiner Abschiebung will Dudie eine deutsche Frau heiraten, lernt Nina kennen und verliebt sich in sie. In einer Eifersuchtsszene wird sie jedoch von ihrem Ex-Mann Hermann erstochen, der gleichzeitig Dudies Vorgesetzter auf der Baustelle ist. Als die illegalen Arbeiter entlassen werden, weil sie sich aufgrund der verzögerten Auszahlung ihres Gehalts beschweren, ist Dudie arbeitslos. Da er seine Miete nicht zahlen kann, wird er zudem obdachlos. Nach Ninas Tod bleibt ihrem Sohn Leo nur Dudie als Ersatzfamilie übrig. Zusammen müssen sich Dudie und Leo in den Straßen von Berlin durchschlagen und eine Unterkunft finden. Dudies Obdachlosigkeit und Delinquenz machen ihn zum Zigeuner, der trotz seiner dauerhaften Wanderschaft familiäre Bindungen annimmt und auf diese Weise auf der Suche nach einem Vaterland selber zum Vater wird. Um eine Unterkunft zu finden, fälscht Dudie ein Schreiben vom Bezirksamt Kreuzberg und legt es der siebzigjährigen, alleinstehenden Frau Dutschke vor. Im gefälschten Brief wird die bejahrte Frau aufgrund des Wohnungsmangels in Berlin aufgefordert, Dudie und seinen Sohn bei sich zu Hause aufzunehmen, sonst würde sie ins Altersheim gebracht. Was als fremde Begegnung anfängt, verwandelt sich im Laufe des Films zu einer familiären Annäherung über drei Generationen hinweg. Als die Nachbarin jedoch die Polizei über die Anwesenheit von illegalen Ausländern bei Frau Dutschke benachrichtigt, werden Dudie und sein Sohn verhaftet. In der letzten Szene gibt der Film eine Antwort auf Dudies Protest gegen seine Abschiebung zu Beginn der Handlung. Die Odyssee endet am Flughafen, wo zwei deutsche Polizisten Dudie nach einem positiven Entscheid über seine Abschiebung zusammen mit dem ›adoptierten Sohn‹, der vor der Polizei auf

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seiner Verwandtschaft mit Dudie insistiert, in ein Flugzeug Richtung Armenien setzen. In der letzten Szene wird eine Entscheidung für die permanente Ausgrenzung des Außenseiters getroffen, d.h. für seine Tilgung anstatt Aufnahme in die herrschende soziale Ordnung. Dudie ist im Laufe der Handlung ein Trickster, der zunächst Polizisten, Asylanten, Behörden sowie Einheimische überlistet, zum Schluss jedoch selber düpiert wird. In der letzten Szene wird die Verweigerung der Annahme des Fremden bzw. der Wunsch nach orthodoxen Demarkationslinien formuliert. Raumsemantik und Raumparadoxien Die narrative Darstellung des Zugangs zur deutschen Gesellschaft hängt mit der Auswahl der Schauplätze und ihrer filmischen Darstellung zusammen. So bilden beispielsweise der Bus und das Schiff in der ersten Filmhälfte einen Grenzraum zwischen der herrschenden sozialen Ordnung der Außenwelt (dem Makrokosmos) und dem Chaos der inneren Räume (dem Mikrokosmos).35 Der Bus, ein geschlossener, mobiler Raum, steht für das transformatorische Moment, das mit Grenzüberschreitung und Ortswechsel verbunden ist. Mehr als die Ankunft an einem bestimmten Ort hebt die Szene den Prozess des Übersetzens hervor und macht die Reise und den Weg zum Identitätsprinzip. Ausschließlich mit indischen Asylanten besetzt, ist der Bus weiterhin ein ethnisch codierter Raum der Homogenität und der sozialen Isoliertheit. Bereits Walter Benjamin und Florens Christian Rang verweisen auf die Ableitung des Worts »Karneval« aus dem Lateinischen »carrus navalis« oder »car naval« und beziehen sich auf den Schiffwagen im Karnevalszug.36 Beladen mit Koffern, Gepäck und Menschen, bewegt sich der Bus zu Beginn des Films als kultureller Korso durch die Straßen in Hamburg, um die

35 Das Schiff oder die Fähre sind in der griechischen Mythologie die Transportmittel, mit denen der Fährmann Charos die Toten in den Hades führt. Es markiert also den Weg in den Bereich der Toten bzw. an einen Ort des Unheimlichen oder Unbekannten. 36 Vgl. Florens Christian Rang: Historische Psychologie des Karnevals, S. 14 und Benjamin, Walter: Gespräch über dem Corso. Nachklänge vom Nizzaer Karneval, hg. v. Rexroth, Tillmann: IV. Kleine Prosa. BaudelaireÜbertragungen 2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1972, S. 763-771, hier S. 767.

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indischen Asylbewerber ironischerweise vom Bus zum Schiff, d.h. von einem Transportmittel zum nächsten zu fahren.37 Der Bus wird demnach zum klaustrophobischen Ort, ein Topos, den Hamid Naficy in seinem Buch Accented Cinema als Merkmal des transnationalen Kinos versteht. In Bezug auf Transportmittel in Filmen transnationaler Filmemacher spricht Naficy des Weiteren von einer dialektischen Beziehung zwischen dem einengenden Raum des Transportmittels (in diesem Fall dem Bus) und »the outside open space of nature and nation«.38 Durch die Überfüllung ist der Bus statt eine Transportmöglichkeit vielmehr ein Ort der Inhaftierung. Als die begleitenden Polizisten mitgeteilt bekommen, sie müssen die Ankunft der Asylbewerber am Hafen verzögern, da das Schiff noch für die neu Angekommenen vorbereitet wird, zeigt sich der einengende Raum als Ort des sozialen Eingesperrtseins. Die Schifffahrt, im Allgemeinen ein Topos der navigatio vitae bzw. der Lebensreise, ist außerdem eines der ältesten Filmmotive für Geschichten über Migration. Schon Charles Chaplins The Immigrant von 1917 spielt auf einem Schiff auf dem Weg von Europa nach New York. In diesem Fall ist das Schiff ein Raum vorübergehender Anwesenheit. Steht dieses Transportmittel z.B. in Chaplins Film für einen Zustand der Schwelle zwischen zwei geographischen Orten, wo die Ankunft noch bevorsteht, so verwandelt es sich in Kutluçans Film in ein ›Festland‹, auf dem die Anwesenden in der Phase des Übergangs verharren. Mit der Paradoxie des stehenden Transportmittels werden die darin weilenden Asylanten an einem Ort der Begegnung und gleichzeitig des Abschieds angesiedelt. Aufgrund der Unentschlossenheit über ihre Zugehörigkeit oder Exklusion wird ihnen ein Zuhause an einem Ort errichtet, bei dem offen ist, ob der Anker ausgeworfen bleibt. In diesem Sinn hat das Schiff in Ich Chef, du Turnschuh die gleiche Funktion als Ort der Schwelle wie die »Deutschland-Tür« in Özdamars Karagöz. Die Ambivalenz des Aufenthaltsorts selbst spiegelt den Zustand der unsteten Anwesenheit der ›fremden‹ Schiffbewohner wider. Ähnlich ist die Situation der darin weilenden Asylbewerber, die auf eine mögliche Abschiebung warten und im dauerhaften

37 Die Fahrt wird auf dem Busschild im Film als »Sonderfahrt« markiert. 38 Naficy, Hamid: An Accented Cinema. Exilic and Diasporic Filmmaking, Princeton: Princeton Univ. Press 2001, S. 257. Mit »Accented Cinema« meint Naficy Filme von Migranten, Exilanten und Asylanten.

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Status als Passagiere gefangen sind. Auf diese Weise werden sie an einem Ort zwischen Innen und Außen situiert. In ihrem Aufsatz Strangers in Disguise weist Göktürk auf die Unentschiedenheit zwischen Inklusion und Exklusion hin, die die Schiffbewohner in einem liminalen Zustand festhält: »Significantly, the scene takes place on the border, negotiating between entering inside or remaining outside the nation. Through the act of impersonation, the performers transgress this liminal space.«39 Das Transitorische, das sich in eine Permanenz verwandelt hat, leitet die inverse Ordnung in den Innenräumen ein. Das Schiff, bei Foucault der heterotopische Ort schlechthin, bringt »an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind«.40 Das Schiff gewinnt gleich in den Szenen nach der Ankunft die Bedeutung als Ort sozialer und kultureller Diskordanz. Intrigen, vulgäre Beschimpfungen und aufbrausende Reaktionen – so lauten die grundsätzlichen Regeln der verkehrten Welt. So verkleidet sich vor dem Schiff ein türkischer Migrant als Inder, um unter den neu angekommenen indischen Asylanten nicht aufzufallen und auf dem Schiff bleiben zu dürfen. Im Speisesaal streiten sich ein Hindu und ein Moslem und fangen an, sich gegenseitig mit Tellern zu bewerfen. Vor dem Schiff haben Asylantinnen einen kleinen Marktplatz aufgebaut und werben in ihrem Kauderwelsch für ihre Produkte. Die Überwachung der Fremden in den ersten Szenen von Ich Chef, Du Turnschuh und die herrschende Unordnung verwandeln das Schiff nicht in einen Ort der Ankunft, sondern in einen Ort des sozialen und kulturellen Wahns. Das Substituieren der türkischen mit indischen Asylanten entstammt dem bekannten biblischen Topos der Arche Noah. Das Favorisieren einer Gruppe für die Mitfahrt (in diesem Fall für den Aufenthalt auf dem Schiff) und das damit verbundene Zurücklassen einer anderen Gruppe verbindet viele Geschichten über Flucht, Migration und die

39 Göktürks oben genannte Aussage bezieht sich auf die Analyse von Norman Z. McLeods Film Monkey Business von 1931, der eine situative Ähnlichkeit mit Ich Chef, Du Turnschuh aufweist, an den Göktürk ebenfalls in ihrer Analyse anknüpft. Deniz Göktürk: Strangers in Disguise, S. 196. 40 Foucault, Michel: Die Heterotopien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2005, S. 14.

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Suche nach einem Obdach.41 Die Sicherheit und Errettung von Lebewesen auf der ›Arche Noah‹ – von der Animalisierung der Asylanten wird nochmals die Rede sein – endet in Ich Chef, Du Turnschuh ironischerweise in Form der Exklusion in miserablen Verhältnissen. Die ›Auserwählten‹, die auf dem Schiff sein dürfen, verweisen darüber hinaus auf die Gruppe, der der Zugang zur Schwelle, zum Ort des Übergangs verwehrt geblieben ist. Oft beschreibt dieser Topos eine Eskalation des dramatischen Verlaufs in den Filmen, da unter den Überlebenden nochmals selektiert wird. Nur eine kleine Gruppe überlebt die komplette Exklusion und weilt stattdessen an einem Ort des Dazwischen, was auch die Ironie des Kampfs um das Überleben in dieser Sequenz kennzeichnet. Die inneren Räume auf dem Schiff werden des Weiteren als Orte der Indiskretion dargestellt, in denen die räumliche Beschränktheit beispielsweise dem intimen Körperkontakt im Weg steht. Der geschlossene Raum, der in der Regel durch seine Abgrenzung von anderen Räumen für die häusliche Diskretion gut geeignet ist, wird beispielsweise in einer Szene auf dem Schiff als das Gegenteil codiert und stellt gerade aufgrund der räumlichen Enge und seines Geschlossenseins ein Problem für den Geschlechtsakt zwischen Dudie und seiner Freundin dar. Als Dudie und seine Freundin ihr Zimmer mit den neu angekommenen Asylbewerbern teilen müssen, sehen sie sich in ihrem vertrauten Umgang miteinander gestört. Im überfüllten Raum wird der erwünschte Liebesakt zwischen dem Paar zu einem Fauxpas. Zum Schluss schafft sich das Paar in einer komischen Szene, in der sie erst verschiedene Positionen ausprobieren müssen, auf wenigen Quadratmetern eine Möglichkeit für den Liebesakt. In der Szene wird eine ironische Anpassung an die neuen Verhältnisse sowie das Teilen des Privaten im Öffentlichen propagiert. Die mehrfache Inversion von herrschenden Normen und Codes leitet das Groteske der Handlung ein, das sich in dieser Szene paradigmatisch aus der Indiskretheit des Diskreten ergibt.

41 Im deutsch-türkischen Kino kommt dieser Topos z.B. in Kadir Sözens Winterblume vor, wo das Recht auf die Mitfahrt mehrmals im Laufe des Films verhandelt wird. Je näher die Passagiere ihrem Ziel kommen (dargestellt wird eine Busfahrt von der Türkei nach Deutschland), desto weniger werden sie.

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Die meisten dargestellten Räume im Film sind Orte kultureller Diversität, wo Angehörige verschiedener Ethnizitäten entweder freiwillig oder gezwungenermaßen unter einem Dach vereint werden. Die Ausländerwohngemeinschaft in Berlin ist in dieser Hinsicht keine Ausnahme, wobei die filmische Darstellung ab dem Ortswechsel stark variiert: der Aufruhr auf dem Schiff verebbt, die Zahl der fremden Gesichter wird überschaubar. Trotz der miserablen Lebensverhältnisse ist die Wohnung auf den ersten Blick ein ›utopisches‹, von der Außenwelt getrenntes Konstrukt. Die Tatsache, dass die ausländischen Mitbewohner Dudie gleich zu Beginn ihrer Begegnung einladen, bei ihnen einzuziehen, wirkt beinahe erzwungen, konstruiert aber eine ›ausländische‹ Gemeinschaft, die in der ›Fremde‹ von einer gegenseitigen Solidarität lebt.42 Die Inklusion des Fremden bzw. des Neuangekommenen ist in Ich Chef, Du Turnschuh allerdings nicht die Regel. Auf der Baustelle äußern die bereits anwesenden türkischen Arbeiter ihren Wunsch nach Ausschließung des Neuankömmlings. Mit dem Spruch »Ausländer raus!« werden die Asylbewerber und vor allem Dudie von ihnen empfangen. Dudies Anwesenheit auf der Baustelle ist von der bereits bestehenden Gruppe der ausländischen Mitarbeiter unerwünscht. Die Aufnahme des kulturell Anderen wird von ihnen als bedrohlich empfunden, obwohl diese Gemeinschaft sich erst durch die Anwesenheit und Ausschließung eines Anderen als solche konstituiert und wahrnimmt. Als neu Dazugekommener muss Dudie seine Exklusion überleben. Die Entscheidung über die Zugehörigkeit oder Ausschließung eines Neuankömmlings impliziert in diesem Fall die Hierarchisierung unter »Fremden«, die in dieser Szene ›intern‹ durch den Ausdruck der

42 Das Motiv kommt in Akins Kurz und schmerzlos (1998) vor. Was als Geschichte einer Freundschaft zwischen Migranten (in Kutluçans Film sind es Asylanten) beginnt, wird im Moment, in dem ein Gruppenmitglied sich in einen Eindringling verwandelt, destruiert. Wie in Akins Film Bobby der Serbe, so erweist sich der iranische Mitbewohner Saddam in Ich Chef, Du Turnschuh als Verkörperung des Bösen bzw. des intriganten, listigen, geldgierigen Orientalen und bildet im Ausländerkreis einen Antagonisten zu Dudie. Durch die Anwesenheit der Figur des Störenfrieds wird die Gemeinschaft zerstört und der Wohnort ›entutopisiert‹.

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Deplatzierung und Ausstoßung der neuen Person geregelt werden soll.43 Der Ortswechsel von Hamburg nach Berlin steht außerdem für die Immigration ins Zentrum der grundsätzlichen Veränderungen Ende der neunziger Jahre bzw. in den Ort des sozialen und kulturellen Wandels nach der Wiedervereinigung. Dies kann im Film allerdings nur auf illegitime Weise funktionieren, da dem ›Fremden‹ der legale Eingang in die deutsche Gesellschaft verwehrt geblieben ist. Die Arbeit auf der Baustelle am Potsdamer Platz, die den Regierungsumzug nach Berlin vorbereitet, reflektiert die Stimmung der Zeit nach der Wiedervereinigung und bezieht die Migranten und Asylanten durch den Bauprozess in die damaligen Umwälzungen ein. Ihre Anwesenheit im neuen Mittelpunkt der Geschehnisse Berlins ist eine Durchbrechung der herrschenden Politik der Einteilung in Zentrum und Peripherie44 und erinnert daran, dass Migranten an den grundsätzlichen Veränderungen der damaligen Zeit beteiligt waren: Die Peripherie ist für das Zentrum konstitutiv, was durch die Baustelle als Schauplatz symbolisiert wird. Die ausländischen Arbeiter bleiben allerdings auf der Baustelle im Schatten hinter den Kulissen des Wandels während der neunziger Jahre. Die Baustelle bildet eine soziale und kulturelle Quarantäne, eine Verwüstung, die den Wandel und den Entstehungsprozess ankündigt. Sie versteht sich als Ort der Schwelle bzw. eines liminalen Zustandes, in diesem Fall von allgemeinen soziopolitischen Umwälzungen. Die Auflösung der Ordnung – die Baustelle wird in einen Grillplatz sowie in einen Gebetsort verwandelt, wovon noch die Rede sein wird – wirft in vielen Situationen einen ironisierenden Blick auf die Phase des Umbruchs nach dem Mauerfall. Ähnlich wie die Bi- bzw. Multilingualität in Özdamars Theaterstück finden sich auf der Baustelle Zeichen des Fremden, der sein eigenes Kulturgut und seine religiösen Praktiken mitgebracht hat: So hat dort beispielsweise ein muslimischer Gastarbeiter einen Gebetsort geschaffen. Während eine Halbtotale die sich scherzhaft streitenden

43 Vgl. Deniz Göktürk: Strangers in Disguise, S. 202. 44 Vgl. Mennel, Barbara: Shifting Margins and Contested Centers. Changing Cinematic Visions of (West)Berlin, in: Costabile-Heming, Carol Anne (Hg.): Berlin – The Symphony Continues. Orchestrating Architectural, Social and Artistic Change in Germany’s New Capital, Berlin: de Gruyter 2004, S. 41-58, hier S. 48.

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Arbeiter zeigt, schwenkt die Kamera auf den sich vom Gebetsteppich erhebenden Betenden, der Suren aus dem Koran rezitiert. Diese Szene verweist mithin auf die Präsenz des Islams in der deutschen bzw. europäischen Gegenwart, wobei der Film hier einen ironischen Akzent setzt: Auf der anderen Seite des Platzes ist der deutsche Chef beim Urinieren zu sehen, wodurch der muslimische Mann kurz von seinem Gebet abgelenkt wird, es jedoch gleich ungestört fortsetzt. Die Baustelle hat sich in einen Ort der nationalen und religiösen Anarchie verwandelt und ist weniger als ein Arbeitsort, sondern als Nicht-Ort sozialer und religiöser Aktivitäten zu verstehen. In dieser Szene funktioniert die Technik der Ironisierung durch das Nebeneinander von Heiligem, Alltäglichem oder Profanem und Skatologischem. In einer weiteren Szene nutzt Dudie die herrschende Verunsicherung bezüglich fremder Religionen: Als der Vermieter die ausländischen Mitbewohner mit einem Besuch überrascht und die überfällige Monatsmiete verlangt, versteckt sich Dudie im Kleiderschrank. Während der Vermieter mit den Mitbewohnern streitet, verlässt Dudie den Kleiderschrank und rettet die Situation, indem er den Vermieter beschuldigt, er habe Dudie beim Beten gestört; in seiner Religion bete man im Dunkeln. Göktürk interpretiert die Szene als »ironic distance to the expectations about the director/actor’s own religious identity«.45 Dudie spielt mit der Unsicherheit über fremde religiöse Praktiken und schickt den inzwischen frappierten Vermieter mit einer geringen Anzahlung weg, um sein Gebet ungestört im Dunkeln fortführen zu können. Der Flughafen in der Abschlussszene ist der letzte signifikante (Nicht-)Ort, der an dieser Stelle zu erwähnen ist. Während die erste Szene eine Ankunft ankündigt, schließt die letzte den Film mit einem Abflug und der Abschiebung Dudies mit seinem vermeintlichen Sohn. Die Komik der letzten Szene besteht in der ungewollten Erweiterung von Dudies Familie: Die Ironie der Abschiebung liegt in der symbolischen Aussage, dass einem Deutschen, dem Sohn Leo, der Wohnsitz in seinem eigenen Land verwehrt wird. Diese Kritik an den politischen Bestimmungen formuliert der Film nicht melodramatisch, sondern komisch. Ein bis dahin Dazugehöriger wird ausgegrenzt. In der ›Abschiebung‹ aus dem eigenen Land erhofft er sich eine Möglichkeit auf die Fortsetzung der in Deutschland begonnenen familiären Beziehung.

45 Deniz Göktürk: Strangers in Disguise, S. 203.

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Als Ort kultureller Diversität, Anonymität und Heterogenität markiert der Flughafen die Grenze für geographische Ortsbestimmungen. In dieser Szene bildet er eine weitere – in diesem Fall nicht erzwungene – Möglichkeit kultureller Quarantänen: Wenn der Flughafen in der Regel als Ort der Exklusion und gleichzeitig auch der Inklusion verstanden werden kann, so wird er im Fall des Asylbewerbers Dudie lediglich zu einem Zeichen der Ausgrenzung und der NichtZugehörigkeit. Eine Totale zeigt Dudie und seinen ›Sohn‹ Hassan von zwei Polizisten umzingelt. Während die Kamera statisch bleibt, verschwinden alle Figuren aus der Cadrage, als ob sie den Filmraum verlassen und in das reale Weltgeschehen eintreten würden. Durch das Fehlen eines festen Bezugsorts und die Szenen im Freien (Schiff, Baustelle) erscheint Dudie als Flâneur, was dem Zustand der Nicht-Zugehörigkeit eines Asylanten zu einem bestimmten Land entspricht. Sein Schicksal bleibt einem dauerhaften Zustand der Entgrenzung verhaftet. Seine Heimat ist in einer Ortlosigkeit angesiedelt. Der Abflug in der letzten Szene wird als umrahmende Handlung für Migrationsgeschichten verstanden und weitet ihren Lebensraum aus, so dass er die Strecke zwischen zwei Ländern erfasst. Das Reisen wird zum Teil der Migration und hebt die (Nicht-)Bindung an bestimmte geographische Orte hervor.46 Sprachverlust und Sprachauslassungen: Über die Primitivität des Fremden An vielen Stellen wird im Film durch die Sprache, den Akzent und die sprachlichen Auslassungen eine Naivität inszeniert, die Missverhältnisse sarkastisch kommentiert, zur Situationskomik beiträgt oder aber auch den Ausweg aus einer schwierigen Situation unterstützt, wie z.B. beim ethnischen Rollenspiel. Die Verständigung der Asylanten auf dem Schiff ähnelt der babylonischen Sprachverwirrung. Oft sind die sprachlichen Umwälzungen und Sprachspiele nicht das Ergebnis sprachlicher Mängel, sondern einer bewusst eingesetzten Strategie der ironisierenden Nachahmung. Der Filmtitel bildet das erste Beispiel: Hier trägt die Herabsetzung durch die Verdinglichung des erwähnten 46 Die letzte Filmszene zitiert den Anfang und den Schluss von Şenocaks Erzählung Fliegen, die am Flughafen spielt und ihn zu einem Bezugsort für Geschichten über Migration macht. Vgl. Şenocak, Zafer: Fliegen, in: Ders.: Der Mann ohne Unterhemd, München: Babel 1995, S. 7-21.

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›Du‹ zur Komik bei. Der Parallelismus, der zwar syntaktisch übereinstimmt, jedoch semantisch Unterschiedliches miteinander in Beziehung setzt (Chef und Turnschuh bezeichnen Mensch und Gegenstand), suggeriert, dass der verdinglichte ›Andere‹ zur Selbstbestätigung benötigt wird. Für die (Selbst-)Definierung des Chefs bleibt der Gegenstand unentbehrlich, da er seine Machtstellung erst durch die Herabsetzung des Anderen erhält. Der Filmtitel zitiert den bekannten Spruch »Me Tarzan, you Jane« aus der berühmten Tarzanverfilmung mit Johnny J. Weissmueller.47 In der Szene, auf die das Zitat verweist, lernt Tarzan die ersten Wörter bzw. Laute, indem er Jane nachzuahmen versucht. In diesem Sinn verweist Kutluçans Filmtitel durch die Ellipse auf einen Urzustand primitiver Satzbildung, auf die sogenannte »adamitische Sprache«.48 Der Spracherwerb und die erste Benennung von Lebewesen und Gegenständen führen zum fragmentarischen Titel »Ich Chef, Du Turnschuh«. Die ›Verstummung‹ von Ausländern und der Prozess der ›Versprachlichung‹ werden in diesem Fall mit der Ankunft im fremden Land verbunden. Durch die Rückkehr in einen infantilen Zustand der Sprachlosigkeit bzw. des Spracherwerbs ähnelt die Migration einer sprachlichen (Wieder-)Geburt. Eine weitere sprachliche bzw. lautliche Dimension bilden die zahlreichen Nachahmungen von Tierlauten vor allem zu Beginn des Films kurz nach der Ankunft auf dem Asylantenschiff. Die Asylbewerber sehen keine andere Möglichkeit bzw. keine andere Sprache, in der sie miteinander kommunizieren können, versetzen sich in einen atavistischen Zustand und fangen an, die Laute von Schweinen, Kühen und Hühnern nachzuahmen, um sich beispielsweise während der Mahlzeiten nach den Zutaten zu erkundigen. Die Diskrepanz zwischen der Verstummung der menschlichen Stimme und der Nachahmung von

47 Aus dem Film Tarzan, The Ape Man (Regie: W.S. Van Dyke aus dem Jahre 1932). 48 So bezeichnet Walter Benjamin die paradiesische Ursprache von Adam und Eva, die mit dem Sündenfall und der babylonischen Sprachverwirrung verlorengeht. Vgl. Benjamin, Walter: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. II-1, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 140-157.

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Tierlauten verleiht den nachäffenden Subjekten einen clownesken Charakter. Die Tiervergleiche und insbesondere die Metapher des Affen kommen in postkolonialen Kontexten häufig vor.49 Die Darstellung von Ausländern als tierähnliche Wesen ist eine Verkörperung exotischer Phantasien vom Fremden, der gleichzeitig Bestialisches und Animalisches verkörpert. Der Fremde wird als Barbar oder Bewohner der Wildnis zum Zeichen des Unzivilisierten: Dadurch wird die imaginierte eigene Überlegenheit hervorgehoben und der Fremde in diesem Fall in eine zoologische Peripherie zurückgeführt. Gelesen auf der Folie von Homi Bhabhas Begriff der postkolonialen Mimikry wird der Andere zum Inbegriff eines janusköpfigen Verhältnisses zwischen Herrscher und Beherrschtem:50 Der Andere soll gleichzeitig die Furcht vor und das Verlangen nach ihm erfüllen.51 Die Animalisierung des

49 The Signifying Monkey ist eine anthropomorphe Figur der afroamerikanischen Folklore, auf der Henry Louis Gates gleichnamiger Aufsatz basiert. Vgl. Gates, Henry Louis: The Signifying Monkey, New York: Oxford Univ. Press 1988. Der Affe fungiert in den Geschichten der afroamerikanischen Folklore als Bote zwischen den Göttern und den Menschen. Seine Sonderstellung hat er seinem gaunerhaften Verhalten zu verdanken. Sein Hauptmerkmal als Figur der Doppelung (er steht auf einer Stufe zwischen Gott und Mensch) macht den Affen zum Pendant des Kolonisierten im Bereich der Tiere. 50 Der Begriff Mimikry selbst stammt aus der Tierwelt. Bezogen auf den Menschen bedeutet Mimikry nicht notwendigerweise eine Herabsetzung, sondern kann als Erweiterung der Möglichkeiten von Nachäffung gefasst werden, die sonst im menschlichen Körper eine Begrenztheit erfahren. 51 Exemplarisch dafür sind die Physiognomie und insbesondere die theriomorphe Darstellung zweier Nebenfiguren im Film: Die auffälligste ist die Frau des Besitzers eines türkischen Restaurants, in dem Dudie nach seiner Entlassung auf der Baustelle arbeitet. Ihre zoomorphe Darstellung macht sie zur kreatürlichen, monströsen Gestalt. Vor allem die Diskrepanz zwischen dieser Darstellung und ihren eigenen Aussagen (sie bezeichnet sich selber als hübsch) zeigt, wie der menschliche Körper durch die Kontrastierung zwischen Form und Inhalt zum Lachparadigma wird. Ihr Äußeres ist gekennzeichnet durch die übergewichtige Körpermasse, die insbesondere bei einem Tanz der Frau ins Lächerliche gezogen wird, das männlich geschnittene Gesicht und den auffallend affenähnlichen Überbiss. Überspitzt

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Fremden hängt des Weiteren mit dem Wunsch nach seiner Domestizierung zusammen: Er wird als bedrohlich, unheimlich, durch die Betonung des Tierischen aber auch als begehrenswert empfunden. Seine Sexualisierung ermöglicht das Ausleben hegemonialer Phantasie, in der die Eroberung des Anderen durch seine sexuelle Unterwerfung erwünscht wird. In der Nachahmung einer wilden Lebensform finden die illegalen Arbeiter eine Möglichkeit der temporären, jedoch utopischen Befreiung von den ihnen auferlegten Gesetzen bzw. von der Rolle der ›Turnschuhe‹, die den ›Chefs‹ untergeordnet sind. Da die Arbeiter mehrere Wochen keinen Lohn bezahlt bekommen und bei einer Auseinandersetzung mit dem Chef entlassen werden, beschließen sie, ein Territorium zu ›erobern‹, und verwandeln ein Stück Land auf der Baustelle in einen Grillplatz. Durch die Umkehrung der Rollen von Chef und Arbeiter werden in dieser Szene der Anspruch auf Territorium und hegemoniale Verhältnisse verspottet. Der Wunsch nach Eigentum steht im Kontrast zum fehlenden Recht auf Aufenthalt, das die Asylanten mit der Erstürmung von einigen wenigen Quadratmetern auf sarkastische Art ausgleichen wollen. Bald darauf fangen sie sogar an, ihr Land vor den deutschen Vorarbeitern zu verteidigen, und kehren dadurch die Verhältnisse zwischen Herrscher und Beherrschtem um. In der Begegnung mit den deutschen Vorarbeitern ist die Rückkehr in den primitiven und bedrohlichen ›Naturzustand‹ als Provokation zu verstehen. Die wenigen Quadratmeter haben die Ausländer mit einem selbsterrichteten Zaun markiert. Die bisherigen Rollen werden umgekehrt:

wird die Situationskomik durch die Versuche dieses Symbols weiblicher Unattraktivität, sich Dudie sexuell anzunähern, und zum Schluss durch ihre Behauptung, Dudie hätte sie »angemacht«. Das zweite Beispiel ist der iranische Mitbewohner, dessen Charaktereigenschaften vor allem durch seine Mimik, Gestik und Körperhaltung vorweggenommen werden: Beim ersten Kennenlernen in der Ausländer-WG in Berlin sitzt er mit hochgezogenem T-Shirt und der Hand auf dem behaarten Bauch, verzieht beim Reden sein Gesicht als Zeichen des Ekels oder der Unzufriedenheit über die Ankunft eines neuen Mitbewohners und korrigiert entsetzt, dass er zwar Saddam heiße, aber trotzdem aus dem Iran komme. Seine Darstellung ist überwiegend grotesk und weniger komisch, vor allem weil er heimlich Dudies Geldbörse stiehlt, was letztlich zur Kulmination von Dudies Misere führt.

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Wurden sie bisher ausgegrenzt, so verweisen sie ihre Chefs von nun an von ihrem Territorium und verbieten ihnen den Zutritt. Die Szene auf »dem Grillplatz« ähnelt einem rituellen Tanz, verstärkt durch die rhythmische afrikanische Musik – während des Tanzrituals werden die Arbeiter vom deutschen Chef aufgefordert, die »Bimbo-Musik« auszuschalten –, die im Hintergrund ertönt, und das rohe Fleisch, mit dem sie um das Feuer tanzen. In diesem Urzustand des Wild-Barbarischen wird eine Kultur vergegenwärtigt, die Benachteiligung und gleichzeitig auch Potenz und Erstarkung hervorruft. In diesem (Ur-)Zustand der Primitivität und des Ungezähmtseins werden die Tiere bzw. tierähnlichen Wesen in der darauf folgenden Szene verfolgt. Als die Polizei die Anwesenheit der illegalen Arbeiter auf der Baustelle entdeckt und sie festnehmen will, wird die Flucht vor der Polizei als Jagd durch ein (kulturelles) Gehege inszeniert, bei der die Arbeiter in den Status des Urmenschen zurückgeführt werden: Eine große Gruppe von Ausländern flieht rasend durch einen Park, der afghanische Mitbewohner sucht ein Versteck hinter den Bäumen, der iranische Mitbewohner stolpert und überfällt dabei eine Familie beim Picknicken, Dudie muss ins Wasser springen, um der Polizei zu entkommen. Der Versuch der Domestikation des Unzivilisierten findet an einem dschungelähnlichen Ort statt: Die Szene steht für die Wildnis, das Unheimliche, das Gefährliche oder das Abenteuerliche. Gelesen als Vorlage für exotische Repräsentationen steht die Jagdszene des (barbarisch) Fremden als Negation zu sonstigen Orten der Zivilisation, im Film etwa der Wohnung von Frau Dutschke oder dem türkischen Restaurant, in dem Dudie nach seiner Entlassung arbeitet.52 (Ethnische) Rollenspiele Die ersten literarischen Entwürfe für die Figur des sozialen Parasiten entstehen bereits in der antiken Komödie etwa der griechischen Dichter Antiphanes, Alexis und Menandros. Die gefräßige Figur des 52 Auf eine ähnliche Szene wurde bei der Analyse von Özdamars Keloğlan in Alamania, Kapitel 4, hingewiesen. Zahlreiche Werke der Literatur befassen sich mit diesem binären Schema, auf dem Saids Orientalismuskritik basiert. Das Motiv des Urwalds, in dem es zur Begegnung zwischen dem (zivilisierten) Europäer und dem (barbarischen) Stamm der DumaraIndianer kommt, findet sich z.B. in Robert Müllers Roman Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines Ingenieurs (1915).

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Schmarotzers nistet sich in Häusern reicher Leute ein und leistet ihnen dafür kleine Dienste. In Kutluçans Film wird Dudie zum sozialen Parasiten. Sein intrigantes, gaunerhaftes Verhalten ist die narrative Triebkraft des Films. Dies wird vor allem in der zweiten Filmhälfte deutlich, in der die Obdachlosigkeit und der illegale Aufenthalt zur intriganten, gewitzten Suche nach einem neuen Wohnort führen, die nach der Adoption des deutschen Sohnes Leo und der Neudefinierung der familiären Verhältnisse notwendig wird. Der Film alterniert bei der Suche zwischen der Darstellung der wildnisartigen Wurzellosigkeit der äußeren Orte und den inneren Räumen häuslicher Bindungen, die vor allem nach der Fälschung des Schreibens der deutschen Behörden eingenommen werden. Als Sohn eines illegalen armenischen Asylbewerbers stellt die deutsche Nationalität des kleinen Jungen jedoch zunächst ein Problem dar. In einem Friseursalon, dem Ort des Schminkens und Maskierens schlechthin, lässt sich Leo die Haare schwarz färben, bekommt den Namen Hassan und wird damit zum Armenier. Ethnizität existiert in diesem Kontext lediglich als Maskerade bzw. als Rollenspiel. Dient das ethnische Rollenspiel in der Regel dem Aufstieg in einer hierarchischen Rangordnung verschiedener Ethnizitäten, so wird dieses Konzept im Film invertiert: In Ich Chef, Du Turnschuh wird die Zugehörigkeit zur armenischen Minderheit zum Vorteil umcodiert. Ähnlich wie in Keloğlan in Alamania wird die Reduzierung der Ethnizität auf die Haarfarbe und das Aussehen ironisiert. In Kutluçans Film dient sie der Konstruktion einer neuen Zugehörigkeit. Gefilmt wird die Veränderung des Äußeren im Einzelnen: Kleidung, Haarfarbe und Aussehen zeigen eine Möglichkeit oder einen potentiellen Raum des Lebens der erwünschten nationalen Zugehörigkeit jenseits von festgelegten Grenzen und Normen.53 Der Namenswechsel markiert den Übergang zu einem Zustand der Geschichtslosigkeit und einen Schnitt im linearen Verlauf von Leos Biographie. Die Diskontinuität der Geschichte des adoptierten Sohns wird in den weiteren Verlauf der Handlung integriert. Ebenso wie Dudie wird er zum Grenzgänger. An die Stelle der biographischen Leere treten das akzentuierte Reden und die sprachlichen Mängel, um das ›Armenischsein‹ auch sprachlich zu inszenieren. Mit selbst ge-

53 Auch in Fatih Akins Gegen die Wand spielt eine Szene im Friseurladen als Ort des Wechsels der nationalen und kulturellen Zugehörigkeit.

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fälschten Papieren können sich Dudie und der armenisch gewordene Sohn nun in der Wohnung der siebzigjährigen Frau Dutschke einnisten. Dafür muss auch Dudie sein Aussehen vom primitiven, ungepflegten Asylanten auf Wanderschaft (ungekämmt, ungepflegter Bartwuchs) zum »lieben Mitbürger« ändern, wie er sich selber im gefälschten Schreiben des Bezirksamts Kreuzberg bezeichnet. Als Nomade ist Dudie von jeglichen Bindungen an festgelegte nationale Zugehörigkeiten losgelöst. Stellvertretend für die Figuren im Film ist Dudie zwar durch seine nationale Herkunft eindeutig definiert, zeigt aber eine Flexibilität beim Spielen anderer ethnischer Rollen, vor allem wenn ihm dies in seiner Not hilft. Während Dudie einen Zugang in die deutsche Gemeinschaft sucht, schließt sich der deutsche Sohn am Ende des Films bewusst von ihr aus. Den Weg von der Wanderschaft als Obdachloser zurück in geregelte Wohnverhältnisse in der Stadt will der Junge nicht zurücklegen. Am Filmende erweist sich das begonnene ethnische Rollenspiel als irreversibel, denn vor der deutschen Polizei rezitiert Leo die auswendig gelernte neue Definition seiner Identität, er sei der Sohn Hassan und Dudie sei sein Vater: Seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe definiert sich über Dudies Vaterschaft, der Leos biologische Identität im Weg steht. Für Leo ist Dudie die Gemeinschaft. Die Ironie dieser Szene zeigt sich darin, dass der Illegale, politisch Bedrohte, der für einen Ort der Zugehörigkeit kämpft, selber Andere aufnimmt. Bis zum Ende des Films haben sich familiäre Beziehungen gemischt und neu festgelegt. Das Motiv des ›Kämpfers für soziale Gerechtigkeit‹ – man kann von einem ›Robin-Hood-Topos‹ sprechen – spielt in Kutluçans Ich Chef, Du Turnschuh hinein. Da die ausländischen Asylanten sich ihrer Illegalität in Deutschland sowie der (politischen) Gefährdung in den eigenen Ländern ausgesetzt sehen, beschließen sie, Fragen der sozialen Gerechtigkeit neu zu definieren. Dudies intrigante Idee zur Überwindung der ständigen Wanderschaft greift auf eine frühere Filmszene zurück, in der er den ausländischen Mitbewohnern eine Nachricht in der Zeitung vorliest, die von der Festnahme einiger Asylanten handelt, die sich mit falschen Wohnungsbescheinigungen bei alten Leuten einquartiert haben. Was die damaligen Mitbewohner als witzige erfundene Geschichte empfinden, inspiriert später Dudies Plan. Zwei Paradigmen des Ausländers stehen sich oft gegenüber. Es gibt den naiven Ausländer, der durch seinen Aufenthalt an einem ihm

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fremden Ort zum Opfer von Intrigen wird. Hier wird z.B. seine sprachliche oder gesellschaftliche Ignoranz ausgenutzt. Das Gegenmuster bildet der Ausländer, der selber Intrigen spinnt, bei denen Fremde bzw. Einheimische zu Opfern werden.54 In Ich Chef, Du Turnschuh ist Dudie ein intrigantes Opfer: Er spinnt seine Intrigen aus der Opferposition und verkörpert Held und Schurken zugleich. Vor allem in der zweiten Filmhälfte in Berlin lebt sein Handeln von einer gaunerhaften Strategie, zunächst indem er Frau Dutschke belügt, um sich bei ihr ein Quartier zu verschaffen, und zum Schluss indem er seine Heiratstaktik verfolgt, um das Problem seines illegalen Aufenthalts in Deutschland endgültig zu lösen. Die Positivierung von Negativität in Bezug auf Dudies betrügerisches Verhalten und die Kontrastierung zwischen seiner Übeltat und guten Intention öffnet einen Raum für die Tragik des Geschehens. Die Umkehrung der Opferrolle ist im dargestellten Kontext eine Form der Subversion. Man kann von einer Ironie des Misslingens sprechen, aus der Dudies Geschick und List geboren werden. Seine marginale Stellung wird somit zum Ort hegemonialen Handelns. Im Auf- bzw. Ablegen spielerischer Masken zeigt sich die Durchtriebenheit des handelnden Subjekts. Um die drohende Abschiebung zu verhindern, schlägt Dudie Frau Dutschke vor, ihn zu heiraten. Das ›getürkte‹ Handeln wird nochmals zum leitenden Prinzip der Anpassung an deutsche Verhältnisse. Vor allem durch das Schauspiel und die Montage wird Dudies Alternieren zwischen verschiedenen Rollen visualisiert, wodurch ein Metaschauspiel auf dem Bildschirm konstruiert wird. In einer Szene zeigt eine Großaufnahme sein weinendes Gesicht und nach einem Schnitt die gefälschte Abschiebungsbescheinigung, die Dudie Frau Dutschke vorlegt. In einem Follow Shot verfolgt die Kamera Dudie und filmt, wie er von Frau Dutschke wegschaut und sich anschließend kichernd die Wangen mit Spucke nass schmiert, so dass er weiterhin mit Krokodilstränen seine Hilflosigkeit vortäuschen kann (vgl. Abb. 4 und 5):

54 Einen ähnlichen Parallelismus bildet der Filmtitel Ich Chef, Du nix von 2007 (Regie: Yasemin Samdereli). Im Film werden, ähnlich wie in Ich Chef, Du Turnschuh, Vorgesetzte und Untergebene dargestellt. Anders als Dudie in Kutluçans Films verkörpert Mehmet in Ich Chef, Du nix die Figur des naiven Ausländers, der zum Opfer des intriganten Chefs wird.

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Abbildung 4 und 5: Rollenspiel

Ich Chef, Du Turnschuh – Hussi Kutluçan

Als er wieder zur alten Frau schaut, schlägt er ihr vor, ihn zu heiraten, sonst würden sein Sohn und er ausgewiesen. Auf der Handlungsebene wird die Illusion durch die Einschließung der Zuschauer als Zeugen des Metaschauspiels gebrochen. Es ist u.a. diese Strategie, in der sich der Film von melodramatischen Darstellungen ähnlicher Geschichten unterscheidet. In den Rollenspielen sollen sich die (Tragi-)Komik der Handlung und insbesondere die erwähnte Showmanship manifestieren. Ähnlich wie in Özdamars Keloğlan in Alamania führt das ethnische Rollenspiel in Kutluçans Film zur Destabilisierung von bestehenden (Macht-)Systemen und wirft Fragen über Hierarchien auf. Dabei wird jedoch im Theaterstück im Gegensatz zu Kutluçans Film die Zugehörigkeit zur Mehrheit erstrebt. Vergleichbar mit den Vorteilen der armenischen Ethnizität im Fall des deutschen Jungen wird ein türkischer Asylant, wie bereits kurz erwähnt, durch die Verkleidung als Inder privilegiert. Es herrscht eine situationsbedingte Hierarchisierung von Ethnizität, die in dieser Szene zugunsten der indischen Zugehörigkeit festgelegt wird.55 Aber wie kommt es, dass die indische Zugehörigkeit zum Vorteil geworden ist? Göktürk konstatiert in diesem Zusammenhang: »As has been argued for racial cross-dressing in blackface minstrelsy of Jewish performers […] difference, is articulated through the appropriation of another race or ethnicity with greater popular appeal.«56 Der Film hinterlässt hier außerdem eine ironische Notiz: Im Krawall nach der Ankunft auf dem Schiff ist das Indischsein nicht mehr als ein Turban – auch für die Polizei, die durch die Verkleidung ausgetrickst wird (vgl. Abb. 6): 55 Auf eine ähnliche Verkleidung als Inder wurde bereits in Bezug auf Osman Engins Kanaken Ghandi hingewiesen. Vgl. hierzu: S. 77. 56 Deniz Göktürk: Strangers in Disguise, S. 201.

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Abbildung 6: Konstruktion indischer Identität

Ich Chef, Du Turnschuh – Hussi Kutluçan

Die Vermählung des Hohen mit dem Niedrigen Wenn die nachahmende Darstellung »schlechterer« bzw. »niedrigerer« Menschen bei Aristoteles als entscheidendes Merkmal der Komödie verstanden wird,57 so wird dies im Film invertiert. In Kutluçans Film erfasst die Komik das Sublime, das als nachgeäfftes, erniedrigtes Lachobjekt fungiert und durch seine Erniedrigung das Lachen aktiviert. In Ich Chef, Du Turnschuh verkörpert Frau Dutschke die bürgerliche Schicht, die als Beispiel für die ›umgestülpte‹ Welt naiv dargestellt und in die Irre geführt wird: Sie glaubt der von Dudie erfundenen Geschichte und nimmt die Fremden mit offenen Armen bei sich auf. Auch als handelndes Subjekt schließt sich der Vertreter des Hohen dem ›Niedrigen‹ an und beteiligt sich am Nachäffen. Hier trägt die Unordnung einer sonst national und/oder kulturell konstruierten Hierarchie zum Wesen des Komischen im Film bei. Das Sublime wird zunächst zum Objekt des Lachens, bevor es sich dem düpierenden Subjekt anschließt, um das ironisierende Spiel fortzusetzen. Frau Dutschke personifiziert weiterhin die Herabsetzung des Hohen, wird am Anfang zur Teilnahme am Geschehen gezwungen und beteiligt sich zum Schluss freiwillig und voller Zuversicht am von Dudie initi57 Aristoteles: Poetik, hg. v. Fuhrmann, Manfred, München: Heimeran 1976, S. 41: »[…] die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen«, und S. 48: »Die Komödie ist, wie gesagt, Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Hässlichen teilhat«.

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ierten Spiel. Gegen Ende des Films lügt sie selbst die Polizei an, um Dudie und den kleinen Jungen zu beschützen, und ahmt Dudies Strategie des doppelten Rollenspiels nach. Die Groteske der Handlung kulminiert in der Mésalliance. Auch hier zeigt sich, ähnlich wie in Keloğlan in Alamania, die Politisierung des Privaten. Die Vermählung trotz der Ungleichheit des Standes und des Alters lässt die sonst unüberwindbaren Schranken verschwinden. Das Bild der alten Braut ist bei Kutluçan eine Ironisierung des Bestrebens nach Einheit mit dem überlegenen ›Anderen‹. Diese Figur, bei Özdamar in der Figur von Rotkäppchen verkörpert, wird auch in Ich Chef, Du Turnschuh zur Retterin, zur erträumten Nation, die in der Lage ist, den Anderen zu integrieren. In der tragischen Situation schafft das Bild einer etwa siebzigjährigen Braut eine Situationskomik: Es persifliert das Bestreben nach Einheit mit dem überlegenen ›Anderen‹, bei dem, ähnlich wie in Keloğlan in Alamania, sexuelle Neigungen kaum von Interesse sein können. Wenn die Vermählung mit dem ›Weißen‹ bzw. ›dem Anderen‹ die Aufnahme in die deutsche Gesellschaft versprechen soll, so wird dies durch die nicht-funktionale Braut ironisiert. Die Figur, die zu Beginn der Bekanntschaft selber getäuscht wird, schließt sich in dieser Szene dem Bündnis täuschender Subjekte an. War die Braut einige Szenen davor lediglich ein düpiertes Objekt einer Intrige, so wird sie in dieser Szene zum Nachahmer ihres Täuschers, d.h. zu einer Nachahmung eines Trugbilds. Die Szene im Standesamt zeigt, wie Dudie, Frau Dutschke und Leo, Angehörige von drei Generationen, in einer Reihe nebeneinander vor dem Beamten sitzen und ihm ihren Heiratsbeschluss mitteilen. Aus der Kontrastierung von Frau Dutschkes grauem Haar und alterndem Körper einerseits und ihrer bräutlichen Schminke auf der anderen Seite entsteht die Komik der Szene, die durch die Beteiligung des ›Nachwuchses‹ bis zum Maximum getrieben wird. Die Gegenüberstellung von Gedanke und Rede wirkt ebenso humorvoll: »Wenn sich zwei Herzen lieben, dann werden wir auch einen Ausweg finden«,58 meint der deutsche Beamte, während er das nicht zueinander passende Paar skeptisch betrachtet.

58 Kutluçan, Hussi: Ich Chef, du Turnschuh, Mainz: ZDF 1998, 1:25:52.

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6.2.2 Ethnic Drag und die deutsch-türkisch- armenische Triade Die Konstruktion von Ethnizität und das latente und manifeste Zusammenspiel verschiedener Zugehörigkeiten (Deutsch, Türkisch und Armenisch) führen zur Frage nach der dezidierten Auswahl der Rolle eines armenischen Asylbewerbers und der Signifikanz der NichtRepräsentation einer türkischen Rolle. Dies mag zunächst als Befreiung von der ›Pflicht der Darstellung‹ türkischer Handlungen und Geschichten verstanden werden, bei der die Übereinstimmung zwischen der nationalen Zugehörigkeit und der schauspielerischen Rolle vorausgesetzt wird. Auf einer weiteren latenten Ebene geht es um Fragen des kulturellen Gedächtnisses in der Türkei und der Verantwortung für den Genozid an den Armeniern. Die im Film dargestellte Biographie eines armenischen Asylbewerbers kann als das Ergebnis einer Juxtaposition individueller Schicksale und geschichtlicher Ereignisse betrachtet werden. Dudie wird damit an einer Schnittstelle zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft positioniert. Ähnlich wie die Migrationsgeschichten, die Teil der deutschen Gegenwart sind, wird die Anerkennung der armenischen Minderheit als Teil des türkischen Daseins erfasst. Die armenische Zugehörigkeit Dudies wird im Film als ein Mittel der Verhandlung von Fragen der Erinnerung und der Vergangenheitsbewältigung gedeutet. Im Zusammenhang mit dem Holocaust spricht Katrin Sieg vom Ethnic Drag u.a. als »cross-racial casting on stage«, die für Sieg u.a. die Funktion einer »technology of forgetting« erfüllen kann: »After the Holocaust, race and nation were so notoriously fraught with terror and shame, so contentious, and hence so overdeterminated that they required a sophisticated orchestration of ›forgetting‹. […] Ethnic drag constitutes one such figuration of forgetting in the medium of performance. Drag’s characteristic technique of doubling the referent of performance (anatomical given/social role) demonstrates the process of remembering and forgetting, presence and absence, evoking and overwriting that construct history and identity.«59

59 Katrin Sieg: Ethnic Drag, S. 84f.

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In Kutluçans Film wird die Funktion des Ethnic Drags umgedreht: Er fungiert nicht als Medium des Vergessens, das dem Verbergen einer nationalen Zugehörigkeit dient, sondern als Medium des Erinnerns, durch das der armenische Genozid vergegenwärtigt wird. Wenn ein türkischer Regisseur die Rolle eines Armeniers spielt, wird durch die Gegenüberstellung der beiden Zugehörigkeiten eine Spannung zwischen Täter- und Opferpositionen erzeugt und während des weiteren Verlaufs der Filmhandlung verhandelt. Anders als der Holocaust gehört die Repräsentation des Völkermords in Armenien zu den selten thematisierten Genoziden. Er kann deshalb in gewisser Hinsicht im Film als Tabubruch betrachtet werden – zumal von einem türkischen Regisseur aufgegriffen – und fällt mit den verstärkten Anforderungen nach Anerkennung seitens der armenischen Diaspora zusammen. In Ich Chef, Du Turnschuh wird durch die Rolle des Armeniers eine Möglichkeit der Aufarbeitung geschichtlicher Fragen eröffnet. Der türkische Regisseur spielt die Rolle eines Opfers der deutschen Behörden und Ausländerbestimmungen. Die Absenz des Türkischen und seine Substitution durch die Präsenz eines armenischen Asylbewerbers öffnen einen Raum für das Tabuisierte und bieten somit eine Möglichkeit der Bewältigung aus der Position des Täters.60 In diesem Fall bietet die ethnische Verkleidung einen Raum bzw. eine Maske für die Aufarbeitung von Fragen der kollektiven Schuld.61 Die ethnische Permutation wird zur Substitution der Verleugnung, d.h. der entstandenen Absenz, und bildet ein Medium

60 Eine ähnliche Strategie zur Bewältigung der Täterposition identifiziert Sieg in Bezug auf die Karl-May-Produktionen im Deutschland der Nachkriegszeit, die nochmal die Verbindung des Ethnic Drag als »technology of forgetting« veranschaulichen: »I analyze postwar Germans’ impersonation of American Indians as attempts to cope with the guilt of the Holocaust as well as the widespread shame and resentment provoked by the accusations brought against Germans in the international war crimes tribunals and denazification procedures. The substitution of Indian for Jewish victims facilitated not only a geographical and historical distancing of genocide, but also offered spectators different identifications in the story of racial aggression. Ethnic Drag allowed Germans to align themselves with the victims and avengers of genocide, rather than its perpetrators and accomplices.« Vgl. ebd., S. 13. 61 Ebd., S. 2.

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der Erinnerung und der Vergangenheitsbewältigung. Dudies Figur ist hier als Interferenz in die Geschichtsschreibung zu verstehen, in der oft das Armenische absent ist bzw. tabuisiert wird. Dies funktioniert durch die Differenz zwischen Kutluçans türkischer Identität und seine Verkörperung einer armenischen Rolle im Film. Die Hauptfigur ist außerdem kein Migrant, sondern ein Asylant, um auf eine Existenz hinzuweisen, die von politischer Bedrohung und der Suche nach einem Ort der Zuflucht bestimmt wird. Eine explizite Form nimmt das Thema im Film an, als Dudie in seiner Not Arbeit bei einem türkischen Restaurantbesitzer bekommt. Die unkomplizierte Aufnahme eines Armeniers in die türkische Restaurantmitarbeiterschaft ohne die Thematisierung seiner Zugehörigkeit birgt in der Normalisierung implizite Fragen der Schuld und Verantwortung. Die Akzeptanz des armenischen Asylbewerbers kann außerdem als utopische Überwindung eines traumatischen türkisch-armenischen Verhältnisses verstanden werden. Dudie adoptiert darüber hinaus den Sohn Leo und gibt ihm den Namen Hassan, ursprünglich ein arabischer Name, der in der Türkei, allerdings nicht in Armenien, geläufig ist. Die tertiäre Namensgebung (türkischer Name, deutscher Junge, armenische Rolle) stellt den Übergang zwischen homogenen historischen Dichotomien grundsätzlich in Frage und stört durch die Dreieckskonstellation die Kultur des Vergessens. Die Adoption eines deutschen Sohns und die türkische Namensgebung bilden eine Form der ethnischen Grenzüberschreitung, die erst beim Generationswechsel stattfindet. Offen bleibt, ob der Regisseur damit Fragen der gegenseitigen türkisch-armenischen Annäherung impliziert. Die Adoption und Übernahme der familiären Verantwortung versteht sich als Prozess der implizierten türkisch-armenischen Harmonisierung, die vor allem durch ihre Nicht-Thematisierung im Film zur Norm erhoben wird. Dudies Rolle verweist außerdem auf die Archäologie des kulturellen Gedächtnisses. Seine Präsenz erinnert an die Unmöglichkeit des dichotomen Verlaufs von Geschichte und versteht die deutsch-jüdische und türkisch-armenische Vergangenheit als Teil der deutschtürkischen Gegenwart.62 Die Konstruktion eines solchen ›Völkerdrei-

62 Eine ähnliche Triade entwirft Şenocak in seinem Roman Gefährliche Verwandtschaft, der im selben Jahr wie Kutluçans Film erschienen ist. Im Roman wird der Großvater des Protagonisten Sascha Muhteschem für den Tod zahlreicher Armenier Ende des Ersten Weltkriegs verantwortlich ge-

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ecks‹ lässt genug Raum für transkulturelle Themen, was vor allem durch die Einbettung verschiedener Geschichten in den größeren sozialen und historischen Kontext funktioniert.

6.3 T RANSVESTISMUS UND H OMOEROTIK IN K UTLUĞ ATAMANS L OLA UND B ILIDIKID (1999) Das Thema der Homoerotik kommt nur in einigen wenigen deutschtürkischen Werken vor. Fatih Akins Film Auf der anderen Seite, der 2007 in den Kinos lief, mag das bekannteste Beispiel sein. Darin werden im Rahmen einer lesbischen Liebesgeschichte die Schicksale einer deutschen und einer türkischen Frau verbunden: Im Film geht es um Tod, Liebe sowie um Grenzüberschreitungen zwischen verschiedenen Ländern, Generationen, aber auch zwischen Leben und Tod bzw. Jenseits und Diesseits.63 Das zweite Beispiel stammt vom Schriftsteller und Essayisten Zafer Senoçak. Sein Roman Der Erottomane. Ein Findlingbuch ist 1999 erschienen – im gleichen Jahr, in dem Kutluğ Atamans Lola und Bilidikid im Panorama-Programm der Berlinale lief – und erzählt die Geschichte vom Deutsch-Türken Robert, dessen Tagebuch nach seiner Ermordung gefunden wird, wodurch Schilderungen über seine sadomasochistische und homosexuelle Vergangenheit publik werden.64 In Novels of Turkish-German Settlement konstatiert Tom Cheesman, dass die Aufnahme erotischer Motive die Verlamacht. Durch die Verbindung der Geschichten über Generationen hinweg wird im Roman ein Bezug zwischen dem Genozid an den Armeniern und der Migration nach Deutschland hergestellt. Vgl. Şenocak, Zafer: Gefährliche Verwandtschaft, München: Babel 1998. 63 Akin, Fatih: Auf der anderen Seite, Köln: Pandora Film 2008. 64 Der Ich-Erzähler des Romans ist ein deutsch-türkischer Autor, der in Berlin lebt. Sein Freund Tom, ein eingebürgerter Deutsch-Türke, ist Staatsanwalt und berichtet dem Ich-Erzähler vom Mord an R., der vermutlich während eines sadomasochistischen Sexualakts mit einer Prostituierten und ihren drei Helfern passiert ist. Zum Schluss erfährt der Leser, dass das Tagebuch vom Staatsanwalt Tom verfasst wurde und nicht vom ermordeten Robert. Vgl. Şenocak, Zafer: Der Erottomane, München: Babel 1999.

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gerung der Diskussion über nationale, ethnische und historische auf sexuelle Kategorien ermöglicht: »Here [in Der Erottomane], as in Der Mann im Unterhemd, Senoçak uses erotic and pornographic motifs in order to shift the public discourse about identity away from questions of ethnicity, nationhood, and historical memory, toward questions of sexuality.«65

Michael Hofmann stellt im Zusammenhang mit Senoçaks Roman fest, dass »Identitätssuche sich sprachlich [vollzieht], aber auch im Blick auf den Körper des Menschen«.66 Im Roman werden durch diverse Sexualpraktiken verschiedene männliche Rollenmuster aufgedeckt: Homosexualität, Prostitution sowie Sadomasochismus. In Atamans Film Lola und Bilidikid werden mehrere Ebenen der Grenzüberschreitung mit der Darstellung von Subkultur und Alterität verknüpft. Der Film spielt im schwulen Submilieu im türkischen Kreuzberg in Berlin, wo die Grenzüberschreitung auf ethnischer und geschlechtlicher Ebene und im Hinblick auf die sozialen Klassen erfolgt. Die Kategorien Deutsch/Türkisch bzw. die zwei Extreme deutsche Oberschicht und türkische Unterschicht homosexueller Stricher werden konstruiert, gleichzeitig aber destabilisiert, z.B. dadurch dass die Kategorie ›Deutsch‹ im Film nochmals in West- und Ostdeutsch zerfällt. An verschiedenen Stellen werden außerdem Essentialisierungen ausgehebelt, die Männlichkeit und Weiblichkeit in eindeutig getrennten Kategorien denken (männlich/weiblich, hetero/homo, schwul/lesbisch – und in Lola und Bilidikid auch: deutsch/türkisch).67

65 Tom Cheesman: Novels of Turkish German Settlement, S. 107f. Cheesmans Behauptung würde allerdings auch für heterosexuelle Erotik gelten und erklärt nicht, ob die homosexuelle Thematik der Handlung eine neue Dimension hinzufügt. 66 Hofmann, Michael: Interkulturelle Literaturwissenschaft, Paderborn: Fink 2006, S. 210f. 67 Weissberg, Liliane: Gedanken zur »Weiblichkeit«. Eine Einführung, in: Dies. (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 7-34, hier S. 11 und Clark, Christopher: Transculturation, Transe Sexuality, and Turkish Germany: Kutluğ Ataman’s Lola und Bilidikid, in: German Life and Letters 59:4 (2006), S. 555-572, S. 187f.

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Wie bereits im einleitenden Teil über das transkulturelle deutschtürkische Kino erwähnt, rücken ab der zweiten Hälfte der neunziger Jahre überwiegend Themen über Männlichkeit in den Vordergrund. In Lola und Bilidkid wird dieses Thema expandiert, so dass die Darstellung von Männlichkeit jenseits ihrer normativen Grenzen erfasst wird. Bereits in der feministischen Debatte hat sich durch die Unterscheidung zwischen dem biologischen (sex) und sozialen Geschlecht (gender) erwiesen, dass geschlechtliche Identitäten performativ und aufgrund dessen veränderbar sind.68 Die Figuren des Transvestiten, der Drag Queen und des Transsexuellen erweitern die reglementierte Ordnung der Geschlechter. Dadurch erscheinen diese Figuren als ›Intervention‹ oder als ›Drittes‹.69 Die Grenzen zwischen Homosexualität, Transsexualität, Drag und Transvestismus werden mehrfach hinterfragt und dekonstruiert. Indem die Transvestiten im Film zum Teil auch Drag Queens und/oder Transsexuelle sind, wird dieses Dritte als Kategorie an sich auf ihre Heterogenität untersucht. In Vested Interests spricht Marjorie Garber von einer Kategorienkrise und meint Folgendes: »Mit Kategorienkrise meine ich ein Mißlingen von definitorischer Distinktion, eine Grenzlinie, die durchlässig wird und Grenzübertritte von einer (dem Anschein nach distinkten) Kategorie zu einer anderen erlaubt: schwarz/weiß, Jude/Christ, adlig/bürgerlich, Herr/Knecht, Herr/Sklave. Der Binarismus männlich/weiblich […] wird im Transvestismus selbst in Frage gestellt oder

68 Butler, Judith: Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory, in: Case, Sue-Ellen (Hg.): Performing Feminisms, Baltimore: Johns Hopkins 1990, S. 270-282, hier S. 274 und 278. 69 Drag Queen bezeichnet meist im Rahmen einer (Bühnen-)Performance eine Person, die anatomisch männlich ist und in der Regel durch eine überzeichnete Kostümierung und Inszenierung als Frau auftritt. Drag Queens wollen auch als solche verstanden und wahrgenommen werden. Der (homosexuelle) Transvestit will hingegen nicht unbedingt auf sich aufmerksam machen. Für ihn ist die geschlechtliche Verkleidung Teil seines Alltags und er versteht es in erster Linie als Ausleben seiner Geschlechtsidentität. Transsexuelle sind Personen, die körperlich eindeutig männlich oder weiblich sind, sich aber nach einer operativen Änderung ihres biologischen Geschlechts sehnen, unabhängig davon, ob sie dies umsetzen oder nicht.

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ausgelöscht, und eine transvestische Figur oder eine transvestische Mode wird immer als ein Zeichen von Überdetermination fungieren – als Mechanismus der Verschiebung von einer unscharfen Grenze zu einer anderen.«70

Christopher Clark fasst die destabilisierenden Phänomene im Film unter dem Begriff des »Transness« zusammen und meint damit die Liminalität, die in einem Prozess der Transformation von einer Kategorie zur anderen auftaucht und sogar zur Entstehung einer neuen Kategorie führen kann.71 Die Verzahnung der drei Kategorien Ethnizität, Klasse und Gender ist in Atamans Film allgegenwärtig. Ein Beispiel für Fragen der Intersektionalität zwischen Ethnizität und Gender in Lola und Bilidikid ist die Beeinträchtigung der geschlechtlichen Identität des Transvestiten aufgrund seines nationalen türkischen Hintergrunds sowohl in der deutschen als auch in der türkischen Gemeinschaft.72 Ebenso steht im Film die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Schichten der homosexuellen Beziehung zwischen einem Deutschen und einem Deutsch-Türken im Weg. Die Liebesgeschichten, Beziehungen und Konflikte zwischen acht homosexuellen Männern sind somit meist ethnisch und/oder sozial verklammert. In Lola und Bilidikid geht es nicht nur um die Frage der doppelten Marginalisierung, sondern vor allem darum, dass Ethnizität die geschlechtliche Identität formiert. Innerhalb der türkischen Community ist die soziale Identität festgelegt und unveränderbar an die biologische Identität gekoppelt. Die Transvestiten bzw. Drag Queens können nur in männlicher Kleidung im türkischen Kreuzberg erscheinen. Die konstruierten Geschlechtergrenzen sind dabei vordiskursiv bestimmt und lassen sich deswegen nicht verschieben; eher kann und soll der deutsch-türkische Transvestit auf Konstituenten seiner geschlechtlichen Identität verzichten. Kreuzberg fungiert in diesem Fall als Para-

70 Marjorie B. Garber: Verhüllte Interessen, S. 31. 71 Christopher Clark: Transculturation, Transe Sexuality, and Turkish Germany: Kutluğ Ataman’s Lola und Bilidikid, S. 556. 72 Intersektionalität bezeichnet die Benachteiligung aufgrund mehr als einer der genannten Kategorien Ethnizität, Klasse und Gender, wie z.B. bei schwarzen Homosexuellen.

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digma für die »heterosexuelle Matrix«, in der sex, gender und desire, das erotische Begehren, übereinstimmen müssen.73 Vor diesem Hintergrund betrachtet geht es im Folgenden um die Verhandlung von Macht an Symbolen, die in Lola und Bilidikid Konstituenten der sozialen Identität sind, wie z.B. die Bedeutung der Kleidungsstücke und Perücken, die damit verbundenen Ver- und Entkleidungen sowie der Kastrationswunsch. Dabei wird auf die performative (filmische) Konstruktion von Männlichkeit und Weiblichkeit im dargestellten deutsch-türkischen homosexuellen Milieu eingegangen, um vor allem zu zeigen, wie sie als Maskerade konzipiert sind. In diesem Zusammenhang wird veranschaulicht, wie die ›männliche‹ Hauptfigur sich an westlichen heterosexuellen Vorbildern orientiert und damit korrelierend die Weiblichkeit des Partners durch einen operativen Eingriff zu naturalisieren und essentialisieren sucht. Die daraus resultierende Unterwanderung von Möglichkeiten des ›Dritten‹ ist eine wiederholte Bewegung und die Triebkraft der Handlung in diesem Film. Die Figur des Transvestiten wird des Weiteren näher betrachtet, um die verschiedenen (zum Teil kulturell bedingten) Motivationen hinter dem Akt der geschlechtlichen Ver- bzw. Entkleidung zu erörtern. Innerhalb der gleichgeschlechtlichen Beziehungen werden die transvestischen Männer als Opfer doppelter Marginalisierung codiert. Hier zeigt sich zum einen das Verhältnis zwischen Theatralität und Transvestismus, zum anderen, wie durch Kleidung die Geschlechterdifferenzen (de-)konstruiert werden. An verschiedenen Stellen der Analyse wird deutlich, wie die Verkopplung von Ethnizität und Gender paradoxe Situationen erzeugt, in denen der Transvestit als Kategorienkrise selber in eine Krise gerät, z.B. dadurch, dass Figuren in die Handlung eingeführt werden, die dem Transvestiten als Figur des ›Dritten‹ zugunsten der Binarität der Geschlechter entgegenwirken. Die geschlechtliche Identität der Transvestiten hängt dementsprechend in Lola und Bilidikid von sozialen und diskursiven Verhältnissen ab.

73 Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter. Die »heterosexuelle Matrix« entspricht einem Herrschaftssystem, in dem Heterosexualität normativ etabliert ist. Butler spricht in diesem Zusammenhang u.a. von »Zwangsheterosexualität«. Gemeint ist damit, dass beispielsweise dem biologisch männlichen Körper eine männliche soziale Identität und das Begehren von Frauen zugewiesen werden.

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Wenn die Hauptfigur Lola ihre geschlechtliche Identität im Film als männlichen Körper und weibliches Kostüm definiert und er/sie74 im türkischen Kreuzberg nur in männlicher Kleidung erscheinen kann, dann ist dies eine Verkleidung seiner/ihrer transvestischen Identität: Auf Kleidungsstücke, die für seine/ihre geschlechtliche Identität konstitutiv sind, muss verzichtet werden. Aus heteronormativer Sicht entspricht dies der Entkleidung. Ähnlich wie das ethnische Rollenspiel in Ich Chef, du Turnschuh und Keloğlan in Alamania soll das geschlechtliche Rollenspiel in Lola und Bilidikid den Zugang zu bestimmten (konstruierten) Kulturkreisen ermöglichen. Im Film wird die Liebesgeschichte zwischen einem deutschtürkischen Stricher und einem deutschen Aristokraten – Extreme in der deutschen Gesellschaft – zunächst aufgrund sozialer Fragen von der adligen Mutter – im Film eine Repräsentantin der deutschen Oberschicht – nicht akzeptiert. Im Zusammenhang mit der Homosexualität werden somit Fragen von sozialer Hierarchie in die Handlung verflochten, was im zweiten Teil der Analyse näher ausgeführt wird. Die Mésalliance spielt vor dem homosexuellen Hintergrund und verbindet die soziale mit der geschlechtlichen Kategorie, was unter Punkt 6.3.2 analysiert wird. Grundlegend ist dabei der Gedanke, dass Möglichkeiten des ›Dritten‹ von Fragen der Ethnizität, des Geschlechts und der sozialen Klasse unterlaufen werden. Lola und Bilidikid, für den Ataman auch das Drehbuch schrieb, erzählt die homoerotische Liebesgeschichte zwischen Lola, einer Drag Queen, die in der Bauchtanz-Dragshow »Die Gastarbeiterinnen« auftritt, und Bili, einem homophoben türkischen Machotyp. Bili definiert sich trotz seiner Beziehung mit Lola nicht als homosexuell und träumt von einem ›normalen‹ Familienleben. Er wünscht sich, dass Lola sich in der Türkei zur Frau umoperieren lässt, so dass sie als Ehemann und Ehefrau zusammen leben können und will nicht wie »diese deutschen Schwuchteln zusammenleben […].75 Eine Parallelhandlung zeigt den 17-jährigen Murat, der sich zu Beginn des Films in der Phase der Entdeckung seiner (homo-)sexuellen

74 In Bezug auf die Transvestiten und Drag Queens werden im Folgenden männliche und weibliche (Possessiv-)Pronomen verwendet, da dies das Verständnis der Figuren wiedergibt und die Ambivalenz der Geschlechter berücksichtigt. 75 Ataman, Kutluğ: Lola und Bilidikid, Berlin: Absolut Medien 2007, 15:36.

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Identität befindet. Sein älterer Bruder Osman, ein klischeehafter Machotürke, versucht Murat mehrmals eine Beziehung mit einer Frau aufzuzwingen. Im Laufe des Films erfährt der Zuschauer in einer Analepse, dass Murat Lolas jüngerer Bruder ist.76 Es wird berichtet, dass Lola eines Tages in roter Perücke im Familienhaus erschien und seine/ihre (homo-)sexuelle Identität damit öffentlich auslebte, woraufhin er/sie aus dem Familienhaus verstoßen wurde. Murat kam danach zur Welt, um »Lola zu ersetzen«. Im Laufe der Handlung werden die Charaktere zusammengeführt. Murat fungiert dabei als verbindende Figur zwischen allen Personen im Film. Murat und Lola lernen sich kennen, als Lola sich im Familienhaus zeigt, um ihren Erbanteil nach dem Tod des Vaters zu verlangen und sich mit dem Geld nach Bilis Wunsch operieren zu lassen. Nach mehrfachen Auseinandersetzungen mit Bili über Lolas operative Behandlung und der wiederholten Belästigung Lolas durch drei Rechtsradikale, die in die Filmhandlung verstrickt sind, wird Lolas Leiche eines Tages in der Spree gefunden. Bili und der jüngste Bruder Murat glauben zunächst, dass die drei Rechtsradikalen hinter dem Mord stehen, woraufhin es zu einer blutigen Rache kommt: In einer Actionszene entführt Murat, verkleidet im Dragkostüm seines verstorbenen Bruders Lola, die drei Rechtsradikalen zu einer Fabrik, wo Bili einen kastriert und den zweiten ermordet, bevor er selbst erschossen wird. Nur Murat und der dritte Neonazi überleben diesen Showdown,77 bei dem sich schließlich in einem Gespräch herausstellt, dass die Rechtsradikalen nicht die Mörder von Lola gewesen sind. Kalipso und Şehrazat, zwei Drag Queens, die zusammen mit Lola als Bauchtänzerinnen vor seinem/ihrem Tod aufgetreten sind, offenbaren Murat die wahre Geschichte hinter Lolas Verstoß aus dem Familienhaus: Bevor Lola sich in Frauenkleidung zu Hause zu sehen gab, hatte Osman ihn/sie vergewaltigt, woraufhin Lola als Transvestit er-

76 Für dieses Stilmittel wird die Bezeichnung Analepse und nicht Rückblende verwendet, da die vergangene Geschichte erzählt und nicht filmisch dargestellt wird. 77 Als Showdown wird diese Szene bei Breger bezeichnet. Vgl. Breger, Claudia: Queering Macho-Identitites? Roman- und Filmanalysen aus der Perspektive angloamerikanischer Männlichkeitsforschung, in: Lehmann, Annette Jael (Hg.): Un-Sichtbarkeiten der Differenz, Tübingen: Stauffenburg 2001, S. 119-143, hier S. 142.

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schien, um ihn einzuschüchtern. Aus Angst, sich zu verraten, provozierte Osman Lolas Verbannung aus der Familie. Es kommt zur Konfrontation zwischen Osman und Murat, bei der Osman als Mörder seines Bruders Lola identifiziert wird. Auch die sonst als stumm und hilflos dargestellte Mutter erfährt so die wahre Geschichte über den Inzest und den Mord. In einem Subplot beginnt eine homoerotische Liebesgeschichte zwischen Iskender, einem Stricher, der Mitglied der dargestellten deutsch-türkischen homosexuellen ›Familie‹ ist, und Friedrich von Seeckt, einem Aristokraten aus der ehemaligen DDR. Iskender ist Stricher und verkörpert, ähnlich wie Bili, ein Machotum. Was als OneNight-Stand mit Friedrich anfängt, entwickelt sich im Laufe der Handlung zu einer Liebesbeziehung. 6.3.1 Männlich- und Weiblichkeit als Maskerade Die beiden Figuren Lola und Bili werfen unter anderem die Frage auf, wie die Geschlechter jenseits ihrer Grenzen zu verstehen sind. Die Konstruktion zweier Pole in der Beziehung vollzieht sich zunächst in Form einer überzeichneten Nachahmung eines weiblichen Schönheitsideals und eines männlichen und vor allem heterosexuellen Leitbilds. Die Darstellung der schwulen Subkultur in der ersten Filmsequenz wechselt zwischen der flamboyanten Bühnenshow und dem verschlossenen Klosett. Die Zuordnung Lolas und Bilis zu den jeweiligen Orten des Auslebens ihrer (homo-)sexuellen Identität legt gleich zu Beginn des Films eine durchgehende Struktur sowie die Figurenkonstellation und -dynamik fest.78 Die verschiedenen Elemente der Mise-en-scène tragen zur Konstruktion von Weiblichkeit auf dem Bildschirm bei: Lolas erster Bühnenauftritt als Bauchtänzerin ist gekennzeichnet durch die bunte, geschminkte, überzeichnete Nachahmung weiblicher Gestik, eine theat-

78 Kontrastiert werden diese Drehorte in vielen Szenen mit der Urbanität der Stadt Berlin, die hauptsächlich nachts in Szene gesetzt wird (Tierpark, Hermannsplatz, Kreuzberg). Bewegung, Ortswechsel, Anonymität und die zeitlich begrenzten Bekanntschaften in der Metropole sind außer in den homosexuellen Szenen im Tierpark auch im Taxi als Transportmittel konnotiert (Osman ist Taxifahrer, der Filmabspann spielt im Taxi).

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ralische Haltung auf der Bühne und die übertrieben feminine Artikulation der Sprache (vgl. Abb. 7): Abbildung 7: Weiblichkeit als Bühnenshow

Lola und Bilidikid – Kutluğ Ataman

Der erste Auftritt der »Gastarbeiterinnen« wird frontal gefilmt und von der künstlichen Bühnen- und Filmbeleuchtung sowie den dominierenden grellfarbigen Bauchtanzkostümen unterstützt: Gleich zu Beginn des Films wird die Bühnenshow als grundlegend für die Definierung der Drag Queens festgelegt.79 Das Filmsetting, das die Performance 79 Atamans Film orientiert sich in mancher Hinsicht und vor allem, was die Mise-en-scène betrifft, an zwei der bekanntesten Filme der neunziger Jahre über Drag Queens: Stephan Elliots The Adventures of Priscilla, Queen of the Desert von 1994 und Beeban Kidrons To Wong Foo, Thanks for Everything! Julie Newmar von 1995. Für die Darstellerinnen sind die Bühnenshow und die Kostüme wesentliche Merkmale zur Konstruktion ihrer geschlechtlichen Identität. Im Unterschied zu Atamans Film sind die zwei genannten Filme allerdings Komödien: Die Frau erscheint damit mehr als in Lola und Bilidikid als autonomes Lachsubjekt. Bei Ataman zeigen lediglich die Nebenfiguren Kalipso und Şehrazat dazu Parallelen. Beide Filme sind außerdem Roadmovies. Das Motiv des Wanderns bzw. der Reise oder der (Selbst-)Situierung auf dem Weg zwischen zwei Orten bietet ein passendes Format für die homosexuelle Thematik, was in Atamans Film vor allem durch Murats Umherirren im Tierpark zum Ausdruck gebracht wird. Eine weitere Gemeinsamkeit der drei Filme betrifft die Sprache, insbeson-

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einleitet, ist die Garderobe, der Ort der Verkleidung und des SichSchminkens schlechthin. Dort wird der Übergang vom männlichen zum weiblichen Aussehen im Detail gefilmt, worauf nochmals in Bezug auf die Ambivalenz der Geschlechterdarstellung im Film eingegangen wird. Durch ihre Effemination stellen die Tänzerinnen in Lola und Bilidikid das weibliche Sein im männlichen Körper zur Schau. Während seiner/ihrer Auftritte blüht Lola richtiggehend auf und kann seine/ihre (homo-)sexuelle Identität in vollem Ausmaß ausleben: Die Bühnenshow bietet einen (be)freien(den) Raum für seine/ihre weibliche Seite. Im Laufe des Films wird die exzessive Verweiblichung zum Teil im ständigen Wechsel von farbig auffallenden Perücken und Frauenkleidung dargestellt. Nicht nur durch das Kostüm und den spielerisch-verführerischen Auftritt als Bauchtänzerin und damit Symbol weiblicher Erotik will Lola Weiblichkeit verkörpern, sondern auch durch die Assoziationen, die ihr Name hervorruft: Clark weist auf Marlene Dietrichs Rolle als Lola in Der blaue Engel hin und auch auf Fassbinders Film Lola von 1981,80 zwei Frauenfiguren, die als femmes fatales oder Prostituierte Symbole weiblicher Verführung sind. An anderen Stellen produziert Lola jedoch Ambivalenz, etwa in einigen Szenen, in denen er/sie z.B. ohne Frauenperücke, aber doch in weiblicher Kleidung, oder beim Urinieren zu sehen ist. Gespräche mit Bili, in denen er/sie sich gegen eine operative Geschlechtsänderung äußert, sind nochmals explizite Hinweise auf das Selbstverständnis als weibliches Erscheinen in männlichem Körper und erinnern an die Zweideutigkeit seiner/ihrer geschlechtlichen Identität. Steht Lola für die homosexuelle Szene flamboyanter Bühnenshows, so hält sich Bili in schäbigen Klosetts auf. Männlichkeit wird im Film ebenso wie Weiblichkeit in übertriebener Form konstruiert und zunächst von Bili verkörpert. Gleich in der ersten Szene, in der er zu sehen ist, richtet er seinen Blick direkt auf das Objekt seiner Begierde, einen Mann in der Bar, wo Lola ihre Bühnenshow aufführt. Der Blick fixiert zwar das Objekt, spiegelt aber Bilis Selbstverliebtheit und -überzeugung von der eigenen Männlichkeit wider (vgl. Abb. 8):

dere die Wortwahl und die häufige (ordinäre) Benennung von Geschlechtsteilen. 80 Clark, Christopher: Sexuality and Alterity in German Literature, Film, and Performance 1968-2000, Diss. Cornell Univ. 2003, S. 199.

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Abbildung 8: Macho-Drag

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Der Betrachter (Bili) bleibt nach wie vor ein männliches Subjekt. Was im homosexuellen Kontext eine Änderung erfährt, ist das Objekt der Betrachtung. Fungiert in der Regel der weibliche Körper als Objekt der Begierde, so etabliert dessen Ersetzung durch einen Mann eine ›Hierarchie‹ innerhalb der männlichen Homosexualität, die sich an der Einteilung in Betrachter und Betrachteten zeigt. Bilis Verständnis und Definition von sexueller Norm entwerfen außerdem ein Konzept von Männlichkeit, das auf Homophobie basiert, was aufgrund seiner homoerotischen Beziehung mit Lola umso widersprüchlicher erscheint. Durch sein homophobes Verhalten und den Wunsch nach einer operativen Behandlung Lolas wird eine Einteilung in dichotome Geschlechter erstrebt. Dabei ist zu bedenken, dass die von Bili erwünschte Operation nicht nur den Wandel von der Homozur Heterosexualität beschreibt, sondern vom Transvestismus zur Transsexualität, was die Komplexität der geschlechtlichen Identitäten verdeutlicht, die die einfache Binarität dekonstruieren. Bilis Überzeichnung im Film – im Laufe der ganzen Handlung ist er nur in dem gleichen ›Kanakenoutfit‹ zu sehen (Lederjacke, Rockabilly-Frisur) – lässt seine Männlichkeit trotz fehlender Bühnenshow ebenfalls als Performance erscheinen: Man kann von einem Macho-

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Drag bzw. von der hyperbolischen Männlichkeit als Pose sprechen.81 In der Selbstbenennung nach dem Westernheld Billy the Kid konstruiert die deutsch-türkische Figur im Film weiterhin ein Verständnis von Männlichkeit, das auf Sex, Gewalt und Gesetzlosigkeit beruht.82 Außer dem Westernheld inkarniert er, zumindest in der ersten Szene des Films, durch Kleidung und Körperpose ein ›Elvis-Presley-‹ oder ›James-Dean-Ideal‹. In beiden Fällen imitiert er ein westliches Vorbild und ist dadurch »ein Produkt der Mimikry an die westliche Massenkultur«.83 Bili verkörpert somit im Film den Wunsch nach der Rekonstruktion normativer Ordnung(en) mit ihren sozialen und geschlechtlichen Dichotomien. Seine Nachahmung eines weißen Vorbilds und sein Verlangen nach einem heterosexuellen, bürgerlichen Eheleben sind als versuchte Aneignung einer westlichen, heterosexuellen Norm zu verstehen. Bilis Verständnis von Männlichkeit beruht zu einem gewissen Grad auf seiner Homophobie und auf seinem Verlangen nach Einteilung der Geschlechter in männlich und weiblich. Produziert Lola mit seiner/ihrer geschlechtlichen Identität Zweideutigkeit, so ist Bilis Verhalten eher das Ergebnis einer Paradoxie, die sich durch Lolas Kastration auflösen lässt. In seiner Diskussion mit Lola über ihre operative Geschlechtsumwandlung schließt er sich selber von der Möglichkeit einer chirurgischen Behandlung aus, da er ein Mann sei; Lola, so Bili, hingegen nicht. Dadurch wird eine Hierarchie innerhalb der Homosexualität konsolidiert, die sich im Kastrationswunsch manifes-

81 Breger spricht von Bilis machismo als Maskerade. Vgl. Claudia Breger: Queering Macho-Identitites?, S. 139. 82 Zur Namensauswahl der anderen Figuren im Film schreibt Clark Folgendes: »All the Turkish characters have names that evoke mythical or historical figures. Kalipso and Sehrezat are of course Calypso and Scheherezade, legendary and exotic enchantresses of men. Iskender is the Turkish form of Alexander, connoting both (the bisexual) Alexander the Great and Iskender Bey, also known as Skanderberg, who liberated Albania from the Ottoman Empire; it is perhaps not coincidental that he ends up with Friedrich, a reference to Prussia’s (homosexual) Friedrich the Great.« Weitere Konnotationen und Assoziationen der Namen anderer Figuren im Film finden sich in: Christopher Clark: Sexuality and Alterity in German Literature, Film, and Performance 1968-2000, S. 199f. 83 Claudia Breger: Queering Macho-Identitites?, S. 141.

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tiert, den Bili im Laufe der Handlung realisiert – allerdings nicht gegen Lola, sondern einen rechtsradikalen Jugendlichen. In einer zweiten expliziten Äußerung warnt er Murat nach seiner ersten sexuellen Erfahrung mit einem Mann davor, schwul zu werden, nachdem er ihn selber in die Welt der Stricher eingeführt hat. An dieser Stelle definiert Bili nochmal sein Verständnis von Schwulsein als die Übernahme der Rolle der penetrierten Person in einer gleichgeschlechtlichen männlichen Beziehung. Bilis Verständnis beruht auf einer Subjekt-ObjektRelation, die in diesem Fall der klischeehaften Vorstellung von männlich-weiblichen Relationen entspricht und von der Frau als Objekt der Begierde bzw. der Penetration ausgeht. Auf diese Weise konstruiert sich im Film auch in homosexuellen Geschichten eine patriarchalische Community, in der einzig das männliche Geschlecht das Sagen hat. Es ist der Versuch der Figuren, ihre Stellung am Rand der Gesellschaft zu verlassen, um einem konstruierten heteronormativen Zentrum anzugehören. Daran zeigt sich, wie Ethnizität die geschlechtliche Identität vordiskursiv dominiert. Die Beziehung zwischen Bili und Lola verweist in einem Mikrokosmos auf diese Machtstruktur im Film und durch die Kastration auf den Wunsch, ein Merkmal von Lolas sozialer bzw. transvestischer Identität zu eliminieren, um eine periphere (homosexuelle) Randstellung zu verlassen. In der Nachahmung eines westlich-weißen Ideals sehnt sich Bili nach dem Aufstieg innerhalb ethnischer Kategorien und vertritt zu diesem Zweck eine Heteronorm. Der Kastrationswunsch ist als Sehnsucht nach Domestikation Lolas zu verstehen, durch die er/sie an die ersehnte weiße Heteronorm angepasst wird und die in die Ehe münden soll. Bilis Wunsch nach einer operativen Geschlechtsänderung Lolas ist zu einem großen Teil durch seine Selbstbehauptung in seiner Umgebung bzw. seinem Bekanntenkreis bedingt: In einer Szene in Kreuzberg stellt Bili einem türkischen Freund Lola (in Männerkostüm gekleidet) als Bekannten vor und verbirgt seine Beziehung zu ihm/ihr. Das normative Leben als Ehemann und Ehefrau nimmt Rücksicht auf sein Bedürfnis, sich nicht in seinem sozialen Umfeld ›rechtfertigen‹ zu müssen, was auch auf sein Verständnis von Männlichkeit zurückzuführen ist. Die ›Zähmung‹ Lolas wird mit dem Mythos der Rückkehr in eine ›Heimat‹, einen Ort, der dem Protagonisten eigentlich unbekannt ist, verknüpft. Bili phantasiert das Leben in der Türkei im Gespräch mit Lola hauptsächlich in Form eines exotischen Zusammenseins an der

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Küste mit Bar und großer Hochzeit, ein erwünschtes und sanktioniertes Leben, das in dieser Szene in der Bildhaftigkeit des Traums seinen Ausdruck findet.84 Das Reisen und die Rückkehr sind zugleich Flucht, Heimatsuche und -gründung, worin sich die Bewegung innerhalb der dichotomen Struktur Heimat versus Fremde konsolidiert. Für Bili entspricht die Türkei dem Ort, wo er heterosexuelle häusliche Bindungen imaginieren kann. Auch hier formt die nationale Zugehörigkeit die geschlechtliche Identität, denn das Leben in Deutschland lehnt Bili ab, da er angeblich nicht wie »diese deutschen Schwuchteln«85 leben könne. Die Szene über das visionäre Eheleben Lolas und Bilis funktioniert an dieser Stelle als imaginäre Manifestation von Bilis Homophobie, die Romantisches (Heirat) und Gewalt (Kastrationswunsch) vereint. Die Bilder, mit denen der Traum beschrieben wird, stehen in starkem Kontrast zu den realen Umständen und dienen als Befriedigung innerer Bedürfnisse und Visionen von einem parallelen Leben.86 Die einzige Szene, die Lola und Bili nackt zusammen zeigt, ist zu den sonstigen Bildern homosexuellen Zusammenseins im Film angelegt und hebt den männlichen anatomischen Körper während des Gesprächs über die Geschlechtsumwandlung hervor.87 Bili und Lola

84 Mennel weist auf die Bedeutung der Tagträume in Lola und Bilidikid hin, die nach Freud als Manifestation innerer Wünsche und Triebe zu verstehen sind. Mennel, Barbara Caroline: The Representation of Masochism and Queer Desire in Film and Literature, New York: Palgrave Macmillan 2007, S. 142. 85 Kutluğ Ataman: Lola und Bilidikid, 15:35. 86 Die Porträtierung von Männlichkeit erfolgt in dieser Szene in Anlehnung an einen Malstil, allerdings ohne bekannte Vorlage: Dargestellt wird der männliche Körper als Objekt der Begierde, ein typisches Merkmal der Queer Cinema und insbesondere des schwulen Films. Mit dem ursprünglich negativen Begriff Queer wurde zunächst jedes Sexualverhalten bezeichnet und als unnormal bzw. sonderbar abgewertet, das von der Heteronorm abweicht. Der Begriff ist zwar bis heute noch umstritten, u.a. weil er ähnlich wie ›schwul‹ auch als Schimpfwort verwendet wird, fand aber vor allem Ende der achtziger Jahre eine Umdeutung und wird heutzutage ohne seine negative Konnotation benutzt, wobei er u.a. Homo-, Bi- und Transsexuelle einbezieht. 87 Die Szene wird von Mennel als Bild im Barockstil beschrieben. Vgl. Barbara Caroline Mennel: The Representation of Masochism and Queer

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unterhalten sich in dieser Szene im Schlafzimmer, einem Ort häuslicher Intimität, der im Gegensatz zu den sonstigen Szenen der anonymen nächtlichen Begegnungen homosexueller Stricher auf der Straße steht.88 Dies ist auch der einzige Ort, an dem sich Bili mit Lola, während sein/ihr männlicher Körper zu identifizieren ist, zeigen lässt.89 Der kleine Bruder Murat bewegt sich, ähnlich wie Lola, innerhalb der dichotomen Geschlechterordnung Kreuzbergs, in der Ethnizität und Gender miteinander verklammert sind. Anhand der Figur des jungen Bruders wird die Geschichte des homosexuellen Coming-out erzählt. An ihm zeigt sich, wie sich der Wandel von der anatomischen als determinierende Identität hin zur performativen Annahme seiner sozialen Identität vollzieht. Im Fall der zwei Brüder ›diktiert‹ der nationale Hintergrund, wie sich Gender zu formen hat. Murat wird zunächst zwischen den zwei Polen von Männlichkeit und Weiblichkeit (Bili und Lola) im homosexuellen Kontext positioniert. Seine Darstellung in der ersten Filmsequenz ist durch eine Ambivalenz gekennzeichnet, die parallel zu seiner (sexuellen) Orientierungslosigkeit verläuft: Die Kamera dokumentiert seine Schritte und die Suche nach

Desire in Film and Literature, S. 165. Die Bildgestaltung in der Szene zeigt männliche Nacktheit als wohlgeformte Skulptur, verstärkt durch einen wiederholten Wechsel zwischen Bewegung, Annäherung, Änderung von Position und Körperhaltung sowie Stillstand. 88 Im Gegensatz zu den sonstigen Schauplätzen homosexueller Intimität, den ›grauen‹, engen Klosetts, ist diese Szene gekennzeichnet durch die weiche Beleuchtung (Kerzenlichter), die fast ins Kitschige kippt (rote Kerzen, roter und goldener Satinstoff): Die Darstellung wirkt durch die Kontrastierung zu anderen Szenen irreal oder wie ein Traum und ist damit parallel zum Inhalt des Gesprächs über den Traum vom Familienleben als Ehemann und Ehefrau inszeniert. 89 Anhand der Auseinandersetzungen mit Bili wird die Familienstruktur problematisiert, mit der Transvestiten sich oft konfroniert sehen. Ähnlich wie sich Lolas Familie durch sein/ihr transvestisches Erscheinen neu strukturieren musste (Verstoß des Sohns, Geburt eines anderen ›Ersatz-Sohns‹), herrscht das Bedürfnis nach einer Neustrukturierung in der Beziehung auch bei Bili. In Lola und Bilidikid zeigt sich, wie eine Ersatz-Familie gegründet wird, die Drag-Familie bestehend aus Lola, Şehrazat und Kalipso, die nach dem Zusammenfinden mit Murat seine Einschließung in ihre Community phantasieren und die Rollen in der ›neuen‹ Familie verteilen.

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dem Weg nachts im Berliner Tiergarten, der zum Treffpunkt der männlichen homosexuellen Charaktere und oft auch zum Ort anonymer homosexueller Begegnungen wird. Die Darstellung alterniert in dieser Sequenz zwischen der Landschaft und Murat – und zwar aus verschiedenen Blickwinkeln und aus wechselnden Perspektiven und Distanzen (Vorder- und Hinteransicht, Vogelperspektive, Panoramaeinstellungen) – sowie durch den Wechsel zwischen Stand- und Handkamera.90 Die Bildgestaltung in dieser Filmsequenz lehnt sich stark an den impressionistischen Malstil an.91 Die Skizzierung ohne Hervorhebung von Einzelheiten hat eine komplementäre Funktion zur Anonymität und zur Phase des Übergangs, die in dieser Filmsequenz impliziert sind. Weitere malerisch gestaltete Szenen im Tiergarten werden von einer subjektiven Kamera gefilmt, um Murats Blick darzustellen: Er wird als Betrachter und Nicht-Beteiligter präsentiert und von der dargestellten Umgebung schwuler Männer distanziert. Durch Murat wird im Film außerdem eine Struktur des Wiederholens, Nachahmens und der Substitution aufgebaut. So orientiert er sich z.B. auf der Suche nach seiner geschlechtlichen Identität an den männlichen bzw. weiblichen Seiten der Vorbilder: Zum einen will Murat wie Bili, der ihn in die Welt der Stricher einführt, sich als Zeichen des Erstarkens nach einem Westernheld benennen und damit ein westliches Ideal nachahmen. Murats Nachahmung von Lola, auf der anderen Seite, nimmt vor allem nach seinem/ihrem Tod eine stärkere Ausprägung an. Dabei geht es allerdings nicht um Orientierung, sondern um Substitution des toten Bruders. Einige Szenen zeigen, ähnlich wie zuvor Lola, Murat beim Sich-Schminken, in einer anderen Szene setzt Bili Murat die Perücke der verstorbenen Lola auf. Den Höhepunkt dieser nachahmenden Aneignung des toten Bruders bildet Murats Erscheinen im Kostüm der toten Drag Queen. Er fungiert dabei als Köder für die Entführung der drei Rechtsradikalen, die im Film weitere Antagonisten der Figur des Transvestiten verkörpern. Die Szene

90 Gezeigt wird, wie Murat auf einer Brücke geht. Die in der deutschtürkischen Debatte fast überbelastete Metapher der Brücke wird hier anders funktionalisiert, indem sie auf die sexuelle anstatt der ethnischen Grenzüberschreitung verweist. Sie reflektiert einen Zustand des Übergangs, in dem sich Murat in Bezug auf seine (Homo)Sexualität befindet. 91 Vor allem die Panoramaeinstellung, die Murat aus der Ferne auf der Brücke schreitend zeigt, erinnert an Claude Monets Wasserlilien.

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versteht sich als Belebung oder symbolhafte Auferweckung von bzw. als Identifikation mit dem verstorbenen Bruder durch die Nachahmung seiner geschlechtlichen Identität. Mit Kostüm und Perücke soll ein temporäres Fortbestehen eines Familienangehörigen erreicht werden. Bis zum Ende der Filmhandlung löst sich Murat von den Ansprüchen seiner Umgebung (vor allem von Bili und Osman). Erst an dieser Stelle wird eine Alternative geboten, wie sich die geschlechtliche Identität unabhängig von der nationalen Zugehörigkeit bilden kann. Die Auseinandersetzung zwischen Murat und Osman gegen Ende des Films scheint zunächst die Konfrontation zwischen Osman und Lola fortzusetzen, in der er/sie noch vor ihrem/seinem Tod ihren/seinen Erbteil von Osman zu bekommen versuchte. Das zurückgeforderte Erbe führt wiederum eine (retrospektiv erzählte) alte Auseinandersetzung über Lolas sexuelle Identität fort. Erst nachdem Murat selber Osman wegen Lolas Tod konfrontiert hat, löst er sich endgültig von der Orientierung an einer Vorlage und verlässt das Familienhaus, im Film ein Ort der heterosexuellen binären Ordnung, freiwillig – im Gegensatz zu Lola, die vor Murats Geburt verbannt wurde. Die geschlechtliche Verkleidung verläuft in dieser Sequenz parallel zum Geschehen und fängt an mit Lolas Outfit nach der Showdown-Szene mit den Neonazis: Murat vergegenwärtigt dadurch die Begegnung zwischen Lola und Osman in der Vergangenheit, als Lola als Transvestit erschien. Während der Konfrontation wird die Verkleidung rückgängig gemacht: Murat legt Lolas Kleidung ab und bewegt sich vom weiblichen Gewand hin zum männlichen Körper, was als Geste der Befreiung von der Nachahmung Lolas bzw. ganz allgemein von einem Vorbild, aber auch von der oktroyierten Binarität der Geschlechter zu verstehen ist. So dienen Kostüme im Film immer wieder als Mittel der (Selbst-)Definierung und als Manifestation der Entwicklung von Identitäten.92

92 In der Kostümierung zeigen sich weiterhin eine Dynamik der Gruppenbildung und die rechtsradikale Ideologie. Die klischeehafte Darstellung der drei Neonazis Rudy, Hendryk und Walter erfolgt ebenfalls durch Kostüme (Bomberjacken, Springerstiefel, Seitenscheitel). Auch ihnen geht es um die männliche Behauptung innerhalb der Gruppe, die sich in ihrem Fall in erster Linie in Form von Xenophobie und auch in ihrem homophoben Verhalten zeigt. Die Showdown-Szene ist eine übertriebene Performance von Männlichkeit nicht nur in Form von rechtsextremer Radikalität, sondern

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6.3.2 Das transvestitische Opfer als Frau Trotz der Eröffnung einer Möglichkeit außerhalb binärer Geschlechtszuordnungen durch die Figur des Transvestiten wird in der Weiblichkeit ein passendes Gewand für die Darstellung von Opfern gesucht. Ähnlich wie der schwule Macho arbeitet die Opferrolle der Frau an der Restitution der binären heterosexuellen Ordnung, die Lola als Transvestit hätte aufsprengen können. Eine dem Traum ähnliche filmische bzw. narrative Strategie setzt Lola in einer weiteren Szene ein, in der sie in Form eines Märchens ihre Version von einem phantasierten zukünftigen Leben als heterosexuelles Paar schildert. Der Traum und das Märchenhafte werden zum narrativen Verfahren des Begehrens. Nicht die Figur des Dritten also, sondern die binäre heterosexuelle Ordnung wird während dieser Auseinandersetzungen imaginiert: »Es war ein Mann namens Lola und ein Mann namens Bili. Am Anfang waren sie überglücklich. Sie waren wahnsinnig verliebt. Aber weil Bili so ein Machotyp war, hatte er bald keine Lust mehr, als Schwuler mit einem Schwulen zu leben. […] Also bat er Lola, sich den Schwanz abschneiden zu lassen und eine Frau zu werden, damit sie heiraten und ein Leben führen könnten wie die Anderen auch. […] Lola tat es, weil sie ihn liebte. Da stand sie nun in ihrer Schürze und putzte jeden Tag die Wohnung und backte Plätzchen. Aber eines Tages kam Bili nicht mehr nach Hause. Lola wartete. Die ganze Nacht, und die Nacht darauf und die Nacht darauf. Aber Bili kam nicht. Sie wartete wie die Heldin in einem Kitschroman. Sie wartete und fing an, ihn zu hassen. Aber Bili kam nicht zurück. Warum glaubst du hat Bili Lola verlassen? Weil die Frau, die er geheiratet hat, nicht mehr der Mann war, in den er sich verliebt hatte.«93

Das bildhafte Märchen, ein Negativbild von Bilis Version des zukünftigen Zusammenlebens, macht auf das diskrepante Verständnis von der homosexuellen Beziehung und Bilis klischeehafte Vorstellung vom Eheleben aufmerksam. Im Rahmen einer Märchenerzählung will Lola Bili aufklären und versucht deutlich zu machen, dass sein/ihr männliches biologisches Geschlecht einen Teil seiner Liebe zu ihm/ihr ausmacht und eine Geschlechtsänderung deswegen diese Liebe gefährden

auch von deutsch-türkischer Subversion, die in der exzessiven Gewalt (Blutrache, Kastration, Mord) ihre Manifestation findet. 93 Kutluğ Ataman: Lola und Bilidikid, 48:44-51:03.

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wird. In der phantasierten Geschichte werden Weiblichkeit und Tod zusammengeführt: Eine chirurgische Behandlung bedeutet für Lola das Ende ihres transvestischen Daseins bzw. ihrer Geschlechtsidentität. Das Märchen vom Leben als Frau ist das Letzte, was Lola vor seinem/ihrem Tod erzählt, bevor sie in der Tat in weiblichem Kostüm stirbt. Weiblichkeit und Opfersein werden innerhalb der konstruierten Machtstrukturen (Bili, Lolas Familie, das Kreuzberg-Milieu, drei Rechtsradikale) in Lolas weiblichem Kostüm codiert. Bereits während seines/ihres ersten Bühnenauftritts als Drag Queen ahmt Lola die Opferstellung der Gastarbeiterinnen in der Gesellschaft nach. Er/sie begrüßt sein/ihr Publikum und leitet den Tanz mit einer kurzen komischen Show ein, von der man nur die erste Szene sieht und den Rest im Hintergrund hört, während die Kamera die Parallelhandlung mit Bili während des Geschlechtsakts zeigt. Lola geht in Bauchtanzkostüm auf die Bühne, setzt sich ein Kopftuch auf und zieht eine leidende Grimasse, während sie das Publikum auf Türkisch mit den Worten »Liebe Freunde, ich sterbe«94 begrüßt – eine ironische Verspottung der Betroffenheit von Gastarbeiterinnen, die allerdings in Form einer weiblichen Figur überzeugend wirkt. In dieser Darstellung und Kostümierung ähnelt Lola vor allem seiner/ihrer handlungsunfähigen Mutter, stellt aber gleichzeitig einen Kontrast durch die Kostümierung als Bauchtänzerin dar. Das Motiv der leidenden Frau bzw. Märtyrerin überwiegt im Film auch in den homosexuellen Beziehungen, insofern sie den Gegenpol zur übersteigerten männlichen Position bildet. Die höchste Verkörperung des Frauenopfers findet im Zitat der ertrunkenen Ophelia ihren Ausdruck: Lolas schwimmende Leiche in der Spree lässt vor allem an John Everett Millais’ Gemälde Ophelia (1851/52) denken (vgl. Abb. 9 und 10)95 und ist eine Ästhetisierung des weiblichen Frauenopfers bei der Darstellung des Todes,96 vor allem da die Perücke und die Schminke intakt bleiben:

94 Kutluğ Ataman: Lola und Bilidikid, 4:00. 95 Und außerdem an George F. Watts’ Found Drowned (1848) und Paul Delaroches La jeune martyre (1855). 96 Vgl. Bronfen, Elisabeth: Over Her Dead Body, New York: Routledge 1992, S 5.

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Abbildung 9: Der Transvestit als weibliches Opfer

Lola und Bilidikid – Kutluğ Ataman

Abbildung 10: Die ertrunkene Ophelia als Topos für das weibliche Opfer

Ophelia – John Everett Millais (1851/52)

Die Anlehnung an Millais’ Gemälde ruft mehrere Assoziationen hervor, die mit Weiblichkeit eng verbunden sind: Ophelia ist die Verkörperung weiblicher Schönheit, Unschuld und des Wahns. Dadurch verweist der Film auch auf die eigene Handlung, denn Lolas Erscheinen in Frauenkostüm im Familienhaus wurde von seiner/ihrer Mutter als Zeichen des Wahns verstanden: Für sie war der Anblick ihres Sohnes als Frau ein Witz, über den sie lachen musste. Sowohl der Verlust der Familie als auch des Geliebten Bili wurden außerdem durch

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sein/ihr Auftreten als Frau ausgelöst: Die letzte Diskussion vor ihrem Tod war eine Auseinandersetzung mit Bili über die (Un-)Möglichkeit der operativen Änderung seines/ihres Geschlechts. Das lässt seinen/ihren Tod zum Teil als Aufopferung für den Geliebten erscheinen, ein Eindruck, der im Film verstärkt wird durch die Darstellung des Körpers in einer gekreuzigten Haltung, die das Leiden vor ihrer Ermordung und die Verschwörung, die dahinter steckt, symbolhaft darstellen. Als Träger/in von Männlichkeit und Weiblichkeit verkörpert Lola jedoch eine dritte Ebene von Alterität und stirbt deswegen nicht nur in männlichem Körper oder weiblichem Aussehen, sondern als Transvestit. Dies ist die letzte Notiz bzw. die Grabschrift, die der Film bezüglich Lolas Geschlecht hinterlässt: Der Zuschauer erfährt von Lolas Tod, als ein kleines Mädchen die schwimmende Leiche entdeckt und ihr zweimal die Frage stellt, ob Lola eine Meerjungfrau sei – eine mythologische Figur oder ein Fabelwesen, das ebenso zwei Wesen in einem Körper vereint (Frau und Fisch) und außerdem Lust, Verführung, Unschuld und Jungfräulichkeit verkörpert. Durch die rote Perücke wird seiner/ihrer Figur im Tod ein diabolischer Aspekt hinzugefügt, der zwar an seine/ihre Weiblichkeit erinnert, auf den zweiten Blick aber vor allem durch die grelle Farbe im Kontrast zum erblassten Gesicht abschreckendend wirkt.97 Die filmische Darstellung von Lolas Tod hält somit sein/ihr transvestitisches Wesen als letztes Erscheinungsbild fest: Lola ist als Mann geboren, stirbt in Frauenkleidung und hat als Transvestit gelebt: »Half (female) human, half animal, a wholly mythological being, these are the disparate parts of Lola’s life as epitaph.«98

97 Mennel sieht in der Frage des kleinen Mädchens eine weitere Anspielung auf Shakespeares Ophelia: Hamlets Mutter Gertrude bezeichnet Ophelia in der Rede über sie nach ihrem Tod als ›Mermaid-Like‹. Vgl. Barbara Caroline Mennel: The Representation of Masochism and Queer Desire in Film and Literature, S. 169. 98 Hillmann, Roger: Lola and Billy the Kid. A Turkish Director’s Western Showdown in Berlin. Post-Script: Essays in Film and the Humanities 25:2 (2006), S. 44-55. Hier aus: www.freepatentsonline.com/article/PostScript/143723766.html. Die Entdeckung von Lolas Leiche in der Spree fügt dem transzendierenden Moment (Leben und Tod/Erde und Wasser/Männlichkeit und Weiblichkeit) eine historische Dimension hinzu. Die

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6.3.3 (Ent-)Transvestismus Eingeleitet wird die kulturelle Bedingtheit der Verkleidung bzw. Entkleidung durch den Verzicht der Drag Queens auf ihr weibliches Kostüm, sobald sie sich im türkischen Kreuzberg blicken lassen: Die drei Transvestiten halten sich an die Kleiderordnung, die eine klare Trennung zwischen dem türkischen ›Ghetto‹ und ihrem sonstigen Erscheinen auf der Straße zieht. Die Restriktion ist in diesem Fall kultur- bzw. traditionsbedingt und sieht strikte Kleiderregeln vor, die von einer Kostümierung ausgehen, die dem biologischen Körper entsprechen. Vor allem Lola, der/die sonst nur in Frauenkleidung zu sehen ist und sich auch hauptsächlich über dieses Erscheinen definiert, beschränkt sich auf die biologische Seite seiner/ihrer Identität und ist im Kreuzberger Milieu ausschließlich in Männerkleidung zu sehen. Man kann von einem doppelten Transvestismus sprechen, bei dem er/sie seinen/ihren Transvestismus transvestieren muss. Das Auftreten im türkischen Milieu ist demnach mit einem Verlust bzw. Verzicht auf den weiblichen Teil seiner/ihrer geschlechtlichen Identität verbunden, der für Lola ein wesentliches Element seiner/ihrer Existenz als Transvestit ausmacht: Lola kann entweder Türke/in oder homosexuell sein. Lolas Perücke wird in diesem Kontext zu einem wiederkehrenden Leitmotiv im Film und funktioniert zunächst als wesentliches konstruierendes Element von (Lolas) Feminität. Die Perücke ist außerdem als Fetisch der Weiblichkeit zu betrachten,99 der im homoerotischen Kontext wieder an die Differenz zwischen sex und gender und die zwischen ihnen bestehende Dissonanz erinnert. Sie ersetzt die in Lolas Fall fehlenden weiblichen Genitalien und fixiert außerdem als Erstes

Spree steht bekanntlich für die Teilung zwischen West- und Ostberlin. Identifiziert wird der Fluss gleich in der Szene, die nach dem Filmen der schwimmenden Leiche folgt und die Oberbaumbrücke zeigt. Der Ort des Todes soll nicht anonym bleiben. Er wird mit dem historischen Hintergrund in Verbindung gebracht und somit als Epitaph gelesen. Für die Bedeutung weiterer Orte im Film vgl. Christopher Clark: Sexuality and Alterity in German Literature, Film and Performance 1968-2000, S. 200-202. 99 Freud schreibt über Fetischismus, dass »Pelz und Samt […] den Anblick der Genitalbehaarung [fixieren], auf den der ersehnte des weiblichen Glie des hätte folgen sollen«. Vgl. Freud, Sigmund: Das Ich und das Es. Metaphysische Schriften, Frankfurt a.M.: Fischer 2005, S. 332.

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den Blick auf die Erscheinungsform als Frau. Nach Lolas Tod wird seine/ihre Inkarnation in der Figur des Bruders Murat zunächst durch die Perücke und erst zum Schluss auch durch das Kostüm ermöglicht. Die Perücke, wegen der Lola von seiner/ihrer Familie auf die Straße gesetzt wurde, ist im Film außerdem ein Erbstück, das über zwei Generationen unter den Familienmitgliedern zirkuliert, bis Lola sie kurz vor seinem/ihrem Tod bekommt. Die Perücke wird dementsprechend zu einer Bindung, die die Brüder im Laufe der Handlung zusammenführt, und außerdem zum Medium, das die wahre Geschichte hinter Lolas Verbannung enthüllt: Murat berichtet seiner Mutter von der Perücke, die er als Kind in ihrem Schrank gefunden hat, und erfährt daraufhin die Geschichte seines Bruders. Beim einzigen Treffen von Lola und Murat vor Lolas Ermordung schenkt er/sie Murat seine/ihre alte Perücke, die an dieser Stelle neu bzw. diametral zur früheren Bedeutung codiert wird: Während die Perücke früher zur Trennung von der Familie führte, wird sie an dieser Stelle im Film zum Zeichen der brüderlichen Verbindung. Ihr Anblick löst keinen Widerwillen mehr aus, sondern wird in dieser Begegnung zwischen den zwei Brüdern zum Symbol der Akzeptanz und der (geschlechtlichen) Identifikation. Die Umcodierung des Symbols wird allerdings kurze Zeit später zurückgesetzt und die Perücke wird erneut mit einem Ende bzw. dem Tod verknüpft. Es ist genau dieses weibliche Requisit, das Lola in der letzten Szene vor seinem/ihrem Tod trägt und schließlich auch, als er/sie als Leiche im Wasser schwimmend zu sehen ist. Durch die Signifikanz, die der Perücke im Laufe der Filmhandlung zukommt, erscheinen die Szenen, in denen sie geraubt oder abgelegt wird, als ›Enttransvestierung‹ (die eine Parallele zur Entmannung des Neonazis in der Showdown-Szene bildet), was als Entzug des Rechts auf eine ›dritte Positionierung‹ zu verstehen ist. Von den drei Neonazis wird die Perücke als Zeichen von Lolas (Selbst-)Identifikation als Transvestit erkannt. Sie rauben somit das Symbol von Lolas Weiblichkeit. Neben dieser Perücke wird im Film der Besitz und Verlust männlicher oder weiblicher Körperteile verhandelt und auf die Kategorienkrise des ›Dritten‹ verwiesen. In Lola und Bilidikid geht es an verschiedenen Stellen um Fragen der Körperlichkeit bzw. zum Teil auch um den deformierten Körper. Vor ihrem ersten Bühnenauftritt sucht Kalipso in der Garderobe seine/ihre »Titten« (gemeint sind Einlagen für ihren Büstenhalter), die Şehrazat vor der Show an sich genommen hat,

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und lässt ein Element der Weiblichkeit als ›Prothese‹ erscheinen.100 Die Diskussionen über Lolas Geschlechtsänderung thematisieren auch mehrfach den Penisverlust, entweder als Gefährdung der männlichen Seite eines Transvestiten (»Eine Frau muss auf ihren Schwanz aufpassen«101) oder als Wunsch nach Auslöschung eines konstituierenden Teils der Männlichkeit des Homosexuellen, um ihn zur Heterosexualität zu bekehren: »Wenn es sein muss, schneide ich dir den Schwanz ab.«102 Den Höhepunkt des Verlusts von geschlechtsdefinierenden Körperteilen bildet die Kastration des Rechtsradikalen – in diesem Fall ein Verlust, den keine Prothese mehr ersetzen kann. In dieser Szene realisiert sich Bilis Drohung allerdings nicht an Lola, sondern an ihrem vermeintlichen Mörder. Hier zeigt sich vor allem, dass die Rache nur im Akt der Entmannung des Rechtsradikalen erfolgen kann, der als Rekonstruktion von Bilis Traum vom Verlust von seiner/ihrer Weiblichkeit zu verstehen ist. Auf spielerische Art praktizieren die Transvestiten im Film eine Bewegung zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit, bei der die sie trennende Linie verschwimmt. In einem Gespräch zwischen der Drag Queen Kalipso und der türkischen Nachbarin erreicht die Geschlechter(un)ordnung durch ihre mehrfache Destabilisierung ihr Maximum: Kalipso zeigt sich im türkischen Kreuzberg unerwarteterweise in Frauenkostüm. Als Lola und Şehrazat ihn/sie in Männerkleidung abholen gehen, erkennen sie gleich die Gefahr, von der sie aufgrund von Kalipsos Transvestismus im konservativen Kreuzberger Milieu bedroht sind: »Wegen ihr [Kalipso] werden wir hier gelyncht.«103 Die türkische Nachbarin, eine klischeehafte und konservative Darstellung der anatolischen Frau im Gastarbeitermilieu, ist beim Anblick Kalipsos als Frau zunächst entsetzt und glaubt, Kalipso wäre schon immer eine Frau gewesen, die als Mann verkleidet war – d.h. sie vermutet das genaue Gegenteil über Kalipsos geschlechtliche Identität. Der Akt des Transvestismus befindet sich in der »heteronormativen Matrix« jenseits einer denkbaren Vorstellung. Kalipso lässt sich auf die irrtümliche Annahme der Nachbarin ein und erklärt, sie müsse sich als Frau unter

100 Barbara Caroline Mennel: The Representation of Masochism and Queer Desire in Film and Literature, S. 163. 101 Kutluğ Ataman: Lola und Bilidikid, 48:30. 102 Ebd. Das Zitat stammt von Bili. 103 Ebd., 18:21.

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vielen Männern beschützen und sei deswegen bislang nur in Männerkleidung erschienen. Die Nachbarin scheint zunächst die Begründung zu glauben und Verständnis für Kalipsos Verhalten zu haben. Bevor Kalipso jedoch das Haus verlässt, ironisiert er/sie die keusche Selbstdarstellung, indem er/sie provokativ eine Affäre mit dem Ehemann der Nachbarin impliziert: »Ich werde dich vermissen. […] du warst so nett zu mir. Aber dein Mann war noch netter«,104 woraufhin er/sie von der Nachbarin angespien wird. Das Oszillieren bei der Verkörperung von klischeehaftem weiblichem Gebaren (Keuschheit und Jungfräulichkeit versus verhängnisvolles und verführerisches Verhalten) lässt das transvestitische Verhalten zum Schluss der Szene für die Nachbarin ungreifbar erscheinen. Dass Kalipsos Transvestismus als Schutz oder als weibliche Verführung unter Männern dient, weist auf die Komplexität und die häufige Doppeldeutigkeit von Geschlechterdefinierungen hin. In dieser Szene spielt Kalipso mit den Möglichkeiten, die durch den Transvestismus gegeben werden. Aus dem Spiel resultiert in erster Linie eine doppelte Inversion der geschlechtlichen Grenzen. Die zwei Hauptfiguren Kalipso und Şehrazat zeigen, wie die Geschlechtergrenzen im transvestitischen Kontext aufgebrochen werden. Sie stehen im Film für das Camp als homosexuellen männlichen Stil, der im Film als karnevaleskes Ausdrucksmittel zu verstehen ist. Camp bzw. campy, das sich im Deutschen mit ›kitschig‹, ›schwülstig‹ und ›altmodisch‹ beschreiben lässt, bezeichnet unter Schwulen und vor allem Drag Queens eine Verkleidungsmanier, die theatralisch und überzeichnet ist. Oft wird Camp unter Schwulen oder Drag Queens bewusst parodistisch inszeniert: »Broadly defined, Camp refers to strategies and tactics of queer parody.«105 In Atamans Film fügt dieses Stilmittel auch eine Dimension der Komik hinzu, so dass Kalipso und Şehrazat als Figuren des Comic Relief ein Gegengewicht zur tragischen Figur Lola bilden.106 Die zwei Figuren präsentieren eine Möglichkeit, wie das Geschick von homosexuellen deutsch-türkischen Männern auch verlaufen kann: Im Gegensatz zu Lola träumt Kalipso

104 Ebd., 19:46-19:52. 105 Meyer, Moe: Introduction: Reclaiming the Discourse of Camp, in: Ders. (Hg.): The Politics and Poetics of Camp, London: Routledge 1994, S. 122, hier S. 9. 106 Für die Verbindung zwischen Camp und dem Karnevalesken vgl. ebd., S. 1-22.

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z.B. von einer operativen Geschlechtsänderung. Sein/ihr Wunsch nach Geld und Reichtum resultiert für ihn/sie aus diesem Traum und führt an manchen Stellen zu einer situativen Komik. Der Filmabspann zeigt die zwei Transvestiten Kalipso und Şehrazat in einem Taxi als Frauen gekleidet, während sie durch den Berliner Tiergarten fahren. Kalipso will die wertvolle Brosche im Gebüsch suchen, die Friedrichs Mutter Iskender gegen Aufgabe der Beziehung mit ihrem Sohn angeboten hat, wovon unter Punkt 6.3.4 ausführlicher die Rede sein wird. Der Film endet, nachdem sie das Juwel gefunden haben und mit dem türkischen Taxifahrer in Richtung Siegessäule fahren, die die Handlung als Phallussymbol umrahmt: Trotz der Irrfahrt deutet diese Schlussszene auf zukünftigen Wohlstand und Wandel hin. Die Komik der letzten Sequenz funktioniert durch die Doppeldeutigkeit der Aussagen sowohl der Drag Queens als auch des türkischen Taxifahrers. Es bleibt scherzhaft offen, ob er mit den zwei Transvestiten als Frauen oder als Transvestiten kokettiert. Abgeschlossen wird die Handlung also mit einer filmischen Ambivalenz. 6.3.4

Die gleichgeschlechtliche Mésalliance: Zur Interdependenz von Ethnizität, Klasse und Gender im homosexuellen Kontext

Wie sich bereits bei der Analyse von Keloğlan in Alamania und Ich Chef, Du Turnschuh gezeigt hat, ist die Vermählung mit einer deutschen Braut mit dem Wunsch nach Aufnahme und Aufstieg in der deutschen Gesellschaft verbunden. Während in Özdamars Theaterstück die Eheschließung im Rahmen des Märchenhaften stattfindet, zeigt sich die Heirat des Hohen mit dem Niedrigen in Kutluçans Film auf verschiedenen Ebenen: die bürgerliche Schicht und der illegale Außenseiter sowie der Zusammenschluss von Angehörigen verschiedener Generationen. Trotz der Unterschiede wurde dabei sowohl im Theaterstück als auch in der Filmkomödie eine Bewegung innerhalb einer Machtstruktur gesucht. Was geschieht aber, wenn die standesungemäße Verbindung im Rahmen einer homosexuellen Beziehung stattfindet? Werden Machtstrukturen zwischen der Ober- und Unterschicht dabei konsolidiert oder eher erschüttert? Die Liebesgeschichte zwischen einem Aristokraten oder Angehörigen der Oberschicht und einem ›Proletarier‹ ist ein wohlbekannter literarischer und filmischer Topos, ein Traum von der romantischen

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Liebe, die soziale Schranken überwindet. Ein berühmtes Beispiel aus dem Hollywood-Kino ist Garry Marshalls Pretty Woman von 1990. Die Geschichte zwischen dem Millionär und der Prostituierten entspricht in Lola und Bilidkid dem Beginn der Bekanntschaft sowie der Entwicklung der Beziehung zwischen Iskender und Friedrich von Seeckt, die sich zum Schluss zu einer glücklichen Liebesgeschichte entfaltet.107 Das Paar, das sich beim anonymen, nächtlichen Geschlechtsverkehr im Tiergarten kennenlernt, ist in der weiteren Filmhandlung nur in exklusiven Restaurants oder der prunkvollen Villa von Friedrichs Mutter zu sehen. Vor allem im Vergleich zu Friedrichs vornehmem Verhalten, noblem Lebensstil und seiner Liebe zu feinen, ästhetischen Details (Friedrich ist Architekt) fällt Iskenders ›Kanakensein‹ extrem ins Auge (silberne Ringe, große, silberne Gürtelschnalle, Koteletten, Kinn- und Schnurrbart). Die Gegenüberstellung führt in vielen Szenen zu einer Situationskomik, etwa durch Iskenders schlechte Tischmanieren in einem exklusiven Restaurant oder seine Schwierigkeiten, Friedrichs französischen Sprachgebrauch zu verstehen.108 Der Topos aus Shakespeares The Taming of the Shrew wird in Atamans Film invertiert: Der Wilde stammt aus der unteren Schicht und wird nicht gezähmt, sondern ist derjenige, der in der Beziehung mit dem Aristokraten herrscht. Im Laufe der Handlung ist es z.B. Iskender, der Friedrich beim Kennenlernen mitteilt, als Stricher verliebe er sich nicht in seinen Geschlechtspartner, der über den Weiterverlauf der Beziehung entscheidet und der sich zum Schluss zur Liebe mit Friedrich bekennt. Die Darstellung des deutschen Aristokraten zeichnet sich hingegen durch eine Weichheit und Abhängigkeit von Iskender aus. Die bisher besprochenen imperialistischen Phantasien in Keloğlan in Alamania, Ich Chef, Du Turnschuh sowie in Schwarze Jungfrauen ruhen auf heterosexuellen Visionen: Die Nation wird als weiblich oder jungfräulich imaginiert und soll im ersten Fall den Mann aufnehmen und im zweiten sich ihm unterwerfen. In homoerotischen männlichen Beziehungen wird die Vorstellung von der Unterlegenheit des kulturell

107 Kutluğ Ataman absolvierte sein Filmstudium an der University of California in Los Angeles, womöglich ein Grund für den Einfluss der Hollywood-Tradition. 108 Es lässt sich bemerken, dass das Fehlen der Heterosexualität im Film parallel zur fehlenden Bürgerschicht verläuft.

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Anderen durch seine Homosexualität befriedigt. Seine geschlechtliche Orientierung wird als verfehlte Männlichkeit bzw. ›Verweiblichung‹ betrachtet und somit als Zeichen der Schwäche oder als Opferstellung codiert.109 In der cross-ethnischen Beziehung zwischen Iskender und dem Berliner Aristokraten wird diese Vorstellung im Film nivelliert: Durch die Figur Friedrichs wird die Isolation unter homosexuellen türkischen Männern, die sonst mit einer effeminierten Betrachtung des Orientalen einhergeht, aufgehoben. Wenn die Macht über den Orient, wie bisher besprochen u.a. durch die sexuelle Eroberung des als weiblich phantasierten Anderen vollzogen wird, dann wird dieses Muster im Rahmen der cross-ethnischen homosexuellen Beziehung in Lola und Bilidikid durchbrochen. Wie sich bei der Analyse der Beziehung von Lola und Bili sowie des Verhaltens der Transvestiten in Kreuzberg gezeigt hat, existiert jeweils ein Antagonist, der ethnische, geschlechtliche und soziale Grenzüberschreitungen blockiert. Der homosexuelle Macho oder die Rechtsradikalen stehen im Film paradigmatisch für den Abbruch ›dritter‹ Möglichkeiten. Ethnizität, soziale Klasse und Gender geraten aufgrund dessen an manchen Stellen miteinander in Konflikt, der im Versuch der Wiederherstellung von homogenen Kategorien begründet ist. Den Antagonisten zur Beziehung zwischen Iskender und Friedrich verkörpert die adelige Mutter Ute, die der nationalen und sozialen Grenzüberschreitung, symbolisiert durch Friedrichs und Iskenders Beziehung, entgegenwirkt. Die Mutter interpretiert Friedrichs Liebe zu Iskender als Ausdruck seines »Ausgehungertseins im Osten«.110 Die Aussage der Mutter bezieht sich auf die Neigung zur Fetischisierung von Kapital nach dem Mauerfall, die sich in diesem Fall sogar auf die Liebesbeziehung überträgt. Iskender ist ein Gigolo, d.h. ein Symbol der käuflichen Liebe. Sie interpretiert die Mésalliance als Ausdruck der Konsumhaltung ihres Sohns. Für sie versteht Friedrich das (kapitalistische) Prinzip hinter der käuflichen Liebe nicht, weshalb er Liebe und Sex verwechselt, überdies ohne Beachtung des (niederen) sozialen

109 Im Zusammenhang mit schwarzen Schwulen spricht der Kulturkritiker Kobena Mercer von »black gay men who are seen as having failed phallic manhood by succumbing to homosexual desire«. Vgl. Mercer, Kobena: Welcome to the Jungle. New Positions in Black Cultural Studies, New York: Routledge 1994, S. 168. 110 Kutluğ Ataman: Lola und Bilidikid, 1:07:06.

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Stands seines Partners. Ute befürchtet, ein neues Gesetz könnte die Heirat zwischen Homosexuellen erlauben und der türkische Stricher könnte »zum Alleinerbe des Seeckt’schen Vermögens« werden.111 Die Aussagen der Mutter beziehen sich auf einer ersten Ebene ganz konkret auf die Furcht vor der ›Vermählung‹ der deutschen Aristokratie mit der unteren gesellschaftlichen Schicht. Die Beziehung versteht sich als Interferenz in den Stammbaum der aristokratischen Familie. Auf einer allgemeineren Ebene stehen die Aussagen für viele Befürchtungen, die durch Konfrontation mit den nicht geographischen, sondern auch sozialen und ökonomischen Grenzüberschreitungen und -verschiebungen nach dem Mauerfall ausgelöst wurden. Trotz ihrer Kritik an der Konsumhaltung ihres Sohns verfolgt sie das gleiche Prinzip: In einem Versuch, Iskender zu ›bestechen‹, will sie ihm ihre wertvolle Brosche geben unter der Bedingung, dass er seine Beziehung mit Friedrich beendet.112 Der deutsch-türkische Stri-

111 Ebd., 1:07:33. 112 Parallel zu Friedrichs Mutter verläuft die Konstruktion der häuslichen Rolle der türkischen Mutter, durch die die Gefangenschaft türkischer Frauen im Migrantenmilieu verkörpert wird. Bei der Darstellung der türkischen Mutterfigur zitiert der Film einige bekannte Beispiele aus den Anfängen des Migrantenkinos, z.B. Tevfik Başers 40 Quadratmeter Deutschland (1986) oder Hark Bohms Yasemin (1988). Durch die Etablierung von zwei einander gegenübergestellten sozialen Polen wird die nationale und soziale Grenzüberschreitung ermöglicht. Ähnlich wie Ute verzichtet die türkische Mutter ebenfalls auf einen konstituierenden Teil ihrer häuslichen Rolle: Als sie die wahre Geschichte über Lolas Homosexualität und über seine/ihre inzestuöse Vergewaltigung und Ermordung durch den eigenen Bruder Osman erfährt, verwandelt sich ihre bisher unterwürfige (und klischeehafte) Opferhaltung in ihr Gegenteil; sie ist nicht mehr Osman als Oberhaupt der Familie untergeordnet. In dieser Szene verlässt sie zum ersten Mal den klaustrophobischen Ort des Familienhauses. Auf der Straße reißt sie ihren Schleier vom Kopf und lässt ihn auf die Straße fallen als Zeichen der Abwendung von der passiven Mutterrolle, der Befreiung von der Gefangenschaft durch die Fremdbestimmung und des Verlassens der weiblichen Rolle häuslichen Arrests. Mehr zu dieser Szene findet sich in: Mennel, Barbara: Masochism, Marginality, and Metropolis: Kutluğ Ataman’s Lola and Billy the Kid, in: Studies in Twentieth Century Literature, 28:1 (2004),

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cher verkörpert den Prototypen des armen, besitzlosen Türken, der jedoch stolz und moralisch handelt. Er lässt sich dementsprechend nicht kaufen, sondern wirft die Brosche weg. Damit widerlegt er den Vorwurf, er könnte ein Hochstapler sein. Er lehnt die Macht des Kapitals ab, mit dem man vermeintlich Gefühle und Beziehungen erkaufen kann.113 Ähnlich wie die deutschen Bräute in Keloğlan in Alamania und Ich Chef, Du Turnschuh kann die Figur der Mutter als nationale Allegorie gelesen werden: Ute lebt in einer überzeichneten Form von Aristokratie (Pelzmantel, Sprachgebrauch, Eigentumsbegriff) und steht mithin für die Sehnsucht nach einer Zeit, als die adlige Schicht noch Standesprivilegien hatte. Auch in Atamans Lola und Bilidikid wird das Projekt der Nationenbildung in die Filmhandlung eingeflochten: Die Mutter äußert, im Gegensatz zu ihrem Sohn, den Wunsch nach nationaler Homogenität, Grenzziehung, Trennung, und befindet sich fern von Grenzüberschreitungen nach dem Mauerfall. Die Präsenz der Mutterfigur verweist auf den Hintergrund, vor dem sich die Ereignisse nach der Wiedervereinigung abspielen, und bringt verschiedene Begriffspaare ins Spiel: Aufnahme und Ausschließung, Grenzziehung und Vermischung, Vermählung, Einheit und Trennung.

S. 289-318, v.a. S. 307f.; Claudia Breger: Queering Macho-Identitites?, S. 140f. sowie in: Christopher Clark: Sexuality and Alterity in German Literature, Film and Performance 1968-2000, S. 216. 113 Ein bekannter Topos im Hollywood-Kino: Man denke beispielsweise an Adryan Lynes Indecent Proposal von 1993, der allerdings in einem heterosexuellen Kontext spielt.

VII Schlusswort: Künstlerische Produktionen deutsch-türkischer Migrantinnen und Migranten und die Migration als Performance

Während der Phase der Betroffenheit ging es primär um Fragen der Identität, die sich zwischen einer zurückgelassenen Heimat und einem neuen Aufenthaltsort formiert. In der daran anschließenden Phase überwiegten interkulturelle Themen, die Deutschland der Türkei gegenüberstellten. Es handelt sich um eine Phase, während der binäre Kulturschemata und die Differenzierung zwischen Selbst und Anderem zwar hinterfragt, gleichzeitig aber aufrechterhalten werden. Gegenwärtig dominieren transkulturelle Themen sowie humoristische Darstellungsmodi – eine Umkehrung der ersten ›Leidphase‹ –, wie bereits im einleitenden Teil eingeführt und in den Analysen veranschaulicht wurde. In der jetzigen Phase werden künstlerische Produktionen nicht als Ausdruck der Entfremdung oder Versuch der Selbstpositionierung hervorgebracht. Nun ergibt sich die Frage nach der Zukunft deutsch-türkischer Produktionen: Welche Phase folgt auf die jetzige ›Ankunftsphase‹? Welche künstlerischen, medialen und ästhetischen Entwicklungen charakterisieren wohl den nächsten Zeitraum? In den letzten Jahren machte sich eine zunehmende Distanzierung von der Literatur als Medium bemerkbar, eine Tendenz, der im vorliegenden Buch anhand der Medienauswahl nachgegangen wurde.1 Das

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Selbstverständlich gibt es Autoren, die literarisch aktiv geblieben sind wie z.B. Zafer Şenocak, von dem 2009 der Roman Der Pavillon und 2011 Deutschsein: Eine Aufklärungsschrift erschienen sind. Letztere befasst

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Theater, Kabarett, Kino oder die digitalen Medien, etwa Youtube, tragen zu einem neuen Verständnis von Migration bei und werden deswegen zunehmend zu favorisierten Aufführungsformaten. Sie heben den Aspekt der Körperlichkeit sowie die Artikulation mittels der Stimme hervor. Man kann sagen, dass die jetzige Phase der Migration von Migrationssubjekten bzw. Akteuren getragen wird, die durch den audiovisuellen Charakter der ausgewählten Darstellungsmedien eine verstärkte Präsenz zeigen, wie neulich in der Forschung festgestellt wurde: »[M]igrants often strategically use mass media, such as film and television, and the visual and performance arts to claim cultural space, social visibility, or a political voice.«2 So kann man sagen, dass die Hinwendung zu neuen audiovisuellen Medien deutsch-türkischen Künstlerinnen und Künstlern einen passenden Rahmen für die performative Darstellung von Migration darbietet: Grenzüberschreitung, Ethnic Drag, die Aufführung und der Wechsel von multiplen Zugehörigkeiten spiegeln die gegenwärtige Phase wider und lassen sich anhand der erwähnten Medien sehr gut realisieren. Durch die zunehmende Hinwendung zu audiovisuellen Medien leisten die deutsch-türkischen Künstlerinnen und Künstler einen Beitrag zum Projekt der Nationenbildung, was sicherlich auch aufgrund der Popularität dieser Medien – es war bereits die Rede von der Fernsehserie Türkisch für Anfänger – funktioniert. Thematisch betrachtet hat die Analyse eine Tendenz zu islamischen (Schwarze Jungfrauen) oder deutsch-deutschen (Das Kabarett von Serdar Somunçu) Themen gezeigt. Beiden Themen gemeinsam ist, dass sie Teil der deutschen Gegenwart sind. So ist zu erwarten, dass in der jetzigen und nächsten Phase die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte aufgegriffen und außerdem an die islamische Gegenwart Deutschlands erinnert wird. Wenn die gegenwärtig aktiven deutsch-türkischen Künstler in Deutschland geboren und/oder aufgewachsen sind, dann ist zu erwarten, dass die Migration selber im Laufe der Zeit zu einer Show wird,

sich, wie der Titel verrät, mit der deutschen Identität und der Vorstellung von einer homogenen Nation.

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Davis, Rocío G./Fisher-Hornung, Dorothea/Kardux, Johanna C.: Introduction: Aestetic Practices and Politics in Media, Music, and Art, in: Dies. (Hg.): Aestetic Practices and Politics in Media, Music, and Art. Performing Migration, New York: Routledge 2011, S. 1-11, hier S. 4.

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die performativ auf der Bühne oder der Leinwand dargestellt wird. Es ist zu erwarten, dass die Erinnerung an die Migration und nicht die Migration selber in den Vordergrund rückt. Die Migration wird verstärkt zu einer (Bühnen-)Performance, die von deutsch-türkischen Künstlerinnen und Künstlern als (Familien-)Sage imaginiert und/oder erinnert wird. Gegenwärtig macht sich die Figur des Rentners bemerkbar, die allegorisch zu deuten ist: Die Migrationsgeschichte wird alt.3 Sie wird zwar nicht sterben, sondern kommt in das Archiv und bildet ›nur‹ einen Teil der Familiengeschichte der gegenwärtig in Deutschland lebenden Deutsch-Türken. Parallel zum Abklingen der deutschtürkischen Migrationsthematik wird sicher ein globales Setting verlaufen. Es wird durch Mobilität charakterisiert und macht sich ästhetisch (z.B. durch nicht-lineare Erzählformen) und thematisch an der Vernetzung verschiedener Schicksale über Grenzen hinweg bemerkbar. Zu erwarten ist nicht nur, dass neue Genres migrationsbedingt entstehen, sondern dass auch eine Rückkehr zu ›alten‹ Gattungen stattfindet wie z.B. zum Heimatfilm. Die Suche nach Wurzeln und Zugehörigkeit wird in diesem Fall mit einem harmonischen Zusammenfinden von Familienmitgliedern gekrönt. Ferner ist nicht nur eine Hinwendung zu globalen, sondern auch lokalen Orten zu beobachten.4 In diesem Fall bildet das Leben in der dörflichen Gemeinschaft das Negativbild zur Heimatsuche in verschiedenen Ländern und deutet auf ein neues Verständnis von Territorialität hin, das in der provinziellen Community die Geborgenheit innerhalb der Familie bzw. der Nation versinnbildlicht.

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Wie z.B. in Fatih Akins Gegen die Wand oder Auf der anderen Seite. Wie z.B. das Restaurant als Spielort der Handlung in Fatih Akins Soul Kitchen von 2009.

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Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Juni 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juni 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien März 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Zum Verstehen digitaler Kunst März 2012, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Lars Koch, Christer Petersen, Joseph Vogel (Hg.)

Störfälle Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2011

2011, 166 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1856-3 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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