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German Pages 528 Year 2015
Nadja Urbani Medienkonkurrenzen um 2000
Edition Medienwissenschaft
Meinen Eltern
Nadja Urbani (Dr. phil.) publiziert als Literaturkritikerin sowie Rezensentin und arbeitet als Lektorin in Stuttgart. Ihren Forschungsschwerpunkt der Medienkonkurrenzen fokussiert sie aus literaturwissenschaftlicher Perspektive.
Nadja Urbani
Medienkonkurrenzen um 2000 Affekte, Finanzkrisen und Geschlechtermythen in Roman, Film und Theater
Inauguraldissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie der Universität Mannheim. Dekan: Professor Dr. Kohring Gutachterin: Professor Dr. Karpenstein-Eßbach Disputation: 02.04.2014
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung | 7 1. Die drei mal drei Dimensionen | 7 2. Begriffe, Forschungsstand und Methodik | 21
I. DIE THEORIE DER MEDIENKONKURRENZ 1. Die Theorie des Romans: Eine literarische Gattung im Spannungsfeld der Medien und anderer Gattungen | 37 2. Filmtheorie: Das Kino der Bewegung und der Zeit | 67 3. Flüchtiger Elementarkontakt: Die Theorie des Theaters | 99 4. Resümee: Medienkonkurrenzen und -differenzen auf theoretischer Ebene | 127
II. DIE VITALAFFEKTIVE DIMENSION Das Motiv des Ekels und Ekelprovokationen in Roman, Film und Theater | 133 1. Nausea et Taedium: Ekelphänomene im Roman | 139 2. Anziehend abstoßend: Der Ekelaffekt im Film | 169 3. Die performative Beschmutzung: Ekeltheater | 207 4. Resümee: Ekelhaft! Ad honorem litera | 239
III. DIE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE DIMENSION Darstellungen der Finanz- und Weltwirtschaftskrise in Roman, Film und Theater | 245 1. Didaktische Reflexionen und Erklärungen: Die Finanzkrise im Roman | 249 2. Die Gesichter der Täter und Opfer: Finanz- und Wirtschaftskrise im Film | 289 3. Die kollektive Empörung: Geprobter Aufstand im Finanzkrisen-Theater | 329 4. Resümee: Krisengeschüttelte Ästhetik | 367
IV. DIE MYTHOLOGISCHE DIMENSION Amazonenfiguren in Roman, Film und Theater | 371 1. Mit doppelter Klinge: Amazonen im Roman | 377 2. Kampfbereit: Filmische Amazonen in der Medienkonkurrenz | 409 3. Etwas Drittes und auch Viertes: Amazonen im Theater | 447 4. Resümee: Sagenhaft emanzipierte Frauen | 473
ABSPANN Schlussbetrachtung: Mediale Erregungspotenziale um 2000 | 477 Quellen | 489 Literatur | 493 Abbildungsverzeichnis | 521 Danke | 525
Einleitung
1. D IE
DREI MAL DREI
D IMENSIONEN
An der Schwelle vom 20. ins 21. Jahrhundert hat sich eine technische Revolution ereignet, die auch die kulturellen Dimensionen nicht unberührt lassen konnte: Innerhalb von etwa einem Jahrzehnt, ca. ab den 1990er Jahren, wurden die technischen Gegebenheiten geschaffen, das weltweite Informationsgut zu digitalisieren, wodurch räumliche und zeitliche Grenzen der Verfügbarkeit überwunden wurden. Diese rasch zur Selbstverständlichkeit gewordenen Potenziale globaler Datenflüsse betreffen aber nicht allein den Bereich des Informationsaustauschs auf faktualer sowie kommunikativer Ebene, sondern ebenso den Bereich der Kunst: Die diversifizierten Möglichkeiten der technischen Medien scheinen der fiktionalen Literatur die Deutungshoheit streitig zu machen. Bücher stehen nicht mehr im Zentrum der Medienlandschaft, ihre Lektüre ist gar „buchstäblich exzentrisch geworden“1, so Jochen HÖRISCH. Diese Aussage wird durch die von der Studie Lesen in Deutschland 2008 der Stiftung Lesen2 je nach Auslegung der Ergebnisse tendenziell bestätigt.3 Während das Lesen im 20. Jahrhundert zunehmend durch die Konkurrenz von Radio, Film und Fernsehen geprägt wurde, ist inzwischen längst die von Friedrich
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Hörisch, Jochen: Vom Sinn zu den Sinnen. Zum Verhältnis von Literatur und neuen Me-
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Lesen in Deutschland 2008. Hg. v. Stiftung Lesen 2009.
dien. In: Merkur 55. Stuttgart 2001. S. 115. 3
Die neuen Medien scheinen Bücher zu verdrängen, folgt man Volker Titels Zusammenfassung der Studie hinsichtlich der Frage der Medienkonkurrenz: „Beruflich und privat sind der Computer und das Internet nahezu selbstverständlich geworden, auch im Vergleich der Angebote. Zwar steht noch immer das Fernsehen unangefochten an der Spitze der medialen Freizeitbeschäftigungen, doch mehr als ein Drittel der Befragten gibt an, deutlich öfter das Internet zu nutzen als Bücher zu lesen.“ Titel, Volker: Kein Ende des Buches in Sicht. Vom Schicksal der Lese- und Buchkultur. In: Lesen in Deutschland 2008. Hg. v. Stiftung Lesen 2009. S. 72.
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KITTLER prognostizierte Computerisierung der Gesellschaft eingetroffen.4 Gemeinsam ist all diesen Medien, dass sie der violentesten Form der Konkurrenz entstammen: dem Krieg. Sie sind ursprünglich militärtechnische Innovationen, die heute eine mildere Form der Konkurrenz austragen, indem ihre Unterhaltungs- und Informationsfunktion immer unüberschaubarere Ausmaße annimmt und sie um das hohe Gut der Aufmerksamkeit wetteifern. Inzwischen hat die Digitalisierung sämtliche Medien erfasst; alles lässt sich in Daten umwandeln und ist folglich „computable“, d. h. berechenbar. Durch diesen Prozess wird die Sphäre der Kunst auf dreierlei Ebenen unwiederbringlich geprägt: „Dichter schreiben [erstens] anders und unter anderen Bedingungen, wenn es den Film oder den Computer gibt.“5 Zweitens wird das von ihnen erzeugte Produkt technisch berechenbar in der Digitalität des 0/1-Codes. Unabhängig vom Inhalt kann nun aus sämtlichen künstlerischen Erzeugnissen ein Content werden, der drittens über das „Universalmedium“ des Computers rezipierbar wird. Der Computer hat sich inzwischen tatsächlich alle anderen Medien einverleibt: Überall und zu jeder Zeit sind Filme oder E-Books verfügbar, sowie auch Radiosendungen, Musik, Fotografie, bildende Kunst und natürlich Informationen und soziale Kommunikation. Sämtliche Künste haben sich diesem „Medienverbund auf Digitalbasis“6 angeschlossen – mit einer einzigen Ausnahme: jene, die auf dem Elementarkontakt des menschlichen Körpers basieren, wie die Performance-Kunst und vor allem das Theater. Zwar können ihre Aufzeichnungen digitalisiert werden, aber diese unterscheiden sich eklatant von ihrer ursprünglichen genuinen, nicht berechenbaren Performanz. Dennoch ist auch diese Kunstform ebenso wie der Film und die Literatur in ihrem Status als Einzel„medium“ stark gefährdet. Findet Kunstrezeption bald womöglich nur noch auf digitalem Wege statt, was eine Unüberschaubarkeit von Möglichkeiten bietet, wodurch es für das einzelne Kunstwerk kaum noch möglich ist, aus dem Datenpool hervorzustechen? Werden Kinoprogramme oder literarische Neuerscheinungen zukünftig obsolet in einer Menge von bereits verfügbaren und sich sekündlich erweiternden Daten? Fakt ist, dass mit diesem Prozess unweigerlich ein Wandel der Lesekultur einhergeht, qualitativ wie quantitativ.7 Repräsentative Befragungen seit dem Jahr 2000 4
Vgl.: Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900. 2., erw. Aufl. München: Fink 1987. Und: Karpenstein-Eßbach, Christa: Ode an die Technik. Friedrich Kittlers germanistische Wissenschaft von Krieg und Liebe. In: Ästhetik und Kommunikation. Kittler. Heft 158/159, 43. Jg. Hg. v. Herbert M. Hurka u. Dierk Spree. Berlin 2013. S. 101.
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Ebd., S. 101. Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900. 2., erw. Aufl. München: Fink 1987. S. 8.
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Titel, Volker: Kein Ende des Buches in Sicht. Vom Schicksal der Lese- und Buchkultur. In: Lesen in Deutschland 2008. Hg. v. Stiftung Lesen 2009. S. 72.
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kommen zu dem Ergebnis, dass in Deutschland jeder Vierte niemals ein Buch liest. Die „wahren Exzentriker“ unter den Lesern sind der Studie gemäß die sogenannten Viel-Leser von rund 3 Prozent, die mehr als 50 Bücher pro Jahr lesen. Während ihre Zahl seit 1992 gleich geblieben ist, degradiert der Anteil der Gelegenheitsleser (von 31 auf 25 Prozent). Darüber hinaus prognostiziert die Studie implizit, dass das Lesen immer exzentrischer wird, da 45 Prozent der 14- bis 19-Jährigen keinen Leseimpuls erhalten haben, wie z. B. durch Büchergeschenke in der Kindheit.8 Diese Zahlen geben angesichts der Vergleichszahl mit dem Konsum anderer Medien zu denken: 98 Prozent sehen täglich oder mehrmals wöchentlich fern – ihre Vergleichsgröße müsste demnach die Zahl der Viel-Leser sein, die lediglich 3 Prozent beträgt. Für das Selbstverständnis des Literaturbetriebs und der Literaturwissenschaft ist deshalb eine Reflexion dieses Kulturwandels am Übergang zwischen dem zweiten und dritten Jahrtausend notwendig. Sonst sei, so Wara WENDE, die Literaturwissenschaft gar auf dem Weg, „ein exotisches Orchideenfach, ein Fach für wenige Spezialisten“9 zu werden. Literaturwissenschaft hat sich also nicht nur – wie nach langem Ignorieren erfolgt10 – dem Phänomen zu widmen, dass ihre Texte nicht mehr nur gedruckt rezipiert werden, d. h. auch in anderen Medien wie Film, Fernsehen und den digitalen Medien gesehen und gehört werden. Jenseits dieser Fragen von Literaturadaptionen und Medienwechsel etwa durch Rewriting11, dem Text-Transfer vom 8
Kreibich, Heinrich; Schäfer, Christoph: „Lesen in Deutschland 2008“. Hintergründe, Zielsetzungen, zentrale Ergebnisse. In: Lesen in Deutschland 2008. Hg. v. Stiftung Lesen 2009. S. 11.
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Wende, Waltraud ‚Wara‘: Kultur – Medien – Literatur. Literaturwissenschaft als Medienkulturwissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. S. 8.
10 Vgl.: Paech, Joachim: Intermedialität (1997). Texte zur Theorie des Films. Hg. v. FranzJosef Albersmeier. 3. Aufl. Stuttgart: Reclam 1998. S. 447. Die Literaturwissenschaft hat sich selbst dem Theater zunächst sehr zögerlich zugewandt, woraus dann aber doch am Ende des 19. Jahrhunderts aus der Germanistik heraus die Theaterwissenschaft entstand, wie auch eine Medienanalyse aus der Perspektive der Germanistik die neuen Medien und den Film nicht länger ignorieren möchte. 11 Mit großem Missfallen stellt Milan Kundera fest, dass fast alle Texte für ein anderes Medium umgeschrieben werden: „REWRITING. Interviews, Gespräche, gesammelte Aussprüche. Adaptionen, Transkriptionen, Filmfassungen, Fernsehspiele. Rewriting als Geist unserer Zeit. ‚Eines Tages wird die gesamte vergangene Kultur noch einmal vollkommen umgeschrieben und hinter ihrem rewriting völlig vergessen werden‘.“ So lässt er den Meister in Jacques und seine Meister (Kunderas Theaterstück nach Diderot) sagen: „Alle, die sich herausnehmen, umzuschreiben, was bereits geschrieben war, sollen zugrunde gehen! Pfählen soll man sie und auf kleinem Feuer rösten! Kastrieren soll man sie, und ihnen die Ohren abschneiden!“
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Roman zum Film oder vom Drama/literarischen Text ins Theater,12 sind Fragen nach den medialen „Verkörperungen“13 zu stellen, wie vor allem: Welche Möglichkeiten stehen den anderen Medien potenziell und praktisch zur Verfügung, wenn sie Kunst – im Falle des Films meist im Gegensatz zu Literatur und Theater Massenkunst – produzieren? Dabei wird sich zeigen, ob es überhaupt einen Grund gibt, kulturpessimistisch anzunehmen, das Ende der Schriftkultur stehe bevor. Denkbar ist ebenso, dass die Literatur durch andere kulturelle Praktiken zu einer neuen Literarizität befruchtet wird. So haben Autoren mit dem Aufkommen des Films etwa begonnen, „ihre filmischen Wahrnehmungen in ihre literarische Schreibweise einfließen zu lassen“.14 Hans Magnus ENZENSBERGER stellt gar pathetisch eine vielschichtige intermediale Durchdringung von Künsten und Informationen fest: Es gibt heute Schriftsteller, die erklären, sie schrieben mit der Kamera; in den Studios werden die Möglichkeiten einer akustischen Literatur ausprobiert; Gerichtsprotokolle werden szenisch montiert; […] eine graphische und typographische Poesie tastet die visuelle Dimension der Literatur ab […]. Jeder Weg, könnte man meinen, ist ein Weg. Und jede Tür geht aufzumachen.15
Ebenso hat die Koexistenz der Medien Einfluss auf das Rezeptionsverhalten: Das an die neuen Medien gewohnte Publikum wird einen Roman unwiederbringlich anders lesen als die Rezipienten vor der technischen und digitalen Revolution. Dieser Entwicklung passt sich wiederum die literarische Produktion an, ebenso wie sich die Vermarktungsstrategien am modernen Medienbetrieb orientieren bzw. ihn sich zunutze machen: Texte werden multimedial vermarktet, und der Schriftsteller stili-
Kundera, Milan: Die Kunst des Romans. Essay. Aus dem Frz. v. Brigitte Weidmann. Frankfurt/Main: Fischer 1989. S. 150f. 12 Was in den 1970er und 80er Jahren die vorherrschende Methode der Germanistik war, dem „drohenden Relevanzverlust von Schrift“ entgegenzuwirken, bei der z. B. Literaturadaptionen aber lediglich als andere Textformen gelesen werden, woraus freilich keine Kenntnisse über die „je eigenen Logiken der Mittel“, d. h. die Potenziale jener Medien, in die die Texte transformiert werden, gewonnen werden. Karpenstein-Eßbach, Christa: Ode an die Technik. Friedrich Kittlers germanistische Wissenschaft von Krieg und Liebe. In: Ästhetik und Kommunikation. Kittler. Heft 158/159, 43. Jg. Hg. v. Herbert M. Hurka u. Dierk Spree. Berlin 2013. S. 98. 13 Ebd., S. 449. 14 Paech, Joachim: Literatur und Film. 2. überarb. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 1997. S. IX. 15 Enzensberger, Hans Magnus: Über Literatur. Hg. v. Rainer Barbey. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2009. S. 64f.
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siert seine Rolle als Literat ebenfalls in den Medien16 – bestenfalls auf eine exzentrische Art und Weise, wie noch festzustellen sein wird. So ist Christian SCHÄRF darin zuzustimmen, dass Romane heute „Produkte der Medienindustrie“ geworden sind und sich gar einer „Warenästhetik“ untergeordnet haben.17 Dennoch: Bei allen Anpassungsleistungen haftet der Literatur im 21. Jahrhundert, das von täglichem TV-Konsum und dem digitalen, vernetzten Aufzeichnen großer Datenmengen geprägt ist, der Geist des Extraordinären, ja eine gewisse hoheitsvolle Zerbrechlichkeit an. Weder der Begriff des Exzentrischen noch die Konkurrenz in der aktuellen Medienlandschaft müssen aber negativ besetzt sein. Im Wortsinne von „ungewöhnlich, abweichend“18, sich nicht um ein Zentrum drehend, hat Literatur etwas Eigenwilliges; Lesen ist exzentrisch, exotisch. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Literatur nur im Hinblick auf das Rezeptionsverhalten um 2000 exzentrisch, d. h. schlicht seltener geworden ist, oder ob Literatur in Abgrenzung zu anderen Medien bestimmte, sie exponierende, formalmediale Eigenschaften hat. Dies zu untersuchen ist auf den Punkt gebracht der Gegenstand dieser Arbeit. Wodurch zeichnen sich die ästhetischen Gestaltungspotenziale von Literatur, gebunden an ihre ursprüngliche Medialität der Schriftsprachlichkeit, in der heutigen Medienlandschaft aus? Hierfür wird eine Eingrenzung auf die Gattung des Romans vorgenommen, da diese um 2000 die am häufigsten rezipierte literarische Kunstform ist und entsprechend stark mit den anderen Medien konkurriert. Als konkurrierende Formen zur komparatistischen Untersuchung der medialen Bestimmtheit ihrer Ästhetik werden die beiden performativen, an den menschlichen Körper19 gebundenen Künste von Film und Theater untersucht: Somit stehen sich der sprachlich erzählte Roman, die technisch-apparative Kunst des Films und die Präsenz von Bühne und Mensch in der Theaterperformanz konkurrierend gegenüber. Das Theater nimmt eine Zwischenposition in Bezug auf die medialen Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts ein: Einerseits ist es im Vergleich die älteste Kunstform, andererseits wird es zu allen Zeiten in der Lage sein, die neuesten medialen Techniken in die elementare Präsenz aufzunehmen. Es ist also per se eine mediale Mischform, was Roman und Film allein über intermediale Strategien – beispielsweise als filmische, performative Literatur oder literarischer Film – versuchen können zu erreichen. 16 „Kein literarischer Autor in der Bundesrepublik kann seine Produktion noch außerhalb der audio-visuellen Medien auf einem rein literarischen Markt durchsetzen […].“ Paech, J.: Literatur und Film. S. 180. 17 Schärf, Christian: Der Roman im 20. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001. S. XIIf. 18 Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24. Aufl. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2002. 19 Der Körper dient, wie noch zu zeigen sein wird, im 21. Jahrhundert verstärkt der medialen Aufmerksamkeitserregung.
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Der vorliegenden Untersuchung dieser Potenziale ist nicht daran gelegen, wertende Hierarchien auszumachen,20 da es in der Medienkonkurrenz um 2000 keineswegs darum geht, dass ein Medium einen bestimmten Stoff exklusiv an sich bindet; vielmehr wandern Stoffe und Motive durch die neuen und „alten“ Medien, d. h. sie sind transmedial. Hierbei profitieren die verschiedenen Umsetzungen meist voneinander, z. B. wirkt sich eine populäre Romanverfilmung positiv auf das Interesse am Buch aus, wie auch eine Theaterverfilmung das Publikum quasi zurück auf Parkett und Ränge des Theaters ziehen kann. Die Darstellung oder die Erzählung eines Stoffs in einem bestimmten Medium bildet in der Regel keinen Ersatz für die Umsetzung in einem anderen Medium, denn die Produkte/Performanzen und ihre Wahrnehmungen divergieren so stark, dass ihnen neue Akzente hinzugefügt werden – mit dem nicht zu verachtenden Nebeneffekt, dass sich das Publikum, der Kreis der Rezipienten, für einen bestimmten Stoff vergrößert. Und durch intermediale Grenzgänge können Künstler ihre Ausdrucksmöglichkeiten erweitern, statt die anderen Medien in einem Wettstreit bloß zu degradieren.21 Diese Tatsache wird vom Literaturbetrieb nicht länger ausgeblendet, wie auch die Literaturwissenschaft ihren Gegenstandsbereich in diese Richtung erweitert, um einer Marginalisierung der eigenen Disziplin entgegenzuwirken.22 Literaturwissenschaft im 21. Jahrhundert muss mehr sein als eine reine Wissenschaft des Schrifttums, sie braucht das Wissen um die Potenziale der konkurrierenden medialen Formen, mit denen Literatur heute interagiert. Die vorliegende Arbeit will die ästhetischen, philosophischen, technischen und psychologisch-anthropologischen Potenziale und Besonderheiten der Medien analytisch-komparatistisch in den Kunstprodukten ermitteln, d. h. meist ohne Bezug auf empirische Studien der Medienrezeption. Wie gelingt es spezifischen Erzähltexten, filmischen oder theatralen Performanzen, ihre jeweilige Ästhetik und Wirkung zu erzeugen, und wäre dies auch in den konkurrierenden künstlerischen und medialen Umsetzungen denkbar, bzw. wie wird ein bestimmter Stoff, ein Motiv oder eine bestimmte ästhetische Taktik dort umgesetzt? Dabei geht es nicht um die Untersu20 Dennoch ist der Analyse der einzelnen Werke in Nuancen ein Geschmacksurteil aus der Perspektive der Literaturwissenschaftlerin zu vernehmen. Das heißt, implizit wird deutlich, welche Werke – unabhängig der Kategorien unterhaltend und ernst – ansprechend sind: z. B. anziehende Ausgestaltungen des Ekel-Affekts versus zu stark sensationalistisch affizierende; ergiebige Reflexionen und Stimmungsbilder der Finanzkrise versus holzschnittartige Belehrung; zeitgemäße Tradierung oder Transformierung des Amazonenmythos versus der Mythos als stark gesunkenes Kulturgut. 21 Reiche, Ruth; Romanos, Iris; Szymanski, Berenika: Transformationen, Grenzen und Entgrenzung. In: Transformationen in den Künsten. Grenzen und Entgrenzung in bildender Kunst, Film, Theater und Musik. Bielefeld: transcript 2011. S. 23. 22 Wende, W.: Kultur – Medien – Literatur. S. 27.
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chung des Phänomens des Medienwechsels im engeren Sinne von Adaptionen (wie Literaturverfilmungen oder theatrale Adaptionen von Roman- oder Filmstoffen und vice versa), sondern um die Analyse der Darstellung bestimmter transmedialer Stoffe und Motive, auf die zurückgegriffen wird, um in der Konkurrenz der Medien Aufmerksamkeit zu erregen, d. h. Intensitäten in der Rezeption zu erzeugen. Bezüglich der stofflichen und motivischen Umsetzung um 2000 wird wieder der Begriff der Exzentrik in der Kunstproduktion wirksam. Laut Winfried MENNINGHAUS ist der Kunst von Anfang an ein Moment der Konkurrenz immanent, zumindest wenn sie naturwissenschaftlich begründet wird. So beruft er sich auf Charles DARWINS Vermutung, „[d]ie im Tierreich verbreiteten Praktiken des Präsentierens körperlicher Ornamente und des werbend-kompetitiven Vorführens von Sing-, Tanz- und Baukünsten könnten […] eine frühe evolutionäre Phase […] der menschlichen Künste gewesen sein.“23 In den menschlichen Künsten geht es zwar nicht mehr primär um die Werbung um das andere Geschlecht, aber es geht noch immer um die „Herausforderung von Konkurrenten“ durch „[p]hysische wie künstlerische Exzellenz“.24 Das Mittel hierfür – so scheint es aus dieser naturwissenschaftlichen Perspektive heraus auf der Hand zu liegen – ist die ästhetische Qualität der Schönheit. Ihre Wahrnehmung ist affektiv lustvoll und enthält einen Belohnungsaspekt für den Rezipienten. Dennoch ist die Kunst freilich schon immer auch mit der Kategorie des Hässlichen bestens betraut, wie auch ältere Studien z. B. im Sammelband Die nicht mehr schönen Künste, herausgegeben von Hans R. JAUß, verdeutlichen.25 Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass Roman, Film und Theater an der aktuellen Jahrtausendschwelle zunehmend provokant und evident auf negative Affekte jenseits des Schönen abzielen. Das bestätigt auch MENNINGHAUS für „viele Bereiche der modernen Künste“, die „mit der Kategorie des Schönen nicht mehr angemessen erfassbar“26 sind. Der Begriff der Schönheit scheint heute besonders bedeutsam in der Funktion der Kunst, Konkurrenzen auszufechten, indem sie „gezielt Schönheits-
23 Menninghaus, Winfried: Wozu Kunst? Ästhetik nach Darwin. Berlin: Suhrkamp 2011. S. 9. 24 Ebd., S. 11. 25 Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. von Hans R. Jauß. München: Fink 1968. Es geht u. a. um die Rolle des Hässlichen in der Poetik des klassischen Griechentums (Gerhard Müller, S. 13–22), um die Rechtfertigung des Hässlichen in urchristlicher Tradition (Jacob Taubes, S. 169–186), um mittelalterliche Obszönität (Wolf-Dieter Stempel, S. 187–206), um ästhetische Entgrenzung in der europäischen Romantik und Vorromantik (Karl Mauer, S. 319–342) u. v. m. 26 Menninghaus, W.: Wozu Kunst? S. 31.
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kompatible Erwartungen verletz[t]“27 und somit in der Transgression mit herrschenden ästhetischen Normen bricht und sie dadurch bestätigt. Diese emergierenden Tendenz der „Verhässlichung des Ästhetischen“28 in den Medien um 2000 will die vorliegende Arbeit über drei zu untersuchende KünsteDimensionen und deren stoffliche, motivische und figurale Auswahl ergründen. Die Entscheidung für die drei Dimensionen, aus denen sich das Untersuchungskorpus speist, geht zurück auf die Funktionen, welche Kunst – und damit jedes einzelne Kunstwerk – erfüllt: Kunst ist eine Form der Selbstbildung29 des Menschen, d. h. sie fördert kognitive und affektive Fähigkeiten. Letzteres will die sogenannte vitalaffektive Dimension des Ekels in Roman, Film und Theater untersuchen. Wie wird dieser Affekt jenseits des Schönen in den verschiedenen Medien dargestellt und im Rezipienten evoziert? Der kognitiven Funktion wiederum liegt die Annahme zugrunde, dass Kunst vielfach gesellschaftspolitische Aufgaben erfüllt, d. h. etwaige Zusammenhänge historischer Ereignisse erklärt und darstellt und den Rezipienten dadurch zur intelektuellen Durchdringung dieser Zeittendenzen anregt. Inhaltlich-thematisch wurde für diese gesellschaftspolitische Dimension die seit 2007 (massen-)medial allgegenwärtig scheinende Finanz- und Wirtschaftskrise ausgewählt, deren lebensweltliche Relevanz sich bis zur Fertigstellung dieser Arbeit nicht abgeschwächt hat. D. h. nicht nur die Massenmedien nehmen Stellung, sondern auch Kunst in ihrer gesellschaftspolitischen Funktion ist nicht indifferent gegenüber ihrem historischen Hintergrund und fördert dessen kognitive Durchdringung jenseits der Schönheit. Drittens erfüllt Kunst über Erzählungen, die „gruppenweise gekannt […], teilweise auch geglaubt werden“30 eine kooperative Funktion. Diese Funktion zählt zu den ältesten und grundlegenden, wie sich in der Tradierung von antiken Mythen zeigt. Deshalb ist es naheliegend, diese Arbeit mit einer dritten mythologischen Dimension abzurunden, die untersucht, wie in der heutigen Medienlandschaft alte Mythen – ebenfalls jenseits des Schönen, meist in den Bahnen des Schrecklichen – tradiert werden. Hierfür wurde beispielhaft der antike Amazonenmythos gewählt, da in ihm die künstlerische Ambivalenz aufscheint, schön und gleichzeitig abstoßend und erschreckend sein zu können – den jeweiligen medialen Potenzialen entsprechend.
27 Ebd. 28 Karpenstein-Eßbach, Christa; Eßbach, Wolfgang: Benjamin von Stuckrad-Barre. In: Praktizierte Intermedialität. Deutsch-französische Porträts von Schiller bis Goscinny/Uderzo. Hg. v. Fernand Hörner, Harald Neumeyer und Bernd Stiegler. Bielefeld: transcript 2010. S. 342. 29 Menninghaus, W.: Wozu Kunst? S. 12. 30 Ebd., S. 11.
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Insgesamt liegt der Auswahl dieser übergeordneten Dimensionen (affektiv, gesellschaftspolitisch und mythologisch) die Annahme zugrunde, dass sich jedes Kunstwerk, jede Geschichte, zumindest einer dieser Funktionen bedient bzw. dies sogar muss, um in der Konkurrenz der Medien, zumal in der heutigen „Spaß- und Eventkultur“31, überhaupt Aufmerksamkeit generieren zu können. Literatur z. B. legt ihren Schwerpunkt entweder erstens auf die affektive Gefühlsebene, oder zweitens auf die kognitive Durchdringung historischer Gegebenheiten, oder sie tradiert – besonders seit dem Fantasy-Boom Ende der 1990er/Anfang der 2000er Jahre32 – alte Mythen. In etlichen literarischen oder filmischen Werken sowie Theaterstücken überschneiden sich die drei Dimensionen aber auch und sind nicht scharf voneinander abzugrenzen. Der Zeitraum des hierfür zu untersuchenden Materialkorpus soll dabei etwa 20 Jahre umfassen – von 1990 bis heute – und zeichnet sich durch technische und mediale Innovationen in fast rasender Geschwindigkeit aus33 sowie durch globale ge-
31 Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S. 341. 32 Der große Erfolg der Harry-Potter-Romane und Verfilmungen, aber auch die Verfilmung von Tolkiens Der Herr der Ringe, löste den Boom aus, der sich in Vampirsagen wie Twilight fortsetzte und auch zu einem Revival von Superhelden mythischen Ausmaßes führte, wie Superman, Spiderman, Batman, Hulk und X-Men. 33 Neue Kommunikationsformen finden immer mehr Verbreitung und werden schließlich zur Selbstverständlichkeit: Mobiltelefone, SMS, E-Mail, bis hin zu Chat, Blog und WhatsApp. Die Computerisierung der Gesellschaft nimmt immer größere Ausmaße an und es können immer größere Datenmengen gespeichert und selbständig verwaltet werden. Das Einwählen ins Internet wird schließlich ersetzt durch Standleitungen mit immer schnelleren Verbindungen. Handys erlangen um 2010 Computerfunktion („Smartphones“) und eröffnen neue Rezeptionsmöglichkeiten: Informationen, Filme und auch elektronische Bücher sind jederzeit online verfügbar. Computerspiele verbreiten sich immer mehr und gehen online, was in der Popularität der Spielfigur Lara Croft einen besonderen Ausdruck findet. User können sich an Kunstproduktionen beteiligen, sog. Hypertexte produzieren. In den Medien ist eine zunehmende Tendenz auszumachen, Privates in die Öffentlichkeit zu tragen (vom Talkshowboom in den 90ern hin zu Sozialen Netzwerken im Internet heute). Die Hemmschwelle scheint zu sinken, Aufmerksamkeit ist ein hart umkämpftes Gut. 2008 ist der Stand wie folgt: „Etwa 90 Prozent der deutschen Bevölkerung sind mit Highspeed im Netz von zu Hause aus unterwegs. Hinzu kommt die steigende Anzahl von Smartphones und Tablet-PCs, mit denen man mobil im Internet unterwegs sein kann. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass man sich in der Freizeit zunehmend mit dem PC beschäftigt und andere Hobbies darunter leiden.“ Corcoran-Schliemann, Bianca: Lesen und Mediennutzung im Wandel von Medientechnik und Mediensystem. In: Zukunft des Lesens. Was bedeuten Generationenwechsel, demografi-
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sellschaftspolitische Zäsuren wie die Terroranschläge vom 11. September 200134 und die Banken- und Weltwirtschaftskrise um 2008.35 In der Kunst ist ein Sensationalismus in Abkehr vom Schönen deutlich wahrnehmbar, was eine gewisse gesellschaftliche Unsicherheit in den raschen medialen, politischen und sozialen Entwicklungen zu spiegeln vermag. Diesem aktuellen Phänomen trägt die Auswahl der Stoffe und Motive (Ekel, Krise, Amazonen) der drei Dimensionen Rechnung. Bevor diese zeitgenössischen Umsetzungen in den verschiedenen Medien auf ihre gestaltungsästhetischen Besonderheiten hin untersucht werden, findet zunächst eine dezidierte, rein theoretische Auseinandersetzung mit den Potenzialen von jeweils Roman, Film und Theater statt, die als Instrumentarium für die anschließende Analyse der in den drei Dimensionen hervorgebrachten Kunstwerke bzw. Performanzen dient. Das erste Kapitel Die Theorie der Medienkonkurrenz ist die Grundlage für die folgenden drei Großkapitel der vitalaffektiven (Ekel), gesellschaftspolitischen (Finanz- und teilweise auch Wirtschaftskrise) und mythologischen Dimension (Amazonen), die sich wiederum jeweils aus drei Teilbereichen – Roman, Film und Theater – zusammensetzen.
scher und technischer Wandel für das Lesen und den Lesebegriff? Hg. v. Jörg F. Maas und Simone C. Ehmig. Mainz: Stiftung Lesen 2013. S. 16. 34 Auf die politische Agenda kamen der Afghanistankrieg, der Irakkrieg, der Kampf gegen den Terror bis hin zum Arabischen Frühling im Maghreb und im Nahen Osten. 35 Die Staatsschuldenkrisen im Euroraum (wie auch die eingeführte Währung des Euro generell) beschäftigen Politik und damit Medien noch Jahre später als die sogenannte „Eurokrise“.
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Zu den Kapiteln Frei von Tabus: Der Ekel Das in der ersten vitalaffektiven Dimension zu untersuchende Motiv ist eines der hervorstechendsten Mittel, über das in der Medienkonkurrenz Aufmerksamkeit im provokativen Sinne erregt werden kann. In enttabuisierten Werken, die dem Rezipienten gar ein „Ekelbad“36 bescheren, erfüllt sich die Forderung, die Franz KAFKA an die Literatur stellt, in besonders intensivem Maße: Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben.37
Bei der Ekel-Kunst handelt es sich um die stärkste Praktizierung von Grenzüberschreitung und Enttabuisierung, wofür Roman, Film und Theater jeweils evident unterschiedliche mediale Mittel zur Verfügung stehen. Entsprechend richtet sich die Auswahl des Materials nicht nach einem ohnehin schwer zu definierenden künstlerischen Anspruch im Sinne der High Culture, sondern in dieser Dimension wird besonders augenscheinlich, dass Erkenntnis – besonders in Bezug auf das Potenzial der negativen Affektion und Aufmerksamkeitserregung – auch aus Produkten der sogenannten U-Kategorie, aus unterhaltenden Werken, gewonnen werden kann. Folglich greift die Analyse auf jene Werke und Aufführungen zurück, in denen die gestaltungsästhetischen Potenziale zur Anekelung der Rezipientenschaft, teilweise der Gesellschaft schlechthin,38 am stärksten ausgeschöpft werden. Nach Erika FISCHER-LICHTE ist es gerade die künstlerische Ästhetik des Performativen seit den 1960er Jahren, die auf eine Kunst der Grenzüberschreitung zielt,39 woraus zu schließen ist, dass Ekelphänomene besonders in das postdramatische Theater Einzug halten. Wie Ekel unterschiedlich erzählt, dargestellt und erregt wird, und was
36 Kiesel, Hellmuth: Der Ekel in der Literatur: Der feierlichste Glockenton ist der Rülpser. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/der-ekel-in-der-literatur-der-feierlichsteglockenton-ist-der-ruelpser-1771478.html (06.11.2011). 37 Kafka, Franz: Briefe 1900–1912. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer 1999. Brief vom 27. Januar 1904 an seinen ehemaligen Mitschüler und Kunsthistoriker Oskar Pollak. S. 36. 38 Dies ist der Fall, wenn ein Werk zusätzlich über die Massenmedien öffentlich diskutiert wird, wie besonders Charlotte Roches Feuchtgebiete. 39 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 356.
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das für die Konkurrenz der Medien bedeutet, darum soll es in diesem Kapitel gehen. Auf der Suche nach Erklärung: Die Finanz- und resultierende Wirtschaftskrise Während der Ekel sein reales Moment darin hat, dass seine Beschreibungen im Roman, Darstellungen im Film und Bedrängungen im Theater den Rezipienten tatsächlich affizieren, handelt es sich beim Realitätsindex der zweiten Dimension um die gesellschaftspolitische geteilte Gegenwart der Banken-/Finanz- und Wirtschaftskrise.40 In diesem Kapitel gilt es folglich besonders, die philosophische Komponente von Medienkünsten, das alte Verhältnis von Kunst und Wirklichkeit zu untersuchen. Alle drei Instanzen der Kunst sind in sie involviert: Die Krise wirkt sich auf die Produktionsebene aus, indem die Kunstschaffenden selbst von ihr betroffen sind, was zweitens im Produkt Gestaltung findet (in Plot und Narration des Romans und Films sowie in der Theateraufführung), und drittens ist jeder einzelne Rezipient real betroffen (und sei es nur über die Berichterstattung der Massenmedien), woraus auch dessen besonderes Interesse an diesem Stoff resultiert. Der real involviere Leser oder Zuschauer hat eine persönliche Motivation, sich über die Krise zu informieren, wofür fiktionale Erzählungen, Filme und Theateraufführungen, wie zu untersuchen sein wird, ebenso dienlich sein können wie faktuale journalistische oder ökonomische Texte. Folglich fragt dieses Kapitel nach den distinkten Qualitäten medialer Semantiken der Krise, nach den Modi der Wissenserzeugung in künstlerischen Darstellungen. Hierfür bedarf es eines hohen Maßes an Offenheit sowohl für eine kulturwissenschaftliche Erforschung des Zusammenhangs von Ökonomie, Kunst und Medien als auch für die künstlerische Darstellung von abs-
40 Auf künstlerischer Ebene findet sich zwar vor allem die Narration der Finanzkrise wieder, aber auch die Wirtschaftskrise ist Stoff einiger Werke. Deshalb wird in dieser Arbeit keine Eingrenzung auf einen der Diskurse vorgenommen, auch wenn oft vereinfachend der Terminus „Finanzkrise“ verwendet wird. Tatsächlich bauen die Krisen aber aufeinander auf: Die Immobilienkrise 2007 in den USA führte zur Bankenkrise 2008. Die Insolvenzen der Finanzunternehmen erschütterten das globale Wirtschaftssystem, so dass die Krise seit Ende 2008 auch in der Realwirtschaft wirkte; durch stürzende Aktienkurse und Exporte kam es zur Rezession, also zur Wirtschaftskrise: „Im Jahr 2009 sank das Bruttoinlandsprodukt der hoch entwickelten Volkswirtschaften krisenbedingt um 3,2% gegenüber dem Vorjahr.“ Koch, Karl-Josef; Jung, Annika: Wahrnehmung und Folgen ökonomischer Krisen. In: Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne. Hg. v. Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen. Bielefeld: transcript 2013. S. 338f.
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trakten Finanzströmen und ökonomischen Mechanismen.41 Die Gefahr, auf diesem Gebiet zu dilettieren, muss aber eingegangen werden, denn nur so können die tragischen und komischen Verwicklungen, die durch die Mechanismen der an sich hochkomplexen Krise in die Welt und in die Kunst gekommen sind, auf ihre medialen Potenziale hin untersucht werden. Auch dieser Dimension wohnt wie der künstlerischen Umsetzung des Ekelaffekts eine umfassende Verhässlichung inne: Ihr Realitätsidex ist per se ein hässlicher, indem die Krise auf verwerflichen Eigenschaften wie Geldgier und Machtstreben basiert, die sich in den figuralen Konstellationen sedimentieren. Daraus gehen negativ affizierende Handlungsmomente hervor, wie sie auch in der ersten Dimension anzutreffen sind: Das Verbrechen verbindet sich hier mit dem Erbrechen, das Geld mit der dunklen Materie der Exkretion. Uralt, schön und brutal: Mythologische Amazonenfiguren Die Klimax der Verwirrung des Ästhetischen um 2000 bilden die in der dritten Dimension dieser Arbeit zu untersuchenden ambivalenten Darstellungen der Amazonen. Das uralte Frauenvolk aus der griechischen Antike steht heute sowohl für die Tendenz der Verhässlichung des Ästhetischen ein als auch für die ästhetische Anziehungskraft des Schönen: Dem Mythos haftet etwas Erschreckendes an, Amazonen hacken Köpfe ab, erstechen den Feind und kämpfen für ihr Recht als Frau, sind also auch heute noch meist emanzipatorisch angelegt. Dabei sind sie in ihrer Körperlichkeit – was besonders ihren filmischen Schauwert ausmacht – faszinierend schön und attraktiv. Sie kämpfen im wörtlichen wie im übertragenen Sinne mit doppelter Klinge. Während sie im Roman eine emanzipatorische Funktion haben oder den Mythos mit Authentizität anfüllen sollen, besinnt sich der Film auf den alten Kern von mythologischen Helden, keine Subjektivität zu haben und die überweltlichen und mächtigen Taten von Superheldinnen wie Lara Croft oder Kiddo in Kill Bill bildgewaltig zu inszenieren. Romane, Filme und Theaterstücke, die auf Überlieferungsmomente alter Mythen rekurrieren, unterscheiden sich meist in ihrer Drastik von beliebigen Erzählungen kleinerer Alltagskonflikte und sozialer und politischer Problemlagen. Auch wenn Mythen hierfür instrumentalisiert werden können (z. B. im Roman von Bettina HOFFMANN Die Emanzen sind los), wohnt ihren Tradierungen aufgrund der Drastik ihrer antiken Ahninnen etwas Gewaltiges und damit Salientes, Einprägsames und Erinnerungsfähiges inne.42 Dennoch verbindet diese dritte zu untersuchende Dimension die beiden vorangegangenen darin, dass sie vielfach den Ekelaffekt evoziert oder den Mythos für gesellschaftspolitische 41 Vgl.: Künzel, Christine: Finanzen und Fiktionen. Eine Einleitung. In: Finanzen und Fiktionen. Grenzgänge zwischen Literatur und Wirtschaft. Hg. v. Christine Künzel und Dirk Hempel. Frankfurt/Main, New York: Campus 2011. S. 10. 42 Menninghaus, W.: Wozu Kunst? S. 238.
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Botschaften funktionalisiert. Amazonen sind interpretativ offen und passen sich dem medialen Wandel seit Jahrtausenden an: Einst wurde mündlich von ihnen erzählt, dann wurden sie auch schriftlich tradiert und heute kämpfen sich die Amazonen ihren Weg durch die elektronische Medienlandschaft, werden im farbigen Bild besonders schön und gewaltig inszeniert und lassen, wie Lara Croft, sogar an Computer und Konsole mit sich spielen. Wie ersichtlich ist, wurden für alle drei Dimensionen Motive, Stoffe und Figuren gewählt, die das Potenzial haben, Aufmerksamkeit zu erregen. Es sind folglich alle drei „Kampfthemen“ in der Medienkonkurrenz um 2000, in denen die spezifischen Gestaltungspotenziale besonders in ihrer transgressiven Tendenz hervorgehoben werden können: Der Ekel hat eine Weckwirkung, indem er die körperlichen und psychischen Grenzen der Figuren wie Rezipienten und damit den guten Geschmack überschreitet. Ebenso arbeitet die Tradierung des Amazonenmythos mit der Faszination des von Heldinnenfiguren ausgeübten Schreckens, die sich über die Sitten des Alltags erheben und stellvertretend für die Gesellschaft einen mythischen Auftrag zu erfüllen haben und dabei Normen übertreten. Die künstlerischen Darstellungen der Finanz- und Wirtschaftskrise wiederum überschreiten die Grenzen zur Wirklichkeit der Leser und Zuschauer, indem sie zeigen, wie im Finanzsektor und im ökonomischen System die Grenzen der Moral ausgehebelt werden. Fruchtbar für die mediale Analyse ist neben diesen Parallelen aber vor allem ihre temporale Diversität. Die drei Dimensionen weisen einen größtmöglichen Gegensatz auf der Achse der Zeit auf: Der Ekel ist der schnellste, zudem spezifisch menschliche Affekt, der in seiner Millisekundenkürze die Kategorie der Zeit nahezu außer Kraft setzt. Wie gehen die verschiedenen Medien mit dieser psychischen Situierung von Zeit um? Die globale Finanzkrise wiederum vereinigt die Zeitdimension von Kunstprodukt und Rezipientenschaft; über ihre medialen Umsetzungen kann die Relevanz von fiktionaler Kunst in Abgrenzung zu faktualer Berichterstattung untersucht werden. Der Mythos wiederum wendet sich einerseits Jahrtausende auf der Zeitachse zurück – zum Beispiel macht die Amazone in Barbara WALKERS Roman eine Zeitreise aus ihrem antiken Ursprung in die moderne Welt, oder Lara Croft spürt die Büchse der Pandora auf –, andererseits siedelt er sich wie die vorangehend zu untersuchende Dimension im gesellschaftspolitischen Hier und Jetzt an. All dies kann Kunst sein, und in all diesen Facetten präsentieren sich die besonderen Potenziale der Medien in ihrer Divergenz, aber auch in ihrer Interferenz. Dies zu untersuchen will die Medienkonkurrenzforschung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive leisten. Hierfür gilt es zunächst, Begriffe zu klären und den Stand der Forschung vor dem Hintergrund der anzuwendenden Methode zu bestimmen.
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Die Definition des Begriffs der Medienkonkurrenz bedarf einer Klärung des Verhältnisses von Kunst und Medien. Denn die scheinbar so einfache Frage, ob die Objekte des Interesses – Roman, Film und Theater – nun Künste oder Medien sind, kann hier durchaus Verwirrung stiften. Medien sind nicht von sich aus Künste43 (nicht jeder Film, jedes Buch oder jeder Auftritt ist Kunst), auch wenn Künste (hier im weitesten Sinne verstanden als kreative Prozesse im Kulturbetrieb) meist medial übermittelt und von den jeweiligen Potenzialen des Mediums in ihrer ästhetischen Gestaltung geprägt werden. Medien sind sozusagen die Formen, deren sich Kunstwerke bedienen können und bedienen; folglich bestehen die Qualitäten des jeweiligen Werks aus den möglichen ästhetischen Leistungen des Mediums, in dem es praktiziert wird. Zurückgehend auf die lateinische Bedeutung des Wortes sollen Medien als „Mittel“ bzw. „Vermittler“44 begriffen werden, und zwar im weiten Sinne der wechselseitigen, nicht unbedingt technischen Übertragung von Kunst und Informationen zwischen zwei Parteien. Darunter fallen das Buch mit der Schrift als Bedeutungsträger ebenso wie Sprache, Bilder und Apparaturen des Films, aber auch die Bühne, Requisiten, Stimmen und Körper im Theater. Die Kunst als menschliches Schaffen kann sich der verschiedenen Medien bedienen; z. B. entscheidet sich die darstellende Kunst für den Film oder die Präsenz des Theaters. Auch die Literatur, genauer hier die Kunst des Romans, ist nicht mehr gänzlich an das Medium der Schriftsprache, an das gedruckte Buch, gebunden und prinzipiell offen für andere Medien.45 Insofern liegt in der Interferenz zwischen Kunst und Medien eine Konkurrenzlage begründet: Es geht um die künstlerische Verwirklichung in einem bestimmten Medium, um die ästhetisch folgenreiche Entscheidung für dessen Potenziale und mehr oder weniger gegen die der anderen Medien. Nach lateinisch „concurrere“
43 Nach: Karpenstein-Eßbach, Christa: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. Paderborn: Fink 2004. S. 215. 44 Kluge, F.: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. S. 608. 45 Der Begriff „Literatur“ unterlag von Anbeginn medialformalen Bedeungstransformationen: Abgeleitet von lateinisch litterae, Buchstabe, bedeutete er zunächst das Alphabet, dann ihren materiellen Träger, die Schrift, daraufhin die schriftsprachliche Kunst, und heute findet Literatur auch in den Perfrormanzen von Film oder Hörbuch statt. Vgl.: Mecke, Jochen: Einleitung. In: Medien der Literatur. Vom Almanach zur Hyperfiction. Stationen einer Mediengeschichte der Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Hg. V. Jochen Mecke. Bielefeld: transcript 2011. S. 14f.
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laufen hier mehrere Konkurrenten zusammen46: Künste haben die Wahl bzw. wandern zwischen verschiedenen Medien, welche differieren und durch die sie in verschiedener Weise medial aufgeladen werden, um wiederum in Konkurrenz mit anderen Künsten zu treten. Gleichzeitig werden auch die Medien ästhetisch aufgeladen und erlangen künstlerische Relevanz. So beeinflussen sich Medien und Künste gegenseitig, das Medium stellt den Künsten seine spezifische Medialität zur Verfügung, während die Künste wiederum auf diese Spezifitäten aufmerksam machen oder sie neu bearbeiten können. Doch nicht nur die Künste laufen mit den Medien zusammen, sondern es konkurrieren auch die Medien untereinander um ästhetisches Potenzial, und die Künste benutzen die Medien, um jeweils gegeneinander größere „Faszinationskraft und Wirkmächtigkeiten“47 zu erlangen. Zusammengefasst heißt das: „Es sind diese beständigen Scharmützel zwischen Medien und Künsten, aus denen Kunstpraxen und Kunstmittel erwachsen, in denen sich das Feld des Ästhetischen neu konturiert.“48 Hieraus wird ersichtlich, dass es bei diesem concurrere stark auf die Differenzen und auch Affinitäten zwischen den Medien ankommt. Denn ein „Wettbewerb“49 der Künste um die Medien und der Medien um die Künste geht schlicht auf deren Potenziale zurück, die eine Wirkung im Rezipienten und im Kulturbetrieb entfalten können. Die Untersuchung der Mediendifferenz zur Austragung von Rivalitäten zwischen den Künsten geht bereits auf LESSINGS Laokoon zurück. Die Kunst der Malerei ist an das Medium Bild gebunden, welches von der Sprachlichkeit als Medium der poetischen Kunst differiert. Die Ur-Konkurrenz zwischen diesen – überspitzt formuliert – rivalisierenden50 Parteien gilt in Grundzügen bis heute für die Konkurrenz von darstellender und sprachlicher Kunst und ihren medialen Zeichen:
46 „zusammenlaufen, zusammenrennen, feindlich zusammenstoßen“. Kluge, S. 521. Ebenso: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Band 4. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1976. S. 970. 47 Karpenstein-Eßbach, Ch.: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. S. 226. 48 Karpenstein-Eßbach, Christa: Deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. München, Paderborn: Fink 2013. S. 81. 49 „Das Wort [Konkurrenz. N.U.] wird heute weitgehend synonym mit ‚Wettbewerb‘ verwendet und ist nicht eindeutig, da es für eine zwischenmenschliche Aktionsform, für das Verhältnis von substituierbaren Gütern auf dem Markt und für die Gesetzmäßigkeit eines Selektionsvorganges benutzt wird.“ Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. J. Ritter und K. Gründer. S. 971. 50 Vgl.: Brockhaus. Enzyklopädie in 30 Bänden. Band 15. 21. Aufl. Leipzig, Mannheim: F.A. Brockhaus 2006. S. 446. Und: Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hg. v. Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Dritter Band. Berlin: Akademie-Verlag 1969. S. 2172.
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Ich schließe so. Wenn es wahr ist, daß die Malerei zu ihren Nachahmungen ganz andere Mittel, oder Zeichen gebrauchet, als die Poesie; jene nämlich Figuren und Farben in dem Raume, diese aber artikulierte Töne in der Zeit; wenn unstreitig die Zeichen ein bequemes Verhältnis zu dem Bezeichneten haben müssen: so können nebeneinander geordnete Zeichen auch nur Gegenstände, die nebeneinander, oder deren Teile nebeneinander existieren, aufeinanderfolgende Zeichen aber auch nur Gegenstände ausdrücken, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen. Gegenstände, die nebeneinander oder deren Teile nebeneinander existieren, heißen Körper. Folglich sind Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften die eigentlichen Gegenstände der Malerei. Gegenstände, die aufeinander, oder deren Teile aufeinander folgen, heißen überhaupt Handlungen. Folglich sind Handlungen der eigentliche Gegenstand der Poesie.51
Kurz gesagt divergieren die „Übermittlungsmittel“52 der verschiedenen Mediensysteme. Doch diese schließen sich nicht oppositionell aus, sondern – wie der Begriff der Medienkonkurrenz schon nahe legt – begegnen und integrieren sich bisweilen. Die Zeichen mögen unterschiedlicher Art sein, doch sie sind nicht (mehr) per se auf ein bestimmtes Medium festgelegt. Die Konkurrenz der Medien und Künste ist historisch indiziert und damit dynamisch. Das heißt, die Potenziale und Differenzen der Medien wandeln sich mit dem technischen Fortschritt, und Konkurrenzlagen verschärfen sich, wenn zum Beispiel neue apparative Aufzeichnungssysteme hinzukommen53, die den Künsten ein breites Repertoire an Möglichkeiten bieten, gegen die sich die bisher an die „archaischen“ Medien gebundenen Kunstpraxen profilieren müssen.54 Zum Beispiel ist die 51 Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). In: Texte zur Medientheorie. Hg. v. Günter Helmes und Werner Köster. Stuttgart: Reclam 2002. S. 53. 52 Karpenstein-Eßbach, Ch.: Literatur zwischen inszenierten Wahrnehmungen. Problemfelder der Medienanalyse. In: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien. Hg. v. Sigrid Schade u. Georg Christoph Tholen. München: Fink 1999. S. 189. 53 Vgl.: Karpenstein-Eßbach, Christa: Medien als Gegenstand der Literaturwissenschaft. Affären jenseits des Schönen. In: Bildschirmfiktionen. Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien. Hg. v. Julika Griem. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1998. S. 20. 54 „Die ästhetischen Profilierungen eines neuen Mediums entstehen in Konkurrenzen zu bestehenden Kunstgattungen und -praxen. Das Medium Film hat seinen besonderen Kunstcharakter in der Auseinandersetzung mit den Bildungsanforderungen gegenüber dem Massenmedium der bloßen Schaulust und mit anderen Künsten und technischen Medien (Literatur, Theater, Malerei, Fotografie) entwickelt.“ Karpenstein-Eßbach, Ch.: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. S. 258.
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Kunst des Romans unter Druck geraten, als das Medium des Films sich der fiktionalen Kunst bemächtigt hat, und auch das Theater hat(te) sich gegen das filmische Schauspiel zu behaupten. Die Profilierung betrifft aber nicht nur die Kunstpraxis selbst, sondern ebenfalls die jeweiligen wissenschaftlichen Disziplinen, die die Leistungen „ihres“ Mediums betonen.55 So musste sich zum Beispiel die Literaturwissenschaft sowohl gegen die divergenten Möglichkeiten der filmischen Umsetzung von Geschichten verteidigen als auch sich disziplinär öffnen. Wie die vielfältigen Auseinandersetzungen von Forschung und Praxis zeigen, verändern neue Medien das bisherige Kunst-Medien-Gefüge: Gewiß ist nur, daß neue Medien die traditionellen Gattungsgrenzen durcheinander bringen; sie provozieren neue Anschlüsse und Grenzziehungen in den Künsten, und umgekehrt können in der Arbeit mit neuen Medien selbst Kunstansprüche formuliert werden, die neue ästhetische Erfahrungen zur Geltung bringen.56
Darum gibt es Fragen der Medienkonkurrenz im Grunde schon seit Menschen kommunizieren. So hat die Erfindung der Schrift etwa die dialogische Rede herausgefordert, indem sie menschlichen Austausch auch über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg ermöglicht hat. Der Band Texte zur Medientheorie von Günter HELMES und Werner KÖSTER fasst PLATONS diesbezügliche Reflexionen „Phaidros oder Vom Schönen“ unter der Überschrift: „Medienkonkurrenz: Schrift und dialogische Rede“57 zusammen und unterstreicht damit die seit Jahrtausenden gegebene Relevanz der Medienkonkurrenz (sofern man unter Medien nicht nur technische Vermittler versteht!). Bekanntlich folgte der Erfindung der Schrift schließlich das Gutenberg-Zeitalter, in dem wiederum die Buchdruckerkunst das Medien-KunstGefüge verschob. Victor HUGO grenzt das nun fast jedem zugängliche Buch als Medium der Erinnerung gegen die Architektur ab und spricht gar von der Tötung des Bauwerks durch selbiges.58 Nach Béla BALÁSZ, der sich ebenfalls implizit mit
55 Vgl.: Karpenstein-Eßbach, Ch.: Medien als Gegenstand der Literaturwissenschaft. In: Bildschirmfiktionen. Hg. v. J. Griem. S. 16f. 56 Karpenstein-Eßbach, Ch.: Literatur zwischen inszenierten Wahrnehmungen. In: Konfigurationen. Hg. v. S. Schade u. G. Ch. Tholen. S. 191. 57 Texte zur Medientheorie. Hg. v. Günter Helmes und Werner Köster. Stuttgart: Reclam 2002. S. 26–30. 58 „Im fünfzehnten Jahrhundert ändert sich alles. Der menschliche Gedanke entdeckt ein Mittel, sich zu verewigen, das nicht nur dauerhafter und widerstandsfähiger ist als die Baukunst, sondern auch einfacher und handlicher. Die Baukunst ist entthront. Auf die steinernen Lettern Orpheus’ folgen die bleiernen Lettern Gutenbergs. Das Buch tötet das Bauwerk. Die Erfindung der Buchdruckerkunst ist das größte Ereignis der Geschichte.
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dem historischen Verlauf der Medienkonkurrenz beschäftigt, hat die GutenbergGalaxie den Geist der Kultur komplett von der Visualität auf die Begrifflichkeit/Lesbarkeit umgestellt.59 Erst „eine andere Maschine“ vermochte es, „der Kultur eine neue Wendung zum Visuellen und dem Menschen ein neues Gesicht zu geben“60: der Kinematograph. Durch die jüngeren technischen Medien, die weitere Sinne ansprechen können, geriet wiederum die ältere Literatur in Konkurrenz mit den neueren visuellen Medien, wie KITTLER61 und HÖRISCH62 beschreiben. Obwohl die historischen Konkurrenzverläufe gezeigt haben, dass neue Medien den alten „noch nie ein irreversibles Ende bereitet“63 haben, sondern Konkurrenz hier statt Verdrängung eine Koexistenz, einen „Wettbewerb“ bedeutet, griff nach Ulrich SAXER lange die Sorge über das „Absterben der Lesekultur“ und den „Tod[…] der Literatur“64 um sich, ein Abwandern der Konsumenten ins Kino und vor den Fernseher. Trotz der eher unbegründeten „Angst“ geht die wenige, direkt mit dem Begriff der „Medienkonkurrenz“ arbeitende Forschung meist vom Standpunkt der Situierung der Literatur in der sich verändernden Medienlandschaft aus. Offensichtlich wird die Konkurrenzlage als Problem der Buchbranche gesehen65 und erfordert besonders im Hinblick auf die jüngere Lesergeneration eine Öffnung gegenüber den audiovisuellen und di-
Sie ist die Mutter der Revolution.“ Hugo, Victor: Lob der Buchdruckerkunst. In: Texte zur Medientheorie. Hg. v. G. Helmes und W. Köster. S. 101. 59 „So wurde aus dem sichtbaren Geist ein lesbarer Geist und aus der visuellen Kultur eine begriffliche.“ Balász, Béla: Der sichtbare Mensch (1924). In: Ebd., S. 139. 60 Ebd., S. 139. 61 „Die technische Aufzeichenbarkeit von Sinnesdaten verschiebt um 1900 das gesamte Aufschreibesystem. […] Zur symbolischen Fixierung von Symbolischem tritt die technische Aufzeichnung von Realem in Konkurrenz.“ Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800/1900. 2. erw. Aufl. München: Fink 1987. S. 235. 62 „Die im Bann von Stimme und Schrift stehende frühe Mediengeschichte ist sinnzentriert, die nach Gutenberg erfundenen audiovisuellen Medientechniken fokussieren hingegen unsere Aufmerksamkeit immer stärker auf die Sinne.“ Hörisch, Jochen: Vom Sinn zu den Sinnen. Zum Verhältnis von Literatur und neuen Medien. In: Merkur 55. Stuttgart 2001. S. 113. 63 Ebd., S. 115. 64 Saxer, Ulrich: Das Buch in der Medienkonkurrenz. In: Lesen und Leben. Eine Publikation des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels in Frankfurt am Main. Frankfurt/Main: Buchhändler-Vereinigung 1975. S. 206. 65 So bei Saxer: „Ziel dieser Ausführung muß es demnach sein, die mit der Konkurrenzthematik gestellten allgemeinen Probleme des Buchwesens soweit möglich zu klären und zugleich das Buch in der Medienkonkurrenz sachgerecht zu orten.“ Ebd., S. 208.
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gitalen Medien.66 Die ökonomische Perspektive auf die Medienkonkurrenz bezieht sich zum Beispiel auch darauf, dass Autoren möglicherweise in ein anderes Medium abwandern67 oder ihr Werk so schreiben, dass es auch in die anderen Medien transferiert werden kann. Intermedialität ist ein Bestandteil des Verlagswesens geworden.68 Zwar nicht unter ökonomischem Aspekt, aber auch literaturzentriert, setzen sich Natalie BINCZEK und Nicolas PETHES mit dem Begriff der Medienkonkurrenz auseinander.69 Sie betonen die Wichtigkeit, die Differenzen verschiedener medienspezifischer Ästhetiken zu unterscheiden, um die mediale Position der Literatur zu präzisieren70 und auch um Strategien zu finden, die die „Defizite“71 des eigenen Mediums ausgleichen. In den Kampf um die ästhetische Vorherrschaft, der nach BINCZEK bis zurück zur „paragone“ in der bildenden Kunst geht,72 kann die Literatur zwar hauptsächlich „nur“ sprachliche Zeichen einbringen, dennoch steht sie nicht auf verlorenem Posten: Indem etwa ein Roman die Einbildungskraft anregt, können Leistungen anderer (visueller, auditiver oder audiovisueller) Medien imaginativ simuliert werden.73 Doch nicht allein die Literatur hat Strategien, um sich in der „Konkurrenz um Aufmerksamkeit, Anteile am Zeitbudget und v.a. Ausgaben der Individuen und Haushalte“ (wie Peter LUDES in seinem Kapitel zu „Medienentwicklungen und Medienkonkurrenz“74 schreibt) zu positionieren.
66 Djaković, Anne-Marie: Literatur im 21. Jahrhundert: Zeitgeistphänomene, Medienkonkurrenz, Funktion und ökonomische Aspekte der Ware Buch unter Bezugnahme auf aktuelle Entwicklungen in der Buchbranche. Diss. Mainz: Johannes Gutenberg-Universität 2006. 67 Saxer, U.: Das Buch in der Medienkonkurrenz. In: Lesen und Leben. S. 210. 68 Z. B. muss „der auf breiten Erfolg erpichte Romanautor die Chancen einer Verfilmung oder sonstigen Weiterverwendung seines Werks im Radio oder im Fernsehen schon bei dessen Verfassen einkalkulieren. Verallgemeinernd läßt sich daher gewiß sagen, Strategien bloßer Koexistenz, d. h. des beziehungslosen Nebeneinanders der Medien, würden für diese zunehmend schädlich, dysfunktional; die Zeiten, da der traditionelle Buchhandel in mehr oder minder freiwilliger Isolierung und mit mehr oder weniger Erfolg sich als wichtigster Kulturvermittler aufspielen konnte, sind wohl endgültig vorbei.“ Ebd., S. 212. 69 Binczek, Natalie; Pethes, Nicolas: Mediengeschichte der Literatur. In: Handbuch der Mediengeschichte. Hg. v. Helmut Schanze. Stuttgart: Kröner 2001. S. 282–315. 70 Ebd., S. 305. 71 Ebd., S. 306. 72 Ebd., S. 305. 73 Vgl.: Ebd., S. 306. 74 Ludes, Peter: Einführung in die Medienwissenschaft. Entwicklungen und Theorien. Mit einer Einleitung von Jochen Hörisch. 2. überarb. Aufl. Berlin: Erich Schmidt 2003.
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Drei in dieser Arbeit gleichermaßen zu untersuchende Möglichkeiten gibt es in der Medienkonkurrenz, um Intensitäten zu erzeugen: Erstens kann die Kunstpraxis die Spezifitäten ihrer medialen Form betonen und sich von anderen abgrenzen, zweitens kann sie sich die ästhetischen Potenziale anderer Medien zu eigen machen oder sich auf sie beziehen75 (im weitesten Sinne als „Intermedialität“ bezeichnet), und drittens kann sie versuchen, inhaltlich-thematisch Aufmerksamkeit zu erregen. Die dritte Strategie ist ein transmediales Phänomen wie z. B. der Bezug auf tradierte Mythen76 oder die Umsetzung eines gesellschaftspolitisch relevanten Themas77 und auch die Ebene der Provokation78. Dies bedeutet nach Irina RAJEWSKY das medienunspezifische „Auftreten desselben Stoffes oder die Umsetzung einer bestimmten Ästhetik bzw. eines bestimmten Diskurstyps in verschiedenen Medien, ohne daß hierbei die Annahme eines kontaktgebenden Ursprungsmediums wichtig oder möglich ist“.79 In der Art und Weise, wie diese „Kampfthemen“ in den Kunstwerken und Performanzen ästhetisch umgesetzt werden, sind medienspezifische Mittel zu erkennen. Entsprechend gliedert sich die vorliegende Arbeit in drei Dimensionen, innerhalb derer erkundet werden soll, ob und wie die einzelnen Werke und Stücke sich eher von anderen medialen Umsetzungen abheben oder sich an deren Potenziale und möglicherweise Erfolge anlehnen – kurz, wie die thematischen Dimensionen medienspezifisch bearbeitet und ausgereizt werden können. Eine häufige Strategie dabei ist die Intermedialität. Ihre Praxis und auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit ihr ist laut Joachim PAECH „in“. Die Literaturwissenschaft hat es aufgegeben zu ignorieren, „daß ihre Texte gedruckt und in Büchern verkauft und nun auch noch statt gelesen in Filmen, im Fernsehen, Vi-
75 Nach: Karpenstein-Eßbach, Ch.: Medien als Gegenstand der Literaturwissenschaft. In: Bildschirmfiktionen. Interferenzen zwischen Literatur und neuen Medien. Hg. v. J. Griem. S. 20. Dort heißt es: „Angesichts der Konkurrenzen mit den neuen Medienapparaten stehen die verschiedenen Künste vor der Notwendigkeit, ihre spezifischen Leistungen zu pointieren oder in ihren Kunstpraxen darauf zu antworten, daß genuine Momente ihrer traditionellen Leistungen auch mit Hilfe der neuen Apparate erbracht werden können.“ 76 In dieser Arbeit die dritte zu untersuchende Dimension, Kapitel IV. Mythische Konzepte werden häufig „mit all ihren Transformationen für mediales Reiz- und Gefühlsmanagement fruchtbar gemacht“. Karpenstein-Eßbach, Ch.: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. S. 224. 77 In Kapitel III die Finanzkrise. 78 Ekeldarstellung und -evokation, untersucht in Kapitel II. Hier wird mit „Konventionen der Erfahrung des Schönen“ gebrochen, um Aufmerksamkeit durch Schock zu provozieren. Ebd., S. 225. 79 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen, Basel: A. Francke 2002. S. 12f.
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deo und auf CD-Rom gesehen […] werden können.“80 Und auch für Medien- und Kulturwissenschaft ist Intermedialität zum „Zentralbegriff“81 geworden. Entsprechend gibt es keine einheitliche Begrifflichkeit, weshalb RAJEWSKY „Intermedialität“ mit Umberto ECO als „termini ombrello“82 bezeichnet. Unter diesem Schirmbegriff subsummieren sich verschiedenen Disziplinen und Methoden, die auch im Zuge der Untersuchung der Medienkonkurrenz von Bedeutung sind und für die vorliegende Arbeit herangezogen werden: Als ersten Forschungsstrang der Intermedialität nennt RAJEWSKY in ihrer systematischen Übersicht die Untersuchung der wechselseitigen Erhellung der Künste. Solche beziehen sich auf die Künste- und Medieninterferenzen und folglich auf die Medienkonkurrenz. Den Ursprung bildet hier wohl Oskar WALZELS gleichnamige Untersuchung von 1917, worin er dem Verhältnis von Dichtung und bildender Kunst nachgeht83 und feststellt, dass die Grenzen „auch nach LESSINGS ‚Laokoon‘ nicht leicht zu ziehen“84 sind. Aktuelle diesem Forschungsstrang zuzuordnende Analysen befassen sich mit den Kunstformen, die sich aus den Wechselwirkungen mit modernen Medien entwickeln, wie etwa Christiane HEIBACH mit den multimedialen Möglichkeiten der Aufführung und deren neuen Kunstformen.85 Die Symbiose von Kunst und Medien ist auch das Thema des Sammelbandes von Sigrid SCHADE und Georg Christoph THOLEN, worin die Künste selbst daraufhin untersucht werden, inwieweit sie ihre eigenen medialen Rahmenbedingungen reflektieren.86 Über die Symbiose hinaus führen Werke unter dem Paradigma des gegenseitigen Wettstreits der Künste. Hierin geht es ebenfalls um Intermedialität, die nicht 80 Paech, Joachim: Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Hg. v. Jörg Helbig. Berlin: Erich Schmidt 1998. S. 14. Zu Paechs Intermedialitätsforschung siehe auch: Paech, Joachim: Intermedialität des Films. In: Moderne Film Theorie. Hg. v. Jürgen Felix. Mainz: Theo Bender 2002. S. 287–316. Und: Film, Fernsehen, Video und die Künste. Strategien der Intermedialität. Hg. v. Joachim Paech. Stuttgart, Weimar: Metzler 1994. 81 Hörner, Fernand; Neumeyer, Harald; Stiegler, Bernd: Einleitung. In: Praktizierte Intermedialität. Deutsch-französische Porträts von Schiller bis Giscinny/Uderzo. Hg. v. ebd. Bielefeld: transcript 2010. S. 9. 82 Vgl.: Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. S. 6. 83 Walzel, Oskar: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Begriffe. Berlin: Verlag von Reuther & Richard 1917. 84 Ebd., S. 9. 85 Heibach, Christiane: Multimediale Aufführungskunst. Medienästhetische Studien zur Entstehung einer neuen Kunstform. München: Fink 2010. 86 Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien. Hg. v. Sigrid Schade und Georg Christoph Tholen. München: Fink 1999.
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allein in der Konkurrenz zwischen den einzelnen Kunstwerken ausgetragen wird, sondern zwischen den unterschiedlichen medialen Kunstformen und damit auch zwischen der sogenannten high und low culture.87 Unter dieser Frage nach dem „höheren sozialen Status und höheren Grad an zugemessener Legitimität“88 erhält die Konkurrenz einen soziologischen Aspekt. Medienkonkurrenz meint in diesem Verständnis die Kriterien, die ein „Leitmedium“89 erfüllt, auf die die intermedialen Bezugnahmen gründen. Einen „Kampf der Künste“ nimmt gar der Sammelband von FISCHER-LICHTE, HASSELMANN und KITTNER wahr.90 Künste „kämpfen“ durch intermediale Strategien im Zeichen der Medienkonkurrenz um die finanziellen Ressourcen und die Aufmerksamkeit der Rezipienten. Als zweiten Strang unter dem Schirm der Intermedialität sieht RAJEWSKY die „Auseinandersetzung von Autoren, Film- und Kulturtheoretikern mit dem damals neuen Medium des Films.“91 Auf diese Theorien, die teilweise sozusagen direkt der Praxis entstammen – um nur einige wenige zu nennen z. B. von BALÁZS92, André BAZIN93, Wsewolod PUDOWKIN94 und Autoren wie Alfred DÖBLIN95, Hugo von
87 Der neue Wettstreit der Künste. Legitimation und Dominanz im Zeichen der Intermedialität. Hg. v. Uta Degner u. Norbert Christian Wolf. Bielefeld: transcript 2010. 88 Ebd., S. 10. 89 Ebd., S. 11. 90 Kampf der Künste!: Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien. Hg. v. Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner. Bielefeld: transcript 2014. 91 Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. S. 8. 92 Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch (1924). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. Franz-Josef Albersmeier. 3. Aufl. Stuttgart: Reclam 1998. S. 224–233. Balázs, Béla: Mienenspiel und Physiognomie im Film (1924). In: Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim. Hg. v. Helmut H. Diederichs. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004. S. 212–221. Balázs, Béla: Zur Kunstphilosophie des Films (1938). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. Franz-Josef Albersmeier. 3. Aufl. Stuttgart: Reclam 1998. S. 201–223. 93 Bazin, André: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Hg. v. Hartmut Bitomsky, Harun Farocki und Ekkehard Kaemmerling. Köln: DuMont 1975. Darin wirft er einen Blick auch auf die anderen Künste, den Roman, das Theater und die Malerei und plädiert für die Adaption. 94 Pudowkin, Wsewolod I.: Filmregie und Filmmanuskript. Einführung zur ersten deutschen Ausgabe (1928). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. Franz-Josef Albersmeier. 3. Aufl. Stuttgart: Reclam 1998. S. 70–73. Er grenzt hinsichtlich der medialen Potenziale des „maximal Beeindruckenden“ Literatur von Film ab, Theater von Literatur, Malerei und Film. Der Filmemacher zieht „Bilanz über die schematischen Definitionen der Mög-
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HOFMANNSTHAL96, Thomas MANN97, jüngeren Datums auch Milan KUNDERA98 und für das Theater etwa Bertolt BRECHT und Hermann NITSCH – wird an gegebenen Stellen auch in dieser Arbeit zurückgegriffen, da sie stellenweise sehr konkret auf die ästhetischen Vermögen der jeweils eigenen Kunstpraxis in Abgrenzung zu anderen eingehen.99 Deren Verteidigungen des eigenen Mediums zeigen, dass die Medienkonkurrenz zwar in der interdisziplinären Forschung ein relativ junger Begriff ist, nicht aber die Thematisierung durch die Künstler selbst.100 Entsprechend kann auch das fiktionale Werk von Kunstschaffenden – Romane, Filme und Theaterstücke – auf Reflexionen der Medialität hin untersucht werden, oft bieten die Werke selbst „Differenzmarkierungen“ z. B. „in schriftstellerischen Selbstexplikati-
lichkeiten verschiedener Künste“ hinsichtlich der Empfindung der Bewegung in der Zeit und zur Weltdarstellung. Ebd., S. 90. Pudowkin, Wsewolod I.: Über die Montage (Anfang der vierziger Jahre). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. Franz-Josef Albersmeier. 3. Aufl. Stuttgart: Reclam 1998. S. 74–96. 95 Döblin, Alfred: Bemerkungen zum Roman (1917). In: Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. v. Hartmut Steinecke u. Fritz Wahrenburg. Stuttgart: Reclam 1999. S. 413–416. 96 Hofmannsthal, Hugo von: Der Ersatz für die Träume. In: Kino-Debatte: Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929. Hg. v. Anton Kaes. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978. S. 149–152. Hofmannsthal, Hugo von: Max Reinhardt. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. Klaus Lazarowicz und Christopher Balme. Stuttgart: Reclam 1991. S. 484–486. 97 Mann, Thomas: Über den Film (1928). In: Kino-Debatte: Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929. Hg. v. Anton Kaes. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978. S. 164–166. 98 Kundera, Milan: Die Kunst des Romans. Essay. Aus dem Frz. v. Brigitte Weidmann. Frankfurt/Main: Fischer 1989. 99 Siehe hierzu auch das berufspraktische Essay von David Lodge zur Frage, warum sich ein Autor für ein bestimmtes Medium entscheidet: Lodge, David: Roman, Theaterstück, Drehbuch. Drei Arten, eine Geschichte zu erzählen. In: Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets. Hg. v. Jörg Helbig. Berlin: Erich Schmidt 1998. S. 68–80. 100 Der Sammelband von Anton Kaes führt vor Augen, dass das Aufkommen des Kinos eine Welle an Reflexionen über die neue Konkurrenzlage ausgelöst hat: Kino-Debatte: Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929. Hg. v. Anton Kaes. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978.
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onen“ und in „literarischen Konstruktionsweisen der Abgrenzung“.101 So gehen etwa die Beiträge in dem von Sandra POPPE und Sascha SEILER herausgegebenen Sammelband102 vor, die sich mit der Beschreibung von Medien-Künste-Interferenzen (Musik, Malerei, Film und Fotografie) in der Sprachkunst befassen.103 Auf das inszenatorische Potenzial von Buchstaben als Mittel zur Behauptung in der Medienkonkurrenz macht Christa KARPENSTEIN-EßBACH aufmerksam,104 und Lothar VAN LAAK untersucht die das Medium selbst zur Darstellung bringenden Erzählungen von BRECHT, Uwe JOHNSON und Filme Lars VON TRIERS.105 Explizit in Medienkonkurrenzen zu denken hält VAN LAAK aber für „wenig produktiv, wenn man die spezifische Medialität eines Mediums bestimmen will“,106 wobei er aber weder genau definiert, was er unter Medienkonkurrenzen versteht, noch eine in seinem Verständnis unfruchtbare Studie derselbigen aufführt. Sein negatives Urteil hängt vermutlich mit der tatsächlich wenig fruchtbaren „Klage“ über die in der Konkurrenz bisweilen als unterlegen angenommene Literatur zusammen.107 Hier schlägt sich deutlich nieder, dass der Begriff der Medienkonkurrenz zwar öfters gebraucht, aber meist nicht näher geklärt und folglich unterschiedlich ausgelegt wird. Ebensowenig macht sich die zahlreiche Forschung zur Intermedialität108 ihr Verhältnis zur Medienkonkurrenz klar, d. h. sie nimmt sie nur implizit unter ihren 101 Karpenstein-Eßbach, Ch.: Literatur zwischen inszenierten Wahrnehmungen. In: Konfigurationen. Hg. v. S. Schade u. G. Ch. Tholen. S. 189. 102 Literarische Medienreflexionen. Künste und Medien im Fokus moderner und postmoderner Literatur. Hg. v. Sandra Poppe u. Sascha Seiler. Berlin: Erich Schmidt 2008. 103 Vgl.: Ebd., S. 7. 104 Karpenstein-Eßbach, Christa: Inszenierungen der Schrift. Literatur und Medienkonkurrenz. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Stuttgart: Metzler 1980. S. 25–31. 105 Van Laak, Lothar: Medien und Medialität des Epischen in Literatur und Film des 20. Jahrhunderts. Bertolt Brecht – Uwe Johnson – Lars von Trier. München: Fink 2009. 106 Ebd., S. 157. 107 Ebd., S. 164. Albersmeier z. B. wendet sich aber bewusst vom Hegemoniestreit der Medien ab: Albersmeier, Franz Josef: Theater, Film, Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1992. 108 Eine grundlegende Einführung in die Intermedialität leistet: Literatur intermedial. Musik, Malerei, Photographie, Film. Hg. v. Peter V. Zima. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1995. Einen Überblick über die verschiedenen Ausarbeitungen des Intermedialitätsbegriffs von den 1980ern bis um 2000 gibt: Mertens, Mathias: Forschungsüberblick „Intermedialität“. Kommentierungen und Bibliographie. Mit den Beiträgen „Literatur und mediale Wahrnehmung in kulturwissenschaftlicher
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begrifflichen Schirm bzw. verkennt den Zusammenhang mit ihr. Für die Methodik dieser Arbeit ist es wichtig, die Verbindungen herzustellen. Grundlegend ist dabei zunächst die Erkenntnis, dass sowohl das Präfix „Inter“ als auch „concurrere“ – das Zusammenlaufen der Medien und Künste – auf ursprüngliche Grenzen oder zumindest Differenzen hinweisen. Bevor es eine Verbindung geben kann, muss es Unterschiede gegeben haben oder immer noch geben, weshalb „Mediendifferenz primordial ist“.109 Entsprechend antwortet Lars ELLESTÖM auf die Frage, was Intermedialität nun sei: „To answer this question, one must also ask what a medium is and where we find the ‘gaps’ that intermediality bridges. Clearly, the supposedly crossed borders must be described before one can proceed to the ‘inter’ of intermediality.“110 Diese freilich überschreitbaren Grenzen oder Trennlinien sind es, welche den Medien-Künste-Konkurrenzen zugrundeliegen. Deshalb werden in dieser Arbeit zunächst auf theoretischer Ebene komparatistisch die verschiedenen Potenziale von Roman, Film und Theater erarbeitet und beschrieben, die in der Praxis miteinander konkurrieren. Konkurrenzen gibt es aber natürlich auch innerhalb dieser „Grenzen“, z. B. zwischen Romanautoren im Literaturbetrieb (um höhere Verkaufszahlen oder Preise und Ehrungen) oder zwischen Filmschaffenden (man denke nur an die vielen Filmfestspiele und Förderungen) und zwischen den Theatern. In beiden Fällen – Interkonkurrenz und Intrakonkurrenz – gilt es, sich aufzuwerten, und zwar, wie bereits beschrieben, durch Pointierung der eigenen Qualitäten (Abgrenzung), durch Reizthemen (z. B. die drei Dimensionen dieser Arbeit) oder durch die Strategie der Intermedialität. Der Zusammenhang zwischen Intermedialität und Medienkonkurrenz besteht also darin, dass Intermedialität im Zuge der Medienkonkurrenz praktiziert wird.111 Das heißt, dass Kunstwerke unterschiedliche Medien verbinden und/oder mit ihnen experimentieren, so dass die Künstler selbst oft Grenzgänger zwischen den Medien sind und sich „zugleich als Maler, Schriftsteller, Musiker, Regisseure, Photographen“112 betätigen. Es wird zu untersuchen sein, ob praktizierte Intermedialität „in“ ist, weil sich die Konkurrenzlage, der Kampf um Publikumserfolge und mediale Aufmerksamkeit, verschärft hat und dies erfordert. Inzwischen geht es aber Perspektive“ von Heinz Brüggemann und „Intermedialität und Intertextualität“ (1983) von Aage A. Hansen-Löve. Hannover: Revonnah 2000. 109 Hörner, F.; Neumeyer, H.; Stiegler, B.: Einleitung. In: Praktizierte Intermedialität. S. 10. 110 Elleström, Lars: The Modalities of Media: A Model for Understanding Intermedial Relations. In: Media Borders, Multimodality and Intermediality. Hg. v. Lars Elleström. Basingstoke u. a.: Palgrave Macmillan 2010. S. 4. 111 Beispiele in: Praktizierte Intermedialität. Hg. v. F. Hörner, H. Neumeyer und B. Stiegler. 112 Hörner, F.; Neumeyer, H.; Stiegler, B.: Einleitung. In: Ebd., S. 13.
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nicht mehr nur darum, überhaupt Intermedialität zu praktizieren, um konkurrenzfähig zu sein, sondern sie ist vielmehr zu einer Selbstverständlichkeit geworden, die nur noch durch eine besondere Qualität der Wechselverhältnisse von Text, Bild, Ton und Digitalität hervorstechen kann.113 RAJEWSKY klassifiziert drei verschiedene intermediale Phänomene, die auch in den für diese Arbeit gewählten Dimensionen auftauchen: Erstens das Phänomen der Medienkombination wie die Multimedialität114 z. B. im Theater oder auch ermöglicht durch das E-Book. Die zweite, am häufigsten untersuchte Erscheinung ist die des Medienwechsels,115 oder auch Code-Wechsel genannt. Hierbei wird ein medienspezifischer Text in ein anderes Medium übertragen, z. B. die Adaption eines Romans in einen Film. Entsprechend des Mediums wird der Text umgeformt, was lange Zeit nicht dazu geführt hat, dass dabei mediale Potenziale untersucht wurden, sondern vielmehr der adaptierte Text nach zweifelhaften Kriterien hierarchisch bewertet wurde. Jürgen MÜLLER etwa will dagegen sowohl den Ursprungstext als auch den in ein anderes Medium adaptierten als unabhängige Kunstwerke betrachten und vielmehr die Aufmerksamkeit auf die medienspezifischen Transformationen richten.116 Die dritte Form sind die intermedialen Bezüge,117 wobei sich ein Kunstwerk (das Objektmedium, z. B. ein Roman) die ästhetische Medialität eines anderen (des Referenzmediums, z. B. Film) zu Nutze macht wie beim filmischen Schreiben in der Literatur oder umgekehrt bei der Literarisierung des Films.118 Intermediale Strategien beschränken sich dabei nicht auf Unterhaltung (U) oder Ernst 113 „Intermedialität ist dann nicht mehr nur per se ein Instrument der Dominanzbildung, sondern fungiert als Einsatz in einem Kampf, in dem es auf künstlerischer Seite darum geht, sich gegenüber konkurrierenden Entwürfen und Konzepten von Intermedialität als dominant zu erweisen.“ Degner, U.; Wolf, N. Ch.: Intermedialität und mediale Dominanz. Einleitung. In: Der neue Wettstreit der Künste. Hg. v. ebd. S. 13. 114 Rajewsky, I. O.: Intermedialität. S. 15f. 115 Ebd., S. 16. Siehe hierzu auch: Albersmeier, F. J.: Theater, Film, Literatur in Frankreich. Medienwechsel und Intermedialität. 116 Müller, Jürgen E.: Intermedialität und Medienwissenschaft. Thesen zum State oft the Art. In: montage/av 3,2, 1994. S. 119–138. 117 Rajewsky, I. O.: Intermedialität. S. 16f. 118 Siehe hierzu: Heller, Heinz-B.: Historizität als Problem der Analyse intermedialer Beziehungen. Die „Technifizierung der literarischen Produktion“ und „filmische Literatur“. In: Kontroversen, alte und neue: Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses. Band 10. Hg. v. Albrecht Schöne. Tübingen: Niemeyer 1986. S. 277–285. Zu den Strategien der Intermedialität siehe auch: Prümm, Karl: Intermedialität und Multimedialität. Eine Skizze medienwissenschaftlicher Forschungsfelder. In: Ansichten einer künftigen Medienwissenschaft. Hg. v. Rainer Bohn, Eggo Müller u. Rainer Ruppert. Berlin: Ed. Sigma Bohn 1988.
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(E), und Erkenntnisse über mögliche „Spielformen medialen Experimentierens“119 im Zuge der Konkurrenz finden sich z. B. auch in sogenannten „Trivialromanen“ oder „drittklassigen“ Filmen und Theaterstücken. Dies ist mit ein Grund dafür, dass sich die Korpusauswahl nicht nach ohnehin schwer zu bestimmenden Qualitätsansprüchen der „Hochkünste“ zu richten braucht.120 Aus dieser Übersicht zur Theorie der Medienkonkurrenz und ihren (teils intermedialen) Strategien ergibt sich zusammenfassend folgende, dieser Arbeit zugrundeliegende Definition und Methodik: Unter dem Begriff der Medienkonkurrenz werden nach kulturwissenschaftlichen (nicht ökonomischen) Aspekten die Interferenzen von Künsten und Medien untersucht, das heißt deren Zusammentreffen in einer Art Rivalität – um Intensitäten der Wirkung bei den Rezipienten und in der Kulturlandschaft –, die durch die spezifischen technischen, ästhetischen, sinnlichen und philosophischen Qualitäten, Differenzen und Leistungen der Medien ausgetragen wird. Darum ist es sinnvoll, nun zuerst auf theoretischer Ebene die Unterschiede und Potenziale der einzelnen Künste Roman, Film und Theater und ihrer Medien komparatistisch zu ergründen, um anschließend zu den praktischen Strategien ihrer Konkurrenz vorzudringen. Als erstes wird hierbei nun untersucht, was die Kunst des Romans mit ihrer medialen Gebundenheit an Sprache und Buch auszeichnet, und zwar in Abgrenzung zu den anderen Künsten und Medien Film und Theater.
119 Hörner, F.; Neumeyer, H.; Stiegler, B.: Einleitung. In: Praktizierte Intermedialität. Hg. v. F. Hörner, H. Neumeyer und B. Stiegler. S. 14. 120 „[…] Scheitern kann produktiv und instruktiv sein. Auch das ist eine Lehre, die wir aus der praktizierten Intermedialität ziehen können.“ Ebd., S. 14.
I. DIE THEORIE DER MEDIENKONKURRENZ
1. Die Theorie des Romans Eine literarische Gattung im Spannungsfeld der Medien und anderer Gattungen
Der Roman ist eine literarische Gattung, welche seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer Dominanz gelangt ist, die sich seitdem über die Jahrhunderte aufgrund ihrer großen Massenpopularität noch verstärkt hat.1 Die mediale Implikation des Romans ist durch seine Schriftlichkeit begründet. Er stand schon von Beginn an in einem Konkurrenzverhältnis, nämlich zu den anderen literarischen Großformen Lyrik und Dramatik. In der Literaturgeschichte wurde der Roman zunächst nicht einmal als poetische Gattung anerkannt. Die Wende kam laut Hartmut STEINECKE mit dem Erscheinen von GOETHES Roman Werther: Durch dessen Qualität sowie Popularität errang der Roman eine Stellung im literarischen Gattungsgefüge – zunächst allerdings ganz unten in der Hierarchie.2 Doch er war schon immer durch seine Massenwirksamkeit gekennzeichnet, wie bereits aus dem Wort ‚romanz‘ hervorgeht, das in Frankreich seit dem 12. Jahrhundert „volkssprachliche Schriften in Vers oder Prosa“ bezeichnete, „die nicht in der gelehrten ‚lingua latina‘, sondern in der allgemein verständlichen ‚lingua romana‘ verfaßt waren.“3 Sein Sujet waren zunächst nur „Unterhaltung und Unterweisung“, doch wurde er schließlich auch als Kunstform anerkannt.4 Nach dem Aufstieg zur heute vorherrschenden Literaturgattung trat der Roman mit dem Aufkommen des Films in das Konkurrenzgefüge einer sich rasant entwickelnden Medienlandschaft ein. Der Film entwickelte sich stetig weiter, ebenso wie
1
Vgl.: Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. v. Hartmut Steinecke u. Fritz Wahrenburg. Stuttgart: Reclam 1999. Einleitung. S. 16.
2 3
Ebd., S. 16. Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v. Ansgar Nünning. 2. überarb. u. erw. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001. S. 394.
4
Ebd. S. 394.
38 | I. DIE T HEORIE DER M EDIENKONKURRENZ
die Möglichkeiten des Theaters. Auf der Theaterbühne kommen verstärkt nicht mehr nur dramatische Stoffe zur Aufführung, sondern es gibt eine Tendenz zur Performanz von Romanstoffen. Auch in das Medium Film wandern die epischen Stoffe ab. Was dabei mit den Stoffen geschieht, ergibt sich aus den medialen Differenzen: Schriftsprachlichkeit, Performanz und Filmbilder haben jeweils andere technische und ästhetische Potenziale, um Stoffe zu vermitteln, die Sinne der Rezipienten anzuregen und damit auch auf deren Lebensrealität einzuwirken. Die gegenwärtige mediale Konkurrenzsituation scheint sich zu verstärken – man denke nur an die Flut von Literaturverfilmungen und theatralen Inszenierungen von Romanstoffen. Dennoch hat der Roman neben Film und Theater weiterhin als „Massenprodukt“ Bestand. Um diese Konkurrenzlage zu untersuchen, gilt es, zunächst danach zu fragen, was den Roman selbst auszeichnet: sowohl als Produkt als auch bezüglich seiner rezeptionsästhetischen Seite, das Lesen. In diesem Kapitel sollen folglich die Besonderheiten des Romans auf ästhetischer, philosophischer, technischer und psychologisch-anthropologischer Ebene herausgearbeitet werden. Nun gibt es bisher keine singuläre Romantheorie, welche die Gattung vor dem Hintergrund ihrer Konkurrenz mit den Medien betrachtet. Die verschiedenen Theorien wie z. B. von Georg LUKÁCS,5 Michail M. BACHTIN,6 Käte HAMBURGER7 und Milan KUNDERA8 geben aber auf verschiedenen Ebenen Hinweise auf die Besonderheiten des Romans in Abgrenzung zu anderen literarischen Gattungen und teilweise auch Medien. Darum werden in diesem Kapitel heterogene Ansätze der Romanforschung auf die Fragestellung der Mediendifferenzen und -konkurrenzen hin gefiltert und miteinander in Verbindung gebracht. Sie entstammen jeweils einem anderen zeitgeschichtlichen Horizont, was jedoch ihren Aussagen über die Ästhetik des Romans, seine sprachliche Medialität und sein Verhältnis zur Wirklichkeit keinen Abbruch tut. 5
Lukács, Georg: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Luchterhand 1965.
6
Zurückgegriffen wird hier auf eine Auswahl aus Bachtins vielfältiger Beschäftigung mit der Epik: Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Aus dem Russischen v. Michael Dewey. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2008. Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman. (1934/35) In: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. Rainer Grübel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1979. S. 154–300. Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung. (1941) In: Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt/Main: Fischer 1989.
7
Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung. Stuttgart: Ernst Klett Verlag 1957.
8
Kundera, Milan: Die Kunst des Romans. Essay. Aus dem Frz. v. Brigitte Weidmann. Frankfurt/Main: Fischer 1989.
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LUKÁCS’ Romantheorie beispielsweise ist 1914/’15 zu Beginn des Ersten Weltkriegs unter dem Eindruck der Krise der westlichen Zivilisation entstanden. Auch BACHTIN litt während seiner Theoretisierung des Romans in den 1930er Jahren unter politischen Repressionen: Er schrieb sie unter den „schwierigen Bedingungen des Stalinismus und vor dem Hintergrund einer dominierenden marxistischen Kunsttheorie“.9 Der Roman um 2000 steht vor anderen gesellschaftspolitischen und medialen Herausforderungen, aber seine Gebundenheit an das Medium Sprache, seine Schriftlichkeit und speziellen Charakteristika als literarische Gattung zeichnen ihn von Anbeginn aus. Und diese sind es, die bei der Untersuchung der Mediendifferenzen und schließlich auch -konkurrenzen interessieren.
V OM S CHEITERN
DER
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Doch was ist der Roman überhaupt, wie lässt er sich greifen? Diese scheinbar so einfach zu beantwortende Frage stellt sich bei genauer Betrachtung als so komplex dar wie die Frage nach der Beschaffenheit der Welt selbst. Aus welchen Gründen ist eine Definition dieses epischen Genres so schwierig? Eine mögliche Antwort darauf ist auf verschiedenen Ebenen zu suchen, die miteinander zusammenhängen: Erstens ist die Gattung durch eine formale Offenheit gekennzeichnet, die mit zweitens der Ungebundenheit auf inhaltlich-thematischer Ebene einhergeht. Damit kann drittens auf Rezipienten-Ebene prinzipiell jede Publikumsschicht angesprochen werden. Zur ersten formalen Ebene zeigt sich Milan KUNDERA in Die Kunst des Romans desillusioniert: Die Form des Romans ist die einer fast unbegrenzten Freiheit. Der Roman hat aber im Laufe seiner Geschichte davon nicht profitiert. Er hat diese Freiheit verfehlt. Er hat viele formale Möglichkeiten ungenutzt gelassen.10
Welche formalen Möglichkeiten er damit meint, lässt KUNDERA offen. Das liegt vermutlich an der Diffusion der formalen Merkmale des Romans, welche die Romanforschung laut BACHTIN nicht greifen kann. Die Arbeiten versuchten zwar, die Spielarten des Romans durch Beschreibung festzuhalten, aber es ließe sich keine gemeinsame Formel aufstellen:
9
Dembski, Tanja: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lukács, Bachtin und Rilke. Würzburg: Königshausen und Neumann 2000. S. 10.
10 Kundera, Milan: Die Kunst des Romans. Essay. Aus dem Frz. v. Brigitte Weidmann. Frankfurt/Main: Fischer 1989. S. 93.
40 | I. DIE T HEORIE DER M EDIENKONKURRENZ Mehr noch – es gelingt den Forschern nicht, auch nur ein einziges bestimmtes und festes Merkmal des Romans anzugeben, an das sich nicht eine Klausel anschlösse, durch die dieses Merkmal als Genremerkmal völlig annulliert wird.11
Als ein solches „verklausuliertes“ Merkmal führt er z. B. auf: „[D]er Roman ist ein Prosagenre, obwohl es auch bemerkenswerte Versromane gibt.“12 Diese Formlosigkeit des Romans trifft auch auf inhaltlicher Ebene zu („der Roman ist eine Liebesgeschichte, obwohl den bedeutendsten Prototypen des europäischen Romans das Liebesmoment völlig fehlt“13) und folglich ebenso auf der Ebene der Publikumsschicht.14 Als Grund für diese Heterogenität scheint BACHTINS Argument plausibel, nach dem der Roman noch immer im Werden begriffen, d. h. noch nicht fertig oder festgelegt, ist: „Das Genreskelett des Romans hat sich noch längst nicht verfestigt, und wir können noch nicht alle seine Wandlungsmöglichkeiten erahnen.“15 Besonders augenfällig ist diese Feststellung BACHTINS im medialen Zeitalter geworden, in dem sich der Roman in Form und Inhalt noch viel schneller zu wandeln scheint als in der Vergangenheit. Außerdem sei der Roman auch jünger als die anderen literarischen Gattungen16 – das Epos und die Dramatik17 –, die ihre Natur noch im „Mündlichen und Ohrenfälligen“ hätten und daran bis heute auch noch gebunden seien.18 Weil der Roman eine junge Gattung ist, die noch im Werden begriffen und keiner Regelpoetik verpflichtet ist, kann er diversifizierter auf die Verhältnisse der Wirklichkeit und Problemlagen reagieren. Nach LUKÁCS macht aber gerade das seine Gefährdung aus: So erscheint der Roman im Gegensatz zu dem in der fertigen Form ruhenden Sein anderer Gattungen als etwas Werdendes, als ein Prozeß. Er ist deshalb die künstlerisch am meisten
11 Epos und Roman. In: Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. S. 216. 12 Ebd., S. 216. 13 Ebd. 14 „Der Roman ist ein problemorientiertes Genre, obwohl die Massenproduktion von Romanen als ein Muster reiner Unterhaltsamkeit und Gedankenarmut dienen kann […].“ Ebd. 15 Ebd., S. 210. 16 Bachtin verwendet hierfür den Begriff „Genre“, womit er aber keine Untergenres des Romans wie z. B. den Abenteuerrroman oder den Liebesroman meint, sondern die epische Gattung des Romans selbst. 17 Aber auch die Gattung der Lyrik kann hier genannt werden, auf die sich Bachtin an dieser Stelle dennoch nicht explizit bezieht. Man denke an das mündliche Aufsagen von Gedichten. 18 Epos und Roman. In: Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. S. 210.
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gefährdete Form und wurde von vielen, aus Gleichsetzung von Problematik und Problematisch-Sein, als Halbkunst bezeichnet.19
Dennoch ist natürlich nicht jeder Roman explizit auf Problemlagen der Wirklichkeit bezogen. Sein Spektrum ist auf allen Ebenen sehr breit. Und das ist das Einzige, was bei dem Versuch einer Definition des Romans festgehalten werden kann, um nicht an der Verklausulierung von aufgezählten Merkmalen zu scheitern: Der Roman als die wandlungsfähigste aller Gattungen kann unzählige, auch noch unabsehbare Formen annehmen, narrativ ganz unterschiedlich aufgebaut sein und inhaltlich sowohl problembezogen als auch rein unterhaltend sein.
D IE S ONDERSTELLUNG DES R OMANS P RODUKT AUS F ORM UND I NHALT
ALS EIN NARRATIVES
Die in dieser Arbeit gestellte Frage ist aber nicht nur, was die Sonderstellung des Romans unter den anderen literarischen Gattungen ausmacht, sondern was ihn von den zu untersuchenden Künstemedien Film und Theater abgrenzt. Welche ästhetischen Möglichkeiten hat er, um zeitliche und räumliche Inhalte, Figuren und Handlung zu vermitteln, die andere Künste nicht haben? Dabei soll es nun zunächst um das Verhältnis des Romans zur Wirklichkeit gehen, das durch seine an die Sprache gebundene Form ein anderes ist als das der performativen Medien. Roman und Wirklichkeit Der Roman – subsummiert unter den Oberbegriff der Dichtung – exponiert sich nach HAMBURGER gegenüber den anderen Künsten durch seine sprachliche Gebundenheit. Das heißt, sein Gestaltungsmaterial ist die Sprache, und diese ist „zugleich das Medium […], in dem sich das spezifisch menschliche Leben überhaupt vollzieht“.20 Die Sprache ist „Produkt des menschlichen Geistes und seiner Geschichte“ und damit bereits sinngeprägt.21 Dem ist insofern zuzustimmen, als das abgebildete separate Objekt im Film oder der Körper auf der Bühne dagegen an sich noch kein Produkt des Geistes sind. Sie können in der Handlung eine sinnvolle Position einnehmen – oder eben auch nicht. Ein Wort dagegen ist nach HAMBURGER dem Denken näher und damit auch der menschlichen Wirklichkeit. Nun ist es richtig, dass die Welt durch Sprache strukturiert wird, doch muss angemerkt werden, dass nicht
19 Lukács, G.: Die Theorie des Romans. S. 71. 20 Hamburger, K.: Die Logik der Dichtung. S. 1. 21 Ebd., S. 2.
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jeder menschliche Gedanke sprachlicher Natur ist. Im Geiste regen sich nicht immer nur Wörter, sondern es blitzen auch Bilder auf. Darin wären die visuellen Medien dem menschlichen Denken näher. Dennoch ist das Medium Sprache sinngeprägt durch Strukturierungsprozesse menschlicher Gemeinschaften und löst beispielsweise bei der Romanlektüre imaginative Vorstellungsbilder aus. Festzuhalten bleibt, dass der Roman durch das Medium Sprache offensichtlich einen sehr starken Bezug zum menschlichen Sein hat, ohne objekthafte Bilder dafür vorführen zu müssen. Warum hat er dieses philosophische Potenzial? Obwohl der Roman keine real existierenden Objekte in der Lebenswelt braucht, ist die Wirklichkeit sein Stoff.22 Dabei kann laut BACHTIN nur der Roman versuchen, das Werden der Welt zu begreifen: Der Roman ist das einzige im Werden begriffene Genre, weshalb er das Werden der Wirklichkeit tiefer, wesentlicher, feinfühliger und schneller widerspiegelt. Nur der, der selbst im Werden begriffen ist, kann das Werden begreifen.23
KUNDERA geht sogar so weit, in diesem ontologischen Bezug des Romans dessen einzige Existenzberechtigung zu sehen. Der Roman müsse ein Modell der geschichtlichen Welt sein und die menschliche Existenz in noch unbekannten Bereichen enthüllen. KUNDERA insistiert auf dem Erkenntnisstreben des Romans und geht damit konform mit Hermann BROCH, der Romane, die das nicht befolgen, als Kitsch abwertet: Die einzige Existenzberechtigung eines Romans besteht darin, daß er einen unbekannten Aspekt des Lebens entdeckt. Und nicht nur das allein, sondern einen Aspekt, den überhaupt nur der Roman entdecken kann. Ein Roman, der nicht einen bislang unbekannten Bereich der Existenz entdeckt, ist unmoralisch. Erkenntnis ist die einzige Moral des Romans.24
Thomas MANN unterstreicht, dass der Roman in viel tiefgreifenderem Maße Erkenntnisse über den Menschen fördern könne als das Theater als „Kunst der Silhouette“, und zwar sowohl was den menschlichen Charakter als auch seinen „Leib“ betreffe.25 22 Hamburger meint, „daß Dichtung etwas anderes als Wirklichkeit ist, aber auch das scheinbar Entgegengesetzte, daß die Wirklichkeit der Stoff der Dichtung ist. Denn nur scheinbar ist dieser Widerspruch, da nur darum Dichtung von anderer Art ist als Wirklichkeit, weil diese ihr Stoff ist.“ Ebd., S. 6. 23 Bachtin, M. M.: Chronotopos. S. 214. 24 Kundera, M.: Die Kunst des Romans. S. 13. 25 „Der Roman ist genauer, vollständiger, wissender, gewissenhafter, tiefer als das Drama in allem was die Erkenntnis des Menschen an Leib und Charakter betrifft, und im Gegensat-
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Für LUKÁCS geht es dabei nicht nur um die Enthüllung des Menschseins an sich, sondern der Roman spiegle vielmehr das problematische Verhältnis, das der Mensch in der Moderne zu seiner Umwelt hat. Die Moderne ist für LUKÁCS das Zeitalter der „transzendentalen Obdachlosigkeit“26, und allein die Form des Romans könne auf diese neue Wirklichkeitserfahrung reagieren. Weil die „Problematik der Romanform hier das Spiegelbild einer Welt [ist], die aus den Fugen geraten ist“,27 ist der Roman für LUKÁCS die „paradigmatische Form der Moderne“28 und seine Aufgabe sei es, „die Negativität der Zeit aufzunehmen und sie als Form zu übersetzen.“29 Damit negiert LUKÁCS die Differenz von Kunst und Leben, und nach Rüdiger DANNEMANN teilt er diese „Intuition“ mit den Avantgardisten.30 Auf diese enge Verknüpfung führt es KUNDERA auch zurück, dass der Roman, anders als häufig prognostiziert, medial nicht verdrängt wird und der häufig befürchtete „Tod des Romans“ ausbleibt, solange die Welt von Zweifeln, Ambiguität und Relativität erfüllt ist: „Wenn der Roman wirklich verschwinden sollte, dann nicht, weil er am Ende seiner Kräfte ist, sondern weil er sich in einer Welt befindet, die nicht mehr die seine ist.“31 Gelinge es einem totalitären System, diese Bestandteile des menschlichen Lebens zu unterdrücken, so käme auch der Roman an sein Ende. Zu dem Versuch einer Romandefinition ließe sich dieses enge Verhältnis von Roman und menschlichem inneren und äußeren Leben anfügen: Wie auch Matthias BAUER festhält, ist der Roman ein „Anschauungsmodell der Welterfahrung“.32 Doch warum hat gerade der Roman solch eine starke philosophische Komponente? Im Folgenden soll es darum gehen, wie der Roman diese enge Beziehung zum Menschsein auf formalästhetischer Ebene aufbauen kann, die fest verknüpft ist mit den Möglichkeiten, Inhalte zu vermitteln. Welcher künstlerischen Mittel kann sich der Roman bedienen, auf die die Medien Film und Theater möglicherweise auch ze zu der Anschauung, als sei das Drama das eigentlich plastische Dichtwerk, bekenne ich, daß ich es vielmehr als eine Kunst der Silhouette und den erzählten Menschen allein als rund, ganz, wirklich und plastisch empfinde. Man ist Zuschauer in einem Schauspiel, man ist mehr als das in einer erzählten Welt.“ Mann, Thomas: Essays. Band 1: Frühlingssturm 1893–1918. Hg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. Frankfurt/Main: Fischer 1993. S. 59. 26 Lukács, G.: Die Theorie des Romans. S. 35. 27 Ebd., S. 12. 28 Dembski, Tanja: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Lukács, Bachtin und Rilke. Würzburg: Königshausen und Neumann 2000. S. 87. 29 Ebd., S. 85. 30 Dannemann, Rüdiger: Georg Lukács zur Einführung. Hamburg: Junius 1997. S. 29. 31 Kundera, M.: Die Kunst des Romans. S. 24f. 32 Bauer, Matthias: Romantheorie und Erzählforschung. Eine Einführung. 2. aktual. u. erw. Aufl., Stuttgart, Weimar: Metzler 2005. S. 1.
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zurückgreifen können? Warum könnte man, fasst man die Theorien zusammen, den Roman im medialen Konkurrenzgefüge als die literarische Gattung bezeichnen, deren Blätter und Lettern die Welt bedeuten? Das ästhetische Gestaltungspotenzial des Romans Ein Spezifikum des Romans ist es also, dass er so vielgestaltig und wandlungsfähig ist wie die Welt selbst. Das ist ihm möglich durch seine formale Offenheit, denn der Roman ist „keinem Vorbild und keiner Regelpoetik verpflichtet“,33 er kann sich als eine Form des Erzählens permanent verändern und experimentieren. BAUER bezeichnet ihn darum treffend als ein „Laboratorium des Erzählens“.34 Darunter fällt vor allem, dass der Roman ein Genremix ist: Er kann verschiedene Genres und Gattungen in sich aufnehmen oder nachahmen und dadurch sogar, wie BACHTIN meint, parodieren.35 Damit steht der Roman sozusagen über den anderen Gattungen und ist gleichzeitig eng mit ihnen verbunden. Das bezieht sich aber nicht nur auf künstlerische Gattungen – wie BACHTIN z. B. aufzählt „eingebettete Novellen, lyrische Stücke, Poeme, kleine dramatische Szenen usw.“36 – sondern auch auf Außerkünstlerisches („alltägliche, rhetorische, wissenschaftliche, religiöse u. a. Gattungen“37). Kurz: Grundsätzlich kann jede beliebige Gattung in die Konstruktion des Romans eingefügt werden, und in der Tat ist es sehr schwer, eine Gattung ausfindig zu machen, die nicht irgendwann einmal in einen Roman eingebaut worden ist.38
So kann ein Roman beispielsweise die außerkünstlerische Form eines Tagebuchs, eines Briefwechsels, einer Beichte oder auch eines Therapieberichts annehmen. Er könnte dabei aber auch allein die Stilmittel dieser anderen Gattungen einfließen las-
33 Ebd., S. 1. 34 Ebd., S. 9. 35 „Der Roman parodiert andere Genres (und zwar gerade als Genres), enthüllt das Konventionelle ihrer Formen und ihrer Sprache, verdrängt die einen Genres und fügt die anderen in seine eigene Konstruktion ein, wobei er sie umdeutet und anders akzentuiert.“ Michail M. Bachtin: Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung. (1941) In: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik. Frankfurt/Main: Fischer 1989. S. 212. 36 Ebd., S. 209f. 37 Ebd., S. 210. 38 Ebd.
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sen und so nicht nur einen Gattungsmix, sondern auch einen Stilmix39 produzieren. Der Roman ist also eine ästhetisch exzentrische Gattung der Freiheit. Diese formale Offenheit begründet zugleich seine potenzielle inhaltliche Komplexität. Ganz im Gegensatz zu den von KUNDERA diagnostizierten Vereinfachungsprozessen der (journalistischen) Massenmedien, welche die Welt in die gleichen Rubriken unterteilen und sich stilistisch und in ihrem Wortgebrauch sehr ähneln,40 kann die fiktionale Gattung des Romans dem Leser verdeutlichen: „Die Dinge sind komplizierter, als du denkst.“41 Der Stil des Romans setzt sich nach Bachtin aus vielen heterogenen Stilelementen zusammen, unter die z. B. der Dialog, Erzähltext, integrierte künstlerische oder außerkünstlerische Passagen oder nicht-künstlerische Erörterungen des Autors (z. B. moralische oder wissenschaftliche Erörterungen) fallen:42 Der Roman als Ganzes umschließt viele Stile, verschiedenartige Reden und verschiedene Stimmen. Der Gelehrte trifft hier auf heterogene stilistische Einheiten, die zuweilen auf unterschiedlichen sprachlichen Ebenen liegen und unterschiedlichen stilistischen Gesetzmäßigkeiten folgen.43
Eine Romanforschung, wie BACHTIN sie betreibt, untersucht diese stilistischen Einheiten nicht separat, sondern „im Ganzen“. Denn „der Stil des Romans besteht in der Kombination von Stilen; die Sprache des Romans ist ein System von ‚Sprachen‘.“44 Dies sind im Grunde die Elemente, aus denen sich ein Roman zusammensetzen kann, und die von Roman zu Roman unterschiedlich akzentuiert, kombiniert und gewichtet werden und ihm im Gesamten einen speziellen Stil geben. Sie sollen im Folgenden auf romanspezifische Besonderheiten hin untersucht werden: Was grenzt die narrative Stimme des Romans, den Stil der Figurenrede, die Dialoge von den anderen Medien ab?
39 Vgl. dazu auch: Schärf, Christian: Der Roman im 20. Jahrhundert. Stuttgart, Weimar: Metzler 2001. S. IX. 40 Vgl.: Kundera, M.: Die Kunst des Romans. S. 26. 41 Ebd., S. 26. 42 Bachtin, M. M.: Das Wort im Roman. In: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. R. Grübel. S. 156. 43 Ebd., S. 156. 44 Ebd., S. 157.
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Die Narration des Romans: Wer erzählt wie? Ein Roman hat oft vielfältigere Stimmen als ein Film oder Theaterstück, denn in den performativen Künsten fehlt meist die narrative Stimme des Erzählers. Die Technik des Romans impliziert eine Stimme, welche die Handlung in Raum und Zeit vermittelt, die Figuren beschreibt und auch die Dialoge darstellt. Im Film dagegen muss für die Vermittlung des Plots mit allen seinen Bestandteilen „keineswegs unbedingt eine narrative Stimme (z. B. als ‚voice over‘) bemüht werden“.45 Das bedeutet, dass das Erzählen im Roman immer mittelbar, d. h. vermittelt ist im Gegensatz zum unmittelbar dargestellten Geschehen auf der Leinwand oder Theaterbühne, wo die Figuren auftreten, direkt sprechen und nicht an eine narrative Vermittlung durch eine Erzählerstimme gebunden sind. Das liegt in der Sprachlichkeit einer schriftlichen wie auch mündlichen Erzählung begründet. Diese kann nach Gérard GENETTE nur bezeichnen und nicht wie ein Film oder Theaterstück zeigen und nachahmen. Somit hat der Roman als Erzählform keine Mimesis-Funktion.46 Eine „Mimesis-Illusion“47 kann aber erzeugt werden, wenn möglichst „detailliert, präzis oder ‚lebendig‘“48 erzählt wird, womit GENETTE ein eher szenisches Erzählen meinen könnte, in dem die Handlung, nicht aber die Erzählhaltung im Vordergrund steht. Norman FRIEDMAN wagt sogar die Verallgemeinerung, dass sich die „moderne fiction“49 weniger durch berichtendes, sondern stärker durch szenisches Darstellen kennzeichne.50 Diese Hypothese soll in dieser Arbeit überprüft werden, um festzustellen, ob sich der Roman den mimetischen Medien Film und Theater annähert, indem die Darstellung in konkreteren Szenen – in denen Rede und Tat das abstrakte Erzählen dominieren – überwiegt. Im Theater ist eine Erzählstimme eine eher ungewöhnliche Praxis, während im Film eine über der Szene stehende narrative „voice over“ zwar nicht die Norm ist, aber dennoch ein filmisches Stilmittel sein kann. Indem ein Film Handlung und Rede der Figuren nicht nur in der Szene entwickelt, sondern über eine Erzählstimme, nähert er sich der Literatur an. Anders als im Roman gibt es in Filmen aber fast nie einen sprechenden auktorialen Erzähler, der am Geschehen nicht beteiligt ist, sondern wenn es überhaupt eine Erzählstimme gibt, dann ist es eine in der Geschichte anwesende oder rückblickende Figur. Im Roman dagegen sind mehrere Varianten 45 Bode, Ch.: Der Roman. S. 102. 46 Genette, Gérard: Die Erzählung. München: Fink 1994. S. 116. 47 Ebd. S. 117. 48 Ebd. 49 Friedman, Norman: Erzählperspektive im Roman: Die Entwicklung eines kritischen Konzepts. In: Zur Struktur des Romans. Hg. v. Bruno Hillebrand. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1978. S. 156. 50 Ebd., S. 156.
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denkbar, die GENETTE kategorisch zusammenfasst in heterodiegetische, homodiegetische und autodiegetische Erzählungen. In ersteren ist der Erzähler selbst in der Geschichte nicht anwesend, in der homodiegetischen Erzählung dagegen schon. Als „autodiegetisch“ werden Erzählungen bezeichnet, in denen es um die Geschichte des Erzählers selbst geht, wie z. B. in Robinson Crusoe, wo der Erzähler zugleich die Hauptfigur ist und in der Ich-Form erzählt. Im Film ist die erste heterodiegetische Form völlig unüblich. Weil die Handlung in einem Roman sprachlich durch eine Erzählstimme vermittelt wird, ist sie, wie HAMBURGER meint, zugleich auch immer interpretiert.51 Selbst wenn das Geschehen neutral geschildert wird, ist die Szenerie doch immer durch das Wort gedeutet; d. h. die fiktive Welt des Romans ist eine per se gedeutete Welt, die der Leser so empfängt.52 Darin unterscheidet sich nach HAMBURGER die sprachlich vermittelte Erzählung von der Performanz des Films, der dem Zuschauer keine gedeutete Geschichte vermittle: Die filmische Erzählung weist dagegen bloß auf, so sehr auch der Filmregisseur dem Bilde deutende Funktionen einlegen mag. Denn weil eine solche Deutung nicht begrifflich verfestigt, sondern – wie die Dinge der Naturwirklichkeit – der Wahrnehmung überantwortet ist, ist das Erlebnis des Filmbildes ebenso wie das der Naturwirklichkeit jedem einzelnen Zuschauer als sein individuelles Erlebnis überlassen.53
Figuren und Helden Diese Deutung durch das Medium Sprache bezieht sich vor allem auf die Figuren im Roman und deren Rede, die lediglich in einer Mimesis-Illusion dargestellt werden können und weniger in ihrer Objekthaftigkeit. Das Personal des Romans sind erzählte Figuren und keine durch filmische Projektion oder auf der Bühne anwesenden Objekte. Dadurch sind sie nicht an Visualisierbarkeit, an sichtbare physische Handlungen gebunden, sondern der Roman kann auch innerliche, psychische Prozesse wiedergeben, während die anderen Medien lediglich die sichtbaren Folgen seelischer Abläufe darstellen können. Das zeichnet den Roman im Gegensatz zu sowohl anderen literarischen Gattungen als auch den Medien Film und Theater aus: das epische Ich ist durch seine Subjektivität gekennzeichnet. Wie HAMBURGER es formuliert, ist der Roman „der einzige Ort im System der Sprache […], wo Menschen in ihrem inneren Leben, ihrem wortlosen Denken und Fühlen dargestellt werden können“.54 Ein dramatisches Ich, also einen Menschen in seiner „Ich51 Vgl.: Hamburger, K.: Die Logik der Dichtung. S. 141f. 52 Nach ebd., S. 141. 53 Ebd., S. 142. 54 Hamburger, K.: Die Logik der Dichtung. S. 140.
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Originität“55 auf der Bühne oder auf der Leinwand, gebe es dagegen nicht. Der Roman kann das Handeln dritter Personen in ihrem inneren gegenwärtigen und vergangenen Erleben erzählen. Er ist „nicht an die geäußerte Mitteilung, die hörende Wahrnehmung gebunden und von ihr fragmentarisch begrenzt“56 und kann sich dadurch nach KUNDERA mit dem „Rätsel des Ich“,57 mit verschiedenen Aspekten des Menschseins beschäftigen. Für diesen Vorgang – so analysiert HAMBURGER die Epik – muss die Sprache des Romans auf Verben der inneren Vorgänge zurückgreifen wie „denken, sinnen, glauben, meinen, fühlen, hoffen u. a. m.“58 Es sind Verben, die von der Erzählstimme gebraucht werden, um die Innerlichkeit der Figuren zu markieren und auch zu deuten. Dabei variiert es nach Thema und Stil des Romans, wie stark die Figuren in ihrer Subjektivität oder in ihrer Äußerlichkeit dargestellt werden. Letzteres Betrachten der Personen „von außen“ ist eine stilistische Annäherung an filmisches und dramatisches Erzählen. Das hängt jeweils davon ab, ob die „Begebenheiten den Primat über die Personen“59 haben oder umgekehrt. Beide Formen kommen mehr oder weniger ausgeprägt meist in einem einzigen Werk vor.60 Eine interessante Frage ist, welche literaturgeschichtlichen Veränderungen es hierbei gibt, ob der moderne Roman möglicherweise stärker von der Subjektivität der Figuren geprägt ist als der traditionelle. Dieter WELLERSHOFF nennt diesen subjektiven Erzählstil die „Erlebnisperspektive“: In der literaturgeschichtlich jüngeren Erlebnisperspektive ist dagegen die Subjektivität total gesetzt. Es gibt kein Außerhalb und keine zeitliche Distanz. Alles erscheint so augenblickshaft, ungeordnet und subjektiv, wie die handelnde Person es erfährt. Auch ihr Denken hat keine objektive Bedeutung, sondern ist selbst Element des inneren und äußeren Geschehens, das andauernd den ganzen Fiktionsraum überschwemmt.61
Die Subjektivität ist eine Technik des Romans, die einerseits vom filmischen Erzählen eben aufgrund der verwendeten Innenperspektive der Figur entfernt ist, andererseits aber wie der Film weitgehend auf eine andere Erzählperspektive verzichtet und den Rezipienten direkt in das Geschehen hineinführt, ohne ihn darauf vorzubereiten: 55 Ebd., S. 76. 56 Ebd., S. 141. 57 Kundera, M.: Die Kunst des Romans. S. 31. 58 Hamburger, K.: Die Logik der Dichtung. S. 40. 59 Ebd., S. 83. 60 Vgl.: Ebd. 61 Wellershoff, Dieter: Fiktion und Praxis. In: Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. v. Hartmut Steinecke u. Fritz Wahrenburg. Stuttgart: Reclam 1999. S. 484 f.
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Er [der Leser. N.U.] wird nicht wie im traditionellen Roman vom Erzähler geführt und am Anfang mit den wichtigsten Informationen versorgt, sondern hineingestoßen in einen Fiktionsraum, der sich erst allmählich und vielleicht nie richtig, nie endgültig erschließt, der aber auch keine Fenster, keine Tür in ein sicheres Außerhalb hat.62
Gerade bei einer solchen Technik, die zwar die Innerlichkeit der Figuren offenlegt, sich aber in der „Begleitung“ durch den Erzähler zurückhält, bleiben Lücken in der Darstellung der Figuren. Solche Fehlstellen, die die Äußerlichkeiten der Figuren betreffen, gibt es in Film und Theater dagegen nicht. Doch auch über die Innerlichkeit der Romanfigur muss nicht alles gesagt sein, denn bei der Romanlektüre werden diese Lücken vom Leser automatisch ergänzt.63 Laut BODE macht das die Wirkung eines literarischen Textes erst aus: Nur weil da nicht alles ist, kann leserseits imaginativ ‚ergänzt‘ werden. Man macht sich eine Vorstellung von der Figur – aufgrund bestimmter Charakterisierungstechniken, die im Text zum Einsatz kommen, aber man macht sich diese Vorstellung selbst […].64
Daher rührt möglicherweise auch die häufig beklagte Enttäuschung bei der Rezeption von Literaturverfilmungen, in denen die Komplettierung zumindest der äußerlichen Merkmale durch das Filmbild erfolgt. Doch welche Techniken der Figurencharakterisierung stehen dem Roman auf der Ebene des discourse im Gegensatz zu den performativen Medien zur Verfügung? Figuren können im Roman wie auch in Theater und Film direkt und indirekt charakterisiert sein. Der Unterschied dabei ist, dass die direkte Charakterisierung (d. h. die Benennung der Merkmale einer Figur) im Roman oft durch einen Erzähler geleistet wird,65 während es diese direkte Beschreibung in Film und Theater meist nur durch andere Figuren oder durch Selbstcharakterisierung gibt. Indirekte Charakterisierung kommt dagegen in allen hier untersuchten Narrationen vor, der Charakter der Figuren offenbart sich demnach in ihrem Handeln und in ihrer Gesamtsituation: In welchem Umfeld sich eine Figur bewegt und in welcher Beziehung sie zu anderen steht, informiert den Rezipienten sowohl im Roman als auch in Film und Theater indirekt über dessen, wie HAMBURGER sagen würde, „Ich-Originität“. Die indirekte Charakterisierung ist neben der Voice-Over-Technik eine Möglichkeit von Film und Theater, eine Vorstellung von der Subjektivität einer Figur zu vermitteln. Weil im Roman der Erzähler die Figuren charakterisieren kann, sind sie möglich-
62 Ebd., S. 484. 63 Vgl. Bode, Ch.: Der Roman. S. 124. 64 Ebd. 65 Auch wenn dies nach Wellershoff im modernen Roman eher selten der Fall ist.
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erweise, wie noch zu untersuchen sein wird, mit einer größeren „Länge“66 konzipiert. Das bedeutet, dass ihre Entwicklung bis weit zurück in die Vergangenheit erzählt werden kann, selbst wenn das für die Handlung nicht von Bedeutung ist. Film und Theater würden eine Figur eventuell nur in ihrer ganzen Länge darstellen, wenn es für den Plot relevant ist. Zu analysieren wäre auch, ob die Figuren im Roman durch einen größeren und komplexeren Merkmalsatz gekennzeichnet sind, was ein Indiz für seine vielfältigeren erzähltechnischen Möglichkeiten sein könnte. Da der Roman auch die Innenperspektive schildern kann, weisen die Figuren vielleicht auch mehr Tiefe auf, d. h. das Verhältnis zwischen ihrem inneren Leben und dem äußeren Verhalten67 könnte diskrepanter sein. Was der Roman ebenfalls auf der Figurenebene im Gegensatz zu Film und Theater leisten kann, ist die Aufhebung der Flüchtigkeit von sinnlichen Empfindungen und Affekten. Sie können ausführlicher und damit intensiver geschildert werden, und nicht wie in Film und Theater nur kurz gezeigt werden. Besonders im Theater sind sinnliche Eindrücke wie im wahren Leben unwiderruflich. Darum kann der Roman die menschlichen Sinnesempfindungen studieren. Dies sind aber meist nicht die Empfindungen „alltäglicher“ Personen, sondern der Roman baut sich thematisch über den Figurentypus des Helden auf. Dieser durchlebt nach LUKÁCS – und das zeichnet die Möglichkeit des Romans durch das Medium Sprache wie bereits festgestellt aus – in seiner Innerlichkeit ein Abenteuer, nicht nur in der äußerlichen Handlung: Der Roman ist die Form des Abenteuers des Eigenwertes der Innerlichkeit; sein Inhalt ist die Geschichte der Seele, die da auszieht, um sich kennenzulernen, die die Abenteuer aufsucht, um an ihnen geprüft zu werden, um an ihnen sich bewährend ihre eigene Wesenheit zu finden.68
Dabei spielt es eine Rolle, dass ohnehin die Innerlichkeit und Äußerlichkeit der Welt des Helden nach LUKÁCS nicht miteinander im Einklang sind.69 Allein der subjektiv geprägte Roman kann diese „Fremdheit zur Außenwelt“70 des epischen Helden aufzeigen, indem er „die Wanderung des problematischen Individuums zu sich selbst“71 in dessen „Selbstspiegelung“72 beschreiben kann und nicht auf Äußer66 Vgl.: Pfister, Manfred: Das Drama: Theorie und Analyse. 11. erw. Aufl. München: Fink 2001. 67 Vgl.: Ebd., S. 241. 68 Lukács, G.: Die Theorie des Romans. S. 89. 69 Ebd., S. 64. 70 Ebd., S. 64. 71 Ebd., S. 79. 72 Dembski, T.: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. S. 320.
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lichkeiten festgelegt bleibt. Die Themen des Romanhelden der Moderne sind deshalb nach LUKÁCS Entfremdung, Sehnsucht, Einsamkeit73 und Heimatlosigkeit. In seiner ganzen Psyche ist er ein Suchender,74 weil er in Disharmonie zur objektiven Umwelt und zu den Mitmenschen steht,75 weshalb er oft von der Norm abweicht, ziellos herumstreift oder dem Verbrechen oder Wahnsinn anheimfällt.76 Dialog und Gedankenwiedergabe Für BACHTIN stellt der Romanheld ein Menschenbild der Potenzialität dar, dessen Forderungen nicht erfüllt sind, wodurch ein divergentes Verhältnis zur Außenwelt entsteht.77 Der Held des Romans vertritt nach BACHTIN einen „Standpunkt gegenüber der Welt“,78 weshalb auch der Rede des Helden eine große Bedeutung zukommt: „Der sprechende Mensch des Romans ist in diesem oder jenem Grade stets ein Ideologe, seine Wörter sind immer ein Ideologem.“79 Die Dialogizität sei deshalb eines der Kernelemente der literarischen Gattung des Romans, er kann eine „mehrstimmige Welt“80 kreieren. Tatsächlich ist die Polyphonie ein Bestimmungsmerkmal des Romans, weil in ihm noch stärker als in Film und Theater verschiedene Ansichten und Positionen verbal zur Äußerung kommen. Denn hier meldet sich neben den Figuren auch die Stimme des Erzählers zu Wort, und möglicherweise gibt es auch Einfügungen und Erklärungen durch den Autor oder gar die Stimme integrierter künstlerischer oder nichtkünstlerischer Gattungen. So fasst BACHTIN zusammen: „Der Roman ist künstlerisch organisierte Redevielfalt, zuweilen Sprachvielfalt und individuelle Stimmenvielfalt.“81 Er schafft dadurch eine vielfältige Orchestrierung sozialer Themen.
73 „Der Romanheld steht isoliert und vereinzelt in der Welt der Konventionen, und da die gemeinschaftliche Beziehung zu den anderen Individuen verloren ist, ist er seelisch ganz auf sich gestellt.“ Ebd., S. 320. 74 Lukács, G.: Die Theorie des Romans. S. 58. 75 Ebd., S. 58. 76 Dembski, T.: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. S. 324. Und: Lukács, G.: Die Theorie des Romans. S. 59. 77 Vgl.: Dembski, T.: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. S. 335. 78 Bachtin, M. M.: Das Wort im Roman. In: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. R. Grübel. S. 221. 79 Ebd., S. 221. 80 Dembski, T.: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. S. 108. 81 Bachtin, M. M.: Das Wort im Roman. In: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. R. Grübel. S. 157.
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Aber was ist es, das speziell die Rede der Romanfiguren von den Dialogen und Monologen in Film und Theater unterscheidet? Hier liegt die Differenz wieder im Hauptmerkmal des Romans begründet, in seiner Gebundenheit an das Medium Sprache. Durch die künstlerische Vermittlung ist die Rede im Roman anders als in Film und Theater nicht selbst ein Dialog, sondern „bezeichnet einen Dialog, soll ein Dialog sein.“82 Das impliziert auch, dass der Dialog im Roman immer bereits gedeutet ist, er ist nicht einfach ein Dialog, sondern die narrative Darstellung eines Dialogs. Beim als Hörbuch gesprochenen Roman gibt es zumindest eine MimesisIllusion des Dialogs, zum Beispiel in der stimmlich differenzierten Wiedergabe des Gesprochenen. Es ist lediglich die Schriftlichkeit des Romans, die keine nachahmende Funktion hat. Dennoch unterscheidet sich der Roman besonders darin von Film und Theater, dass er verschiedene Möglichkeiten hat, menschliche Rede wiederzugeben. Denn er gibt Dialoge oft nicht Wort für Wort wieder, sondern kann von dieser szenischen Präsentation abweichen, indem er erzählend die Rede resümiert. Laut BODE markiert der Roman mit der Variation der resümierenden und der szenischen Wiedergabe die Wichtigkeit von Dialogen und Geschehensmomenten: Es liegt auf der Hand, dass immer dann, wenn ein Erzähltext sich die Zeit nimmt, einen Dialog Wort für Wort zu präsentieren, statt ihn lediglich zu resümieren oder gar nur zu erwähnen, diesem Dialog offenbar größere Wichtigkeit beigemessen wird.83
Eine Verlangsamung, d. h. die szenische Wiedergabe, die sich dem dramatischen Dialog annähert, erzeugt damit eine Spannung im Leser. Film und Theater müssen zwar auch nicht zwangsläufig jedes für die Handlung relevante Wort als Dialog sprechen, können aber nur über andere Figuren die Rede resümieren, seltener durch einen Erzähler. Außerdem schränkt der Rahmen eines Films oder Stücks zeitlich ein, und die Dialoge werden stärker pointiert geführt. Es wird zu untersuchen sein, ob der Dialog im Roman ausschweifender ist und damit eventuell eine andere Funktion erfüllt als die Rede, die von Schauspielern in einem festen zeitlichen Rahmen vorgetragen wird. Dadurch, dass der Roman einen Dialog nicht nachahmen kann, erhält der Erzähler eine wichtige Funktion. Er darf die Rede formal gestalten – etwa mit Anführungszeichen markieren oder nicht, oder ihn nur indirekt wiedergeben – und inhaltlich deuten. Die Kunst des Romans liegt in der Künstlichkeit der Dialogwiedergabe begründet: Der sprechende Mensch und sein Wort sind im Roman Gegenstand verbaler und künstlerischer Abbildung. Das Wort des sprechenden Menschen wird im Roman nicht schlicht wie82 Bode, Ch.: Der Roman. S. 143. 83 Ebd., S. 104.
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dergegeben und nachgebildet, sondern künstlerisch abgebildet, und dies – im Unterschied zum Drama – durch das Wort (des Autors).84
Allein solche schlichten Hinzufügungen wie „sagte er“, „schrie sie“ oder auch Hinweise auf Eigentümlichkeiten in Aussprache oder Wortwahl sind solche künstlerischen Deutungen. Im Roman hat es der Rezipient, anders als der Filmzuschauer oder Theaterbesucher, nie mit einem neutral dargestellten Dialog zu tun. Aufgrund seiner sprachlich implizierten Fähigkeit, Subjektivität wiedergeben zu können, beschränkt sich der Roman nicht auf die Rede zwischen den Figuren, sondern kann auch seelische Prozesse in Form von inneren Monologen darstellen. Im Film ist dies nur über eine seltener bemühte Voice-Over-Technik möglich, im Theater fehlt diese Möglichkeit (es sei denn, die innere Stimme der Figur wird technisch reproduziert und über die Szenerie gelegt oder auch in einen Chor verlagert). Meistens greift das Theater zur Spiegelung der Innerlichkeit jedoch auf einen äußerlichen Monolog zurück. Für KUNDERA macht diese Möglichkeit die erkenntnisspezifische Besonderheit des Romans aus: „Dank dieser phantastischen Spionage, die der innere Monolog ja darstellt, haben wir enorm viel gelernt in bezug auf das, was wir sind.“85 Allerdings ist der innere Monolog lediglich eine Technik, eine Illusion, denn die Innerlichkeit von Menschen läuft nicht zwangsläufig sprachlich oder gar grammatikalisch ausformuliert ab. So greift der Roman auch nach Michel BUTOR hier nur auf ein Konstrukt zurück: Man nimmt bei der Erzählperson eine artikulierte Sprache an, wo es gewöhnlich gar keine solche gibt. Es ist völlig zweierlei, einen Stuhl zu sehen und das Wort Stuhl auszusprechen, außerdem impliziert das Aussprechen dieses Wortes nicht notwendigerweise das grammatische Erscheinen der ersten Person.86
Mehr Authentizität der Figuren wird dagegen durch die Technik des Bewusstseinsstroms, den sogenannten „stream of consciousness“, erlangt. Diese Methode versucht, das innere Erleben gewissermaßen nachzuzeichnen und ist in Abgrenzung zu Film und Theater eine – wie noch zu untersuchen sein wird – innovative, möglicherweise auf den Roman beschränkte Technik. Der Bewusstseinsstrom hat eine starke Aussagekraft über menschliche Prozesse, Sinneseindrücke und Affekte, denn er „operiert“ laut BAUER „an der Schnittstelle von Bewusstem und Unbewusstem, Artikulierbarem und Nicht-Artikulierbarem“.87 Er wird realistisch in assoziativer, 84 Bachtin, M. M.: Das Wort im Roman. In: Die Ästhetik des Wortes. Hg. v. R. Grübel. S. 220. 85 Kundera, M.: Die Kunst des Romans. S. 37. 86 Butor, Michel: Probleme des Romans. München: C.H. Beck 1965. S. 98. 87 Bauer, M.: Romantheorie und Erzählforschung. S. 171.
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nicht logischer Form und ohne grammatikalische Intaktheit wiedergegeben. Solche Stellen sind im Roman durch das häufige Benutzen von Fortsetzungspunkten oder Gedankenstrichen erkennbar. Die graphische Darstellung orientiert sich an der Diffusion des menschlichen Bewusstseins.88 Vielleicht hat KUNDERA auch auf diese Technik angespielt, als er von der Möglichkeit der „Spionage“89 sprach, denn aufgrund seiner assoziativen Form kann der „stream of consciousness“ in Tabuzonen vordringen und wurde, so BAUER, „von vielen Autoren auch bewusst eingesetzt, um der Erzählkunst Themenbereiche wie den der Sexualität zu erschließen, die bis dato entweder gänzlich ausgespart oder, um die Zensur zu umgehen, lediglich angedeutet worden waren.“90 Chronotopos All die hier untersuchten Phänomene von Form und Inhalt des Romans, seine narrativen Möglichkeiten, seine Stilistik, Figuren und deren Rede, lassen sich in zwei zusammenhängende Kategorien einordnen: Raum und Zeit. Beide zueinander in Beziehung gesetzt, nennt BACHTIN „Chronotopos“. Dieser ist eine „Form-InhaltKategorie der Literatur“.91 BACHTIN definiert ihn zwar für die Literatur, doch lässt sich die chronotopische Kategorie auch auf die vergleichend zu untersuchenden Künste von Film und Theater anwenden: Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos (‚Raumzeit‘ müsste die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichnen.92
Wie vor allem im Film, den Gilles DELEUZE auch auf die Kategorien von Raum und Zeit hin untersucht,93 gibt es im Roman eine künstlerische Verdichtung der Zeit, und der Raum gewinnt laut BACHTIN gegenüber der Realität an Intensität.94 BACHTIN ist aber im Gegensatz zu DELEUZE der Ansicht, dass sich „räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen“ 95 verbinden, dass der Raum von der Zeit mit Sinn erfüllt würde. DELEUZE stellt dagegen fest, dass die
88 Vgl.: Ebd., S. 171. 89 Kundera, M.: Die Kunst des Romans. S. 37. 90 Bauer, M.: Romantheorie und Erzählforschung. S. 171. 91 Bachtin, M. M.: Chronotopos. S. 7. 92 Ebd. 93 Siehe das folgende Kapitel I.2. 94 Bachtin, M. M.: Chronotopos. S. 7. 95 Ebd. Hervorhebung durch N.U.
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sinnvolle Handlung in der Kunst des Films durch die traumatische Erfahrung des Zweiten Weltkriegs zerstört wurde.96 Der Chronotopos spielt für den Roman und seine Rezeption eine zentrale Rolle. So ist er laut Bachtin z. B. für das jeweilige Genre der Literatur konstitutiv, wobei allerdings die Zeit den Raum dominiert.97 Es wird zu untersuchen sein, ob in Film und Theater dagegen möglicherweise die Kategorie des Raumes von größerer Bedeutung ist. Außerdem bestimmt die Zeit-Raum-Beziehung laut BACHTIN auch das von der Literatur gezeichnete Bild des Menschen.98 Chronotopisch sind auch die Motive im Roman, aber nicht nur dort, wie BACHTIN feststellt, sondern in allen Künsten: „Kunst und Literatur sind durchdrungen von chronotopischen Werten unterschiedlichen Grades und Umfanges. Jedes Motiv, jedes gesonderte Moment eines Kunstwerks ist ein solcher Wert.“99 Als Beispiel führt er das Motiv der Begegnung an, bei der sich die Figuren zufällig oder verabredet zur gleichen Zeit räumlich treffen, wobei hier die „zeitliche Nuance“ überwiegt.100 Im Chronotopos des Romans ist ein szenisches bildhaftes Erzählen möglich, das sich der Performanz von Film und Theater annähert. Gerade wenn zeitlich und räumlich konkret erzählt und Handlung nicht nur zusammengefasst wird, entfaltet sich auch im Roman eine Szene: „Von einem Ereignis kann man Mitteilung machen, über ein Ereignis kann man informieren, man kann dabei Ort und Zeit seines Verlaufs exakt angeben. Doch wird das Ereignis nicht zum Bild.“101 Bei besonders dichten Raum-Zeit-Verbindungen erscheinen die Figuren und ihr Handeln fast biologisch, d. h. ein Chronotopos kann dafür sorgen, dass der Roman lebensnah wirkt. Er ist solch eine mächtige Kategorie, dass er die Differenzen zwischen dem romanhaften und dem bildhaften Erzählen des Mediums Film und dem performativen Erzählen des Theaters eindämmen kann: Somit bildet der Chronotopos als die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum das Zentrum der gestalterischen Konkretisierung, der Verkörperung für den ganzen Roman. Alle abstrakten Romanelemente – philosophische und soziale Verallgemeinerungen, Ideen, Analysen von Ursachen und Folgen und dgl. – werden vom Chronotopos angezogen, durch ihn mit
96 Ob der Inhalt der Werke um 2000 sinngerichtet ist, wird die Arbeit am Korpus herausstellen. 97 So Bachtin: „Man kann geradezu sagen, daß das Genre mit seinen Varianten vornehmlich vom Chronotopos determiniert wird, wobei in der Literatur die Zeit das ausschlaggebende Moment des Chronotopos ist.“ Ebd., S. 8. 98 Ebd., S. 8. 99 Ebd., S. 180. 100 Ebd., S. 180. 101 Ebd., S. 188.
56 | I. DIE T HEORIE DER M EDIENKONKURRENZ Fleisch umhüllt und mit Blut erfüllt und werden durch ihn der künstlerischen Bildhaftigkeit teilhaft.102
Das chronotopisch dichte Erzählen ist eine narrative Technik, die bereits LESSING in seinem Laokoon empfohlen hat.103 Dabei hat der Roman besonders gegenüber dem Theater den Vorteil, Ort und Zeit nach Belieben wechseln zu können, solange die Handlung jeweils immer in diesen beiden Dimensionen verortet wird. Für die Imaginationskraft – auf die dieses Kapitel später noch unter rezeptionsspezifischen Aspekten des Romans zu sprechen kommt – ist es, wie bereits KANT betonte, ungemein wichtig, Raum und Zeit zu vermitteln. In dieser Arbeit soll auch untersucht werden, ob dies in den zeitgenössischen Werken noch der Fall ist. Um die chronotopischen Werte anzugeben, sind – wie HAMBURGER bei der Untersuchung des Dichtungssystems auf sprachtheoretischer Ebene feststellt104 – im Roman adverbiale Deiktika nötig. Die Handlung wird für den Leser eingeordnet erstens durch Zeitdeiktika wie heute, gestern, morgen, vor einem Monat usw. und zweitens durch Raumadverbien/-deiktika wie oben, hinter, rechts, vor, auf usw. Laut HAMBURGER sind es gerade diese sprachlichen Elemente, die in der Dichtung verdeutlichen, dass es sich um eine Fiktion handelt; sie haben den logischen Charakter einer „Nicht-Wirklichkeit“.105 Das bezieht sich freilich nicht auf die Deiktika in der Figurenrede, sondern nur auf die Raum-Zeit-Adverbien in der Erzählstimme, ohne die der Roman nicht auskommt und in der sie eine chronotopische Bedeutung haben. Film und Theater kommen ohne Erzählstimme und ohne zeitliche und räumliche Deiktika aus. Darin könnte ihre häufig festgestellte Realitätsnähe im Vergleich zum Roman begründet sein. Sie vermitteln das Geschehen unmittelbarer, ohne auf sprachliche und grammatikalische Beschreibungskategorien zurückgreifen zu müssen. Besonders das Medium TV und Film spielt mit dieser Möglichkeit, indem in einigen Filmen (z. B. Blair Witch Projekt, Regie: Daniel MYRICK, Eduardo SÁNCHEZ, 1998) und Formaten nicht klar ist, ob es sich um abgefilmte Realitätsausschnitte oder um Fiktion handelt. Die Kategorie des Raumes ist im Chronotopos des Romans die anschauungsnähere, weil sie sich nach HAMBURGER eher in eine konkrete Vorstellung transponieren kann:
102 Ebd., S. 188. 103 Wie Bachtin zusammenfasst: „Alles Räumlich-Statische darf nicht statisch beschrieben, sondern muß in die zeitliche Reihe der dargestellten Ereignisse und der Erzählung und Darstellung selbst einbezogen werden.“ Ebd., S. 189. 104 Hamburger, K.: Die Logik der Dichtung. S. 67. 105 Ebd.
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Das Räumliche können wir wahrnehmen und damit auch vorstellen, während wir die Zeit, die ‚Anschauungsform des inneren Sinnes‘, nicht wahrnehmen und vorstellen, sondern nur wissen, d. h. sie nur in begrifflicher Weise zum Bewusstsein bringen können.106
Darum reicht die Vorstellungskraft des Lesers auch so weit, dass im Roman nicht alle Elemente im Raum genannt werden müssen. Wie bei der Figurenbeschreibung nimmt der Rezipient imaginativ eine Komplettierung der räumlichen Dimension vor. Hierin liegt ein bedeutender Unterschied zwischen der Imagination eines Romans und dem Schauen eines Films oder Stückes: Während im Film Requisiten ins Bild gerückt werden müssen, um eine realistische Szene aufzubauen, brauchen im Roman und auch im Drama, wo die Imaginationskraft des Rezipienten gefragt ist, nicht so viele Gegenstände erwähnt werden. Dadurch aber erhalten diese wenigen, welche beschrieben werden, eine bedeutungsvolle Aufladung und werden sogar teilweise zum Symbol. Hierzu zitiert BODE in seiner Einführung in den Roman passend den Schriftsteller Italo CALVINO: Ich würde sagen, sobald in einer Erzählung ein Gegenstand auftaucht, lädt er sich mit einer besonderen Kraft auf, wird gewissermaßen Pol eines Magnetfeldes, ein Knoten in einem Netz von unsichtbaren Beziehungen. Die Symbolik eines Gegenstandes kann mehr oder weniger deutlich ausgeprägt sein, vorhanden ist sie immer. Wir könnten geradezu sagen, in einer Erzählung ist ein Gegenstand immer ein magischer Gegenstand.107
Kurz gesagt führt die Erwähnung einer Requisite/eines Gegenstandes im Roman ganz im Gegensatz zum realistischen Film stets zu seiner Semantisierung. Auch damit könnte die häufige Enttäuschung bei der Rezeption von Literaturverfilmungen erklärt werden: Sie lassen weniger Freiraum zur Imagination und haben außerdem Schwierigkeiten, jene symbolischen Gegenstände als solche zu markieren.108 Zur Markierung bedeutungsvoller Requisiten muss der Film eine „besondere[…] medienspezifische[…] Sprache“109 finden. In dieser Hinsicht ist das Theater dem Roman näher als der Film. Denn auch das Bühnenbild besteht meist nur aus den nötigsten räumlichen Bedingungen und aus bedeutungsvollen Gegenständen. Für die Bildkomposition eines Films im realistischen Paradigma würde das nicht ausreichen. Die chronotopische Dimension der Zeit ist künstlerisch schwieriger zur Vorstellung zu bringen als die Raumkategorie. Dennoch kann der Roman diese kaum zu fassende Kategorie in besonderer Weise handhaben. Henri BERGSON unterscheidet 106 Ebd., S. 68. 107 In: Bode, Ch.: Der Roman. S. 294. 108 Ebd. 109 Ebd.
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die messbare Zeit (temps) von dem Gefühl der Dauer (durée), das von Mensch zu Mensch nach dem erlebnisspezifischen Empfinden variiert. Während im realen Leben die zwei Zeitkategorien nach BERGSON nicht zu steuern sind, kann der Roman über beide verfügen: Die messbare Zeit (temps) kann in der erzählten Zeit – d. h. durch den Erzähler – wiedergegeben werden, in einfachen Zeitangaben wie z. B. drei Stunden oder eine Woche etc. Die erlebnisspezifische Dauer hängt dagegen von der Figur ab, und durch die Möglichkeit des Romans von z. B. zeitdehnendem oder zeitraffendem Erzählen auf der Ebene der Erzählzeit kann das durée-Gefühl der Figur veranschaulicht werden. Der Roman ist in der Lage, über die Zeit zu verfügen, weil die Handlung aus der Sicht des Erzählers immer vergangen ist. Bei der Lektüre erscheint das Geschehen aber als gegenwärtig, denn es wird das Hier und Jetzt von fiktiven Personen dargestellt.110 Dadurch wird nach HAMBURGER die „temporale Bedeutung des Tempus“ vernichtet.111 Egal ob in der Vergangenheitsform (Präteritum oder Imperfekt) oder im historischen Präsens berichtet wird, in der Fiktion des Romans ist es immer „Jetzt“ (wie auch in der Fiktion von Theater und Film): „Nicht nur auf der Bühne […] sondern auch im Roman, im Epos ist es immer ‚jetzt‘ – nur daß wir es dort wahrnehmend, hier vorstellend erleben […].“112 BODE wie HAMBURGER halten aber das Präteritum für die angemessene Erzählzeit des Romans, ja HAMBURGER bezeichnet es als „ästhetisches Gesetz“,113 dass wir „das Präteritum als adäquater, ästhetisch wohltuender als ein historisches Präsens [empfinden], das […] leicht in allzu aufdringlicher Weise darauf aufmerksam macht, daß wir es mit fiktiven Verhältnissen zu tun haben, und eben dadurch die Illusion, den Schein, den zu erzeugen das Wesen des fiktionalen Erzählens ist, stört.“114 Für BODE liegt das schlicht daran, dass „alles so schön aufbereitet“115 ist. Dieser Eindruck kann dadurch entstehen, dass der Erzähler das aus seiner Sicht Vergangene aufrollt und es dem Leser damit vergegenwärtigt. Das ergibt sich aus den zwei Zeitordnungen des Romans, der erzählten Zeit der Figuren und der Erzählzeit des Erzählers. Diese Konstellation wird nach HAMBURGER in den gelegentlichen Tempus-Paradoxien des Romans deutlich. Als ein solches Tempus-Paradox führt BAUER folgenden Satz an, der in einem Roman durchaus möglich ist: „Morgen ging der Zug.“116 Aus der Sicht der Figuren fährt der Zug morgen, doch die Zukunft der Figuren liegt aus der Sicht des Erzäh110 Hamburger, K.: Die Logik der Dichtung. S. 49. 111 Ebd., S. 49. 112 Ebd., S. 130. 113 Ebd., S. 61. 114 Ebd. 115 Bode, Ch.: Der Roman. S. 122. 116 Bauer, M.: Romantheorie und Erzählforschung. S. 102. Bauer benutzt hier ein Zitat von Wolfgang Kayser.
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lers in der Vergangenheit. Im Kino oder Theater kommen solche TempusParadoxien nicht vor, weil meistens kein Erzähler aus der vermeintlichen Gegenwart über die Vergangenheit der Figuren erzählt, die für sie eine Zukunft bereithält. Aufgrund dieser beiden Zeitstufen des Romans ist es ihm auch möglich, das Erzähltempo stärker als Film oder Theater zu variieren.117 Sein Spezifikum ist vor allem, dass er die erzählte Zeit, d. h. das Geschehen und Handeln der Figuren, nicht nur verlangsamen, sondern auch auf null setzen kann. Dies ist z. B. der Fall, wenn reflektiert oder nur beschrieben wird und in der Handlung nichts Neues geschieht.118 Im Film wäre das ein Standbild und im Theater vielleicht eine wartende Person, die reflektiert. Im Roman sind solche kontemplativen atmosphärischen Stellen nichts Ungewöhnliches. Sie können jedoch auch ein „Indikator für die Wichtigkeit des Erzählten“119 sein und somit bei der Rezeption ein Gefühl der Spannung erzeugen, während eine solche Stelle im Film eher langweilig wirken würde. Wie festgestellt wurde, kann der Roman über die Form-Inhalt-Kategorie des Chronotopos auf narrativer Ebene auf den Leser einwirken, imaginäre Räume schaffen und über Zeitdimensionen Marker setzten. Die Wirkung eines Romantextes auf den Leser wird jedoch nicht nur durch die Narration gesteuert, sondern liegt bereits in der medialen Implikation des Romans als schriftliches Buch begründet. Denn der Roman ist eine literarische Gattung, die – trotz aller gegenwärtigen technischen Neuerungen – an das Medium Sprache und Buch gebunden war und ist. Dadurch grenzt sich die Rezeption des Romans per se von der Film- und Theaterrezeption ab. Eine Theorie der Medienkonkurrenz darf daher – besonders vor dem aktuellen Hintergrund medialer Innovationen – den rezeptionsästhetischen Aspekt nicht unbeachtet lassen.
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DES
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ALS MEDIALES
O BJEKT
Während bisher die narrativen Kennzeichen des Romans erörtert wurden, soll nun die Rezeption des Romans in seiner medialen Form als sprachlich verfasstes Buch in Abgrenzung zur Rezeption der performativen audiovisuellen Künste Film und Theater beleuchtet werden. Dabei werden keine empirischen Studien am Leser selbst und seinem Leseverhalten vorgenommen, sondern das Objekt Buch, an das der Roman meist immer noch gebunden ist, steht in seiner medialen Bedeutung für den Leser im Fokus.
117 Nach: Bode, Ch.: Der Roman. S. 98. 118 Vgl.: Ebd. 119 Ebd., S. 98.
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Der Leseakt Die Besonderheit der „Literatur als Literatur“, d. h. nicht als ihre performative und adaptierte Umsetzung, liegt im psycho-physischen Akt des Lesens. Ein literarisches Werk wie der Roman als Buch entfaltet sich ausschließlich im Lesevorgang. Darum spricht Wolfgang ISER in Der Akt des Lesens – lange vor dem Aufkommen von EBooks und der Verbreitung von Hörbüchern – von der „Virtualität des [literarischen] Werks“.120 Doch egal in welcher Form der Text rezipiert wird, „das literarische Werk besitzt zwei Pole, die man den künstlerischen und den ästhetischen Pol nennen könnte, wobei der künstlerische den vom Autor geschaffenen Text und der ästhetische die vom Leser geleistete Konkretisation bezeichnet.“121 Das Werk besteht also erst, wenn es vom Leser rezipiert wird, und darum hängt es auch von den „Dispositionen“122 des Lesers ab, auf die der narrativ ausgestaltete Text trifft. D. h. der Text kann mittels der oben erwähnten narrativen Techniken zwar auf die Rezeption einwirken, aber nur zu einem gewissen Grad. Denn die Individualität des Lesers spielt immer in das Textverständnis, in die Konkretisation des Romans, mit hinein. Genauso wie das Schreiben eines Romans ein kreativer Akt ist, so ist es auch dessen Rezeption – in vermutlich noch stärkerem Maße als das Schauen eines Films oder Stückes. Denn der Text besteht aus Sprachzeichen, die „Akte“ auslösen, „in deren Entwicklung eine Übersetzbarkeit des Textes in das Bewußtsein des Lesers erfolgt.“123 Diese sprachlichen Zeichen können die imaginären Bilder, die sie im Rezipienten auslösen, weniger steuern als z. B. die Bilder des audiovisuellen Mediums Film. Darum ist der Akt des Lesens ein freierer Prozess, und ISER ist der Ansicht, dass gerade Texte, die auf narrativer Ebene eine größere Chance zur Produktivität lassen, besonderes Lesevergnügen bereiten. Langeweile mache sich dagegen breit, wenn alles gesagt sei, wohingegen eine zu große Diffusion – gerade in den Kategorien von Raum und Zeit – zu Überstrapazierung führte.124 Der Text kann lediglich versuchen, die Vorstellung des Lesers zu organisieren, aber sie hängen beide voneinander ab. Auch KUNDERA ist der Ansicht, „daß die Imagination des Lesers die Imagination des Autors unwillkürlich ergänzt.“125 Diese Ergänzungsprozesse gibt es allerdings auch bei der Rezeption von Film und Theater. Hier wird jedoch weit weniger auf die Imaginationskraft des Zuschauers gesetzt, indem bereits fertige Bilder, wenn auch eventuell mit Freiräumen auf dramaturgischer Ebene, prä120 Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink 1984. S. 38. 121 Ebd. 122 Ebd., S. 38. 123 Ebd., S. 176. 124 Vgl.: Ebd. 125 Kundera, M.: Die Kunst des Romans. S. 42.
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sentiert werden. Welche Tendenzen es auf narrativer Ebene zur Steuerung des Lesebefindens in den Werken um 2000 gibt, soll in dieser Arbeit untersucht werden. Folgt man der Ansicht WELLERSHOFFS, dass es seit der Industrialisierung eine mangelnde Konzentrationsfähigkeit beim Leser gibt, müssten die Romane heute in der schnelllebigen, vom Medienwandel geprägten Informationsgesellschaft eine Tendenz zu leicht konsumierbaren, starken Reizen aufweisen.126 Dass der Akt des Lesens möglicherweise höhere Konzentration erfordert als das Schauen von bewegten Bildern oder Objekten, liegt in der Schriftlichkeit des Romans als Buch begründet. Denn die Schrift ist in ihrer Medialität linear und damit weniger archaisch als der visuelle Eindruck eines Bildes, der universeller und schneller verständlich ist: Sie ist ein Medium, mit dem nicht alles zugleich, sondern erst in einem zeitlichen Nacheinander vor Augen tritt. Ein aufgezeichnetes Wort spricht nicht für sich selbst, sondern erhält seine Bedeutung erst im Verlauf und Kontext anderer Worte, die aufgezeichnet werden.127
Die literarischen Werke variieren folglich in ihrem rezeptionsästhetischen Akt je nach intellektueller Fähigkeit des Lesers.128 Im Film und auch im Theater hat man dagegen die Darsteller, Requisiten und Räumlichkeiten auf einmal, sozusagen als vollständige Objekte vor sich. Die Objektwahrnehmung erfolgt im Gegensatz zu via Schrift entwickelten Figuren und Räumen „in einem einzigen Augenblick“.129 Das liegt darin begründet, dass der Zuschauer einem Objekt – und sei es auf eine Leinwand projiziert – gegenübersteht, der Leser bei der Lektüre dagegen im Text drin ist. ISER nennt die Situation im ersten Fall eine „Subjekt-Objekt-Relation“, wohingegen „sich der Leser als perspektivischer Punkt durch seinen Gegenstandsbereich 126 „Es gibt in der modernen Industriegesellschaft eine wachsende Anzahl von Menschen, die diese psychischen Voraussetzungen des Lesens nicht mehr mitbringen. Ihr Ich ist so schwach und ihre Reizbedürftigkeit so groß, daß sie sich von der Außenwelt leben lassen. Dauernd müssen sie stimuliert werden durch Umweltreize, durch künstliche Verstärkungen ihres Lebensgefühls, wie das Autofahren, oder durch das Programm der Massenmedien, das sie Abend für Abend wahllos konsumieren. Zum Lesen bringen diese Menschen nicht genügend Autonomie auf. Lesen bedeutet für sie Arbeit, nicht Entlastung, Entspannung, denn sie erfahren Entspannung nur in der Zerstreuung, nicht in der Konzentration.“ Wellershoff, Dieter: Der Roman als Krise (1979). In: Romantheorie. Hg. v. H. Steinecke u. F. Wahrenburg. S. 496. 127 Karpenstein-Eßbach, Christa: Medien. Wörterwelten. Lebenszusammenhang. Prosa der Bundesrepublik Deutschland 1975–1990 in literatursoziologischer, diskursanalytischer und hermeneutischer Sicht. München: Fink 1995. S. 66. 128 Vgl.: Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Hg. v. Roger Chartier u. Guglielmo Cavallo. Frankfurt/Main, New York: Campus 1999. S. 12. 129 Iser, W.: Der Akt des Lesens. S. 177.
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hindurch“130 bewegt. Während sich der Text per se aus sprachlichen Satzkorrelaten aufbaut, finden sich solche im Film nur im Dialog; alle anderen Elemente wie Bewegung, Figuren, Handlung und Räumlichkeit sind nicht sprachliche, sondern audiovisuelle Produkte. Das Buch aus beschrifteten Seiten löst über seine Schriftlichkeit imaginative Bilder im Rezipienten aus. Darauf geht der Topos vom Roman als „Kino im Kopf“ zurück. Die vom Roman ausgelösten Bilder sind aber anders als die visuellen Eindrücke des Kinos und Theaters Bilder, die es gegenständlich so nicht geben würde. Sie sind eine Vorstellung von Abwesendem und bestehen laut ISER aus einem „minder deutlichen Bilderstrom“.131 Das optische Sehen ist dagegen konkreter und beruht nicht auf der individuellen Einbildungskraft des Menschen; d. h. Stücke und Filme haben einen „höheren Bestimmtheitsgrad“.132 Der Unterschied zwischen den beiden „Bild“formen wird bei der Rezeption von Filmen deutlich, die auf einem literarischen Werk basieren, das der Leser bereits mit seinen eigenen Vorstellungsbildern aufgebaut hatte. Nach ISER geht die viel beklagte Enttäuschung über Literaturadaptionen nicht unbedingt auf die Divergenz von Vorstellungsbild und materiellem/technischem Bild zurück, sondern auf die „Bestimmtheit“ der Bilder in den Medien, „die man als Enttäuschung, wenn nicht gar als Verarmung empfindet.“133 Die Bilder des Romans musste sich der Rezipient selbst erarbeiten, indem der Text seine Vorstellungskraft angeregt hatte. Aufgrund dieser medialen Voraussetzung ist der Romanleser ein Teil des Produkts, indem er es imaginativ erschafft. Darum bleibt es ihm stärker im Gedächtnis haften und hinterlässt einen tiefen Eindruck, der nicht wie ein Film abgeschaltet oder wie eine Theaterbühne geschlossen werden kann. So bekennt Salman RUSHDIE: And this, finally, is why I elevate the novel above other forms, why it has always been, and remains, my first love: not only is it the art involving least compromises, but it is also the only one that takes the ‘privileged arena’ of conflicting discourses right inside our heads. The interior space of our imagination is a theatre that can never be closed down; the images created there make up a movie that can never be destroyed.134
So ist die Romanlektüre auch, sofern sich der Leser darauf einlässt, eine Möglichkeit, in Abstand zur realen Umgebung und Lebenswelt zu treten und sich auf eine Reise oder ein Abenteuer zu begeben, welches nicht nur beobachtet, sondern quasi 130 Ebd., S. 178. 131 Ebd., S. 220. 132 Ebd., S. 223. 133 Ebd. 134 Rushdie, Salman: „Is nothin Sacred“. In: Granta : the magazine of new writing. Nr. 31. London: Granta Publ. 1990. S. 109.
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selbst erlebt wird. Wie BUTOR es beschreibt, tritt dabei die imaginierte Welt an die Stelle der verblassenden Realität: „Wenn ich in einem Raum die Beschreibung eines Zimmers lese, entfernen sich die Möbel, die ich zwar vor Augen habe, doch die ich nicht ansehe, angesichts der imaginären Möbel, die aus den auf der Seite befindlichen Zeichen aufsteigen.“135 Darum sei es auch die Aufgabe eines aufschlussreichen Romans, einen möglichst großen Abstand zwischen den beiden Dimensionen Realitätsumgebung und fiktionale Welt zu erschaffen – kurz: eine Reise.136 Nach WELLERSHOFF ist damit das menschliche Bedürfnis nach Wachstum und Veränderung bedient, das hier im imaginativen Raum des Romans ohne Risiko ausgelebt werden kann, wobei der Leser als Teilnehmer den Abenteuern noch näher ist als der Zuschauer des Films.137 Der „Abenteurer“ kann sich dabei auch so viel Zeit nehmen wie er möchte, denn der Roman – gebunden an das traditionell schriftliche Medium Buch – legt anders der Film oder das Theaterstück keine Rezeptionszeit fest. Durch seine Schriftlichkeit hat der Text den Vorteil, nicht flüchtig zu sein. Ein geschriebenes Wort überdauert, ein Objekt, eine Handlung im Film oder Theater verschwindet und ist nicht greifbar, wie auch das gesprochene Wort kaum gehört schon wieder entschwunden ist: verba volant, scripta manent.138 Im Buch ist ein Blättern nach Wörtern, Sätzen, Passagen und Kapiteln möglich, ein Nachschlagen und Reflektieren. Heinz SCHLAFFER ist sogar der Ansicht, daß sich die Fülle der intendierten Bedeutungen in jedem Detail des Werks nur demjenigen Leser erschließt, der durch Grübelei und Nachschlagen der Bezüge zu anderen Passagen (des Werks oder gar der übrigen Literatur) herstellt und damit die Vorteile der schriftlichen Fixierung von Texten endlich ausnützt.139
Die Schrift als die materielle Komponente des Textes kann aber nicht nur die Flüchtigkeit des Wortes aufheben, sondern sich auch selbst zum Objekt der Wahrnehmung machen, z. B. über eine besondere typographische Gestaltung. KUNDERA bemängelt dabei, dass die Schriftgrade von Büchern immer kleiner würden bis hin zu einem Verschwinden der Literatur.140 Diese Prognose hat sich im Zeitalter des E135 Butor, M.: Probleme des Romans. S. 80. 136 Vgl.: Ebd., S. 81. 137 Wellershoff, D.: Der Roman als Krise (1979). In: Romantheorie. Hg. v. H. Steinecke u. F. Wahrenburg. S. 493f. 138 Vgl.: Ebd., S. 121. 139 Schlaffer, Heinz: Einleitung. In: Entstehung und Folgen der Schriftkultur. Hg. von Jack Goody et al. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1986. S. 22. 140 „Die Bücher werden in immer kleineren Schriftgraden veröffentlicht. Ich stelle mir das Ende der Literatur vor: Allmählich, ohne daß jemand es bemerkt, werden die
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Books als nicht ganz richtig erwiesen: Es findet zwar eine Komprimierung von Abermillionen Buchseiten in digitale Dateien statt, jedoch ist der Schriftgrad keiner Verkleinerung unterworfen, sondern kann vielmehr individuell vom Leser bzw. Nutzer variiert werden. Die Medialität des Romans um 2000 Die Schrift und damit auch die literarische Gattung des Romans ist nicht mehr zwangsläufig an das Medium Buch im herkömmlichen Sinne aus haptischen, vom Rezipienten unveränderlichen Seiten gebunden. Der Text kann nicht mehr nur gelesen werden, sondern auch ebenso auditiv wiedergegeben werden. Wie BUTOR bereits 1965 zu bedenken gab, ist die Literatur nicht zwingend an das Buch, bestehend aus Papierseiten und gedruckten Wörtern, gebunden: Die Tatsache, daß das Buch, so wie wir es heute kennen, dem Geist Jahrhunderte hindurch die größten Dienste geleistet hat, bedeutet keinesfalls, daß es unerläßlich oder unersetzlich ist. Auf eine Zivilisation des Buches, könnte durchaus eine solche der Aufnahme folgen. Jeder aufrichtige Schriftsteller steht deshalb heute vor der Frage des Buches.141
Gemäß Roger CHARTIER befinden wir uns um 2000 mitten in der dritten Leserevolution nach erstens der Erfindung der Druckerpresse durch Gutenberg und zweitens dem Sinken des Buchpreises und der Einführung von Leihbibliotheken: „Die elektronische Übertragung der Texte und die durch sie diktierte Art des Lesens markieren in unserer Gegenwart die dritte Revolution des Lesens seit dem Mittelalter.“142 Die Rezeption via Lesegerät143 und Bildschirm gibt dem Leser „die Herrschaft über Schriftgrade so klein werden, daß sie unsichtbar sind.“ Kundera, M.: Die Kunst des Romans. S. 156. 141 Butor, M.: Probleme des Romans. S. 117. 142 Die Welt des Lesens. Von der Schriftrolle zum Bildschirm. Hg. v. Roger Chartier u. Guglielmo Cavallo. Frankfurt/Main, New York: Campus 1999. S. 45. 143 Die GfK (Gesellschaft für Konsum) hat im Januar 2012 ermittelt, dass 1,6 Millionen Deutsche einen E-Reader besitzen. Und stellt fest: „Elektronische Bücher sind bislang noch ein Nischenmarkt in Deutschland. Doch die Umsätze steigen rasant.“ Und: „Bei den Genres liegt der Fokus eindeutig auf der Belletristik, die derzeit fast 85 Prozent aller bezahlten E-Books ausmacht. Besonders beliebt sind hierbei die Themenbereiche Spannung, Science Fiction und Fantasy.“ Corcoran-Schliemann, Bianca: Lesen und Mediennutzung im Wandel von Medientechnik und Mediensystem. In: Zukunft des Lesens. Was bedeuten Generationenwechsel, demografischer und technischer Wandel für das Lesen und den Lesebegriff? Hg. v. Jörg F. Maas und Simone C. Ehmig. Mainz: Stiftung Lesen 2013. S. 16f.
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den Ausschnitt oder die Darbietung des Textes“,144 d. h. die Gestaltung der materiellen Seite obliegt nicht mehr allein dem Autor und dem Verlag, sondern der Leser kann für sich selbst den Text markieren oder verschieben und dadurch theoretisch seinen eigenen kommentierten Roman erschaffen. Diese Möglichkeit, welche die elektronische Textverwaltung bietet, rückt den Roman in die Nähe des Theaters, in dem der Rezipient auch zum Akteur werden kann und das Publikum – zumindest potenziell und hauptsächlich im postdramatischen Theater – das Stück mitgestalten kann. Denn ein E-Book-Leser kann nach CHARTIER „in jedem Augenblick in die Texte eingreifen, sie abändern, neu schreiben, sich zu eigen machen.“145 Neben dem von Brancheninternen bereits als „konventionell“ bezeichneten EBook146, das lediglich eine „Übertragung des Inhalts in die elektronische Version“147 ist, findet der Roman zu einer neuen Form der Multimedialität im sogenannten „enhanced“ oder „enriched“ E-Book. Dieses kann die verschiedenen medialen Formen wie Film, Hörspiel, Performance und auch Ergänzungen aus nonfiktionalen Bereichen integrieren.148 Dadurch eröffnet es laut dem Verleger Robert GALITZ eine neue Bühne oder ein „Kino im Kopf“.149 Denn die ohnehin aufsteigenden imaginären Vorstellungsbilder bei der Lektüre eines Romans könnten zusätzlich belebt werden durch z. B. integrierte Clips von Auftritten des Autors oder durch dessen Stimme, die parallel zum schriftlichen Text den Roman mitlesen kann. Denkbar ist auch die Begleitung durch mehrere Stimmen, die eine Mimesis-Illusion hervorrufen. Ein solches, durch elektronische Multimedialität ermöglichtes Erlebnis beschreibt GALITZ: Ich hatte ihn [Elias Canetti. Anm. N.U.] gelesen, aber er erschloss sich mir nur bis zu einer gewissen Grenze, bis ich ihn erlebte. Der Klang seiner Stimme, seine Präsenz färbte das Le-
144 Die Welt des Lesens. Hg. v. R. Chartier u. G. Cavallo. S. 45. 145 Ebd., S. 47. 146 Roesler-Graichen, Michael et al.: Ein Hotspot der Extraklasse. In: Börsenblatt. Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel. 41, 2010. S. 19. 147 Ebd. 148 So beschreiben Roesler-Graichen et al. die erweiterte Version von Ken Folletts „Sturz der Titanen“: „Die für den iBookstore produzierte Ausgabe enthält ein Begrüßungsvideo sowie zahlreiche mit dem Text verknüpfte Begriffs- und Namenserläuterungen, die dem Bildungsbürger das Nachschlagen historischer Fakten erleichtern.“ Ebd.: „Ein Hotspot der Extraklasse.“ In: Börsenblatt. Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel. 41, 2010. S. 19. 149 Galitz, Robert: Eine neue, alte Bühne für Autoren. In: Börsenblatt. Wochenmagazin für den Deutschen Buchhandel. 41, 2010. S. 15.
66 | I. DIE T HEORIE DER M EDIENKONKURRENZ sen seines Textes. Fortan las ich ihn mit seiner Betonung, seiner Akzentuierung. Und ein neues Reich ging auf.150
Was hier ein bisschen pathetisch klingen mag, bestätigt in plastischer Weise die bekannte These von Marshall MCLUHAN: „The medium is the message“. Der Roman als literarische Gattung kann durch das neue Medium, das ihn transportiert, völlig anders aufgenommen werden als durch die herkömmliche Lektüre eines nicht digitalen Buches. Durch das audiovisuelle „enhanced E-book“ nähert sich der Roman – etwa durch eingespielte Szenen und eventuell integrierte auditive/audiovisuelle Mimesis – dem Film an, oder auch dem postdramatischen Theater, indem der Rezipient bis zu einem gewissen Grad über den Fortgang der Lektüre verfügen kann. Es ist möglich, dass er sich einen individuellen Ablauf gestaltet, wie auch der Zuschauer im Theater potenziell ins Stück eingreifen kann. Es ist eine Bühne „mit den aufregenden Möglichkeiten der Gleichzeitigkeit von Lesen, Sehen, Hören und Animationen.“151 Auch das gedruckte Buch könnte in Zukunft stärker auf Interaktivität ausgerichtet sein, indem es beispielsweise über darin genannte Links mit einer Web-Community oder Audio-Dateien verknüpft ist. So wäre auch denkbar, dass die User über eine Fortsetzung des Romans oder gar verschiedene Versionen entscheiden, indem eine Absprache mit dem Autor getroffen wird. Die neue Multimedialität des Romans via E-Book eröffnet diverse Möglichkeiten, das Romangeschehen noch stärker zu durchdringen als bisher über die vom Autor in die Wege geleiteten imaginativ ablaufenden Bilderströme. Angetrieben werden Autor und Rezipient durch eine gemeinsame Intention: eine bestmögliche Geschichte zu kreieren und diese möglichst intensiv zur Wahrnehmung zu bringen bzw. wahrzunehmen. Annäherungen an die Potenziale anderer Medien weisen in diese Richtung.
150 Ebd. 151 Ebd., S. 115.
2. Filmtheorie Das Kino der Bewegung und der Zeit
Der Begriff des „enriched“ E-Books legt eine wie auch immer geartete „Armut“ des konventionell gedruckten Buches nahe. Ihm fehlt die Komponente der audiovisuellen Bewegung in Zeit und Raum. Die Tendenz, dass fast jeder bedeutende literarische Stoff verfilmt, d. h. in das Medium Film transferiert wird, scheint dies zu bekräftigen. Es stellt sich also auf der Produkt- und auf der Rezeptionsebene die Frage, was den Reiz der Audiovisualität und damit des Films ausmacht. Welches sind die distinkten Eigenschaften des Mediums und der Kunst des Films, die sich mit dem Aufkommen des Stummfilms so euphorisch gegen Buch und Theater polemisieren ließen? Der Film schien eine kaum zu erklärende, aber nachdrücklich artikulierte Abneigung gegen die „herkömmlichen“ Formen der Buch- und Theaterunterhaltung auszulösen, wie folgende Zitate zum frühen Stummfilmkino verdeutlichen: Es gibt kein anderes Mittel, als das Kino. Was ist daneben das Buch? Was ist daneben das Theater? […] Man sollte ein Pogrom gegen sie [die Literatur. N.U.] machen. Die Welt kann ohne sie laufen. Sie stünde still, nähme man das Kino heraus. […]1 Wer das Kino hat, wird die Welt aushebeln.2
Die Literatur hat mit dem Aufkommen des neuen Mediums scheinbar ihre Massenwirksamkeit und ihren Einfluss verloren. Es klingt sogar so, als begehre das Publikum gegen sie auf, wenn Adolf BEHNE die Dominanz des Kinos mit einem Gleichnis beschreibt:
1
Mierendorff, Carlo: Hätte ich das Kino (1920). In: Kino-Debatte: Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929. Hg. v. Anton Kaes. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1978. S. 144.
2
Ebd., S. 144.
68 | I. DIE T HEORIE DER M EDIENKONKURRENZ ‚Lieben sollt Ihr mich‘, schrie der Soldatenkönig seine Untertanen an und schlug mit dem Exerzierstock auf sie ein, ‚lieben sollt Ihr mich … lieben!‘ ‚Lesen sollt Ihr uns‘, rufen die Gesalbten unsrer Dichtkunst ihrem Volke zu, und die prominenten Kritiker drohen mit dem Bakel: ‚Lest eure Dichter – kauft sie, lest sie!‘ Und das Volk strömt in die Kinos.3
Woher rührt diese Faszinationskraft des Films? Liegt sie auf narrativer Ebene im Produkt des Films begründet und in den ästhetischen Möglichkeiten, die das audiovisuelle Medium hierfür bietet? Oder sind es die technischen Implikationen der Rezeptionsbedingung, welche so stark vom Lektüreerlebnis und von dem Besuch einer Theaterinszenierung abgrenzen? Diesen Fragen soll nun zunächst auf rein theoretischer Ebene nachgegangen werden. Hierfür erweisen sich besonders für die visuelle Ebene die älteren Theorien an der Schwelle vom Stummfilm zum Tonfilm als fruchtbar, wie z. B. von LUKÁCS,4 PUDOWKIN,5 TYNJANOV,6 BALÁZS7 und ARNHEIM.8 Für das Kino um 2000 dagegen soll Gilles DELEUZES „postmoderne Reflexion des modernen Kinos“9 wegweisend sein. Diese jüngere und umfassende Filmtheorie – laut ALBERSMEIER die womög3
Behne, Adolf: Die Stellung des Publikums zur modernen deutschen Literatur (1926).
4
Lukács, Georg: Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos (1913). In: Georg Lukács. Schrif-
Ebd., S. 160. ten zur Literatursoziologie. Hg. v. Heinz Maus und Friedrich Fürstenberg. 4. Aufl. Neuwied, Berlin: Luchterhand 1970. S. 75–80. 5
Pudowkin, Wsewolod I.: Filmregie und Filmmanuskript. Einführung zur ersten deutschen Ausgabe (1928). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. Franz-Josef Albersmeier. 3. Aufl. Stuttgart: Reclam 1998. S. 70–73. Pudowkin, Wsewolod I.: Über die Montage (Anfang der vierziger Jahre). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. Franz-Josef Albersmeier. 3. Aufl. Stuttgart: Reclam 1998. S. 74–96.
6
Tynjanov, Jurij N.: Über die Grundlagen des Films (1927). In: Ebd., S. 138–171.
7
Balázs, Béla: Mienenspiel und Physiognomie im Film (1924). In: Geschichte der Filmtheorie. Kunsttheoretische Texte von Méliès bis Arnheim. Hg. v. Helmut H. Diederichs. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004. S. 212–221. Und: Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch (1924). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 224–233. Daneben: Balázs, Béla: Zur Kunstphilosophie des Films (1938). In: Ebd., S. 201–223.
8
Arnheim, Rudolf: Film als Kunst (1932). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 176–200.
9
Karpenstein-Eßbach, Christa: Ein Ausweg aus modernen Filmtheorien: Gilles Deleuzes Repolitisierung des Kinos. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften Heft 3, 51. Jahrgang. Wien: Passagen Verlag 2005. S. 340.
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lich wichtigste neuere Filmtheorie seit KRACAUER10 – reflektiert das Kino vor und nach dem Zweiten Weltkrieg auf philosophischer Ebene unter Bezug auf BERGSON. Der Vorteil der DELEUZESCHEN Filmphilosophie ist, dass der Praxisbezug zum konkreten Film im Verhältnis zur Lebenswelt nicht fehlt. DELEUZE geht es nicht nur um allgemeingültige Aussagen über das Kino, er leitet vielmehr die Theorie des Kinos aus seinen eigenen Erfahrungen mit dem Kino ab, die die Basis für seine Begriffsbildungen sind. Seine beiden gemäß der Zäsur des klassischen und modernen Kinos unterteilten Bücher Das Bewegungs-Bild11 und Das Zeit-Bild12 bilden eine offene,13 nicht Korpus-beschränkte und doch systematische Theorie zu den Kategorien der Filmbilder. So ist sie ein frei anwendbares Analysewerkzeug, ein praxisbezogener Wegweiser für die spätere Untersuchung des Filmkorpus in dieser Arbeit.
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DELEUZE bildet seine Begriffe am Produkt des Kinos – direkt am Film. Diesen untersucht er auf die Kategorien Bewegung und Zeit hin. Es geht ihm weniger um die Rezeptionssituation und die filmische Technik, welche aber ein wichtiger Aspekt bei der Untersuchung der Medienkonkurrenzen sind. An späterer Stelle in dieser Arbeit (Die Rezeption des Films in Kino und Fernsehen) wird darum verstärkt auf weitere Theorien wie unter anderen von BALÁZS14 und PAECH15 zurückzugreifen sein. Doch zunächst soll es um das ästhetische Produkt des Kinos gehen, wofür besonders DELEUZES filmtheoretischer Bezug zur Lebenswelt interessant ist.
10 Albersmeier, Franz-Josef: Einleitung. Filmtheorien in historischem Wandel. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 22. 11 Deleuze, Gilles: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989. 12 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991. 13 „Die Theorie von Gilles Deleuze hat unser Nachdenken über das Kino einschneidend verändert, indem sie das Kino von zahlreichen historischen und theoretischen ‚Fesseln‘ befreit hat, die sich im Laufe dieses Jahrhunderts angesammelt haben.“ Das bedeutet die „Erschließung einer völlig neuen Art und Weise, über das Kino nachzudenken.“ De Gaetano, Roberto: Kinematographische Welten. In: Der Film bei Deleuze. Hg. v. Oliver Fahle und Lorenz Engell. Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 1997. S. 164. 14 Balázs, B.: Zur Kunstphilosophie des Films (1938). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 201–223. 15 Paech, Joachim: Intermedialität (1997). In: Ebd., S. 447–475. Und: Paech, Joachim: Literatur und Film. 2. überarb. Aufl. Stuttgart, Weimar: Metzler 1997.
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Film und Wirklichkeit Da vom Film eine große Faszinationskraft ausgeht, drängt sich die Frage auf, ob das daran liegen mag, dass er möglicherweise Aspekte der Wirklichkeit offenbart, die Roman und Theater nicht offenbaren. Durch seine technischen Möglichkeiten kann er sich anders auf die gesellschaftlichen Veränderungen und Gegebenheiten beziehen und sich von ihnen beeinflussen lassen. Dabei geht DELEUZE aber nicht davon aus, dass die Kamera die Realität „abfilmt“, sondern er systematisiert, welche Filmbilder durch die historischen Umwälzungen und Gegebenheiten hervorgebracht wurden/werden, die wiederum zum Denken über die gesellschaftspolitische Dimension anregen. DELEUZE schreibt zwar „keine Geschichte des Films“,16 ist aber ausdrücklich der Ansicht, dass es die Historie ist, die Filmhandlung und Bilder ästhetisch so geprägt hat, dass der Film in zwei große Phasen zu unterteilen ist: Der Bruch zwischen dem klassischen und dem modernen Kino fand mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs statt, welcher den Glauben an sinngerichtetes Handeln zerstört hat.17 So stellt DELEUZE fest, dass es im Film einen tiefgreifenden Wechsel vom Aktionsschema des Bewegungsbildes, vom reinen Materiebild zum Zeit-Bild gegeben hat, d. h. Filmbilder wurden zum Zeichen18 für ein andersartiges Weltbewusstsein. Es sind nicht mehr die zielgerichteten Handlungen, die ins Bild gerückt werden, sondern der Film nutzt nun seine Möglichkeiten, Störungen zu inszenieren, wie etwa durch schiefe Perspektiven, falsche Anschlüsse und die Verlangsamung der Zeit.19 Diesen Bezug auf lebensweltliche Tendenzen gibt es natürlich auch in den anderen Künsten, doch der Film kann mit diversen Arten von Bildern direkt darauf reagieren. So muss er nicht wie der Roman Denkprozesse durch Figuren oder Erzähler darstellen, sondern seine Bilder sind per se Denkbilder, welche wiederum das Denken anregen. Darin sieht DELEUZE die große Dominanz des Kinos begründet: „Sie fragen mich, warum so viele Leute übers Kino schreiben. […] Mir scheint, eben deswegen, weil das Kino viele Ideen enthält. Was ich Idee nenne, das sind Bilder, die zu denken geben.“20 Die bewegten Zeit-Bilder sind nicht mehr abgefilm-
16 Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 11. 17 Vgl.: Bellour, Raymond: Denken, erzählen. Das Kino von Gilles Deleuze. In: Der Film bei Deleuze. Hg. v. O. Fahle und L. Engell. S. 43. 18 Fahle, Oliver: Deleuze und die Geschichte des Films. In: Der Film bei Deleuze. Hg. v. O. Fahle und L. Engell. S. 121. 19 Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 286. 20 Deleuze gegenüber dem französischen Filmtheoretiker Serge Daney. Zitiert nach: Ott, Michaela: Virtualität in Philosophie und Filmtheorie von Gilles Deleuze. In: Deleuze und
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tes Schauspiel oder abgefilmte Realität, sondern komplexe Denkprozesse – Kino wird zur „Erfahrung des Denkens“21 und rückt damit in die Nähe der Philosophie. Während es im Roman die Figuren (und der Erzähler) sind, welche philosophische Konzepte und Perzepte liefern,22 sind es im Kino die Bilder selbst. Wie der Film konkret solche Bilder hervorbringt, wird später unter den Kategorien des Chronotopos zu zeigen sein. Dabei bezeichnet DELEUZE die Kinoleinwand als eine Gehirnmembran, wobei wiederum die Welt ein Gedächtnis, ein Gehirn sei.23 Das Kino kann Bilder hervorbringen, die so komplex sind wie das Gehirn. Der Film ist hierbei nicht wie der Roman auf assoziative Sprache – z. B. im stream of consciousness – angewiesen, und auch nicht wie das Theater auf das bloße Schauspiel. Die Bilder können sich ganz anders verketten, etwa über die Mittel der Montage, die im modernen Kino entfalten kann, wie die Welt und unser Denken nach 1945 aus den Fugen geraten ist. Kurz: „Ein Gehirn, das flackert, neu verkettet oder Schleifen durchläuft: das ist Kino.“24 Auch PUDOWKIN ist der Meinung, dass der Film das Medium ist, welches die Vielschichtigkeit der Welt am deutlichsten darstellen kann.25 Er bezieht sich aber auf eine Wirklichkeit noch vor der Zäsur durch den Weltkrieg; das klassische Kino stelle eine „objektive[…] Wirklichkeit“26 dar. Beim Roman vermisst PUDOWKIN das Sehbild und die Lautintonation bei der Wiederspiegelung der Wirklichkeit, beim Theater verweist er auf die begrenzten „Möglichkeiten vollständiger Präsentation“. Der Film dagegen ist beweglich in Raum und Zeit und kann „sowohl das Detail als
die Künste. Hg. v. Peter Gente und Peter Weibel. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007. S. 128. 21 Karpenstein-Eßbach, Ch.: Ein Ausweg aus modernen Filmtheorien: Gilles Deleuzes Repolitisierung des Kinos. In: Weimarer Beiträge Heft 3/2005. S. 329. 22 Vgl.: „Das große ABC von Gilles Deleuze. Mit Claire Parnet“. L comme littérature. www.arte.tv/de/3452762.html (31.12.2010). 23 „Die Welt ist Gedächtnis, Gehirn, Übereinanderlagerung von Epochen oder Gehirnlappen geworden, doch das Gehirn selbst ist Bewußtsein, Fortführung der Epochen, Schöpfung oder plötzliches Auftreten stets sich erneuernder Gehirnlappen oder auch Neuschöpfung der Materie nach der Art des Styrols geworden. Die Leinwand selbst ist die Gehirnmembran, wo Vergangenheit und Zukunft, Inneres und Äußeres ohne bestimmte Distanz, unabhängig von jeglichem Fixpunkt, sich unmittelbar gegenüberstehen […].“ Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 166f. 24 Ebd., S. 277. 25 Pudowkin, Wsewolod I.: Über die Montage. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 90. 26 Ebd.
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auch das Allgemeine“27 der Wirklichkeit fokussieren. Potenziell vermag er alles zu zeigen und auch dialektisch zu denken, und dabei ist er anders als das Theater nicht abhängig von der Vermittlung durch eine Figur.28 Auch für Pudowkin hat das Kino folglich die Struktur der komplexen Welt und des Gehirns. Als Mittel dafür nennt er explizit die Montage: „Eine so vollständige Darstellung der Wirklichkeit und eine so allseitige Aufdeckung der gesetzmäßigen Zusammenhänge wird im Film mit Hilfe von Montagekunstmitteln erreicht.“29 Für DELEUZE führt das der Film nach 1945 noch weiter: Die Filmbilder zeigen, wie eben diese gesetzmäßigen Zusammenhänge verlorengegangen sind. Mehr noch: Die ganze Welt der Moderne erscheint uns als ein schlechter Film, denn wir haben den Glauben an sie verloren: Wir glauben sogar nicht mehr an die Ereignisse, die uns widerfahren: an Liebe und Tod, als ob sie uns nur zur Hälfte angingen. Nicht wir machen das Kino, es ist die Welt, die uns als ein schlechter Film vorkommt.30
Kurz sei noch erwähnt, dass DELEUZE glücklicherweise nicht behauptet, dass mit dem Umbruch zum Zeit-Bild nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch solche Filme gemacht wurden und werden, die ohne sinngerichtete Aktionsbilder auskommen und in denen es allein Figuren gibt, die weder im Kleinen noch im Großen etwas vollbringen. Gerade in der heutigen globalisierten Welt klingt es plausibel, wenn DELEUZE differenziert: [D]as ist nach wie vor der Weg der größten kommerziellen Erfolge [Filme mit zielgerichteten Aktionsschemata. N.U.], aber die Seele des Films ist nicht mehr dort. Sie verlangt nach immer mehr Denken, selbst wenn das Denken zunächst einmal das Handlungs-, Wahrnehmungs- und Affektsystem ist, von dem der Film bislang gelebt hat. Es ist kaum noch glaubhaft, daß eine globale Situation eine Aktion, die Veränderungen bewirkt, auslösen könnte, und ebensowenig ist es noch vorstellbar, daß eine Aktion eine Situation veranlassen könnte, sich, und sei es nur teilweise, zu enthüllen.31
Es wird zu untersuchen sein, ob sich die Filmbilder der Werke um 2000 des ZeitBilds bedienen, oder ob es einen Rückgriff auf das klassische Bewegungsbild gibt und damit eine Wiederbelebung des Glaubens, dass eine Handlung etwas bewirken kann. Möglicherweise haben aktuelle Erfahrungen wie die große Finanzkrise von 2008 einen völlig neuen Umgang mit den verschiedenen Bildarten hervorgebracht. 27 Ebd. 28 Vgl.: Ebd., S. 90. 29 Ebd. 30 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 224. 31 Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 276.
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Das ästhetische Gestaltungspotenzial des Films Neben den sozialen, wirtschaftlichen, politischen und ethischen Einflüssen, die nach 1945 die Krise des Aktionsbildes bewirkt haben, waren es auch die Einflüsse durch andere Künste, welche die Filmbilder verändert haben. Neben der „Bilderinflation sowohl in der Außenwelt wie auch in den Köpfen der Leute“ nennt DELEUZE „das Einwirken neuer experimenteller Erzählweisen in der Literatur auf den Film“.32 DELEUZE räumt ein, dass es beispielsweise das ziellose „Herumstreifen (balade)“33 der Figuren im beliebigen Raum bereits im Roman (bei DOS PASSOS) gegeben hat, „bevor der Film überhaupt daran dachte“34. Doch worin besteht genau der Unterschied der Kunst des Films, Tendenzen der Wirklichkeitserfahrung umsetzen zu können? Und wodurch grenzt er sich grundsätzlich von den anderen Künsten ab? Mit dem Aufkommen des Films war es keineswegs selbstverständlich, dass sich dieser in die Reihe der Künste einfügen ließ, wie auch die Gattung des Romans zunächst nicht zur Kunst der Literatur zählte. Gerade wegen der vordergründigen Affinität des Films zur Wirklichkeit war für Thomas MANN der Stummfilm nicht mit der „vergeistigten“ Sphäre der Kunst in Einklang zu bringen: Ich sprach von einer ‚Lebenserscheinung‘ – denn mit Kunst hat, glaube ich, verzeihen Sie mir, der Film nicht viel zu schaffen, und ich halte es für verfehlt, mit der Sphäre der Kunst entnommenen Kriterien an ihn heranzutreten. […] Was mich betrifft, so verachte ich ihn auch, aber ich liebe ihn. Er ist nicht Kunst, er ist Leben und Wirklichkeit, und seine Wirkungen sind in ihrer bewegten Stummheit, krud sensationell im Vergleich mit den geistigen Wirkungen der Kunst […].35
Dagegen sei die Kunst eine „kalte Sphäre, man sage, was man wolle; sie ist eine Welt der Vergeistigung und hohen Übertragung […].“36 Für PUDOWKIN steht außer Frage, dass das neu aufgekommene Medium Kunst ist, denn der Film sei vielmehr eine Weiterentwicklung, die die Möglichkeiten der Literatur und des Theaters in sich aufnimmt. Das Kino könne wie das Theater ein
32 Ebd. 33 Ebd., S. 278. 34 Ebd., S. 279. 35 Mann, Thomas: Über den Film (1928). In: Kino-Debatte: Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929. Hg. v. A. Kaes. S. 164. 36 Ebd., S. 165.
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Schauspiel darstellen und dabei inhaltlich so frei sein wie die Literatur.37 Gerade weil ihm seine Technik potentiell alles ermöglicht, kann der Film nach Carlo MIERENDORFF sogar über die Wirklichkeit hinausgehen, d. h. ihm eröffnet sich die Sphäre der Fantastik.38 Dabei ist er potenziell von der Sprache völlig unabhängig, was dem von HOFMANNSTHAL diagnostizierten allgemeinen Ekel vor den Worten zur Entstehungszeit des Stummfilms entgegenkommt. Wie HOFMANNSTHAL schon vor seinem berühmten Chandos-Brief bemerkte, ist den Dingen im Film – anders als in der Kunst der Literatur – nicht das Wort vorgelagert: Die Leute sind es nämlich müde, reden zu hören. Sie haben einen tiefen Ekel vor den Worten: Denn die Worte haben sich vor die Dinge gestellt. […] Wir sind im Besitz eines entsetzlichen Verfahrens, das Denken völlig unter den Begriffen zu ersticken. […] So ist eine verzweifelte Liebe zu allen Künsten erwacht, die schweigend ausgeübt werden: die Musik, das Tanzen und alle Künste der Akrobaten und Gaukler.39
Dies prognostizierte er bereits im Jahr 1895, als der erste Stummfilm gezeigt wurde.40 Bestätigt wurde die „Krise des Wortes“ durch die „Krise der Buchliteratur in den zwanziger Jahren“41 und durch den großen Erfolg des Kinos. Der Stummfilm dieser Zeit mit seiner Distanziertheit von der Sprache war freilich von der Literatur und vom verbalen Schauspiel des Theaters weiter entfernt als der heutige Tonfilm. Doch auch der Tonfilm ist für DELEUZE keine Sprache (langage) und kein ursprüngliches Sprachsystem (langue),42 sondern vielmehr sind seine Bilder so vorsprachlich wie die Materie der Welt selbst.43 Die Filmbilder sind das „Aussagbare der Sprache“ und fördern Denkprozesse jener Art, die auch die Sprache hervorgebracht haben. Der Film besitzt zudem die Fähigkeit, die Sprache wieder in seine Bilder eingehen zu lassen (via Schrift oder Ton).44 Nach DELEUZE ist der häufig formulierte Topos vom Film als Sprache oder der „Sprache des Films“ hinfällig.
37 Pudowkin, Wsewolod I.: Über die Montage. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 90. 38 Mierendorff, Carlo: Hätte ich das Kino (1920). In: Kino-Debatte: Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929. Hg. v. A. Kaes. S. 144. 39 Hofmannsthal, Hugo von: Eine Monographie. In: Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Hg. v. Herbert Steiner. Frankfurt/Main: S. Fischer 1956. S. 228. 40 Ebd., S. 19f. 41 Ebd., S. 17. 42 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 335. 43 Ebd., S. 309. 44 Ebd., S. 336.
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Durch seine vorsprachlichen Materiebilder exponiert sich der Film stark von Theater und Literatur, und doch hat er laut PUDOWKIN,45 DELEUZE46 und BAZIN die Ästhetik dieser Künste in sich aufgenommen. Die drei Künste interferieren miteinander, der junge Film hat sich sowohl das Theater als auch die Literatur einverleibt und von ihnen gelernt. Laut BAZIN ist die Beziehung des jüngeren Films zu den anderen Künsten die eines Kindes zu seinen Eltern.47 Für DELEUZE dagegen wächst das Kind (der Film) eindeutig über seine Eltern (die älteren Künste) hinaus, weil er selbst Bewegung ist und nicht wie zum Beispiel das Theater an bewegliche Objekte gebunden ist: Das kinematographische Bild veranlaßt nämlich selbst die Bewegung, es führt das aus, was die anderen Künste nur fordern (oder zu sagen) sich begnügen, es versammelt das Wesen der anderen Künste, es baut auf ihnen auf, es ist wie eine Gebrauchsanweisung für die andere Bilder, es verwandelt dasjenige in Vermögen, was zuvor lediglich als Möglichkeit existierte.48
Folgerichtig spricht DELEUZE nicht vom bewegten Bild im Kino, sondern vom „Bewegungs-Bild“, da es ja selbst Bewegung ist. Durch diese vor der Erfindung des Films nie dagewesene Selbstbewegtheit löst das Kino einen Schock aus, der im Rezipienten das Denken erweckt.49 Den starken Eindruck der Bewegungs-Bilder möchten sich wiederum die älteren Künste Literatur und Theater zu eigen machen – die Eltern lernen vom Kind –, indem sie versuchen, ihre Ästhetik der des Films anzunähern. Seit dem Aufkommen der neuen Kunstform bemühen sich Schriftsteller, eine filmische Literatur zu schaffen. Leo TOLSTOI möchte sich zum Beispiel filmischer Mittel wie der Kameraführung und der Montage bedienen, um die Literatur auch inhaltlich zu bereichern und die Wirklichkeitsaffinität zu erreichen: 45 „Der Film ernährt sich gewissermaßen von den Traditionen der anderen Künste, indem er sie in eigene, neue umschafft.“ Pudowkin, W. I.: Filmregie und Filmmanuskript. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 73. 46 „Es gibt kein Kunstwerk, das nicht seine Fortsetzung oder seinen Ursprung in anderen Künsten hat.“ Deleuze, G.: Le cerveau c’est l’écran. Entretien. In: Cahier du Cinéma 380, 1986. Übersetzung zitiert nach Paech, J.: Intermedialität (1997). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 447. 47 „Der Film ist jung, aber die Literatur, das Theater, die Musik, die Malerei sind so alt wie die Geschichte. So wie die Erziehung eines Kindes sich orientiert an der Nachahmung der Erwachsenen, die es umgeben, ist die Entwicklung des Films notwendigerweise in Anlehnung an das Beispiel der traditionellen Künste verlaufen.“ Bazin, André: Was ist Kino? Bausteine zur Theorie des Films. Hg. v. Hartmut Bitomsky, Harun Farocki und Ekkehard Kaemmerling. Köln: DuMont 1975. S. 47. 48 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 205. 49 Vgl.: Ebd.
76 | I. DIE T HEORIE DER M EDIENKONKURRENZ Das ist ein direkter Angriff auf unsere alten Methoden literarischer Kunst. […] Aber ich mag das. Dieser schnelle Szenenwechsel, dieses Ineinander von Gefühl und Erfahrung – das ist viel besser als die schwerfällige und langwierige Art zu schreiben, an die wir gewöhnt sind. Das ist lebensnäher. Auch im Leben vollziehen sich Wechsel und Übergänge blitzartig vor unseren Augen, und die Gefühle sind wie ein Wirbelsturm. Das Kino hat das Geheimnis der Bewegung vergöttert. Und das ist etwas Großartiges.50
Eine filmische Schreibweise auf formaler Ebene kann beispielsweise den Blickwinkel gemäß der Kameraposition ständig ändern oder Gegenstände und Figuren von Weitem oder Nahem beschreiben (Imitation Totale, Halbnahe, Nahaufnahme). PAECH zählt weiterhin die Möglichkeiten der Auf- und Abblende und der Überblendung in der Literatur auf.51 Auf narrativer Ebene hingegen kann das kinematographische Schreiben von Romanen bedeuten, dass der Erzähler sich wie meist auch im Film völlig zurückhält und die Handlungen eher objektiv und unkommentiert wiedergibt, d. h. auch die Beschreibung von Innenperspektiven vermeidet.52 Umgekehrt fand auch schon früh eine Literarisierung des Kinos statt; ja der Film, wie wir ihn heute kennen, baut gar auf der Technik des Romans auf. So basiert D. W. GRIFFITH’ richtungsweisende Erfindung der filmischen Montagetechnik auf seinen persönlichen Lektüreerfahrungen mit den Romanen des bürgerlichen Realismus. Die parallelen Handlungen bei Dickens haben ihn zur entsprechenden Nachahmung im Film inspiriert.53 Doch auch auf stofflicher Ebene interferiert das Kino mit der Literatur und dem Theater. Die intermedialen Bezüge und der Text-Transfer sind keineswegs ein neues Phänomen, sondern der Film hat die literarischen Texte von Anbeginn in sich aufgenommen und auf sie Bezug genommen. Das Kino bietet damit auch eine neue Art des Rezipierens und der Distribution von literarischen Stoffen in einem anderen Medium. Wie HOFMANNSTHAL schön veranschaulicht, kann der Film die ganze Welt der Literatur am Zuschauer vorbeiziehen lassen – nur eben in bewegten Bildern:
50 Leo Tolstoi in einem Interview 1908. Übersetzung zitiert nach: Paech, J.: Literatur und Film. S. 122. 51 Paech, J.: Literatur und Film. S. 143. 52 Vgl.: Ebd. 53 Ebd., S. 122.
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[A]uf dem Film aber fliegt indessen in zerrissenen Fetzen eine ganze Literatur vorbei, nein, ein ganzes Wirrsal von Literaturen, der Gestaltenrest von Tausenden von Dramen, Romanen, Kriminalgeschichten […].54
Wie wir in diesem Kapitel gesehen haben, hat die im Vergleich zum Roman und Theater jüngere Kunst des Films andere, auch auf deren Basis weiterentwickelte ästhetische Möglichkeiten zur Verfügung. Der Film hebt sich hauptsächlich dadurch ab, dass er vorsprachlich ist, d. h. unabhängig von der Sprache, und dass er selbst Bewegung ist, diese also nicht über bewegte Objekte/Materie erzeugen muss. Er ist keine mechanische Übertragung von etwa theatralen Bewegungen, d. h. dramatischen Handlungen, auf die Leinwand, sondern er kann die Bilder zu einer von der Materie unabhängigen Bewegung bringen. Trotz dieser Differenzen interferiert der Film aber auch mit anderen Künsten, nimmt Schauspiel und literarische Mittel in sich auf. Doch welche Möglichkeiten hat er überhaupt, ein narratives Medium zu sein? Haben Bilder eine Erzählfunktion, oder ist es allein dem Roman vorbehalten, einen Plot aus der Sicht eines Erzählers zu vermitteln? Welche Komponenten sind es, die im Film die Handlung nachvollziehbar machen oder sie gar deuten? Kurz gefragt: Wer oder was erzählt im Film die Geschichte? Die Narration des Films: Erzählpotenziale Wie oben bereits erläutert, diagnostiziert DELEUZE einen Umbruch des Films vom Bewegungs- zum Zeit-Bild. Die verschiedenen Bildtypen, die unter diese beiden Großformen subsummiert werden, bringen eine völlig andere Erzählhandlung und Nachvollziehbarkeit hervor. Im klassischen Kino des Bewegungs-Bildes fand noch eine sinngerichtete Erzählhandlung im sensomotorischen Schema statt – vergleichbar mit der dramatischen Handlung im Theater. Das heißt, die Figuren reagieren auf eine bestimmte Situation oder Herausforderung (S), um mit ihrer Aktion (A) die Situation zu verändern (S‘). Das ist das sogenannte Schema SAS‘. Natürlich kann die Situation auch ausweglos sein, so dass sie sich auch durch Bemühungen der Figur nicht verändert.55 Oder eine Figur deckt mit ihrer Aktion (A) eine Situation (S) auf, um daraufhin die Handlungsweise zu modifizieren (A‘). Dies wäre die kleine Form des Aktionsbildes.56 Für beide Formen des Bewegungs-Bildes bedarf es theoretisch keiner Vermittlung oder Kommentierung durch einen Erzähler. Es ist meist klar ersichtlich, was auf der Leinwand vor sich geht, denn: „Diese Erzählhandlung ist
54 Hofmannsthal, H. von: Der Ersatz für die Träume. In: Kino-Debatte. Hg. v. Anton Kaes. S. 151. 55 Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 197. 56 Ebd., S. 217f.
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wahrhaftig, insofern sie das Wahre, sei es auch in der Fiktion, anstrebt.“57 Wie im Theater zeigt sich die Entwicklung des Plots in der Bewegung und in der Rede der Figuren. Im Zeit-Bild des modernen Kinos der hoffnungslosen Handlungen ist die Lage dagegen komplizierter. Es treten Figuren auf, deren Handlungen im diffusen Raum und in einer unbestimmten Zeit vom Zuschauer oft nicht einzuordnen sind: Die sensomotorischen Situationen sind reinen optischen und akustischen Situationen gewichen, auf die die Personen, einmal sehend geworden, nicht mehr länger reagieren können oder reagieren wollen, auch wenn sie nicht umhinkönnen, zu ‚sehen‘, was in der Situation gegeben ist.58
Dies ist laut DELEUZE die typische DOSTOEVSKIJSCHE Situation. Mit ihr kann der Film eine Eigenschaft des Romans annehmen: Die Bewegung kann stehen bleiben zugunsten der im Roman beschriebenen und im Film gezeigten Atmosphäre. Nichts Sinnhaftes geschieht, für den Rezipienten gibt es keine Figurenhandlung, die nachzuvollziehen er sich bemühen müsste. Folglich ist auch im Zeit-Bild keine Erzählerfunktion nötig, keine Stimme, die etwas zu erklären hat. So unverständlich diese Bilder auch sein mögen, es bedarf schlichtweg keiner Deutung, denn eine solche ist nicht möglich. Vielmehr stehen die Bilder, die oft nicht zusammenpassen und einen Riss in der Zeit und im Raum zeigen, für den Zusammenbruch des Sinns in der modernen Welt. Schemata zum Beispiel von der Art der mythologischen Heldenreise sind hinfällig geworden,59 weshalb der Zuschauer auch nicht von einem Erzähler an die Hand genommen werden muss. Die neue Form der Erzählung ist nicht mehr wahr, es besteht also keine Gefahr, dass sie vom Rezipienten falsch verstanden werden könnte: „Der wahrhaftige Mensch stirbt, jedes Wahrheitsmodell bricht zusammen und macht einer neuen Erzählung Platz.“60 Eine solche Tendenz findet sich übrigens auch im postdramatischen Theater, wenn z. B. eine Figur von mehreren Darstellern gespielt wird. Es soll nun hier die Hypothese aufgestellt werden, dass diese Art des Kinos keinen Erzähler braucht, denn mit der „Macht des Falschen als Produktionsprinzip von Bildern“61 würde auch dieser nicht zuverlässig die Wahrheit sagen.
57 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 170. 58 Ebd., S. 171. 59 „Nachdem der konkrete Raum seine sensomotorischen Konnexionen verloren hat, organisiert er sich nicht mehr nach Maßgabe von Spannungen und Spannungslösungen, Zielen, Hindernissen, Mitteln und sogar Umwegen.“ Ebd., S. 171. 60 Ebd., S. 175. 61 Ebd.
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Das Gros der Filmproduktionen richtet sich aber nach dem klassischen Schema SAS‘ (bzw. SAS) und ASA‘ (bzw. ASA).62 Obwohl dies ein klar umgesetztes Schema ist, bei dem die Bilder für sich sprechen, findet sich in manchen Filmen, anders als zumeist im Theater, dennoch ein Erzähler. Wer ist dieser? Und wie stark kann er sich dem Erzähler im Roman annähern? Filmbilder ohne kommentierende Voice-Over-Stimme können nicht alle narrativen Funktionen des Erzählers im Roman übernehmen. Zum Beispiel haben sie keine aus sich selbst heraus ersichtlichen Zeitstufen. Wenn es keinen filmischen Erzähler gibt, fehlt anders als im Roman die zeitliche Einordnung z. B. durch Verbformen. Weil die Bilder ohne Erzähler nicht sprachlich – laut DELEUZE vorsprachlich – sind, können sie, wie Jan Marie PETERS feststellt, auch nicht „Ich“ oder „Du“ sagen.63 Es stellt sich die Frage, ob und wie es überhaupt eine filmische IchErzählung geben kann, ohne eine sprachliche Stimme zu bemühen. Die Kamera hat zwar die Möglichkeit, einen Blick zu imitieren, dennoch bringt sie dadurch lediglich „Er-Bilder“, d. h. Bilder einer erlebenden Person hervor und keine Bilder eines Ich, die ohne sprachliche Kommentierung als solche zu erkennen wären. So PETERS: Der Film kennt keinen grammatikalen Unterschied zwischen einer persönlichen (Ich-)Kamera und einer unpersönlichen (Er-)Kamera. Nur die Stimme, die ‚Ich‘ sagt, ist in der Lage, das Gezeigte als von einem Subjekt stammend, das seine eigenen Erlebnisse preisgibt, zu qualifizieren.64
Ebenso kann auch der Rezipient – das „Du“, an den sich eine Ich-Erzählung richtet – nur verbal, d. h. über einen Erzähler und nicht über die Bilder angesprochen werden. Denn der Zuschauer nimmt die Perspektive der Kamera ein; er ist kein Gegenpart, an den sich die Bilder richten, sondern er „befindet sich innerhalb der Bilder“.65 Wichtig festzuhalten ist, dass der Film wie das Theater anders als der Roman keinen Erzähler bemühen muss. Will er dennoch in offensichtlicher Weise den Plot aus einer bestimmten Perspektive erzählen, benötigt er eine Stimme. Diese wird den Bildern meist von außen zugesetzt (Voice-Over-Erzähler). In den seltensten Fällen ist der Erzähler eine Figur, die sich aus dem Bild heraus direkt an den Zuschauer
62 Vgl. das Unterkapitel Film und Wirklichkeit in dieser Arbeit. 63 Peters, Jan Marie: The Lady in the Lake und das Problem der Ich-Erzählung in der Filmkunst. In: Literaturverfilmungen. Hg. v. F. J. Albersmeier und V. Roloff. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989. S. 247. 64 Ebd., S. 249. 65 Ebd., S. 252.
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wendet,66 auch wenn der Erzähler tendenziell wohl häufiger als z. B. in der Gattung des Romans Teil der Geschichte ist. Oft ist der filmische Erzähler eine Figur, die auf die eigene Geschichte zurückblickt – ein diegetischer Erzähler. Im Roman dagegen ist ein extradiegetischer Erzähler, den der Leser kaum genauer kennenlernt, nichts Ungewöhnliches. Das cineastische Pendant wäre ein Film, in dem die Bilder die Geschichte zeigen, ohne dass jemand sie verbal erzählt. Ob solche Filme (der Großteil) dennoch eine Erzählinstanz haben, ist in der Filmwissenschaft laut Jens EDER umstritten.67 Denn wer oder was sollte diese sein? Die unbestimmte Erzählinstanz müsste ein Konglomerat aus Regie, Kamera, Montage und Schnitt sein, d. h. alle Elemente, die in übergeordneter Weise den Plot zusammenfügen und ihn in Raum und Zeit verorten, im Chronotopos. Chronotopos: Das Bewegungs- und das Zeit-Bild Auch wenn DELEUZE das Kino tendenziell in klassische Filme des BewegungsBilds und in moderne Filme des Zeit-Bilds trennt, so steht außer Frage, dass es beim Film rein technisch um die Bewegung von vierundzwanzig Bildern pro Sekunde geht. Das Durchschnittsbild, das daraus hervorgeht, ist folglich per se ein Bewegungs-Bild.68 Mittels diesem können wiederum Bewegungen in Raum und Zeit dargestellt werden. Diese „Wesenseigentümlichkeit oder Neuartigkeit“69 des Mediums setzte aber erst mit den technischen Neuerungen wie „der Montage, der beweglichen Kamera und der Trennung von Aufnahme und Projektion“70 ein. Davor stand der Film dem Theater nahe, indem die fixe Kamera nur einen feststehenden Blick zuließ, wie ihn auch der Theaterzuschauer von seinem Sitzplatz auf die Szenerie wirft. Außerdem konnte sich das Schauspiel des frühen Films – wie das Drama auch – nur bedingt in Raum und Zeit bewegen. Die technischen Neuerungen haben den Film von der reinen Performanz emanzipiert und den Abstand zur Kunst des Theaters vergrößert, indem ein chronotopisch ungebundenes und damit hoch kreatives Potenzial freigesetzt wurde. Der Film kann wie der Roman den Gesamtraum und alle Zeiten der Welt durchlaufen, welche wiederum unendlich teilbar sind.71 Im Theater dagegen wird Bewegung in seltener wechselnden Bühnenkulis-
66 Diesen Fall gibt es zum Beispiel in Woody Allens Film Whatever Works (2009). 67 Eder, Jens: Die Figur im Film. Grundlagen der Figurenanalyse. Marburg: Schüren 2008. S. 615. 68 „Kurz, der Film gibt uns kein Bild, das er dann zusätzlich in Bewegung brächte – er gibt uns unmittelbar ein Bewegungs-Bild.“ Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 15. 69 Ebd., S. 16. 70 Ebd. 71 Vgl.: Ebd., S. 13.
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sen aufgeführt, welche Raum- und Zeitausschnitte der Welt darstellen sollen. Ihr Wechsel bedeutet nach ARNHEIM meist eine Zäsur in der Handlung: Die raum-zeitliche Selbstständigkeit gegenüber der Wirklichkeit ist beim Film sehr viel größer als beim Theater. Auch die Sprechbühne leistet es sich, eine Szene zu andrer Zeit und an andrem Ort spielen zu lassen als die vorhergehende. Aber die Szenen mit naturalistischer raum-zeitlicher Kontinuität sind sehr ausgedehnt, und innerhalb einer solchen Szene gibt es keinen Bruch. Vielmehr bedeutet ein solcher Wechsel immer einen deutlichen Einschnitt: der Vorhang wird heruntergelassen, oder die Bühne wird verdunkelt.72
Das filmische Pendant hierzu, die Auf- und Abblende als „Zeichen[…] für das Überspringen großer räumlicher und zeitlicher Distanzen“,73 bedeutet im Film nicht immer einen signifikanten Bruch in der Handlung. Der Film der Montage kann aber nicht nur in den Zeiträumen springen, sondern seine eigene, nicht reale „Filmzeit“74 kreieren und dadurch besonders im modernen Kino nach DELEUZE das Wesen der Zeit selbst sichtbar machen. Dies erreicht er etwa durch abweichende Bewegungen oder durch falsche Anschlüsse in der Montage.75 Das Filmbild ist damit nicht, wie vordergründig anzunehmen ist, auf die Zeitstufe der Gegenwart festgelegt, sondern es erfasst auch die mit ihm koexistierende Vergangenheit und Zukunft.76 Dieser Punkt ist DELEUZE sehr wichtig, denn er sieht das moderne Kino als vom Kontinuum der Zeit emanzipiert, wodurch es wiederum filmische Aussagen über die Zeit treffen kann. Für ein philosophisches Kinoverständnis sei „[d]as Postualt, Bilder seien in der Gegenwart“ durchaus „fatal“.77 Denn das würde bedeuten, dass der Film auf dem sensomotorischen BewegungsBild stehen geblieben ist und die Bewegung sich die Zeit unterordnet,78 so dass keine philosophischen Reflexionen über letztere angestellt werden könnten. 72 Arnheim, R.: Film als Kunst. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 191. 73 Tynjanov, J. N.: Über die Grundlagen des Films (1927). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 149. 74 Vgl.: Ebd. 75 Nach: Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 56. 76 „Einerseits gibt es keine Gegenwart, die nicht von einer Vergangenheit und einer Zukunft heimgesucht wird […]. […J]ede Gegenwart koexistiert mit einer Vergangenheit und einer Zukunft, ohne die sie selbst gar nicht vorübergehen könnte. Es gehört zum Film, diese Vergangenheit und diese Zukunft zu erfassen, die mit dem gegenwärtigen Bild koexistieren. Filmen, was vorher und was nachher kommt …“ Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 56f. 77 Ebd., S. 58. 78 Ebd., S. 56.
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Kamera Das erste filmische Mittel der Bewegung in Raum und Zeit ist die Kamera, welche das kinematographische Bewusstsein des Mediums ist: „[…D]as einzige kinematographische Bewußtsein, das sind nicht etwa wir, die Zuschauer, noch der Held, das ist die Kamera, die bald menschliche, bald unmenschliche oder übermenschliche Kamera.“79 Für DELEUZE ist sie gar ein übergeordnetes Fortbewegungsmittel, denn sie filmt die Bewegungen von Flugzeug, Auto, Schiff etc. nicht nur ab, sondern kann sich selbst auf dem Bewegungsträger befinden und damit Bewegung sein. Das klassische Theater führt Bewegung der Figuren oder Objekte lediglich vor, die Perspektive liegt außerhalb der Bewegung, denn der Zuschauer ist auf einen einzigen Blickwinkel festgelegt. Der Film ist das einzige Medium, das aus sich selbst heraus Bewegung ist: Die Kamera bewegt sich mit den Objekten in Raum und Zeit. So löst sie die Essenz der Bewegung heraus80 und bringt diese auf die Leinwand. Der zweite große Unterschied zum Theater, welchen die Kamera bewirkt, ist die Aufhebung der „räumlichen Totalität“,81 womit BALÁZS das formale Grundprinzip meint, dass der Theaterzuschauer meist einen totalen Blick auf die Szenerie hat, d. h. auf die ganze Bühne. Mittels Licht wird zwar manchmal eine Fokussierung auf Raum-/Bühnenausschnitte erwirkt, aber die Distanz und die Perspektive des Zuschauers auf das Schauspiel sind statisch. Die Kamera kann extravagante „Kadrierungswinkel“82 einnehmen, etwa auch die Frosch- oder Vogelperspektive, wobei sie sich nach DELEUZE aber meist an realistische Perspektiven hält, um keinem „leeren Ästhetizismus“83 zu verfallen. Überdies ist der Film in der Entfernung zum Objekt, in der Kameraeinstellung, beweglich: Neben der theaterähnlichen Totalen und Halbtotalen hat die Kamera die Möglichkeit, näher an die Materie heranzurücken mittels Groß- und Detailaufnahme. Raum und Zeit werden dadurch zu Abstrakta, denn sie sind in dieser Form des Bildes nicht mehr ersichtlich: „Die Großaufnahme abstrahiert, sie löst den Gegenstand, das Detail oder das Gesicht aus den räumlichen Korrelationen und gleichzeitig aus der zeitlichen Kontinuität heraus.“84 Durch eine Großaufnahme kann der Film seine Geschwindigkeit verlangsamen, und der Zuschauer vermag wie in einem Roman genauer hinzusehen. Auch die Detailaufnahme rückt den Film laut TYNJA79 Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 38. 80 Ebd., S. 41. 81 Balázs, B.: Zur Kunstphilosophie des Films (1938). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 209. 82 Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 30. 83 Ebd., S. 31. 84 Tynjanov, J. N.: Über die Grundlagen des Films (1927). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 145.
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in die Nähe der Dichtung, indem sie eine Synekdoche bilden kann, wenn z. B. statt schreitender Menschen nur Füße gezeigt werden, welche sich bewegen.85 Das Zoomen auf Details löst Assoziationen aus, wie sie auch der Romanleser hat. Detailaufnahmen setzen Marker beispielsweise für die Gefühle einer Figur oder heben bedeutungsvolle Gegenstände heraus. Ohne filmischen Erzähler ist es aber am Zuschauer, Gesichtsausdrücke, Symbole und Metaphern zu deuten. Ein weiterer filmischer Bedeutungsträger, den die Kadrierung86 durch die Kamera unweigerlich erzeugt, ist jener Teil einer Szene, welcher nicht ins Bild gesetzt ist: das Off. Während im Theater das Off alles ist, was nicht in der Szene zugegen ist, ist es im Film das, was gerade nicht zu sehen, aber durchaus anwesend sein kann. Als Beispiel soll die Schuss-Gegenschuss-Technik in einer Unterhaltung angeführt werden. Die sprechende Figur wird abwechselnd mit der hörenden Figur ins Bild gesetzt oder umgekehrt, wobei die Stimme des Gesprächspartners oder auch das Schweigen der Figur im Off vom Filmzuschauer registriert wird. Auch eine Geräuschkulisse verweist auf Anwesendes, aber gerade nicht Sichtbares. Weil der Film nicht nur aus Totalen oder Halbtotalen besteht, ist das Off stärker präsent als im Theater. Das Film-Bild fasst meist nicht so viele Elemente der Szene gleichzeitig in sich und setzt dadurch beständig ein sinnhaftes Off. Dieses ist zugegen, indem der Zuschauer weiß, dass das nicht Sichtbare schon nach dem nächsten Schnitt wieder zu sehen sein kann.87 Halten wir fest: Bedeutung im klassischen Kino des Bewegungs-Bildes entsteht durch die Einstellungen der Totalen, Halbnahen, Groß- und Detailaufnahme und durch das Off. Für DELEUZE erfüllt jedes der aus den Kameraeinstellungen hervorgehenden Bilder eine bestimmte Funktion, welche auch Hinweise auf die Unterschiede zwischen den zu vergleichenden Medien geben. Die Kamera in der Totalen filmt ein sogenanntes „Wahrnehmungsbild“, das zeigen kann, wie eine Figur, die sich in einer Szene befindet, subjektiv wahrnimmt. Allein dies zeigt schon, dass nicht der Roman allein Subjektivität zu beschreiben vermag. Der Film kann dabei sogar einen „sensorielle[n]“, „aktive[n]“88 und „affektive[n] Faktor“89 nutzen. Wenn eine Figur beispielsweise schlechte Augen hat, si-
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85 Nach: Ebd., S. 146. 86 Deleuzes Begriff für das Bildfeld. 87 „Darin liegt die erste Bedeutung des ‚Außerhalb des Bildfeldes‘ (hors champ): Befindet sich ein Ensemble in einem Bildfeld – ist es also sichtbar –, dann gibt es stets auch ein noch größeres Ensemble oder ein weiteres, mit dem das erste ein noch größeres bildet, das seinerseits sichtbar werden kann – vorausgesetzt, es erzeugt ein neues ‚Außerhalb‘ usw.“ Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 33. 88 Etwa der Tanz aus der Perspektive eines Festbesuchers und nicht eines objektiven Betrachters. Beispiel nach: Ebd., S. 103. 89 Ebd.
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muliert eine verschwommene Kameratechnik ihr sensorielles Wahrnehmungsbild; oder ähnlich bei einer betrunkenen Figur, deren Subjektivität durch eine sich drehende Kamera nachgeahmt wird. Es gibt auch objektive Wahrnehmungsbilder, wenn etwa eine Figur auf eine Landschaft blickt, so wie sie auch der Zuschauer sehen würde. Dies würde einer neutralen Beschreibung im Roman entsprechen. Ein Wechsel des subjektiven mit dem objektiven Wahrnehmungsbild ist im Film durch die Schuss-Gegenschuss-Technik möglich, indem zunächst derjenige gezeigt wird, der sieht und daraufhin das, was er sieht.90 Die meisten Wahrnehmungsbilder des Films sind aber halbsubjektiv, indem die Kamera eine Figur begleitet, die sich in Raum und Zeit bewegt: [D]ie Kamera verschmilzt nicht mit der Person, sie ist auch nicht außerhalb, sie ist mit ihr. Es ist eine Art des im eigentlichen Sinne kinematographischen Mitseins. Oder eben das, was Dos Passos mit Recht „Kameraauge“ genannt hat, anonymer Blickwinkel einer nichtidentifizierten Person unter Personen.91
Diese Einstellung ist spezifisch filmisch, weil „es für sie kein Äquivalent in der natürlichen Wahrnehmung gibt.“92 Im klassischen Theater ist das Auge des Zuschauers nicht direkt bei der Figur. Dafür kann der Roman diese Perspektive beschreiben, indem er dicht an den Figuren und ihrer Wahrnehmung bleibt, ohne die subjektiven Vorgänge genau wiederzugeben. Grammatikalisch entspräche dem Wahrnehmungsbild das Substantiv,93 sonach ein „Ding“ oder eine Begebenheit, die entweder objektiv oder durch die Augen einer Figur gesehen wird. Auf die Wahrnehmung reagiert die Figur im Bewegungs-Bild mit Gefühlen und Handlung. Unter erstere fällt nach DELEUZE das Affektbild und auch die Unterkategorie des Triebbildes. In der Großaufnahme des Affektbildes zeichnet sich die Empfindung der Figur ab. Dies muss nicht zwingend ihr Gesicht sein, sondern die Kamera kann auch auf die Hände oder eine andere Körperpartie fokussieren, die fühlt. In der Syntax entspräche dieses „Wie“ der Wahrnehmung dem Adjektiv.94 In jenen filmischen Momenten des reinen Empfindens ist das Bild nach DELEUZE vom Raum und der Zeit abstrahiert.95 So kann der Film wie der Roman die Handlung auf null drosseln zugunsten der Empfindung. Allerdings ist es dem Affektbild selbst nicht möglich zu zeigen, welcher Gedanke genau hinter dem Gesicht steht (d. h. oh90 Nach: Ebd., S. 104. 91 Ebd., S. 105. 92 Ebd., S. 105. 93 Karpenstein-Eßbach, Ch.: Ein Ausweg aus modernen Filmtheorien: Gilles Deleuzes Repolitisierung des Kinos. In: Weimarer Beiträge Heft 3/2005. S. 332. 94 Ebd. 95 Vgl.: Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 124.
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ne weitere Bilder, die wie Gedankenblasen funktionieren). Dies haben mentale Reflexionen in der Literatur dem Affektbild voraus: Denn die Beziehung zwischen einem Gesicht und dem, woran es denkt, ist oft nicht festzulegen. Daß eine junge Frau bei Griffith an ihren Mann denkt, können wir nur deswegen wissen, weil wir es unmittelbar nach einem Bild ihres Mannes sehen: man mußte abwarten, und die Verbindung scheint lediglich assoziativ.96
Ein Indikator für die Gefühle und mentalen Vorgänge der Figur im Affektbild ist oft die folgende Handlung: das Aktionsbild.97 Dieses in der Halbnahen aufgenommene Bild ist anders als das Affektbild raumzeitlich verortet. Wie bereits im Kapitel Film und Wirklichkeit erläutert, reagiert die Figur in dieser Form des Bewegungs-Bildes auf eine Situation in einem bestimmten Milieu, zu einer bestimmten Raumzeit98 mit einer nachvollziehbaren, auf ein Ziel gerichteten Ausführung (als Resultat aus Wahrnehmung und Affekt). Diese Art von Aktion im Bewegungs-Bild zerbricht nach der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs und dem Verfall von politischen Massenbewegungen. Statt des Bewegungsbildes im sensomotorischen Schema kadriert die Kamera die rein optische und akustische Situation in einem beliebigen Raum: Es sind Bilder der Krise, denn der Held befindet sich in Konstellationen, auf die er nicht reagieren kann.99 Er streift in diesen ziellos umher – es ist ein „Kino des Sehenden [cinéma de voyant]“.100 Indem die Verkettungen von Wahrnehmung, Reaktion und Aktion im Neorealismus unklar werden, gewinnt die Zeit das Primat über die Bewegung. Die Situation, in der sich die Figur befindet, setzt sich anders als im Bewegungs-Bild und auch im klassischen Theater „nicht direkt in Aktion“101 um. Damit nähert sich das moderne Kino des Zeit-Bildes vielmehr den Möglichkeiten des Romans an, in dem die situativen Gegebenheiten ausführlich beschrieben werden können, bevor es – wenn überhaupt – zur Handlung kommt. Diese neue Konzeption des Bildfelds hat 96 Ebd., S. 127. 97 „So lautet die Regel des Actor’s Studio: nur das, was innen ist, zählt, aber dieses Innen ist nichts Jenseitiges und nichts Verborgenes; es verschmilzt mit dem genetischen Element des Verhaltens, das gezeigt werden muß. Es bedeutet auch keine Vervollkommnung der Handlung; es ist einfach die absolut notwendige Bedingung für die Entwicklung des Aktionsbildes.“ Ebd., S. 215. 98 Die sogenannten „Synzeichen“. Ebd., S. 195. 99 „Es geht um etwas, was zu gewaltig, zu ungerecht, aber manchmal auch einfach zu schön ist und von nun an unsere sensomotorischen Vermögen übersteigt.“ Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 32. 100 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 13. 101 Ebd., S. 15.
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nach DELEUZE ein Kamera-Bewusstsein formiert, dessen fast romanhaftes Vermögen es ist, Fragen zu stellen, Antworten zu formulieren, zu widersprechen oder zu provozieren und auch Theoreme und Hypothesen zu bilden „– entsprechend der offenen Liste der logischen Konjunktionen (‚oder‘, ‚dann‘, ‚wenn‘, ‚denn‘, ‚in der Tat‘, ‚obwohl‘ …) […].“102 Diese lesbaren und denkenden Bilder bezeichnet er als „Noo-Zeichen, welche die logischen Konjunktionen der Folge, der Folgerung oder gar der Intention ausdrücken.“103 Als Beispiel für ein reines, direktes Zeit-Bild führt DELEUZE eine 10 Sekunden lang gefilmte Vase an.104 Die Vase gibt so den Zeitraum von 10 Sekunden an und vermittelt das Gefühl dieser Dauer, ohne dass eine Figur oder ein Erzähler darauf hinweisen muss, dass diese Zeit verstrichen ist. Im Roman ist lediglich eine Beschreibung der Vase möglich, diese kann aber nicht genau 10 Sekunden dauern. Es vermag lediglich erzählt zu werden, dass die Vase 10 Sekunden lang betrachtet wurde, oder es wird getrennt das Aussehen der Vase beschrieben und dem Leser mitgeteilt, wie viel Zeit in der Geschichte vergangen ist. Das Gefühl der Dauer bleibt aber an bestimmte Figuren oder den Erzähler gebunden und überträgt sich nur indirekt auf den Leser. Die Dauer der Kameraeinstellungen ist im Film in der Länge begrenzt. Ein Roman kann ein Bild, eine Szene beschreiben und etwa darüber informieren, dass inzwischen Jahre vergangen sind. Dem Film kommt aber für die Darstellung von Zeit-Bildern neben der Kameraeinstellung/dem Bildfeld noch ein anderes Mittel zu: die Montage. Montage Das filmische Gestaltungspotenzial in Abgrenzung vor allem zum Theater entfaltet sich erst durch das chronotopische Mittel der Montage, die das Bildmaterial strukturiert. Für PUDOWKIN macht die Kameraeinstellung noch nicht die Bewegung eines Films aus; die Bewegung, welche sie abbildet, sei vielmehr tot ohne die Montage: Ich behaupte, daß jeder Gegenstand, der nach einem bestimmten Gesichtspunkt aufgenommen und dem Zuschauer auf dem Bildschirm gezeigt wird, tot ist, auch wenn er sich vor der Kamera bewegt hat. Das sich vor der Kamera bewegende Objekt bedeutet noch lange keine Bewegung im Film, es ist nicht mehr als das Rohmaterial, aus dem durch den Aufbau, die
102 Ebd., S. 38. 103 Ebd., S. 40. 104 Ebd., S. 31.
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Montage, die eigentliche Bewegung in der Komposition der verschiedenen Einstellungen entsteht.105
Tatsächlich wären ohne sie die einzelnen Bilder eher eine Art sich bewegende Fotografie, abgefilmte Bewegungen unterschiedlichen zeitlichen Ausmaßes in einem Raum – aber kein Kino. Erst die Montage fügt die chronotopisch verschiedenartigen Szenen zu einem mehr oder weniger Sinnhaften, die Denkprozesse anregenden Ganzen zusammen. Der filmische Rhythmus entsteht folglich nicht allein durch die Bewegungen innerhalb der einzelnen Bilder, sondern durch die Bewegung erzeugende Anordnung. Im klassischen Kino des Bewegungs-Bildes, in dem es bei der Montage noch nicht darum geht, das Wesen der Zeit filmisch zu reflektieren, werden nach DELEUZE drei Arten von Bewegungsbildern miteinander kombiniert: das Wahrnehmungsbild, das Affektbild und das Aktionsbild. Kein Film bestehe nur aus einer Art dieser Bilder, aber eines dominiere immer. Daran macht DELEUZE drei Arten der Montage im klassischen Kino fest: eine perzeptive, affektive oder aktive Montage.106 Im modernen Kino des Zeit-Bildes spielt die Montage noch eine weiterführende Rolle als die bloße Aneinanderreihung sensomotorischer Bilder. Die Einstellungen werden nicht mehr per se sinnhaft miteinander verkettet, sondern ihre Verbindung darf unklar sein, ja soll es sogar, wenn sie Denkprozesse anregen will. Mittel hierfür sind zum Beispiel falsche Anschlüsse, ein unzuverlässiger Erzählerkommentar, eine kaum nachvollziehbare Chronologie oder montierte Räume, die nicht mehr zusammenpassen, indem etwa in der einen Einstellung die Tür zu ist, um in der Einstellung darauf beziehungs- und aktionslos offen zu sein.107 Das Zeit-Bild ist „falsch“, wodurch im modernen Kino aufscheint, dass der Glaube an die Sinnhaftigkeit der Welt verloren ist und stattdessen etwa die unzuverlässige Struktur von Träumen oder Erinnerungen angenommen hat. Durch die falsche Montage wird die Ungewissheit der Zeit in den Rissen zwischen den Bildern vorgeführt. Dadurch philosophiert der Film über das Wesen der Zeit und die Ungewissheit einer Realität. Filmbilder und deren Montage besitzen dabei eine vom Roman fast unnachahmliche Simultaneität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.108 Zeit-Bilder beinhalten alle Zeitstufen und brauchen sich nicht wie die grammatikalische Sprache auf eine Tempusform festzulegen. 105 Pudowkin, W. I.: Filmregie und Filmmanuskript. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 71. 106 Vgl.: Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 102. 107 Z. B. im Film Letztes Jahr in Marienbad (Regie: Alain Resnais, Alain Robbe-Grillet, 1961). Vgl. u. a.: Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 58. 108 Vgl.: Karpenstein-Eßbach, Ch.: Ein Ausweg aus modernen Filmtheorien: Gilles Deleuzes Repolitisierung des Kinos. In: Weimarer Beiträge Heft 3/2005. S. 335.
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Als Fazit des Chronotopos der durch Kamera und Montage produzierten Kinobilder lässt sich mit DELEUZE festhalten, dass diese – durchaus im Gegensatz zur sprachlichen Bestimmtheit des Romans und zur Performanz des Theaters – „von Natur aus doppelt sind“.109 Damit ist die potentielle „Ununterscheidbarkeit von Realem und Imaginärem, von Gegenwärtigem und Vergangenem, von Aktuellem und Virtuellem“110 gemeint. Das klassische Theater im Kontrast besteht in seinen sukzessiven Gegenwarten, und durch seine Liveness hat es immer eine reale Komponente: die Zuverlässigkeit, dass sich die Darsteller gerade zu dieser Zeit in einer bestimmten Bühnenkulisse befinden, die sich nicht auf wundersame Weise in der nächsten Sekunde verwandeln und in eine andere Sphäre abdriften wird. Im Roman ist es wiederum die Sprachlichkeit des Erzählers, welche die einzelnen Szenen in Raum und Zeit verortet und deuten kann. Der vorsprachliche Film dagegen bietet aus seinen medialen Bedingungen des Bewegungs- und Zeit-Bildes heraus eine „Unendlichkeit der Interpretation“.111 Filmfiguren Wie die zugrundeliegenden Filmtheorien einhellig bekräftigen, ist ein Film mehr als die gefilmte Materie und die Objekte im Bildfeld. Die Kunst des Films macht nicht allein die Bewegung vor der Kamera aus, sondern die Montage. So zählen für PUDOWKIN die Schauspieler zum Rohmaterial eines Films, das erst über die einzelne Kameraeinstellung hinaus durch die Montage eine Bedeutung für die Narration erhält.112 Wodurch unterscheiden sich die Filmfiguren außerdem von den erzählten Figuren des Romans und den Schauspielern auf der Theaterbühne? Zunächst einmal ist evident, dass Filmfiguren anders als ihr romanhaftes Pendant seltener direkt, sondern meist implizit charakterisiert sind. Nach EDER entsteht ihr „Eigenschaftssystem […] aus den Bildern und Tönen des Films“,113 während sie im Roman oft explizit durch den Erzähler sowohl in ihren äußerlichen als auch in ihren innerlichen Eigenschaften beschrieben werden. Gerade bei der Darstellung der Innerlichkeit, der Psyche einer Figur kann der Film zum Teil andere Mittel als die Sprache einsetzen, wie etwa Musik, symbolische Gegenstände, Gefühlsland109 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 97. 110 Ebd., S. 97. 111 Karpenstein-Eßbach, Ch.: Ein Ausweg aus modernen Filmtheorien. In: Weimarer Beiträge Heft 3/2005. S. 335. 112 „Der Mensch, der aufgenommen wird, ist nicht mehr als Rohmaterial für die spätere, durch die Montage geschaffene Komposition seiner Filmerscheinung.“ Pudowkin, W. I.: Filmregie und Filmmanuskript. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 72. 113 Eder, J.: Die Figur im Film. S. 24.
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schaften oder die Führung der Kamera und die Rhythmik der Montage.114 Für DELEUZE gibt es im klassischen Kino drei Bewegungs-Bilder und damit drei Möglichkeiten des Films, die subjektiven Gefühle einer Figur ohne Sprache zu vermitteln. Bei ihrer Erörterung sollen im Folgenden die Spezifika der Filmfiguren aufgezeigt werden. Erstens ist dies das Aktionsbild, in dem sich der Habitus der Figur etwa in deren Reaktion auf andere Figuren oder Objekte zeigt. Für DELEUZE ist das Betragen im Umgang mit Objekten gar eine noch stärkere Gefühlsdarstellung als sie die Großaufnahme bietet. Als Beispiel führt er einen Mann an, der den Schuh der Geliebten bedächtig aufhebt: „[…D]er emotionale Umgang mit einem Gegenstand, ein Gefühlsakt gegenüber einem Gegenstand, [kann] mehr Wirkung erzielen als eine Großaufnahme im Aktionsbild.“115 Implizit ist damit auch bereits angedeutet, wie die Figuren im Theater ihre inneren Prozesse veräußerlichen können. Darunter fällt auch der Dialog der Figuren, der im Tonfilm in Abweichung zum Roman unmittelbar ist, das heißt nicht durch einen Erzähler vermittelt wird. Mit der Erfindung des Tonfilms wurden distinkte Merkmale wie etwa Aussprache, Stimme, Intonation direkt wahrnehmbar, während diese „im Geschriebenen entstellt“116 waren bzw. sind. Hinzu gesellt sich eine Geräuschkulisse, die meist ausgeprägter und umfassender ist als im Theater und auch aus dem Off kommen kann – eine Tonspur, in der sich die Stimme der Figur behaupten muss.117 Im Zeit-Bild des neorealistischen Kinos nach DELEUZE dürfte sich dieses Bestreben, sich verbal Gehör zu verschaffen, verflüchtigt haben. Denn in dieser neuen Form des Kinos ist der Sprechakt der Figuren nicht mehr funktional für das Agieren oder die Aufdeckung einer Situation.118 Zweitens ist es natürlich das Affektbild der Großaufnahme vor allem des Gesichts, das innere Regungen und Charaktermerkmale einer Figur erahnen lassen kann. Nach BALÁZS wurde diese direkt zwischenmenschliche Fähigkeit der Empa-
114 Vgl.: Ebd., S. 282. 115 Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 216. 116 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 291. 117 „Die Stimme ist nicht von den Geräuschen und Tönen zu trennen, die sie oftmals unvernehmbar macht. Wir haben es hier mit dem zweiten großen Unterschied zwischen dem kinematographischen und dem theatralischen Sprechakt zu tun.“ Ebd., S. 300. 118 „Wenn es richtig ist, daß das moderne Kino den Zusammenbruch des sensomotorischen Schemas voraussetzt, dann fügt sich der Sprechakt nicht mehr in die Verkettung von Aktionen und Reaktionen ein und deckt nicht mehr ein Gewebe von Interaktionen auf.“ Ebd., S. 311.
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thie119 durch die Lesekultur der Gutenberg-Galaxis, die den lediglich indirekten Bezug auf Gesichter mit sich brachte, unterdrückt: Die Erfindung der Buchdruckerkunst hat die Gesichter der Menschen allmählich unleserlich gemacht. Sie konnten nunmehr so viel von bedrucktem Papier lesen, daß sie die Mimik der Mitteilungen vernachlässigen durften. […] Aus dem sichtbaren Geist wurde so ein lesbarer Geist, und aus der visuellen Kultur entstand eine begriffliche Kultur.120
Es gibt für BALÁZS auch Empfindungen, die mit Worten gar nicht erst erfasst werden können, weil sie nicht rational sind.121 Mittels der Technik des Stream of Consciousness ist der Roman lediglich fähig, sich solchen Emotionen anzunähern. Ein Gesicht und das Mienenspiel eines Menschen vermag es aber im Gegenzug, derlei tiefe vorbegriffliche Seelenschichten zu spiegeln.122 Folgt man dieser Auffassung, steht der Film der menschlichen Seele viel näher als der Roman, da die Tiefen des Menschen nicht sprachlich sind. Im Theater tritt daneben ein anderes Problem auf: Die Gesichtsspiele sind ohne Hilfsmittel vom Platz aus nicht so gut zu erkennen wie im Film und müssen übertrieben werden. DELEUZE stellt darüber hinaus fest, dass sich auf einem Gesicht im Film nicht nur ein Affekt abzeichnen kann, sondern es genauso dazu fähig ist, als „Indiz[…] für die Gesamtsituation“123 aufzutreten. Als Beispiel dient ihm das Gesicht eines Beobachtenden, auf dem sichtbar wird, welche Situation allgemein oder im Off gegeben ist. Oder noch deutlicher: Auf einem Gesicht können sich auch z. B. die Lichter eines vorbeifahrenden Zuges abbilden124 in Kombination mit der Emotion der Figur, die am Bahngleis steht. Es lässt sich die simple Hypothese aufstellen, dass der Film alles, was ein Gesicht auch in der realen Lebenswelt zu leisten in der Lage ist, präziser und unmittelbarer umsetzt als die anderen Künste und Medien. Der Film scheint konkurrenzlos, was den Gesichtsreiz anbelangt. Allerdings ist mit EDER einzuräumen, dass die Mimik „ambig“ ist, weshalb sie „nicht jeder gleich gut erfassen kann“.125 Das dritte Bild, das die Perspektive einer Figur wiedergeben kann, ist, wie die Bezeichnung schon sagt, das Wahrnehmungsbild. Möglich wird es durch den Un119 Es gibt ein „Allgemeinbewußtsein“ dieser „mimischen und Gestensprache“. Balázs, B.: Der sichtbare Mensch. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 229. 120 Ebd., S. 224. 121 Ebd., S. 225. 122 Vgl.: Ebd., S. 227. 123 Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 218. 124 Nach: Ebd. 125 Eder, J.: Die Figur im Film. S. 259.
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terschied zum Theater, nämlich dass die Filmfiguren nicht präsent sind. Wir sehen die Figur nicht nur vor uns, sondern die Kamera kann auch ihre Perspektive einnehmen und sehen, was sie wahrnimmt. Der Filmzuschauer ist bei seinem Helden oder sogar in ihm. Das Prinzip des Kinos ist es nach LUKÁCS, dass die Filmhelden eben keine Menschen sind: Das Fehlen dieser „Gegenwart“ ist das wesentliche Kennzeichen des „Kino“. Nicht weil die Filme unvollkommen sind, nicht weil die Gestalten sich heute noch stumm bewegen müssen, sondern weil sie eben nur Bewegungen und Taten von Menschen sind, aber keine Menschen. Dies ist kein Mangel des „Kino“, es ist seine Grenze, sein principium stilisationis. Dadurch werden die unheimlich lebensechten, nicht nur in ihrer Technik, sondern auch in ihrer Wirkung der Natur wesensgleichen Bilder des „Kino“ keinesfalls weniger organisch und lebendig, wie auf der Bühne, sie erhalten nur ein Leben von völlig anderer Art; sie werden – mit einem Wort – phantastisch.126
Die in der Natur der Filmfiguren liegende Phantastik gestattet es uns, sie ganz zu durchdringen und über die Kamera mit ihren Augen zu sehen. Das Kino muss hierbei nicht zwingend eine natürliche Wahrnehmung simulieren, es ist in ihrer Gestaltung völlig frei. Dies ist es auch, was nach DELEUZE die mangelnde Präsenz von Filmfiguren im Wetteifer mit den Theaterfiguren aufwiegt: Die eingefleischten Liebhaber des Theaters hielten dem Kino vor, es fehle ihm stets etwas: die Präsenz, die Präsenz der Körper, die dem Theater vorbehalten bleibe; der Film zeige uns lediglich die tanzenden Wellen und Korpuskeln, mit denen es Körper simuliert. […] Wenn uns das Kino aber nicht die Präsenz des Körpers gibt und nicht geben kann, dann vielleicht auch deswegen, weil es ein anderes Ziel verfolgt: es breitet über uns eine „experimentelle Nacht“ oder einen weißen Raum aus, es arbeitet mit „tanzenden Körnern“ und „aufleuchtendem Staub“, es verwirrt das Sichtbare und hält die Welt in der Schwebe, was jeder natürlichen Wahrnehmung widerspricht.127
Wie DELEUZE weist auch EDER auf das filmische Mittel der subjektiven Kamera (und darüber hinaus auf den subjektiven Ton) hin, welche die Wahrnehmung einer Figur imitiert und dadurch ihre Persönlichkeit beleuchtet.128
126 Lukács, G.: Gedanken zu einer Ästhetik des Kinos. In: Georg Lukács. Schriften zur Literatursoziologie. Hg. v. H. Maus und F. Fürstenberg. S. 76. 127 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 259. 128 „In subtiler Form ist die menschliche Subjektive ein Persönlichkeitsindikator: Worauf jemand seine Aufmerksamkeit richtet, ob sein Blick unstet oder starr ist, sagt etwas über ihn aus.“ Eder, J.: Die Figur im Film. S. 282.
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All diese filmischen Potenziale der Figurendarstellung von innen und außen mögen es sein, die die Filmfiguren so plastisch vor dem Zuschauer auferstehen lassen können, dass sie sich gar aus dem Film herauslösen und transmedial verbreiten. Oder sie steigen, durch die Gefühle, die sie im Filmrezipienten ausgelöst haben, in dessen Gedankenwelt auf. Die meisten Zuschauer würden sicherlich bestätigen, dass es hauptsächlich die Filmfiguren waren, die ihr Filmerlebnis geprägt haben.129 Darüber hinaus wird nun die Frage zu stellen sein, was es überhaupt bedeutet, einen Film sinnlich wahrzunehmen. Wodurch zeichnet sich die Rezeptionssituation im Gegensatz zur Romanlektüre und zum Theaterbesuch aus?
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Der Film als „Kind der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts“130 war von Anfang an ein Medium, das von allen Bevölkerungsschichten gleichermaßen begeistert angenommen wurde und sich nicht wie die Literatur vor GUTENBERG an eine Elite richtete – eine Kunst für die Massen: „Es schlug alle in Bann. Niemand entgehet ihm. Da es für alle lebet, lebet es von allen. Das Publikum des Kino ist das klassenlose Publikum.“131 Der Film war nicht als privates Vergnügen gedacht, sondern galt wie das Theater als ein öffentliches Spektakel. So fanden auch die ersten Filmvorführungen in Theatern und Musikhallen statt. Das Besondere an der Kinosituation im Gegensatz zum Theater ist aber, dass es beim Filmerleben nicht nur darum geht, ein Schauspiel anzuschauen, sondern sich im öffentlichen Raum auf ein zutiefst privates Erlebnis132 einzulassen. Die verschiedenen Formen der Filmbilder evozieren Intimität, indem der Rezipient nicht nur zuschaut, sondern miterlebt und die Gefühle der Figuren teilen kann. Wie Reiner MATZKER pointiert, treffen hier subjektive Wahrnehmungen intersubjektiv im öffentlichen Raum zusammen: Im Kino läßt sich das private Filmschauspiel noch als öffentliches erleben: Das Subjekt ist im öffentlichen Raum an einer allgemeineren Privatisierung durch die Aktivierung primordialer Erlebnismomente beteiligt. Es erlebt die wahrgenommene Filmwelt nicht allein als die eigene, sondern befindet sich in einem intersubjektiven Zusammenhang intrasubjektiver Erleb-
129 Vgl. auch: Ebd., S. 13f. 130 Paech, J.: Literatur und Film. S. 1. 131 Mierendorff, C.: Hätte ich das Kino. In: Kino-Debatte: Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929. Hg. v. A. Kaes. S. 141. 132 Wie es sich besonders im Abschnitt über die Filmfiguren herausgestellt hat.
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nissteigerung, in gewisser Weise auch in einer kollektiven Situation der Illusionsbildung durch Phantasiearbeit.133
Im Kino sind zwar der „Bild- und Projektionsraum“134 (womit Thomas ELSAESSER kurz gesagt die Leinwand meint) und der Zuschauerraum getrennt, aber die Illusion der Nähe zum Geschehen wirkt besonders im heutigen Kino sehr stark. Im Theater ist der Zuschauer zwar architektonisch und physisch mit dem Schauspiel verbunden,135 dennoch verschmilzt er anders als der Kinobesucher nicht mit diesem. Zuschauerraum und Bildraum verschwimmen durch filmische Mittel auf ganz andere Art als im Theater, es findet eine „Sinnesreizung, Wahrnehmungslenkung oder kognitive[…] Manipulation im Kopf oder Körper des Zuschauers“136 statt. So kommt der Film dem Zuschauer im Grunde noch viel näher als das Theater. Hilfsmittel wie Dolby-Stereo umgeben den Zuschauer, statt ihn nur zusehen zu lassen. Daran kann die Filmrezeption über das Medium Fernsehen noch nicht heranreichen, auch wenn die Bildschirme und das Soundsystem der Geräte sich immer mehr dem Kino annähern. Das Besondere der Filmrezeption liegt aber natürlich nicht nur in der physischen Raumsituation, in der sich der Zuschauer befindet. Es ist die Gesamtheit der audiovisuellen Mittel des Films, welche die Sinne des Zuschauers in klar von Roman und Theater abgrenzbarer Weise reizen. Welche kognitiven und emotionalen Effekte sind es, die beim Schauen eines Films, unabhängig ob im Kino oder vor dem Fernseher, ablaufen? Der Akt des Filmsehens Die verschiedenen Theorien des Films, die sich auch auf den Aspekt der Rezeption beziehen, wie etwa von ARNHEIM, BALÁZS und auch DELEUZE,137 gehen einhellig davon aus, dass das Filmsehen ein besonders aktives ästhetisches Erlebnis ist. Zwar ist der Zuschauer rein physisch weiter vom Geschehen distanziert als im Theater, und er bekommt im Gegensatz zum Roman gewissermaßen fertige Bilder der Handlung geliefert. Doch seine Illusionskraft ist allein dadurch stark gefordert, dass er sich imaginativ von seinem realen, statischen Standort lösen und die Multiperspektive der Kamera sowie den Rhythmus der Montage annehmen muss. Wie ARNHEIM 133 Matzker, Reiner: Das Medium der Phänomenalität. Wahrnehmungs- und erkenntnistheoretische Aspekte der Medientheorie und Filmgeschichte. München: Fink 1993. S. 197. 134 Elsaesser, Thomas: Filmgeschichte und frühes Kino. Archäologie eines Medienwandels. München: edition text + kritik 2002. S. 75. 135 Nach: Ebd. 136 Ebd. 137 Allesamt nicht auf der Basis von empirischen Studien direkt am Zuschauer.
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sinnvoll differenziert, flitzt nicht der Kinobesucher hin und her, sondern es ist sein Blick, der alle Bewegungen der Kamera und der Montage mitmacht; er „schaut von ferne, aus der Nähe, von oben, durchs Fenster, von links, von rechts“.138 Die filmischen Mittel steuern den Blick, wodurch dem Betrachter der Eindruck entsteht, wie die Kamera direkt dabei zu sein. Es wäre falsch behaupten zu wollen, dass der Zuschauer wirklich alles sieht, was die Kamera filmt. Denn er kann nicht vollständig aufnehmen, was ihm gezeigt wird, und schafft sich dadurch in gewisser Weise doch sein eigenes Filmerlebnis – wie auch besonders die Romanlektüre ein individuelles kognitives Erlebnis ist. Die selektive Wahrnehmung des Blicks kann aber vom Film durch eine „wohlüberlegte Bildkomposition“139 gesteuert werden. Dennoch lässt der Film – in hohem Maße wie bereits gezeigt wurde etwa im Zeit-Bild – auch Leerstellen, die der Rezipient entsprechend dem Romanleser mit seiner eigenen Erfahrung auffüllen kann. Filmbilder regen nach MATZKER „zur Aktivierung primordialer, d. h. vorlogischer, präobjektiver Erfahrungsmomente an.“140 Die Unbestimmtheiten und Sprünge im Film machen dessen Kunst aus, denn ohne sie würde er allein einen Ausschnitt der Wirklichkeit auf die Leinwand bringen, den der Zuschauer dann wie ein Naturerlebnis – auf den Seh- und Hörsinn beschränkt – wahrnehmen könnte. An der Perzeption eines Films ist darüber hinaus Phantasie zur Anregung der Vorstellung beteiligt, die auch die anderen Sinne wie Geruchs-, Tast- und Geschmackssinn gewissermaßen simulieren kann. Nach PAECH ist es das Vermögen der „intellektuellen Montage“141 des Films, Vorstellungen zu erwecken, die das Denken anregen. Auf diese Weise kann der Film wie der Roman lesbar werden, denn die Wahrnehmung einer solchen Montage, welche die Bilder nicht auf natürliche Weise miteinander verkettet, fordert nach DELEUZE „eine beträchtliche Anstrengung des Gedächtnisses und der Imagination, anders gesagt, eine Lektüre“.142 Für DELEUZE ist das Kino, bzw. allgemeiner der Film, durch seine automatische Bewegtheit in besonderem Maße prädestiniert, das Denken anzuregen: Erst wenn die Bewegung automatisch wird, kommt das künstlerische Wesen des Bildes zur Erscheinung; es besteht darin, einen Schock im Denken entstehen zu lassen,Vibrationen auf die Gehirnrinde zu übertragen, unmittelbar das Gehirn und das Nervensystem zu beeinflussen.143 138 Arnheim, R.: Film als Kunst. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 194. 139 Matzker, R.: Das Medium der Phänomenalität. S. 185. 140 Ebd., S. 197. 141 Paech, J.: Literatur und Film. S. 164. 142 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 314. 143 Ebd., S. 205.
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So ist das Kino nicht nur Illusion, Imagination und Phantastik, sondern auch ein Mittel, philosophische Gedankenarbeit zu evozieren, die im Zeit-Bild sogar auf das Undenkbare übergreifen kann. Die Figur im Zeit-Bild sieht sich etwas Undenkbarem gegenüber144 und entspricht damit dem Filmzuschauer, der ebenfalls nicht handlungsfähig ist, sondern nur sehen kann.145 Im Gegenzug fehlt das Moment des Erblickt-Werdens durch die Figuren bzw. wie im Theater durch die realen Schauspieler. Das heißt, zwischen den Handelnden und dem Zuschauer gibt es kein intersubjektives Moment,146 obwohl der Film den Rezipienten mit hinein holt. Allerdings ist es freilich allein das Bewusstsein des Zuschauers, das in den Raum und die Zeit des Films hineingezogen wird, die Distanz des Filmerlebens ist lediglich realkörperlich. Die kognitiven Prozesse wirken dagegen, wie BALÁZS sie beschreibt, äußerst plastisch: Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und dadurch verwickelt in seine Handlung. Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit – obwohl ich körperlich auf demselben Platz sitzen bleibe. […] Durch die ständig wechselnden Einstellungen (Perspektiven) ist dieses Wunder möglich: daß mein Blick (und mit ihm mein Bewußtsein) sich mit den Personen des Filmes identifiziert. Ich sehe das, was sie von ihrem Standpunkt aus sehen. Ich selber habe keinen.147
Dieses kognitive „Raumerlebnis anderer Menschen“148 findet nur durch das Medium Film statt. Auch Theaterfiguren mag zwar Empathie zukommen, doch ist dies ein Mitfühlen der Rezipienten von außen und kein Miterleben aus dem Inneren des Geschehens heraus. Von anderer Art ist die Subjektivität des Romans: Auch hier gibt es keine Begrenzung, die den Leser aus dem Geschehen und aus der Innenperspektive der Figuren heraushalten würde. Der Leser setzt gewissermaßen auch die Brille der Figuren auf, aber das, was diese sehen, wird ausschließlich sprachlich beschrieben. Die Wahrnehmungs-„Bilder“, wie überhaupt alle Szenerien des Romans, 144 Urauslöser für das Zeit-Bild: die Undenkbarkeit des Nazi-Regimes. Diese schlägt sich im modernen Kino in undenkbaren Situationen nieder. 145 Deleuze über die zuschauergleiche Passivität der Figur im Zeit-Bild: „[…D]ie Figur wird selbst gewissermaßen zum Zuschauer. Sie bewegt sich vergebens, rennt vergebens und hetzt sich vergebens ab, insofern die Situation, in der sie sich befindet, in jeder Hinsicht ihre motorischen Fähigkeiten übersteigt und sie dasjenige sehen und verstehen läßt, was nicht mehr von einer Antwort oder Handlung abhängt. Kaum zur Reaktion fähig, registriert sie nur noch. Kaum zum Eingriff in eine Handlung fähig, ist sie einer Vision ausgeliefert, wird von ihr verfolgt oder verfolgt sie selbst.“ Ebd., S. 13. 146 Vgl.: Matzker, R.: Das Medium der Phänomenalität. S. 188. 147 Balázs, B.: Zur Kunstphilosophie des Films. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.J. Albersmeier. S. 212f. 148 Ebd., S. 219.
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bleiben auf rein imaginativer Ebene. Der Filmzuschauer unterdessen sieht und hört gewissermaßen mit den durch Bild und Ton vermittelten Sinnen der Figur und ist durch diese völlig determiniert. Das heißt, er hat nicht die Freiheit, um beispielsweise innezuhalten, wenn er etwas mit den Augen einer Figur wahrnimmt, er muss sozusagen den Weg nach dem Rhythmus der Filmfigur gehen. Dies sieht auch EDER als einen der Hauptunterschiede zwischen der Film- und der Romanrezeption: Ein Film wird im zeitlichen Verlauf als audiovisueller Strom wahrgenommen, der weder beschleunigt noch verlangsamt, weder angehalten noch partiell wiederholt werden kann (DVDs eröffnen hier neue Potenziale). Filmrezeption differiert vom Lesen unter anderem hinsichtlich der Möglichkeiten, Aufmerksamkeit zu verteilen, Pausen einzuschieben, zu reflektieren.149
Dafür ist der Film aber – anders als die Literatur, die sich der arbiträren, syntaktischen und linearen Sprache bedient – so geschwind und ursprünglich zu erfassen wie die reale Lebenswelt selbst. Filmbilder sind zwar künstlerisch hervorgebracht, dennoch ist deren Erkennen im Gegensatz zur Interpretation sprachlicher Zeichen archaisch und angeboren. Sie sind mit Einschränkungen (da kein Abbild) der Realität „qualitativ identisch, etwa hinsichtlich ihrer Farben, Formen, Raumorientierung, Bewegung etc.“150 Diese Wirklichkeitsnähe mag sicherlich auch eine große Rolle spielen für die von Beginn an große Beliebtheit des Massenmediums Kino. Denn einerseits erscheint es so real, dass sich der Rezipient in diese Welt hineinversetzen kann, als würde er eine Reise im Körper anderer Menschen unternehmen. Andererseits ist es ein bis zur Traumhaftigkeit übersteigertes Erleben, eine Art Wunschwelt, in die die Zuschauer seit Beginn des fiktionalen Kinos eintauchen können. Entsprechend sah bereits HOFMANNSTHAL im Kino eine „Kiste mit zauberhaftem Gerümpel“: Da liegt alles offen da, was sich sonst hinter den kalten undurchsichtbaren Fassaden der endlosen Häuser verbirgt, da gehen alle Türen auf, in die Stuben der Reichen, in das Zimmer des jungen Mädchens, in die Halle des Hotels; in den Schlupfwinkel des Diebes, in die Werkstatt des Alchimisten.151
All die in diesem Unterkapitel angesprochenen Potenziale der Filmrezeption basieren auf den allgemeinen Bedingungen der bis heute bestehen gebliebenen Grundimplikationen der Filmtechnik (Aufnahme mit der Kamera, Montage, Trennung von Aufnahmeapparat und Projektionsgerät). Es darf aber nicht außer Acht 149 Eder, J.: Die Figur im Film. S. 93. 150 Ebd., S. 93. 151 Hofmannsthal, H. von: Der Ersatz für die Träume. In: Kino-Debatte. Hg. v. Anton Kaes. S. 151.
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gelassen werden, dass sich das Medium inzwischen stark weiterentwickelt hat und sich die Rezeptionspotenziale über neue Techniken noch intensiviert haben. Wo steht der Film in der Medienlandschaft um 2000 und was hat sich in der Filmrezeption verändert?
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1926 mutmaßte BEHNE, dass das Buch als Transportmittel von Informationen untergehen würde, weil mit dem Film ein besseres gefunden worden sei: „Es wird die Zeit kommen, da wir kaum noch Bücher schreiben – sobald wir erst erkannt haben, wieviel exakter jeder Beweis im Film zu führen ist.“152 Nach Vilém FLUSSER haben die Bilder tatsächlich den eindimensionalen linearen Text als Informationsspeicher verdrängt, was uns zur zweidimensionalen, imaginären und mythischen Weltsicht zurückgeführt habe: die Welt als Szene.153 Aus den technischen Bildern strahle eine Magie. Diese dürfte durch die neue Technik, die mit dem Stichwort Digitalisierung nur absolut gefasst ist, noch emphatischer geworden sein. ELSAESSER bezeichnet den „Einzug des Computers in die Bildproduktion“,154 der sich um die Jahrtausendwende ereignet hat, gar als einen „Medienwechsel“, der nicht auf das Kino beschränkt bleibt. Vielmehr kann sich durch die neue Technik auch die breite Öffentlichkeit medialisieren.155 Darüber hinaus eröffnen sich dem Kinozuschauer phantastische Welten: Die Möglichkeit der Filmproduktion, Bilder digital am Computer zu bearbeiten und Effekte zu erzeugen, birgt großes Potenzial vor allem für Fantasy-Filme (aber auch z. B. für hyperrealistische Filme). Der Film kann imaginative Welten bebildern, wie sie früher dem Roman vorbehalten waren. Die reale Ebene, die Frage nach der physischen und physikalischen Umsetzbarkeit, spielt eine immer geringere Rolle, denn dem digitalisierten Film sind wie dem phantastischen Roman keine Grenzen gesetzt: Die „Entmaterialisierung der Bildproduktion“ hat ihn „von den physischen Fesseln befreit“.156 Nach ELSAESSER rufen diese Veränderungen des Films um 2000 eine ähnliche Faszination hervor wie die ursprüngliche Erfindung des Kinoapparats:
152 Behne, A.: Die Stellung des Publikums zur modernen deutschen Literatur. In: KinoDebatte: Texte zum Verhältnis von Literatur und Film 1909–1929. Hg. v. A. Kaes. S. 162. 153 Vgl.: Flusser, Vilém: Ins Universum der technischen Bilder. 4. Aufl. Göttingen: Europ. Photography 1992. S. 9. 154 Elsaesser, T.: Filmgeschichte und frühes Kino. S. 278. 155 Vgl.: Ebd., S. 279. 156 Ebd., S. 37.
98 | I. DIE T HEORIE DER M EDIENKONKURRENZ Was in den ersten Jahren des Kinos der technische Apparat an sich war, mit seinen wundersamen Fähigkeiten, Bilder zum Leben und fotografierte Genre-Szenen in Bewegung zu bringen, sind heute die digitalen Bilder und fantastischen Welten, die ebenfalls das Staunen und die Aufmerksamkeit des Publikums in ihren Bann ziehen. Damals wie heute sieht das Auge Dinge, die der Verstand fast nicht fassen kann – ein ‚Kino der Attraktionen‘.157
Doch durch die neue Technik verlieren die Bilder auch ihren Authentizitätsanspruch158 – und der Film entfernt sich besonders von der Präsenz des Theaters. Sein fertiges Produkt ist kein Beleg mehr dafür, dass in ihn die „lebendige Arbeitskraft von Schauspielern, Kameraleuten, Maskenbildnern und Kulissenbauern eigegangen ist.“159 Das Materielle, die Ebene der Realität, spielt eine immer kleinere Rolle für die Produktion eines Filmes. Zwar werden die Bilder noch analog aufgenommen, aber durch die anschließende Digitalisierung am Computer können sie beliebig bearbeitet werden. So ist ein Film nicht mehr allein das Ergebnis von Kamera und Schnitttechnik, sondern auch der digitalen Bearbeitung. Eine neuere „Attraktion“ ist vor allem die 3D-Technik, die die Bilder so projiziert, dass sie sich nicht mehr wie Bilder anfühlen, weil sie auch die räumliche Tiefe erfassen.160 Dadurch kommen sie dem Erleben in der realen Umgebung sehr nahe und steigern es teilweise bis hin zur Überreizung.161 Ist der 3D-Film also durch die Simulation der Präsenz eine Art „Theater der Attraktionen“? In der Untersuchung des dieser Arbeit zugrundeliegenden Filmkorpus wird auch zu klären sein, welche Auswirkungen es auf die Dramaturgie des Films hat, wenn durch digitale Technik hervorgebrachte Schnelligkeit, Reize und Illusionierung im Vordergrund stehen.162
157 Elsaesser, T.: Filmgeschichte und frühes Kino. S. 181. 158 Hoberg, Almuth: Film und Computer. Wie digitale Bilder den Spielfilm verändern. Frankfurt/Main, New York: Campus 1999. S. 31. 159 Ebd. 160 „Der Eindruck von räumlicher Tiefe beruht wesentlich auf dem Hintereinander der Objekte auf der Bildfläche, wobei die größeren im Vordergrund Teile der kleineren Hintergrundselemente verdecken.“ Ebd., S. 35. 161 Zieht man Schlüsse aus den frühen Befürchtungen von Arnheim, müsste den Filmzuschauer durch ein zu nahes Erleben, wie es die 3D-Technik mittels Aufhebung der Flächigkeit des Filmbilds hervorruft, eine Art Seekrankheit befallen. Denn der Zuschauer halte die schnell montierten Szenen des Films nur aus, weil der Film durch seine „ansichtskartenhafte Flächigkeit“ nicht raumzeitlich als wirklich empfunden würde. Arnheim, R.: Film als Kunst. In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 194. 162 Vgl.: Ebd., S. 202.
3. Flüchtiger Elementarkontakt Die Theorie des Theaters „Diese Bretter bedeuten keine Welt. Sie gehören zur Welt. […] Sie sehen kein Bild von etwas. […] Wir haben die gleiche Ortszeit. Wir befinden uns an den gleichen Orten. Wir atmen die gleiche
Luft. […]
Die Rampe ist keine Grenze. […] Wir sind nicht die Bilder von etwas. […] Wir sind keine Darsteller. 1
Wir stellen nichts dar.“
PETER HANDKE, PUBLIKUMSBESCHIMPFUNG
Das „Wir“ in Peter HANDKES Zitat bekräftigt es: Theater ist Teamwork. Und das in höchstem Maße, denn die daran teilnehmenden Instanzen sind alle gleichwertig und essenziell am Hervorbringen eines Theaterstücks beteiligt. Zusammengefasst kann man drei Parteien ausmachen, die in der Aufführung miteinander verschmelzen: Zunächst einmal gibt es den Autor bzw. den Dichter, der den Text des Stückes schreibt (das literarische Drama oder das Inszenierungskonzept einer Aufführung). Dieser kann gleichzeitig der Regisseur sein. Autor und Regisseur sind die Instanz, die das Stück entwirft und plant. Umgesetzt, d. h. aufgeführt, wird dies zweitens durch die Schauspieler. Sie transformieren den Theatertext in eine Performanz,2 so dass aus einer literarischen Figur eine auf der Bühne präsente Gestalt wird. Diese wird wiederum von der dritten beteiligten Gruppe wahrgenommen: den Zuschauern. Die Theatertheorie ist sich weitgehend darüber einig, dass es letztere sind, die das Theater ausmachen. Ohne Publikum keine Theateraufführung: „Erst diese sensuellen, imaginativen und rationalen Zuschauer-Akte konstituieren Theater. Hier
1
Handke, Peter: Die Theaterstücke. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1992. S. 17f.
2
Mit „Performanz“ soll das reale und gespielte Verhalten auf der Theaterbühne bezeichnet werden. Der Begriff „Performance“ wäre zu allgemein, weil er für Aktionskunst auch jenseits des Theaters gebraucht wird.
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verstanden als eine spezifische Erscheinungsform des ‚work in progress‘.“3 Alle Instanzen zusammen ergeben eine Triade, die es im Gegensatz zur Theorie des Romans und des Films unmöglich machen, das Theater als Werk, als Produkt aufzufassen, das vom Zuschauer und dessen Verhalten unabhängig existiert und betrachtet werden kann. Denn das Zuschauen ist konstitutiv für das Theater, omnipräsent in all seinen Bestandteilen: Sowohl Theater machen/spielen als auch ein Theaterstück besuchen bedeutet: sich zuschauen. Es ist nicht nur das Publikum, das den Blick auf die Akteure richtet, sondern auch die Theatermacher blicken auf die Zuschauer und erwarten deren Mitarbeit.4 Insofern trifft der Begriff „Rezipient“ nicht nur auf den Theaterbesucher zu, sondern auch auf Schauspieler und Regisseure. Seit den 60er Jahren gibt es nach Erika FISCHER-LICHTE eine Tendenz, die Zuschauer und ihre Aktionen stärker in die Aufführung zu integrieren.5 Das Publikum ist nämlich keine homogene, bloß anwesende Masse, sondern kann – wie später noch zu erläutern sein wird – zu heterogenen Akteuren der besuchten Aufführung werden. Als eindringliches Beispiel für die Auflösung der Differenz von Schauspieler und Zuschauer nennt FISCHER-LICHTE die Aufführung Lips of Thomas von Marina ABRAMOVIĆ, die sich auf der Bühne einen Stern in das Fleisch ihres Bauchs ritzte und sich so lange Schmerzen zufügte, bis die verdutzten Zuschauer sie von der Bühne trugen, um ihre Pein zu beendeten.6 Dadurch wurden sie zu Akteuren, die den Verlauf der Performanz beeinflussten. Auch in Hermann NITSCHS Orgien Mysterien Theater geht der Theaterbesuch über bloßes Schauen und Reflektieren hinaus und ermöglicht dem Publikum die sinnlich-aktive Auseinandersetzung mit tabuisierten Objekten wie einem zerrissenen Lamm.7 Und HANDKES Stück Publikumsbe-
3
Lazarowicz, Klaus: Der Zuschauervorgang. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. dems. und Christopher Balme. Stuttgart: Reclam 1991. S. 133.
4
„Am dramatischen Kunstwerke arbeiten drei Mann, der Dichter, der Schauspieler, der Zuschauer. Im Innern des Zuschauers erst entsteht während der Aufführung durch des Dichters, des Schauspielers und sein eigenes Zutun das Kunstwerk.“ Ludwig, Otto: Dichter, Schauspieler und Zuschauer. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. K. Lazarowicz und Ch. Balme. S. 471.
5
Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004. S.
6
Vgl. hierzu auch den Dokumentarfilm über die Künstlerin: Marina Abramovic: The Artist
22. Is Present. Regie: Matthew Akers, Jeff Dupre, USA 2012. 7
„Immer wieder wurden die Zuschauer in Nitschs Aktionen auch körperlich involviert, ja, wurden selbst zu Akteuren. Sie wurden mit Blut, Kot, Spülwasser und anderen Flüssigkeiten bespritzt und erhielten Gelegenheit, selbst mit ihnen zu plantschen, das Lamm selbst auszuweiden, Fleisch zu essen, Wein zu trinken.“ Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 23. Wie diese Beschreibung von Fischer-Lichte zeigt, bietet sich Nit-
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schimpfung8 macht deutlich, dass Theater kein ohne die Zuschauer existierendes Produkt wie z. B. ein im Regal stehendes Buch oder ein immer wieder gleich abspielbarer Film ist. Es kann nur etwas beschimpft werden, das präsent ist, es kann nur jemand face to face bespielt oder angesprochen werden und „zurückspielen“, der auch räumlich anwesend ist. Die „Performativierung der Kunst“9 lässt besonders für das Theater „die traditionelle Unterscheidung in eine Produktions-, eine Werk- und eine Rezeptionsästhetik gerade als eine heuristische Differenzierung fragwürdig, wenn nicht gar obsolet erscheinen“.10 Statt der Produktionsebene gibt es den schriftlichen Text und dessen geplante Inszenierung, aber kein feststehendes, immer gleich bleibendes Produkt, das daraus hervorgeht, denn der Zuschauer konstituiert es durch seine Präsenz mit. Darum kann in diesem Kapitel anders als in den beiden vorangegangenen keine Teilung in Produkt und Rezeption vorgenommen werden, sondern es wird in jene Grundvoraussetzungen des Theaters gegliedert, die autopoietisch ein Ereignis hervorbringen – kurz: die das Theater als Medium des Elementarkontakts ausmachen: dies sind erstens seine Performativität (welche sich im postdramatischen Theater noch stärker herausgestellt hat), die in zweitens der Präsenz von Bühne, Schauspiel und Zuschauern besteht. Vorab gilt es aber zu reflektieren, inwiefern das Theater überhaupt als ein Medium zu bestimmen ist, obwohl es kein mediales Produkt wie etwa das Buch den Roman oder das Kino den fertigen Film vorzuweisen hat, welches unabhängig von der Produktion rezipiert wird.
E IN
MEDIENINTEGRIERENDES
M EDIUM
PER DEFINITIONEM
Sehr weit gefasst gilt ein Medium als etwas, das Zeichen zwischen Menschen vermittelt, eine Verständigung zwischen zwei Parteien auch über zeitliche und/oder räumliche Distanz hinweg ermöglicht. Für das Theater fällt diese Distanz weg; es ist ein Medium, das anders als schriftliche Erzeugnisse oder das elektronische Medium Film auf Anwesenheit und Unmittelbarkeit der Gegenüber angewiesen ist. Der Kommunikationswissenschaftler Harry PROSS hat eine Typologie der Medien aufgestellt, die für die Untersuchung der Medienkonkurrenzen eine brauchbare Übersicht liefert. Demnach ist das Theater durchaus als ein Medium zu verstehen, schs Theater besonders für die Untersuchung der vitalaffektiven Dimension des Ekels und der Ekelevokation im Theater an. Siehe Kapitel II.3. 8 9
Z. B. in einer Inszenierung von Claus Peymann im Jahr 1966. Fischer-Lichte, Erika; Risi, Clemens; Roselt, Jens: Vorwort. In: Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst. Der Aufführungsbegriff als Modell für eine Ästhetik des Performativen. Hg. v. dens. Berlin: Theater der Zeit 2004. S. 7.
10 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 21.
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und zwar als ein primäres. Denn primäre Medien sind Mittel des menschlichen Elementarkontakts wie die verbale und nonverbale Sprache, die zwischen Kommunikationspartnern vermitteln, ohne dass ein elektrisches oder elektronisches Gerät zum Senden oder Empfangen zwischengeschaltet ist.11 Da dies in der face-to-faceSituation während der Aufführung der Fall ist, soll hiernach das Theater als ein primäres Medium definiert werden. So wird die Abgrenzung zum Roman deutlich, der in der Form des Mediums Buchs publiziert als sekundär gelten kann, weil auf der Produktions-/Distributionsseite ein Gerät erforderlich ist. Weiterhin kann davon der Film als tertiäres Medium unterschieden werden, zu dem ein technischer Sender und ein Gerät auf der Empfängerseite gehören. Das Theater ist also durchaus als ein Medium zu bestimmen. Aber es ist anders als das publizistische Druckerzeugnis Buch und der an ein disperses Publikum gerichtete Film ein primäres Medium und kein Massenmedium, wenn letzterer Begriff nach Niklas LUHMANN definiert wird, der das Theater hiervon ausdrücklich und richtigerweise ausschließt: Mit dem Begriff der Massenmedien sollen im Folgenden alle Einrichtungen der Gesellschaft erfaßt werden, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen. Vor allem ist an Bücher, Zeitschriften, Zeitungen zu denken, die durch die Druckpresse hergestellt werden; aber auch an photographische oder elektronische Kopierverfahren jeder Art, sofern sie Produkte in großer Zahl mit noch unbestimmten Adressaten erzeugen. Auch die Verbreitung der Kommunikation über Funk fällt unter den Begriff, sofern sie allgemein zugänglich ist und nicht nur der telephonischen Verbindung einzelner Teilnehmer dient. Die Massenproduktion von Manuskripten nach Diktat wie in mittelalterlichen Schreibwerkstätten soll nicht genügen und ebensowenig die öffentliche Zugänglichkeit des Raumes, in dem die Kommunikation stattfindet – also nicht: Vorträge, Theateraufführungen, Ausstellungen, Konzerte, wohl aber eine Verbreitung solcher Aufführungen über Filme und Disketten.12
Gerade das Spezifikum des Theaters, dass eine Interaktion aufgrund der gleichzeitigen räumlichen Anwesenheit von Sender und Empfänger und ein Tausch dieser Rollen stattfinden kann, grenzt es nach LUHMANN von den Massenmedien ab.13
11 Pross, Harry: Medienforschung. Film, Funk, Presse, Fernsehen. Darmstadt: Carl Habel 1972. S. 128f. 12 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. 2. erw. Aufl. Opladen: West-deutscher Verlag 1996. S. 10f. 13 „Entscheidend ist auf alle Fälle: daß keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfänger stattfinden kann. Interaktion wird durch Zwischenschaltung von Technik ausgeschlossen […].“ Ebd., S. 11.
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Allerdings ist das Theater keine „homogene Institution“,14 und so muss jede Aufführung für sich genommen auf ihre medialen Bestimmungen untersucht werden. Denn erstens greifen ja viele Inszenierungen auf das sekundäre Medium des literarischen Textes zurück, bedienen sich also dieses Speichermediums, um es im eigenen Medium zu aktualisieren.15 Und zweitens kommen dabei wiederum sekundäre Medien wie die Schrift und tertiäre Medien wie auf Leinwände projizierte bewegte Bilder oder Tonaufnahmen zum Einsatz. Ihr Einsatz ist – so der Theatersemiotiker Patrice PAVIS – in aktuellen Inszenierungen so selbstverständlich geworden, „dass ihre Präsenz vom Zuschauer kaum noch bemerkt und häufig übersehen wird.“16 Hans-Thies LEHMANN spricht vom postdramatischen Theater als ein „High Tech Theatre“, worunter auditive und visuelle Medien fallen wie „Film, Projektionen, Klanglandschaften, Video, raffinierte[…] Lichträume[…].“17 All dies kann heute computerbasiert im Theater zur Aufführung gebracht werden. Die traditionelle Neigung des Theaters, technische Mittel für die Inszenierung zu verwenden (z. B. die Drehbühne, Windmaschinen, Beleuchtung), hat sich heute bis zur Multimedialität gesteigert. Durch die Anwesenheit diverser Medien auf der Bühne geht aber, wie auch FISCHER-LICHTE feststellt, der Live-Charakter der Aufführung nicht verloren. Doch sehr wohl haben die Entwicklung der Medienlandschaft allgemein und der Einsatz von Medien im Theater Auswirkungen auf die Wahrnehmungsmodi der Zuschauer.18 Durch Film und Fernsehen sind sie schnelle Kameraschwenks und Montage, das Springen zwischen verschiedenen Szenen, die Omnipräsenz des Bildes und die verschiedensten Klangkonstellationen gewohnt. Obwohl sich auf der Theaterbühne real anwesende Menschen bewegen, ist anscheinend doch der Bewegungsreiz des Film- bzw. Videobildes weitaus stärker. Der Schauspieler Ulrich MATTHES stellt fest, dass das bewegte Bild die Aufmerksamkeit des Zuschauerblicks viel stärker auf sich zieht als die lebendige Bewegung auf der Bühne: Der totale Eingriff, den Video in dieses dreitausend Jahre alte Theater darstellt, besteht darin, dass es dem Publikum einen Blick vorschreibt. Das Demokratische und das Beglückende am 14 Weimann, Robert: Zwischen Performanz und Repräsentation: Shakespeare und die Macht des Theaters. Aufsätze von 1959–1995. Hg. v. Christian W. Thomsen und K. Ludwig Pfeiffer. Heidelberg: Winter 2000. S. 248. 15 Vgl.: Pavis, Patrice: Medien auf der Bühne. In: Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens. Hg. v. Kati Röttger und Alexander Jackob. Bielefeld: transcript 2009. S. 115. 16 Ebd., S. 115. 17 Lehmann, Hans-Thies: Postdramatisches Theater. 4. Auflage. Frankfurt/Main: Verlag der Autoren 2008. S. 405. 18 Vgl.: Fischer-Lichte, Erika: Wahrnehmung und Medialität. In: Wahrnehmung und Medialität. Hg. v. ders., Christian Horn, Sandra Umathum und Matthias Warstat. Tübingen, Basel: A. Francke Verlag 2001. S. 16.
104 | I. DIE T HEORIE DER M EDIENKONKURRENZ Theater ist, dass es jedem einzelnen Zuschauer überlässt, ob er dem zuschaut, der gerade spricht oder der kleinsten Nebenrolle im Hintergrund. In dem Moment, wo ein Video – also eine Leinwand mit einer Großaufnahme – auf der Bühne hängt, gucken die Zuschauer auf das flimmernde Bild. Weil die Leinwand und das sich bewegende Bild so mächtig sind.19
PAVIS bestätigt dies ausdrücklich in seiner Reflexion über „Medien auf der Bühne“ und begründet es mit dem Bewegungsreiz, der vom Bild stärker ausgeht.20 Lässt sich daraus ableiten, dass Filmbilder generell eine größere Aufmerksamkeit beim Zuschauer generieren als die Performativität des Theaters, oder ist es vielmehr der Einbruch des bewegten Bildes in die Realität, in die Liveness der Bühne, der während der Aufführung so stark wirkt?
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Nun ist zwar festgestellt worden, dass das Theater als intermediales Medium bezeichnet werden kann, aber die Frage nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den alle verschiedenen Formen der Theateraufführungen zu bringen sind, ist noch offen. Theater kann z. B. an vielen verschiedenen Orten gespielt werden, dramatisch oder postdramatisch inszenieren, sich entweder ganz auf seine Präsenz konzentrieren oder im Grunde alle zu seiner Zeit vorhandenen Medien gebrauchen etc. – Und doch hat es einen ganz eigenen Charakter im Gegensatz zu Film und Roman. Wie ist Theater zu fassen? FISCHER-LICHTES zunächst sehr allgemein formulierte Definition von Theater ließe sich auch auf den Film beziehen: „Theater ereignet sich […], wenn es eine Person A gibt, die X verkörpert, während S zuschaut.“21 Wie sie in ihrer Ästhetik des Performativen dann deutlich herausarbeitet, müsste hier ergänzt werden, dass S 19 Wege durch die vierte Wand. (Gespräch über die Selbst- und Fremdwahrnehmung auf der Bühne mit dem Schauspieler Ulrich Matthes und dem Videokünstler Jan Speckenbach) In: Wege der Wahrnehmung. Authentizität, Reflexivität und Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater. Hg. v. Erika Fischer-Lichte, Barbara Gronau, Sabine Schouten und Christel Weiler. Theater der Zeit 2006. S. 79. 20 „In der Konkurrenz zwischen dem Bild und der realen Präsenz, zwischen einem Video und einem Schauspieler, entscheidet sich der Zuschauer nicht unbedingt für das Lebendige im Vergleich zum Leblosen. Genau das Gegenteil ist der Fall. Der Zuschauer wählt letztlich immer das Augen- und Auffällige, das eben, was permanent in Bewegung ist und die meiste Aufmerksamkeit hervorruft.“ Pavis, P.: Medien auf der Bühne. In: Theater und Bild. Hg. v. K. Röttger und A. Jackob. S. 119. 21 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 1. Das System der theatralischen Zeichen. Tübingen: Narr 1983. S. 25.
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raumzeitlich anwesend ist, während A die Handlung als X vollzieht, und dass S ebenso zum Akteur (A oder auch eine Rolle) werden kann, wenn er in irgendeiner Weise in die Aufführung eingreift. Das Performative des Theaters ist dadurch gekennzeichnet, dass zumindest potenziell nicht nur die Schauspieler performen, sondern auch die Zuschauer dies können bzw. automatisch tun – allein durch ihre für die Akteure sichtbare Anwesenheit. Sie können im Sinne von Paul WATZLAWICKS berühmtem Axiom nicht nicht reagieren auf das, was sie in der Aufführung geboten bekommen.22 Darum bezieht sich die performative Theaterästhetik sowohl auf die Schauspieler als auch auf die Zuschauer. Es ist permanent eine „feedbackSchleife“23 gegeben, d. h. die Möglichkeit des unmittelbaren Reagierens aufeinander und des Performens, wie sie weder im Film noch im Roman so chronotopisch dicht gegeben ist. Filmzuschauer oder Romanleser können zwar auch auf die Produktion einwirken (besonders über Foren im Internet), aber erstens ist das keine gängige Praxis, und zweitens wird irgendwann doch ein fertiges Produkt existieren, das dann unabhängig vom Akt des Rezipierens vorhanden ist – als Filmrolle, DVD, Video oder Datei, als gedrucktes Buch oder digitalisiert als E-Book etc. Theater dagegen ist niemals ein Werk, sondern immer ein performatives Ereignis. Es kann gar kein fertiges Produkt geben, denn es existiert nur im Moment der Aufführung – und deren Planbarkeit ist eingeschränkt durch die Unberechenbarkeit des Publikums. Der Begriff der „Inszenierung“ legt zwar eine gewisse Planung der Aufführung nahe, doch es ist die Natur des Theaters, dass nur bis zu einem gewissen Grad festgelegt werden kann, was sich während der Aufführung ereignet: Es besteht immer die Möglichkeit – welche manchen Schauspieler wie ein Alptraum verfolgt – daß ein Zuschauer interveniert; nicht einfach nur die Schauspieler irritiert, indem er permanent hustet, mit Papier raschelt oder an den unpassendsten Stellen lacht, sondern tatsächlich interveniert: durch laute Bemerkungen oder indem er Streit mit anderen Zuschauern anfängt und damit für die übrigen Zuschauer eine zweite Bühne eröffnet u.a. mehr.24
Auf die Zuschauervorgänge wird später näher einzugehen sein, wenn die Elemente der Präsenz genauer untersucht werden.25 Festzuhalten ist, dass das Theater durch die leibliche Ko-Präsenz von Akteuren und Zuschauern immer eine soziale Situation ist, und sich die Rollen jederzeit und unerwartet in ihrer Performativität tauschen können – wobei Übergriffe ins Publikum aber vorwiegend das performative Mitmachtheater kennzeichnen. 22 Vgl.: Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 67. 23 Ebd., S. 59. 24 Fischer-Lichte, E.: Wahrnehmung und Medialität. In: Wahrnehmung und Medialität. Hg. v. ders., Ch. Horn, S. Umathum und M. Warstat. S. 18. 25 Unterkapitel Zuschauerpräsenz S. 123.
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Weil sich die Performanzen im Theater live ereignen, sind sie flüchtig, d. h. nur in der Gegenwart der Aufführung erfahrbar. Das Erleben des Zuschauers im Theater ist nicht wiederholbar, er kann diese jene Aufführung nur einmal auf diese Weise wahrnehmen und empfinden. Genau diese Aufführung, die er gerade besucht, ist unwiederbringlich,26 er kann höchstens noch einmal das gleich inszenierte Stück besuchen. Das wird er aber anders erleben, weil die Theateraufführung kein fertiges Produkt ist wie ein Film oder Roman, das beliebig oft rezipiert werden kann. Zu bedenken gilt es bei dieser Feststellung aber, dass es zwar für die Lektüre eines Romans und das Schauen eines Films ein gleichbleibendes Werk gibt, dass aber das Empfinden bei der Rezeption auch flüchtig ist und z. B. beim erstmaligen Schauen oder Lesen ein anderes ist als bei der vierten Rezeption. Dennoch stellt dieser Vorgang eine Wiederholung dar, wie sie im Theater niemals stattfinden kann. Um aus der Theateraufführung ein materielles Artefakt herzustellen, das beliebig oft rezipierbar ist, werden die Stücke meist via Kamera und Tonspur aufgezeichnet. Solche Theatermitschnitte sind aber kritisch zu betrachten, denn durch den Wechsel in das Medium Film – meist ohne sich dessen künstlerischer Mittel wie Kamerafahrt und Montage zu bedienen – verschwinden geradezu augenscheinlich jene Eigenschaften des Mediums Theater, die es ausmachen. Präsenz und wechselseitige Performativität von Schauspielern und Publikum entfallen gänzlich. Der Zuschauer vor dem Bildschirm wird entmündigt, denn „[e]in Videoband kann grundsätzlich nur einen begrenzten Ausschnitt des Bühnengeschehens vermitteln. Es verhält sich seinem Gegenstand gegenüber selektiv; und auswählen heißt deuten.“27 Dass dies dann freilich kein Theater mehr im eigentlichen Sinne ist, sondern lediglich eine Dokumentation der Aufführung, erklärt auch, warum das Abfilmen einer ursprünglich aufregenden Performanz in eine langweilige Aufzeichnung münden kann. Ebenso ist nach FISCHER-LICHTE der umgekehrte Fall möglich und verdeutlicht die medialen Differenzen zwischen Film/Videoaufzeichnung und Theater: Auch „eine langweilige Aufführung“ könne „in eine sprühende und abwechslungsreiche Fernsehsendung“28 transformiert werden. Bei aller Vorsicht, die folglich im Umgang mit Theateraufzeichnungen angebracht ist, sind sie dennoch eine nützliche Methode zur genaueren nachträglichen Analyse der Stücke in der Theaterwissenschaft und auch unumgänglich für die in dieser Arbeit vorgenommenen Untersuchungen des Theaterkorpus.29 Die Transfor26 Vgl.: Ebd., S. 127. 27 Hiß, Guido: Zur Aufführungsanalyse. In: Theaterwissenschaft heute: Eine Einführung. Hg. v. Renate Möhrmann. Berlin: Reimer 1990. S. 75. 28 Fischer-Lichte, E.: Wahrnehmung und Medialität. In: Wahrnehmung und Medialität. Hg. v. ders., Ch. Horn, S. Umathum und M. Warstat. S. 20. 29 Besonders in der ersten Dimension der Ekeldarstellung und der Ekelevokation im Theater wird dabei aber hervorstechen, dass mindestens zwei bedeutende Ebenen der Performanz
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mationen können auf viele verschiedene Arten stattfinden, wie etwa der Versuch, möglichst objektiv in der Totale das Geschehen abzufilmen. Oder als Gegenteil das Bestreben, mit variierenden Einstellungen einen kleinen Spielfilm daraus zu machen.30 Doch wie ambitioniert das Vorhaben, die Theateraufführung möglichst genau zu dokumentieren, auch sein mag, – es bleibt immer eine „Grauzone“,31 in der das Erleben dieses performativen Mediums verschwindet. Für theaterwissenschaftliche Analysen stehen aber noch andere Quellen als die audiovisuellen Aufzeichnungen zur Verfügung. Interessant sind beispielsweise auch die nach der Aufführung noch bestehenden materiellen Objekte, die zum Interieur gehört haben, wie die Requisiten und Kostüme. Dies sind Spuren der Aufführung,32 die ebenfalls Erkenntnisse über die Theaterpraxis liefern können – allerdings fehlt auch ihnen die Lebendigkeit der Performanz, die sich zum Zeitpunkt der Forschung bereits verflüchtigt hat. Zurückgegriffen werden kann darüber hinaus auf die schriftlichen Erzeugnisse, die der Inszenierung vorangegangen sind, sie begleitet haben und sie im Nachhinein reflektieren. Neben Regiebüchern, Notizen etc. und Rezensionen ist das natürlich oft der schriftliche Text des Dramas, der umgesetzt wurde.33 Für die Erforschung der Medienkonkurrenzen ist ein Blick auf die Unterschiede zwischen der Theateraufführung als primäres Medium und dem Drama als sekundäres (weil schriftliches) Medium sicherlich aussagekräftig.34
fehlen: Die sinnliche Ebene des Geruchs und des Tastens und die unmittelbare Reaktion als Zuschauer ebenso wie die Wahrnehmung der Reaktionen anderer Zuschauer. 30 Vgl.: Ebd., S. 20. 31 Der Begriff wurde übernommen von Brandstetter, Gabriele: Aufführung und Aufzeichnung – Kunst der Wissenschaft? In: Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst. Hg. v. E. Fischer-Lichte, C. Risi, J. Roselt. S. 41. 32 Vgl.: Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 127. 33 Das literarische Drama fällt nicht in den Bereich der Theaterwissenschaft, sondern in den der Literaturwissenschaft. Vgl.: Hiß, G.: Zur Aufführungsanalyse. In: Theaterwissenschaft heute Hg. v. R. Möhr-mann. S. 65. 34 Es bleibt aber bei einem Blick, denn eine Transformationsanalyse vom Drama hin zur szenischen Umsetzung würde über das Thema dieser Arbeit hinausgreifen. Kurz: Die Fragestellung bezieht sich nicht auf das Drama.
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Das Verhältnis von Drama und Aufführung Für Klaus LAZAROWICZ, nach dem Kriterium der Schriftlichkeit gehend, ist die Aufführung an sich kein Text.35 Doch als Text können ebenso mündliche Worte gelten, weshalb diese Trennung unscharf ist. Passender ist es, wie FISCHER-LICHTE für das Theater zwischen dem theatralischen Text der Aufführung und dem literarischen Text des Dramas zu unterscheiden.36 Der theatralische Text ist der flüchtige, nur in der Performanz des Moments bestehende, der literarische ist jener, der als Werk vorliegt und entweder gelesen oder aufgeführt, d. h. in einen theatralischen Text transformiert werden kann. Für das literarische Drama gilt, dass es – während der theatralische Text an die Aufführung gebunden ist – durch die „bedeutungsindifferente[n] Medien“37 Schrift und Buch bzw. digital übermittelt wird. Bedeutungsindifferent heißt, dass es im schriftlichen Drama noch keine Interpretation gibt, weil keine Deutungsinstanz zwischen den Text und den Leser geschaltet ist. Diese Deutung kommt erst im Akt der Inszenierung durch den Regisseur und die Schauspieler hinzu. Der Unterschied zwischen Drama und Roman liegt darin, dass dem Drama diese Erzählinstanz fehlt, aber dass sie vom Theater nachträglich beigefügt werden kann. Dem Theater ist es niemals möglich, den Text bedeutungsindifferent zu inszenieren: „Schauspieler und Bühnenraum stellen […] Medien dar, die in den Übermittlungsprozeß immer schon bestimmte Bedeutungsqualitäten mitbringen und sich daher für eine bedeutungsindifferente Übermittlung nicht verwenden lassen.“38 Dadurch findet nach FISCHERLICHTE ein Zeichenwechsel statt von den sprachlichen Zeichen des literarischen Textes in die „gestischen, proxemischen und paralinguistischen Zeichen“39 der Schauspieler. Hinzu kommen die „Zeichen der äußeren Erscheinung“40 wie die einzelnen Bestandteile der Szenerie, Räumlichkeit und Atmosphäre. Für FISCHERLICHTE ist der Transformationsprozess also eine Frage der Zeichenübersetzung und nicht nur der transmedialen Übermittlung. Als erster Schritt erfolgt die Interpretation des Dramenlesers bzw. die Interpretation aller an der Inszenierung des Dramas Beteiligen. Danach werden diese Interpretationen vor allem im Schauspiel in Zei35 „Die Aufführung ist kein ‚Text‘, sondern ein höchst fragiles Gebilde eigener Art und eigenen Rechts, das durch spezifische Schauspiel- und Zuschauer-Akte konstituiert wird […].“ Lazarowicz, Klaus: Einleitung. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. K. Lazarowicz und Ch. Balme. S. 27. 36 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 3. Die Aufführung als Text. Tübingen: Narr 1983. S. 34. 37 Ebd. 38 Ebd., S. 34f. 39 Ebd., S. 35. 40 Ebd.
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chen umgesetzt. Der Zeichenwechsel ist vergleichbar mit der Verfilmung eines Romans, nur dass es im Drama statt der Erzählerrede und der Figurenrede einen Neben- und einen Haupttext gibt. Der Dialog, aus dem praktisch die Handlung besteht, macht den Haupttext aus, die Anweisungen im Nebentext geben Hinweise auf eine mögliche Inszenierung „wie paralinguistische und kinesische Zeichen, Maske, Frisur, Kostüm, Requisiten, Dekoration und Beleuchtung, Musik und Geräusche“.41 Bei der Lektüre des Dramas wie des Romans können diese lediglich imaginiert werden, in der theatralen Inszenierung werden sie dann in signifikanter Weise zur Anschauung gebracht – und zwar nicht linear wie bei der Lektüre sprachlicher Zeichen, sondern als komplette Figuren und Gegenstände auf der Bühne: Der Zuschauer muss nicht erst Wort für Wort lesen, wie die Figuren aussehen, gestikulieren und sich bewegen, sondern er sieht und hört es quasi simultan.42 Im Grunde ist das die gleiche Differenz, die zwischen Roman und Film besteht, nur dass die Erscheinungen im Theater zum Greifen nah sind und oft ärmer an Details (z. B. ein Holzschwert statt eines realistisch aussehenden Schwerts) oder auch maskenhaft überzeichnet sind (etwa ein aufgezeichneter lachender Mund), so dass dem Theaterzuschauer mehr Imaginationskraft abverlangt wird als dem Filmzuschauer. Dennoch gilt, dass der Grad der Abstraktheit in einem Text wie dem Drama größer ist als in einem zur Aufführung gebrachten Text: Während den sprachlichen Zeichen, auch den auf konkrete Gegenstände verweisenden, als symbolische Zeichen, ein hohes Maß an Abstraktheit und Unbestimmtheit eignet – sogar die genaueste Beschreibung eines Kostüms beispielsweise wird bei unterschiedlichen Subjekten eine bis zu einem gewissen Grad jeweils andere Vorstellung des gemeinten Objektes hervorrufen –, sind die theatralischen Zeichen, wie bereits Lessing bemerkt und betont hat, durch das Merkmal der Ikonizität charakterisiert.43
Ein großer Teil der Imaginationskraft, die beim Lesen eines Dramas „mitspielt“, wird von der Schauspielkunst in die Realität des Bühnenraums mit all seinen zeichenhaften Figuren und materiellen Objekten transformiert. Im Film dagegen sind es lediglich Bilder der Szenerie und der in ihr stattfindenden Bewegung. Der literarische Text wird, wie Nicolai HARTMANN sehr anschaulich formuliert, „der reproduzierenden Phantasie entzogen und in die wirkliche Wahrnehmbarkeit gerückt. Der ‚irreale Vordergrund‘ wird realisiert; die Gegenstandsschicht, in der die dichterischen Gestalten sich raumzeitlich bewegen, sprechen, ihr Mienenspiel entfalten, wird sichtbar und hörbar, wird unmittelbar erlebbar. Der Leser wird zum Zuschau-
41 Ebd., S. 42. 42 Vgl.: Ebd., S. 44. 43 Ebd., S. 48.
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er.“44 – Und zwar zum teilnehmenden Zuschauer, wie noch zur Unterscheidung von filmischen Adaptionen ergänzt werden muss. Ein Merkmal des Dramas ist darum auch, dass der Dichter es im Bewusstsein der Bühne, des Performativen verfasst. Das Geschehen sollte „spielbar“ sein. Für das Schreiben eines Romans ist das wiederum meist kein Kriterium. Dieser kann sich in abstrakten Reflexionen ergehen, in Gefühlswelten eintauchen und sich von einem zum anderen Ort und auch wider jegliche Chronologie bewegen. Dabei lässt das Drama laut HOFMANNSTHAL in größerem Maße als der Roman Raum für die Phantasie des Lesers45 bzw. für die Interpretationen der Schauspieler und Regisseure, die es umsetzen möchten. Ein Roman ist als Werk immer komplett, selbst wenn er Platz für Phantasie lässt, in sich ein Rätsel bleibt oder auch Bestandteil einer Reihe ist. Romanlektüre erfordert nicht mehr als den intimen Vorgang zwischen Werk und Leser. Ein Drama dagegen ist per se darauf angelegt, in der Performanz ergänzt zu werden. Es soll Freiraum lassen für diverse Interpretationen und Aktivitäten der Schauspieler, Regisseure und Zuschauer. Diese Leerstellen liegen allein schon in dem Faktum begründet, dass das Drama keinen unmittelbaren Blick in die psychischen Strukturen der Figuren gewährt, sondern sich in deren äußerlichen Gesten und Taten erschöpft. So lassen sich auch die Abweichungen zwischen verschiedenen Inszenierungen ein und desselben Dramas erklären. LEHMANN spricht gar von einem Konflikt zwischen Text und Szene,46 der vor allem im postdramatischen Theater seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts evident wird. Denn dieses wendet sich bewusst ab vom Versuch einer werktreuen Interpretation eines vorliegenden dramatischen Textes. Richtschnur ist nicht mehr das „Sprachwerk“47, sondern das Performative erlangt Bedeutung unabhängig vom Drama. Dadurch betonen postdramatische Inszenierungen die Möglichkeiten des Theaters in Abgrenzung zu anderen Medien. Für die Untersuchung der Medienkonkurrenzen gilt es deshalb, dem postdramatischen Theater besondere Aufmerksamkeit zu schenken.
44 Hartmann, Nicolai: Das Schauspiel und die Kunst des Schauspielers. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. K. Lazarowicz und Ch. Balme. S. 101. 45 „[…D]er dramatische Text ist etwas Inkomplettes, und zwar umso inkompletter, je größer der dramatische Dichter ist. […] Hierin liegt der entschiedenste Unterschied zwischen dem dramatischen und dem epischen Schaffen. Ein Stück wie der ‚Macbeth‘ hat etwa zwanzigtausend Worte; ein Roman wie ‚Clarissa Harlowe‘ oder ‚David Copperfield‘ vielleicht eine Million. Trotzdem ist die Vision der Welt und des Geschickes, die der ‚Macbeth‘ übermittelt, keine weniger reiche oder weniger vollständige.“ Hofmannsthal, Hugo von: Max Reinhardt. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. K. Lazarowicz und Ch. Balme. S. 485. 46 Lehmann, H.-T.: Postdramatisches Theater. S. 261. 47 Ebd.
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Innovationen des Performativen: Postdramatisches Theater Avantgardistische Aufführungen hebeln die Konventionen der Künste aus und reißen deren Grenzen nieder, sind also auch Weichensteller für neue Medienformen. Allgemein lässt sich nach Walter GEBHARD definieren: Avantgardismus wird als grundsätzlich traditionsnegative, provokative und darin auch transitorische Radikalisierung und radikale Herausforderung spezifisch bestimmter ästhetischer Bestände verstanden.48
Das heißt, aus diesen Aufführungen lässt sich sehr wahrscheinlich etwas über die „ästhetischen Bestände“ des Mediums Theater erschließen. Das Theater ist besonders gekennzeichnet durch die feedback-Schleife zwischen Publikum und Akteuren, die durch die Zuschauerpräsenz möglich wird. FISCHERLICHTE stellt fest, dass die Avantgardisten den Zuschauer in den Mittelpunkt der Aufführung rückten: Er sollte vom Theater der Avantgarde ‚schockiert‘ werden (Marinetti), in einen ‚Rausch‘ (Fuchs) oder in ‚Trance‘ (Artaud) versetzt, er sollte zum ‚Schöpfer neuen Sinns‘ (Meyerhold) avancieren, wurde zum ‚Hauptmaterial des Theaters‘ erklärt (Eisenstein) oder im Gegenteil zu seinem ‚Betrachter‘, dessen ‚Aktivität‘ geweckt, von dem ‚Entscheidungen‘ erzwungen wurden (Brecht).49
Offenbar hat das Theater großes Potenzial, den Zuschauer zu schockieren und physisch wie psychisch in Ausnahmezustände zu versetzen. Wenn es dies ungenutzt verstreichen lässt, rückt es sich selbst unnötigerweise in die Nähe des Kinos. Denn Theater kann viel mehr sein als das bloße Betrachten eines Schauspiels. Indem sich das postdramatische Theater der Vorherrschaft des Textes verweigert, ist nicht mehr das Schauspiel/die Handlung dominant, sondern die Aufführung kann durch die Zuschauerbeteiligung zum Happening werden. So stellt LEHMANN fest: „Mimesis von Handlung, für Aristoteles noch selbstverständliche Grundbestimmung und
48 Gebhard, Walter: Von der Thanatologie des Tones zur Zwitschermaschine? Zum Verhältnis von Avantgarde und Postmoderne. In: Avantgarde und Postmoderne. Prozesse struktureller und funktioneller Veränderungen. Hg. v. Erika Fischer-Lichte und Klaus Schwind. Tübingen: Stauffenburg Verlag 1991, S. 47. 49 Fischer-Lichte, Erika: Einleitung. Wahrnehmung – Körper – Sprache. Kultureller Wandel und Theateravantgarde. In: TheaterAvantgarde: Wahrnehmung – Körper – Sprache. Hg. v. ders. Tübingen, Basel: Francke 1995. S. 7.
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Kern des Theaters, ging mehr und mehr an Film und Fernsehen über.“50 Durch diese neu gewonnene Freiheit kann sich das Theater neue Räume erschließen. Weil der Zuschauer nicht mehr auf seinen Sessel verbannt wird, damit er sich aus dieser statischen Perspektive die Aufführung etwa eines klassisch inszenierten Dramas anschaut, kann nun potenziell überall Theater gespielt werden: auf Bühnen, die die Zuschauer nicht durch eine Rampe fernhalten, auf öffentlichen Plätzen wie Straßen und Wiesen, in Fabrikhallen oder in Kirchen. Alles ist möglich, wenn das Theater die Mündigkeit des Zuschauers annimmt und ihn nicht wie einen Kinobesucher behandelt. Ein intensives Theatererleben erfordert also keine „perspektivisch fixierte[…] Beobachterposition“51 – im Gegenteil, es lässt sogar die stringent geplante Dramaturgie obsolet werden. Es geht vielmehr um die Performance an sich: Das Publikum will nicht nur etwas sehen und hören, sondern es will etwas erleben und selbst erlebt werden. Diese „performative Wende“ findet aber nicht nur im Theater statt, sondern wirkt Künste-übergreifend: Auch in der Literatur beispielsweise sind spektakuläre Lesungen gefragt, ebenso wie Konzerte Musikstücke möglichst originell zur Aufführung bringen sollen. Und es reicht längst nicht mehr, bildende Kunst an einer Galeriewand auszustellen – sie muss zum Erlebnis werden: „Statt Werke zu schaffen, bringen die Künstler zunehmend Ereignisse hervor, in die nicht nur sie selbst, sondern auch die Rezipienten, die Betrachter, Hörer, Zuschauer involviert sind.“52 Das gilt auch für Kino-Events, bei denen sich die Besucher beispielsweise verkleiden oder den Film mit einer Feier verbinden. Eine Teilnahme am Film ist das aber freilich nicht, das fertige Produkt muss vielmehr in das Happening integriert werden, als dass der Film selbst eines ist. Im Theater bedeutet Happening dagegen immer, dass der Zuschauer es direkt beeinflussen kann. Um das Performative des Theaters zu einem Happening zu steigern, neigt das postdramatische Theater zu Extremen53 auf allen Ebenen: Die Handlung wird überzeichnet oder gänzlich demontiert, die Zuschauer werden entweder extrem gefordert oder extrem gelangweilt, die Akteure spielen entweder gar nicht (z. B. indem sie sich wirklich Schmerzen zufügen wie in Lips of Thomas von ABRAMOVIĆ) oder sie lenken die Aufmerksamkeit darauf, dass sie bloß schauspielern. Dies ist eine Tendenz des postdramatischen Theaters, die deutlich den Unterschied zur Kunst des Romans markiert: Der Theaterzuschauer hat es anders als der Leser nicht nur mit Figuren zu tun, sondern mit Menschen, die diese Figuren verkörpern. Er kann sich also gedanklich auseinandersetzen sowohl mit der Realität der Schauspieler als 50 Lehmann, Hans-Thies: Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie. Stuttgart: Metzler 1991. S. 1. 51 Fischer-Lichte, E.: Einleitung. In: TheaterAvantgarde. Hg. v. ebd. S. 7. 52 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 29. 53 Vgl.: Lehmann, H.-T.: Postdramatisches Theater. S. 143.
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auch mit dem Plot und der Persönlichkeit der von ihnen dargestellten Figuren. Potenziell ist das auch im Film so, doch durch die Verbannung der Schauspieler auf die Leinwand tritt deren Rolle in den Vordergrund. Die Illusion besonders im realistischen Film ist, dass der Schauspieler die Figur ist – Filmstars verschmelzen mit ihrer Rolle. Das postdramatische Theater hebt hervor, dass diese Illusion im Theater aufgrund der Präsenz von Bühne und Publikum fehlt: So bringen sich die Schauspieler möglicherweise als Person ein, indem sie wie z. B. in Alejandro TANTANI54 ANS Inszenierung von KAFKAS Amerika (2009) zu Beginn von ihren persönlichen Erlebnissen des Verlorengehens in ihrer Kindheit und Jugend sprechen und das Stück mit ihren eigenen Interpretationen ergänzen. Dass hinter den Rollen wahre Personen stehen, wird den Zuschauern dieser Inszenierung auch dadurch signalisiert, dass die Hauptfiguren jeweils von wechselnden Schauspielern dargestellt werden. Es gibt nicht das eine Gesicht des Karl Rossmann, sondern mit den Darstellern wechseln sein Aussehen, Sprechweise, Akzent usw. – alles, womit theatralische Zeichen hervorgebracht werden. Auf die Spitze getrieben wird diese Konfrontation des Zuschauers mit der Realität des Schauspielers, wenn Figuren im postdramatischen Theater von devianten Schauspielerkörpern gespielt werden: Körper, die real von Krankheit und Entstellung gezeichnet sind und die so sehr von der Norm abweichen, dass sie die gespielte Rolle überstrahlen. Der Körper als Signifikant (z. B. ein entstellter Schauspieler) kann keinen ausreichenden Bezug zum Signifikat (der Rolle) herstellen, oder wie LEHMANN es ausdrückt: „Das zentrale Theaterzeichen, der Körper des Schauspielers, verweigert den Signifikantendienst.“55 Diese Hervorhebung der Körperlichkeit verdeutlicht auch, dass im klassischen bzw. im dramatischen Theater nicht jeder Schauspieler jede Rolle spielen kann, weil der Körper jeweils unterschiedliche Potenziale hat. Anders als im Kino kann nicht mit Mitteln wie Schnitt und Montage die Illusion hergestellt werden, dass ein Darsteller z. B. sehr sportlich ist oder Kunststücke vollführen kann. Das Performative des Theaters bleibt an die Präsenz realer Körper gebunden, und eines der Merkmale des postdramatischen Theaters ist, dass es das vorführt. Ebendies ist es aber nicht, was das Gros des Publikums will.56 Es reagiert oft enttäuscht, wenn Regisseure dramatische Stücke frei interpretieren; und Schocks und Ekel sind zwar Sensationen, aber nicht im positiven Sinne. Daraus lässt sich schließen, dass das Publikum es nicht unbedingt schätzt, wenn ihm die Realität des Theaters vor Augen geführt wird. Es möchte nicht vorgeführt bekommen, dass Schauspieler salopp gesagt auch nur Menschen sind. Denn das bringt eine Bedrängnis mit sich, die beim Schauen eines Films oder beim Lesen eines Romans gänzlich 54 Nationaltheater Mannheim. 55 Ebd., S. 163. 56 Ebd., S. 16f.
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fehlt: Involviertheit in eine reale Situation statt distanzierte Beobachtung bzw. Imagination eines fiktionalen Geschehens. Besonders das deutsche Theater verlangt laut Daniel KEHLMANN viel von seinem Publikum. Es wartet mit Szenerien auf, denen das Publikum nicht indifferent beiwohnen kann, weil sie sich ihm aufdrängen, sei es als schmerzliche Erschütterung des Trommelfells, als Verwirrung des Blickpunktes, als Einöde oder als Ekel: Spricht man mit Russen, mit Polen, mit Engländern oder Skandinaviern, die deutschsprachige Lande besuchen und hier ins Theater gehen, so sind sie oft ziemlich verwirrt. Was das denn solle, fragen sie, was denn hier los sei, warum das denn auf den Bühnen alles immer so ähnlich aussehe, ständig Videowände und Spaghettiessen, warum sei immer irgendwer mit irgendwas beschmiert, wozu all das Gezucke und routiniert hysterische Geschrei? Ob das denn staatlich vorgeschrieben sei?57
Das sogenannte Regietheater scheint Provokation zum Programm erklärt zu haben. Auch Filme und Romane vermögen den Rezipienten herauszufordern, aber anders als das Theater können sie diese nicht unmittelbar und leiblich bedrängen. Das mag ein Grund sein für das Abwandern des Publikums zu den gewissermaßen weniger anstrengenden Medien Film und Buch: Und unterdessen bleibt der Großteil der interessierten Menschen, die einstmals Publikum gewesen wären, daheim, liest Romane, geht ins Kino, kauft DVD-Boxen mit den intelligentesten amerikanischen Serien und nimmt Theater nur noch als fernen Lärm wahr, als Anlaß für wirre Artikel im Feuilleton, als Privatvergnügen einer kleinen Gruppe folgsamer Pilger, ohne Relevanz für Leben, Gesellschaft und Gegenwart. „Das traurigste Gewerbe“, sagte Reinhardt – und nicht selten ist man versucht, ihm zuzustimmen, sich abzuwenden und einfach das Fernsehen einzuschalten.58
Festzustellen, inwiefern das Publikum tatsächlich so reagiert, wie KEHLMANN es darlegt, würde das Einbeziehen von Statistiken und eine empirische Untersuchung voraussetzen, was in dieser Arbeit nicht zu leisten ist. Es kann aber versucht werden, auf theoretischer Ebene die Frage zu klären, warum das Theater sein Publikum bis hin zur Resignation beanspruchen kann. Der Schlüssel liegt in eben jenem Faktor, der vom postdramatischen Theater hervorgehoben wird: der Präsenz des Elementarkontakts. Die Medialität des Theaters in Abgrenzung zu Film und Roman zu erforschen heißt also, sich mit dessen Präsenz auseinanderzusetzen. Welche Ele57 Kehlmann, Daniel: „Die Lichtprobe“. (Festrede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele 2009) http://www.fr-online.de/kultur/spezials/die-lichtprobe/-/1473358/2725516//item/0/ /index.html (05.03.2011). 58 Ebd.
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mente sind es genau, die im Theater präsent sind und es scharf von Film und Roman differenzieren? Und welche Möglichkeiten eröffnen sich dadurch, einen Plot, ein Thema oder ein Motiv zu inszenieren?
P RÄSENZ
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Film und Roman sind Kunstformen, die über delokale Medien rezipierbar sind: Sie können jederzeit und an jedem Ort gelesen oder gesehen werden.59 Die Delokalisierung hängt mit der Dematerialisierung, dem Verschwinden des Körpers in der telematischen Kommunikationsgesellschaft, zusammen.60 Das Theater wird oft als „eine der letzten Bastionen der Kunst gegen die globale Delokalisierung angesehen.“61 Dennoch hat es mit einer sinkenden Beliebtheit zu kämpfen, und das Theater als Institution ist von Schließungen betroffen. Dies könnte darauf zurückgeführt werden, dass die bewegten Bilder eine größere Faszinationskraft ausüben als die präsenten Körper auf der Bühne: „Die bewegten photographischen und dann elektronischen Bilder wirken auf die Imagination – und auf das Imaginäre – ungleich stärker als der lebendig vorhandene Körper auf der Bühne. Wird der nicht in der Linie der ‚Immateriaux‘ immer überflüssiger?“62 Doch bei aller Faszinationskraft, die von – mittlerweile auch dreidimensionalen – bewegten Bildern ausgeht, bedeuten sie doch auch immer eine Beschränkung des Zuschauers. Bilder haben nämlich anders als die Räumlichkeit des Theaters eine engere und klare Grenze, über die der Betrachter nicht hinausschauen kann, weil er nur das sieht, was die Kamera gefilmt hat. Im Theater dagegen kann potenziell jede Ecke des Raumes – sei es auf der Bühne, im Zuschauerraum oder außerhalb der Kulisse – vom Zuschauer erblickt und in die Inszenierung einbezogen werden. Es sind ihm auf Rezeptionsseite keine Grenzen gesetzt. Das Bild dagegen beruht „auf dem Rahmen. Es kann nicht aufnehmen, ohne auszunehmen, nicht einrahmen, ohne auszurahmen. Das Bild ist nur (durch) Grenze.“63 Denn etwas, das nicht leiblich präsent ist, ist per se immer begrenzt durch eine Instanz, die Selektionen vornimmt. 59 Wobei beim Film ein Gerät nicht nur auf der Produzentenseite, sondern auch auf der Empfängerseite Voraussetzung ist. 60 Vgl.: Weber, Caroline: Theater und Medialität. Präsens/z: Körper-Inszenierungen. In: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien. Hg. v. Sigrid Schade und Georg Christoph Tholen. München: Fink 1999. S. 146. 61 Ebd. 62 Lehmann, H.-T.: Postdramatisches Theater. S. 402. 63 Lehmann, Hans-Thies: TheaterGeister / MedienBilder. In: Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien. Hg. v. Sigrid Schade und Georg Christoph Tholen. München: Fink 1999. S. 137.
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Die Offenheit der Präsenz im Theater bietet dagegen ein situativ umfassendes Erlebnis. Das ist auch LEHMANNS plausible Erklärung dafür, dass gefilmtes Theater schlicht „langweilig“ ist: „man hat ihm wieder den Rahmen verpaßt, und nun fehlt ihm das theatron, der Zuschauerraum.“64 Die gleichzeitige Präsenz von Zuschauern und Schauspielern grenzt das Theater so stark von den anderen Medien ab, dass im Grunde nicht von einem Konkurrenzverhältnis zwischen ihnen gesprochen werden kann, sondern von einer grundlegenden Differenz. Das Theater kann trotz seines vielfach prophezeiten Todes65 nicht ersetzt werden, weil es phänomenologisch einzigartig ist.66 Es ist dennoch Vorsicht mit dem „Topos von der Gegenwärtigkeit des Theaters“67 geboten. Denn zwar sind die Akteure anders als in Film und Roman anwesend, aber sie sind nur Zeichen für Figuren der Geschichte, und sie tun nur so, als ob sie sich an dem Ort der Fiktion befänden. Die Präsenz bezieht sich also auf die Schauspieler und die Requisiten/Bühne, nicht auf die dargestellten Figuren und die Schauplätze. Die Aufführung ist präsent, doch das Drama, der Plot nur imaginiert und zwar von allen am Theater Beteiligten. Es ist nicht eine präsente Figur, die beispielsweise auf einem präsenten Marktplatz steht, sondern es ist der präsente Schauspieler, der auf einer präsenten Bühne so tut, als ob er auf einem Marktplatz stünde: „Präsenz ist keine expressive, sondern eine rein performative Qualität.“68 Die Präsenz des Filmes ist von ganz anderer Natur: Drehort können reale Schauplätze sein, denn räumlich ist der Film nicht wie das Theater an eine „Als-obIllusion“ gebunden. Aber präsent sind dem Zuschauer tatsächlich nur die flüchtigen Bilder davon, es sind lediglich Schein-Präsenzen.69 Festzuhalten bleibt, dass das Theater einen vergleichsweise sehr speziellen Bezug zur Realität hat. Es ist HANDKE darin zuzustimmen,70 dass die Bretter auf dem Theater ein Teil der Welt sind. Doch es gilt auch zu widersprechen, denn gleichzeitig bedeuten die Bretter auch die Welt. Die Bühne ist ein Teil der Realität, der die Zuschauer beiwohnen, während eine bedeutete Welt, eine Geschichte, aufgeführt wird. Insofern wird eben doch etwas dargestellt, nur sind die Zeichen, die etwas darstellen (Schauspieler, Gestik, Mimik etc., Medien, Requisiten) für den Zuschauer präsent. Auf den Punkt gebracht: „[R]eal nämlich ist von allem, was die Bühne 64 Ebd., S. 138. 65 Weber, C.: Theater und Medialität. Präsens/z: Körper-Inszenierungen. In: Konfigurationen. Hg. v. S. Schade und G. Ch. Tholen. S. 146. 66 Vgl.: Fischer-Lichte, Erika: Die Entdeckung des Zuschauers: Paradigmenwechsel auf dem Theater des 20. Jahrhunderts. Tübingen, Basel: Francke 1997. S. 206. 67 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 161. 68 Ebd., S. 165. 69 Vgl.: Ebd., S. 174. 70 Vgl.: Eingangszitat dieses Kapitels.
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zeigt, nur das Spiel selbst; die gespielte Handlung ist es nicht und wird auch nicht dafür genommen, sie eben ist ‚gespielt‘.“71 Die Zeichen des Theaters können dabei potenziell zwei weitere Sinne ansprechen als der Film: den Geruchssinn und den Tastsinn. So rücken die Theaterzeichen dem Zuschauer tatsächlich auf den Leib. Generell ist es möglich, dass sich Schauspieler und Publikum nicht nur sehen, sondern auch anfassen. Doch dies ist eher die Ausnahme, was laut FISCHER-LICHTE darauf zurückgeht, dass Berühren in einer öffentlichen Situation unüblich ist und das Theater auch ursprünglich ein visuelles Medium sei: „Denn, wie der Terminus Theater (griech. theatron = Raum zum Schauen […]) suggeriert, handelt es sich hier um ein Medium, das auf den Fernsinn des Auges, auf das Sehen ausgerichtet ist.“72 Neben dieser visuellen Ebene darf aber nicht vernachlässigt werden, dass das Theater wie das Kino der heutigen Zeit auch immer ein Hör-Raum (auditorium) ist, wobei allerdings anders als im Kino die primäre Geräuschquelle meist anwesend ist und auch das Hören aus der anderen Richtung möglich ist: Die Akteure hören die Geräusche und Worte des Publikums. Wechselseitig und simultan verläuft auch die Geruchswahrnehmung. Es kann z. B. auch Teil der Inszenierung sein, dass die Zuschauer riechen, dass ein Akteur ein Spiegelei anbrennen lässt; oder bei Nitsch ist es sehr wahrscheinlich, dass alle Teilnehmer den Geruch des auszuweidenden Kadavers wahrnehmen können. Durch all die Elemente der Präsenz hat das Theater den Ruf, authentischer zu sein als die Produkte der elektronischen Medien: Nur in der ‚Live‘-Performance scheinen noch Reste einer ‚authentischen‘ Kultur auf. Der Gegensatz zur medialisierten Performance, die ein Produkt der Kommerzialisierung darstellt und die Interessen des Marktes vertritt, ist daher unüberbrückbar.73
Der Eindruck, dass Theater ein Medium ist, das pur zum Publikum durchdringen kann, mag auch dadurch entstehen, dass ihm scheinbar die Erzählinstanz fehlt. Es gibt keine Instanz, die sich zwischen das Dargestellte und den Zuschauer stellt. Im Roman ist es der Erzähler, der die Handlung wiedergibt und damit auch interpretiert, im Film die Kamera, die genau bestimmt, was vom Zuschauer wahrgenommen werden kann. Diese „vermittelnde[n] Kommunikationssystem[e]“,74 die Raum und Zeit quasi manipulieren können (Raffung, Dehnung, Sprünge) liegen nicht in der Natur des Theaters. Doch ist jede Inszenierung natürlich auch eine Interpretation 71 Hartmann, N.: Das Schauspiel und die Kunst des Schauspielers. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. K. Lazarowicz und Ch. Balme. S. 106. 72 Ebd. 73 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 116. 74 Pfister, Manfred: Das Drama: Theorie und Analyse. 11. Aufl. München: Fink 2001. S. 48.
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der Theaterschaffenden und niemals eine neutrale Darstellung z. B. eines Dramas. Außerdem ist es im postdramatischen Theater verbreitet, dass eine Erzählinstanz eingeschaltet wird. So ist denkbar, dass eine Figur das eigene Spiel unterbricht und den Plot für das Publikum erläutert75 oder gar die Regieanweisungen spricht, die im literarischen Text stehen (z. B. „stummes Entsetzen“ wird ausgesprochen statt dargestellt). Möglich wäre auch eine schriftliche Erzählinstanz über Projektionen, oder auch eine Off-Stimme wie im Film. Interpretation gehört also ebenso zum Theater wie zu Film und Roman. Theater hat folglich auch eine politische Dimension, einen Bezug zur Wirklichkeit. Dieser Bezug ist aber auch allein durch die leibliche Ko-Präsenz vorhanden.76 Theater ist immer eine soziale Situation und damit politisch. Es kann „ein Machtkampf zwischen Akteuren und Zuschauern oder auch zwischen verschiedenen Zuschauern entbrenn[en]“.77 Dadurch ist das Theater per se ein Medium der Grenzüberschreitung zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Kunst und Leben. In seiner Natur liegen „unsaubere[…] Übergänge“, „dubiose[…] Grenzüberschreitungen“ und „explosive[…] Mixturen“.78 Nachdem es hier um die allgemeinen Bedingungen der Präsenz des Theaters gegangen ist, soll im Folgenden speziell auf die Präsenzen im Theater eingegangen werden, durch die es sich von den anderen Medien abgrenzt und spezifische Potenziale der Performanz entfaltet: die Präsenz der Bühne/des Schauspiels und die Zuschauerpräsenz. Die Trennung dieser beiden Präsenzen ist rein analytisch, denn natürlich bedingen sie einander. Aufführungspraxis: Die Präsenz von Bühne und Schauspiel In Film und Roman sind häufige Ortswechsel – zwischen verschiedenen Räumen und zwischen Innen- und Außenräumen – üblich, da sie durch die Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, leicht zu vollziehen sind. Besonders der auktoriale Erzähler im Roman vermag mühelos zwischen verschiedenen Figuren in unterschiedlichen Örtlichkeiten zu springen. Beim Film ist es die Kamera, die die Sicht des Erzählers und der Figuren einnimmt und mit ihnen verschiedene Räume durchläuft. Durch die Montagetechnik gibt es im Film die Möglichkeit, auch kürzeste Szenen, die räum75 Z. B. in Georg Schmiedleitners Inszenierung von Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans (2010 am Mannheimer Nationaltheater). 76 Nach: Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 68. 77 Fischer-Lichte, Erika: Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff. In: Kunst der Aufführhung – Aufführung der Kunst. Der Aufführungsbegriff als Modell für eine Ästhetik des Performativen. Hg. v. Erika Fischer-Lichte, Clemens Risi und Jens Roselt. Berlin: Theater der Zeit 2004. S. 13. 78 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 82.
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lich unbegrenzt weit voneinander entfernt spielen können, miteinander in eine Sequenz zu bringen. Drehorte können entweder Originalschauplätze sein (z. B. in den Bergen, auf dem Wasser) oder Innenstudios und Außenkulissen, die für einen bestimmten Ort stehen (z. B. die „Berliner Straße“ im Studio Babelsberg mit diversen Häuserfassaden als Filmset für eine Berliner Straßensituation79). Wird an einem nicht originalen Schauplatz gedreht, ist es eine Als-ob-Situation wie im Theater, in dem die Bühne in einer Szene jeweils für einen bestimmten Raum/Ort steht. Im Grunde ist die ganze Bühne ein Zeichen für einen Raum, der sich durch eine mehr oder weniger große Zahl von Zeichen konstituiert. Ein bedeutendes Element der Zeichensetzung im Theater ist die Dekoration: Sie „weist den Bühnenraum als Schloßzimmer, Wald, Kerker, Garten, Hölle, Meeresgrund, Grabgewölbe etc. etc. aus“, denn „es läßt sich kaum auf der Bühne ein tatsächliches Schloß errichten.“80 Die Bühne an sich ist ein indifferenter geometrischer Raum, aber er fungiert während der Aufführung als ein großes Zeichen, das den Schauspielern den Raum gibt, um wiederum ihre Zeichen zu vollführen. Kurz: „Als Bühnenraum wollen wir denjenigen Raumabschnitt definieren, in dem A agiert, um X darzustellen“,81 während S die Zeichen deutet bzw. in irgendeiner Form teilnimmt und selbst Zeichen hervorbringt. Eine strikte Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum gibt es folglich nicht, jeder geometrische Raum kann zur Bühne werden, wenn auf ihm etwas dargestellt wird. Das ganze Theater kann ins Spiel einbezogen werden (z. B. auch Treppenzugänge, Beleuchterbrücke, Zuschauerraum82), denn es ist für Darsteller wie für die Zuschauer präsent, und diese beiden Parteien können beliebig Bühnen eröffnen. Geht ein Schauspieler ins Publikum, verlagert sich die Bühne in den Zuschauerraum, erregt ein Zuschauer Aufmerksamkeit, so hat er eine weitere Bühne aufgemacht. Die Bühne ist immer real und präsent, und doch verlangt sie dem Zuschauer ähnlich wie der Roman seinem Leser auch Phantasie und Imaginationskraft ab. Denn alles, was auf ihr geschieht, muss gedeutet werden: […W]enn der Schauspieler die Bühne von der rechten Vorderbühne zur linken Hinterbühne durchquert, tut er dies, um anzuzeigen, daß X beispielsweise vom Hafen zum Palast geht o.ä. Die Bewegung durch den Raum ist also immer ein Zeichen, das im Hinblick auf die Rollenfigur X realisiert wird und daher entsprechend interpretiert werden muß.83
79 http://www.studiobabelsberg.com/Backlots.72.0.html (06.03.2011). 80 Fischer-Lichte, E.: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 1. S. 144. 81 Ebd., S. 142. 82 Nach: Ebd., S. 142f. 83 Ebd., S. 90f.
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So können auch imaginative Räume außerhalb erschlossen werden: die Dimension des Nicht-Präsenten. Eine Figur vermag mündlich zu vermitteln, dass sie sich jetzt beispielsweise in den Wald begibt; oder es können auch materielle Zeichen auf der Bühne wie etwa Schilder darauf hindeuten. Die Bühnenrequisiten des Theaters erfordern ohnehin meist mehr Phantasie als eine Filmrequisite. Die Objekte bedeuten oft einen Gegenstand, ohne konkret das zu sein, was sie darstellen. D. h. dass etwa ein Holzschwert für ein richtiges Schwert steht: Alle sehen, dass es bloß ein Kinderspielzeug ist, und doch stellt niemand in Frage, dass es ein Schwert sein soll, mit dem die Figur töten kann.84 Es bedarf im Theater anders als im realistischen Film keiner getreuen Nachahmungen, sondern es werden auch stilisierte Objekte als vollwertig angenommen.85 Mehr noch: Da die Gesten der Schauspieler im Theater ausdrucksstärker als im Film sind, ist es sogar nicht ungewöhnlich, wenn sie das Vorhandensein von Requisiten „spielen“: „der Schauspieler kann mit nicht vorhandenen Holzscheiten in einem nicht vorhandenen Ofen ein nicht vorhandenes Feuer anzünden, er kann einen nicht vorhandenen Hut abnehmen, ein nicht vorhandenes Fenster öffnen usf.“86 Möglich ist das, weil das Theater eben kein Medium der Abbildung, sondern der Präsenz ist. Auf der Bühne sind keine echten Bäume zu sehen – es sei denn als auf eine Leinwand projizierter Film –, sondern präsent sind z. B. Zeichen für Bäume (aus Pappe etc.).87 „Theater findet als eine zugleich völlig zeichenhafte und völlig reale Praxis statt. Alle Theaterzeichen sind zugleich physischreale Dinge: ein Baum ein Pappmodell, manchmal auch ein wirklicher Baum auf der Bühne […].“88 Real – wenn auch schwer zu greifen und zu beschreiben – ist ebenso die Atmosphäre, die im Theaterraum geschaffen wird: Dem performativen Theaterraum haftet auch immer eine bestimmte Stimmung an, die sich aus der Kopräsenz von Schauspielern, Requisiten und Zuschauern ergibt, und die allen für sie empfänglichen Beteiligten auf Leib und Gemüt rückt. Als Beispiel nennt FISCHER-LICHTE hier besonders die Gerüche, die entweder von der Inszenierung gewollt sind89 oder ungewollt dem Theaterraum anhaften. Diese sind im Roman lediglich über verbale Beschreibung und im Film hauptsächlich über die Visualisierung der Geruchsauslö84 Hier wieder als Beispiel Georg Schmiedleitners Inszenierung von Friedrich Schillers Die Jungfrau von Orleans (2010 am Mannheimer Nationaltheater), in der Johanna ein stumpfes Holzschwert schwingt. 85 Nach: Fischer-Lichte, E.: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 1. S. 151. 86 Ebd., S. 86. 87 Vgl.: Lehmann, H.-Th.: Postdramatisches Theater. S. 407f. 88 Ebd., S. 174. 89 Etwa ein auf der Bühne stinkender Misthaufen oder das Lammkadaver in Hermann Nitschs Orgien-Mysterien-Theater. Nach: Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 203f.
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ser und der Geruchwahrnehmenden möglich. Präsente Gerüche, die aus dem Plot hervorgehen, gibt es hier nicht. Gerade dadurch ist anzunehmen, dass es dem Theater leichter fällt, seine Zuschauer mit Ekel zu erfüllen. Verstärkend kommt hinzu, dass sich die Gerüche nicht schnell wieder verflüchtigen, sondern für einige Zeit im Raum verweilen. Evozierte Ekelgefühle sind im Theater also potenziell langfristiger als wenn ein Romanleser eine eklige Passage liest oder ein Filmzuschauer kurz etwas Ekelhaftes sieht und hört, das verhältnismäßig schnell vom nächsten Bild oder der nächsten Szene abgelöst wird. Atmosphäre wird auch vom Licht im Theaterraum und auf der Bühne erzeugt. Wie der Geruch ist das eine Dimension, die vom Roman lediglich beschrieben werden kann, so dass sich der Leser nur imaginativ in diese Stimmung versetzen lassen kann. Im Film ist der Einfluss des Lichts zwar ebenfalls groß, doch strahlt dieses bloß von der Leinwand in den ansonsten dunklen Vorführraum des Kinos hinunter. Szenerie und Zuschauerraum sind meist nicht vom gleichen Licht erfüllt. In Liveaufführungen ist dies dagegen möglich: Bühne und Zuschauerraum können z. B. beide in Tageslicht getaucht sein oder in ein Neonlicht etc. Denn bei einer Aufführung teilen alle Anwesenden den geometrischen Raum und damit die Atmosphäre. Das Licht speziell auf der Bühne hat aber noch eine andere Funktion: Es kann Effekte erzielen und damit in gewisser Weise den Einsatz einer Filmkamera oder auch eines Fokusses vom Allgemeinen zum Speziellen im Roman simulieren: Es liegt in der Natur des Theaters, dass immer die ganzen, lebensgroßen Menschen und ihre Requisiten auf der Bühne sind und nicht etwa nur ihr Gesicht oder die Blätter eines Baumes.90 Filmkamera wie Romanerzähler können bei Bedarf auf Details fokussieren. Das Theater setzt dafür die Beleuchtung ein, die sogenannte „Licht-Isolation“: „[D]as Licht kann allein auf das Gesicht des Schauspielers oder seine sich bewegende Hand fallen, ein einzelnes Dekorationselement oder ein Requisit beleuchten, während seine Lage im Raum verändert wird.“91 Auf diese Weise können die wichtigsten theatralen Zeichen hervorgehoben werden: mimische, gestische und proxemische. Ohne diese wäre kein Theaterstück denkbar. Die vom Schauspielkörper hervorgebrachten Zeichen sind die Grundbedingung des Theaters. Denn wie FISCHER-LICHTE betont, ist ein Theater ohne Musik, Kostüme, Requisiten und Sprache durchaus denkbar, nicht aber ein Theater ohne die Präsenz eines Schauspielkörpers.92 Er hat dreidimensional auf der Bühne zu erscheinen und wird durch nonverbale wie verbale Gesten zur Konkretisation einer Rolle, die zuvor lediglich literarischer Rohstoff war.93 Dabei stellt der Schauspieler 90 Nach: Fischer-Lichte, E.: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 1. S. 157f. 91 Ebd., S. 158. 92 Vgl.: Ebd., S. 98. 93 Nach: Lazarowicz, Klaus: Einleitung. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. ebd. und Ch. Balme. S. 30.
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die theatralen Zeichen „im Material der eigenen Existenz“94 dar. Seine Interpretation einer Rolle lässt sich nur über die eigene Körperlichkeit vermitteln, was ihn von anderen Künstlern unterscheidet, die etwa wie der Romanautor ein von den körperlichen Potenzialen losgelöstes Material (die Schrift) bearbeiten.95 Der Darsteller ist ein Mitdichter, denn soweit es sein Körper ermöglicht, realisiert er den Text gemäß seiner Interpretation: Ihm, dem Darsteller, fällt die ganze Gestaltung des sinnlich auffaßbaren Details zu. Er hat freie Hand in den unzähligen Einzelheiten unwägbarer Art. Er rückt zum Mitgestalter des Werks, ja geradezu zum Mitdichter auf. Er ist insofern weit entfernt, bloß reproduzierender Künstler zu sein; er ist in seiner Weise und in seinen Grenzen auch produzierender Künstler.96
Dabei hat er gegenüber Roman und Film mit Schwierigkeiten der Umsetzbarkeit zu kämpfen. Es gibt physiologische Vorgänge, die aufgrund der Präsenz im Theater nur schwer oder gar nicht dargestellt werden können. Der Romanerzähler und Dramendichter vermag sie zu beschreiben („entfärbt sich“, „erbleicht“97), und der Film kann sie durch Effekte simulieren. Doch der Darsteller auf der Bühne ist nicht eins mit der Figur und empfindet nicht auf Abruf gleich wie diese – und schon gar nicht in dem Maße, dass es sichtbar werden könnte. Allgemein kann man ihm seine Gedanken und Gefühle nicht eindeutig ansehen, es sei denn, die innere Regung wird in theatrale und damit wahrnehmbare Zeichen umgewandelt, die dem Schauspieler frei zur Verfügung stehen: nervöses Auf- und Abgehen, eine verzerrte Gesichtsmuskulatur, lautes Denken oder auch Schreien, Weinen, Lachen uvm. Den Gesichtsmuskeln stehen dabei wesentlich vielfältigere Möglichkeiten zur Verfügung als einer Beschreibung im Roman: Obwohl es für die Beschreibung der verschiedenen Erscheinungsformen von ‚Gesichtsausdruck‘ nur wenige Begriffe gibt (Lächeln, Stirnrunzeln, Falten legen, schief schauen etc.), sind die Gesichtsmuskeln so komplex beschaffen, daß sie Tausende von Ausprägungen der Gesichtserscheinung zustande bringen […]98
Doch anders als im Film sind diese mimischen Zeichen nicht für jeden Zuschauer im Publikum gut sichtbar. Die Technik der Licht-Isolation kann zwar auch im 94 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 129. 95 Fischer-Lichte, Erika: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 3. Die Aufführung als Text. Tübingen: Narr 1983. S. 28. 96 Hartmann, N.: Das Schauspiel und die Kunst des Schauspielers. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. K. Lazarowicz und Ch. Balme. S. 103. 97 Bsp. nach: Fischer-Lichte, E.: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 3. S. 52. 98 Fischer-Lichte, E.: Semiotik des Theaters. Eine Einführung. Band 1. S. 48.
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Theater das Gesicht hervorheben, doch bleibt es im Verhältnis zum gesamten und präsenten Schauspielkörper relativ klein. Als Lösung bieten sich eine extreme Maske (z. B. grellrote übergroß gezeichnete Lippen) und eine übertriebene Mimik an („wild rollende Augen und ein weit aufgerissener Mund“99). Dies ist ein weiterer Grund, warum eine gefilmte Theateraufführung einen komplett anderen Effekt hat als die Präsenz der Schauspieler: Das Medium Film kann das menschliche Gesicht in seiner vollen Ausdruckskraft vor allem im Affektbild zeigen. Dennoch lässt sich nicht leugnen, dass auch das Theater starke Empathie zwischen Zuschauern und Figuren hervorruft. Was für den Zuschauer nicht in Großaufnahme sichtbar ist, wird durch die Energien, die zwischen den anwesenden Beteiligten fließen, ausgeglichen. Nach FISCHER-LICHTE ist die Ausstrahlung eines phänomenalen Leibes so stark, dass sie den Zuschauer energetisieren kann.100 Es scheint, als ließe sich die Präsenz im Theater durch kein filmisches oder erzähltechnisches Mittel ersetzen. Phänomenal zwischenmenschliche Prozesse sind auch für den Schauspieler nicht zu unterschätzende Erlebnisse: Ich spiele Theater vornehmlich, um mit dem, was ich auszudrücken glaube und hoffe, Menschen direkt zu erreichen, und zwar so emotional und so direkt wie möglich. Je aufmerksamer sie sind, je konzentrierter sie sind, desto mehr habe ich das Gefühl, es macht auch was mit ihnen. […] Es sind Energien, die auf der Bühne entstehen und die sich dann nach unten auf eine seltsame Weise übertragen. Umgekehrt übertragen sich auch gruppendynamische Prozesse im Publikum auf die Bühne. Die unterschiedlichen Vorstellungen ein und derselben Inszenierung variieren völlig durch den Einfluss, den das Publikum an dem jeweiligen Abend nimmt. Das Publikum hat viel mehr Macht, als es sich selber zuerkennt.101
Im Folgenden soll darum dezidiert auf die Bedingungen des Zuschauers im Theater eingegangen werden.
99
Ebd., S. 57.
100 Fischer-Lichte, E.: Einleitende Thesen zum Aufführungsbegriff. In: Kunst der Aufführung. Hg. v. E. Fischer-Lichte, C. Risi und J. Roselt. S. 15. 101 Der Schauspieler Ulrich Matthes in: Wege durch die vierte Wand. In: Wege der Wahrnehmung. Hg. v. E. Fischer-Lichte et al. S. 75, 84f.
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Zuschauerpräsenz Theater ist, wie eingangs festgestellt, kein Werk, sondern ein Ereignis. Die Anwesenheit des Zuschauers unterscheidet es scharf von Roman und Film. Darum steht das Publikum zu Recht im „Zentrum der theaterwissenschaftlichen Aufmerksamkeit“.102 Ohne Zuschauer ist Theater nicht möglich, sie sind Ko-Produzenten, die nicht nur konsumieren, sondern sich beteiligen. Der Fokus des Theaters liegt deshalb anders als besonders im Roman nicht auf dem Stoff, sondern auf dem Erleben. Es ist die Aufführung, die eine Theaterinszenierung zur Sensation103 werden lässt, nicht die fiktionale Handlung. Und dazu kann das Publikum selbst beitragen, wie ein weiteres Zitat des Theaterpraktikers MATTHES belegt: Ich habe während einer Vorstellung die Antennen nach unten ausgefahren und bekomme viel mehr mit, als das Publikum oft glaubt. Wenn es anfängt, unkonzentriert zu werden, spürt man das als Schauspieler – und zwar nicht nur am berühmten Husten. In solchen Situationen habe ich bestimmte Tricks, die ich mal bewusster, mal unbewusster anwende. Entweder ich nehme in der Szene das Tempo raus oder ich werde leiser oder mache eine Pause, um das Publikum wieder aufmerksam zu bekommen. Das ist Teil des Interaktiven, des Live-Acts von Theater, dass man die Leute bei der Stange halten will. Wie im Zirkus.104
Das Publikum ist aber nicht allein durch die energetischen Schwingungen, die zwischen ihm und der Bühne hin- und hergehen, produktiv, sondern auch auf rein geistiger Ebene tätig. Vergleichbar mit einem Romanleser ist der Zuschauer gefordert, die teilweise auch rätselhaften Zeichen zu lesen und mögliche Andeutungen und Auslassungen zu komplettieren.105 Sehr oft ist eine Theaterinszenierung viel weniger eindeutig als z. B. ein Film im realistischen Paradigma und zeigt nicht alles, was zur Handlung gehört bzw. stilisiert sie. Theater macht es sich gar nicht zur Aufgabe, eine realistisch wirkende Fiktion aufzuführen, sondern setzt voraus, dass das Publikum aktiv die Zeichen liest. 102 Möhrmann, Renate: Einleitung. Theaterwissenschaft – was ist das? In: Theaterwissenschaft heute. Hg. v. R. Möhrmann. S. 13. 103 Hier auch im ursprünglichen Wortsinn, in dem Sensation schlicht „Empfindung“ oder „Wahnehmung“ bedeutet. „Heute versteht man darunter vornehmlich, was die Wahrnehmung magnetisch auf sich zieht: das Spektakuläre, Aufsehenerregende.“ Türcke, Christoph: Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation. München: Beck 2002. S. 7. 104 Der Schauspieler Ulrich Matthes in: Wege der Wahrnehmung. Hg. v. E. Fischer-Lichte et al. S. 74. 105 Vgl.: Lazarowicz, K.: Einleitung. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. ebd. und Ch. Balme. S. 32.
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Das ist vergleichbar mit dem Akt des Romanlesens, bei dem es eben sprachliche Zeichen sind, die verstanden werden müssen, um der Handlung zu folgen. Das Pappmodell auf der Bühne ist kein Baum, sondern er muss als solcher „gelesen“ und damit auch imaginiert werden. Diese geistige Beteiligung des mündigen Zuschauers soll nach Thomas MANN gefördert werden, indem der Phantasie Freiräume gegeben werden: „Je bescheidener, andeutender das Theater sich verhält, je weniger es die Sinnlichkeit agaziert, je mehr es die Einbildung frei läßt, desto m ö g l i c h e r ist eine reine und künstlerische Wirkung.“106 Lässt die Inszenierung diese Lücken nicht, rückt sie sich in die Nähe eines relativ langweiligen Filmes (da freilich die Mittel der Kameraführung und Montage fehlen). Wie bei der Romanlektüre identifiziert sich der Zuschauer im Theater stärker mit einer Figur, die er geistig komplettieren kann, als mit präsenten Gestalten, die keine Rätsel aufgeben. Die Identifikation des Zuschauers geht aber über die dramatis personae, über die Figur hinaus: Stärker als beim Rezipieren eines fertigen Filmprodukts, in dem keine Pannen mehr passieren können und das nicht von unvorhergesehenen Zwischenfällen beeinflusst werden kann, fiebert der Zuschauer auch mit dem Schauspieler mit. Dadurch begründet sich unter anderem auch die von WARSTAT erläuterte mögliche Nervosität des Zuschauers im Theater.107 Nervosität über Text-Hänger oder schlechte Leistungen des Schauspielers sind also Teil der feedback-Schleife, die nie im Voraus kalkulierbar ist. Der Zuschauer ist ganz durchdrungen von der Atmosphäre im Theater, und so auch von der Stimmung der Schauspieler als Menschen, die teilweise natürlich verschiedene Persönlichkeiten haben, z. B. besonders unsicher oder selbstbewusst sind. Wie im zwischenmenschlichen Elementarkontakt spielen auch Sympathien eine Rolle. Mochte man bisher den selbstbewussten Kampfgeist der Figur der Johanna, so kann einem dies in der Verkörperung durch eine z. B. überhebliche Schauspielerin als arrogant widerstreben. Zu erklären ist das mit der Definition des Theaters als primäres Medium. Es wirkt kein Gerät filternd zwischen den Schwingungen, Ab- und Zuneigung unter Zuschauern und Darstellern. Dieses Erlebnis des Changierens zwischen Realität und Fiktion, zwischen aktiver Beteiligung und imaginativer Komplettierung und die Einzigartigkeit der jeweiligen Aufführung bewirken eine ästhetische Erfahrung, die eine Transformation 106 Mann, Th.: Versuch über das Theater. In: Essays. Band 1: Frühlingssturm 1893–1918. Hg. v. H. Kurzke und S. Stachorski. S. 69. 107 „Für diejenigen […], denen leichte Hitzewallungen vor Vorstellungsbeginn vertraut sind, die während der Aufführung oft unbehaglich auf dem Sitz herumrutschen und mit grummelndem Magen auf mögliche Überraschungen warten – für diese weniger gefestigten Gemüter ist Nervosität ein wichtiger Teil des Wahrnehmungserlebnisses im Theater.“ Warstat, Matthias: Vom Lampenfieber des Zuschauers. Nervosität als Wahrnehmungserlebnis im Theater. In: Wege der Wahrnehmung. Hg. v. Erika Fischer-Lichte et al. S. 86.
126 | I. DIE T HEORIE DER M EDIENKONKURRENZ
des Zuschauers hervorbringen kann. ARISTOTELES hat sich dabei auf die Erregung von Jammer und Schauder bezogen, die durch die tragischen Helden ausgelöst werden und eine Reinigung des Zuschauers von diesen Affekten bewirken. Doch ist es gerade die Spezifität des Theaters, dass es nicht nur die Figuren sind, die das Theatererlebnis ausmachen, sondern die Präsenz der Schauspieler, die so stark auf die anwesenden Zuschauer einwirkt. Theater ist ein Schwellenmedium zwischen der Fiktion der Figuren, der Realität der Schauspieler, der Präsenz des Publikums und der Imaginationskraft jedes einzelnen Zuschauers – und damit eine Herausforderung für alle affiziert Beteiligten.
4. Resümee Medienkonkurrenzen und -differenzen auf theoretischer Ebene
Wie sich in diesem Kapitel herausgestellt hat, handelt es sich bei Roman, Film und Theater um drei Kunstformen, die an jeweils klar zu differenzierende mediale Implikationen gebunden sind. Dafür hat sich die Unterscheidung der Medien nach Harry PROSS als übersichtliche Kategorisierung erwiesen. Das Theater lässt sich hierbei den primären Medien zuordnen, der Roman in seiner ursprünglichen Form als gedrucktes Buch den sekundären Medien, und der Film ist seit der Trennung von Aufnahme und Projektion ein tertiäres Medium. PROSS macht seine Differenzierung der Medien am Kriterium der Involviertheit von elektrischen oder elektronischen Apparaten fest.1 Der technische Aspekt der Medien steht zwar in der vorliegenden Arbeit nicht im Vordergrund, aber dennoch ist er die Basis für die Unterschiede zwischen den Medien. Weil das Theater ein primäres Medium des menschlichen Elementarkontakts ist, kann es völlig anders auf das Publikum eingehen als Film und Roman. Es ist kein Gerät zwischen Schauspieler und Zuschauer geschaltet, und selbst wenn andere Medien integriert werden, bleibt das Theater doch immer ein Medium der präsenten Performativität. Anders der Film: Er bringt ein Produkt hervor, das über zeitliche und räumliche Distanzen hinweg rezipiert wird. Dies geht auf seine Technikgebundenheit zurück: Zwischen Schauspieler und Zuschauer sind zwei notwenige Geräte geschaltet: die Kamera und der Projektionsapparat bzw. das Fernsehgerät. Der Rezipient hat keine Gelegenheit zu intervenieren oder das Produkt zu beeinflussen. Letzteres galt Jahrhunderte lang auch für den Roman im sekundären Medium des Buchs. Er ist ursprünglich an die Schriftlichkeit gebunden, und seine Herstellung, nicht aber die Rezeption, erfordert ein technisches Gerät. Wie beim Film wird somit ein Produkt hergestellt, in das der Leser als solches – anders als im The-
1
Pross, H.: Medienforschung. S. 128f.
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ater – nicht eingreifen kann. Dafür ist das Lesen aber ein hochindividueller Akt, wodurch die Reaktionen auf einen Roman stärker als bei Film und Theater von den persönlichen Dispositionen der Rezipienten2 abhängen. Die große Veränderung des 21. Jahrhunderts besteht darin, dass sich diese Gebundenheit des Romans an die Schrift und an die Voraussetzungen des Rezipienten öffnet: Nachdem sich bisher klar differenzieren ließ, dass Theater und Film darstellende Medien sind, während der Roman auf Schriftlichkeit und eventuell Illustrationen festgelegt ist, hat das Buch inzwischen die Möglichkeit, sich den audiovisuellen Medien anzunähern. Damit ist nicht die Transformation in die anderen Medien gemeint, für die eine Adaption erforderlich ist (z. B. die Verfilmung eines Romans oder seine Aufführung im Theater), sondern der Roman bleibt als sprachliches Produkt bestehen und wird z. B. als Hörbuch in die auditive Form übertragen. Somit ist er zwar immer noch sprachlich-linear, aber nicht mehr an die Schriftlichkeit gebunden. Darüber hinaus ist der Roman mittlerweile eine Kunstform, die – ebenfalls jenseits der klassischen filmischen Adaption – audiovisuell ergänzt werden kann: Über das technische Lesegerät des E-Books, den Reader, sind filmische Einspieler möglich, die die Imagination des Lesers prägen. In dieser medialen Form rückt das Buch vom sekundären zum tertiären Medium auf. Damit beginnt sich ein sehr wichtiges Merkmal aufzulösen: dass der Roman keine darstellende, sondern eine rein imaginative Kunstform ist. Denn bisher war er in Abgrenzung zu Film und Theater nicht an performative Körper und an Kulissen gebunden, sondern seine „Audiovisualität“3 entstand innerlich und imaginativ im Akt des Lesens. Bloß im Geiste hörte der Leser den Erzähler und die Figuren sprechen und sah sie auf der Grundlage der schriftsprachlichen Beschreibung vor sich. Durch die neue Möglichkeit der elektronischen Anreicherung kann sich der Roman nun auch visuell und auditiv entfalten. Resümierend lässt sich festhalten: Das Theater ist ein primäres Medium des menschlichen Elementarkontakts, auch wenn es alle anderen Medien in sich aufnehmen kann. Die Grundbedingungen der präsenten Performativität wie die feedback-Schleife werden durch mediale Erweiterungen nicht tangiert. Der Film als tertiäres Medium zählt ebenfalls zur darstellenden Kunst, nur gibt es hier anders als im Theater eine klare Trennung zwischen Produktion, Produkt und Rezeption. Der Roman dagegen lässt sich aufgrund medialer Veränderungen des Buches nicht mehr fest zuordnen. Er ist potenziell mehr geworden als ein schriftlicher Textkörper, dessen Handlung erst in der Leserimagination „Gestalt“ annimmt. Indem ein techni2 3
Vgl.: Hamburger, K.: Die Logik der Dichtung. S. 38. Im uneigentlichen Sinne, denn es ist ein minder konkreter Strom von Bildern und Tönen, der im Leser aufsteigt. Vgl.: Iser, W.: Der Akt des Lesens. S. 220.
R ESÜMEE: M EDIENKONKURRENZEN UND - DIFFERENZEN AUF THEORETISCHER E BENE
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sches Gerät auch auf Rezipientenseite hinzugekommen ist, hat er sich den darstellenden Künsten angenähert und ist potenziell zum tertiären Medium geworden. Doch hierauf lässt sich der Roman nicht festlegen. Er kann und wird wohl auch weiterhin im „schlichten“, technisch nicht angereicherten gedruckten Buch gelesen werden. Auf formal-technischer Ebene überschreitet der Roman die Grenzen der Medien. Theater und Film agieren dagegen weiterhin innerhalb der Grenzen ihres Mediums. Diese formale Ebene darf aber nicht mit der inhaltlichen Ebene der Künste verwechselt werden. Denn die Stoffe und Motive, die sie jeweils hervorbringen, sind prinzipiell nicht medial gebunden. Doch gerade indem diese zwischen Theater, Roman und Film wandern, wird deutlich, dass es einen Unterschied macht, ob sie präsent oder auf die Leinwand projiziert sind, oder ob sie sich auf rein sprachlicher Ebene ihren Weg in die Köpfe der Rezipienten bahnen. Die Hauptdifferenzen zwischen den untersuchten Medien lassen sich durch die jeweiligen Anpassungen des bekannten SCHILLERSCHEN Diktums bezüglich des Realitätsbezugs der Medien verdeutlichen: Die Aufführungen des Theaters mit ihrer unmittelbaren Einbeziehung des Zuschauer sind die Bretter, die sowohl die Welt bedeuten als auch ein Teil der realen Gegenwart von Akteuren und Zuschauern sind. Die Bretter, d. h. die Zeichen des Theaters – die Bühne als fiktionaler Raum, das Pappmodell als Baum, ein Schauspieler als Figur –, werden in der sozialen und realen Situation von Akteuren und Publikum geteilt. Der Roman wäre entsprechend als die Blätter, die die Welt bedeuten, zu bezeichnen, weil er als Text eine imaginative Welt entstehen lässt und dadurch Erkenntnisse über die menschliche Existenz ermöglicht.4 Der Film wiederum liefert Bilder, die die Welt bedeuten, denn er bildet nicht die Wirklichkeit ab, sondern formt sie mit filmischen Mitteln zu einem Kunstprodukt, das eine bestimmte Perspektive auf die Welt bietet. Aus diesen Differenzen gehen die Konkurrenzen zwischen den Medien hervor. Stoffe und Motive werden möglicherweise bevorzugt in einem bestimmten Medium dargestellt oder erzählt, weil dieses andere Potenziale hat. Vielleicht gibt es Stoffe, die die Deutungsinstanz eines Erzählers im Roman oder auch im Film bevorzugen, oder für die die Präsenz des Publikums völlig irrelevant ist, so dass sie eher selten im Theater aufgeführt werden. Manches Motiv wird eventuell erst durch die imaginative Komplettierung beim Lesen wirksam, ein anderes benötigt möglicherweise die Nicht-Linearität der darstellenden Medien. Oder für die eine Thematik ist das filmische Mittel der Großaufnahme (ein Affektbild5) und die Steuerung des Blicks unabdingbar, für die andere die Totale des Theaters völlig ausreichend, während auf den freischweifenden Zuschauerblick gesetzt wird. Und sicherlich gibt es auch
4
Z. B.: Kundera, M.: Die Kunst des Romans. S. 13.
5
Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1.
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Themen, die auf die inneren Regungen der Figuren nicht verzichten können und daher eher auf die formale und inhaltliche Freiheit des Romans setzen. Gerade bei einem Motiv wie dem des Ekels, das im nun folgenden Kapitel untersucht werden soll, bietet etwa das Theater, das auch den Geruchs-, Geschmacksund Tastsinn der Zuschauer ansprechen kann, andere Perspektiven als Film und Roman. Aber ein wichtiger Bestandteil der Kunst ist natürlich das Wagnis des Neuen und ein Zurückgreifen auch auf unkonventionelle Mittel. Besonders dadurch können Differenzen zwischen den Medien aufgezeigt und Konkurrenzen ausgefochten werden. Es zeigt sich, dass eine direkte Korpusanalyse von Theaterstücken, Romanen und Filmen, wie sie nun erfolgen soll, unabdingbar ist, um mediale Potenziale zu erschließen. Zuerst soll es dabei um eine Dimension gehen, in der die Künste besonders auf die menschlichen Sinne eingehen und sie auch ansprechen: die vitalaffektive Dimension.
II. DIE VITALAFFEKTIVE DIMENSION
Das Motiv des Ekels und Ekelprovokationen in Roman, Film und Theater
Ein fauliger oder beißender Geruch oder ein unangenehmer Geschmack dringen in Nase und Mundraum ein, ein Tier oder eine Substanz wabbelt, krabbelt oder schleimt über die Haut: Ein Gefühl von Ekel kommt blitzartig auf, was verdeutlicht, dass es vorwiegend die Nahsinne sind, durch die physische Abneigung bis hin zu Übelkeit und Erbrechen ausgelöst werden. Doch weder Roman noch Film können den Leser oder Zuschauer auf diese Weise bedrängen, denn die Wirkung eines Romans in ursprünglicher Buchform entfaltet sich über das Lesen der linearen Schrift, und das audiovisuelle Medium Film spricht traditionsgemäß nur die Fernsinne an. Trotzdem ist das Phänomen des sich ekelnden Kunstrezipienten nicht auf das Theater begrenzt: Ein Mittel, um die allgemeine Neugier auf einen Film oder einen Roman zu erwecken, ist das Werben mit einem besonders intensiven Gefühlserlebnis – dem Ekel. Das Abstoßende hat offensichtlich eine positive Wirkung in der Medienkonkurrenz von Filmwirtschaft und Buchbranche. Ein aktuelles Beispiel sind die Rekordauflagen von Charlotte ROCHES Romanen;1 und auch die anhaltende Popularität von Filmen mit Ekelmotiven wie etwa dem Kannibalismus2 legt nahe, dass 1
Die hier untersuchten Ausgaben: Roche, Charlotte: Feuchtgebiete. Köln: Du Mont 2008. Einmalige illustrierte Ausgabe. Mit Zeichnungen der Autorin und einem Plakat. Roche, Charlotte: Schoßgebete. München: Piper 2011. Die Startauflage des zweiten Romans Schoßgebete von einer halben Million geht auf den großen Erfolg des Ekel-Romans Feuchtgebiete zurück.
2
Das Schweigen der Lämmer, Roter Drache, Hannibal und Hannibal Rising ist ein Fortsetzungserfolg: Die Filme erzählen die Geschichte des wohl bekanntesten Kannibalen Hannibal Lecter. Zudem gibt es eine TV-Serie, die die Vorgeschichte von Roter Drache darstellt: Hannibal. USA 2013. Das Kannibalismus-Motiv findet sich weiterhin in folgenden zu untersuchenden Filmen: Dumplings. Delikate Versuchung. Regie: Fruit Chan, Hongkong 2004. Und: Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders. Regie: Tom Tykwer, Deutschland/Frankreich/Spanien 2006.
134 | II. DIE V ITALAFFEKTIVE DIMENSION
dem Bruch von Tabus in der Kunst ein Reiz unterliegen muss. Das Tabu existiert auf drei Ebenen: Erstens gehen die Künstler selbst ein Wagnis ein, wenn sie die Rezipientenschaft offensiv anekeln; zweitens stellt das ambivalente Genusserlebnis der Kunstrezipienten ein Tabu dar – zugeben, dass ein Skandalwerk gefallen hat –; und drittens scheint auch in der Wissenschaft noch einige Hemmnis zu bestehen, das ästhetische Ekelerleben zu erforschen. Diese drei Bereiche der Tabuisierung werden z. B. evident in der öffentlichen Empörung über das Orgien Mysterien Theater von Hermann NITSCH, oder auch in feuilletonistischen Debatten über den künstlerischen Wert beispielsweise der Erzählung von intimen und ekelhaften Details wie bei ROCHE. Diese Empörungshaltung steht ganz in der Tradition des Ausschlusses des Ekels aus den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts, in welchen z. B. SCHILLER den Ekel nicht einmal zu den „gemischten Gefühlen“ zählte,3 und auch KANT ihm eine Sonderstellung unter den Hässlichkeiten in der Kunst zukommen ließ: Die schöne Kunst zeigt darin eben ihre Vorzüglichkeit, daß sie Dinge, die in der Natur häßlich oder mißfällig sein würden, schön beschreibt. Die Furien, Krankheiten, Verwüstungen des Krieges, u. dgl. können, als Schädlichkeiten, sehr schön beschrieben, ja sogar im Gemälde vorgestellt werden; nur eine Art Häßlichkeit kann nicht der Natur gemäß vorgestellt werden, ohne alles ästhetische Wohlgefallen, mithin die Kunstschönheit, zugrunde zu richten: nämlich diejenige, welche Ekel erweckt.4
KANT geht folglich davon aus, dass Beschreibungen von Ekligem in der Kunst unweigerlich auch zu einer Ekelevokation im Rezipienten führen, der dieses Gefühl ausschließlich negativ empfinden kann. Wie die Erfolge von Ekel-Kunst in der Medienkonkurrenz aber heute, um 2000, zeigen, ist diese Zuschreibung zu pauschal, denn die Wirkung von Ekel in der Kunst ist ambivalent: Eine Faszination kann dadurch entstehen, dass im Leser oder Zuschauer ein Affekt ausgelöst wird, der diesen gewissermaßen stimuliert, aufweckt, ohne ihn meist zum äußersten Ekeleffekt, dem Erbrechen zu führen, wie dies bei realen Ekelerlebnissen häufiger der Fall ist. Es gibt einen Unterschied zwischen ästhetisch ausgelöstem und alltagsweltlichem Ekel: Bei letzterem findet eine reale Bedrängung statt, bei ersterem bleibt es meist bei einer „Weckwirkung“5 ganz im Sinne von KAFKAS Ansprüchen an die Li3
Vgl.: Anz, Thomas: Unlust und Lust am Ekelhaften in Literatur und Kunst. In: Ekel. Darstellung und Deutung in den Wissenschaften und Künsten. Hg. v. Hermes A. Kick. Hürtgenwald: Guido Pressler Verlag 2003. S. 149.
4
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft. Hg. v. Gerhard Lehmann. Stuttgart: Reclam 2011. S. 243.
5
Oehmichen, Manfred: Ekel: Die rechtsmedizinische Perspektive. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 41.
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teratur: „ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“6 Daneben gibt es frei nach FREUD auch einen Lust-Aspekt des Ekels, der in und durch die Kunst ohne größere Sanktionen ausgelebt werden darf: Denn das Eklige ist auch zu verstehen als ein „besonders starker Widerstand gegen besonders Anziehendes“.7 Als Untermauerung dieser These führt Thomas ANZ richtigerweise an, dass Ekelkunst ganz offensichtlich auf freiwilliger Basis zum ambivalenten Massenerlebnis wird.8 Nach Aurel KOLNAI lockt sie an wie eine „giftige rote Beere“,9 was ein treffender Vergleich ist: Es ist schwer, ihr zu widerstehen, beim Verzehr bereitet sie eine Art schauderhafte Lust und danach oder auch schon währenddessen tritt Abschwörung ein, die in die Tabuisierung oder in intensives Verschmähen mündet. Die Tabuisierung dieses interdisziplinären Themas, über das Erkenntnisse auf medizinischer, historischer, philosophischer und medien- und kunstwissenschaftlicher Ebene gewonnen werden können, zeigt sich auch in der geringen Anzahl an Forschungen.10 Das bis heute bedeutende Werk von Karl ROSENKRANZ aus dem Jahr 1853, Ästhetik des Häßlichen, erklärt das damit, dass eine gründliche Erforschung eines solchen Bereichs die „gebrechliche Eleganz der Teetischästhetik“11 verlassen muss und dem Scheußlichen nicht zimperlich ausweichen darf. Auch die Analyse der unterschiedlichen Potenziale von Ekeldarstellungen und -evokationen in Roman, Film und Theater erfordert das Vordringen in Bereiche und das Benutzen von Begriffen, die sicherlich oft gegen den guten Ton verstoßen. Die beiden hierbei zu untersuchenden Ebenen sind die narrativ-figurale des fiktionalen Kosmos, auf der es eklig und unflätig zugehen kann, sowie zweitens die durch diese 6
Kafka, Franz: Briefe 1900–1912. Hg. v. Hans-Gerd Koch. Frankfurt/Main: S. Fischer 1999. Brief vom 27. Januar 1904 an seinen ehemaligen Mitschüler und Kunsthistoriker Oskar Pollak. S. 36.
7
Anz, T.: Unlust und Lust am Ekelhaften in Literatur und Kunst. In: Ekel. Hg. v. H. A.
8
Vgl.: Ebd., S. 150.
Kick. S. 149. 9
Kolnai, Aurel: Ekel, Hochmut, Haß. Zur Phänomenologie feindlicher Gefühle. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2007 (1929). S. 23.
10 Die ausführlichste Klassifizierung und philosophische Reflexion von Ekelphänomenen findet sich bei Aurel Kolnai: Ekel, Hochmut, Haß (1929). Theoretisierungen des Ekels in den zurückliegenden 250 Jahren untersucht aus literaturwissenschaftlicher Sicht Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. Außerdem gibt es einen literaturwissenschaftlichen Sammelband zur Ästhetik des Unästhetischen, in dem auch der Ekel eine Rolle spielt, hg. von Hans Robert Jauß: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München: Fink 1968. 11 Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Hg. v. Dieter Kliche. Stuttgart: Reclam 2007. S. 14.
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Narration, Darstellung oder Performanz ausgelöste Ebene der Ekelrezeption. Beim Ekel in der Kunst gibt es meist ein Objekt – oder nach Julia KRISTEVA das Abjekt12 – und zwei Subjekte: die sich ekelnde Figur und der sich ekelnde Leser oder Zuschauer. Psychosomatisch erleben die fiktionalen und realen Subjekte ähnliche Empfindungen angesichts eines Ekelobjekts: Missempfindungen stellen sich in der Haut ein, im Magenbereich, wodurch es zu Übelkeit bis hin zum Erbrechen und Blutdruckabfall mit möglicher Ohnmacht kommen kann.13 Werner KÜBLER beschreibt die ablaufenden Reaktionen aus ernährungsphysiologischer Sicht wie folgt: Wenn Ekelgefühle sich langsam entwickeln, werden mehrere Stadien durchlaufen. Zunächst entsteht das Gefühl eines allgemeinen Mißbehagens, dessen Ursache nicht immer gleich erkannt wird. Die danach einsetzenden Empfindungen einer zunehmenden Übelkeit werden meist schon im Oberbauch lokalisiert. Ihnen entspricht eine verstärkte Sekretion von Speichel, Magensaft und Duodenalsekret.14
Die „Reizung des Brechzentrums im lateralen Hirnstamm“ führt zur Nausea, wobei „[d]er Geruch und Anblick des Erbrochenen“ verstärkend wirkt „bis zur vollständigen Entleerung des Mageninhaltes.“15 All die vorangegangenen Symptome können aber bei einem besonders starken Ekelreiz übersprungen werden, wobei das Erbrechen „explosionsartig“16 erfolgt. Darin zeigt sich die Besonderheit des Ekelgefühls: Es hat das Primat über die kognitive Dimension. Ekel ist meist kein bewusst reflektiertes Geschmacksurteil, sondern ein Affekt, eine „fast krankhafte Reaktivität bezüglich etwas, das den Magen ergreift, noch bevor es das Gehirn erreicht.“17 Ekel ist anders als ein Geschmacksurteil spontaner und deutlich physiologisch, d. h. nach
12 Den Begriff entwickelte Julia Kristeva 1980 in Pouvoirs de l’horreur. Essai sur l’abjection. „Unter Abjekt versteht Kristeva zunächst alles, was in einem Menschen Ekel und Aversion hervorruft: Aas, Leichen, Eiter, Ekel vor bestimmten Lebensmitteln wie z. B. der Haut der Milch und Phobien vor Mäusen oder Spinnen sind prototypische Beispiele, die zeigen, daß das Abjekte nicht den Status eines Objekts einnimmt und also auch nicht wie dieses das Subjekt in der Gegenüberstellung versichert.“ Metzler Lexikon Gender Studies. Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Hg. v. Renate Kroll. Stuttgart: Metzler 2002. S. 1. 13 Vgl.: Oehmichen, M.: Ekel. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 36. 14 Kübler, Werner: Gedanken über Ekel aus ernährungsphysiologischer Sicht. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 23. 15 Ebd., S. 23. 16 Ebd. 17 Perniola, Mario: Ekel. Die neuen ästhetischen Tendenzen. Hg. v. Giovanni Leghissa, René Scheu und Nicole Finsinger. Wien: Turia und Kant 2003. S. 15.
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KANT eine starke Vitalempfindung; mehr noch – er ist eine vorübergehende Krise des Körpers, der den Ekelauslöser loswerden möchte. An dieser Stelle wird wieder der Unterschied zwischen realem Ekelerleben und dem kunstrezeptiven Ekeln bzw. auch zwischen Ekel im Theater versus Roman und Film deutlich. In der Realität und in der Performanz des Theaters wird das affektive Abgestoßensein durch sinnliches Erleben ausgelöst. Die Narration des Romans oder das Schauspiel im Film bereiten dagegen ein Ekelerlebnis unabhängig von nahsinnlichen Eindrücken, allein durch die via Schilderung oder audiovisuelle Stimulierungen ausgelöste Imagination. Dies wird möglich über die reflexartige Erinnerung des Lesers bzw. Zuschauers an reale ekelhafte Geruchs- oder Geschmackserlebnisse.18 Allerdings erfolgt die durch Roman oder Film oder auch durch eine Figurenrede auf der Theaterbühne ausgelöste Ekelreaktion in wesentlich geringerer physischer Intensität. Auch hierin könnte eine Erklärung für den Erfolg von Ekelkunst in den Medien liegen: Sie ermöglicht eine abgeschwächte Form dieses anregenden Gefühls, d. h. ohne physische Bedrängnis, die evtl. zur äußersten Ekelexpression, dem Erbrechen, führen würde. Das Gefühl des Ekels ist nach NIETZSCHE ein besonders kräftiges Nein-Sagen,19 die Unfähigkeit, nicht Nein zu sagen oder das Ekel-Objekt an Ort und Stelle zu belassen und anzunehmen. In der Kunst verhält es sich anders: Das Ekeln ist meist nicht derart intensiv, dass daraus der unweigerliche Drang entsteht, das Abjekt zu entfernen, Seiten zu überspringen oder das Kino zu verlassen. Im Film ist es sowohl möglich, die Hand vor Augen zu halten, als auch intentional zu entscheiden, den Blick auf die Leinwand gerichtet zu lassen. Denn LESSING zufolge handelt es sich beim ästhetisch erzeugten Ekelaffekt um eine geminderte Krise: „Hierwieder sage ich: die unangenehmen Affecte in der Nachahmung gefallen deswegen, weil sie in uns ähnliche Affecten erwecken, die auf keinen gewissen Gegenstand gehen.“20 Der gegenstandslos ausgelöste Affekt ist reiner als jener im direkten Elementarkontakt,21 was verdeutlicht, dass dieses ästhetische Ekeln besonders für den Roman gilt, weniger aber für ein Ekel-Theater im Stil des NITSCHEN Orgien Mysterien Theaters. Bei der Lektüre eines Romans hat der Leser außerdem Zeit, den eigenen Ekelaffekt zu reflektieren und zu analysieren und sich dadurch sogar zu entekeln.22 Die Narra-
18 Menninghaus, W.: Ekel. S. 312. 19 Ebd., S. 8. 20 Gotth. Ephr. Lessings sämtliche Werke. Bände 27–28. S. 119. http://books.google.de/ books?id=PWUQAAAAYAAJ&dq (10.11.2011). 21 Vgl.: Dieckmann, Herbert: Das Abscheuliche und Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. In: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. Hg. v. H. R. Jauß. München: Fink 1968. S. 309. 22 Menninghaus, W.: Ekel. S. 326.
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tion selbst kann die Flüchtigkeit des Affekts auflösen und ihn zum Gegenstand der Reflexion erheben. Diese Art der Katharsis vom Ekel durch die Auslösung solch reinerer Ekelaffekte im Leser ist das Programm in den Romanen von ROCHE. Welche Möglichkeiten die Kunst des Romans in seiner sprachlichen Implikation hierfür im Gegensatz zum filmischen Medium und zum menschlichen Elementarkontakt des Theaters bietet, wird die nun folgende Analyse der Ekel-Romane aufschlüsseln. Der Einstieg mit ROCHES Romanen dürfte sich vor allem deshalb als sinnvoll erweisen, weil in ihrem Enttabuisierungsprogramm auf fiktionaler Ebene eine Phänomenologie des Ekels aufgespannt wird, die auch aufschlussreich für die Untersuchung aller weiteren Werke dieser vitalaffektiven Dimension sein wird.
1. Nausea et Taedium Ekelphänomene im Roman
Die Romane des zugrundegelegten Korpus dieser Dimension bedienen – mit unterschiedlichen Gewichtungen – zwei miteinander verwobene Kategorien des Ekels, wodurch deutlich wird, dass er ein ausschließlich anthropologisches Phänomen ist1: Die Figuren erleben erstens sinnlichen Widerwillen in Konfrontation mit Ekelhaftigkeiten, was oft bis zur höchsten Form des Affekts, dem Erbrechen führt, weshalb dieser physisch-sinnliche Ekel als Nausea bezeichnet werden soll. Daneben sind die sich Ekelnden gemäß des LUKÁCSCHEN Romanverständnisses problematische Individuen, die innerlich nicht mit der äußerlichen Welt in Einklang sind.2 Diese Form des Ekels, der geistige Widerstand gegen das Leben und all seine sozialen Strukturen, wird als Taedium bezeichnet. Obwohl letzterer Überdruss weniger ein Affekt ist, ist er dennoch dem Ekelphänomen zuzuordnen, zumal – wie noch zu zeigen sein wird – eine lebensüberdrüssige Romanfigur meist auch mit ekelhaften Sinneseindrücken konfrontiert wird bzw. ein geschärftes Auge dafür hat oder selbst eklig wird. Ekelromane sind meist auch Krisenromane,3 d. h. sie sind stark problembezogen und selbst die als trivial geltenden Werke wie die von ROCHE und in Ansätzen auch Helene HEGEMANN sind nicht ausschließlich auf Unterhaltung ausgerichtet.
1
Tiere können sich nicht ekeln, vage vergleichbar damit ist lediglich ihr Fluchtreflex in
2
Lukács, G.: Die Theorie des Romans. S. 64.
3
In der geselschaftspolitischen Dimension kann dann die Frage gestellt werden, ob Krisen-
Gefahrensituationen.
romane auch Ekelromane sind.
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U NTERHALTUNGSLITERARISCHE P HÄNOMENOLOGIE E NTTABUISIERUNG DES E KELS
UND
Die Debatte um den literarischen Gehalt von ROCHES Romanen resultiert aus einer Problematik, die allgemein jegliche Beschäftigung mit Ekelthemen betrifft: dass Ekel ein intimes Thema ist – nach der Maxime „Sag mir wovor du dich ekelst, und ich sag dir wer du bist“ – und deshalb immer unter dem biografischen Verdacht steht. So stellt MENNINGHAUS richtigerweise für die Ekelforschung fest, was auch für provokative Romanautoren und Künstler im Allgemeinen gilt: „Jede Studie über Ekel läuft nämlich Gefahr, ebenso viel über den Autor wie über seinen Gegenstand zu offenbaren.“4 So werden die gegen Ekeltabus ankämpfenden Ich-Erzählerinnen und Protagonistinnen bei ROCHE – Helen Memel in Feuchtgebiete (2008) und Elizabeth Kiehl in Schoßgebete (2011) – in der öffentlichen Debatte mit der Persönlichkeit der Autorin identifiziert. Dass diese, bzw. ihre Erzählerinnen, einen Hang zu Ekelthemen haben, stellt sie vor ein Legitimationsproblem, wie es die Filmschaffenden oder Theaterregisseure und -autoren im darstellenden bzw. performativen Medium weit weniger haben: Im Ich-Roman steht die „eklige“ Erzählerin im Fokus und damit verbunden in der Öffentlichkeit die Autorin.5 Ekelthemen haben ein Se4
Menninghaus, W.: Ekel. S. 33.
5
Bestätigt wird diese These der unterschiedlichen medialen Wirkung von „EkelKünstlern“ durch die Verfilmung von Roches Roman Feuchtgebiete. Das Drehbuch erfindet Handlungselemente hinzu; die Verfilmung stellt also deutlich ein eigenes Kunstwerk dar. Der Film selbst erregte zwar Aufmerksamkeit (einer der erfolgreichsten deutschen Filme des Jahres 2013, er erhielt kontroverse Kritiken), doch gab es trotz der schöpferischen Leistung neuer und spezifisch filmischer Ekelmotive weder eine Skandalisierung der Persönlichkeit des Drehbuchautors (Claus Falkenberg) noch des Regisseurs und Co-Autors David F. Wnendt. Weit weniger als die Autorin Roche wurden die Filmschaffenden mit den figuralen Ekel-Vorlieben und den Abjekt-Bildern in Verbindung gebracht. Der Befund, dass dieser durchaus von starken Erregungs- und gar Schockpotenzialen durchdrungene Film keine große Skandalisierung nach sich zog (von Verboten des Trailers auf öffentlichen Internetplattformen wie Facebook abgesehen), widerspricht der These, dass, so Türcke, „jeder Bildschock Druckerschwärze blaß neben sich erscheinen läßt“, weil man „ihre Zeilen der Reihe nach entschlüsseln“ muss. Dies deutet auf eine medialformale Veränderung des Romans um 2000 hin: Roches Roman ist sprachlich so simpel verfasst, dass er in der Konkurrenz der Medien nicht nur bestehen kann, sondern es sogar schafft, die Wirkung von Filmbildern an Schockhaftigkeit zu übertrumpfen. Dem inneren Gedankengang der Helen Memel gelingt es in seiner Simplizität und durch den ausgelösten Bilderstrom in der Leserimagination, die Beschwernis der schriftsprachlichen Linearität des Romans zu überwinden und somit gegen die allgemeine mediale Bilderflut um
E KELPHÄNOMENE IM ROMAN
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riositätsproblem, weil sie nach William MILLER die allgemeinen sozialen Ambitionen unterlaufen, Pietäten über Sexualität und körperliche Intimität – menschliche Würde im Allgemeinen – aufrechtzuerhalten.6 Dass dies in ROCHES Anti-HygieneRoman das offensive Programm ist, reizt, regt auf, empört – und ist somit eine inhaltlich-thematische Strategie der Aufmerksamkeitserregung par excellence in der Medienkonkurrenz. So bewegen sich ROCHES Romane zwischen medialem Sensationismus und emanzipatorischer Befreiung von spezifisch weiblichen Hygienezwängen. Insbesondere die illustrierte Ausgabe des Erstlingswerks Feuchtgebiete dürfte damit ganz in der Tradition der naturalistischen Schreibweise und Malerei von Henry MILLER stehen, der für die Kunst fordert: Keine Blicke durch Schlüssellöcher mehr! Keine Masturbation im Dunkeln! Keine Geständnisse mehr über sexuelle Erlebnisse! Reißt die Türen aus den Angeln! Ich will eine Welt, wo die Vagina durch einen einfachen, ehrlichen Schlitz dargestellt ist, eine Welt, die ein Gefühl für Knochen und Umrisse hat, für starke Grundfarben, eine Welt, die Respekt vor ihrem tierischen Ursprung hat. Ich habe es satt, mir dauernd frisierte, entstellte, entartete, idealisierte Votzen anzusehen.7
Indem ROCHES Roman Feuchtgebiete autodiegetisch fokalisiert ist, d. h. die achtzehnjährige Hauptfigur Helen Memel selbst die Erzählerin ist, wird die Enttabuisierung von Hygiene- und Sexualthemen aus ihrer subjektiven Sicht vorgenommen: Wegen entzündeter Analregion und Hämorrhoiden im Krankenhaus liegend reflektiert sie aus den präsentischen Krankenszenen heraus sowohl ihre eigene Persönlichkeit und Vergangenheit als auch die Zwänge, die einem Mädchen in der hygienisierten Gesellschaft aufoktroyiert werden. Sie selbst legt aus emanzipatorischen Gründen keinen großen Wert auf Hygiene, sinnbildlich – aber nicht experimentellorthografisch, wie es die schriftliche Medialität des Romans generell erlaubt8 – schreibt sie diese klein:
2000 zu bestehen. Türcke, Ch.: Erregte Gesellschaft. S. 292. Zum Abgabezeitpunkt der vorliegenden Arbeit stand noch keine DVD des Films zur detaillierten Analyse zur Verfügung. Feuchtgebiete. Regie: David F. Wnendt, D 2013. 6
Miller, William Ian: The Anatomy of Disgust. 2. Auflage. Cambridge et al.: Harvard University Press 1997.
7
Zitiert nach: Gorsen, Peter: Das Prinzip Obszön. Kunst, Pornographie und Gesellschaft. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1969. S. 6.
8
Vgl. hierzu die Analyse des Amazonen-Romans Die Emanzen sind los von B. Hoffmann in Kapitel IV.1.
142 | II. DIE V ITALAFFEKTIVE DIMENSION Hygiene wird bei mir kleingeschrieben. Mir ist irgendwann klar geworden, dass Mädchen und Jungs unterschiedlich beigebracht kriegen, ihren Intimbereich sauber zu halten. Meine Mutter hat auf meine Muschihygiene immer großen Wert gelegt, auf die Penishygiene meines Bruders aber gar nicht. Der darf sogar pinkeln ohne abwischen und den Rest in die Unterhose laufen lassen.9
Konsequent ist das Einhalten der korrekten Orthografie insofern, als die Protagonistin Helen keine Figur ist, die eine schriftliche Erzählung – wie etwa ein Tagebuch – verfasst, sondern ihre Reflexionen bestehen quasi nur als Worte in ihrem eigenen Kopf und dienen der Selbstunterhaltung zur Vermeidung von Tristesse: Was kann ich denn jetzt mal machen, um mich von meiner langweiligen Einsamkeit abzulenken? Ich könnte darüber nachdenken, was ich in meinem jungen Leben schon alles für nützliche Dinge gelernt habe. Damit kann ich mich selber gut unterhalten, ein paar Minuten wenigstens.10
Sie unterhält sich quasi selbst mit intimen Details und Gedankengängen über Ekel und Antihygiene, ohne die schriftliche Unterhaltung eines Lesers zu intendieren. ROCHES Helen Memel ist im Grunde gar keine Erzählerin, sondern eine Denkerin, ja gar eine Philosophin des Ekels. Vielleicht ist das auch mit ein Grund dafür, dass die Öffentlichkeit die Autorin mit der Figur verwechselt. Dem Leser wird suggeriert, dass er hier nichts erzählt bekommt, sondern in die Figur selbst „hineinfühlen“ und auch „hineinlesen“11 kann. Diese Figur identifiziert er mit ROCHE, weil er quasi ihre Gegenwart teilen darf, um die Welt aus Helens bzw. ROCHES Augen zu sehen. Durch die Unterdrückung der Erzählkonventionen wie Leseransprache oder die Distanzierung durch das Präteritum gerät die Tatsache, dass es sich hier „nur“ um einen Roman handelt, leicht in Vergessenheit. 9
Roche, Ch.: Feuchtgebiete. S. 20.
10 Ebd., S. 132. 11 So traut sie sich endlich ihren Vater zu fragen, was er eigentlich genau von Beruf ist und „notiert“ es sich dann: „‚Papa, was bist du eigentlich von Beruf?‘ ‚Ist das dein Ernst? Du weißt das nicht?‘ ‚Nicht so genau.‘ Eigentlich überhaupt nicht. ‚Ich bin Ingenieur.‘ ‚Aha, und fändest du es gut, wenn ich Ingenieurin werden würde?‘ ‚Ja, aber du bist zu schlecht in Mathe.‘ Papa tut mir oft sehr weh. Merkt es aber nie. Ingenieurin. Ich schreibe es mir im Kopf auf und lese noch mal: Eigenurin.“ Ebd., S. 231.
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Über dieses Mittel der gesteigerten Subjektivität – die Narration ist nur für Helen selbst gedacht und der Leser in seiner Imagination als Voyeur mit dabei – kann der Roman ein Maximum an Intimität suggerieren. Dadurch wird das Spezifikum dieser literarischen Gattung nach KUNDERA deutlich, unbekannte, subjektive Seinsaspekte aufdecken zu können,12 im Kontrast zu den Performanzen im Theater. Helen Memel im Theater würde eine Performanz bedeuten, bei der die Darstellerin permanent Monologe hält, ohne das Publikum zu beachten. Sie stellt sich selbst Fragen oder Forderungen,13 und ihre Gedanken sind – im Gegensatz zum authentischeren stream of consciousness, der die assoziative, nicht grammatikalisch und sprachlich verständlich artikulierte Gedankensprache nachahmt – in dialogischer Umgangssprache ausformuliert. Allein dadurch wird die Subjektivität der Figur für den Romanrezipienten verständlich.14 Hierin verdeutlich sich ein weiteres Merkmal von Romanfiguren: Helen ist bei all ihrem Selbstbewusstsein als Anti-Hygienikerin auch eine problematische Persönlichkeit, die nicht in Einklang mit den sozialen Konventionen lebt. Erstens leidet sie unter dem Leitsatz „Darüber spricht man nicht“, was auch ihre vage frühe Kindheitserinnerung betrifft, in der Helen ihre Mutter zusammen mit dem kleinen Bruder vor dem aufgedrehten Gasofen beim versuchten Selbstmord auffindet. Zweitens leidet sie auch darunter, durch ihre Hygieneverstöße und ihre Hämorrhoiden „unmädchenhaft“ zu sein. Durch „diese[n] modernen Rasierzwang“, dem auch sie sich „unterworfen“15 hat, hat sie sich eine Analfissur zugezogen, die operiert werden muss. Die Schuld am Hygienezwang gibt sie mitunter der Werbung. Tatsächlich ist diese allgemein „das Fachgebiet für Schmutz und Reinheit schlechthin.“16 Ihre Slogans schreiben sich, wie Helens innere Monologe verdeutlichen, in die Schönheits-
12 Kundera, M.: Die Kunst des Romans. S. 37. 13 „Kapier das doch, Helen! Hör auf, dir selber weh zu tun, indem du dich immer in diese unmögliche Schleife reindenkst.“ Roche, Ch.: Feuchtgebiete. S. 156. 14 Ein Beispiel für die künstlerisch-künstliche Versprachlichung von an sich blitzartigen Gedankenfetzen, die der Leser, nicht aber die anderen Figuren teilen dürfen, ist auch folgende Konstruktion: „Ich denke ihm [dem Pfleger Robin. Anm. N.U.] noch hinterher: Pass auf, wegen Blutaquaplaning.“ Ebd., S. 187. 15 Ebd., S. 10. 16 Karpenstein-Eßbach, Christa: Saubere Weiber – authentische Frauen. In: Konkursbuch 12/1984. S. 148. Bei Roche sind es die „[g]epflegte[n] Frauen“, die dem Bild in der Werbung entsprechen: „Gepflegte Frauen haben Haare, Nägel, Lippen, Füße, Gesicht, Haut und Hände gemacht. Gefärbt, verlängert, bemalt, gepeelt, gezupft, rasiert und gecremt. Sie sitzen steif wie ihr eigenes Gesamtkunstwerk rum, weil sie wissen, wie viel Arbeit darin steckt, und wollen, dass es so lange wie möglich hält.“ Roche, Ch.: Feuchtgebiete. S. 114.
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maßstäbe der Gesellschaft ein: „Alles das Ladyshaven schuld. Feel like Venus. Be a goddess!“17 Von dieser Problematik ausgehend hat die im Krankenhaus liegende Helen nun die Möglichkeit, alle Bereiche des menschlichen Körpers und damit verbunden alle – sonst unterdrückten, versteckten, weggewaschenen oder wegparfümierten – Ekelauslöser zu reflektieren. Hierdurch erlebt der Leser laut einer Kritik in der FAZ ein ganzes „Ekelbad“,18 weshalb das Anzweifeln des künstlerischen Gehalts gerechtfertigt sei. Dessen ungeachtet gibt es aber einen philosophischen Wert, den das Buch durch seine Aufklärung hat: Der Erfolg […] des Buches von Charlotte Roche deutet darauf hin, dass hier etwas zur Sprache gebracht wird, was viele Menschen insgeheim bewegt und was sie einmal gesagt wissen wollen, und sei es nur testweise im Medium der Kunst.19
Testweise kann eine Auseinandersetzung mit jenen „Feuchtgebieten“ stattfinden, von denen der menschliche Gesichts- und Geruchssinn nach FREUD seit der Fähigkeit zum aufrechten Gang getrennt ist: den „Organen der Exkretion, der Zeugung und der Geburt.“20 Der Leser soll sich imaginativ wieder den Gerüchen, der Optik, den Geräuschen und sogar dem Geschmack dieser vor seinen Sinnen eher versteckten, weniger schönen Regionen21 annähern. Denn es kann – wie MENNINGHAUS das Kredo von BATAILLE zusammenfasst – als essenziell angesehen werden, zu erkennen, dass der Mensch mit jenen Objekten und Körperteilen besonders verbunden ist, vor denen er sich ekelt. Nach dieser Sichtweise erhält die Annäherung an das Unschöne einen ästhetischen Wert. ROCHES literarische Revolte richtet sich besonders gegen den Hygienewahn, der dem weiblichen Geschlecht über die Massenmedien anerzogen wurde. Dies ist keineswegs nur ein Phänomen unserer von elektronischen Massenmedien geprägten Zeit, wie KARPENSTEIN-EßBACHS Analyse der „heilkundigen Zeitschrift“ Hygea 17 Ebd., S. 11. 18 Kiesel, Hellmuth: Der Ekel in der Literatur: Der feierlichste Glockenton ist der Rülpser. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/der-ekel-in-der-literatur-der-feierlichsteglockenton-ist-der-ruelpser-1771478.html (06.11.2011). 19 Ebd. 20 Menninghaus, W.: Ekel. S. 275. 21 Freud über die Unschönheit der Genitalien: „Die Genitalien selbst haben die Entwicklung der menschlichen Körperformen zur Schönheit nicht mitgemacht, sie sind tierisch geblieben, und so ist auch die Liebe im Grunde heute ebenso animalisch, wie sie es von jeher war.“ Freud, Sigmund: Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens. In: Sigmund Freud. Gesammelte Werke: chronologisch geordnet. Band 8. Frankfurt/Main: S. Fischer 1955. S. 90.
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von 1793 zeigt: Frauen werden hier als von Natur aus krankheitsanfälliger als Männer angesehen, weshalb sie das Ziel eines mannsgleich gesunden Körpers über das „Ziel eines reinen Körpers“22 erreichen müssten. Ebenso wird dies Helen noch im 21. Jahrhundert suggeriert: Eine andere Muschiregel meiner Mutter war, dass Muschis viel leichter krank werden als Penisse. Also viel anfälliger sind für Pilze und Schimmel und so. Weswegen sich Mädchen auf fremden oder öffentlichen Toiletten niemals hinsetzen sollten.23
Die weiblichen Reinlichkeitsbemühungen kommen bei ihrer Annäherung an das männliche „Ideal“ aber nie an ein Ende – gleich der Häutung24 einer Zwiebel, die nicht an den wesentlichen Kern führt. Diese „endlose Reinigung“25 machen sich die Hygieneindustrie und ihre Werbung zunutze. Ekel-Literatur wie die von ROCHE hat das Potenzial, genau diesen „Gebrauch von Deodorant, Duftduschen, Geruchsstopps im Klosett, Wasserspülung und alle[…] klinischen Maßnahmen zur Versorgung des Körpers“26 zu brüskieren, indem sie sämtliche sinnliche Eindrücke beschreiben und reflektieren kann. Ohne wie Film und Theater die Visualisierbarkeit solcher Körperregionen und ihrer Gerüche bzw. der Mittel ihrer Ausdunstbekämpfung bedenken zu müssen, vermag jede Körperregion samt ihrer Funktionen erforscht zu werden. Die optischen Details von Intimitäten können dabei der Imagination des Lesers überlassen werden und muten deshalb weniger pornografisch an als in einem Filmbild. Außerdem muss keinem Schauspieler zugemutet werden, seine Körperausgänge einer Rezipientenschaft zu präsentieren, und umgekehrt wird diesen nicht zugemutet, sie in ihrer visuellen Authentizität betrachten zu müssen. Kurz gesagt: Der Roman kann sich dem menschlichen Körper viel intimer und detaillierter – bis hin zu Helens Auswüchsen am Anus – nähern als Film und Theater, ohne als pornografisch zu gelten. Somit nimmt die Romankunst von ROCHE „Territorien
22 Karpenstein-Eßbach, Ch.: Saubere Weiber – authentische Frauen. In: Konkursbuch 12/ 1984. S. 151. 23 Roche, Ch.: Feuchtgebiete. S. 22. 24 Karpenstein-Eßbach, Ch.: Saubere Weiber – authentische Frauen. In: Konkursbuch 12/ 1984. S. 148. 25 Ebd., S. 153. 26 Schlaffer, Hannelore: Ekel-Kunst. Ein neuer Stil jenseits der schönen Künste. In: Große Gefühle. Bausteine menschlichen Verhaltens. Hg. v. ZDF-nachtstudio. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. S. 294f. In Feuchtgebiete heißt es z. B. über Raumspray auf öffentlichen Toiletten: „Also, wenn das nicht die ultimative Vergewaltigung durch Hygienefanatiker ist, dann weiß ich auch nicht.“ Roche, Ch.: Feuchtgebiete. S. 21.
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ein, die die Zivilisation verlassen hat“,27 die sonst weder im Gespräch sind noch außerhalb des klinischen und pornografischen Bereichs gezeigt werden. Dass Feuchtgebiete nicht zur Erotik-Literatur zählt, sondern vielmehr eine Art Aufklärungsliteratur ist, mag auch auf die Verbindung von Sexualsphäre und Komik zurückzuführen sein. Nach BACHTINS Verständnis erfüllt Helen eine Narrenrolle: „Eine sehr alte Funktion des Narren besteht […] darin, auch solche Lebenssphären zu veröffentlichen, die – wie die Sexualsphäre – ganz und gar nicht öffentlich sind.“28 Obwohl sie auch verlacht werden, spielen Narren eine essenzielle Rolle für die Aufgabe des Romans, „jegliche Konventionalität, jegliche schlechte, verlogene Übereinkunft in sämtlichen menschlichen Beziehungen zu entlarven.“29 So führt Helen Selbstaufklärungsexperimente durch, die in der transgressiven und oft unschuldig wirkenden überzeichneten Wissbegierde durchaus humoristisches Potenzial haben: Ich habe schon bei vielen Dingen, die mir beigebracht wurden, festgestellt, dass die gar nicht stimmen. Also habe ich mich zu einem lebenden Muschihygieneselbstexperiment gemacht. Mir macht es Riesenspaß, mich nicht nur immer und überall bräsig voll auf die dreckige Klobrille zu setzen. Ich wische sie auch vor dem Hinsetzen mit meiner Muschi in einer kunstvoll geschwungenen Hüftbewegung einmal komplett im Kreis sauber. Wenn ich mit der Muschi auf der Klobrille ansetze, gibt es ein schönes schmatzendes Geräusch und alle fremden Schamhaare, Tropfen, Flecken und Pfützen jeder Farbe und Konsistenz werden von meiner Muschi aufgesogen. Das mache ich jetzt schon seit vier Jahren auf jeder Toilette. Am liebsten an Raststätten, wo es für Männer und Frauen nur eine Toilette gibt. Und ich habe noch nie einen einzigen Pilz gehabt.30
Diese Passage eignet sich auch, um die Modi von Wahrnehmungen und Sinnestätigkeiten im Roman zu erörtern: Über die subjektive Perspektive der denkenden Erzählerin wird im Leser ein optisch-akustisches Imaginationsbild hervorgerufen, gleich dem filmischen Mittel des Zooms: Von der „geschwungenen Hüftbewegung“ quasi in der Halbtotalen leitet die Erzählerin über zur Kadrierung der Klobrille bis hin zu den sich auf ihr befindlichen Details. Diese gelangen dann an die entlegene Körperstelle der Protagonistin, was einer weiteren Detailaufnahme entspricht. Dabei bleibt der Roman nicht bei der Anregung eines optischen Bildes stehen, sondern spricht auch die Imagination von taktilen Sinneseindrücken an: Die Flüssigkeiten auf der öffentlichen Toilette haben die verschiedensten Konsistenzen. Welche genau das sind, kann sich der ekelerregte Leser selbst ausmalen. Somit verbindet sich 27 Schlaffer, H.: Ekel-Kunst. In: Große Gefühle. Hg. v. ZDF-nachtstudio. S. 295. 28 Bachtin, Michail M.: Chronotopos. S. 90. 29 Ebd. 30 Roche, Ch.: Feuchtgebiete. S. 23.
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hier das Stilmittel des nahezu filmischen Zeigens mit dem Potenzial des Romans, Lücken zu lassen, die gedanklich-imaginativ ausgefüllt werden können. Für die Ekelevokation stellt das ein wirkmächtiges Mittel dar, denn bekanntlich liegen die tiefsten Abgründe in der Vorstellungskraft des Menschen selbst. Auch die Illustrationen der Autorin ROCHE in der vorliegenden Ausgabe lassen der Phantasie des Lesers diesen Freiraum. Es sind Strichzeichnungen, die gemäß des livre d’artiste nach Breon MITCHELL die Geschichte nicht nacherzählen, sondern vielmehr die Interpretation der Autorin selbst abbilden bzw. erklären – z. B. was die unbequeme „schwebende Hockhaltung“31 von Frauen auf öffentlichen Toiletten ist. Sie zeigen dem Leser die Bilder, die der Autorin vor Augen stehen32 und entbinden ihn trotzdem nicht von der Produktivität, selbst Vorstellungen zu entwickeln. Allein in der Imagination entstehen die Ekelbilder dieses Romans, denn selbst wenn ROCHE einen Anus mit Hämorrhoiden33 oder ein eingewachsenes Haar34 zeichnet, bleibt dies schematisch und ist von der Rezeption ekliger filmischer Detailaufnahmen weit entfernt. Im Grunde sind es hygienische Skizzen von „unhygienische[n]“35 Körperregionen, wie Helens Pfleger Robin sie nennt. Unhygienisch sind sie wegen der Sekrete und Exkremente, die durch diese Öffnungen nach außen treten. Es sind organisch tote Produkte, die vom Körper ausgeschieden werden und den Menschen damit beständig an die eigene Sterblichkeit erinnern.36 Darin, dass in dieser Vanitas-Erinnerung der Schlüssel für alle Ekelaffekte liegt, sind sich die Ekel-Forscher einig.37 Darum ist es folgerichtig, dass ROCHE die Aufschlüsselung und Enttabuisierung der Ekelphänomene mit einer Operation am Anus
31 Ebd., S. 22. 32 Vgl.: Mitchell, Breon: Das illustrierte Buch als Livre d’Artiste: Eine zeitgenössische Perspektive. In: Literatur und bildende Kunst: ein Handbuch zur Theorie und Praxis eines komparatistischen Grenzgebietes. Hg. v. Ulrich Weisstein. Berlin: Erich Schmidt 1992. S. 105. 33 Roche, Ch.: Feuchtgebiete. S. 9. 34 Ebd., S. 144. 35 Ebd., S. 27. 36 Solch ein Produkt sind auch die Hämorrhoiden, die Helen aber betrachten möchte, bevor sie der endgültigen Entsorgung anheimfallen: „‚Lieber Betäuber, wäre es möglich, das, was die da bei der Operation wegschneiden, nachher zu sehen? Ich mag das nicht, wenn man mir was wegschneidet und das einfach im Müll landet, zusammen mit den Abgetriebenen und Blinddärmen, ohne dass ich mir ein Bild davon machen kann. Ich will das selber mal in der Hand halten und untersuchen.‘“ Ebd., S. 16. Das Weggeschnittene bekommt sie dann aber nicht als ganzes Stück, sondern als „Gulasch“. Ebd., S. 84. 37 Vgl. z. B. Rosenkranz, K.: Ästhetik des Häßlichen. Hg. v. D. Kliche. S. 294. Oder über das Moment der Fäulnis bei: Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 30f.
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beginnt und sich ähnlich der Phänomenologie von KOLNAI zu fast allen erdenklichen Facetten des Ekels – bis hin zum Tod38 – vorarbeitet. Im Krankenhaus, dem Ort ihres sowohl szenischen als auch reflexiven Entekelungsprogramms, muss Helen alle Scham ablegen39 und sich selbst, die anderen Figuren und den Leser anekeln: „Habe ich vom Papa gelernt. Dingen auf den Grund gehen, bis man fast kotzen muss.“40 Sie macht sich über sämtliche Tabus Gedanken und will Zugang zu ihrer entlegensten Stelle bekommen, wobei sie auf Reaktionen anderer angewiesen ist. Durch das Krankenhauspersonal kann sie erahnen, und damit auch den Leser erahnen lassen, wie eklig ihre Wunde aussieht: „Es muss sehr entzündet aussehen. Alle, die reinkommen, sagen: ‚Oh.‘ Und reden was von Eiter und einer prall gefüllten Wundwasserblase, die aus dem Poloch raushängt.“41 Um sich selbst ein Bild davon machen zu können, lässt sie ihre operierte Wunde vom Pfleger Robin fotografieren und konfrontiert den behandelnden Arzt mit dem Bild. Sein Ekel-Erlebnis scheint zwischen Fotografie und Realität zu divergieren, wobei durch seinen Widerwillen wiederum die Bilder im Kopf des Lesers angeregt werden: Er guckt hin und schnell wieder weg. Er ekelt sich vor seinem eigenen Operationsergebnis. Er wollte mir schon vorher nicht richtig erklären, was er da vorhat. „Sagen Sie mir wenigstens, wie rum ich das halten muss, um zu wissen, wie ich da aussehe.“ „Das kann ich Ihnen auch nicht sagen. Meiner Meinung nach ist das Foto zu nah aufgenommen. Ich kann selber nicht sagen, wie rum es gehört.“42
Helen weiß, dass andere die Körperflüssigkeiten, Öffnungen und Wunden – den unter der Hautoberfläche „tobenden Chemismus“43 – der Mitmenschen nicht sehen
38 „Alles wird [bei der Verwesung] einfach aufgefressen. Die angebliche Seele, das Gedächtnis, jede Erinnerung und die Liebe werden zusammen mit dem Gehirn einfach zu Wurmscheiße verarbeitet. Auch die Augen. Und die Muschi. Da machen Würmer keinen Unterschied. Die essen Synapsen genauso gerne wie Klitorisse. Denen fehlt da der größere Überblick, was oder wen sie eigentlich gerade verspeisen. Hauptsache lecker!“ Roche, Ch.: Feuchtgebiete. S. 191. 39 „Nix ist mehr peinlich. Ich bin Arschpatientin. Das sieht man, und so benehme ich mich auch.“ Roche, Ch.: Feuchtgebiete. S. 81. Vgl. hierzu auch: Fischer, Gisela C.: Ekel als Problem in der pflegerischen Versorgung alter Menschen unter Bezugnahme auf Beispiele aus der zeitgenössischen Literatur. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 26–35. 40 Roche, Ch.: Feuchtgebiete. S. 84. 41 Ebd., S. 12. 42 Ebd., S. 73. 43 Menninghaus, W.: Ekel. S. 123.
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wollen.44 Und doch, oder gerade deshalb, ist all dies Ekelhafte literaturfähig. Denn hier muss der Rezipient anders als in Film und Theater keinen Blick auf Körper und Ausscheidungen wagen und vermag die imaginativen Ekel-Bilder gewissermaßen selbst zu steuern. Anders als im Kino kann er zwar nicht geschwind wegsehen bzw. „weglesen“, denn sobald er eine Textpassage überspringt, verpasst er einen Teil der Handlung bzw. Gedankengänge der Figur (außerdem erfordert die Entscheidung, eine Passage wegen ihres Ekelgehalts zu überspringen, immer zumindest ihr Anlesen). Aber der Romanleser vermag die Intensität der Vorstellungsbilder intentional abzumildern, indem er das Gelesene „nicht so sehr an sich ranlässt“, wie es im Kino und vor allem im Theater beim Hinsehen oder gar Mitmachen zwangsläufig der Fall ist. Es ist meistens weniger physiologisch eklig, beispielsweise von Wunden oder Blut, Eiter, Kot und Co. anderer Menschen zu lesen, als dies sehen oder gar wie im Ekeltheater riechen zu müssen. Denn, wie Roland BARTHES es treffend ausdrückt: „écrite, la merde ne sent pas“.45 In ROCHES zweitem Roman Schoßgebete (2011) wird die fiktionale Phänomenologie des Ekels ganz im Sinne KOLNAIS46 fortgesetzt. Ging es in der Geschichte um Helen Memel vorwiegend darum, die vermeintlich ekligen Körperöffnungen und -säfte als natürlich anzunehmen, erstrecken sich die Ekelmotive hier auch auf häusliche Themen wie Nahrung, Krankheitsansteckung in der Familie, Hausspinnen und auch moralische Aspekte. Ausgangspunkt ist das ständige Bestreben der 33jährigen Protagonistin Elizabeth Kiehl, eine enttabuisierte, glückliche Ehe zu führen dank einer geistigen Hygiene, die sie über eine Therapie zu erlangen versucht: „Ich bin eine brave Mutter und Ehefrau. Ich versuche meine dreckige Psyche zu reinigen, für unsere gesunde Zukunft, als Familie, als Liebespaar.“47 Die homodiegeti44 Z. B.: „Wer weiß schon, wie die benutzten Tampons von anderen Mädchen aussehen? Na, gut. Wer will das überhaupt wissen? Außer mir. Ich weiß.“ Roche, Ch.: Feuchtgebiete. S. 123. 45 „Geschrieben stinkt Scheiße nicht“. Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola. Paris: Éditions du Seuil 1971. S. 140. 46 Aurel Kolnai unterscheidet in Ekel, Hochmut, Haß neun Hauptgegenstände des physisch Ekelhaften, von dem die Fäulnis der Urgegenstand ist: Tod, Exkremente, Sekrete, Klebendes, ekelerregende Tiere/Insekten, Speisen, menschlicher Leib, wucherndes Leben, Krankheit und Verwachsenheit. Davon grenzt er das moralisch Ekelhafte ab: Überdrussekel wie z. B. vor Inzest, übermäßig entfaltete Vitalität, Verlogenheit und Ekel vor moralischer Weichheit. 47 Roche, Ch.: Schoßgebete. S. 55. Nach der Therapie fühlt sie sich hygienischer: „Ich klopfe mir innerlich auf die Schulter, weil ich wieder mal was Gutes geleistet habe, für meine geistige Gesundheit, für die Hygiene in der Familie, die psychische Hygiene. Ehehygiene.“ Ebd., S. 185.
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sche Ich-Erzählerin ist hier folglich eine Hygienikerin auf psychischer Ebene – eine Mission, der Elizabeth ihr ganzes Dasein unterordnet. Zur Ehehygiene gehört eine tabulos ausgelebte Hypersexualität, die die Erzählerin mit ihrem Mann und mit Prostituierten auslebt. Dessen, dass hieraus interessante Geschichten entstehen – zumal auch in der Medienkonkurrenz –, ist sich die Erzählerin, deren Narration sich als eine Art mentales „Lebensbuch“48 an sie selbst, an die Leser und auch an die Figur der Therapeutin richtet, durchaus bewusst. So reflektiert Elizabeth am Ende einer Sitzung: [Therapeutin:] „So, die Zeit ist schon rum, Frau Kiehl. Bis morgen dann und viel Spaß im Bordell, egal, was ich davon halte. Ja?“ Das macht die doch auch geil, oder? Muss doch. Mein Mann sagt oft, die müsste mir eigentlich Geld geben, für die ganzen geilen Geschichten, die ich ihr immer erzähle. Andere würden dafür viel Geld bezahlen. Ja, ja, aber die würden nicht so kluge Sachen zurücksagen.49
Der Roman offenbart die enge Verbindung von Ekel und Sex, wie sie auch Psychologen erkennen: Denn „mit dem Eintritt der sexuellen Intention tritt […] eine […] Umwandlung der negativen in eine positive Reaktion gegenüber den Objekten des Ekels ein […].“50 Die „Aufdringlichkeitsstruktur von Sexualität“51 ist folglich nur dann nicht abstoßend, wenn die sexuelle Begierde die Ekelschranke transzendiert. Wenn die Erzählerin etwa vom Intimgeruch ihres Mannes berichtet und diesen ekelerregt genießt, bedeutet das nicht, dass auch der im Akt des Lesens sexuell indifferente Rezipient sich an den ekligen Beschreibungen der Sinneseindrücke der Erzählerin erfreut: Ich rieche seinen männlichen Geruch. Ich finde, der ist nicht sehr weit weg vom weiblichen. Wenn er sich nicht direkt vorm Sex geduscht hat, und wann macht man das schon, wenn man so lange zusammen ist wie wir, hat der eine oder andere Urintropfen schon angefangen zu gären zwischen Eichel und Vorhaut. Es riecht wie die Küche meiner Oma, nachdem sie auf dem Gasherd Fisch gebraten hat. Augen zu und durch. Es ekelt mich ein wenig, gleichzeitig aber erregt mich dieser Ekel.52
48 Ebd., S. 53. 49 Ebd., S. 183. 50 Kafka, Gustav: Zur Psychologie des Ekels. In: Zeitschrift für angewandte Psychologie. Leipzig: Barth 1916. S. 28. 51 Liessmann, Konrad Paul: „Ekel! Ekel! Ekel! – Wehe mir!“ Eine kleine Philosophie des Abscheus. In: Kursbuch 129. Ekel und Allergie. September 1997. Hg. v. Karl Markus Michel et al. Berlin: Rowohlt 1997. S. 108. 52 Roche, Ch.: Schoßgebete. S. 8.
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Diese Stelle zeigt auch, dass die Sprache zur Beschreibung von olfaktorischen Wahrnehmungen meist auf Vergleiche – häufig aus dem gustatorischen Bereich – zurückgreift. Gerüche gehen auf Geschmäcker zurück, wie auch beide Sinne im Rachenraum eng miteinander verbunden sind. Ein Geruch dieser intimen Art kann selbst im postdramatischen Theater, das dem Publikum prinzipiell auch degoutante Geruchserlebnisse zu bescheren vermag, nur sprachlich, über die Rede einer Figur, beschrieben werden. Künstlerische Ekeleindrücke in der Sexualität sind im Allgemeinen so intim, dass ihre Darstellungen in allen hier untersuchten medialen Formen meist auf die Rede/Beschreibung durch eine Figur/einen Erzähler angewiesen sind. ROCHES Erzählerin verfügt dabei über besonders empfindliche „Geruchs- und Geschmacksknospen“53, was sich auch in der Verbindung von Küche und Ekel offenbart. Auf die Affinität von Geschlechtstrieb und Ekel verweist auch Elizabeths Vorliebe für körperliche Mäkel und Alterserscheinungen.54 Mit der Beschreibung des kaputten Ellenbogens und der Hautkrebsnarbe ihres Mannes55 erregt sie Abscheu im Leser,56 während sie selbst von dieser visuellen Verbindung zum Tod und der Stärke, die ihr Mann gegen diesen aufgebracht hat, fasziniert ist. Generell lässt sich in ROCHES Romanen eine häufige Divergenz zwischen dem Ekel der Figur und der potenziellen Ekelevokation im Leser diagnostizieren. Die Erzählerinnenfiguren sind fast frei von Ekelaffekten, weshalb die Beschreibung derselben redundant ist. Ihre eigene Nausea erzählt Elizabeth lediglich im Zusammenhang mit den denkbar drastischsten Abjekten: Erstens ist dies ihr eigener Wurmbefall, der die beiden Ekelkategorien Exkremente und Gewimmel verbindet.57 Szenisch schildert Elizabeth ihren Selbsttest, bei dem sie die Parasiten mithilfe eines Tesafilms am After prüft. Auf das sich ihr bietende Bild reagiert sie mit Übelkeits- und Hassbekundungen:
53 Ebd., S. 24. Sie kann „bei Obst rausschmecken […], was vorher mit dem Messer geschnitten wurde, und davon, wenn es Zwiebeln oder Knoblauch waren“ muss sie „fast kotzen“: „Wenn Sachen, die eigentlich süß schmecken sollten, herzhaft schmecken, könnte ich durchdrehen.“ Zum Ekel vor Speisen vgl. Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 35. 54 „Das ist mein Schönheitsideal bei Männern. Mit Krampfadern, Besenreisern, Blutschwämmchen am Rumpf.“ Roche, Ch.: Schoßgebete. S. 75. 55 „Kräftige weiße, behaarte Arme und ein ganz komisch rausstehender verkrüppelter Ellbogen, irgendeine Art Überbein steht da raus, vollkommen mit Narben überzogen. Das Phantom der Oper, nur am Ellbogen!“ Ebd., S. 33. 56 Vgl. hierzu: Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 38. 57 Vgl.: Ebd., S. 34.
152 | II. DIE V ITALAFFEKTIVE DIMENSION Zum Vermehren brauchen die frische Luft, wie wir. Ekelhaft! Mir wird schlecht, wenn ich sie so tanzen sehe, wie auf Speed zu Techno. Mann, sind das perverse Tiere. Ich fühle mich befallen, ich bin ein Wirt für Parasiten. Ich hasse es, Mutter zu sein.58
Das ästhetische Vermögen des Romans wird hier evident, indem die Narration einen Gegenwartseindruck mittels der Zeitform des Präsens wie im Film vermittelt und den Rezipienten mit in die Szene nimmt. Der Leser „sieht“ mit den Augen der Figur/Erzählerin und bekommt gleichzeitig vermittelt, was diese hierbei fühlt. Im Theater wäre ohne Zuhilfenahme technischer Detailaufnahmen und die Transformation des inneren in einen äußeren Monolog eine solche Parallelität von ekelhaften Details und psychischer Reaktion der ekelaffizierten Figur nicht denkbar. Dafür aber muss im Modus der Ich-Erzählung der Eindruck der Ekel-Mimik und Gestik entfallen, wie es etwa der Film zeigen oder die Er-Erzählung beschreiben kann. Kurz: Die Ekelaffekte von Elizabeth werden allein durch innere Monologe bzw. Ich-Narration und auch über Figurendialoge vermittelt: Rein dialogisch äußert sich Elizabeths Ekelaffekt z. B. im Zusammenhang mit der Auskunft ihrer Therapeutin, dass die anderen Patienten ohne Hemmungen ihre Praxistoilette benutzten: „Die anderen Patienten gehen auch hier.“ „Ja, toll, von Ihren anderen Patienten will ich auf dem Gebiet erst recht nichts hören. Iiihhh. Sie sind so ekelhaft, das jetzt ins Spiel zu bringen. Also wirklich, jetzt wird mir auch noch schlecht bei dem Gedanken.“59
Im Gegensatz zu ekelaffizierten Dialogen in Film und Theater muss sich der Leser die Prosodie und Lautstärke dieser erzählerisch unkommentierten verbalen Ekelreaktion selbst vorstellen. Da der Ekelaffekt aber ubiquitär ist, kann auch die auditive Ebene dieses alltagssprachlichen Dialogs empathisch imaginiert werden. Weiterhin empfindet Elizabeth moralischen Ekel vor der Verlogenheit und Sensationsgier der Massenmedien – besonders der sog. „Druck-Zeitung“60 –, die sie nach dem Unfall ihrer Brüder belästigt haben. Gemäß KOLNAI wendet sich diese Form des Abscheus nicht gegen simplere Alltagslügen oder Lügenpathologie, sondern gegen die Gewissenlosigkeit, die „innere Gleichgültigkeit gegen Wahr und Unwahr“,61 in diesem Fall die Indifferenz gegenüber pietätvoll und pietätslos. Dieser Ekel vor moralischer Verkommenheit drückt sich in Vokabeln aus wie „Drecksschreibtischtäter“,62 „Schweine“, „Leichenfledderei“, „Vergewaltigung“,63 „Blut58 Roche, Ch.: Schoßgebete. S. 88. 59 Ebd., S. 51. 60 Ebd., S. 162. 61 Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 44. 62 Roche, Ch.: Schoßgebete. S. 139.
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gafferpornografen“ und „Emotionsporno“.64 Fast die gesamte Phänomenologie des Ekels findet hier Eingang: der Ekel vor Dreck, Fäulnis, vor dem Inneren des Menschen ebenso wie die Verbindung von Sex und Ekel. Um diese Kategorie des misanthropischen Ekels soll es in der nun folgenden Analyse der Romane von Helene HEGEMANN und Michel HOUELLEBECQ gehen. Die Form des Romans scheint prädestiniert zu sein für die künstlerische Auseinandersetzung mit Taedium, dem Abgestoßensein von der Welt. HEGEMANNS Werk lässt sich dabei weder auf inhaltlicher noch auf formaler Ebene festen Kategorien zuordnen: Inhaltlich – auf den Ekel bezogen – schwankt es zwischen Taedium und Nausea, formal zwischen unterhaltender und „ernster“ Literatur, medial zwischen Roman, Film, Theater und Internet, künstlerisch zwischen Selbstfindungsprozess und Plagiat.
Z WISCHEN W AHN , T AEDIUM UND N AUSEA: L ITERARISCHE E XPERIMENTE MIT E KEL Mit dem Gefühl des Lebensüberdrusses und der sperrigen, teilweise schlicht unverständlichen Schreibweise65 reiht sich HEGEMANNS 2010 erschienener Roman Axolotl Roadkill66 literaturgeschichtlich nicht etwa nur in die Reihe von bockiger Jugendunterhaltung ein,67 sondern steht sogar in der Tradition von Jean-Paul SARTRE. Dessen Roman La nausée von 1938 taucht in die gleiche Form des Ekels ein wie die Werke von HEGEMANN und HOUELLEBECQ: Es handelt sich um ein Überdrussgefühl, das nicht durch bestimmte Gegenstände, Abjekte, ausgelöst wird, sondern sich allgemeiner „auf das eigene Leben als Ganzes, aber auch auf den eigenen Leib, die eigene Person und gelegentlich auch auf den Raum oder die Gegend, in der man sich befindet“68, bezieht. Nach Ulrich DIEHL verbindet sich dieser psychische Lebensekel nur selten mit dem physischen Ekel vor bestimmten Ekelobjekten. Für die hier untersuchten Romane um 2000 lässt sich aber feststellen, dass gerade diese negative Sicht auf die Welt mit einer Neigung zu Nausea-Themen einhergeht, bei denen zumindest eine Affizierung des Lesers mit Ekel intendiert zu sein scheint, z. B. 63 Alle ebd., S. 163. 64 Beide ebd., S. 166. 65 Vgl. hierzu die Kritik von Rapp, Tobias: Das Wunderkind der Boheme. http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,672725-2,00.html (09.11.2011). 66 Hegemann, Helene: Axolotl Roadkill. Berlin: Ullstein 2010. 67 So stellt die Ich-Erzählerin Mifti über ihre eigenen Wahnvorstellungen fest: „Früher war das alles so schön pubertär hingerotzt und jetzt ist es angestrengte Literatur.“ Ebd., S. 9. 68 Diehl, Ulrich: Lebensekel, Sinnkrise und existentielle Freiheit. Philosophische Bemerkungen zu Jean-Paul Sartres Roman Der Ekel. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 67.
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dadurch, dass die Figuren sich häufig übergeben oder ihre wahnhaften Ekelvorstellungen in allen Details unterbreiten. Die Erzähler-Hauptfiguren von Ekel-Romanen evozieren Degout durch schonungslose Narrationen von gesellschaftlich tabuisierten Bereichen; sie selbst scheinen aber gegenüber den meisten Abjekten ekelresistent zu sein bzw. thematisieren ihren eigenen Ekelaffekt nur selten. HEGEMANNS autodiegetische Erzählerin Mifti empfindet ähnlich wie ROCHES Erzählerinnen kaum Nausea.69 Fernab des figuralen Ekelempfindens gilt aber für die Romane um 2000: Wo Taedium vorherrscht, sind auch Nausea-Motive nicht weit.70 Ihre Vermengung wird gleich zu Beginn in der aufgelisteten Problemkonstellation der 16-jährigen Mifti offenbar: O Gott, ist das alles schrecklich. 1. Ich habe meine von Analsex, Tränen und Leichenschändung geprägte Patchworkgeschichte verloren. 2. Ich habe eine offene Entzündung im Rachen. 3. Meine Familie ist ein Haufen von in irgendeiner frühkindlichen Allmachtsphase steckengebliebenen Personen mit Selbstdarstellungssucht. Im äußersten Fall wird von deren Seite aus mal ein popkultureller Text über die Frage verfasst, weshalb die Avantgarde TROTZDEM bauchtanzt, aber das war’s dann schon.71
Diese drei Problemsphären beschreiben zugleich alle Themen, die diesen Roman inhaltlich und formal in der Medienkonkurrenz ausmachen: Punkt eins kann übertragen werden auf das Umfeld, aus dem Mifti ursprünglich stammt: Bevor ihr kulturschaffender Bohème-Vater sie unter seine wohlstandsverwahrlosende72 „Obhut“ nahm und Mifti zu ihren Halbgeschwistern Annika und Edmond zog, lebte sie verwahrlost bei ihrer alkoholkranken Mutter. In diesem Milieu Eins ist sie/Mifti wild 69 Z. B. ist sie durch den Drogenkonsum indifferent sowohl gegenüber eigenem als auch fremdem Erbrochenem: „Um mich abzutrocknen zerre ich ein türkisfarbenes Laken aus der Schmutzwäsche, das die letzten beiden Monate gemeinsam mit zwei vollgekotzten Kleidungsstücken in einem großen Behälter verbracht hat. Ist das die Kotze eines Wildfremden, der mich in einer stark frequentierten Unisextoilette überrascht hat? Ist das meine Kotze? Bringt mich das mir jetzt irgendwie näher? Ich fange offenbar echt an, die wichtigsten Details zu vergessen.“ Hegemann, H.: Axolotl Roadkill. S. 12. 70 Siehe hierzu auch die Verbindung von Ekel und wirtschaftlicher Krise in Kapitel III. 71 Hegemann, H.: Axolotl Roadkill. S. 12. 72 Ebd., S. 16. Der Begriff grenzt die Verwahrlosung in Intellektuellenkreisen von der Verwahrlosung in ärmeren Subkulturen ab, wie jene, aus der die Figur Mifti ursprünglich stammt, ebenso wie der reale Blogger Airen, von dem Hegemann Textstellen übernommen hat.
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aufgewachsen,73 und aus diesem Milieu beziehen sie, d. h. Mifti und die Autorin HEGEMANN, ihre „Patchworkgeschichte“, zusammengesetzt aus – auf fiktionaler Ebene – eigenen Erinnerungen und durch Drogen ausgelösten Wahnvorstellungen und aus – auf der realen Ebene der Autorin – Blogeinträgen über Drogen- und Partyexzesse aus dem Internet. Aus Milieu Drei dagegen schreibt sie nicht ab, schöpft aber aus dem sie hier umgebenden breiten Wissensfundus über Theater- und Filmpraxis, Musik und Kunst im Allgemeinen. Der Zwischenpunkt Zwei – präsentische körperliche Befindlichkeiten – bietet dagegen das Repertoire für schonungslos geschilderte, teilweise eklige Zustandsbeschreibungen. Die drei Sphären verwoben, ist der Roman das Experiment einer Webkopistin, die sich aus unterschiedlichen, anfangs nicht genannten Quellen74 wie des Bloggers Airen bedient. Das postmoderne Intertextualitätsexperiment wurde zum Bestseller, während Airens Blog und seine als Buch publizierten Auszüge mit dem Titel Strobo der breiteren Öffentlichkeit unbekannt blieben. Er ist ein Autor, der im Gegensatz zum „Wunderkind der Boheme“, wie Der Spiegel titulierte, einer unteren Subkultur entstammt und sogar anonym bleiben muss, um sich die Chancen auf dem Arbeitsmarkt nicht zu verbauen. Ekel-Literatur scheint in der Medienkonkurrenz meist nur dann Erfolg zu haben, wenn der Autor/die Autorin nicht aus einer niedrigen Schicht stammt. Hier soll es aber nun nicht darum gehen, dass die Ekel-Autorin ROCHE eine bekannte TV-Moderatorin ist und HEGEMANN die Tochter des renommierten Theaterregisseurs Carl HEGEMANN. Interessanter für die Forschungsfrage der Medienkonkurrenzen von Roman, Film und Theater ist der experimentelle Umgang mit Textsorten verschiedener medialer Formen, die sich hier zu dem radikalen – in Buchform geschlossenen, inhaltlich offenen – Werk Axolotl Roadkill formiert haben. Für die Verbindung von Wahn und Lebensekel eignen sich intertextuelle und intermediale Strategien im Roman, da diese Kunstform nicht nur für tiefenpsychische Vorgänge offen ist, sondern ebenfalls für andere Gattungen und mediale Produkte und damit auch für die sprachliche Übernahme von fremdem Gedankengut.75 Die von ihrem Bruder Edmond mit einem „Roadkill“,76 einem angefahrenen Tier,77
73 Vgl. Hegemann, H.: Axolotl Roadkill. S. 23. 74 Daher rührten die Plagiatsvorwürfe des Bloggers Airen, von dem Hegemann ohne Quellenangaben kopierte. Vgl. hierzu Rapp, Tobias: Aus Ernst wird Spiel. Der Spiegel 7/2010. S. 128–139. Und: Hage, Volker: Tanz der Texte. In: Der Spiegel 8/2010. S. 116– 117. 75 Die Romanform ist die der fast unbegrenzten Freiheit, die sich Hegemann sowohl formalmedial als auch inhaltlich nimmt. Vgl.: Kundera, M.: Die Kunst des Romans. S. 93. 76 Hegemann, H.: Axolotl Roadkill. S. 190.
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verglichene Erzählerin hat Schwierigkeiten, ihre eigenen Gedanken von fremdem Gedankengut zu unterscheiden.78 Letzteres schreibt sich ihr aus high- und lowKunstformen sowie aus den Massenmedien – z. B. das Eingangszitat des TVSenders Pro7 „We love to entertain you“ – und aus Sachtexten etwa der DJCulture79 ein. Mifti „wurde eine Sprache einverleibt“,80 die nicht ihre eigene ist. In der Informationsgesellschaft um 2000 sind Zitate kaum mehr von eigenen Reflexionen zu unterscheiden, womit eine Auflösung des geistigen Eigentums in der Kunst, wie HEGEMANN sie definiert, einhergeht. Die Rechtfertigung von intertextuellen und intermedialen Bezugnahmen und Kopien wird hier der Figur Edmond in den Mund gelegt: Licht und Schatten, genau, weil meine Arbeit und mein Diebstahl authentisch werden, sobald etwas meine Seele berührt. Es ist egal, woher ich die Dinge nehme, wichtig ist, wohin ich sie trage.81
Durch Verschaltungen und Interferenzen entsteht ein neues Narrativ, das sich nicht nur die Texte anderer Künstler einverleibt – und sie oft ekelerregend ausscheidet! –, sondern sich auch der ästhetischen Mittel anderer Medien bedient. Zum Beispiel beschreibt Mifti einen ihrer Trips wie einen Film – d. h. ohne romaneske Deutung und sprachliche Vermittlung der psychischen Ebene – in einzelnen kurzen Wahrnehmungsbildern: „Wie gesagt: Stahl [Wände]. Wodkapfützen, Körperteile, Münder, Haare, Schweiß, Leberflecken in Achselhöhlen, auf den Oberarmen einer PRVolontärin tätowierte deutsche Jagdterrier, rohes Fleisch und Stroboskoplicht.“82
77 Das titelgebende Tier ist ein Axolotl, ein nachtaktiver, fast pinkfarbener mexikanischer Schwanzlurch mit einem freundlichen Lächeln. Es verlässt das Lurchstadium nie, d. h. wächst nicht heran. Vgl.: Ebd., S. 138. 78 Ebd., S. 9f. 79 Ebd., S. 15. 80 Ebd., S. 49. 81 Ebd. Die Rechtslage, wie Theisohn sie zusammenfasst, kommt dieser Auffassung entgegen: „Die Gesetzgebung nimmt […] ausdrücklich und zu Recht darauf Rücksicht, dass Literatur einen Textdiebstahl meist nicht einfach begeht, sondern ihn auch inszeniert; dass sie ihr Diebesgut in poetische Konzepte einbindet, arrangiert, kurzum: dass der plagiatorische Akt selbst wiederum einen literarischen Wert besitzen kann.“ Theisohn, Philipp: Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte. Stuttgart: Alfred Kröner 2009. S. 7. 82 Hegemann, H.: Axolotl Roadkill. S. 36.
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Damit geht Axolotl Roadkill intentional über das Potenzial des Romans hinaus, die Gattung der seelischen Befindlichkeiten zu sein83 und wird stattdessen zum Seismograf eines neuen Remix-Lebensgefühls im medialen Informationszeitalter. Darin wird nicht mehr zwischen AutorIn und ErzählerIn unterschieden, weil sämtliche Gedanken, Erlebniswelten und medialen Eindrücke ineinander übergehen. Anders als in Film und Theater bleibt dieses Interferenzgeflecht aber in der Form des Romans unweigerlich an die Sprache gebunden. Dieses Angewiesensein auf die Sprache begründet auch Miftis Sexualneurose: Sie ekelt sich vor Sex – hat ihn aber dennoch rege, z. B. mit einem Taxifahrer, genannt „Scheißtier“84 –, weil ihr dadurch die Begrenztheit der Sprache bewusst wird, die Ekelhaftigkeit dieser unausweichlichen Triebregung zu beschreiben. Worte können niemals so degoutant sein wie erlebte Taten, und auch nicht so eklig wie Filmbilder oder Perversionen auf der Bühne. Die Zeichenhaftigkeit der Sprache lässt es schlicht nicht zu: [I]ch will dieses unanständige Wissen nicht, denn es bedeutet den Verlust meiner Sprache – ich habe in dieser Sexwelt keine Sprache. Nichts daran ist ekelhaft oder von ekstatischen Ausbrüchen durchsetzt oder abscheulich.85
Ebenso wenig sind sprachliche Zeichen mit einem Authentizitätsanspruch versehen, weil sie immer nur abstrakte Mittler in der Kommunikation sind und erst in schauspielerische Handlungen transformiert körperliche Präsenz bekommen. Sprache bietet keine objektiven Indikatoren, über die unterschieden werden kann, ob Mifti Wahnvorstellungen beschreibt oder „authentische“ Begebenheiten. So schließt der Roman mit einem Brief von Miftis Mutter, in dem diese sie als das Böse, das Eklige, das Abjekt schlechthin bezeichnet. Aus der (vermeintlichen) Handlung kann gefolgert werde, dass dieser Brief von Mifti selbst wahnhaft im Namen ihrer Mutter, die bereits tot ist, verfasst wurde; die Worte dagegen könnten prinzipiell von überall her kommen, Medienzitate oder textuelle Plagiate sein: Du bist inzwischen kein Kind mehr, sondern ein Abbild des Teufels. Du bist Dreck, den wir nur schweigend aus der Welt schaffen können. […] Du bist Abschaum, Schatz, du bist die Krätze, und ich hoffe, dass du weißt, dass dein Lächeln inzwischen Risse aufweist. […] Es macht mich wirklich krank, wenn ich all die Scheiße höre, die du von dir gibst.86
83 „Ich persönlich würde mich wirklich freuen, wenn Sie als Publikum in diesem geschilderten Abend etwas Brauchbareres finden, das über das Individuell-Psychologische der Autorin hinausgeht.“ Ebd., S. 51. 84 Ebd., S. 114. 85 Ebd., S. 115. 86 Ebd., S. 204.
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Hier schließt sich der Kreis zum Taedium: Indem Mifti die Texte ihrer Zeit aufnimmt und zu – in diesem Sinne – „Zitat-Scheiße“ verarbeitet, ist der Roman eine Art Panoptikum des neuen Zeitgeistes. Aus den diversen Textsorten der unterschiedlichen Medien formiert sich eine Sprache des Lebensekels und des vulgären Nausea-Vokabulars. Dieser angesammelte „Dreck“ wird wiederum von der Verfasserin des Briefs – wer immer sie nun ist, Mutter, Mifti oder imaginative Leserschaft – angewidert zur Kenntnis genommen. Das Eklige sind die Intertextualitäten und Intermedialitäten, kurz: der Remix des 21. Jahrhunderts. In Michel HOUELLEBECQS Roman Ausweitung der Kampfzone87 von 1999 ist es der Ekel vor einer Person, der eine wichtige Funktion hat: „Das Ekel“ ist Raphaël Tisserand, der Kollege des Ich-Erzählers Michel. Einerseits löst Tisserand durch sein abstoßendes Äußeres und sein Auftreten Nausea aus, anderseits verifiziert er auch die These von der Ausweitung der Kampfzone auf das Gebiet der Sexualität, was wiederum mit ein Grund für das Taedium vitae des Erzählers ist. Der Erzähler – wie Tisserand Informatiker in einer Softwarefirma – beschreibt die experimentelle Ausgangsposition dieses degoutanten Figurentypus wie folgt: Raphaël Tisserands Problem, der Urgrund seiner Persönlichkeit sozusagen, besteht in seiner Häßlichkeit. Er ist so häßlich, daß er die Frauen abstößt und es ihm nicht gelingt, mit ihnen zu schlafen. Er versucht es trotzdem, mit allen Kräften, aber es funktioniert nicht. […] Er hat exakt das Aussehen einer Büffelkröte – fleischige, grobe, breite, deformierte Züge, das genaue Gegenteil von Schönheit. Seine glänzende Aknehaut scheint unaufhörlich ein fettiges Sekret auszuschwitzen. […] Schlimmer ist, daß es seiner Art der Konversation völlig an Finesse, Phantasie und Witz mangelt; er hat nicht den mindesten Charme (Charme ist eine Eigenschaft, die manchmal Schönheit ersetzen kann – jedenfalls bei Männern […]).88
Da Tisserand bei seinen Mitmenschen regelrechte Ekelaffekte hervorruft, die der Erzähler über den Gesichtsausdruck der Frauen und deren Fluchtreaktion beschreibt – „verkrampft[es …] Gesicht zu einem Ausdruck unwillkürlicher Abneigung“ und „die Mädchen stehen auf und gehen“89 –, bestätigt er das zentrale Theorem des Romans: dass der sexuelle Liberalismus die Ausweitung der Kampfzone bedeutet, die bisher nur auf dem Gebiet der Wirtschaft bestand. Das Gut „Sex“ sei ungleich verteilt, weshalb es wie im Wirtschaftssystem Gewinner und Verlierer gibt.90 Als Ekelobjekt steht Tisserand auf der Seite der Verlierer. 87 Houellebecq, Michel: Ausweitung der Kampfzone. Berlin: Wagenbach 1999 (Französisches Original: Extension du domaine de la lutte. 1994). 88 Ebd., S. 55f. 89 Ebd., S. 61f. 90 Ebd., S. 99.
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Dieser gesellschaftliche Wandel – der egoistische Konkurrenzkampf auf dem Gebiet der Sexualität durch die Liberalisierung von Ehe und Beziehungsformen – erfordert eine neue Ästhetik des Romans. Denn für den Beweis dieser These benötigt der Roman keine psychische Ebene mehr mittels innerer Monologisierung von Gefühlen. Ekel-Themen zur Bestätigung der simplen Strukturiertheit der Welt vermitteln sich ebenso über narrative Nüchternheit, weshalb die Ausweitung der Kampfzone als Ich-Erzählung zwar romanspezifisch ist, aber ebenso dialogisch in einem Film und sogar im Theater umgesetzt werden könnte. Ja, nach Thomas STEINFELD wird das Geschichtenerzählen insgesamt obsolet in einer Welt, in der statt emotionaler zwischenmenschlicher Beziehungen die Gesetze von Angebot und Nachfrage das Verhalten bestimmen: „Der Roman kann in der Indifferenz nicht existieren, die dünne Luft der Abstraktion entzieht sich dem epischen Zugriff“.91 Beziehungen und große Liebesgeschichten gibt es in dieser durch Egoismus geprägten Zeit kaum noch, was der Gattung des Romans laut dem Erzähler Michel neue Schreibweisen abverlangt: Das fortschreitende Verlöschen menschlicher Beziehungen bringt für den Roman allerdings einige Schwierigkeiten mit sich. Wie soll man es anstellen, diese heftigen Leidenschaften zu erzählen, die sich über mehrere Jahre erstrecken und deren Wirkungen manchmal über Generationen hinweg spürbar sind? Von den Sturmhöhen haben wir uns weit entfernt, das ist das mindeste, was man sagen kann.92
Darum beschränkt sich der Erzähler auf eine „knappere, ödere“,93 ja wissenschaftsanalytischere Form von Roman, die sich auch in der Narration von Nausea- wie Taedium-Ekel zeigt. Ekelmomente finden sich in einer Abfolge von autobiografischen Geschichten, die aber nur eine Skizze vom Leben sein sollen, nur eine „Ahnung von Realismus“94 geben, indem das Schreiben hier Linien nachzeichnet. HOUELLEBECQS Roman kann deshalb angesehen werden als die „Blätter, die den Ekel vor der Welt andeuten“. Abjekte und Lebensekel werden mehr soziologisch denn romaneskpsychologisch abgehandelt, d. h. ohne tiefer in damit verbundene Gefühle einzutau91 Steinfeld, Thomas: Einleitung. In: Das Phänomen Houellebecq. Hg. v. dems. Köln: Du Mont 2001. S. 14. 92 Houellebecq, M.: Ausweitung der Kampfzone. S 43. In einer auf Konkurrenz und Selbstliebe fokussierten Gesellschaft, so spielt das Zitat an, ist eine romantische Liebe wie in Emily Brontës Roman Wuthering Heights (dt. Sturmhöhe) und damit die Form des psychologisch-tragischen Erzählens kaum noch denkbar. Vereinbar mit Houellebecqs Romanfiguren ist allerdings, dass in Wuthering Heights mit Heathcliff ein bösartiger Charakter zum Hauptakteur wird. 93 Ebd. 94 Ebd.
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chen. Selbiges ist zugleich der Vorwurf, der Michel im Sanatorium gemacht wird, in das er sich aufgrund seiner Depression hat einweisen lassen: Sie [die Doktorandin der Psychologie. Anm. N.U.] warf mir vor, in zu allgemeinen, zu soziologischen Worten zu sprechen. Ihrer Meinung nach war das uninteressant: Ich sollte mich vielmehr selbst einbringen, mich wieder auf mich besinnen.95
Die Sprache des Ekels führt bei HOUELLEBECQ deshalb – außer in der Beschreibung ekliger Gestalten wie Tisserand – kaum Adjektive, die eine Ansteckung des Lesers mit Ekel hervorrufen könnten. Kurz gesagt: Ekel wird einfach behauptet, ohne dass auf degoutante Details eingegangen wird: „Ich liebe diese Welt nicht. Ich liebe sie ganz entschieden nicht. Die Gesellschaft, in der ich lebe, widert mich an; die Werbung geht mir auf die Nerven; die Informatik finde ich zum Kotzen.“96 Ekel ist hier oft kein Affekt mehr, sondern die allgemeine Befindlichkeit und Reaktion auf die im erzählerischen Experiment nachgewiesenen Diagnosen der pathologischen Welt.97 Das Aufstellen und Verifizieren von Thesen – wie in der Wissenschaft – und der Ekel der Romanfigur vor der Bestätigung derselben ist unweigerlich an die Vermittlung durch Sprache gebunden. Abstrakte Zusammenhänge wie die Verbindung von sexueller Kampfzone und Ekel in und vor ihr könnten auch in Film und Theater nur sprachlich vermittelt werden, d. h. die Bemühung einer Voice-OverStimme oder die Transformation der Thesen (und der Ekel vor ihnen) in Dialoge wäre unabdingbar. Das Ziel des Erzählers ist hierbei, durch den Schreibprozess das eigene Leiden bzw. Ennui etwas zu lindern.98 Für Michel – der sich übrigens nicht vom Autor HOUELLEBECQ separiert sieht99 – ebenso wie für den Leser kann durch das „Eintauchen in den Schlamm, in das Verworfene, in die absolute Niedertracht“ nach STEINFELD eine Katharsis erwirkt werden. Vergleichbar mit der Rezeption der misanthropischen Thesen in Johann Carl WEZELS Roman Belphegor von 1776 ist aber auch die Ablehnung, der Widerwillen gegen literarisches Taedium, ein naheliegendes Reaktionsmuster.100
95 Ebd., S. 145. 96 Ebd., S. 82. 97 Eine Krankheit des Lebens ist z. B. das Altern: „Es bleiben nur noch Verbitterung und Ekel, Krankheit und Warten auf den Tod.“ Ebd., S. 113. 98 Ebd., S. 16. 99 Vgl. auch: Wroblewsky, Vincent von: Zu Lebens- und Weltentwürfen bei Sartre und Houellebecq. In: Denken/Schreiben (in) der Krise – Existenzialismus und Literatur. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2004. S. 507. 100 Vgl.: Ebd., S. 505.
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Bis zu diesem Punkt der Untersuchung der Romane der vitalaffektiven Dimension konnte der Eindruck gewonnen werden, dass die Ich-Erzählung, die Autofiction einer Protagonistenfigur, die prädominante literarische Form zur Darstellung von Ekel-Themen ist. Ekel wird evoziert durch die Möglichkeit des Lesers, in die intimsten körperlichen und geistigen Regionen der Ich-Erzähler vorzudringen. Abjekte können in diesen Romanen durch deren Augen gesehen werden – wenn auch an den meisten Stellen der Ekelaffekt der Romanerzähler hinter dem des Lesers zurücktritt –, und Taedium vermag über deren Perspektive auf die Welt miterlebt zu werden. In den folgenden zu analysierenden Romanen wird die Hässlichkeit der Welt nicht mehr über den Blick singulärer Erzählfiguren gezeigt, sondern es sind extradiegetische Erzählungen. Über Selbstmord oder Unfälle befreien sich die von den Erzählern beobachteten Figuren aus dem Lebensüberdruss, wobei der Akt des Sterbens und das Totsein (letzteres in JELINEKS Roman Die Kinder der Toten) selbst als eklig beschrieben werden.
AUSWEGE
AUS DEM
T AEDIUM : S ELBSTMORD
UND
(U N -)T OD
Der erste Satz des 1992 erschienenen Romans Schlafes Bruder von Robert SCHNEI101 erinnert an eine zu Vermarktungszwecken formulierte Logline, die das Genre, den Protagonisten und die Handlung nennt: „DAS ist die Geschichte des Musikers Johannes Elias Alder, der zweiundzwanzigjährig sein Leben zu Tode brachte, nachdem er beschlossen hatte, nicht mehr zu schlafen.“102 Der Wir-Erzähler103 – der aber nicht als ein Kollektiv von pluralen Erzählern zu erkennen ist – berichtet rückblickend vom ekelerregend hoffnungslosen Leben eines musikalischen Genies, das an der moralischen Verwerflichkeit der Dorfgesellschaft und einer hoffnungslosen Liebe zerbricht. Das Dorf Eschberg im mittleren Vorarlberg ist geprägt von Inzest, welcher nach KOLNAI dem Überdrussekel zuzuordnen ist:
DER
Es liegt etwas ungewöhnlich Schales, grauenvoll-süßlich Anödendes in dem Gedanken, daß die ursprünglich […] familiäre Gemeinschaft noch das Sexualleben in sich aufnehme, ein Vorbild einknickender Lebensstrom-Verdickung.104
101 Schneider, Robert: Schlafes Bruder. Leipzig: Reclam 1998 (1. Auflage 1992). 102 Ebd., S. 9. 103 „Die Welt dieses Menschen und den Lauf seines elenden Lebens wollen wir [Hervorhebung N.U.] beschreiben.“ Ebd. 104 Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 40.
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In SCHNEIDERS Roman wird der Ekel vor Inzest durch die Schilderung der daraus hervorgehenden devianten Physis und auch durch das, was der Erzähler nicht sagt, d. h. der Leserphantasie überlässt, evoziert: DIE Aufgabe, Leben und Bräuche der Lamparter und Alder in einem Buch niederzulegen, die Vermischung beider Geschlechter mit präziser Feder […] glücklich zu entwirren, die körperlichen Inzuchtschäden, den überdehnten Kopf, die geschwellte Unterlippe im tiefliegenden Kinn als gesundes Ursein zu verteidigen, diese Aufgabe mag sich ein Freund der Heimatgeschichte stellen […],105
nicht aber der Erzähler dieser Geschichte. Seine Narration schneidet immer wieder Geschehensmomente an, die er für den Plot für nicht relevant und dadurch nicht erzählenswert erachtet. In der Präsenz der Schauspieler im Theater und auch in Filmbildern sind solche Andeutungen auf die Äußerlichkeiten von Darstellern und Komparsen schwer umsetzbar – auf visueller Ebene gibt es nur Zeigen oder NichtZeigen.106 Bei SCHNEIDER sind die devianten Körper nicht signifikant für den Handlungsfortgang und müssen folglich über diese Andeutung hinaus nicht wieder beschrieben werden. Im realistisch gedrehten Film von Joseph VILSMAIER107 lässt sich dieses Ignorieren der Darstellung des öffentlichen Dorflebens freilich nicht umsetzen – die Nebendarsteller und Komparsen samt ihrer körperlichen Behinderungen sind omnipräsent und erinnern beständig an die Blutschande. Obwohl das Wunderkind Elias gesund ist, durchlebt es eine Blitzpubertät zum körperlich erwachsenen Genie: Die Metamorphose zu einer abstoßenden, monströsen Physis wird detailliert und ekelerregend beschrieben: Der kleine Körper fing an, sich zu verändern. Jäh traten die Augäpfel aus ihren Höhlen, ja stülpten sich über die Lider und dehnten sich bis unter die Augenbrauen. Und der Flaum seiner Brauen verklebte sich auf der tränenden Netzhaut. Die Pupillen flossen auseinander und quollen über das gesamte Weiß der Iris. Ihre natürliche Farbe, das melancholische Regengrün verschwand, und es trat ein gleißend ekelhaftes Gelb an ihre Stelle.108
Die Kunstformen Film und Theater müssten bei einer solch ekelhaften Darstellung der zu einer undefinierten Masse zerlaufenden Augen dagegen mit der Physis eines realen Schauspielkörpers kalkulieren109 und könnten phantastische Phänomene dieser Art allein über technische Effekte herstellen, was in Schlafes Bruder aber nicht 105 Schneider, R.: Schlafes Bruder. S. 12. 106 Vgl. z. B. ebd., S. 51. 107 Deutschland 1994/‘95. 108 Schneider, R.: Schlafes Bruder. S. 35. 109 Schlaffer, H.: Ekel-Kunst. In: Große Gefühle. Hg. v. ZDF-nachtstudio. S. 286.
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zu dem rational-analytischen Narrationsduktus insgesamt passen und in ein Horrorgenre überleiten würde. Vermutlich ist dies mit ein Grund für die starke Reduzierung der physischen Eindrücke in VILSMAIERS Adaption, in der Elias’ Pupillen lediglich einen braungelblichen Glanz erhalten. Auch die körperliche Transformation ist im puren Schauspiel grundsätzlich nicht in diesem abstoßenden Ausmaß darstellbar, wie der Erzähler sie weiter beschreibt: Nach der Reihe fielen dem Kind die Zähne ein, denn das Zahnfleisch schwand, und es ist unerklärlich, weshalb Elias nicht daran erstickt ist. Dann, ungeheuerlich, wurde ihm das Gliedchen stämmig, und das frühe Sperma rann mit Urin und dem Blut des Nabels in einem dünnen Rinnsal warm die Leistenbeugen hinab. Während des ganzen Geschehens verlor das Kind alle Exkremente des Körpers, vom Schweiß bis zum Kot in ungewöhnlich großen Mengen.110
Die Textstelle verdeutlicht, wie die nicht-szenische Narration im epischen Präteritum parallel zur Vermittlung von Handlung auch die Deutungen des Erzählers einfließen lassen kann, z. B. über dessen Grauensbekundung „ungeheuerlich“ oder die Feststellung, dass das Kind einen „entsetzlichen Anblick“111 bot und das Gelb der Pupillen „ekelhaft[…]“ sei. Dies alles formt die Vorstellung des Lesers zu einem Nausea erregenden Bild. Weiterhin offenbart dieser Abschnitt, dass der Roman ein umfassenderes sinnliches „Bild“ als das bewegte, nicht durch einen Erzähler unterstützte Filmbild bieten kann: Das ästhetische Potenzial des Romans vermag auch sinnliche Eindrücke wie die Wärme der Exkremente zu beschreiben und zur Vorstellung zu bringen. Nach dieser Metamorphose hat Elias das absolute Gehör und nimmt die Widrigkeiten seiner Umgebung als eine Kakophonie wahr,112 ein Gewirr aus sämtlichen Geräuschen, das in der Summe unvorstellbar ist, geschweige denn transponierbar in eine filmische Klanglandschaft oder auf die Bühne. Zumal Elias auch Frequenzen hört und spricht, 113 die für das menschliche Gehör nicht wahrnehmbar und folglich auch nicht authentisch in einem Film zu vertonen sind. Das Leben im hörbar moralisch verkommenen Dorf und die Unmöglichkeit seiner Liebe zu Elsbeth treiben Elias schließlich in den Nausea-erregenden Selbstmord, bei dem er sich einem siebentägigen Schlafentzug aussetzt, der ihm jegliche 110 Schneider, R.: Schlafes Bruder. S. 35. 111 Ebd. 112 Ebd., S. 37. 113 „Er [Elias’ Freund Peter. Anm. N.U.] konnte ja nicht ahnen, geschweige denn hören, daß der Sterbende in Wirklichkeit noch immer redete. Aber seine Stimme erklang in den Hörfrequenzen der Tiere. Er sang im Ultraschall der Fledermäuse, pfiff unhörbar in den Schwingungen der Füchse und Hunde. Die letzte Botschaft seines elenden Lebens mußten die Waldtiere vernehmen.“ Ebd., S. 197.
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Körperbeherrschung nimmt, was sein einziger Freund Peter mit ansehen muss: „Er sah auch, daß dieser nicht mehr imstande war, die Exkremente seines Körpers zurückzuhalten. Vom Schienbein tropfte Urin, und auf der Haut des Märtyrers entdeckte er gelbe, nußgroße Flecken.“114 Nach SCHLAFFER sind es Narrationen dieser Kategorie, die den Publikumserfolg von SCHNEIDERS Roman begründen. Denn diese riefen einen „zunächst verstörenden, dann begeisternden Eindruck“115 hervor, was auch die These von der Weckwirkung durch Ekel in der Kunst stützt. Auf diese Weckwirkung kann sich Elfriede JELINEKS 1995 erschienener Roman Die Kinder der Toten116 nicht stützen. Die vom Taedium vitae befreiten toten Protagonisten Gudrun Bichler, Edgar Gstranz und Karin Frenzel evozieren in ihrem Dasein als Tote bzw. „untote Zombies“117 – die sozusagen ihre letzte Unruhe in der Pension Alpenrose in der Steiermark finden, wo sie sportelnd, kopulierend, masturbierend und mordend ihr Unwesen treiben – ein unablässiges, bis zur Monotonie wiederholtes Ekelerleben. Die Lokalisierung von Ekelthemen in der österreichischen Dorfwelt führt einen Trend fort, den Burkhard MEYER-SICKENDIEK für die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts diagnostiziert: „Die Inszenierung des Häßlichen und Abstoßenden“ sei „in der österreichischen Literatur […] auf geradezu beispiellose Art und Weise vertreten.“118 Sowohl SCHNEIDERS als auch JELINEKS Roman können als sog. „Anti-Heimatromane“119 bezeichnet werden, indem sie das Ekelhafte nicht nur in der Heimat verorten, sondern der österreichischen Kultur und Natur entspringen lassen. Dadurch werden die österreichischen Verhältnisse entblößt.120 Die extradiegetische, über die vergangenen und gegenwärtigen Handlungen der Toten auktorial informierte und präsentisch an den Leser vermittelnde IchErzählerin scheint Figuren und Geschehnissen ganz nah beizuwohnen. Im Prolog wird bereits evident, worin diese Instanz das Übel der Kulisse ihrer Figuren sieht: in der Verbindung der maßlosen österreichischen Natur mit dem maßlosen Tourismus. So kommt es gleich im Prolog zu einer Kollision, zu einer Verspeisung der Bus-
114 Ebd., S. 196. 115 Schlaffer, H.: Ekel-Kunst. In: Große Gefühle. Hg. v. ZDF-nachtstudio. S. 286. 116 Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995. 117 Schenkermayr, Christian: Die Kinder der Toten (Roman). http://www.univie.ac.at/ jelinetz/index.php?title=Die_Kinder_der_Toten_(Roman) (01.04.2010). 118 Meyer-Sickendiek, Burkhard: Ekelkunst in Österreich. Zu den Ab- und Hintergründen eines Phantasmas der 80er. http://parapluie.de/archiv/epoche/ekel/ (15.11.2011). In die Reihe der österreichischen Ekel-Künstler des Theaters sind auch Hermann Nitsch und Werner Schwab einzuordnen. 119 Vgl.: Ebd. 120 Ebd.
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Touristen durch die Natur infolge eines Unfalls, von dem die Erzählerin gnadenlos und ekelassoziativ berichtet: Das Ungeheuer, das vor einem Monat ein Stück von der Straße seitlich abgebissen und in den Bach gespuckt hat, bekommt unerwartet eine Nachspeise serviert, die auch nicht viel genießbarer ist. Nur etwas Garnierung fehlt noch, doch halt, die liefern wir nach: diese blutige Wolljacke zum Beispiel macht sich gut, der heruntergerissene Schuh dort, ja, ein bißchen asymmetrisch, der zweite fehlt, der steckt noch an einem verdreckten, verdrehten Fuß. […] Hier liegen vier Personen, die herausgespritzt sind, natürlich nicht angeschnallt, und jetzt, bunte, farbige Schlagobers- oder Cremepatzen, den steilen Wiesenrain sprenkeln […].121
Eine Assoziation wie diese – von Unfallopfern und Nahrungsmitteln, von Tod und Essen zu Menschenessen – ist in dieser visuellen Vorstellungskraft, wie sie hier entfaltet wird, im Filmbild und in der Theaterkulisse nahezu undenkbar. Die Opfer verteilen sich nicht nur in der mittels Sprache zum Ungeheuer stilisierten Natur, sondern sie sind auch noch in sie gespritzt wie Sahne als Leckerbissen für die Landschaft. Dass die Natur im Allgemeinen sich gegen den Menschen wendet, ist eine abstrakte Vorstellung, die sich nur schwer visualisieren ließe, weil diese keine bestimmbare Gestalt hat, sondern in ihren Einzelphänomenen – wie Berge, Bäume, Früchte, Gräser – zu finden ist. Solche Naturphänomene sind in ihrer fruchtbaren und letztlich verfaulbaren Maßlosigkeit über die Sprache als ekelhaft122 und bösartig zu entlarven: Früchte werden baufällig und sinken, jetzt ist Herbst, aus ihren Stengeln klatschend und prasselnd ins Gras, wo sie aufplatzen, nachdem sie sich so lang im Baum gespreizt haben. Sie 121 Jelinek, E.: Die Kinder der Toten. S. 11. 122 In der Tradition von Charles Baudelaire: „Ich war sogar immer der Ansicht, daß die Natur, in ihrem Blühen, ihrem Sicherneuern etwas Trauriges, Hartes, Grausames an sich hat, fast etwas Schamloses.“ Baudelaire, Charles: Sämtliche Werke/Briefe. Hg. v. Friedhelm Kemp und Claude Pichois. Band 3, Les Fleurs du Mal. München: Heimeran 1975. S. 405. Kolnai kann in der üppigen Fruchtbarkeit von Naturphänomenen gar Ekelhaftigkeit ausmachen: „Vielleicht aber wird der Ekel beim Anblick quellender Brüste, ‚wimmelnder Brut‘ irgendeiner Tiergattung, Fischlaich, ja vielleicht sogar üppig ins Kraut geschossener Vegetation, doch nicht einzig und allein endverlorenen Psychopathen bekannt, wiewohl gewiß nur für solche ein bestimmendes Lebensgefühl sein. Man denke nur an die Beziehung zum Ungeziefer; oder an das Geistig-Ekelhafte der Idee formlos schäumender Vitalität, qualitätsgleichgültiger Drauflosproduktion von Keimen und Brut, die so unabweislich auch die Idee schneller massenhafter Verwesung bei sich führt.“ Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 38.
166 | II. DIE V ITALAFFEKTIVE DIMENSION treffen manchmal genau in die Liegestühle, es ist eben etwas spät im Jahr, da muß man ein Risiko auf sich nehmen, wenn man bleiben möchte.123
Dadurch entmystifiziert JELINEK die Natur und die Anziehungskraft, die sie auf das bürgerliche Bewusstsein, auf die Touristen, ausübt.124 Gleichzeitig ist die Gesamtheit der Natur eine Bühne, auf der „nur Laien auf[treten]“,125 und die gleichzeitig die Darsteller ausleuchtet.126 Der Roman gestaltet sich, als beobachte die Erzählerin ein makabres Schauspiel von Untoten, das in seiner Surrealität in dieser Form aber unmöglich auf einer Theaterbühne aufgeführt werden könnte. Sie ist die einzige Zuschauerin dieses Stücks, das nur über die Sprache kommunizierbar ist, und die Vermittlerin zwischen dem Leser, dem „Erdsohn“,127 und den in der Zeitlosigkeit schwebenden128 Zombies. Dabei kann die beobachtende Erzählerin ganz nah an die toten Nicht-Akteure heran„zoomen“ und sogar wie im Film deren Wahrnehmungsbilder vermitteln. Diese sind dabei von einer Ekelintensität, wie sie für den Film allein im Horrorgenre denkbar wären statt in der high culture, zu der JELINEKS literarisches Werk trotz solch obszöner Passagen über die sexuellen Praktiken der Toten gezählt werden kann: […] sieht man näher hin, Gudrun ist dazu ein wenig in die Hocke gegangen und hat das Ding des jungen Mannes dicht vor ihre Augen gebracht, so führen in diesen scheinbar unversehrten, prallen Schweinsschlauch unzählige Wurmgänge, Tierlöcher, winzige Schlupfsitze hinein, das wimmelt ja geradezu dort drinnen von bis zu drei Zentimeter langen Geschöpfen, da bei der Oberflächenbelüftung pathogene Mikroorganismen nicht inaktiviert werden!129
Dem Roman fehlt die psychische Ebene der Figuren fast gänzlich, da diese nichts mehr empfinden können, weshalb sich Gudrun wundert, dass sich ihrer bei diesem Anblick kein Ekelaffekt bemächtigt.130 Durch die Auflösung der Psyche im Tod haben sich die Figuren vom Taedium gelöst, wie etwa die Studentin Gudrun Bichler, die sich aus Prüfungsangst in der Badewanne selbst zu roter Brühe zerkocht hat.131 Alle Figuren hängen als Untote ohne Gefühle ewig in der Endlosschlaufe der Ge-
123 Jelinek, E.: Die Kinder der Toten. S. 19. 124 Vgl.: Doll, A.: Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek. S. 37. 125 Jelinek, E.: Die Kinder der Toten. S. 24. 126 Ebd., S. 12 und 128. 127 Ebd., S. 29. 128 Vgl.: Ebd., S. 34. 129 Ebd., S. 386f. 130 Ebd., S. 387. 131 Vgl.: Ebd., S. 35.
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genwart fest,132 sind „entsetzlich zugerichtet“,133 zerfallen beständig und können sich wieder aufrichten. Die Toten sind eklig, weil sie die Natur des menschlichen Organismus nicht mehr verbergen können, samt seinen stinkenden Ausscheidungen.134 Kurz: Sie sind zu phantastischen Gestalten geworden, die auf der ewigen, degoutanten Naturbühne beheimatet sind, sicherlich aber nicht auf der klassischen Theaterbühne. Ihr Unwesen – sie richten sich entsetzlich zu, indem sie sich z. B. gegenseitig und auch selbst essen135 – können sie nur über die Sprachgewalt der Erzählerin vermittelt treiben. Dabei reden die Untoten kein Wort, weshalb der gesamte Roman ohne Dialoge auskommt, was etwa in einem Vampirfilm in der Medienkonkurrenz um 2000 kaum erfolgreich wäre, ebenso wenig wie ein dialogfreies Schauspiel im Theater klassischen Paradigmas üblich ist. In JELINEKS Roman fällt die „Stille“ dagegen kaum auf, weil die Sprachartistik der Erzählerin intertextuell etliche „fremde Stimmen“136 wie aus Reklame, Boulevard, Bibel, Philosophie oder Belletristik verarbeitet. Die vielen Assoziationen und Konnotationen beteiligen den Leser an der Konstituierung ekelhafter Imaginationsbilder, indem er die sprachlichen Bedeutungsverschiebungen, ja Sprünge mitmachen muss. Das Grausige wird anders als über Filmbilder nicht nur rezipiert, sondern entsteht im eigenen Kopf, dessen unkontrollierbare Bildermaschine durch die Sogkraft der Sprache der Erzählerin angeschaltet wird. Die Erzählerin fordert die Vorstellungskraft des Lesers sogar explizit ein: Und inmitten all dieses Gestanks und dieses Geschwärmes von Fliegen ist dieser Festgebannte selbst zum Schwärmen schön. […] Man stelle sich vor, ein Recht zu haben, diesen Toten in die Hand zu nehmen und genau zu untersuchen, zwischen Daumen, Zeige- und Mittelfinger, ein Spaziergang wie morgens in feuchtes Gras hinein, erfrischend! Ein Schluck von diesem jungen Verstorbenen, jetzt auch als Diät, zuckerfrei erhältlich.137 132 „So ist für Gudrun immer alles Gegenwart, im Lernen kommt sie auch noch nicht recht vorwärts, denn es gibt ja keine Zukunft, in der sie sich je verbessern könnte, und es gibt auch keinen Aufbruchsort. Es ist jeder Tag derselbe Tag, am Abend enden still die Gedanken, nur um am nächsten Morgen wiederzukehren, unversehrt, ungeklärt, aber von Gudrun wieder mal tüchtig gequält und geschunden.“ Ebd., S. 36. 133 Ebd., S. 177. 134 „Es stinkt durch den Staub dieses nie gelüfteten Ganges, und man sieht die schönste Natur auf dem Fußboden, der junge Mann hat nämlich im Sterben eingekotet, und kleine Häufchen bedecken die Dielen, legen eine Spur bis zur Treppe hinüber, ein Treppenläufer aus Scheiße […].“ Ebd., S.67. 135 „Sie essen mit ihren eigenen Fingern, und, nein, das gibt’s nicht, sie essen ihre eigenen Finger!“ Ebd., S. 206. 136 Doll, A.: Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek. S. 179. 137 Jelinek, E.: Die Kinder der Toten. S. 69.
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Durch diese Ekel-Programmatik, das Abjekte nicht nur zu zeigen, sondern aktiv konstituieren zu lassen – als individuelle Abjektgebilde in den Köpfen der Leser – grenzt sich JELINEKS Erzählerin von den Erzeugnissen der Massenmedien wie auch Mainstreamfilmen ab, die statt Abscheu vorwiegend tränenerregende Emotionalisierungsstrategien verfolgen: „Seit diese Länder ihre Totenfabriken geschlossen haben, haben sie sich mehr aufs Empfinden verlegt, das ist die Medienmedizin, die sie uns jeden Abend in die Augenschluchten eintropfen.“138 Die Involvierung des Lesers in Ekelmomente erfolgt auch durch Fragen – „haben [Sie] gewußt, daß die Gebärmutter am längsten, bis zu eineinhalb Jahren, der Verwesung sich widersetzen kann?“139 – und abstruse Aufforderungen durch die Erzählerin wie: „[O] Gott, da stirbt jemand, zieht ihm rasch das Fleisch vom Fell!“140 All dies ist nicht nur schwer verdaulich, sondern auch, wie es in einem Artikel der FAZ über JELINEK – das „dunkle Herz Europas“ – treffend heißt, „nicht leicht zu schlucken.“141 Das Unvermögen, etwas herunterzuschlucken, ist das Kennzeichen des Ekels schlechthin. Die Verbindung von Ekel und Essen blieb in den hier analysierten Romanen inhaltlich eher ein redundantes Thema. In den nun zu untersuchenden Filmen findet dieses Motiv dagegen regen audiovisuellen Anklang.
138 Ebd., S. 54. 139 Ebd., S. 271f. 140 Ebd., S. 268. 141 Gropp, Rose-Maria: Elfriede Jelinek. Dunkles Herz Europas. http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/buecher/elfriede-jelinek-dunkles-herz-europas-1191496.html (6.11.2011).
2. Anziehend abstoßend Der Ekelaffekt im Film
Mit ein Grund für die diagnostizierte Affektarmut der Figuren in den untersuchten Ekel-Romanen1 mag in der Verbindung der Eigenschaften eines Affekts mit der Medialität der Sprache liegen. Beschreibt ein Erzähler das Gefühl des Abgestoßenseins, wird der Ekel vom Affekt zur Behauptung degradiert, weil er sich in der sprachlichen Vermittlung vom wahrnehmenden Subjekt, dem figuralen Affektträger, entfernt. Dadurch geht dem Ekelaffekt die Entäußerung verloren, wie der Film sie dagegen nach DELEUZE im Affektbild darstellen kann: Er wird ausgedrückt: Der Affekt existiert nicht unabhängig von etwas, was ihn ausdrückt, auch wenn es sich völlig von ihm unterscheidet. Was ihn ausdrückt, ist ein Gesicht, das Äquivalent eines Gesichts (ein in ein Gesicht verwandeltes Objekt) oder sogar ein Satz, wie wir später sehen werden.2
Mit letztgenanntem Satz ist nicht die Äußerung einer affektexternen Erzählinstanz gemeint, sondern vermutlich die im Reflex geäußerten Worte einer affizierten Person, die nicht wie der Erzähler einen raumzeitlichen Abstand zum Affektauslöser hat. Künstlerische Vermittlung eines Affekts ist folglich lediglich in der körperlichen Darstellung direkt, wie sie nur Film und Theater leisten können. Besonders der Film kann dabei im Affektbild – dem adjektivischen Wie der Wahrnehmung einer Figur als eine Großaufnahme – ganz unmittelbar solche blitzartigen Gemütsregungen zeigen. Dabei fehlt meist wiederum die erklärende Stimme, die darauf hinweist, dass eine bestimmte Detailaufnahme – wie ein Gesichtsausdruck, Schweißperlen am Hals oder verkrampfte Hände – Ekel bedeutet. Folglich gilt es in der vitalaffektiven Dimension zu untersuchen, welche Techniken der Film einsetzen kann, um zu 1
Wenn Romanfiguren sich in entsprechenden Situationen überhaupt ekeln, dann wird dies
2
Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 136.
lediglich knapp behauptet und nur selten szenisch beschrieben.
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signalisieren, dass etwas erstens ekelhaft ist und dass es zweitens von einer Figur als ekelhaft wahrgenommen wird. Gibt es hierfür im Film z. B. besondere Designtechniken über bestimmte Farben oder Glanzeffekte, signifikante Kameraführungen, Schnitt- oder Tontechniken? Der Film gibt dem Ekelaffekt Bild und Ton und macht in dem hier zu untersuchenden Korpus entsprechend hoch frequentiert Gebrauch von der unmittelbaren Darstellung sich ekelnder Figuren. Dadurch wird ein Gefühl der Nähe erzeugt, die in der Rezeption Ekel evoziert – eine Wirkung der Kunst, die ambivalent eingeschätzt wird.3 Solche Filme dringen in die drei großen menschlichen Tabubereiche ein – Sexualität, Gewalt und Tod4 – und zeigen die abstoßenden Schattenseiten des Daseins, wodurch sie einerseits Empörung hervorrufen, andererseits aber auch Lust und Faszination. Genau auf diesen Aspekt der Ambivalenz von Ekel verweist auch der Titel des ersten zu untersuchenden Films: Dumplings. Delikate Versuchung.5 Er gehört dem nach Matthias HURST stark ekelaffizierten Genre des „phantastischen und modernen Horrorfilms“6 an. Allgemeiner lässt sich den Ekel-Filmen aber auch das Prädikat „Körpergenre“ zuweisen, da sich hier „die Körperreaktionen scheinbar direkt auf den Zuschauer übertragen“.7 Die Vielzahl von Affektbildern vermag in erster Linie eine hohe Intensität an rezeptiven Affekten anzustreben, weshalb solche Filme nach ELSAESSER und HAGENER meist als „kulturell minderwertig“8 eingestuft werden. Die Zuschauer sehen sich bedrängt von allerlei Körperflüssigkeiten und unmittelbaren, groß gefilmten fiktionalen Reaktionen auf diese. Dadurch werden sie um die ästhetische Distanz, die „Grundregel der modernen Ästhetik“,9 gebracht. Auch neurophysiologisch lässt sich diese in der Filmrezeption geringere Distanz zum Ekelobjekt und der affizierten Figur erklären: Anders als bei der Romanlektüre werden hier die sogenannten Spiegelneuronen im prämotorischen Kortex aktiv.10 Es sind Zellen, die nicht nur bei der Planung von eigenen Bewegungen stimuliert wer3
Vgl.: Hurst, Matthias: Augen-Blicke des Ekels in Roman Polanskis Film Repulsion. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 85.
4
Ebendiese nennt auch Hurst. Ebd.
5
Regie: Fruit Chan, Hongkong 2004.
6
Hurst, M.: Augen-Blicke des Ekels in Roman Polanskis Film Repulsion. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 86.
7
Elsaesser, Thomas; Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung. Hamburg: Junius 2007. S. 154.
8
Ebd.
9
Ebd.
10 Schwender, Clemens; Schwab, Frank: Evolutionäre Grundlagen emotionaler und ästhetischer Medienrezeption. In: Audiovisuelle Emotionen. Emotionsdarstellung und Emotionsvermittlung durch audiovisuelle Medienangebote. Hg. v. Anne Bartsch, Jens Eder und Kathrin Fahlenbrach. Köln: Herbert von Halem 2007. S. 68.
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den, sondern auch bei der reinen Beobachtung von Aktivitäten und sichtbaren Emotionen anderer Personen. Neurologisch laufen folglich in einem Filmzuschauer die gleichen Vorgänge ab wie bei einer genuinen Aktion. Das Betrachten von Ekelaffekten aktiviert somit dieselben Hirnareale wie das eigene Erleben dieses Stimulus.11 Dies setzt eine Nähe voraus, wie sie aller Wahrscheinlichkeit nach weit stärker vom Film und auch der menschlichen Elementarsituation des Theaters erreicht wird als in den eher abstrakten Vorstellungsbildern durch einen Roman. Allgemeine Rezeptionsstudien müssen in dieser Arbeit allerdings außen vor bleiben; stattdessen erfolgt eine Konzentration auf die vom filmischen Produkt genutzten ästhetischen Potenziale zur Ekeldarstellung und damit auch -evokation. Ein filmisches Mittel, das dieses Einfühlen in die Affekte von fiktionalen Figuren fördert, ist der Einsatz von Nahaufnahmen, hier speziell des ekelaffizierten Gesichts. Besonders deutlich lässt sich die Ikonografie des Ekels im Gesicht der Protagonistin in Fruit CHANS Horrorfilm Dumplings von 2004 untersuchen, der in seiner offensiven und delikaten Verbindung von Ekel, Essen und Sexualität den Auftakt des hier zu analysierenden Filmkorpus der vitalaffektiven Dimension bildet.
D ER DELIKAT - DEGOUTANTE W EG : K RIMINELLE I DENTITÄTSSUCHEN IM F ILM Auslöser für den Ekelaffekt der Protagonistin Lee Ching – kurz: Mrs Lee, gespielt von dem chinesischen Popstar Miriam YEUNG – sind die Teigtaschen, sogenannte „Dumplings“ der Köchin Mei (Bai LING). Mei bereitet die Dumplings genussvoll und beinahe liebevoll mit einer ausgefeilten Technik zu. Teigtaschen werden in China seit über 1400 Jahren gegessen, gefüllt sind sie üblicherweise mit Fleisch oder genauer, wie das Rezept in der Hülle der DVD-Edition angibt, mit Krabben, Garnelenschwänzen und Pilzen. Obwohl beim Ekel vor Speisen „die individuellen Verschiedenheiten zu groß sind“,12 um allgemein als abstoßend geltende Lebensmittel festlegen zu können, würde sich wohl vor diesen speziellen Teigtaschen, die Mrs Lee bei Mei essen soll, fast jeder ekeln: Sie beinhalten weder Krabben- noch sonstiges Tierfleisch, sondern menschliche Föten. Das Besondere an der Verbindung von Ekel und Speisen ist nach KOLNAI, dass es sich hierbei nicht um Abjekte, „die uns einfach begegnen“13 handelt, wie eine Spinne, die schlicht beseitigt werden kann, sondern um funktionale Stoffe, welche 11 Vgl.: Ebd. Zu den Spiegelneuronen siehe auch: Bauer, Joachim: Warum ich fühle, was du fühlst. Intuitive Kommunikation und das Geheimnis der Spiegelneurone. 10. Auflage. Hamburg: Hoffmann und Campe 2006. 12 Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 35. 13 Ebd.
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vom Körper aufgenommen, d. h. heruntergeschluckt werden sollen. Um sie überhaupt aufnehmen zu können, darf entweder kein Ekel vorhanden sein, oder dieser muss beseitigt werden. Für Ulrich RAULFF liegt genau hier der Ursprung der Kochkunst, die zwischen den beiden Polen Ekel und Genuss fungiert. Allerdings wolle sie den Ekel nicht beseitigen, sondern kultivieren.14 Genau dies betreibt Mei in ihrer Küche, die zwischen Feuchtigkeit (Blut/Zerhacktes, Eier, Brühe etc.) und Genuss (liebevolles Teigkneten, Naschen, körperliche Reize der Köchin selbst15) einen sowohl anziehenden als auch abstoßenden Eindruck vermittelt. Auch das fertige Gericht in seiner visuellen Detailliertheit hat – zumindest aus der Perspektive von an die westliche Küche gewohnten Zuschauern – diese Eigenschaft, die sehr treffend mit dem untertitelgebenden Adjektiv „delikat“ beschrieben werden kann: sowohl lecker und damit anziehend als auch heikel. Die Detailaufnahme der wie Fische in die schneeweiße Porzellanschüssel flutschenden Dumplings16 visualisiert diese Ambivalenz, die den gesamten Film durchzieht: In ihrem hellen Glanz strahlen sie wie ein Kochkunstwerk aus dem Bild, stoßen aber beim bloßen Gedanken daran, diese in den Mund nehmen zu müssen, wiederum ab. Durch ihre optischen und auch akustischen Eigenschaften sind sie die vergegenständlichte, sozusagen gekochte Intensität, ein Zuviel, wie es auch nach WEZELS Kategorisierung in der Rezeption eklig ist: Nicht anders verhält es sich mit gewissen sehr hellen Farben oder mit der Berührung fetter oder weicher Dinge: Niemand wird leicht ohne einigen Ekel die Hand in fetten Rahm stecken, und die Empfindung ist niemals angenehm, wenn man sehr fleischige weiche Hände alter Leute berührt, die eine klebrige Ausdünstung haben.17
14 Raulff, Ulrich: Chemie des Ekels und des Genusses. In: Die Wiederkehr des Körpers. Hg. v. Dietmar Kamper und Christoph Wulf. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1982. S. 249. 15 Vgl. Dumplings, 00:02:36ff. und 00:08:31ff. 16 Ebd., 00:08:50. 17 Wezel, Johann Karl: Versuch über die Kenntnis des Menschen (1784–1785). Band II. Frankfurt/Main: Athenäum 1971. S. 309.
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Abb. 1: Dumplings. Delikate Versuchung.
Regie: Fruit Chan, Hongkong 2004 (00:08:50).
Über das Mittel der Detailaufnahme kann der Film die Ambivalenz, welche die Ekelauslöser im Allgemeinen auszeichnet, in besonderer Weise dem Zuschauer vorführen (Abb. 1), ohne sie etwa wie im Roman erst sprachlich erklären zu müssen. Die Teigtaschen sind aber nicht nur für diese filmische Theoretisierung des Ekelphänomens als abstoßend und delikat zugleich funktional, sondern auch auf figuraler Ebene haben sie eine aufgeladene Bedeutung: Das in ihnen verarbeitete Fötenfleisch, welches die Köchin und ehemalige Gynäkologin Mei in einer Abtreibungsklinik18 beschafft, verspricht den Traum von ewig jugendlichem Aussehen. Aus diesem Grund hat der einst erfolgreiche Soapstar die Zauber-Köchin aufgesucht. Mrs Lees früherer Glanz ist erloschen und sie steckt in einer Identitätskrise, vor allem weil ihr Mann, Mr Lee (Tony Ka-fai LEUNG), sie nur noch mit Schecks versucht zu befriedigen und sich in einer Affäre mit einer jungen Masseurin auslebt. Bevor Mrs Lee aber die Wirkung des Fötenverzehrs auf ihr Aussehen und ihre Libido erproben kann, muss sie ihren Ekel überwinden und die mit Menschenfleisch gefüllten Teigtaschen kauen und herunterschlucken. An diesen Stellen ermöglicht es der Film, die gestische und mimische Physiologie des Ekelaffekts zu analysieren, wie sie nach Charles DARWIN überall auf der Welt gleich anzutreffen ist.19 Alle optischen und akustischen Ekel-Zeichen verweisen auf das durch Nausea bedingte Bedürfnis des Herauswürgens, der Entledigung des ekelhaften Geschmacks und der abstoßenden Konsistenz sowie hier des Wissens, einen kannibalischen Akt zu be18 Ein kritischer Fingerzeig auf Chinas Ein-Kind-Politik. 19 Vgl.: Menninghaus, W.: Ekel. S. 275.
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gehen. Mrs Lee zeigt alle von Paul ROZIN genannten Komponenten des Ekelausdrucks:20 zunächst das Zusammenziehen der Stirn samt Runzeln der Nase, wenn sie die Teigtasche in den Mund führt, weiterhin der wie zum Ausspucken geformte Mund, aus dem ihr das Dumpling mit einem erschrocken klingenden Würggeräusch wieder nach außen entwischt, dann das Verschließen des Mundes mit der Hand.21 Abb. 2: Dumplings. Delikate Versuchung.
Regie: Fruit Chan, Hongkong 2004 (00:09:35).
Weiterhin hält sie die Hände beim Essversuch verkrampft, und ihr ekelaffizierter Körper, den sie in ihrem Schönheitswahn überlisten will, reagiert mit in der Detailaufnahme gezeigten Schweißperlen im Hals- und Nackenbereich.22 Die Tasche steht wie zur Flucht bereit neben Mrs Lee auf dem Tisch. Auch die Kameraperspektive verdeutlicht, dass der Ekelaffekt in seiner Unwillkürlichkeit den willensgesteuerten Menschen unterordnet, indem sie Mrs Lee von oben kadriert und klein erscheinen lässt (Abb. 2).23 Erst als Mrs Lee bei ihren nächsten Besuchen die entekelte Aufnahme der Dumplings gelingt – mit glatter Stirn, weit geöffneten Augen und entspanntem Mund –,24 nähert sich ihr die Kamera auf Augenhöhe.25 20 Rozin, Paul; Haidt, Jonathan; McCauley, Clark: Disgust. In: Handbook of emotions. Hg. v. Michael Lewis. 3. Auflage. New York: Guilford Press 2008. S. 759. 21 Dumplings. 00:09:31ff. 22 Ebd., 00:12:38. 23 Besonders ebd., 00:09:35. 24 Gemäß Meis Tipp: „Frau Lee, denken Sie beim Essen an das Ergebnis. Nicht an das, was es mal war.“ Ebd., 00:11:14. 25 Ebd., 00:23:29.
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Der wiederum beim Rezipienten ausgelöste Ekel wird auch über die auditive Ebene evoziert: Als Mrs Lee langsam und bedächtig kaut, dringen knirschende Geräusche aus ihrem Mund. Obwohl es nach KOLNAI keinen „Gehörekel“ gibt, wird dieser hier dennoch wirksam, da das Kaugeräusch nicht vom degoutanten Objekt abgebunden ist.26 So weist auch Gustav KAFKA in der Psychologie des Ekels darauf hin, dass die akustische Wahrnehmung eines Geräuschs anders als das Aufnehmen eines abstoßenden Geruchs oder das Ertasten von etwas Ekelhaftem niemals selbst widerlich sein kann, sondern „daß sich der Ekel vielmehr überall nur auf den durch den Inhalt ‚gemeinten‘ Gegenstand richte, daß also zwar eine Flatulenz oder ein Geschwür, nicht aber das Geräusch der Flatulenz oder der Farben- und Formeindruck des Geschwüres ekelhaft sei.“27 Der Film vermag die Assoziation von Geräusch und ekelhaftem Gegenstand noch dichter herzustellen als etwa das Theater, indem er in schnellen Schnittfolgen die Details der delikaten Dumplings – auch halbzerkaut zwischen Essstäbchen und Mund von Mrs Lee28 – mit Nahaufnahmen des affizierten Gesichts simultan zum zwar manierlichen, aber gut hörbaren Kauen verbindet. Die linearsprachliche Medialität des Romans könnte sich dieser Simultaneität lediglich durch Promptheit versuchen anzunähern, etwa indem er die eklige Speise beschreibt, verbunden mit knappen Onomatopoetika wie „Knack“ oder „Krautz“. Um ein Höchstmaß an Ekelevokation zu erreichen, dialogisiert CHANS Horrorfilm das Esserlebnis noch zusätzlich, indem Mrs Lee es genau beschreibt – auch in gustatorischer Dimension, die Bilder allein nicht vermitteln können: Mrs Lee: Ein fader Geschmack, und es hat auch geknirscht, wenn man draufgebissen hat. Mei: Das ist in Ordnung. Im zweiten Monat haben sie schon Hände, Füße und auch Ohren. Es ist alles bereits ausgebildet. Mrs Lee: Das waren Knochen? Mei: Nein, nein. Von Knochen kann man nicht reden. Das nächste Mal werd ich sie kleiner hacken.29
Dumplings setzt alle dem Film zur Verfügung stehenden ästhetischen Potenziale zur Ekelevokation im Zuschauer ein und gilt dennoch nicht als reiner Schocker, son-
26 Vgl.: Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 25. 27 Kafka, G.: Zur Psychologie des Ekels. In: Zeitschrift für angewandte Psychologie. S. 16. Auch für Miller spielt das Hören beim Ekelerlebnis nur eine untergeordnete Rolle und wird erst in der Assoziation oder auch in der Ansteckung mit Nausea relevant, z. B. beim Hören einer Person, die sich übergibt. Miller, W. I.: The Anatomy of Disgust. S. 82. 28 Dumplings, 00:22:27. 29 Ebd., 00:26:40.
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dern als „filmisch-kulinarischer Leckerbissen“,30 der 2005 sogar auf der Berlinale gezeigt wurde. Es muss folglich ein Faszinosum in diesem filmischen Ekelerlebnis liegen, im Mitfühlen des Affekts der Protagonistin. Für LESSING erklärt sich dies bereits aus der Bedingung des Schauspiels, dessen dargestellte unangenehme Affekte klar von der Wahrnehmung der Zuschauer zu trennen sind, wodurch auch der Ekel, das Hässliche, in diesem wiederum angenehm wird: Die spielende Person [hier: Mrs Lee] geräth in einen unangenehmen Affect, und ich mit ihr. Aber warum ist dieser Affect bei mir angenehm? Weil ich nicht die spielende Person bin [bzw. nicht nur die Schauspielerin, sondern die gespielte Person, die Figur. Anm. N.U.], auf welche die unangenehme Idee unmittelbar wirkt; weil ich den Affect nur als Affect empfinde, ohne einen gewissen unangenehmen Gegenstand dabei zu denken.31
Dies mag als Erklärung für das angenehme Mit-Ekeln plausibel sein, stößt aber in jenem Moment an eine Grenze, in dem der Film offensiv über das Schauspiel hinausgeht und seine Visualität dafür einsetzt, mit degoutanten Bildern ekelhafter Speisen gezielt den Zuschauer – und nicht die speisende Figur – anzuekeln. Dass der Film Affekte auch ohne den Umweg über Empathie mit den Akteuren auslösen kann, wird in der Szene evident, in der Mr Lee und seine Masseurin eingeführt werden: Der Playboy isst genussvoll ein Ei, auf dessen widerlichen Inhalt die Kamera zoomt: Deutlich sichtbar befindet sich darin ein ungeschlüpftes Küken.32 Rein medizinisch betrachtet gibt es hier keinen Grund für eine Ekelevokation im Zuschauer, weil der Mensch ein „Allesfresser“ ist und sein Verdauungstrakt Kükenföten vermutlich problemlos verarbeiten kann.33 Die Kameraführung stellt diesen Zusammenhang zwischen der abstoßenden Speise und dem Menschen als Allesfresser fast wie mit einem Zeigestock dar: Wie DELEUZE für das Kino des Zeit-Bilds diag30 Im Booklet der DVD wird Anatol Weber vom Internet-Filmmagazin www.schnitt.de weiterhin zitiert: „‚Dumplings‘ ist trotz seiner schwer verdaulichen Zutaten kein Horrorfilm, der sich auf den vordergründigen Adrenalinschock verlässt, sondern grandioses und vitales Schauspielerkino, das vor Spielfreude, Erotik und Sarkasmus nur so strotzt.“ 31 Lessing, Gotthold Ephraim: Werke. Band 8. S. 71. Vgl. auch: Dieckmann, H.: Das Abscheuliche und Schreckliche in der Kunsttheorie des 18. Jahrhunderts. In: Die nicht mehr schönen Künste. Hg. v. H. R. Jauß. S. 309. 32 Dumplings, 00:14:46. 33 „Wie andere Vertreter dieser Gruppe [der Allesfresser. Anm. N.U.] – man denke an Schweine, Ratten und Schaben – können wir unsere Nahrungsbedürfnisse durch eine breitgefächerte Zahl von Stoffen befriedigen. Vom ranzigen Drüsensekret bis zu Schimmel und Steinen (oder, wenn einem der Euphemismus lieber ist, von Käse bis zu Pilzen und Salz) können wir alles mögliche essen und verdauen.“ Harris, Marvin: Wohlgeschmack und Widerwillen. Die Rätsel der Nahrungstabus. Stuttgart: Cotta 1988. S. 7.
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nostiziert, zeigt die Filmkamera hier ein eigenes Bewusstsein, das provozieren und Theoreme bilden kann. Die sog. Noo-Zeichen, lesbare und denkende Bilder,34 präsentieren hier erst, was der Mensch essen kann (Detail Ei samt Küken) und anschließend den als Allesfresser enttarnten Menschen selbst (mit Details des Essvorgangs und Ei-Stücken auf Mr Lees Zunge).35 Als Allesfresser unterscheidet sich der Mensch von Schweinen, Ratten und Schaben allein durch seine sogenannte „Eßkultur“.36 In dieser bilden sich verschiedene Geschmackspräferenzen aus;37 außerdem werden hier der Nahrung verschiedene Funktionen zugewiesen, wie in Dumplings der filmisch umgesetzte Glaube an die Wirkung bestimmter Nahrungsmittel als Jungbrunnen (auch für den Herrn). Der Glaube an die Verjüngung durch den Genuss von Fötenfleisch treibt Mrs Lee schließlich sogar so weit, den zu einem malerischen Gericht in KochshowÄsthetik38 zubereiteten fünfmonatigen Fötus aus einer Inzest-Schwangerschaft zu essen. Diese Einverleibung wirkt so stark, dass es zunächst scheint, als habe Mrs Lee ihr Ziel, zu ihrem jüngeren Ich zurückzugelangen, erreicht: Ihr Mann begehrt sie wieder, und ihre Freundinnen bewundern ihr jugendliches Aussehen – die Föten haben ihren Zweck als „functional food“ erfüllt. Handelt es sich bei Dumplings folglich um einen Film, der nach DELEUZE dem klassischen Bewegungsbild zuzuordnen ist, in dem zielgerichtetes Handeln eine Situation transformieren kann? Wie bereits einige verwirrende Anschlüsse im Film – z. B. in der Szene von Mr Lees Besuch bei Mei, in der die Zauberköchin dem Ehebrecher das Jackett auszieht, nur damit er es in der darauffolgenden Schnittfolge wieder an hat39 – und die relative Handlungsarmut zugunsten eines „Kinos des Sehenden“40 nahelegen, ist dem nicht so: An Mrs Lees Geburtstag registrieren ihre Freundinnen einen abstoßend intensiven Fischgeruch, den sie daraufhin geschockt an sich selbst wahrnimmt. In der verzweifelten Rückwendung zu ihrer jugendlichen Identität ist Mrs Lee selbst zum Ekelobjekt geworden. Auch hier spielt der Film erneut mit der Ambivalenz von 34 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 40. 35 Dumplings, 00:15:05. 36 Harris, M.: Wohlgeschmack und Widerwillen. S. 8. 37 Vgl. auch: Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 36. 38 Dumplings, 00:47:10. 39 Vgl. die anachronistische Schnittfolge von gerade Vergangenem und Gegenwärtigem in der Szene, in der Mei Mr Lee, der hinter das Geheimnis seiner Frau gekommen ist, ihre Teigtaschen kosten lässt bzw. dieser darauf wartet, dass sie ihm serviert werden. Ebd., 01:06:01ff. 40 Dumplings besteht aus vielen Wahrnehmungsbildern und damit verbundenen Affektbildern. Entsprechend rar sind die halbtotalen Aktionsbilder, die hauptsächlich Mei, als einzige handlungsfähige Figur in diesem Film, zeigen. Vgl. Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 13.
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Ekel, indem er für den Zuschauer als anziehend und abstoßend zugleich inszeniert wird: Die visuelle Ebene kadriert die verjüngte Mrs Lee attraktiv in einer blütengefüllten Badewanne; und selbst als Mrs Lee sich in ihrem Selbstekel übergibt, sieht man sie lediglich als einen Schatten hinter einer getrübten Glaskabine. Auditiv dagegen präsentiert der Film die hässliche Seite: So ist z. B. Mrs Lees Würgen zu vernehmen41 und in ihrem panischen Telefonat mit Mei offenbart sie: „Ich rieche am ganzen Körper nach Fisch!“,42 und: „Ein Inzestkind? Und weil ich es gegessen habe, fühl ich mich krank?“43 Ob Mrs Lees Handeln letztlich doch eine Verbesserung ihrer Identitäts- und Ehekrise bewirkt, bleibt in einem offenen Ende verborgen: Mei macht sich in die boomende Metropole Shenzhen auf, und Mrs Lee muss sich die magischen Teigtaschen fortan selbst kochen. In der Schlussszene zerhackt sie, surrealistisch aus der Perspektive des Fötus gefilmt, das aus der Masseurin abgetriebene Kind ihres Mannes. Nicht allein im neorealistischen Kino des Westens scheint der Glaube an sensomotorisch veränderbare Situationen verloren, sondern auch, bzw. vor allem, in einem sozialistischen System wie dem chinesischen hat der Einzelne keine Handlungsmacht. Ein zufriedenes Leben ist hier lediglich in der Ziellosigkeit wie der von Mei möglich, die sich durch beliebige Räume und Zeiten in einem illegalen Vagabundentum treiben lässt.44 Prompt wurde der Film in China verboten.45 Das Kino des Zeit-Bildes ist prädestiniert für die Darstellung von Ekel, da auch Handlungen von sich ekelnden Figuren per se nicht sinngerichtet, sondern lediglich auf Flucht oder Beseitigung des Abjekts ausgerichtet sind.46 Die Figuren nehmen etwas wahr und reagieren darauf mit einem Affekt statt mit einer Aktion, die die Macht hätte, etwas zu verändern. Mrs Lee ekelt sich sehr häufig – in Dumplings dominieren Großaufnahmen als Reaktionen der Wahrnehmungen –, und doch kommt sie immer wieder an den Punkt zurück, ihren Ekel vor dem Fötenverzehr überwinden zu wollen, um ihre Jugend zurückzubekommen. Durch die starke Fre41 Dumplings, 01:00:17. 42 Ebd., 01:00:44. 43 Ebd., 01:01:28. 44 Eine Figur wie die vermeintliche Zauberköchin Mei kann zu allen Zeiten und in jedem beliebigen Raum überleben. Die Dumplings haben die 64-Jährige jung gehalten, und auch ihre spirituelle Einstellung zum Leben ermöglicht ihr noch in diesem Alter einen Neuanfang in einer anderen Stadt. 45 Siehe hierzu das taz-Interview von Susanne Messmer mit Fruit Chan (taz Berlin lokal Nr. 7594 vom 18.2.2005, Seite 23). http://www.pagan-forum.de/Thema-F%C3%B6ten-essen (13.12.2011). 46 So rennt Mrs Lee weg, nachdem sie heimlich in Meis Küche gespickt und gesehen hat, wie diese den fünfmonatigen Fötus aus einem Teller hebt, um ihn zu verarbeiten. Ebd., 00:43:41.
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quentierung der Affektbilder in diesem Horrorfilm ist eine für das im Vergleich zum Roman eher schnelle Medium Film ungewöhnliche Aufhebung der Flüchtigkeit des Affekts möglich. Solche Großaufnahmen abstrahieren von Raum und Zeit,47 wodurch die Handlung kurz stehenbleibt und sich ganz dem Thema Ekeln (Großaufnahmen von affizierten Menschen: Gesicht, Hände etc.) und Ekel (Großaufnahme Ekel-Objekte: grell leuchtendes zerhacktes Fötenfleisch48 oder das befruchtete Hühnerei) widmet. Indem der Film an diesen Stellen reflektiert und durch seine Bilder das Denken anregt – wobei das sensomotorische Handlungsschema redundant wird –, rückt er sich in die Nähe der Literatur. Film und Roman exponieren sich in dieser Fähigkeit, Aktion anhalten zu können, vom klassischen Theater, das ohne Leinwandunterstützung oder eingebauten Erzähler keine Details zeigen oder reflektieren kann. Das Ekeln und Ekelerregen im Theater erfolgt meist über, wie später zu untersuchen sein wird, chronotopisch verortete Aktionen. Dennoch gibt es freilich auch viele Filme im klassischen Paradigma des Bewegungs-Bildes, die Ekelthemen aufgreifen. Wie der nun zu analysierende Film Das Schweigen der Lämmer49 aber zeigt, sind das keine Filme, in denen der Ekel das Hauptthema ist, sondern das Abstoßende wird hier lediglich mit einer kriminalistischen Handlung und den damit einhergehenden Ermittlungen verbunden, um Thrill zu erwecken. Auch in Das Schweigen der Lämmer von 1991 sind es menschliche Identitätsfragen, die handlungsauslösend sind. Die einzige Figur, die ganz bei sich ist und quasi einen souveränen Blick auf die Psyche der Menschen hat, ist der inhaftierte Kannibale Hannibal Lecter (Anthony HOPKINS). Als ehemaliger Psychiater besitzt er die Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzudenken, ja sie ganz zu durchdringen, ohne je Selbstzweifel – auch bezüglich seiner kannibalischen Veranlagung – zu hegen. Das Gegenteil von ihm stellt sowohl die Identität der Protagonistin Clarice Starling (Jodie FOSTER) dar, als auch des von ihr gejagten Mörders (Ted LEVINE), dem die Presse den Namen „Buffalo Bill“ gegeben hat. Die angehende FBI-Agentin Clarice hat ein Trauma, das Lecter ihr entlockt – als Gegenleistung für seine fachmännischen Hinweise50 auf die Identität des Mörders. So offenbart sie ihm und dem Zuschauer ihre Backstorywound, die sie zu einer zielstrebigen und unerbittlichen Ermittlerin macht: Nach dem Tod ihres Vaters, 47 Vgl. Tynjanov, J. N.: Über die Grundlagen des Films (1927). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 145. 48 Dumplings, 00:20:35 und 00:20:53. 49 Regie: Jonathan Demme, USA 1991 (Original: The Silence of the Lambs). 50 „Wenn ich Ihnen helfen soll, bestehe ich auf einer Gegenleistung von Ihnen. Quid pro quo. Ich erzähle Ihnen etwas, Sie erzählen mir etwas. Aber nicht über diesen Fall. Über sich selbst. Quid pro quo.“ Das Schweigen der Lämmer, 00:51:32.
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der Polizist war, kam Clarice als Waise auf eine Ranch. Nach zwei Monaten lief sie mit einem Lamm davon, weil sie das Schreien der Tiere bei der Schlachtung nicht ertragen konnte. Als Strafe kam sie ins Waisenhaus, und ihr Lamm wurde getötet. Seitdem hört Clarice nachts die Lämmer schreien und möchte diese zum Schweigen bringen – mit der Befreiung von Catherine Martin (Brooke SMITH), Tochter einer Senatorin, die sich in der Gewalt des Serienkillers befindet. Deshalb scheut Clarice keine Herausforderung und begibt sich kämpferisch auf den degoutanten Weg der Ermittlung. Dieser führt sie in den psychiatrischen Teil des Gefängnisses von Baltimore, wo ihre Fähigkeit zur Überwindung von Ekel gleich zu Beginn des Films stark auf die Probe gestellt wird. So muss sie sich von dem hochsensiblen Kannibalen durch die Löcher des Sicherheitsglases wie von einem Tier beschnuppern lassen:51 „Sie benutzen Evian-Hautcreme. Und manchmal tragen sie L’air du Temps. Aber nicht heute.“52 Die Integrität ihres Körpers bleibt folglich nicht unangetastet, obwohl die Schwerstverbrecher im „Kellerlabyrinth“53 der Anstalt hinter Gittern sind. Clarices Geist wird beschmutzt durch die Worte des Kannibalen, der es zunächst darauf anlegt, die neue Ermittlerin einzuschüchtern und sich in seiner Brutalität und seinem zynischen Selbstbewusstsein vorzustellen. So berichtet er warnend: „Einer dieser Meinungsforscher wollte mich testen. Ich genoss seine Leber mit ein paar Favabohnen, dazu einen ausgezeichneten Chianti.“54 Kurz darauf zischt er sie wie eine Schlange an, was Clarice, wie ihr Affektbild in einer der zahlreichen Close UpEistellungen des Thrillers zeigt, mit einem Gefühl zwischen Ekel und Schock affiziert (Abb. 3).55
51 Ebd., 00:13:43. 52 Ebd., 00:13:49. 53 Dieser treffende Begriff für die dunkle Atmosphäre in der geschlossenen Anstalt für Schwerstverbrecher stammt von: Nagele-König, Andra: Zum Schweigen der Lämmer. Philosophisch-ideengeschichtliche Analyse eines Thrillers. Klagenfurt: Kärntner 1993. S. 31. 54 Das Schweigen der Lämmer, 00:17:23. 55 Ebd., 00:17:34.
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Abb. 3: Das Schweigen der Lämmer.
Regie: Jonathan Demme, USA 1991 (00:17:34).
Ohne einen direkten Vergleich zur gleichnamigen literarischen Vorlage von Thomas HARRIS (1988) anzustellen, ist hier anzunehmen, dass im Roman die Gefühle der FBI-Auszubildenden über das Medium der Sprache determinativer zu vermitteln sind. Die weit aufgerissenen Augen im Film deuten zwar auf eine Schockreaktion hin, doch ist die leicht zusammengezogene Stirn noch nicht eindeutig als Ekel einzuordnen. Dass letzterer Affekt hier aber bereits „mitmischt“, zeigt sich im darauffolgenden Aktionsbild, als Clarice sich auf den Rückweg durch das Gefängnislabyrinth macht. Ihre Ekel-Mimik verstärkt sich kontinuierlich: Angewidert zieht sie die Stirn zusammen und senkt die Augen, als sie an den wild gestikulierenden und schreienden Insassen vorbeigeht, um dann die volle Extension an Ekel auszudrücken, als sie vom Sperma des Inhaftierten Miggs in ihrer körperlichen Integrität angegriffen wird. Diese „Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt wird“, ist laut MENNINGHAUS „[d]as elementare Muster des Ekels“.56 Hier drängt sich eine Präsenz auf, die von Clarices Mimik und Gestik unmittelbar distanziert wird: Ihre Augen, Stirn und Nase kneifen sich zusammen, der Mund öffnet sich wie zur erbrechenden Abjektion, die Oberlippe zieht sich angeekelt nach oben und wird kurz darauf von der Hand verschlossen (Abb. 4).57
56 Menninghaus, W.: Ekel. S. 7. 57 Das Schweigen der Lämmer, 00:18:05.
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Abb. 4: Das Schweigen der Lämmer.
Regie: Jonathan Demme, USA 1991 (00:18:05).
Mit vorgehaltener Hand ringt sie noch draußen um Fassung, doch die Heldin ist nun, durch diese Initiationsprüfung, für den Fortgang der Ermittlung gewappnet und hat damit auch einen Helfer gewonnen: Dr. Lecter, der sich Clarice durch die ihr widerfahrene Taktlosigkeit58 durch den Häftling Miggs verpflichtet fühlt, gibt ihr daraufhin einen ersten Hinweis, um sie auf die Spur des Mörders zu führen. Und noch mehr: Wie eine Art Beschützer hat er den unflätigen Mitinsassen nach dem Vorfall allein durch die Kraft seiner Worte dazu gebracht, sich umzubringen.59 Fortan ist Clarice von den ekelerregenden Spuren, die Buffalo Bill bei seiner Mordserie hinterlässt, nicht mehr stark zu affizieren. Mit großer Professionalität wohnt die Auszubildende der Sektion eines der Mordopfer bei, was nach OEHMICHEN in der Rechtsmedizin oft diverse Auslöser für Ekelgefühle bereithält.60 Einer davon ist die olfaktorische Wahrnehmung, gegen die sich die Ermittelnden mit einer Duftcreme unter den Nasenlöchern wappnen. Tief im Rachen der partiell gehäuteten Leiche findet Clarice einen weiteren Ekelauslöser: einen Insektenkokon.61 Dieser gibt einen Hinweis auf die Subjektivität der zweiten Figur dieses Films, die ein Identitätsproblem hat: Clarices Kontrahent Buffalo Bill alias Jame 58 Lecter: „Das wollte ich nicht, dass Ihnen so etwas passiert. Taktlosigkeiten sind für mich verabscheuungswürdig.“ Ebd., 00:18:20. 59 Das erfährt Clarice in einem Telefonat mit dem Anstaltsleiter Dr. Frederick Chilton (Anthony Heald). Ebd., 00:21:00. 60 Oehmichen, M.: Ekel: Die rechtsmedizinische Perspektive. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 37f. 61 Das Schweigen der Lämmer, 00:43:28.
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Gumb. In zweifacher Weise versucht er, seiner Identifizierung zu entkommen: erstens will er als gesuchter Mörder natürlich nicht gefasst werden, und zweitens läuft er auch vor der eigenen geschlechtlichen Identität davon.62 Deshalb deutet Lecter das Zeichen des Kokons wie folgt: „Die große Bedeutung des Schmetterlings liegt in der Metamorphose. Die Larve bzw. Raupe wird zur Puppe, die sich nunmehr in Schönheit verwandelt. Unser Billy will sich auch verwandeln.“63 Der gesuchte Mörder ist ein Transsexueller, dessen geschlechtliche Identitätsfindung gescheitert ist und der zur Geschlechtsumwandlung nicht zugelassen wurde, weshalb er sich nun über ein Kleid aus sukzessiv zusammengenähten weiblichen Hautarealen eine neue Hautmaske erschaffen möchte. So kann Buffalo Bill sich zwar nicht in eine Frau verwandeln, aber immerhin in eine Art menschlichen Schmetterling.64 Dieses Wissen um die Funktionalität von abgezogener menschlicher Haut teilen zunächst nur Lecter und der Zuschauer. Der Rezipient erhält durch die allwissenden Bilder, die quasi einem auktorialen Erzähler nachempfunden sind, einen Wissensvorsprung vor Clarice – und erst recht vor den weiteren ermittelnden FBI-Agenten, die noch einen Schritt hinterherhinken. Die Lösung in der Maskierung mit fremder Haut deutet sich dem Zuschauer zunächst in Hannibal Lecter selbst an, dem es gelingt, aus seiner neuen Luxus-Gefängniszelle zu entkommen, indem er einem der Polizisten das Gesicht wegbeißt, um sich dann damit ins Krankenhaus transportieren zu lassen.65 Weiterhin wird Suspense im Rezipienten erzeugt, indem die Näharbeiten des Mörders als Detailaufnahme gezeigt werden,66 noch bevor Clarice ihn in seinem Haus stellt. Die visuelle Ebene nutzt hier das filmische Potenzial, oft weniger eindeutig sein zu können als die sprachliche Erzählung in einem Roman oder die Totalen der Theaterbühne, die meist gleich alles zeigen müssen: Indem an dieser Stelle des Films z. B. lediglich ein Ausschnitt der Arbeit an der Nähmaschine gezeigt wird, aber (noch) nicht das gesamte Haut-Werk, an dem der Mörder arbeitet, können sich in der Phantasie des Rezipienten noch größere Schock- und Ekelbilder entfalten. Etwas Abstoßendes haben auch die Aufnahmen von den wimmelnden Insektenlarven, die Buffalo Bill züchtet und liebevoll umsorgt und sogar an seiner Nase liebkost mit den Worten „so machtvoll, so wunderschön.“67 All dies vermag den Zuschauer auf die bald folgenden auflösenden Szenen vorzubereiten, in denen er durch die Augen von Clarice – und nicht mehr nur durch die auktorialen, einen 62 Vgl.: Nagele-König, A.: Zum Schweigen der Lämmer. S. 9. 63 Das Schweigen der Lämmer, 00:53:24. 64 Nach: Tasker, Yvonne: The Silence of the Lambs. London: British Film Institute 2002. S. 11. 65 Das Schweigen der Lämmer, 01:21:31. 66 Ebd., 01:22:26. 67 Ebd., 01:34:02.
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Wissensvorsprung vermittelnden Detailaufnahmen – das Ausmaß des Verbrechens sehen kann. Ein solches perspektivisches Wechselspiel – d. h. erst die auktoriale Vermittlung, in der das Kameraauge keiner bestimmten Person zuzuordnen ist, anschließend die personalen Wahrnehmungsbilder von Clarice – steht dem Theater als ästhetisches Mittel ohne die Zuhilfenahme externer Medien niemals zur Verfügung. Dass das filmische Medium prädestiniert ist für die Erregung von Spannung und das Verschmelzen mit einer bestimmten Figur, wird in Das Schweigen der Lämmer auf die Spitze getrieben: Als Clarice im Kellerverlies, das wie die Gefängnisanstalt im ersten Teil des Films an ein Labyrinth erinnert, den Mörder sucht, entdeckt sie sukzessiv das Grauen. Hierbei wird dem Zuschauer immer zuerst das Affektbild der geschockten Protagonistin gezeigt, um dann das Wahrnehmungsbild nachzureichen: Die geschockte Clarice (1, Abb. 5)68 sieht das aus Frauenhaut zusammengenähte Kostüm (2, Abb. 6)69. Abb. 5: (1) Das Schweigen der Lämmer.
Regie: Jonathan Demme, USA 1991 (01:40:20).
68 Ebd., 01:40:20. 69 Ebd., 01:40:21.
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Abb. 6: (2) Das Schweigen der Lämmer.
Regie: Jonathan Demme, USA 1991 (01:40:21).
In dieser Linearität, die durch die filmische Möglichkeit des Off gegeben ist, wird der Thriller ein Stück weit literarisch. In Sprache transformiert würden diese Filmbilder grob vereinfacht in etwa ergeben: „Sie war erschüttert. Das Grauen breitete sich vor ihr aus. Sie sah zusammengenähte Hautfetzen auf einer Schneiderbüste.“ Gleiches ließe sich auch in einer Ich-Erzählung vermitteln. Dennoch breitet sich im Film der Affekt in aller Deutlichkeit und blitzschnell aus, wie es der Roman in dieser Detailgenauigkeit in längeren Beschreibungen entfalten müsste, z. B. in einer Schilderung, wie Clarice ihre blauen Augen aufreißt und zitternd die Pistole umklammert, während sich vor ihr die Lebenswelt eines Psychopathen ausbreitet: Schaufensterpuppen, Kostüme, eine mit echter Haut bekleidete Schneiderbüste, Fotos, ausgeschnittene Zeitungsartikel et cetera. Viele kleine Details werden im Film in Sekundenschnelle montiert, ohne dass die Einzelheiten erst sprachlich beschrieben oder mühsam auf die Bühne gebracht werden müssten. Die Linearität von Affektbild und Wahrnehmungsbild ist dabei lediglich eine filmische Variante, denn ein Filmbild vermag freilich auch in der Totale oder Halbtotale simultan – wie im Theater – zu zeigen, was Clarice sieht und wie sie reagiert. Der Clou der hier verwendeten Einstellungsfolge ist, dass sich dabei der Affekt im Zuschauer steigert: In Erwartung, gleich etwas Grauenvolles oder Ekelhaftes gezeigt zu bekommen, das Clarice gerade erblickt, wirkt das folgende Wahrnehmungsbild umso stärker. Dennoch kann behauptet werden, dass es nicht diese spannungsvermittelte Kriminalhandlung ist, die den fünffach oscarprämierten Film im kollektiven Gedächtnis als ekelerregend – und anziehend – verankert hat, sondern das Motiv des Kannibalismus. Das Unerhörte ist dabei, „daß der Menschenfresser zugleich der Men-
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schenretter ist“,70 indem er seiner Elevin die entscheidenden Denkanstöße und Hinweise gibt. Den Kannibalen zeichnet dieselbe Eigenschaft aus, die bereits für die filmische Ekelumsetzung in Dumplings diagnostiziert wurde: Er ist anziehend und abstoßend zugleich. Letzteres bezieht sich auf die Sanktionierung des „Verzehr[s] von Menschenfleisch bei gleichzeitigem Vorhandensein anderer Nahrungsmittel“,71 eine Unterbindung, die auch über das Ekelgefühl wirksam wird. Lecters Charme, Höflichkeitsgebaren, Intelligenz und offensichtliche Zugehörigkeit zur high culture grenzen ihn von der Vorstellung eines Wilden ab.72 Sein Kannibalismus ist – wie der von Mei – keiner blinden Brutalität und Gier geschuldet, sondern seine spärlichen aber selbstbewusst-selbstverständlichen Äußerungen hierzu klingen vielmehr wie die eines Gourmets. Als er sich am Ende aus dem Gefängnis befreit hat, hört er sich bei seinem Telefonat mit Clarice gar wie ein Philanthrop an: „Zu gern würd ich mit Ihnen noch plaudern. Aber ich hab ein Festessen mit einem alten Freund. Auf Wiedersehen.“73 Die Grausamkeit des kannibalischen Akts bleibt im Film nur in jener Sequenz nicht der Zuschauerphantasie überlassen, in der Lecter der Ausbruch gelingt.74 Diese ist, wie auch TASKER bemerkt, höchst theatralisch ausgestaltet.75 Lecters als Gegenleistung für die Hinweise in der Mordserie Buffalo Bill erpresste LuxusGefängniszelle erinnert an eine sich mittig im Saal befindliche Bühne, auf die die Zuschauer den Blick aus diversen Perspektiven werfen können. Der intelligente Kannibale schafft es, die beiden Aufseher zu überwältigen und liefert sich auf seiner Gefängnisbühne einen im wahrsten Sinne des Wortes verbissenen Kampf. Das Schauspiel wirkt theatralisch überspielt, Lecter fasst den Kopf seines Opfers wie zum Kuss und beißt zu,76 woraufhin dieser stark gestikulierend zusammensackt.77 Die Lippen der beiden Akteure sind rot vom Blut, mit einer Strahlkraft, als solle sie ein Theaterpublikum erreichen. Der Film verleibt sich hier das Theater ein, und als Lecter sich schließlich mit dem blutigen Gesicht des gebissenen Aufsehers mas-
70 Nagele-König, A.: Zum Schweigen der Lämmer. S. 10. 71 Harris, M.: Wohlgeschmack und Widerwillen. S. 216. 72 Vgl.: Tasker, Y.: The Silence of the Lambs. S. 83. 73 Das Schweigen der Lämmer, 01:47:53. 74 Ekelerregung über die Macht der Phantasie ist nach Kübler ebenfalls physisch intensiv: „Ekel kann, anders als der einfache Überdruß, auch durch Vorstellungen hervorgerufen werden; das ist ein weiteres Argument dafür, daß er dem Appetit, für den diese Art der Auslösung auch zutrifft, gegenüberzustellen ist.“ Kübler, W.: Gedanken über Ekel aus ernährungsphysiologischer Sicht. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 16. 75 Tasker, Y.: The Silence of the Lambs. S. 32. 76 Das Schweigen der Lämmer, 01:13:43ff. 77 Ebd., 01:13:58.
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kiert, stellt er vor allem eines dar: dass er das Schauspiel perfekt beherrscht und dennoch als einzige Figur dieses Films ganz bei sich ist. Um Identitätsfragen geht es auch im dritten Film der vitalaffektiven Dimension um 2000. Der Serientäter in Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders78 möchte sich eine ganz besondere Maske auflegen: Während es in den beiden zuvor analysierten Filmen vor allem die degoutanten Versuche waren, sich optische Masken der Schönheit zu kreieren (in Dumplings im übertragenen Sinne die äußerliche Veränderung durch Föten-Inkorporation), möchte sich der Protagonist Jean-Baptiste Grenouille (Ben WHISHAW) eine olfaktorische Maske erstellen, um „den Abgrund seiner eigenen Leere zu verbergen“.79 Damit thematisiert der Roman von Patrick SÜSKIND einen von der Kunst bislang eher vernachlässigten Sinn.80 Gerüche und deren intensive Wahrnehmung sind besonders seit der Hygiene- und Desodorisierungsbewegung in der Mitte des 18. Jahrhunderts,81 die ROCHE noch heute kritisiert, dem Unkontrollierbaren und Tierischen82 zuzuordnen, das es zu eliminieren gilt. Gerade ihr Vermögen, unerwünschte Affekte, die sich der Ratio entziehen, auszulösen, ihre unmittelbare Verbindung zum limbischen System der Gefühle im menschlichen Gehirn, machen Gerüche verdächtig.83 In der Kunst eine fiktionale Welt der Gerüche zu erschaffen, ist ein Wagnis und zugleich ein Faszinosum – wie der große Erfolg des Romans Das Parfum wie auch der Verfilmung von Tom TYKWER 2006 beweist –, weil sinnliche Eindrücke, wie sie in der Spielzeit ab 1738 in Frankreich herrschten, heute nahezu unvorstellbar geworden sind. Zudem wurde auf zwei mediale Formen zurückgegriffen, für die die ästhetische Konstruktion von Duftwelten eine Herausforderung ist. Der Sprache, an welche die von einem Voice-Over-Erzähler kommentierte Verfilmung ebenso wie der Roman gebunden ist, steht für die Beschreibung von Gerüchen ein sehr begrenztes Vokabular zur Verfügung. Für Veronika SAGER hängt dies mit der Hygienebewegung zusammen, die ab dem 18. Jahrhundert den deutschsprachigen Ge-
78 Regie: Tom Tykwer, D, FR, ES, USA 2006. 79 Degler, Frank: Aisthetische Reduktionen. Analysen zu Patrick Süskinds ‚Der Kontrabaß‘, ‚Das Parfum‘ und ‚Rossini‘. Berlin: Walter de Gruyter 2003. S. 207. 80 Vgl.: Sager, Veronika: Zwischen Sinnlichkeit und Grauen. Zur Dialektik des Geniegedankens in Patrick Süskinds „Das Parfum“ und Tom Tykwers Verfilmung. Marburg: Tectum 2010. S. 9. 81 Ebd., S. 31. 82 Worauf auch der Name Grenouille, der Frosch, verweist. 83 Vgl.: Corbin, Alain: Pesthauch und Blütenduft. Eine Geschichte des Geruchs. Berlin: Wagenbach 1984. S. 15 u. 30.
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ruchswortschatz stark degenerieren ließ.84 Auch für die Geruchsadjektive im Englischen gilt laut William MILLER, dass sie limitiert sind und meist über die Verbindung zum substantivischen Geruchsträger konstruiert werden müssen.85 Dies prädestiniert gerade Filmbilder, über das Zeigen einer konkreten Geruchsquelle olfaktorische Wahrnehmungen darzustellen und auch Duft-Vorstellungen anzuregen. So riecht Grenouille etwa eine Ratte nicht nur „ab“, sondern die Kamera kann mit der Fahrt in das Tierfell hinein sogar vermitteln, dass Grenouille deren wimmelndes Inneres riecht.86 Bei der Beschreibung von diffusem, überall in Paris verbreitetem Gestank bedient sich der Film wiederum der sprachlichen Beschreibung der VoiceOver-Erzählerstimme, welche die visuellen Eindrücke – wie die Bilder eines Fischhaufens auf einem Markttisch oder die Darstellung von schmutzigen, verschwitzten Menschen in zerrissener Kleidung – untermauert: Zu der Zeit, von der wir reden, herrschte in den Städten ein für uns moderne Menschen kaum vorstellbarer Gestank. Und natürlich war in Paris der Gestank am größten. Denn Paris war die größte Stadt Europas. Und nirgendwo in Paris war dieser Gestank so über alle Maßen widerlich wie auf dem Fischmarkt der Stadt. Hier nun, am allerstinkendsten Ort des ganzen Königreichs, wurde am 17. Juli 1738 Jean-Baptiste Grenouille geboren.87
Um das Abstoßende des olfaktorischen Gemischs auf dem Pariser Fischmarkt zu unterstreichen, setzt der Erzähler prosodische Mittel ein, wobei er das Wort „widerlich“ besonders deutlich und energetisch aufgeladen ausspricht. Im Vergleich zum Roman – in traditionell papierner Form – kann der Film den Eindruck von ekelhaften Gerüchen nicht nur sprachlich vermitteln, sondern auch 84 „Von der Vielzahl der Wörter, die noch bis weit in die frühneuhochdeutsche Zeit hinein die verschiedenen Formen der Geruchsempfindung beschreiben, sind in der Gegenwart nur noch etwa ein Viertel erhalten geblieben.“ Sager, Veronika: Zwischen Sinnlichkeit und Grauen. S. 32. Auch Grenouille werden die sprachlichen Geruchsbezeichnungen schnell knapp, wie der Erzähler zu berichten weiß: „Als Jean-Baptiste endlich sprechen lernte, reichte ihm die gängige Sprache schon bald nicht mehr aus, um all jene Gerüche bezeichnen zu können, die er in sich versammelt hatte.“
Das Parfum – Die Geschichte
eines Mörders. 00:10:35. 85 „What is missing is a specially dedicated qualitative diction of odor that matches the richness of distinctions we make with the tactile as with squishy, oozy, gooey, gummy, mucky, dank, and damp. Odor qualifiers, if not the names of things emitting the odor, are usually simple adjectives and nouns expressing either the pleasantness or unpleasantness of the smell, most of which merely mean bad or good smell: fetid, foul, stink, stench, rancid, vile, revolting, nauseating, sickening.“ Miller, W. I.: The Anatomy of Disgust. S. 67. 86 Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders. 00:10:20ff. 87 Ebd., 00:04:05ff.
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über die Hör- und Sehsphäre. Anders als im Theater bleibt dabei die Geruchsphäre dennoch fast zwangsläufig der Rezipientenimagination überlassen. Mit „fast“ sind die allgemeinen filmhistorischen Versuche gemeint, ein Duftkino zu konstruieren. Dabei sollte dem Zuschauer ein unmittelbares, d. h. nicht nur mittelbar über Gesichts- und Hörsinn zu erahnendes, Geruchserlebnis im Zuschauerraum geboten werden. Die Verfahren über Duftdüsen oder Klimaanlagen scheiterten jedoch in einem „unerträglichen Duftchaos“,88 und auch das Freirubbeln von passenden Duftfeldern auf Riechkarten im Film Polyester von John WATERS (USA 1981), das sogenannte „Odorama“-Verfahren,89 hat sich in der Medienkonkurrenz nicht durchgesetzt. Ekelevokation im Film bleibt im Allgemeinen auf die rein audiovisuellen ästhetischen Mittel determiniert. Für einen Stoff, der sich wie Das Parfum einer aisthetischen Reduktion verschreibt, d. h. „eine Figur in den Mittelpunkt“ stellt, „deren Wahrnehmungsapparat sich ganz auf einen Bereich von Sinnlichkeit konzentriert“90 – das Riechen –, war die Verfilmung deshalb ein Wagnis. Um das aisthetische Erleben Grenouilles ästhetisch erfahrbar zu machen, greift die Filmversion von Das Parfum auf die audiovisuellen Mittel zurück, die dem Medium zur Verfügung stehen, um den Eindruck von Unmittelbarkeit entstehen zu lassen. Vor allem durch die Kameraführung simuliert der Film die „qualitativen Merkmale[…] der Geruchsempfindung wie Schnelligkeit, Intensität, Nähe, Drastik oder Emotionalität“.91 Nähe und Schnelligkeit des Riechvorgangs, die Einverleibung des Dufts, vermitteln sich beispielsweise gleich zu Beginn des Films, als die Kamera nicht nur auf das begnadete Riechorgan Grenouilles zoomt, sondern sogar in seine Nase hineinfährt.92 Die unheimliche, unbeherrschbare Macht, die dieser menschliche Sinn ebenso wie die Geruchsstoffe selbst hat, vermittelt sich simultan durch eine bedrohliche extradiegetische Musik. Was der Riechende vom Zeitpunkt seiner Geburt an wahrnimmt, ist im Vergleich zu den aisthetischen Erfahrungen seiner Mitmenschen in der Intensität gesteigert. Bereits wenige Sekunden nach seiner Geburt nimmt das im Fischabfall liegende Baby seine abstoßend riechende Umwelt mit dem noch kleinen Riechorgan wahr. Die passend zum sprachlichen Erzählprozess auktorial, d. h. an dieser Stelle nicht subjektiv geführte Kamera,93 zeigt sowohl, dass das Neugeborene riecht – der
88 Sager, V.: Zwischen Sinnlichkeit und Grauen. S. 90. 89 Vgl.: Hurst, M.: Augen-Blicke des Ekels in Roman Polanskis Film Repulsion. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 84. 90 Degler, F.: Aisthetische Reduktionen. S. 10. 91 Sager, V.: Zwischen Sinnlichkeit und Grauen. S. 100f. 92 Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders. 00:03:46. 93 Die Mutter beachtet das vermeintlich Totgeborene nicht und lässt es im Fischabfall liegen.
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kleine Brustkorb hebt und senkt sich beim Atmen ekstatisch94 – als auch blitzartig und doch überdeutlich, was es riecht: blutige Berge von Fischabfällen, Hunde, die sich über Fleischabfälle hermachen, wimmelnde Maden im Unrat, nasse und dreckige Ratten95 im Müll, Schweine, die ausgeweidet werden und – um die sinnliche Widerwärtigkeit, das Nausea, zu unterstreichen – eine Person, die einen gelben Schwall an die Wand erbricht.96 Durch dieses visuell und auditiv vermittelte Panoptikum der Geruchswahrnehmung Grenouilles entwirft der Film genau jenes widerwärtige Gesamtbild von Paris, das sich laut ROSENKRANZ ergäbe, wenn das Unterste dieser Stadt zuoberst gekehrt werden könnte.97 Das ästhetische Vermögen der Kamera, nah an die ekelerregenden und realistischen Details heranzufahren, affiziert den Rezipienten über die visuelle Ebene in einer Intensität, die dem olfaktorischen Empfinden Grenouilles – das Baby schreit markerschütternd ob der widerlichen Gerüche – nachempfunden ist. Im Audiokommentar des Regisseurs zu diesem Geruchsauftakt wird ein weiteres Mal evident, dass der Film, um ästhetische Intensitäten zu erzeugen, keine Ausschnitte der Realität abfilmt, sondern künstlich ein Set erzeugt, das lediglich in seinem Wirklichkeitseindruck massiv wirken soll: Die Szene mit dem Baby im Fischabfall wurde zwar mit einem realen Neugeborenen gedreht, allerdings in einem Krankenhaus, wo das Kind in steril aufbereitete Fischteile gelegt wurde. Für die Präsenz des Theaters wäre dies freilich unmöglich und auch ethisch nicht vertretbar. Dieses „extrem aufwändige[…] Set“ war für TYKWER aber deshalb ästhetisch unumgänglich, weil Paris „in der Drastik und in der Dreidimensionalität des Ekels […] in einer ähnlichen Massivität wie sie Süskind auch im Buch gelungen war“,98 vorgestellt werden sollte. Nach dieser Auslegung können die zweidimensionalen Mittel des Films folglich einen Affekt in der dreidimensionalen Wirklichkeit des 94 Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders. 00:05:25. 95 Gemäß Kolnais Klassifikation kommen hier alle Gattungen des Ekels vor Tieren, mit der Ratte an der Spitze, zusammen: „Ekel gegen Gewürm, Ungeziefer, ja auch sonst Weichtiere aller Art. Von den höheren Tieren muß wohl die Ratte besonders erwähnt werden: gegen dieses Säugetier richtet sich ein ziemlich allgemein verbreitetes deutliches Ekelgefühl. Vielleicht verwebt sich indes ein Gefühl der unbestimmten Angst, des Unheimlichen darin. Auf jeden Fall spielt hier mit, daß es sonst kein Säugetier gibt, das sich in seiner ganzen Lebensform so ungezieferhaft geben würde wie die Ratte. (Unvornehmschmiegsamer grauer, länglicher Körper, gehäuftes Auftreten, Aufhalten in Schlupfwinkeln, parasitäre Neigung, dumpf-tückischer Charakter, Beziehung zu Schmutz und Seuchen).“ Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 343f. 96 Die rasch geschnittene Montage der sinnlichen Widerwärtigkeiten beginnt in Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders um 00:05:37. 97 Rosenkranz, K.: Ästhetik des Häßlichen. Hg. v. D. Kliche. S. 295. 98 Ebd., Audiokommentar Tom Tykwer, 00:04:31.
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Rezipienten evozieren. Begünstigt wird die Möglichkeit der Erschütterung des Filmzuschauers durch die hohe Affinität zwischen den filmischen Zeichen und der Realität: Der sterile Fischmüll am Filmset dient hier als Signifikant, welcher das Wissen um den realen Gestank von Fischabfall auf dem kürzest möglichen Weg, über den visuellen Eindruck, aktiviert: „Illusion und Authentizität liegen beim Film – medial bedingt – dicht beieinander“,99 und diese Tatsache ist es auch, die seine starke Ekelevokation im Vergleich zum Roman fördert. In Das Parfum sind es aber nicht allein der Protagonist und die Zuschauer bzw. mittels Imagination die Romanleser, welche sich ekeln, sondern der eigengeruchlose Grenouille100 ist auch für sein figurales Umfeld ein Abjekt. Von jenen, die Profit aus ihm schlagen, wie die geldgierige Heimleiterin Madame Gaillard, der Gerber Grimal und der Parfümeur Baldini, wird er wie ein materielles Objekt behandelt, den anderen ist er in seiner Geruchlosigkeit indefinit-abstoßend. Als eines der Kinder im Waisenhaus mit spitzem Finger testen möchte, ob das Baby Grenouille noch lebt, offenbaren Kameraeinstellung und das plötzliche Schnappen des Säuglings nach dem Kinderfinger dessen insektenartige Unberechenbarkeit. Aus der Unterperspektive des Babys wird der angeekelte Gesichtsausdruck des Jungen gezeigt,101 nachdem Grenouille dessen Finger abgerochen hat. Die Kamera bringt sich auf die Position von Grenouilles Nase und zeigt den dreckigen Finger aus ihrer Perspektive.102 Grenouilles Wahrnehmung, wie seine gesamte Persönlichkeit, ist auf die Nase begrenzt. Diese Möglichkeit der spontanen Verschmelzung mit der visuellen Perspektive, der präsentisch-optischen sowie der daraus resultierenden Weltsicht einer Figur bzw. eines ihrer Organe, ist ein ästhetisches Mittel, das allein durch das Medium der Kamera und das Mittel der Montage möglich ist. 99 Hurst, M.: Augen-Blicke des Ekels in Roman Polanskis Film Repulsion. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 85. 100 Damit diese Abwesenheit des Körpergeruchs von Grenouille filmisch umgesetzt werden kann, muss die Vermittlung über den Erzähler bemüht werden, da Bilder abwesende Gerüche freilich noch weniger als unangenehme Gerüche zeigen können: „Grenouille begriff zum ersten Mal in seinem Leben, dass er selbst keinen Geruch besaß. Er begriff, dass er sein Leben lang für alle ein Niemand gewesen war.“ Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders, 01:00:00. 101 Ebd., 00:07:41. Was hier allein durch das Affektbild des neugierigen Jungen und dessen Zischlaut umgesetzt wird, expliziert der Erzähler im Roman sprachlich abstrakt als Ekel, ohne die unmittelbare Reaktion im Gesicht der sich ekelnden Figuren zu beschreiben: „Sie [die anderen Kinder im Waisenhaus. Anm. N.U.] ekelten sich vor ihm wie vor einer dicken Spinne, die man nicht mit eigner Hand zerquetschen will. […] Sie haßten ihn nicht. Sie waren auch nicht eifersüchtig oder futterneidisch auf ihn. […] Es störte sie ganz einfach, daß er da war.“ Süskind, Patrick: Das Parfum. Zürich: Diogenes 1985. 102 Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders. 00:07:45.
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Über dieses Medium der subjektiven Kamera kann ein Identifikationsgefühl des Publikums mit der filmischen Figur erreicht werden. Darin, dass Grenouille von seiner romanesken Konzeption her allerdings keine Identität neben jener als riechende Person (oder genauer: als riechendes Scheusal) besitzt, liegt die grundsätzliche Problematik der Adaptierbarkeit einer solchen Figur in der Medienkonkurrenz begründet. Die gefühllose Rohheit des Protagonisten Grenouille im Roman taugt recht wenig für einen populären Kinofilm,103 der prinzipiell auf eine Identifikationsfigur angewiesen ist.104 Deshalb wird der Filmheld Grenouille nicht nur mittels aufgetropfter Duftessenzen der Schönheit105 am Ende für seine Mitmenschen zum anziehenden, Liebe vermittelnden Medium, sondern ihm wird in der Adaption die für den Zuschauer attraktive innerliche Identität aufoktroyiert, ein junger Mann auf der Suche nach Liebe zu sein. Während die Romanfigur in ihrer Herzlosigkeit kaum Identifikationspotenzial für den Leser bietet, kann sich der Filmzuschauer in dieses universalmenschliche Bedürfnis hineinversetzen und die Motive des Mörders ein Stück weit nachvollziehen. Den Höhepunkt der Mitleidsevokation konstruiert eine Rückblende in der finalen Szene: Als die zu Grenouilles Hinrichtung versammelte Menge sich, von seinem Parfum berauscht, einer Orgie hingibt, stellt er sich vor, wie ihn sein erstes Opfer, das Mirabellenmädchen, statt zu erschrecken freiwillig umarmt.106 Damit erscheint Grenouille im Film lediglich den anderen Figuren als eine „schändliche Schlange“, als „abscheuliche[s] Geschwür“, die „Inkarnation des Bösen“107 schlechthin – nicht aber den Rezipienten, die einen Wissensvorsprung haben. Die Fluchrede des Bischofs über das Phantom-Monster wird z. B. kontrastiert mit den hellen Überblendungen der formschönen und ruhigen Arbeit des jungen Mannes am perfekten Duft. Kamera wie Montage sind in diesem Film insgesamt auktorial, und mehr noch können über das Mittel der Überblendung die verschiedenen figuralen Perspektiven simultan vermittelt werden: auf der einen Seite die Be103 Produzent Bernd Eichinger intendierte von Beginn an explizit keine ArthausVerfilmung. Nach: Sager, V.: Zwischen Sinnlichkeit und Grauen. S. 125. 104 Vgl.: Ebd., S. 123. 105 Antoine Richis, der Vater des schönsten Mädchens Laure, das die Ingredienz der 13. Essenz des Parfums bilden soll, analysiert das Motiv des Mörders: „Alle seine Opfer waren auf ihre eigene Art schön. Nachdem wir wissen, dass er es nicht auf ihre Jungfräulichkeit abgesehen hat, scheint es mir so, als ob es ihre Schönheit selbst ist, um die es ihm geht. Genauso als könnte er sie an sich reißen. Als wäre er eine Art … Sammler.“ Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders, 01:27:54. 106 Ebd., 02:02:22. 107 Alle hier genannten Projektionen auf verschiedene Abjektbereiche entstammen der Rede des Bischofs, der die Exkommunikation über den unbekannten Mörder verhängt. Ebd., 01:30:25ff.
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völkerung von Grasse in Abscheu und Angst, auf der anderen Seite der geniale, von Liebessehnsucht motivierte Duftmischer. Grenouilles soziales Bedürfnis ist auch am Ende nicht damit zufriedenzustellen, dass die Anwesenheit seines Dufts die Menschen zu einem Bacchanal oder im Epilog zu einem kannibalischen Akt aus Liebe antreibt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Bilder dieser Akte visualisieren die anziehend-abstoßende Ambivalenz des Ekelphänomens: Die aus der Obersicht kadrierte sexuelle Orgie in Grasse erinnert – einzigartig opulent umzusetzen im visuellen Medium Film – an das wimmelnde, indifferente Übereinander von Maden und signalisiert ein nach KOLNAI abstoßendes Zuviel an Vitalität.108 Wie die Fliegen einen Kothaufen umschwärmen, stürzt sich abschließend auch das Gesindel von Paris auf den Heimkehrer Grenouille,109 nachdem dieser sich mit dem Parfum übergossen hat. Beides sind Assoziationen, die das Medium Film vor eine Herausforderung stellen, denn besonders die in der Supertotale gezeigte Masse in Grasse konnte selbst mit einer großen Anzahl von Komparsen nicht hergestellt werden und musste nachträglich aus zusammengesetzten Bildfeldern konstruiert werden.110 Sprachlich wäre dieser Eindruck der insektisch wimmelnden Menschenmasse leicht zu behaupten, doch bringt der Umweg über die nicht-visuelle Explikation eines Erzählers hier sicherlich die Verringerung der Ekelintensität beim Rezipienten mit sich.
S CHWER VERDAULICH : E KEL IN FILMISCHER F AMILIENTRAGIK Die mit Ekelhaftigkeiten verbundenen Identitätssuchen der Figuren in den oben untersuchten Filmen sind allesamt gescheitert. Die Masken vermeintlicher Schönheit bieten den von ihrer Umwelt missachteten und aus diesem Grund mordenden Protagonisten wie Mrs Lee, Buffalo Bill und Grenouille keinen Ausweg aus der erfahrenen Abjektion. Es gibt jedoch auch Ekelfilme, die jenseits einer solchen nihilistischen Position Gefühle von Abscheu darstellen und erregen können. Wesentlich optimistischer klingt z. B. bereits der Titel Precious – Das Leben ist kostbar,111 ein Film aus dem Jahr 2009, der in die Abgründe familiärer Beziehungen und sozialer Strukturen blickt und dadurch sowohl Gefühle von Taedium als auch Nausea darstellt und evoziert. Das Paradoxon dieses Hollywoodfilms ist, dass trotz der strukturellen Handlungsunfähigkeit der Protagonistin kein Film im Paradigma des Zeit108 Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 38. 109 Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders, 02:10:34. 110 Vgl.: Ebd., Audiokommentar Tom Tykwer, 02:02:00ff. 111 Regie: Lee Daniels, USA 2009 (Original: Precious: Based on the Novel „Push“ by Sapphire).
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Bildes entstanden ist, sondern die Protagonistin beginnt, aktiv an der Veränderung ihrer Situation zu arbeiten und sogar im zwangsläufigen finalen Scheitern (Schema SAS statt SAS‘) hoffnungsvoll bleibt. Die jeglichem Schönheitsideal widersprechende Heldin Claireece Precious Jones (Gabourey SIDIBE) steht in der amerikanischen Gesellschaft ganz unten: Mit 16 Jahren hat die im Harlem der 80er Jahre lebende Afroamerikanerin bereits ein Kind – „Little Mongo“, das von ihrem eigenen Vater stammt. In der Spielzeit des Films erwartet sie dessen zweites Kind. Die eifersüchtige Mutter Mary (MO’NIQUE) hasst ihre Tochter dafür und misshandelt sie ebenfalls, z. B. indem sie Precious zum Essen zwingt. In Precious’ nicht selbstverschuldetem Übergewicht und der sexuellen Misshandlung formiert sich der Typus des Überdrussekels, wie KOLNAI ihn klassifiziert.112 Während daraus im unrechtsempfindenden Zuschauer auch ein Gefühl des Taedium erweckt wird, empfindet Precious zwar Nausea angesichts des ihr widerfahrenden Unrechts,113 nicht aber Lebensüberdruss. Sie hat eine imaginäre Fluchtstrategie entwickelt, um die abstoßenden Momente ihres Lebens zu überstehen. Besonders deutlich wird dies in jener Szene, in der die Mutter sie zwingt, eine Schweinshaxe zu essen, die sie selbst als ekelhaft empfindet: Mutter: Also wie soll ich die Schweinsfüße ohne Grünkohl runterkriegen? Und wieso sind diese verdammten Dinger noch voll mit Scheiß Haaren? Du isst das. Komm her und iss die Scheiße. Precious: Ich hab keinen Hunger. […] Mutter: Du hast es versaut, du frisst es auf.114
In ihrer dunkel visualisierten Realität schafft Precious es, das Essen hinunterzuwürgen, wobei das Ausmaß der Nausea im Affektbild gezeigt wird: Ihre Miene weist die gleichen Züge auf wie die der essenden Mrs Lee in Dumplings: zusammengekniffene Stirn, Augen, die sich vor dem Abjekt verschließen wollen und das ver-
112 Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 39f. 113 Als sie z. B. vor ihrer Klasse in der Alternativschule vom Missbrauch spricht, stellt sie eine Analogie zur Welt der Insekten her: Precious: „Außerdem geh ich bald zu nem Insekt-Opfertreffen.“ Mitschülerin: „Das heißt Inzest.“ Precious: „Hab ich das nicht gesagt?“ Mitschülerin: „Nein, du sagst Insekt!“ Precious: „Wo ist der Unterschied?“ Mitschülerin: „Na beim einen wirst du von der Familie missbraucht. Und das andere sind wie Käfer oder Kakerlaken.“ Precious – Das Leben ist kostbar. 01:27:19. 114 Ebd., 00:39:44.
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krampfte Öffnen des Munds (Abb. 7).115 In Precious fehlt allerdings gänzlich die delikat-anziehende Seite des Ekelphänomens: Das unattraktive Mädchen ist in eine dunkle Szenerie gesetzt, und auch die Großaufnahmen des Essens sind von kulinarischer Extravaganz weit entfernt.116 Im Kontrast dazu stehen die Imaginationsbilder der Protagonistin. Sie träumt sich in eine Glamourwelt, die dem Zuschauer über die Medien in Precious’ Haushalt zugänglich gemacht wird. In dieser Szene wird beispielsweise der Fernseher gezeigt, in dem Precious während des gezwungenen Essens eine SchwarzweißSerie sieht, in der sie und ihre Mutter einem höheren sozialen Milieu angehören und Precious von ihr fürsorglich Obst angeboten bekommt (Abb. 8).117 Abb. 7: Precious – Das Leben ist kostbar.
Regie: Lee Daniels, USA 2009 (00:39:39).
115 Ebd., 00:40:28. 116 Ebd., 00:39:39. 117 Ebd., 00:40:34.
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Abb. 8: Precious – Das Leben ist kostbar.
Regie: Lee Daniels, USA 2009 (00:40:34).
Der Film nutzt dabei seine ästhetische Spezifik, mit Licht und Farben Stimmungen visualisieren und hervorrufen zu können. Die Momente des Ekels sind in eine dunkle Kulisse gesetzt118 im Kontrast zu jenen, die zeigen, wie Precious in der Alternativschule Each One Teach One Menschlichkeit entgegengebracht wird. Auch der plötzliche Wechsel in die Phantasiewelt des Mädchens wird farblich angezeigt durch die artifizielle Kolorierung in Videoclip-Ästhetik: Als die Mutter ihrer Tochter am Ende eröffnet, dass Precious’ Vater und Peiniger an HIV gestorben ist, switcht Precious’ Imaginationsbild zu einer Fotosession, in der sie der Star ist (Abb. 9).119
118 Etwa auch als die Mutter in einer Hasstirade ihren Ekel vor der eigenen Tochter ausdrückt und Precious anschließend schlägt, wobei nur noch gezeigt wird, wie die Katze davonrennt, bevor das Bild abgeblendet wird. Ebd., 00:13:14. 119 Ebd., 01:17:15.
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Abb. 9: Precious – Das Leben ist kostbar.
Regie: Lee Daniels, USA 2009 (01:17:15).
Auf diese Weise kann der Film einen optimistischen Impetus entfalten, der dem Roman Push von SAPPHIRE (1996), auf dem Precious basiert, laut der Produzentin Oprah WINFREY fehlt: „Ich glaube, da entsteht im Film wirklich Hoffnung. Denn ohne sie würde sich niemand den Film ansehen.“120 Und auch der Regisseur Lee DANIELS weist darauf hin, dass Kunst in der audiovisuellen Wirkmacht des filmischen Mediums Tabus und Gewalt weitaus vorsichtiger umsetzen muss, um überhaupt eine größere Rezipientenschaft erreichen zu dürfen: „Hätte ich das Buch so erzählt, wie es geschrieben wurde, der Film wäre verboten worden.“121 In der filmischen Direktheit wirkt die Überschreitung von Ekel-Schranken, welche die Grundlage für gesellschaftliche Regeln sind,122 offenbar weitaus erschütternder als über das Medium der Sprache. Für das Theater wiederum sind es meist keine Fragen der Tabuisierung, die einen Stoff in der elementaren Präsenz schwer umsetzbar machen, sondern Fragen der performativen Transformierbarkeit. Precious auf der Bühne wäre allein deshalb eine Herausforderung, weil sich der Film wie die literarische Vorlage ganz auf die Figur der Protagonistin fixiert, deren innere Monologe über die autodiegetische Voice-Over-Stimme filmisch relativ einfach umzusetzen sind. Precious’ Innerlichkeit wird dabei im Slang gesprochen, was den Kontrast zwischen der UnterschichtSozialisation in der tragischen Familiensituation und ihrer reinen Seele auditiv umsetzt, wo Bilder allein an ihre Grenzen stoßen würden. Precious’ auditiv vermittelte 120 Extras auf ders. DVD. 121 Ebd. 122 Jeggle, Utz: Runterschlucken. Ekel und Kultur. In: Kursbuch. Hamburg: Zeitverl. Bucerius 1965. S. 23.
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Kraft, kein Taedium aufkommen zu lassen, wirkt übermenschlich – und doch ist sie keine artifiziell konzipierte Figur wie die Protagonisten der folgenden zu untersuchenden Familiengeschichte. Der Film Taxidermia – Friss oder stirb des ungarischen Regisseurs György PÁL123 FI besteht aus drei chronologischen Zeitschichten, die eine Generationenfolge von Söhnen wie in drei Akten verbunden zeigen. Jeder Protagonist ist durch ein kurioses, artifiziell überzeichnetes Faible ausgestattet, das in der Übersteigerung abstoßende Formen annimmt. So ist das Lob des Filmkritikers Harald LADSTÄTTER zugleich eine Warnung an das Gros der Rezipientenschaft: Erfreulich auch, dass sich Regisseur und Drehbuchautor György Pálfi herzlich wenig um die Befindlichkeit seines Publikums schert – Menschen mit schwachen Magennerven sei Taxidermia eher nicht empfohlen. Ebenso wenig religiösen Moralaposteln, Freunden klinisch sauberer Hollywood-Unterhaltung sowie Menschen mit Aversionen gegen Körperflüssigkeiten aller Art.124
Die Ekelmomente dieses Films aus dem Jahr 2006 sind so zahlreich und in aller Deutlichkeit visualisiert, dass er in der Medienkonkurrenz nicht – wie vor allem Das Schweigen der Lämmer und Das Parfum – die Zuschauerzahlen durch Aufmerksamkeitserregung qua Ekeldarstellungen erhöhen kann, sondern im Gegenteil: Die hierin begründete Altersfreigabe der FSK ab 18 Jahren und das permanente Abstoßen des auf Vergnügen und Genuss konditionierten Publikums minimiert das Publikum drastisch. Für den „harten Kern“ der restlichen Zuschauergruppe dagegen trifft auch hier die Ambivalenz des Ekelphänomens als zugleich widerlich und anziehend zu, indem er „Abstoßendes auf einem silbernen Tablett“125 dargeboten bekommt. Wie zu zeigen sein wird, bedient sich Taxidermia hierbei sowohl Strategien der Interferenz mit anderen Medien als auch der klaren Differenzierung von ihnen. Der Film wird von einer rahmenden Erzählerstimme eröffnet, wie sie für den Film, nicht aber für den Roman eher unüblich ist: Der zunächst rein auditive Erzähler gibt sich nicht als extra- oder intradiegetisch zu erkennen, und erst am Ende des Films werden seine Identität und Bedeutung in der Figurenkonfiguration des Plots evident. Dafür betont dieser ominöse Erzähler aber eine Tatsache, die besonders für den Roman gilt: Ohne Erzählinstanz gibt es keine Geschichte, wie allgemein Geschehnisse nicht tradiert werden, wenn es keine berichtenden Augenzeugen gibt. 123 HU, AT, FR 2006. 124 Ladstätter, Harald: Taxidermia. http://www.filmtipps.at/kritiken/Taxidermia (21.12.2011). 125 David, Ciprian: Taxidermia. http://www.negativ-film.de/2011/07/taxidermia-dvd-film. html (21.12.2011).
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Darin begründet sich die Eitelkeit dieses Erzählers, der als einziger die Evolutionskette der Taxidermia-Familie von Beginn an nacherzählen kann: Etwas möchte ich unbedingt noch erwähnen. Weil es zu dieser Geschichte gehört. Auch wenn es mich nicht betrifft. Ohne mich würde niemand etwas davon wissen. Es wäre so, als wäre das alles nie passiert. Niemand würde wissen, wer Lajos Balatony war. Woher er kam. Wohin er gehörte. Wer sein Vater und sein Großvater waren. Vielleicht ist die Geschichte nur deshalb interessant, weil sie ein Ende gefunden hat. Aber: Für jedes Ende hat auch der Anfang eine Bedeutung.126
Während der Erzähler zunächst in seiner figuralen Augenzeugenfunktion rein sprachlich und damit körperlos wie in einem Roman bleibt, wird in allen drei Teilen die Handlung von der Körperlichkeit der Figuren dominiert. Am Anfang von deren Evolutionskette steht der Soldat Vendel Morosgoványi (Csaba CZENE), der im Zweiten Weltkrieg auf einem vom Film nicht genauer bestimmten Außenposten stationiert ist. Dort herrschen Langeweile, Einsamkeit und Unterdrückung durch den Leutnant. Als Eskapismus entwickelt Vendel paraphile Methoden der sexuellen Befriedigung, wobei es schließlich zu der nach FREUD perversen „Hinwegsetz[ung] über die Artschranke (die Kluft zwischen Mensch und Tier)“127 kommt: Er koitiert mit der Gattin des Leutnants auf einem ausgeweideten Schwein, das mit dem offenen Bauch nach oben in einer Badewanne liegt. In der visuellen Umsetzung grenzt sich der Film hier klar von den Mitteln des Romans und des Theaters ab und interferiert mit der Kunst der Fotografie: Die auf Details fokussierenden Akt-Bilder (Abb. 10) abstrahieren von Raum und Zeit und bilden durch die extremen Zoomeinstellungen Analogien zwischen dem Körper des geschlachteten Tiers und den Geschlechtsteilen der beiden Figuren.128 Dadurch entsteht eine Rätselstruktur, wie sie vor allem in der Präsenz des Theaters kaum umzusetzen ist: Kopuliert Vadel hier mit der Frau oder phantasiert er dies nur und liegt stattdessen allein auf dem Tier? Die Sprache der beiden Figuren signalisiert zwar Eindeutigkeit, doch ohne eine neutrale Erzählinstanz129 bleiben die bis zur Abstraktheit gezoomten Bilder zweideutig. In dieser Metaphorik wiederum – die Öffnungen und Innereien des Schweins stellvertretend für die menschlichen Körperteile – wird der Film ein
126 Taxidermia – Friss oder stirb. Regie: György Pálfi, HU, AT, FR 2006. 00:00:27. 127 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. 11. Band. Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. Frankfurt/Main: S. Fischer 1966. S. 213. 128 Taxidermia – Friss oder stirb. 00:24:00f. 129 Der Voice-Over-Erzähler meldet sich erst am Schluss des Films wieder zu Wort.
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Stück weit literarisch. Rein sprachlich ließen sich die abstrakt anmutenden Formen der extremen Details aber kaum beschreiben.130 Abb. 10: Taxidermia – Friss oder stirb.
Regie: György Pálfi, HU, AT, FR 2006 (00:24:01).
Das Geschehen wird erst begreifbar, als der Leutnant seinen Untergebenen Vadel für diesen Betrug erschießt und die Frau schließlich ein Kind bekommt, das die Artschranke durchaus überschreitet: Das Baby hat ein sich kringelndes Schweineschwänzchen und quietscht zudem wie ein solches bei der Schlachtung, als der Leutnant es ihm mit einer Zange abzwickt.131 Dieses Kind bildet in der Genealogie der Söhne den Protagonisten des zweiten Akts. Kálmán Balatony (Gergely TRÓCSÁNYI) erweist sich noch als Erwachsener rein körperlich als Kreuzung von Mensch und Schwein, indem er Champion in einer ganz besonderen sportlichen Disziplin werden will: im Wettessen. Im sozialistischen Ungarn der 60er Jahre wird dies wie ein Staatsakt zelebriert und erschafft Helden. Die Kolorierung des Films wechselt in diesem zweiten Akt von der Braunfärbung der faden Kriegsumgebung des ersten Akts in eine intensivere, fast poppige Farbgebung, die nahezu in jedem Bild aus den Farben der ungarischen Flagge rot, 130 Das gilt auch für die spätere Detailaufnahme von Grießbrei, der so nah gefilmt ist, dass das Bild lediglich eine indefinite Form zeigt, wie sie sprachlich kaum zu vermitteln ist. In der Unkenntlichkeit erscheint jedes Objekt als potenziell ekelerregend, denn es ist offen für die verschiedensten Assoziationen. Die extreme Detailaufnahme von Grießbrei erinnert unter anderem an aderndurchzogene Haut oder an Fett. Ebd., 00:42:57. 131 Ebd., 00:28:02.
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weiß und grün besteht. In der unmenschlich überdimensionierten Nahrungsaufnahme des Wettessens stoßen die körperlichen Kapazitäten der Schauspieler an ihre Grenzen, weshalb derartige Ekelszenen auch kaum auf die Theaterbühne zu transferieren wären: Während der Film mittels Montage und Kameraführung den Eindruck erzeugen kann, dass die Figuren Unmengen brockigen Eintopfs132 und grober Sülze133 in sich stopfen (Abb. 11), lässt sich ein solcher Effekt im Theater nur schwer realistisch umsetzen, ohne eine Zumutung für die realen Schauspieler zu sein. Abb. 11: Taxidermia – Friss oder stirb.
Regie: György Pálfi, HU, AT, FR 2006 (00:28:44).
Auch die Szenen des anschließend jeweils herbeigeführten Erbrechens sind in dieser Länge, Detailliertheit und Intensität nur im Film, der auf digitale Bildbearbeitung zurückzugreifen vermag, darstellbar.134 Der Ekel des Films Taxidermia gründet auf der Darstellung eines Übermaßes, das surreale Ausmaße annimmt. An einer Stelle wird diese Form des Ekels vor menschlicher Maßlosigkeit, die der Zuschauer empfindet, auch im Filmbild inszeniert: Als Kálmán mit seinem weiblichen Pendant Gizella, dem Star des FC Konserve, gebeten wird, als Attraktion auf einem Schiff vorzuführen, wie sie 45 Kilo Kaviar in 20 Minuten135 verspeisen können, zeigt der 132 Ebd., 00:28:46ff. 133 Ebd., 00:34:30ff. 134 Die Extras auf der DVD geben an, dass hier Bilder der Nausea-Gestik der Schauspieler – das sichtbare Würgen und Vorbeugen – mit Bildern von laufendem Gemüsesaft für den Schwall des Erbrochenen übereinander montiert wurden. 135 Die Kombination aus einer eigentlichen Delikatesse, der enormen Menge und der kurzen Essenszeit bringt den Ekel vor dem Animalischen im Menschen auf den Punkt: Die Essenden erhalten dadurch etwas Tierähnliches, das spektakulär und abstoßend
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Film die Affektbilder der Zuschauer, deren Mimik und Gestik die gleichen Merkmale aufweisen wie jene aus den vorangegangen analysierten Filmen – allerdings im übersteigerten Modus dieses surrealen Films. Die Frau links im Bild reagiert auf das eigene Wahrnehmungsbild mit fast theatralisch überzogenem zeichenhaftem Gebaren: Ihre Stirn zieht sich nicht nur zusammen, ihre Augen zucken auch schwankend zwischen dem Willen hinzusehen und dem gleichzeitigen Unvermögen, den Ekelaffekt länger zu ertragen. Um sich des Ekelaffekts der anderen Zuschauer zu vergewissern, blickt sie zu dem Mann neben sich, der in seiner Starrheit sichtbar um Fassung ringt (Abb. 12).136 Im Ekelaffekt geht dem Zuschauer die Kontenance verloren. Der Affekt des Filmzuschauers wiederum, der ebenfalls das Wahrnehmungsbild dieser figuralen Zuschauer gezeigt bekommt –, allerdings ohne die körperliche Präsenz, die diese im Beiwohnen der Performanz der beiden Wettesser erleben – verstärkt sich durch die Empathie mit den sich ekelnden Figuren in der adjektivischen Großaufnahme.137 Abb. 12: Taxidermia – Friss oder stirb.
Regie: György Pálfi, HU, AT, FR 2006 (00:51:35).
Auch im dritten Akt des Films, der vom Sohn der beiden Wettesser Kálmán und Gizella handelt, ist die körperliche Dimension vertreten. Hier wird allerdings der Versuch der Beherrschbarkeit von sowohl menschlicher als auch tierischer Physis zugleich ist. Vgl.: Schäfer, Annette: Das esse ich nicht! In: Psychologie heute, Juli 2013. S. 38. 136 Ebd., 00:51:35. 137 Vgl.: Karpenstein-Eßbach, Ch.: Ein Ausweg aus modernen Filmtheorien: Gilles Deleuzes Repolitisierung des Kinos. In: Weimarer Beiträge Heft 3/2005. S. 332.
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unternommen. Lajos Balatony (Marc BISCHOFF), der schmächtige Sohn, ist ein Tierpräparator, ein Taxidermist. Sein Vater lebt bei ihm und hat sich über seinem Frust, kein Weltmeister im Wettessen geworden zu sein, bis zur Unbeweglichkeit fett gegessen. Als Lajos nach einem Streit mit ihm zurückkehrt, findet er den Vater mit geöffneter Bauchdecke und in der ganzen Werkstatt verbreiteten Innereien und Darminhalten vor. Die Spur der Gedärme führt zum Käfig der fettleibigen Katzen. Lajos macht es sich nun zur Aufgabe, der toten Substanz des Vaters eine optische und haptische Form zurückzugeben, indem er dessen Körper ausstopft. Dadurch möchte er die Ekelhaftigkeit des Abfall-Charakters138 des menschlichen Leibes eliminieren. Anschließend baut Lajos eine Maschine, um sich selbst ausstopfen zu können. Diese Maschine köpft ihn schließlich und schneidet ihm einen Arm ab. Der ausgestopfte weiße Torso des schlanken jungen Mannes sieht am Ende aus wie eine griechische Statue, die das Gegenteil von abstoßender Kunst ist – wie Johann Joachim WINCKELMANN in seinen „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst“ deren Körperideal beschreibt: Den Körper ziert keine Falte, kein Grübchen, und er steht in der gereiften Jugend, die an die ewige Jugend der Götter angelehnt ist.139 Den Bauch des ausgestopften Lajos aber verunziert ein dem Verständnis der Klassik nach großes ästhetisches Tabu: „[D]as Wundmal ist Makel der geschlossenen Hautfassade und Erinnerung an den darunter tobenden Chemismus.“140 Dieser Körper ist am Ende des Films ein Exponat, das der Rahmenerzähler im MUMOK im Wiener Museumsquartier,141 einem filmischen Originalschauplatz, ausstellt und eine Rede darüber hält. Mit der Sichtbarwerdung des Erzählers offenbart sich erstmalig auch seine figurale Position: Der intradiegetische Erzähler ist Dr. Andor, der die statuengleiche Leiche von Lajos in der Präparier-Maschine fand, als er als Kunde in dessen Werkstatt kam. Nun hält er sich für befugt, die degoutante Familiengeschichte mittels dieses Exponats zu verbreiten und stößt dabei auf eine Grenze, die auch für die medialen Bedingungen des tertiären Mediums des Films wie des primären Mediums des Theaters gelten, wenn es keinen auktorialen Erzähler oder eine Voice-Over-Technik der Figuren gibt: die Nicht-Darstellbarkeit von innerlichen Vorgängen:
138 Vgl.: Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 30. 139 Vgl.: Menninghaus, W.: Ekel. S. 88. 140 Ebd., S. 123. 141 Ladstätter, H.: Taxidermia. http://www.filmtipps.at/kritiken/Taxidermia (21.12.2011).
204 | II. DIE V ITALAFFEKTIVE DIMENSION Manches was passiert, ist beim besten Willen nicht darstellbar. Man kann seinen Vater ausstopfen. Oder vielleicht seine ganze Familie. Aber was man fühlt, wenn die Klinge die eigene Kehle trifft, was man in diesem Moment fühlt, das lässt sich nicht ausdrücken. Das gehört nun aber auch zur Geschichte des Lajos Balatony. Vermutlich ist das sogar ihre Essenz.142
Das durch die Klinge erfolgende Abtrennen des Kopfs geschieht außerdem im Film derart schnell, dass die inneren Regungen von Lajos auch kaum in seinem Gesicht gespiegelt werden können, geschweige denn durch seine Gestik, da er seinen Körper in der Taxidermia-Maschine fixiert hat. Vergleichbar verhält es sich auch allgemein mit den Affekten von Figuren im Film: die blitzartig ausgelösten Gefühle von Ekel sind meist flüchtig, wenn die Figur nicht wie etwa Mrs Lee in Dumplings versucht, sie auszuhalten. Im Roman kann diese Flüchtigkeit prinzipiell aufgehoben werden, doch ekeln sich die Figuren in den untersuchten Romanen kaum, sondern legen es vielmehr darauf an, Rezipienten oder andere Figuren anzuekeln und damit Tabus zu brechen. Vielleicht mag dieser Unterschied zwischen den Ausprägungen von Ekelphänomenen in den verschiedenen medialen Formen auch darauf zurückzuführen sein, dass Bilder, besonders Nahaufnahmen von sich ekelnden Figuren im Film, eine stärkere Wirkung entfalten können als deren sprachliche Beschreibung im Roman oder, wie nun zu untersuchen sein wird, entsprechende Performanzen in der Totale des Theaters. Der Film vermag Ekelgefühle sowohl in aller sinnlichen Intensität und Kürze darzustellen als auch mit aller Wucht zu evozieren. Film löst im DELEUZESCHEN Sinne nicht nur Denkprozesse im Zuschauer aus, sondern er hat auch die Macht über die körperlichen Befindlichkeiten der Kinobesucher. Er kann zwar nicht auf dem direkten Weg wie potenziell das Theater Gerüche bzw. Geschmacksempfindungen oder taktile Wahrnehmungen vermitteln. „[D]afür jedoch“, so fasst HURST zusammen, was auch für die vorwiegend affektive Montage der hier untersuchten Filme gilt, „bietet er Nähe, überwindet Distanzen und rückt ferne Dinge durch Montage, Wechsel der Einstellungsgrößen und vor allem natürlich durch Nah-, Groß- und Detailaufnahmen ganz dicht an die Rezipienten heran.“143 Dass dies funktioniert, d. h. die Evokation über diese Mittel durchaus intensiv erfolgt, wird dadurch bestätigt, dass sich die meisten Filme des untersuchten Korpus um 2000 auf den Bereich der olfaktorisch-gustatorischen Kulinarik beziehen. Alle Filme der vitalaffektiven Dimension stellen die Ambivalenz des Ekels als abstoßend und anziehend zugleich im Feld der Ernährung dar. Ekelfilme, wie besonders Taxidermia, gehören dem Körper-Genre im doppelten Sinne an: Erstens arbeiten sie die körperliche Wahrnehmung der Figuren im Film selbst aus, und zweitens werden sie auch vom Rezipienten körperlich 142 Taxidermia – Friss oder stirb. 01:24:27. 143 Hurst, M.: Augen-Blicke des Ekels in Roman Polanskis Film Repulsion. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick.
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erlebt. Der Bruch von Tabus wie dem Kannibalismus und allgemein das Überschreiten von Ekelgrenzen erzielt deshalb in diesem Medium große Schockwirkungen. Damit ist Film potenziell subversiv.144 Wie kann das Theater hiermit überhaupt konkurrieren? Durch welche Mittel behauptet es sich auf dem Terrain des vitalaffektiven Tabubruchs um 2000? Dieser Frage soll im nun folgenden Kapitel nachgegangen werden.
144 Ebd.
3. Die performative Beschmutzung Ekeltheater
Dass das Theater in der Evokation von Ekelgefühlen durchaus mit den Mitteln von Roman und Film konkurrieren kann, beweist die öffentliche – feuilletonistische sowie boulevardjournalistische1 – Debatte, die das Regietheater auslöst. Gar von einem „Theaterkampf“2 zwischen abgeneigten, angeekelten Kritikern und den Theaterschaffenden ist die Rede. Die performative Wende des Theaters, die FISCHERLICHTE seit den frühen 1960er Jahren ausmacht3 – wie die Skandalisierung des Orgien Mysterien Theaters von NITSCH besonders veranschaulicht –, hat für hitzige Debatten gesorgt. Wieder angeheizt wurde die Empörung im Jahr 2006, als der Schauspieler Thomas LAWINKY den FAZ-Kritiker Gerhard STADELMAIER in Das große Massakerspiel. Oder Triumph des Todes tätlich bedrängte. Ist das Theater um 2000 zu einem bloßen Exzess verkommen4 und von der HANDKESCHEN Publikumsbeschimpfung zur Publikumsbeschmutzung übergegangen? STADELMAIER schrieb nach dem Eklat jedenfalls: „Nie […] habe ich mich in meinem über dreißigjährigen Kritiker-Leben so beschmutzt, erniedrigt, beleidigt gefühlt – und so abgrundtief traurig übers Theater.“5
1
Z. B. berichtet auch BILD über das sogenannte Ekel-Theater: Kollmann, Barbara: EkelTheater. Wie hält eine Schauspielerin DAS aus? http://www.bild.de/news/aktuell/ news/ekel-theater-226074.bild.html (29.01.2012).
2
Assheuer, Thomas: Der Theaterkampf. DIE ZEIT 16.03.2006 Nr. 12. http://www.zeit.de/ 2006/12/Verfremdung (29.01.2012).
3
Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 22.
4
So zumindest diagnostiziert Assheuer, Th. in: Der Theaterkampf.
5
Stadelmaier, Gerhard: Angriff auf einen Kritiker (18.02.2006). http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/debatten/theater-angriff-auf-einen-kritiker-1303442.html (28.01.2012).
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Mögliche Gründe für die Tendenz des Regietheaters um 2000, häufig Skandale zu provozieren und mit dem Etikett „Ekeltheater“6 versehen zu werden, sind in der Medienkonkurrenz zu finden. Erstens ist kaum zu bestreiten, dass Theaterstücke im Gegensatz zu Film und Roman meist nur dann die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit erhalten, wenn sie oft im wahrsten Sinne des Wortes aus der Rolle fallen. Zweitens kommt erschwerend hinzu, dass die Provokationsschwelle des Publikums um 2000 durch transmediale Gewöhnung an Skandale höher geworden ist. Nach SCHLAFFER ist die bildungsbürgerliche Tradition des Theaters längst überwunden und die „Nicht-Mehr-Schönen-Künste“ sind bereits zur Konvention geworden.7 Ein Mittel bleibt dem Theater dennoch – stärker als der Literatur und dem Kino –, um das gefeite Publikum zu erregen und um der Avantgarde zugeordnet zu werden: das unmittelbare Anekeln bis hin zur Live-Beschmutzung. Gemäß SCHLAFFER lässt sich der Zuschauer um 2000 zwar nicht mehr provozieren, dafür aber „quälen“.8 Eine Gewöhnung an diesen quälenden Affekt des Ekels tritt besonders im Theater nicht ein, denn dieses „biologische Warnsystem“9 kann hier noch schwieriger abgestellt werden als bei der Rezeption von Filmbildern oder beim Lesen eines Romans. Der Grund liegt in der primären Medialität des Theaters, welche das Ekelhafte im geteilten Raum von Akteuren und Zuschauern präsentisch verorten kann: einer Konfrontation mit dem Abjekt auszuweichen, ist im Theater fast nicht möglich. Bis auf die Möglichkeit, die feedback-Schleife durch das Verlassen des Raums zu unterbrechen, ist der Teilnehmer dem Ekel ausgeliefert. Durch die nicht gewollte Präsenz ist der Ekelauslöser im Theater aber nicht nur unausweichlich, sondern wirkt potenziell auch weit intensiver als mittelbare Abjekte z. B. in
6
Das Hamburger Abendblatt fasst die Debatte im Rahmen einer Diskussionsrunde mit fünf Theaterregisseuren wie folgt zusammen: „Momentan wird darüber diskutiert, ob auf Deutschlands Bühnen Schauspieler zu oft kotzen, pissen und onanieren müssen oder noch weitaus schrecklichere Dinge treiben. ‚Ekeltheater‘ sei das. Statt Stücke zu inszenieren, würden Regisseure ‚selbstgeschnitzte Blödmannszenen‘ und ‚Sprachverhunzung‘ auf die Zuschauer loslassen.“ Seegers, Armgard: Sex und Gewalt – geht das deutsche Theater zu weit? Hamburger Abendblatt 04.04.2006. http://www.abendblatt.de/kultur-live/article 389822/Sex-und-Gewalt-geht-das-deutsche-Theater-zu-weit.html (29.01.2012).
7
„Die Zeiten des Türenschlagens im Theater sind vorbei. Das Publikum hat sich an die Herausforderungen der Moderne gewöhnt. Selbst Menschen, die selten ins Theater gehen, wissen nun, was Stil ist, und halten den Enttäuschungen stand, ertragen die kahle Bühne, die dem Auge nichts sagt, eine Alltagssprache, die nicht erhebend klingt, am ehemaligen Ort der hohen Deklamation, Figuren, die gestaltlos und verbildet sind.“ Schlaffer, H.: Ekel-Kunst. In: Große Gefühle. Hg. v. ZDF-nachtstudio. S. 280.
8
Ebd.
9
Ebd., S. 281.
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Filmbildern.10 Die „Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt wird“11 betrifft hier nicht nur die Figuren, sondern vor allem die anwesenden Zuschauer, die sich sowohl empathisch mit einer Figur ekeln können als auch von den Akteuren aktiv angeekelt werden (z. B. wenn Flüssigkeiten über die Rampe spritzen). Potenziell können dabei anders als im Film alle Sinne angesprochen werden – auch die Nahsinne wie das Riechen, Schmecken und Tasten, über die Ekel stärker evoziert wird als über die Fernsinne des Sehens und Hörens. Der Begriff „Ekeltheater“ ist deshalb für solche Inszenierungen durchaus angebracht, weil es sich über das Kunst-Schöne hinwegsetzt, das seit der Antike die Distanz zwischen Kunstwerk und Rezipient gefordert hat.12 Im Ekeltheater darf bzw. korrekter muss nicht nur gerochen, gefühlt oder geschmeckt werden, sondern es avanciert bisweilen sogar zum Mitmachtheater. Für dieses Theater des Performativen trifft die von FISCHER-LICHTE geforderte Überwindung des Werkbegriffs seit der performativen Wende des Theaters13 umso mehr zu, als der Theaterbesuch nicht mehr nur ein rezeptives Präsenzereignis ist, sondern die Realität des Zuschauers aktiv miteinbezieht. Besonders in NITSCHS Orgien Mysterien Theater und in dem Kritikerskandalstück Being Lawinky des Regisseurs Sebastian HARTMANN zeigt sich, dass Ekeltheater über die leibliche Kopräsenz von Schauspielern und Zuschauern hinausgehen und alle Beteiligten zu Akteuren erheben kann. Kunst und Leben vermögen sich hier zu durchdringen wie in keiner anderen mit dem Theater konkurrierenden Form.
10 So stellt das Hamburger Abendblatt an den Regisseur Ulrich Khuon die berechtigte Frage: „Warum regen sich Zuschauer über Ekelhaftigkeiten auf der Bühne eher auf, als wenn sie sie im Fernsehen sehen?“ KHUON: „Wegen der physischen Präsenz. Wenn im Kinderstück die Hexe um die Ecke kommt, verkriechen sich die abgebrühtesten Kinder unterm Stuhl.“ Seegers, A.: Sex und Gewalt – geht das deutsche Theater zu weit? http://www.abendblatt.de/kulturlive/article389822/Sex-und-Gewalt-geht-das-deutsche-Theater-zu-weit.html (29.01.2012). 11 Menninghaus, W.: Ekel. S. 7. 12 Ebd., S. 60. 13 Vgl. z. B. Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 29.
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„K EINE ANGST VORM M ITSPIELTHEATER !“ 14 AKTEURE AN DER N AUSEA-G RENZE Abjekte wie Kot, Blut, Innereien, überreife Früchte zu berühren oder Körperflüssigkeiten zu verspritzen, gilt als Tabu.15 Dass dieser im Ekeltheater stattfindende Tabubruch um 2000 zur Norm geworden ist, soll hier gar nicht behauptet werden. Es handelt sich hierbei vielmehr um Ausnahmefälle des postdramatischen Theaters, welche das Potenzial haben, die Spezifität der theatralen Form in Abgrenzung zu sekundären und tertiären Medien aufzuzeigen. Für Fragen der Medienkonkurrenz ist eine Untersuchung von Performanzen des Ekeltheaters deshalb durchaus fruchtbar. Die Teilnahme an einer solchen Inszenierung ist selbst für weniger ekelanfällige Gemüter eine „extrem starke körperliche Erfahrung, die auf besonders intensive Weise die Aufmerksamkeit auf den eigenen Körper als einen in die Aufführung mit eingebundenen lenkt“.16 Das Orgien Mysterien Theater, das der Wiener Aktionskünstler NITSCH in seinem Schloss im niederösterreichischen Prinzendorf wiederholt veranstaltet, ist deshalb sowohl ein Akt der kulturellen Transgression als auch eine Möglichkeit für die Beteiligten, die Potenziale des Theaters als „FEST“17 am eigenen Leib zu fühlen.18 Die Analyse von NITSCHS Theater bezieht sich auf das 1998 abgehaltene SechsTage-Spiel, das als DVD-Zusammenschnitt vorliegt.19 Daran beteiligt sind ca. 500 Personen als Akteure, Organisatoren oder Orchesterteilnehmer. Es handelt sich um ein Theater ohne festgelegte Bühne bzw. ohne zeichenhafte Kulisse und Zuschauerraum – das gesamte Schloss ist die Spielstätte, auf der sich immer neue Gruppierungen aus Handelnden und Wahrnehmenden bilden. Ein repetitiver Vorgang ist dabei das Hereintragen einer gänzlich nackten, ans Kreuz gebundenen Person, de14 So fordert die Akteurin Anita Iselin in Being Lawinky das Publikum zu Beginn des Stücks auf, näher zu treten. Being Lawinky (Damals bekannt als: Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes von Eugène Ionesco). Regie: Sebastian Hartmann. Schauspielfrankfurt 2006. 00:14:50. 15 Zum Begriff des Tabus siehe Tabor, Jürgen: Tabu und Begehren: Metaphern einer Revolte. Wien: Passagen 2007. 16 Tecklenburg, Nina: Die Versuchungen des Ekels. Über Aufmerksamkeitsdynamiken in Herriët van Reeks und Geerten Ten Boschs FEMININE FOLLIES 2. In: Wege der Wahrnehmung. Hg. v. E. Fischer-Lichte et al. S. 153f. 17 Nitsch, Hermann: Das Orgien Mysterien Theater. Manifeste, Aufsätze, Vorträge. Salzburg, Wien: Residenz 1990. S. 11. 18 Vgl. Tecklenburg, N.: Die Versuchungen des Ekels. In: Wege der Wahrnehmung. Hg. v. E. Fischer-Lichte et al. S. 154. 19 Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. Joachim Schifer. Berlin: Edition Kröthenhayn 2006.
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ren Augen verbunden sind. Anschließend wird eine Kuh erschossen, ihr Blut in einer Wanne aufgefangen und ihr Fell abgezogen. Nachdem ihr Körper aufgerissen wurde, beginnt das ekstatische (Durcheinander-)Wühlen der Teilnehmer in ihren Innereien. Der ausgeweidete Kadaver (in dieser Aktion auch Schweine, in früheren Aktionen oft ein Lamm) wird auf den nackten gekreuzigten Menschen gebunden. Komplettiert wird dieses „Urbild“20 durch das Fließen des Tierbluts aus dessen Mund (Abb. 13). Abb. 13: Das Urbild: Der Gekreuzigte unter dem Tierkadaver.
Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. Joachim Schifer. Berlin: Edition Kröthenhayn 2006 (00:30:15).
Obwohl es Handelnde gibt, die im Zentrum des Geschehens stehen – die Gekreuzigten, die Helfer und die sich Berauschenden –, kann hier nicht von einem Schauspiel mit protagonistischen Helden die Rede sein. NITSCHS „Aneinanderreihung gezielt inszenierter realer Geschehnisse“21 soll die Zuschauer jenseits einer dramatischen Handlung erregen, ohne den Umweg über einen Helden als Identifikationsperson: im o. m. theater werden diese identifizierungsvorgänge umgangen. alle zuschauer erleben die abreaktion direkt. der grundexzess wird unmittelbar ohne mythische verschlüsselung berührt. alle zuschauer steigen ins „unbewusste“ hinab und werden „selber auferstandene“.22
20 Kommentar Hermann Nitsch auf DVD: Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. J. Schifer. 01:55:38. 21 Tabor, J.: Tabu und Begehren. S. 173. 22 Nitsch, H.: Das Orgien Mysterien Theater. Manifeste, Aufsätze, Vorträge. S. 14.
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Bei NITSCHS Aktion handelt es sich folglich nicht um Darstellungstheater, sondern im Mittelpunkt steht die Körperlichkeit und die gemeinschaftliche „[E]rlebnisfähigkeit“23 der Spielteilnehmer. Dass die Überschreitung solcher Ekelgrenzen in der Gemeinschaft erfolgt, exponiert NITSCHS Theater von der Isoliertheit der Roman-Rezeption oder dem reglementierten Sitzen im dunklen Kinosaal. Es verdeutlicht, dass Theater nicht nur Kollektivrezeption bedeutet, sondern ein Gemeinschaftserlebnis ist. Hierdurch wird es dem OMT24 erst möglich, den Menschen zu einer solchen aktiven Transgression zu bewegen – die Dynamik der Masse wirkt ansteckend und rauschhaft.25 Förderlich ist weiterhin, dass die Abreaktion im Vorfeld von NITSCH durchkomponiert wird und durch die ernsthafte Durchführung streng nach Plan/Ritual in einem quasi-sakralen Rahmen stattfindet. Laut Julius KREBS kann dadurch allgemein eine Lust am Ekel in Bezug auf Blut, Kot und weitere Flüssigkeiten erlebt werden, weil „das betreffende Sekret eine Art Transsubstantiation erfährt.“26 Gleichzeitig ist dieses reale, dreidimensionale Erleben der Teilnehmer aber für die intensive Ekelevokation prädestiniert. Die gleichzeitige Anwesenheit des empfindenden Körpers und des Abjekts – für manche Teilnehmer unmittelbar unter dem geöffneten Tier liegend und mit diversen Flüssigkeiten überlaufen – ermöglicht eine Affektion, wie sie der Zwei-dimensionalität des Films und der sprachlichen Medialität des Romans freilich nicht möglich ist. Das OMT braucht keinen Umweg über die Sprache zu nehmen und kann direkt alle fünf Sinne der Teilnehmer „bis zur exzessiven Intensität“27 ansprechen. So NITSCH: „ich wollte, dass sich zwischen unseren empfindungen und wahrnehmungen keine geschriebenen oder gesprochenen worte mehr keilen.“28 Entsprechend wird das Geschehen nicht von dramatischen Dialogen begleitet, sondern es legt sich ein ernsthaftes Schweigen über das aktive Handeln, um das Geschehen sensualistisch aufnehmen zu können. Über die Stärke der Eindrücke wie die Gerüche der zerquetschten Tierdärme und aufgerissenen Tierkörper kann an dieser Stelle nur gemutmaßt werden, da der zweidimensionale Mitschnitt weder sprachliche Hinweise hierzu enthält noch mit Affektbildern von ekelaffizierten Teilnehmern dient. Lediglich einmal ist an einer Akteurin, auf der die Abreaktion stattfindet – man wühlt in einem auf ihr liegenden Tierkörper – ein 23 Ebd., S. 123. 24 Im Folgenden verwendete Abkürzung für Nitschs Orgien Mysterien Theater. 25 Tabor, J.: Tabu und Begehren. S. 182. 26 Krebs, Julius: Ekellust. In: Kursbuch. Hamburg: Zeitverl. Bucerius 1965. S. 97. 27 Kommentar der Sprecherin auf DVD: Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. J. Schifer. 00:05:37. 28 Nitsch, zitiert nach: Schreiner, Florian: Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. Joachim Schifer. Berlin: Edition Kröthenhayn 2006. S. 25.
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Zusammenziehen der Gesichtszüge und der Versuch, Mund und Nase vor den sinnlichen Eindrücken zu versperren, zu erkennen (Abb. 14). Abb. 14: Das Aktionstheater des Hermann Nitsch.
Der verkrampfte Versuch einer Teilnehmerin, das Tierblut nicht in die Körperöffnungen gelangen zu lassen. Ihr Gesichtsausdruck lässt auf Ekel durch die unmittelbaren Sinneseindrücke schließen. DVD 2. Teil (00:08:09).
Mit FISCHER-LICHTE ist aber anzunehmen, dass es gerade der Geruch ist, der die Atmosphäre des OMT durchdringt und unausweichlich prägt.29 Die olfaktorische Wahrnehmung wäre in dieser Intensität auch durch eine detaillierte Beschreibung im Roman nur von einem Leser zu imaginieren, der real bereits eine ähnliche Erfahrung gemacht hat – fern der Supermarktästhetik von Fleisch in Kühlregalen. NITSCH will durch diese oberflächliche, „abgeflacht[e]“, „fast unsinnliche[…]“ AlltagsPerzeption dringen und wieder die innere Substanz der Dinge, welche die Sinne tiefer anspricht, zugänglich machen.30 Potenziell aber ist die Kunst des Romans – so räumt NITSCH in seinem zweiten Versuch zur Theorie des OMT trotz seines Misstrauens gegenüber der Sprache ein – ebenfalls zur Erweckung all dieser sensuellen Wahrnehmungen fähig:
29 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 205. 30 Nitsch, Hermann: Zur Theorie des Orgien Mysterien Theaters. Zweiter Versuch. Salzburg, Wien: Residenz 1995. S. 26.
214 | II. DIE V ITALAFFEKTIVE DIMENSION tatsächlich, der roman bietet alles, was sprache im erzählerischen sinn bieten kann, und kommt so dem gesamtkunstwerk nahe. alle fünf sinne, der geruchssinn, der geschmack, das gehörte, das visuelle wie auch der tastsinn, sogar temperaturempfindungen werden in der erinnerung und phantasie des lesers wachgerufen.31
Doch bleibt dieses Erleben immer auf der Ebene der Phantasie stehen, wie es besonders im OMT nicht der Fall ist. Daraus ergibt sich für NITSCH eine bedeutende Differenz zwischen der Kunst des Romans und dem Theater als Spektakel: der roman darf sich langeweile erlauben, mit der zu lesenden literatur hat man geduld. das theater erlaubt keine langeweile; eben weil die phantasie des zuschauers fast nicht stattfinden kann, will der zuschauer unbedingt unterhalten werden. die gesprochene literatur ist am theater in schwacher position.32
Eine solch spektakuläre, tiefensensuelle Unterhaltung bietet das OMT den an den degoutanten Abreaktionen synästhetisch Beteiligten. Neben intensivem Riechen und Fühlen werden auch ihre Fernsinne stark angesprochen: Die Aktionen sind teilweise untermalt mit „EKSTATISCHE[R] LÄRMMUSIK“33 und das Sehen wird durch live produzierte originale Bilder vertieft. Ebenso wie das OMT keinen Umweg über die Sprache geht, benutzt NITSCH für seine Schüttbilder keine Farbe, die etwas abbilden soll, sondern reale Substanzen wie vor allem Blut (Abb. 15).
31 Ebd., S. 89. 32 Ebd., S. 90. 33 Nitsch, Hermann: Zur Theorie des O.M. Theaters. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. Klaus Lazarowicz und Christopher Balme. Stuttgart: Reclam 1991. S. 675.
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Abb. 15: Das Aktionstheater des Hermann Nitsch.
Kulissenartiges Schüttbild aus Blut, das am 5. Tag hinter den Gekreuzigten angefertigt wird. DVD 2. Teil (01:10:00).
Mit diesen beiden Bedingungen – Entsagung von der Indirektheit der Sprache und der Bilder-Illusionen des Films – exponiert sich NITSCHS Theater maximal von den anderen hier zu untersuchenden medialen Formen. In der Realität des OMT gibt es weder etwas zu erzählen noch etwas darzustellen; es ist vielmehr eine reine Perzeption von präsentischen Eindrücken, die im Alltag vermieden werden, da sie als tabu gelten oder als abstoßend empfunden werden. Nun drängt sich die Frage nach dem tieferen Sinn dieser besonderen Theaterform auf – jenseits der bedeutsamen Tatsache, dass NITSCH hiermit grundsätzlich die Potenziale des Theaters in der Konkurrenz der Medien aufzeigt. Wie seine umfangreiche Theorie herausstellt, geht es im OMT um die Auslösung eines kathartischen Schocks, der die Teilnehmer zu einer Art Neugeburt führt.34 Der Schock wird durch die ekelerregenden Substanzen ausgelöst, wobei der Wiener Aktionskünstler selbst aber nicht erklären kann, warum uns gerade „alles schleimige, fleischige, weiche, gallertige, flüssige zu intensivem empfinden auf[fordert]“.35 Allerdings stellt er in seiner Theorie eine sinnvolle Verbindung solcher Abjekte zu der menschlichen Angst vor Tod und Zerstörung her, ebenso wie zur Angst vor der zivilisatorischen Unterdrückung des tief verankerten Wunsches, selbst zu jagen und zu töten.36 Die 34 Kommentar Hermann Nitsch auf DVD 2. Teil: Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. J. Schifer. 00:04:57. 35 Nitsch, H.: Das Orgien Mysterien Theater. Manifeste, Aufsätze, Vorträge. S. 129. 36 Ebd., S. 130.
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Unterdrückung dieses Grundwunschs führt laut NITSCH zu Kollektivneurosen, die sich in Krieg und Angst in der Gesellschaft manifestieren.37 Indem sich der OMTTeilnehmer im reglementierten Rahmen des sechstägigen dionysischen Spiels wieder auf die sonst durch Hygieneforderungen unterdrückte Leiblichkeit zurückbesinnt – sich von Blut, Körper- und überreifen Fruchtsäften38 bespritzen lässt –, wird eine Psychohygiene erzielt.39 Während die Romanfigur Elizabeth Kiel diese in Schoßgebete durch therapeutische Gespräche erlangen will, z. B. um den Wunsch zu unterdrücken, dass der Stiefsohn stirbt, soll im OMT eine Reinigung durch reale Ersatztaten stattfinden. Die Psyche der Handelnden wird nach außen getragen in Form von Handlungen: „etwas, was früher innen war und uns belastete, treibt sich nach außen, wird sichtbar, wird nach außen gerissen und wird bewußt.“40 Insofern erhält das Theater hier wie der Roman – und auch teilweise der Film über VoiceOver-Stimmen der Innerlichkeit der Figuren – eine psychische Dimension und erwirkt sogar darüber hinaus eine Reinigung der Teilnehmer. Das, wie NITSCH es nennt, hinunterloten in verdrängte Bereiche,41 erfolgt nicht wie beim Romanlesen oder beim Filmschauen durch die Außenperspektive eines Rezipienten, der kein Teil einer fiktionalen Handlung ist, sondern im OMT ist der Teilnehmer in einem realen Geschehen mit dem eigenen Verdrängten konfrontiert. Die Dichotomie von Kunst und Leben kann folglich in dieser Form des Theaters überwunden werden, während bei Film und Roman das Werk, d. h. die Worte und Bilder, inhaltlich vom Leben des Rezipienten getrennt bleibt. Die Ästhetik des Performativen, wie NITSCH sie betreibt, besitzt eher die Macht, eine reale Verwandlung im Menschen auszulösen, weil die Differenz von wahrnehmenden Subjekten im Zuschauerraum und Objekten auf der Bühne aufgelöst wird. Entsprechend ausgeprägt ist auch die öffentliche Skandalisierung von NITSCHS Aktionen. So ruft das OMT sowohl Kirchenanhänger als auch Tierschützer42 auf
37 Lazarowicz, Klaus: Zur Theorie des O.M. Theaters [Kurze Einführung vor dem Abdruck des Nitsch-Texts]. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. ebd. und Christopher Balme. Stuttgart: Reclam 1991. S. 673. 38 So findet am ersten Tag ein kollektives Tomatenzertreten statt (00:34:48) und am zweiten wühlt eine Gruppe in mit tierischen Innereien vermischten Weintrauben (00:40:13). DVD: Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. J. Schifer. 39 Zu Nitschs Äußerungen zur Psychohygiene siehe: Nitsch, H.: Zur Theorie des O.M. Theaters. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. K. Lazarowicz und Ch. Balme. S. 675f. 40 Ebd., S. 676. 41 Ebd., S. 674. 42 Angemerkt werden muss, dass Nitsch eigenen Angaben zu Folge nur Tiere tötet, die entweder krank sind oder ohnehin geschlachtet werden sollten. In den sechs Tagen werden
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den Plan, wodurch seine Aufführung 1998 mehr Pressemeldungen bewirkte als die Salzburger Festspiele.43 Für FISCHER-LICHTE liegt es aber per se in der Ästhetik des Performativen, auf Grenzüberschreitung zu zielen bzw. darauf, „Grenzen in Schwellen zu verwandeln“ und eine „Kunst des Übergangs“44 zu schaffen. Doch wie sich auch in der nun folgenden Analyse des Stücks Being Lawinky des Regisseurs Sebastian HARTMANN45 zeigt, sind es die feuilletonistischen Kritiker, die sich als Schwellenhüter erweisen und besonders gegen das sogenannte Mitmachtheater Aversionen hegen. Eine Transgression findet sowohl bei NITSCH als auch bei HARTMANN lediglich innerhalb der eigenen Kunstform, auf inhaltlicher Ebene, statt. Beide verfolgen keine intermedialen Strategien, um sich in der Medienkonkurrenz zu etablieren, sondern betonen vielmehr die differenten Möglichkeiten ihrer Live-Kunst. Indem sie innerhalb dieses festen Rahmens der primären Medialität des Theaters mit teilweise ekelerregenden Tabuüberschreitungen zu provozieren wissen, ziehen sie dennoch die mediale Aufmerksamkeit auf sich. – Nun, worin besteht der Skandal von Being Lawinky, und warum durfte diese Inszenierung nur bei ihrer ersten Aufführung den Titel Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes von Eugène Ionesco tragen? Am 16. Februar 2006 wird in einer Nebenspielstätte des Schauspiels Frankfurt unter der Regie von Sebastian HARTMANN das Stück Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes von Eugène Ionesco aufgeführt. Die Hauptrolle spielt Thomas LAWINKY und im Publikum sitzt der FAZ-Kritiker Gerhard STADELMAIER. Die Inszenierung bezieht sich sehr frei auf das dem absurden Theater zuzuordnende Stück Jeux de massacre von IONESCO.46 Da es in IONESCOS Stücken meist keine „logischfolgerichtige Handlung“47 gibt und die Figuren keine geschlossenen Charaktere sind, sondern vielmehr allgemeingültige Probleme repräsentieren wie auch ihre Dialoge offen und unterbrechbar sind, folgt auch HARTMANNS Inszenierung diesen Stilmitteln: Die Schauspieler sollen entsprechend spontan und interaktiv mit dem
sie auf Schloss Prinzendorf verzehrt. Interview mit Hermann Nitsch: DVD 2. Teil: Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. J. Schifer. 43 Dies weiß zumindest die Sprecherin auf der DVD zu berichten. Ebd., 2. Teil 00:25:37. 44 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 359. 45 Damals bekannt als: Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes von Eugène Ionesco. Schauspielfrankfurt 2006. 46 Büttner, Gottfried: Absurdes Theater und Bewußtseinswandel. Über den seelischen Realismus bei Beckett und Ionesco. Berlin: Westliche Berliner Verlagsgesellschaft Heenemann 1968. 47 Ebd., S. 24.
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Publikum spielen.48 So wird in der Inszenierung ein Stoffhuhn namens Ingo49 geboren, das LAWINKY dem Kritiker in der ersten Reihe unvermittelt auf den Schoß legt. Der Feuilletonist mokiert sich darüber – STADELMAIER sieht das Tier später in seinen Kritiken nicht als Plüschhuhn, sondern als toten Schwan an50 –, woraufhin der Schauspieler den Notizblock des Kritikers an sich nimmt und ihn bloßstellt. Als dieser den Saal verlassen will, schreit LAWINKY ihm unflätige Beleidigungen nach. All dies kann hier lediglich aus den Medienberichten über diesen Theaterskandal inklusive STADELMAIERS eigens verfassten Artikel rekonstruiert werden. Ein Mitschnitt genau jener eklatanten Premiere steht auch der Forschung nicht zur Verfügung. Dennoch lohnt sich für die Analyse der vitalaffektiven Dimension der Medienkonkurrenz ein genauer Blick auf die Aufzeichnung einer der darauffolgenden Vorstellungen. Diese Inszenierungen dürfen aufgrund verletzter Werktreue auch nicht mehr den Bezug zu IONESCO herstellen, sondern werden unter dem neuen, werbewirksamen Titel Being Lawinky aufgeführt. Das Etikett Ekeltheater haftet der HARTMANN-Inszenierung aber weiterhin an – nicht allein weil STADELMAIER in seinem Artikel schreibt, er habe sich in seinem „Kritiker-Leben“ nie „so beschmutzt, erniedrigt, beleidigt gefühlt – und so abgrundtief traurig übers Theater.“ – Sondern auch, weil HARTMANN die Ekelevokation offensiv als eines der wirksamsten Mittel der Provokation im Regietheater einsetzt. Möglich wird dies durch die völlig freie Interpretation der literarischen Vorlage im dreidimensionalen Raum der Bühne. Der Regisseur gibt dem Schauspieler keine feste Rolle vor, sondern lässt ihn aktiv mitgestalten und die Potenziale des Theaters voll ausschöpfen. Eines davon ist das unmittelbare Anekeln und Provozieren des Publikums. Dass es in dieser Inszenierung von Being Lawinky51 keine klare Trennung von Schauspielern, ihren 48 http://www.theaterverzeichnis.de/rueckblick06-07.php (30.01.2012). 49 So ist es ebd. nachzulesen und auch im vorliegenden Mitschnitt einer späteren Inszenierung ohne Lawinky ist es ein Plüsch-Huhn. 50 „Denn als ich über den toten Schwan, den die Schwangere aus ihrem Fruchtwasser hervorpreßte, zu lächeln wagte, sagte der Schauspieler Thomas Lawinky zu einer Mitspielerin: ‚Der da‘ (und da deutete er auf mich) ‚hat gerade gelacht. Zeig dem mal das Kind.‘ Dann legten sie mir den toten Schwan in den Schoß, und Herr Lawinky forderte mich auf: ‚Schreiben Sie, daß das ein schönes Kind ist, schreiben Sie das. Sie sehen doch so klug aus.‘ Auf meine leise gemurmelte Replik: ‚Sie leider nicht‘, riß er mir meinen Kritikerblock brutal aus der Hand, rannte auf die Spielfläche, hob meinen schönen Spiralblock wie eine Trophäe hoch und schrie: ‚Wollen mal sehen, was der Kerl geschrieben hat.‘“ Stadelmaier, Gerhard: Angriff auf einen Kritiker (18.02.2006). http://www.faz.net/ aktuell/feuilleton/debatten/theater-angriff-auf-einen-kritiker-1303442.html (28.01.2012). 51 Angemerkt werden muss, dass der vorliegende Mitschnitt des postdramatischen „Mitspiel“-Theaterstücks Being Lawinky (Regie: Sebastian Hartmann. Schauspiel-frankfurt 2006) noch weniger aussagekräftig ist als die analysierten Mitschnitte von Theaterauffüh-
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Rollen und Zuschauern gibt, deutet sich bereits an, als das Publikum auf den Anfang der Aufführung wartet. Die Schauspielerin Nicole STELTEN und Milan PESCHEL, der die Nachfolge von Thomas LAWINKY angetreten hat, stehen direkt bei den Zuschauern, als STELTEN Aufmerksamkeit erregt, indem sie sich in ihre Nervosität hineinsteigert. Erst als sie beginnt, im Übermaß Wasser zu trinken und es in theatralischer Geste immer wieder auszuspucken bzw. zu erbrechen, wird evident, dass es sich hierbei um die Hauptakteure handelt und der gesamte Raum als Bühne dient.52 Durch diese Vermischung von Zuschauer- und Spielraum, von Realität und „Fiktion“, wird eine maximale Ekelevokation überhaupt erst möglich. Die Akteurin Anita ISELIN gebärt ihr Kind, das Plüschhuhn Ingo – bzw. laut STADELMAIER den toten Schwan – direkt unter das Publikum gemischt,53 und PESCHEL konfrontiert die Besucher mit dem Inhalt eines Eimers, in den er sich zuvor vorgeblich erleichtert hat. Er taucht mit der Hand hinein und hält den Anwesenden seine Exkremente regelrecht unter die Nase (Abb. 16).54 Abb. 16: Being Lawinky.
Regie: Sebastian Hartmann. Schauspielfrankfurt 2006 (00:50:35).
rung auf der Guckkastenbühne. Neben der schlechten Verständlichkeit der Dialoge ist es die Fixierung auf die Perspektive einer singulären Kamera, die verhindert, dass bei der Analyse des Mitschnitts nachvollzogen werden kann, wie der anwesende Zuschauer in diesem „beweglichen“ Publikum die Performanz miterlebt. 52 Ebd., 00:08:25. 53 Ebd., 00:27:17. 54 Ebd., 00:50:35.
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Bis auf eine Unterhose entblößt steht er vor den Sitzenden und beginnt gemächlich, sich den gesamten Körper mit der braunen Materie einzureiben (Abb. 17). Die Erweckung von Abscheu in dieser besonders nahen face-to-face-Situation – eine Bühnenrampe gibt es nicht – unterstreicht er mit der wiederholten Frage: „Bisschen eklig, oder?“ und der humoristischen Aufforderung mitzumachen: „Kann mir mal jemand den Rücken eincremen?“55 Abb. 17: Being Lawinky.
Regie: Sebastian Hartmann. Schauspielfrankfurt 2006 (00:51:52).
Die Ekelmomente in Being Lawinky sind Teil der „Variationen über das Absurde“,56 die sehr frei auf IONESCOS Stück bzw. vielmehr seiner Vorstellung von Theater basieren. Übernommen wird der zu keiner konsistenten Handlung führende Umstand, dass die Figuren mit einem mysteriösen Dahinraffen von Menschenleben konfrontiert werden, was wie im Traum aufgearbeitet wird: Wie bei IONESCO werden „Dialoge und Handlungsabläufe […] scheinbar willkürlich unterbrochen und kennen oft weder einen echten Beginn noch ein Ende.“57 Eine Frau erzählt zum Beispiel hektisch von ihrem Strandurlaub, bei dem sie den Tsunami überlebt und das große Sterben mit ansehen musste. Am Ende findet sogar eine Kreuzigung statt, bei der sich PESCHEL zu seinem Begriff des absurden Theaters äußern soll.58 55 Ebd., 00:51:52. 56 So heißt es in der Beschreibung des Stücks auf der Internetseite des Schauspiels Frankfurt. http://www.buehnenfrankfurt.de/content/schau_alt/spielplan/stueckinhalt7eec.html? InhaltID=4166 (11.02.2012). 57 Büttner, G.: Absurdes Theater und Bewußtseinswandel. S. 25. 58 Being Lawinky. Regie: Sebastian Hartmann. Schauspielfrankfurt 2006. 01:54:47.
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Es sind etappenartige Schocks, die nach IONESCO im Theater evoziert werden sollen. Hierdurch wird die Zerrissenheit sowohl des Makrokosmos als auch der individuellen Mikrokosmen vorgeführt, wodurch das absurde Theater – sowohl im Sinne IONESCOS als auch in HARTMANNS Inszenierung – eine psychische Dimension auf die Bühne bringt. Während das dramatische Theater meist nur aus Schauspiel besteht und die Innenperspektive der Figuren – anders als im Roman oder Film mittels Voice-Over-Stimme – allein durch eine konsistente Handlung („A hängt mit B, B wiederum mit C zusammen, so daß sie eine Reihe oder Sequenz ergeben“59) offenbart wird, kann das absurde Theater innere Problemlagen aufzeigen. Das Verhalten der innerlich zerrissenen Personen löst wiederum beim Theaterbesucher Schock und auch Ekel aus und involviert das Publikum physisch wie psychisch. Insofern ist Hartmanns Interpretation gar nicht so weit weg von Ionesco, wie es dem Stück, das gegen das Urheberrecht verstoßen hatte,60 vorgeworfen wurde – weshalb auch der Titel in Being Lawinky geändert werden musste. Der Skandal wurde aber weniger durch die sehr freie Interpretation ausgelöst als durch die Empörung, die Aufrüttelung des FAZ-Kritikers STADELMAIER durch Thomas LAWINKY. Dem Schauspieler wurde daraufhin sogar auf politischem Weg (nach Intervention der Oberbürgermeisterin von Frankfurt) die Rolle entzogen. Aus Solidarität, und damit das Stück weiter aufgeführt werden konnte, erklärten sich diverse Schauspielerkollegen bereit, die Rolle für jeweils einen Abend zu übernehmen und es im ursprünglichen Sinne als „Mitspieltheater“ fortzuführen.61 Der Kritiker dagegen lehnt offenbar das Regietheater gänzlich ab, das sich vom bloßen Inszenieren von literarischen Vorlagen abwendet: Man spielt in der Frankfurter Schmidtstraße aber nicht Ionescos „Großes Massakerspiel“, sondern offenbar ein Anti-Stück mit dem ungefähren Arbeitstitel „Entgrenzung“ oder auch „Aufhebung des Theaters“ (Ionescos Erben und Rechte-Inhaber sollten sich das ruhig mal anschauen). Schauspieler erbrechen minutenlang Mineralwasser, einer Schwangeren wird das Fruchtwasser abgezapft und dieses dann geschlürft, wobei eine andere Frau zwei Männer, die „Ein Bier!“ verlangt hatten, ausgiebig masturbiert und das Publikum gebeten wird, doch mit den Schauspielern mal rumzuwandern und hinter Wände zu horchen.62
59 Lehmann, H.-T.: Postdramatisches Theater. S. 143. 60 http://www.tagesspiegel.de/kultur/theater-frankfurter-inszenierung-heisst-kuenftig-beinglawinky/688026.html (11.02.2012). 61 http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-konzert/theater-being-lawinkyskandalstueck-mit-neuem-titel-1305411.html (26.06.2013). 62 Stadelmaier, G.: Angriff auf einen Kritiker (18.02.2006). http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/debatten/theater-angriff-auf-einen-kritiker-1303442.html (28.01.2012).
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Weit aufschlussreicher über die Skandalisierung dieses abstoßenden Regietheaterstücks ist aber, was STADELMAIER gleich im Anschluss kritisiert: Dieses Theater will nicht, daß man zuguckt und mitfühlt und sich eine Meinung oder gar eine Haltung bildet. Dieses Theater will auch keine Kritik. Es will, daß man mitmacht. Ich bin aber nicht im Theater, um mitzumachen. Ich gehöre nicht zum Theater.63
Worüber sich der Kritiker tatsächlich echauffiert, ist die Tatsache, dass sich HARTInszenierung die Theaterbedingung zunutze macht, dass kein Gerät zwischen den Zuschauer – und hier auch: den Kritiker – und die Schauspieler geschaltet ist. Es kann anders als Film und Roman direkt attackieren und machte besonders in der skandalträchtigen Premiere Gebrauch davon, indem der Feuilletonist aktiv in das Geschehen eingebunden wurde. STADELMAIER interpretiert diese Attacke auf das Kritikertum als die letzte Möglichkeit zur Provokationsevokation im Theater um 2000. Selbst der Ekel hat als Mittel zur Aufmerksamkeitserregung in der Medienkonkurrenz ausgedient:
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Und da aller Ekel, alle Provokationen, alles Ordinäre, alle Körpersäfte, alle Geschmacklosigkeiten und Ödnisse, alle Grenzüberschreitungen in diesem Lebensgefühlstheater schon durchdekliniert sind und dem leidlich abgestumpften Publikum alles an Zumutungen schon zugemutet wurde, besitzt das Aus-der-Rolle-Fallen Herrn Lawinkys einem Kritiker gegenüber sozusagen eine strukturelle Logik: Das blieb als Provokationsmöglichkeit gerade noch übrig.64
Die außerordentliche Intensität der Abneigung bis hin zur Skandalisierung lässt sich aber auch durch die Kombination von Ekel- und Mitmachtheater erklären. Es liegt auf der Hand, dass Mitmachtheater besonders dann negative Affekte auslöst, wenn es Ekelmomente bereithält. Was für den Kritiker wie auch den teilnehmenden Zuschauer dabei so problematisch sein kann, ist, dass dieses Theater ein kognitives, d. h. sorgfältig reflektiertes Geschmacksurteil, zunächst verhindert, indem ein solches durch den viel unmittelbareren, direkten, spontanen Affekt65 verdrängt wird: „Der Ekel ist etwas sehr viel direkteres, spontaneres und fast physiologischeres als das Geschmacksurteil.“66 STADELMAIER sieht sich physisch involviert, wo er lieber kognitiv involviert sein will. Darin drücken sich divergente Rollenverständnisse des Kritikers und der Theaterschaffenden aus. Der Kritiker möchte beobachten und re63 Ebd. 64 Ebd. 65 Perniola, M.: Ekel. Hg. v. G. Leghissa et al. S. 14. 66 Perniola, Mario: Abenteuer des Ekels. Zwischen Ästhetik und Politik: Geschmack und Demokratie. In: Lettre International. Berlin: Lettre international 1988. S. 33.
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flektieren, das Ekeltheater verhindert aber genau dies und schlägt ihm regelrecht aufs Gemüt. Eines wird bei der Analyse des Ekeltheater-Skandals um Being Lawinky besonders deutlich: Im Regietheater haben die Schauspieler67 und Zuschauer, die realen Personen, das Primat über die fiktiven Figuren. Letztere spielen weder in den feuilletonistischen Besprechungen des Stücks eine Rolle, noch sind sie in der vorliegenden Analyse über den Mitschnitt zu erschließen. Ihre Intentionen und sogar ihre Namen gehen in der Absurdität einer zerstückelten Handlung und in den abgehackten Dialogen unter. Den affizierten Teilnehmern wird keine Gelegenheit geboten, sich wie ein Filmzuschauer etwa über die Perspektive der Totale vom Geschehen zu distanzieren und wie ein Romanleser über die Figuren nachzudenken. Ihre Distanz ist anders als im Theater der Guckkastenbühne zu gering bzw. gar nicht vorhanden. Das heißt aber keinesfalls, wie es nun zu untersuchen gilt, dass Ekelevokation nur im Mitmachtheater wie dem von NITSCH oder HARTMANN stattfindet. Auch über eine Bühnenrampe hinweg kann Abscheu hervorgerufen werden, wie die Analyse von Frank CASTORFS Stücken zeigt.
ABGESTOSSENE Z USCHAUER G UCKKASTEN -T HEATER
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Das Publikum der Berliner Volksbühne unter der Intendanz von Frank CASTORF gilt als das „abgehärtetste der Bundesrepublik.“68 Vom feuilletonistischen Verriss unbeeindruckt sind die Inszenierungen der Volksbühne vor allem bei jüngeren Theaterbesuchern beliebt, obwohl sich das Publikum dort den verschiedensten Ekelgefühlen stellen muss.69 Auch Das obszöne Werk: Caligula von 2000 unter der Regie von CASTORF70 bietet ein breites Repertoire an Motiven zwischen Ekel und titelgebender Obszönität. Auf einer in orangerotes Licht getauchten Bühne führt CASTORF Albert CAMUS’ Stück Caligula von 1938 mit BATAILLES Die Geschichte des Auges 67 „Das Problem dieses Theaters aber […] besteht darin, daß dort Schauspieler keine Rollen spielen – sondern Lebensgefühle.“ Stadelmaier, G.: Angriff auf einen Kritiker (18.02. 2006).
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/theater-angriff-auf-einen-kritiker-
1303442.html (28.01.2012). 68 Witzler, Anja von: Meister linken Furors. Wo Kresnik draufsteht, ist auch Kresnik drin. In: Zehn Jahre Volksbühne – Intendanz Frank Castorf. Hg. v. Thomas Irmer u. Harald Müller. Berlin: Theater der Zeit 2003. S. 86f. 69 Zum Beispiel brutzelte dort in der Inszenierung von Johann Kresnik eine Schweinehälfte so lange vor sich hin, bis sie einen infernalischen Gestank verbreitete. Vgl. ebd., S. 86. 70 Zur Analyse liegt vor: Videoaufzeichnung der Vorstellung am 27. Februar 2000. Und: Regiebuch, Stand 05.01.2000.
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von 1928 zusammen. Caligula, der von Bernhard SCHÜTZ gespielte römische Kaiser Gajus Julius Caesar Germanicus,71 sieht nach dem Tod seiner inzestuös geliebten Schwester die Sinnhaftigkeit der Welt verloren. Versinnbildlicht wird dies im spartanischen Bühnenbild, das außer einem Klavier lediglich eine Kloschüssel beinhaltet, auf der sich Caligulas Frau Caesonia (Astrid MEYERFELDT) in der Exkretion abmüht (Abb. 18). Caligula eröffnet ihr, dass er eine Wahrheit herausgefunden habe: „Die Menschen sterben und sie sind nicht glücklich.“72 Improvisiert73 antwortet die auf dem Klo sitzende Schauspielerin MEYERFELDT verächtlich: „Ist ja eine grandiose Wahrheit. Da kann ich drauf scheißen.“74 Das Publikum reagiert deutlich vernehmbar mit Lachen auf diesen derben Ausdruck der „absolute[n] Nullität“75 durch den dialogischen und performative Kot-Bezug. Das Abführen der Exkremente über die Kloschüssel in ein unsichtbares Jenseits hat nach KOLNAI und auch Slavoj ZIZEK einen Bezug zum Tod. Erstens sind sie die „Zersetzungsprodukte des Lebens“,76 bei der vom lebendigen Organismus eine Art tote Substanz erzeugt wird, die zweitens durch die Toilettenspülung unwiederbringlich verschwindet, weil kein Bezug mehr dazu gewünscht wird: Und der Bereich, in den die Exkremente verschwinden, nachdem wir die Toilettenspülung betätigt haben, ist eine triftige Metapher für das erschreckend-erhabene Jenseits des sprichwörtlichen, vor-ontologischen Chaos, in dem Dinge sich auflösen.77
Die Konfrontation mit dieser, wie Florian WERNER sie nennt, „dunklen Materie“ bedeutet immer eine Ekelprovokation und besonders das Kotausscheiden auf der Bühne „bleibt ein Exzess“.78
71 Kaiser seit 0037. 72 Das obszöne Werk: Caligula von Georges Bataille und Albert Camus. Regie: Frank Castorf. Regiebuch Stand 05.01.2000. S. 3. 73 Im Vergleich zwischen der Aufzeichnung der Aufführung am 27.02.2000 und dem Regiebuch. 74 Das obszöne Werk: Caligula. Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2000. Videoaufzeichnung der Vorstellung am 27. Februar 2000. 00:04:58. 75 Rosenkranz, K.: Ästhetik des Häßlichen. Hg. v. D. Kliche. S. 296. 76 Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 30. 77 Zizek, Slavoj: Von Lust zu Ekel … und zurück. In: Große Gefühle. Bausteine menschlichen Verhaltens. Hg. v. ZDF-nachtstudio. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. S. 278. 78 Ebd.
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Abb. 18: Das obszöne Werk: Caligula.
Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2000. Videoaufzeichnung der Vorstellung am 27. Februar 2000 (00:01:34).
Obwohl die Performanz der Exkretion hier offensichtlich ein Schauspiel ist, ist diese postdramatische Form des Ekeltheaters ein größeres Skandalon als ToilettenSzenen im Film oder auch im Roman. Keineswegs wird in diesem Guckkastentheater – anders als beim Gedärme-Zerdrücken des Mitmachtheaters von NITSCH – mit echten Exkrementen umgegangen, sondern sie werden lediglich in der Präsenz des Theaters so behandelt, als ob sie real seien. Dies wird auch deutlich im Vergleich von Performanz und Regiebuch: Als Caligula von der Vergangenheit eingeholt wird, in Gestalt seiner geliebten Drusilla (Kathrin ANGERER), die ihm singend erscheint, steckt er den Kopf in die Toilettenschüssel. Als er braunverkrustet wieder auftaucht, leckt ihm Caesonia das Gesicht ab,79 was im Regiebuch mit folgender Anweisung beschrieben ist: „Astrid beginnt, Bernhard die Heilerde vom Gesicht abzulecken. (Lust!)“. Diese Aufführung im Guckkasten verbirgt zu keinem Zeitpunkt, dass es sich um ein Schauspiel handelt, welches das Degoutante und Obszöne lediglich darstellt. Zu Beginn gibt der Darsteller Kurt NAUMANN sogar zu: „Ich hatte sowieso keine Lust zu spielen“80, und Caligula/SCHÜTZ definiert das obszöne Spiel: „Es geht um das, was nicht möglich ist, oder vielmehr darum, möglich zu machen, was nicht möglich
79 Das obszöne Werk: Caligula. Regie: F. Castorf. 00:15:26. 80 Das obszöne Werk: Caligula von Georges Bataille und Albert Camus. Regie: Frank Castorf. Regiebuch Stand 05.01.2000. S. 4.
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ist.“81 Im Spiel ist es möglich, Ekelgrenzen zu überschreiten; Nausea empfinden bei CASTORF vermutlich nicht die Heilerde leckenden und urinfarbenen Saft trinkenden Akteure, sondern die Zuschauer, die es als Kot und Urin deuten. Dies alles legt die Vermutung nahe, dass es in diesem Ekeltheater der Guckkastenbühne, im rezipierten Schauspiel, kaum Differenzen zwischen Film und Theater gibt. Dennoch gibt es auch bei der Ekelevokation über die Rampe hinweg, welche klar zwischen Darstellern und Akteuren trennt, klare Unterschiede zwischen dem primären Medium des menschlichen Elementarkontakts und dem tertiären Medium Film. Erstens bleibt das Theater, die Handlungen der Akteure sowohl auf der Bühne als auch im Publikum, unberechenbar, denn es ist kein Gerät zwischen Schauspieler und Publikum geschaltet. Besonders im Ekeltheater ist das von WARSTAT beschriebene Lampenfieber des Zuschauers ein wichtiger Perzeptionsbestandteil, „denn Wahrnehmungsvermeidung im Theater ist schwierig.“82 Besonders einer olfaktorischen oder auch einer taktilen Bedrängung durch das Degoutante wie das Bespritzen des Publikums mit (wenn auch meist vermeintlichen) Exkrementen oder Körperflüssigkeiten kann kaum ausgewichen werden. So ist das Publikum hier in den ersten Reihen ANGE83 RERS Spucken über die Bühnenrampe nahezu ausgeliefert (Abb. 19) – es muss die Publikumsbeschmutzung auch im Guckkastentheater erdulden. Abb. 19: Das obszöne Werk: Caligula.
Kathrin Angerer spuckt mit vorgebeugter Geste über die Bühnenrampe. Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2000 (02:19:21).
81 Ebd., S. 5. 82 Warstat, M.: Vom Lampenfieber des Zuschauers. In: Wege der Wahrnehmung. Hg. v. Erika Fischer-Lichte et al. S. 88f. 83 Das obszöne Werk: Caligula. Regie: F. Castorf. 02:19:21.
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Hinzu kommt, dass im Ekeltheater, oder hier im obszönen Theater, gar mit dem Einbruch des Schmutzigen in den Raum der Zuschauer zu rechnen ist, wenn Simone (die Gespielin des Ich-Erzählers in Batailles Die Geschichte des Auges) alias ehemals Drusilla alias Kathrin ANGERER offenbart: „Ich liebe das, was man für ‚schmutzig‘ hält. Die übliche Ausschweifung kann mich nicht befriedigen, beschmutzt sie doch die Ausschweifung selbst.“84 Auch wenn der Urin, den sie mit einem Sektglas aus der Toilette schöpft und genussvoll trinkt, kaum echt ist, haben die Darstellerin und die Flüssigkeit dennoch im Gegensatz zum Film und zur sprachlichen Beschreibung im Roman eine reale Live-Präsenz – „das Gefühl der Sicherheit oder Erleichterung, nicht real davon tangiert zu sein“,85 das bei der Rezeption von Nausea-erregenden Filmen oder Romanen vorherrscht, greift hier nicht. Eine künstlerische Abmilderung des Ekelgefühls durch die Distanz zum Geschehen gibt es im Theater nicht. Die Lust am Verbotenen, das heimliche Ausleben der Faszination86 des ambivalenten Ekelgefühls durch die Kunst beinhaltet hier einen stärkeren Nervenkitzel als bei den anderen Medien, weil das Publikum im Theater prinzipiell nicht anonym und vom Geschehen getrennt bleibt. Dafür ist davon auszugehen, dass die Ekelevokation im Guckkastentheater wiederum dadurch abgeschwächt ist, dass aus der Zuschauertotale heraus kaum Details der Abjekte zu erkennen sind. Film und Roman exponieren sich vom Theater durch die Möglichkeit, Aktionen anhalten zu können und Details zeigen und reflektieren zu können. Dies ist ein bedeutendes Mittel der Intensitätserzeugung. Im Fall von CASTORFS zweiter hier zu untersuchender Ekelinszenierung, der Adaption von DOSTOJEWSKIJS Schuld und Sühne,87 findet die detaillierte Darstellung von Ekelhaftigkeiten dennoch statt, und auch ein weiterer wichtiger Punkt kann hier untersucht werden: In dieser Inszenierung geht es nicht allein um die Evokation von Ekel beim Publikum durch den obszönen Umgang mit dem verfemten Teil menschlicher Existenz, sondern hier sind es auch die Figuren selbst, die Nausea empfinden. Entsprechend soll im Folgenden auch analysiert werden, wie der Ekelaffekt der Figuren überhaupt mittels mimischer, gestischer und proxemischer Zeichen auf der Bühne aufgeführt werden kann. Ekeltheater stößt bei der Kritik allgemein auf großes Unbehagen – selbst wenn es kein direktes Mitmachtheater ist und das Abjekt auf die Bühne gebannt bleibt. CASTORFS Inszenierung des Romans Schuld und Sühne (2005) arbeitet gar mit gro84 Das obszöne Werk: Caligula von Georges Bataille und Albert Camus. Regie: F. Castorf. Regiebuch S. 49. 85 Anz, T.: Unlust und Lust am Ekelhaften in Literatur und Kunst. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 157. 86 Hurst, M.: Augen-Blicke des Ekels in Roman Polanskis Film Repulsion. In: Ekel. Hg. v. H. A. Kick. S. 85. 87 Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2005.
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ßen Filmleinwänden und trennt die Zuschauer mittels Leinwandprojektion vom unmittelbaren Ekelexzess. Ein „Reinfall“ sei die „von brutalen Sexpraktiken, der Darstellung von Fäkalien und anderen Abartigkeiten“ geprägte Inszenierung und „beeindruckend abstoßend.“88 Tatsächlich evoziert die Inszenierung ein hohes Maß an Ekel, weil sich hier das Taedium, der Lebensüberdruss des Protagonisten Radion Raskolnikow (Martin WUTTKE), mit dessen Nausea und der Übelkeit der anderen Figuren verbindet. Trotz der Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum wird das Publikum offenbar stark affiziert. Woran mag das liegen? Zunächst wird in CASTORFS Inszenierung das Milieu der Ärmsten der Armen auf eine Bühne gebracht, die sich sogar drehen kann. Der Langzeitstudent Radion lebt in dem mehrstöckigen Wohnkomplex, in dem es auch ein Wirtshaus gibt. Was sich im Inneren des Gebäudes abspielt, wird mittels Live-Kameras auf große Leinwände projiziert, die sich für das Publikum gut sichtbar am Gebäude befinden. Abb. 20: Schuld und Sühne (Adaption von Dostojewskij).
Das Bühnenbild. Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2005 (00:07:23).
Gleich die Exposition, übergroß auf die Leinwand gebracht (Abb. 20), offenbart: In diesem Stück bedeutet arm sein eklig sein. Radion isst in einem schäbigen Wirtshaus eine Schweinshaxe und wird von Porfirij Petrowitsch (Thomas THIEME), dem später gegen ihn wegen Mordes ermittelnden Staatsanwalt, bereits zu Beginn bedrängt, indem ihm dieser lautstark sein Leid ins Gesicht schreit. Porfirij nimmt das Vorgekaute von Radion zu sich und bekommt einen in der Großaufnahme seines Gesichts sichtbaren Würgeanfall. Er erbricht die gekaute Masse in einen Eimer. 88 http://www.rp-online.de/kultur/castorf-schockt-mit-luegen-sex-und-faekalien-1.1593263 (19.02.2012).
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Doch bei dieser Intensität an Ekelevokation, die nach ROSENKRANZ bereits die Maßstäbe der Kunst überschreitet,89 bleibt die Inszenierung um 2000 nicht stehen: Der über das Leben wütende Mann beginnt hastig, das eben Erbrochene, eine gelbbraune Masse, zu löffeln und wieder zu essen, um es gleich darauf erneut zu erbrechen und wiederholt zu essen.90 Mit theatralischer Geste reagiert der arme Langzeitstudent Radion auf diese Ekel-Attacke: Seine Mimik und Gestik weisen alle in den analysierten Filmen festgestellten Merkmale auf und doch sind sie an Intensität überspielt: Er reißt seine Hand in einer verkrampften Geste vor den Mund, gibt ein lautes Würgegeräusch von sich und plustert die Backen auf (Abb. 21). Abb. 21: Schuld und Sühne.
Überspielte Ekelgestik und -mimik. Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2005 (00:08:00).
Dieses dramatische Überspielen lässt die Zuschauer zu keiner Zeit vergessen, dass sie hier – obwohl sie über große Zeitspannen hinweg auf eine Leinwand blicken – im Theater sind und nicht im Kino. Denn das Spiel vor der Kamera eines Kinofilms verlangt dem Darsteller meist eine reduzierte Mimik, Gestik und Körpersprache ab, um nicht unglaubwürdig oder übertrieben zu wirken. Doch anders als ein Filmschauspieler richtet WUTTKE sein Spiel hier nicht nach innen, d. h. er unterspielt nicht, sondern er bleibt im Modus des theatralischen Überspielens, obwohl er vom Publikum über die Live-Aufnahmen einer Filmkamera wahrgenommen wird. Die
89 Rosenkranz, K.: Ästhetik des Häßlichen. Hg. v. D. Kliche. S. 301. 90 Schuld und Sühne, Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2005. 00:07:59.
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Figuren im Wirtshaus sind somit Theaterfiguren par excellence, die mit den medialen Bedingungen des Films übermittelt werden. Dadurch wirken die Nausea-Szenen in dieser Inszenierung in ihrer Affektion besonders intensiv: Der theatralisch dargestellte Affekt verstärkt sich auf der Leinwand und gleichzeitig ist die ekelerregende Handlung weitaus näher am Zuschauer als bei der Rezeption eines Films. Denn in dieser leinwandunterstützten Inszenierung von Schuld und Sühne müssen die Zuschauer jederzeit damit rechnen, dass das Ekelmoment auf die Bühne oder gar in den Zuschauerraum hineingeholt wird. Dies geschieht, als Radion/WUTTKE nach dem Ekeleklat im Wirtshaus aus dem Kulissengebäude stürzt und sich vorne auf der Bühne in hoher Fontäne übergibt bzw. eine Masse ausspuckt.91 Im Akt des Erbrechens entäußert sich die Intimität der Figur (der Magen dreht sich um),92 wodurch das Theaterpublikum einzigartig mit dem Intimen der Figur verbunden werden kann – eine ungewollte Nähe, die Ekel erregt. Dadurch wird deutlich, dass durch technische Medien auf der Bühne der live-Charakter des Theaters nicht untergraben wird, „wohl aber werden die Perspektiven, Modi und Gewohnheiten der Wahrnehmung verändert.“93 Die Perzeption dieser Performanz sieht ein Wechseln zwischen der mittelbar-filmischen Perspektive und der direkten Theaterperspektive, in die kein Gerät geschaltet ist, vor. Dadurch kann Ekel sowohl über die Mittel des Mediums Film – in der Übersteigerung des theatralen Schauspiels – wie auch des Theaters evoziert und dargestellt werden. Die Verbindung von primärer und tertiärer Medialität erreicht ein Höchstmaß an Nähe: Einerseits sind die mimischen Zeichen der Darsteller nicht auf die Totale des Theaters angewiesen und können detailliert betrachtet werden, andererseits sind die Abjekte wie auch die sich ekelnden Personen unmittelbar zugegen. So rennt der Protagonist Radion unablässig und unberechenbar wie ein lästiges Insekt zwischen Bühneninnenraum (das Wirtshaus, sein schäbiges Zimmer, der Raum, in dem er den Mord an der Pfandleiherin Aljona Iwanowa begeht sowie das Bordell) und -außenraum hin und her. Die dabei von ihm gebrüllte Botschaft lautet: „Der Mensch ist ein Schwein und gewöhnt sich an alles!“94 Der sich vor der Welt Ekelnde erzeugt eine Nähe zwischen seinem Taedium, das Nausea ausgelöst hat, und dem Publikum und damit ein Gefühl der Intimität, ohne das Ekelevokation gar nicht erst möglich ist. Indem das Theater andere Medien, wie hier das Filmen über Live-Kameras, in die eigene primäre Medialität des menschlichen Elementarkontakts integriert, kann es maximal affektiv wirken. Dass 91 Ebd., 00:09:36. 92 Liessmann, K. P.: „Ekel! Ekel! Ekel! – Wehe mir!“ In: Kursbuch 129. Hg. v. K. M. Michel et al. S. 102. 93 Fischer-Lichte, E.: Wahrnehmung und Medialität. In: Wahrnehmung und Medialität. Hg. v. ebd., Ch. Horn, S. Umathum und M. Warstat. S. 16. 94 Schuld und Sühne, Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2005. 00:19:50.
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auch das über die Leinwand übermittelte Geschehen95 nicht nur filmisch ist, sondern zur theatralen Präsenz gehört, verdeutlichen die Szenen, in denen die Darsteller in die ebenfalls auf der Bühne befindlichen Räume der Kameratechniker im wahrsten Sinne hineinstürzen.96 Bei CASTORF wird das externalisierte Innere zum Objekt des Theaters, die von Exkrementen verstopfte und überlaufende Toilette ist ein signifikantes Requisit dieses Ekel-Theaters. Sinnbildlich steht es für das eruptive Veräußerlichen des innerlichen Lebensüberdrusses des Langzeitstudenten Radion. Die extremen Zeichen von WUTTKES Spiel lösen offenbar starke Affekte beim Publikum aus, wie dem vorliegenden Mitschnitt über den Zwischenruf eines Zuschauers zu entnehmen ist. An der Stelle, an der Radion – auf der Außenbühne sitzend – von der eigenen Mordtat entsetzt schreit: „Was mach’ ich denn bloß? Das ist doch alles Unsinn!“, wird ihm dies von einer Stimme aus dem Publikum lauthals bestätigt.97 Ebenfalls ist eine laut geäußerte vokalische Interjektion des Ekels zu hören, als er sich in seiner Verzweiflung Erbrochenes über den Kopf schüttet.98 Diese Form der feedback-Schleife ist in der folgenden zu untersuchenden Performanz teilweise unterbrochen. In Karin BEIERS Komödie Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie von 2010 am Kölner Schauspiel gilt zwar noch der erste Teil von FISCHER-LICHTES Definition: „Was immer die Akteure tun, es hat Auswirkungen auf die Zuschauer“.99 Aber der zweite Teil – „und was immer die Zuschauer tun, es hat Auswirkungen auf die Akteure“100 – trifft nicht mehr im vollen Ausmaß des primärmedialen Potenzials des Theaters zu. Letztere Aktionen haben lediglich noch Auswirkungen auf die anderen Zuschauer. Diese Durchbrechung der unmittelbaren feedback-Schleife erfolgt dadurch, dass sich die schmutzigen, hässlichen und gemeinen Figuren dieses Stücks hinter Container- und Glasfronten befinden. So stellt sich die Frage, ob diese an die medialen Bedingungen des Films angelehnte räumliche Trennung von Darstellern und Rezipienten die Ekelevokation im Theater abmildert und inwiefern sich die 95 Wie auch das in der Nahaufnahme dargestellte Putzen und Wühlen in von Kot und Erbrochenem verschmutzten Toiletten z. B. ebd., 00:08:52 und 00:20:43. 96 Ebd., 00:23:12. 97 Ebd., 00:23:48. Hier wird zwar deutlich, dass der Zuschauer im Theater als KoProduzent figuriert, doch kann über einen Mitschnitt wie den vorliegenden, der das Publikum nicht zeigt, der Besucher kaum analysiert werden. Das Publikum bleibt eine unbekannte variable Größe, wie auch keine Bühnenperformanz je der anderen genau gleichen kann. 98 Ebd., 00:26:09. 99 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 59. 100 Ebd.
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Distanzierung auf die gespielten Zeichen des Ekels, den dargestellten Ekel der Figuren, auswirkt.
ALTERNATIVE B ÜHNENFORM : F ERN -E KEL IM C ONTAINER -T HEATER Radion ist ein „Mörder aus Philosophie“.101 Er mordet aus Ekel vor dem Leben und Überlegenheitsdünkel, macht sich gar die Mühe, seine Tat in einer Literaturzeitschrift theoretisch zu begründen, wo er anonym darlegt, inwiefern außergewöhnliche Menschen natürliche Vorrechte bis hin zu Mord genießen. Gänzlich anders sind die Taten der Unterschichten-Täter aus BEIERS Komödie Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen (2010) motiviert.102 Die in einer Armensiedlung lebende Großfamilie bestreitet ihren spärlichen Lebensunterhalt mit Kleinkriminalität. Ihr Familienoberhaupt Norbert (Markus JOHN) verfügt aber seit seinem Arbeitsunfall über 66.000 Euro, weshalb sämtliche Familienmitglieder versuchen, ihm das Geld abzunehmen. Die einzige Motivation aller Beteiligten ist Gier. Diesem Geschehen wohnen die Zuschauer meist aber nur über die visuelle Ebene bei: Das Publikum blickt auf einen die ganze Bühnenbreite einnehmenden Container mit sechs schaufenstergroßen Scheiben. Was dahinter vor sich geht, kann es sehen (Abb. 22), aber nur gedämpft hören. Zwischen die natürliche feedback-Schleife des Theaters stellen sich Wellblech und Fenster, weshalb die Akteure den Zuschauern lediglich ein Seh-Stück bieten können, ein Schauspiel im engen Sinne. Jedoch ist nicht allein die auditive Wahrnehmung des Zuschauers beschnitten, sondern wie ein Voyeur hat er mit der Verwirrung des Blicks zu kämpfen: Fenster bieten lediglich Ausschnitte diverser Wohnräume, und ihre Vielzahl erfordert immer eine Selektion der zu beobachtenden Szenerie. Während die Avantgardisten des postdramatischen Theaters die Guckkastenbühne zugunsten neuer Raumkonzeptionen abschafften,103 intensiviert BEIERS Inszenierung diese Form des distanzierten Theaters und macht es dadurch ebenfalls unmöglich, einer dramatischen Handlung zu folgen. Eine „perspektivisch fixierte
101 Cerny, Karin: Steen blaiben Ferboten. (28.05.2005) http://www.berliner-zeitung.de/ newsticker/russische-breite--frank-castorf-inszeniert-dostojewskis--schuld-und-suehne-bei-den-wiener-festwochen-steen-blaiben-ferboten,10917074,10288494.html (25.02.2012). 102 Das Stück basiert auf dem neorealistischen italienischen Film Brutti, sporchi e cattivi von Ettore Scola (1976). 103 Fischer-Lichte, E.: Einleitung. Wahrnehmung – Körper – Sprache. In: TheaterAvantgarde. Hg. v. ders. S. 7.
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Beobachterposition“104 wird dadurch unterlaufen. Selbst wenn die Zuschauer wie im klassischen Guckkastentheater ihre Position nicht wechseln, folgen sie hier dennoch – anders als bei der Filmrezeption, bei der der Blick über die Aufnahmen des Kameraobjektivs geführt wird – jeweils individuell perspektivenselektiv dem Schauspiel. Abb. 22: Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie.
Das Bühnenbild. Regie: Karin Beier. Kölner Schauspiel 2010 (01:07:17).
Vieles kann ihnen dabei entgehen, was aber nach Sabine SCHOUTEN nicht bedeuten muss, dass eine intensive Perzeption nicht möglich ist: Fördern Theateraufführungen durch den Entzug des Raumes schon immer die Aufmerksamkeit des Zuschauers, so ist der Entzug als ästhetisches Instrument der Inszenierung eine Aufforderung zur bewussten aisthetischen Wahrnehmung. Die alltägliche Perzeption, darauf trainiert, eine Flut von Eindrücken in Reiz-Reaktions-Schemen verebben zu lassen, setzt aus. Stattdessen erweist sich die Entzugserfahrung […] als produktive Klammer zwischen Subjekt und Objekt: Mit der Reduktionserfahrung geht eine Intensivierung der Wahrnehmung einher, die letztlich zu einer Potenzierung der Präsenzerlebnisse, zur „phänomenalen Fülle“ führen kann.105
104 Ebd. 105 Schouten, Sabine: Zuschauer auf Entzug. Zur Wahrnehmung von Aufführungen. In: Kunst der Aufführung – Aufführung der Kunst. Hg. v. E. Fischer-Lichte, C. Risi, J. Roselt. S. 115f.
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Entsprechend signifikant ist es dennoch, dass gerade die Szenen des Ekels so aufgeführt werden, dass sie nicht zu übersehen sind und sich dem Zuschauer trotz der bühnentechnischen Distanz aufdrängen. Es sind jene Szenen, in denen die Inszenierung nicht fernsehartig das WATZLAWICKSCHE Axiom unterbindet, dass ko-präsente Akteure nicht nicht aufeinander reagieren können.106 Das spricht dafür, dass das Theater Ekelevokation als strategisches Mittel in der Medienkonkurrenz einsetzt, um dem Zuschauer ein intensives Perzeptionserlebnis zu bieten. Der Ekel wird nicht lediglich als Handlungselement auf die Bühne gebracht, sondern drängt sich sogar im distanzierten Theater in den Vordergrund. Dies beginnt bereits damit, dass das Familienoberhaupt vor die Containertür tritt (auf die Außenbühne unmittelbar vor dem Publikum), um ausgiebig in der Nase zu bohren, ihren Inhalt zu begutachten und an der Treppe, die in den Container führt, abzuschmieren.107 Er tut dies nicht etwa in einer hinteren Ecke des Containers, während andere signifikante Handlungen hinter den Fenstern vor sich gehen, sondern er exponiert sich, um die abstoßende Handlung vorzunehmen. Das Abjekt ist der titelgebende Schmutz, den hier jeder von jedem einatmet, und der sich zu einer indefiniten Masse von „klebenden Partikelchen“108 formiert. Er ist eine heterogen zusammengesetzte Spur des Lebens dieses hässlichen und gemeinen Clans. Das Abstoßende an der Ekelkategorie des Schmutzes ist nach KOLNAI, dass er sich „‚eingefressen‘ hat, d. h. nicht einfach mit einer Bewegung abgestreift werden kann.“109 Offenbar ist es aber genau das, was alle Figuren möchten: dem Schmutz entkommen. Gleich am Anfang reinigt eine der Frauen exzessiv die Scheiben von innen, und während des gesamten Stücks läuft im Hintergrund der Küche eine Dauerwerbesendung für Reinigungsmittel. Es gelingt den Figuren aber weder, den Schmutz zu beseitigen – im Gegenteil, im Laufe der Aufführung wird das Chaos im Container immer größer – noch, sich mit Hilfe von Norberts Geld im wahrsten Sinne aus dem Staub zu machen. Vielmehr wird in erneut exponierten degoutanten Szenen verdeutlicht, wie sich alle Figuren, jeder für sich, auf der Suche nach dem Geld schmutzig machen: Norbert hat das Bündel von Geldscheinen an eine lange Kette gebunden und es über die Toilette in der Kanalisation versteckt. Bevor er es herauszieht, fragt er zynisch in die Runde: „Na, habt ihr was gesucht?“110 Daraufhin ist zu sehen, wie er einen braunen Klumpen an der langen Kette aus dem Klo zieht. Statt das darin befindliche Geld schnell auszupacken und an sich zu nehmen, kostet er seine Macht, damit einen Ekelaffekt bei den anderen Akteuren und bei den Zu106 Vgl.: Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 67. 107 Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie. Regie: Karin Beier. Kölner Schauspiel 2010. 00:16:36. 108 Kolnai, A.: Ekel, Hochmut, Haß. S. 32. 109 Ebd. 110 Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Regie: K. Beier. 01:07:00.
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schauern auslösen zu können, voll aus. Er geht im Container von einem zum anderen und schwingt den Klumpen vor deren Nasen herum, woraufhin sich die Figuren deutlich sichtbar ruckartig abwenden (Abb. 23). Abb. 23: Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie.
Norbert schwingt den braunen Geldklumpen vor den Gesichtern der anderen, die sich im Affekt abwenden. Regie: Karin Beier. Kölner Schauspiel 2010 (01:07:26).
Obwohl es sich um distanziertes Theater handelt, das an Fernsehen ohne Ton erinnert, kann sich der Zuschauer anders als der Kinogänger nie sicher sein, ob das Degoutante wirklich in angenehmer Entfernung zu ihm bleibt. Besonders für dieses distanzierte Ekel-Theater von BEIER trifft zu, was Einar SCHLEEF über die Bedingungen des Theaters sagt: „Das ist wie im Zirkus. Normalerweise bleiben die Löwen hinter dem Gitter, aber es gibt keine Garantie dafür.“111 Eine solche Furcht kennt auch freilich der Romanleser nicht, da er in der Leserezeption die einzige beteiligte Person ist. Tatsächlich kommt das Publikum auch hier wieder nicht um eine Konfrontation mit dem Ekelobjekt herum: Norbert tritt erneut aus dem Container auf die Außenbühne und befasst sich eingehend und nun auch selbst angewidert mit dem aus der Toilette gezogenen Klumpen. So sind auch die verbalen Äußerungen des Ekels zu vernehmen: Während Norbert Kette und Geld abwechselnd mit sichtbar spitzen Fingern weit weg von seinem Körper hält und neugierig betrachtet – das Abjekt ist abstoßend kotverschmiert und ob seines wertvollen Inhalts zugleich anziehend –, streckt er in einer universalen Geste des Ekelaffekts theatralisch die
111 http://www.schauspielkoeln.de/stueck.php?ID=224&tID=1624 (25.02.2012).
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Zunge heraus (Abb. 24) und entäußert sich mehrmals mit deutlich intonierten Interjektionen wie „Uaaaa“ oder „Uäh“ und fügt hinzu: „ekelhaft!“112 Abb. 24: Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie.
Norberts Ekelgestik und -mimik. Er streckt sichtbar angeekelt die Zunge heraus. Regie: Karin Beier. Kölner Schauspiel 2010 (01:07:42).
Für Geld ist der gesamte Clan bereit, sich schmutzig zu machen und den Ekelaffekt zu ertragen – „Geld stinkt nicht, ne?“113 Als sämtliche Versuche der Anbiederung nicht helfen, um an Norberts Geld heranzukommen, bereitet ihm der gesamte Clan einen Kartoffelpüree mit Rattengift zu und serviert ihn auf einer für Norbert und seine Geliebte inszenierten Party. Wieder sind es die Ekelmomente, welche in diesem distanzierten Theater die mimischen, gestischen und proxemischen Zeichen universalverständlich gebrauchen. Vieles geht hinter den Wellblechwänden und über die Dämpfung der auditiven Ebene durch die Scheiben verloren – nicht aber die Momente, in denen sich die Figuren ekeln oder Handlungen vornehmen, die diesen Affekt hervorrufen. So liegt der sich krümmende, vergiftete Norbert kartoffelbreispuckend direkt an der Scheibe, während seine Frau (Julia WIENINGER) seinem Leiden mit angewiderter Miene beiwohnt (Abb. 25).
112 Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Regie: K. Beier. 01:07:39. 113 Norbert ebd., 01:07:55.
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Abb. 25: Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie.
Regie: Karin Beier. Kölner Schauspiel 2010 (01:34:31).
Er spuckt das Gegessene an die Scheibe, während sie ihm das Geld aus der Hosentasche nimmt.114 Als es mit ihm scheinbar zu Ende geht, tritt die gesamte Familie auf die Außenbühne und nimmt die Zuschauerperspektive auf sein Ableben ein. Am Ende zeigt sich aber, dass Norbert nicht stirbt, sondern fortan ein gebrochener Mann ist, der im Rollstuhl sitzt. Ein anderes Mitglied des Clans nimmt das Geld an sich und alles beginnt von vorn: Jedes Familienmitglied will ihm auf die jeweils eigene Weise das Geld abnehmen und bleibt dabei hässlich und gemein. Das Beschmutztsein in diesem Mikrokosmos kann auf die Skrupellosigkeit der Beteiligten der großen Bankenkrise bezogen werden. In makrokosmischer Kumulation war es die Geldgier, welche die Finanzkrise von 2008 ausgelöst hat. In diesem Sinne hat die Degoutanz der einzelnen Akteure der BEIERSCHEN Barackenfamilie Modellcharakter für die im Folgenden zu untersuchende Dimension: die künstlerische Darstellung der gesellschaftspolitischen Problematik der Finanzkrise und der aus ihr resultierenden ökonomischen Krise.
114 Ebd., 01:34:57.
4. Resümee: Ekelhaft! Ad honorem litera
Es bleibt die Zwischenfrage zu stellen, wo sich die Literatur im Zeitalter der Digitalität verortet und in welche Richtung sie, durch die Herausforderungen der Medienkonkurrenz geprägt und angespornt, schreitet. Sehr deutlich wurde, dass sich der Roman um 2000 verstärkt darauf fokussiert, dem Leser ein starkes Vitalempfinden zu bieten, das die kognitive Wahrnehmung dominiert. Es geht den Romanen dieser Dimension nicht darum, sich durch positive Geschmacksurteile, d. h. zu erwartende guten Kritiken, hervorzutun, sondern der Weg führt in die genau umgekehrte Richtung: Skandalisierung ist ihr Mittel, sich an die Spitze der Verkaufszahlen zu begeben, Einzug in die öffentliche Diskussion zu erhalten und Film und Theater trotz deren körperlichen Implikationen in der Affekteevokation zu übertrumpfen. Der Roman setzt ganz auf seine einzigartige Möglichkeit, die Flüchtigkeit des Affekts aufzulösen und ihn damit zu intensivieren. Daneben nähert er sich zugleich im Rahmen seiner sprachlichen Mittel den anderen Medien an, indem er die Linersprachlichkeit so sehr simplifiziert (wie die untersuchten Romane aus Deutschland) oder den Figuren beschreibend nahe kommt (wie die österreichischen Romane), dass die Rezeption es mit der archaischen Bilderperzeption oder der Präsenz im Theater „aufnehmen“ kann. Bisweilen lässt sich der Text sogar nur noch formaltheoretisch auf die Gattung des Romans festlegen und stellt vielmehr ein wissenschaftliches Experiment dar (der französische Roman HOUELLEBECQS) oder eine massenmediale Zitat-/Plagiat-Collage (HEGEMANN). Im Sinne von Boris GROYS’ Definition der Innovation sind diese aus der Konkurrenzlage hervorgegangenen Romanformen in ihrer Aufwertung des Ekels aber durchaus wertvoll und somit ernstzunehmende Literatur, was ihrem teilweisen großen Unterhaltungswert keinesfalls widerspricht:
240 | II. DIE V ITALAFFEKTIVE DIMENSION Die Umwertung der Werte ist die allgemeine Form der Innovation: das als wertvoll geltende Wahre oder Feine wird dabei abgewertet und das früher als wertlos angesehene Profane, Fremde, Primitive oder Vulgäre aufgewertet.1
In diesem Prozess wird die Innovation zunächst oft als „Abwertung der Werte verstanden“,2 wie es besonders bei den deutschen Romanen des untersuchten vitalaffektiven Korpus der Fall war – und auch in der Nestbeschmutzerdebatte um JELINEKS Werk. Folgt man GROYS, so ist aber davon auszugehen, dass die öffentliche Empörung über diese Romane, die die Skandalisierung der Ekel-Filme und -Performanzen weit übertrifft, von einer kulturellen Aufwertung gefolgt sein wird. So haben vor allem ROCHES Romane durchaus das Potenzial, Profanes zu einem neuen kulturellen Wert zu erheben, dies wird nur „historisch nicht gleich in allen […] Aspekten erfaßt“.3 Die bei der genaueren Analyse dieser Romane gewonnenen Eindrücke bestätigen durchaus den Wert, der diesen Romanen in der Zukunft sicherlich als Innovation zukommen wird.4 GROYS definiert diesen Umwertungsprozess der Werte als eine per se ökonomische Operation, das Neue sei eine Art ökonomischer Zwang. Damit ist allgemein allerdings nicht der Markt, im Sinne des Warentausches und der Finanztransaktionen, gemeint, der vielmehr eine Ausprägung der Ökonomie sei.5 Im Folgenden soll aber der Frage nachgegangen werden, welche kulturellen Innovationen eben dieses ökonomische System ausgelöst hat. Genauer: die Krise, die selbst durch Innovationen – nämlich immer komplexer werdende Finanzprodukte – angestoßen wurde. Bereits in der hier vorgenommenen Untersuchung der vitalaffektiven Dimension hat sich ein bedeutender Unterschied zwischen der vitalaffektiven und der gesellschaftspolitischen Dimension in den medialen Anforderungen an die Künste angedeutet: Ekel ist ein „Realerlebnis“,6 was bedeutet, dass er zwar auf figuraler Ebene ebenso wie die mythologische und gesellschaftspolitische Handlung artifiziell gespielt, dargestellt oder sprachlich beschrieben wird. Auf Rezipienten- und Zuschauer- bzw. Teilnehmerebene ist er jedoch real. D. h. dass der Filmzuschauer, der Romanleser und der Theaterbesucher tatsächlich affiziert werden. Dasselbe mag auch (beson1
Groys, Boris: Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie. München, Wien: Hanser 1992. S. 14.
2
Ebd., S. 63.
3
Ebd.
4
Tatsächlich ist die vernichtende Kritik inzwischen verstummt und begrüßt teilweise sogar die filmischen Adaptionen von Roches Ekel-Romanen.
5
Vgl.: Ebd., S. 16.
6
Vgl.: Schultz, J. H.: Zur medizinischen Psychologie des Ekels Normaler (Beitrag zu einem Ordnungsversuch). In: Psychologische Rundschau. Hg. v. Johannes von Allesch. Göttingen: Verlag der Psychologischen Rundschau 1949/50. Band 1. S. 203.
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ders im Theater, denkbar aber auch im Filmschauspiel) für die realen Darstellerpersonen gelten. Bei der Darstellung und Rezeption der Finanzkrise verhält sich dies vermutlich anders: Es ist schwer vorstellbar, dass sich die ästhetische Umsetzung der Krise real auf den Rezipienten und Darsteller überträgt wie der Ekelaffekt. Deshalb kann als signifikantes Merkmal der vitalaffektiven Dimension festgehalten werden, dass durch das Ekelerlebnis die Grenzen zwischen Kunst (Figuren) und Realität (Rezipienten und Darsteller) überschritten werden: Die Kunst affiziert die Realität. Darstellungen der gesellschaftspolitischen Krise um 2000 haben dagegen vermutlich lediglich einen diskursiven Bezug zur Realität und es ist fraglich, inwiefern die unterschiedlichen medialen Umsetzungen das Potenzial haben, intensive Perzeptionseffekte auszulösen – zumal es sich bei den erzählten und dargestellten Finanzflüssen um hochkomplexe Abstrakta handelt. Oder findet sich der Rezipient von Kunstwerken zum Thema Finanz- und Wirtschaftskrise etwa doch krisengeschüttelt vor einem Roman, Film oder beim Theaterbesuch wieder? Welche unterschiedlichen medialen Potenziale lassen sich hierbei ausmachen?
III. DIE GESELLSCHAFTSPOLITISCHE DIMENSION
Darstellungen der Finanz- und Weltwirtschaftskrise in Roman, Film und Theater
Bei der künstlerischen Darstellung der Finanz- und Wirtschaftskrise seit 2007/‘08 teilen sich das Kunstwerk, seine Figuren, deren Geschehensmomente und die Rezipienten die gleiche zeitgenössische gesellschaftspolitische Realität. Die Wirklichkeitsverhältnisse der Krise sind sowohl bedeutsam für die Produktion der Werke, die aus dem aktuellen realen Zeitkontext Figuren und Handlungen, den Plot, entstehen lässt, als auch für die Rezipienten. Zumindest über die Massenmedien sind Romanschriftsteller, Filmemacher oder Theaterschaffende ebenso wie Leser und Zuschauer in die Krise involviert. Die außerordentliche lebensweltliche Brisanz auf allen Seiten der Beteiligten führt zu der Frage, ob Wirklichkeitsverhältnisse mit negativem Vorzeichen eine besondere Kraft haben, die Ästhetik der Medien und auch das ästhetische Empfinden der Rezipienten zu prägen. Bedeutet die Finanzkrise eine Zäsur in der Kunstproduktion und -rezeption, und welche differenten Möglichkeiten haben Roman, Film und Theater, um auf diesen Einschnitt zu reagieren? Wie können sich problematische und unsichere Wirklichkeitsverhältnisse auf das Kunstschaffen in den verschiedenen Medien auswirken? Was war geschehen, das die gesellschaftspolitischen Lebensumstände derart geprägt hat, dass Massenmedien und Künste das Thema ganz oben auf die Agenda setzten? In den Fokus der breiten Öffentlichkeit kam die Finanzkrise vorwiegend erst mit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers im Herbst 2008. Die globale Bankenkrise und damit einhergehend auch Finanz- und Wirtschaftskrise begann aber bereits Mitte 2007 mit der Immobilienkrise in den USA. Diese wiederum ist kausal auf die seit den 1990er Jahren erfolgten Deregulierungen der Finanzmärkte zurückzuführen. Sie ließen ein explosionsartiges Konstruieren komplizierter finanzieller Produkte, sogenannter Derivate, zu, über die Banker fast mit allem spekulieren konnten: „Sie konnten auf den Anstieg oder den Fall der Ölpreise setzen, den
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Konkurs eines Unternehmens, selbst auf das Wetter.“1 Im Zuge der Deregulierung wurde es auch möglich, unnötig teure Darlehen an solche Kreditnehmer zu vergeben, die ihre Schulden erwartungsgemäß nicht zurückzahlen konnten, d. h. es konnte quasi jeder einen Kredit bekommen. Die Immobilienkäufe und -preise schnellten entsprechend in die Höhe – bis die Blase platzte. An einen Dominoeffekt erinnernd folgte in der medialen Berichterstattung die Bekanntgabe etlicher Insolvenzen von Finanzunternehmen. Durch die aus der Finanzkrise resultierenden Produktionssenkungen brachen weltweit viele Unternehmen zusammen, was die Weltwirtschaftskrise nach sich zog. Alles schien logisch, da kausal und von den Massenmedien ausführlich thematisiert und diskutiert. Aber was in der faktualen Berichterstattung gefühlt verhältnismäßig selten angesprochen wurde, ist das in den medialen fiktionalen Kunstprodukten evident werdende Unvermögen, diesen Dominoeffekt ursächlich und in seinen Hintergründen zu begreifen, ebenso wenig wie die Motive der „schuldigen“ Individuen der Finanzwelt. In den Fernsehnachrichten, in Zeitungen, in Radio und Internet wurde zwar vorgeblich über die Fakten informiert, doch es sind andere Medien, auf die zurückgegriffen wird, wenn es um ein tieferliegendes Verständnis der Vorgänge geht: Die fiktionale Ebene in Romanen, Kinofilmen und Theaterstücken setzt beispielsweise meist nicht bei der abstrakten Deregulierung der Finanzprodukte als Erklärung der Krise an, sondern geht von ihren Figuren, d. h. von den psychischen Individuen und ihren Geschichten, aus. Die Narrative der Krise auf der ästhetischen Ebene unterscheiden sich von der faktualen medialen Berichterstattung und der Geschichtsschreibung auf mehreren Ebenen. Erstens gibt es in Roman, Film und Theater nicht nur Objekte, sondern vor allem Subjekte, wie ENZENSBERGER feststellt: Die Erzählung des Historikers ist eigentümlich menschenleer. Sie wirkt ausgestorben, wie eine Landschaft de Chiricos. Geschichte wird vorgezeigt ohne ihr Subjekt: die Leute, deren Geschichte sie ist, kommen nur als Staffage, als szenischer Hintergrund vor, als eine dunkle Masse im Fond des Bildes: „die Erwerbslosen“ heißt es, „die Unternehmer“.2
Und in der Filmmetaphorik argumentierend stellt er richtig fest: „Der Historiker sucht die Totale und arbeitet mit immensen Verkleinerungen; der Schriftsteller
1
Vgl.: Inside Job. Regie: Charles H. Ferguson, USA 2010. Im Film werden Banker, Wirtschaftswissenschaftler und Politiker nach den Ursachen der Finanzkrise gefragt mit dem Ergebnis, die Liberalisierung der Finanzmärkte sei der verdeckte Grund dafür.
2
Enzensberger, H. M.: Über Literatur. Hg. v. Rainer Barbey. S. 28.
D ARSTELLUNGEN DER FINANZ -
UND
W ELTWIRTSCHAFTSKRISE
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nimmt das Detail auf.“3 So war bereits HEINE der Ansicht, das Volk verlange seine Geschichte „aus der Hand des Dichters, und nicht aus der Hand des Historikers“.4 In der Betrachtungsweise der Medienkonkurrenzen, die hier die unterschiedlichen Potenziale von Roman, Film und Theater untersuchen will, fällt ein Spezifikum des Romans auf. Bei dem detaillierten Blick auf die Protagonisten der Finanzkrise ist er nicht wie der Film und das Theater an die visuelle Ebene und die oftmals an der Oberfläche bleibende Rede der Figuren gebunden, sondern er kann auf die mentalen und seelischen Details der Krisenfigur fokussieren: Damit hat der Roman in fast unnachahmlicher Weise das Potenzial, aufzudecken, welche psychischen Mechanismen, kumuliert in den hieraus resultierenden Handlungen der Banker, Politiker und Ökonomen, überhaupt zur großen Krise geführt haben. Darüber hinaus vermag Literatur so nah wie kein anderes Medium auf die aus der Makrokrise hervorgehende Mikrokrise der Figur einzugehen. Denn die Romane zur Krise von 2007/’08 beschränken sich freilich – so viel ist schon vor der Analyse gewiss – nicht wie die Geschichtsschreibung auf die gesellschaftspolitischen Gesamtverhältnisse, sondern beleben diese durch die Gedanken, Handlungen und Gefühle von Individuen. Darüber hinaus gibt es aber eine weitere Instanz, die besonders im Roman, wesentlich seltener in Film und Theater, eine Einordnung, gar eine Deutung des Krisendiskurses vornimmt: den Erzähler. Während man in der Geschichtsschreibung nicht weiß, wer spricht,5 gibt sich der Erzähler im Roman sprachlich zu erkennen, indem er das Geschehen aus seiner Perspektive deutet und durch die Auswahl des Erzählten interpretiert.6 Im Roman wird diese Deutung über das Wort, die lineare Schrift, vorgenommen, körperlos und ohne dem Leser mathematische oder ökonomische Kenntnisse oder auch nur Interesse an Zahlen und Finanzen abzuverlangen. Doch welche medialen Potenziale sind es, die dies dem Roman ermöglichen, obwohl – wie DELEUZE feststellt – die Schrift selbst kapitalismusfern ist: Noch nie war die Schrift Sache des Kapitalismus. Dieser ist von Grund auf Analphabet. Der Tod der Schrift, das ist wie mit dem Tode Gottes oder des Vaters, schon lange zuvor hat das Ereignis stattgefunden, und doch braucht es Zeit, bis es zu uns dringt, lange überdauert in uns die Erinnerung an untergegangene Zeichen, mit denen wir gleichwohl noch schreiben. […]7
3 4
Ebd., S. 29. Heine, Heinrich: Reisebilder II, 1828–1831. Kommentar Christa Stöcker. Berlin: Akademie Verlag 2003. S. 69.
5
Enzensberger, H. M.: Über Literatur. Hg. v. R. Barbey. S. 29.
6
Vgl.: Hamburger, K.: Die Logik der Dichtung. S. 141f.
7
Deleuze, Gilles; Guattari, Felix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974. S. 308.
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Wie kommt es, dass im Kontext der realen Krise etliche Romane entstanden sind, die über das Schreiben als „Akt der Abstraktion, Auswahl, Auslassung und Anordnung“8 in Konkurrenz zur gesellschaftspolitischen Wirklichkeit getreten sind, die eine, wie es im Programmheft des Literaturfestivals literaTurm 2010 heißt, „Vivisektion unserer Realität“9 vornehmen? Was veranlasst die Leser, zu einem Roman zu greifen, zu versuchen, sich die (auch psychischen) Mechanismen der Krise Wort für Wort, über die Linearität der Schrift, zu erschließen, statt sich entweder direkt der Realität der Krise über faktuale Berichte zuzuwenden, oder rasche Informationen über Kinobilder zu suchen, oder sich in der Präsenz des Theaters der kollektiven Empörung hinzugeben? Warum flankieren Krisenromane die bis zur aktuellen Eurokrise reichende gesellschaftspolitische Lage?
8
Friedman, N.: Erzählperspektive im Roman. In: Zur Struktur des Romans. Hg. v. B. Hillebrand. S. 169.
9
In der Ankündigung des Festivals wird genau auf die Thematik des Romans in der Konkurrenz der Medien und der Realität, wie sie besonders im gesellschaftspolitischen Zusammenhang der Finanz- und Wirtschaftskrise evident wird, angespielt: „Die literarische Vivisektion unserer Realität ist radikal im Sinne des Wortes. Sie geht den Dingen und Ereignissen an die Wurzeln und sie weiß um die große mediale Deutungskonkurrenz. Und so entstehen Erzählungen, die durchdringen, was in den Medien immer mehr verflacht: das Soziale, das Politische und das Ökonomische.“ Vandenrath, Sonja: 5. Frankfurter Literaturfestival literaTurm 2010. radikal gegenwärtig. der zeitdiagnostische roman. Programmheft S. 5.
1. Didaktische Reflexionen und Erklärungen Die Finanzkrise im Roman
Zur Beantwortung all der Fragen rund um die Spezifitäten des Romans im Kontext der großen Krise gilt es zunächst, die Produktionsebene ein Stück weit mitzubedenken. Der Roman ist an das im Vergleich zum Film recht zeitnahe Medium des Buchs gebunden.1 Das heißt, der Romanautor kann sich, wie auch BACHTIN betont, zeitnah auf eine aktuelle Krise beziehen, deren Ausgang noch ungewiss ist: „Der Roman ist mit der Sphäre der unabgeschlossenen Gegenwart verbunden, was ein Erstarren dieses Genres verhindert. Alles noch unfertige zieht den Romanschriftsteller an.“2 Die Romanproduktion steht vor allem im Akt des Schreibens in direktem Kontakt mit der unfertigen Gegenwart der Krise3, d. h. der Autor ist in seiner Schöpfung nicht darauf angewiesen, dass sie erst von einem Team aus Kameraleuten an einem sorgfältig aufzubauenden Filmset kreiert und anschließend in der Montage zusammengesetzt wird, während sich die gesellschaftspolitische Gegenwart selbst veraltet. Die Sprache in Form der Schrift kann unmittelbar auf das noch im Werden begriffene Präsens der Krise reagieren. Dass der Roman das, wie BACHTIN es nennt, „Formbare par excellence“4 ist, wird besonders im ersten zu analysierenden Roman der gesellschaftspolitischen Dimension deutlich: Der Protagonist des isländischen Romans Bankster von Guðmundur ÓSKARSSON5 ist zugleich der autodiegetische Ich-Erzähler des Tagebuchs, das er im Verlauf der Krise verfasst, wodurch er unmittelbar auf die aktuellen Ereignisse eingehen kann, ebenso
1
Auch wenn es in der traditionellen Romanproduktion im Verlag eine gewisse Vorlaufzeit gibt, die Planung, Lektorat und Buchherstellung beinhaltet.
2
Epos und Roman. In: Michail M. Bachtin: Formen der Zeit im Roman. S. 236f.
3
Ebd., S. 250.
4
Ebd.
5
Aus dem Isländischen von Anika Lüders. Frankfurt/Main: Frankfurter Verlagsanstalt 2011.
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wie die anderen im Folgenden zu untersuchenden Romane aus der Ich-Erzählperspektive.
D AS I CH IN DER K RISE : AUTODIEGETISCH FOKALISIERTE F INANZROMANE Als literarische Gattung, die keiner Regelpoetik verpflichtet ist, kann der Roman, wie im Fall von ÓSKARSSONS Bankster von 2011, für die Aufnahme aller denkbaren Textsorten offen sein. So beginnt dieser Roman als Duodrama – allerdings ohne chronotopische Einordnung (wie sie im Theaterdrehbuch durch eine Regieanweisung oder in der Aufführung durch die Bühnenkulisse vorgenommen wird) – mit einem Telefongespräch des Protagonisten Markús mit seinem besorgten Vater. Gerade ist bekannt geworden, dass die Bank, in der Markús arbeitet, dem Untergang geweiht ist. Die beiden Sprechenden tauschen sich in einer Art und Weise aus, welche die ungeschönte Ratlosigkeit aller in dieser Dimension analysierten romanesken Krisenfiguren auszeichnet: -
Die arme Rentenkasse und du Armer und arme Mama und einfach alle.
-
Das geht schnell, was?
-
Das letzte Zucken ist halt ein Zucken. Ein Augenblick.
-
Ja.6
Zwei Tage später berichtet Markús seinem Vater – wieder am Telefon, literarisch umgesetzt in erzählerloser Dramenform, welche Unmittelbarkeit und Intimität aber auch das Versagen einer übergeordneten Deutungsinstanz suggeriert –, dass die Landsbanki ihn entlassen hat. Es gibt keinen auktorialen Erzähler, der die Krisenereignisse erklären könnte oder die neue Arbeitslosigkeit des Protagonisten in einen größeren Zusammenhang einordnet, was an die Form des Theaters oder an einen filmischen Dialog erinnert. Der Roman verzichtet hier auf sein Potenzial, über einen Erzähler das Geschehen per se im Akt der Narration zu deuten. Stattdessen macht sich ab diesem Einschnitt der Protagonist als Tagebuchschreiber auf, in der linearen Form der Schrift die Krise sozusagen Wort für Wort zu durchdringen. Da der Roman ebenso wie das Tagebuch meist an das schriftsprachliche Medium des Buchs gebunden ist, kann das fiktionale Tagebuchschreiben hier kaum von einem realen unterschieden werden. In der Rezeption drängt sich, anders als wenn z. B. im Spielfilm oder im Theater ein Darsteller als „Augenzeuge“ von der Krise berichtet, die Vermutung auf, hierbei könne es sich um das reale Tagebuch eines isländischen Bankers handeln. Im Präteritum berichtet er davon, dass die Idee hierzu von seinem 6
Óskarsson, G.: Bankster. S. 18.
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Freund stammt: „Kurz bevor wir uns verabschiedeten, hat Vésteinn mir empfohlen, Tagebuch zu schreiben, um in diesen verrückten Zeiten das Leben in den Griff zu kriegen, man geriete so leicht aus dem Gleichgewicht und würde pessimistisch.“7 Zusätzlich rät er ihm zu einem gesonderten Vorwort, in dem Markús die letzten Tage in der Bank als „Zeugnis einer geschichtsträchtigen Zeit“8 beschreiben solle. Da persönliches und literarisches Schreiben aber, anders als die bloße Wiedergabe von Handlung oder das Führen einer Kamera, meist auch eine tiefschichtige Reflexion bedeutet, scheitert Markús an der Idee des Vorworts, weil die Tage des Untergangs der Landsbanki in seinem Kopf „nichts als ein grauer Fleck“9 sind. Er kann sich nur noch wie in einem Film an die äußeren Gegebenheiten erinnern wie das wolkenlose Wetter. Im Tagebuch klafft diese Zeit folglich als Lücke, genauso wie sie eine Lücke in Markús’ Erinnerung ist. Das Besondere an der literarischen Form des Tagebuchs als Roman ist, dass der Leser kontinuierlich der erzählenden Figur immanent ist, d. h. sich nicht in einer Subjekt-Objekt-Relation zu ihr befindet.10 Andererseits räumt Markús ein, dass das Tempo des Schreibens möglicherweise nicht mit seiner „Gedankenflut“ mithalten kann und dass es auch kein richtiges Tagebuch sei, weil er die Tage nicht zielgerichtet in Sätzen abhandelt.11 Sein Tagebuch ist vielmehr Ausdruck seiner Stimmung, seiner Melancholie12 und seiner problematischen Suche nach sich selbst im Sinne des LUKÁCSCHEN Romanhelden. ÓSKARSSONS Roman erweist sich als so komplex wie die Krise selbst, weil sogar der Banker, der an vorderster Front war, ihre Zusammenhänge nicht erklären kann. Markús versucht zwar, seinem künftigen Schwiegervater, der gerne Geheiminformationen über die Landsbanki hätte, die Mechanismen zu erklären, verfügt aber über kein Insiderwissen, das eine Erklärung über das faktual Bekannte hinaus geben könnte: „Ich antwortete, dass man sich natürlich um vieles hätte besser kümmern müssen, musste aber zugeben, dass ich von keinem Geheimnis wusste, das alles erklärt hätte, nur das, was ohnehin schon bekannt war […].“13 Dennoch gibt er daraufhin einen wichtigen Hinweis zum Verständnis der Krise, den auch Joseph VOGL14 und Dieter SCHNAAS15 hervorheben: dass der Kapitalismus zeitlich im
7
Ebd., S. 31.
8
Ebd.
9
Ebd., S. 32.
10 Iser, W.: Der Akt des Lesens. S. 178. 11 Óskarsson, G.: Bankster. S. 57. 12 Vgl.: Ebd., S. 246f. 13 Ebd., S. 73. 14 Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals. 3. Aufl. Zürich: diaphanes 2010/11. 15 Schnaas, Dieter: Kleine Kulturgeschichte des Geldes. 2. überarb. Aufl. München: Fink 2012.
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Futur – genauer: im Futur II – „tickt“, „als Geldsumme, die sich vermehrt haben wird“16: [J]edenfalls habe ich weitergeredet, gemeint, dass es ein paar Männern gelungen sei, eine Zukunft zu erfinden, eine gigantische Zukunft unter der Überschrift „Was kommen soll“, und dass diese Zukunft sich gut verkauft habe. Die Banken seien schnell gewachsen, nur eben in diese verfluchte Zukunft hinein, die eine waghalsige, aus einem Minderwertigkeitsgefühl heraus entstandene Erfindung war, sie seien in einen leeren Raum hineingewachsen, in dem es keinen Widerstand gab. Wenn man das im Hinterkopf habe, sei ganz klar, dass die Banken nicht auf die Wirklichkeit gebaut hatten, sie hätten sich in einer Zeit entwickelt, in der „Erfolg“ die Regel und „nach oben“ der einzige Weg in die Zukunft waren, in die wir hineinkrochen und die mit der Realität oder einem realistischen Wert nichts zu tun hatte.17
Diese Reflexionen über die Tempora des durch Deregulierungen entfesselten kapitalistischen Systems sind der einzige Hinweis auf die Ursache der Makrokrise, den dieser Roman gibt: Die Krise von 2007/’08 ist darauf zurückzuführen, dass es meist einen Unterschied zwischen der künftigen Gegenwart − auf die die Banker und Investoren spekulier(t)en − und der gegenwärtigen Zukunft − das tatsächliche Eintreten von Entwicklungen − gibt.18 So VOGL: „Das Gespenst des Kapitals kommt stets aus seiner eigenen Zukunft zurück.“19 Diese Erklärung, die auch Markús gibt, lässt ihn selbst und seinen Schwiegervater, wie auch den Romanleser, dennoch ratlos zurück: „Wir räusperten uns ein paarmal und machten betretene Gesichter.“20 Besonders auf der Ebene der persönlichen Krise des Protagonisten bewirkt diese Einsicht nicht viel. Fakt bleibt, dass Markús seine künftige Gegenwart als reicher Banker nun umdenken, d. h. annehmen muss, dass die Zukunft unklar ist.21 Die Makrokrise bleibt ein Mysterium, weshalb sich das Tagebuchschreiben von Markús auf die eigene Mikrokrise, die aus der Makrokrise resultiert, zurückzieht. 16 Ebd., S. 126. 17 Óskarsson, G.: Bankster. S. 73f. 18 Vogl, J.: Das Gespenst des Kapitals. S. 170. 19 Ebd., S. 173. 20 Óskarsson, G.: Bankster. S. 74. 21 „Doch, das ist ein neuer Anfang, ein neues Leben, eine komplett neue Existenz, nachdem die Zukunft ausgelöscht worden ist. Alles ist unklar. Aber es wird sich alles klären, oder was? Unklar bedeutet keine Klarheit, zeitlose Dunkelheit. Vielleicht werde ich nie weiter sehen, als der Text in diesem Tagebuch reicht?“ Ebd., S. 34. Der Schock, dass die Zukunft anders aussieht als erwartet, löst bei Markús sogar einen vorübergehenden Gedächtnisverlust aus: „Es scheint einen Riss im Zeitkontinuum gegeben zu haben. Er umfasst drei Tage, der 6., 7. und 8. Oktober existieren nicht; dort, wo sie sein müssten, ist nur dieses Ereignis, das für die undefinierbare Zeit steht.“ Ebd., S. 68.
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Über diese psychische Ebene der Figuren versuchen die Romane der Krise um 2000, die Abläufe der Makrokrise zumindest auf der Mikroebene plastisch vorstellbar werden zu lassen. Auffällig ist dabei, dass es sich vorwiegend, wie auch in Bankster, um Krisenmänner handelt und nicht um Frauen: Markús’ Freundin Harpa scheint nach ihrer Entlassung aus der Bank nicht in Selbstzweifeln zu zergehen, sondern nimmt ihre wirkliche Zukunft, fernab aller Finanzspekulationen im Futur II, aktiv in die Hand und sucht sich einen Job als Aushilfslehrerin.22 Die Krise der Männlichkeit scheint per se ein Thema in der Konkurrenz der Medien um 2000 zu sein. So stellt die Meinungsredakteurin der taz, Ines KAPPERT, fest: Insbesondere um die Jahrtausendwende war die Aufregung um den zunehmend unmännlicher und unglücklicher werdenden Mann groß. Ob in den Medien, den Talkshows, ob in Hollywood oder in der Belletristik: Allerorts hielt die Figur des Mannes als heilloser Verlierer der westlichen Industriegesellschaften ihren Einzug und hat sich seitdem einen festen Platz im Repertoire sowohl des Infotainments als auch des kulturellen Mainstream erobert.23
Der Mann wird vom kapitalistischen System, von der radikal ökonomisierten Gesellschaftsordnung, ausgesaugt und regrediert im Gegensatz zur Frau zum „Jammerlappen“,24 ja gar zum Wrack, wie Harpa ihren Freund charakterisiert: „Mein Markús ist anscheinend eine Bank, die zusammengebrochen ist.“25 Der Roman vermag das psychische Leiden des Mannes in der Krise wie keine andere Kunstform aufzudecken, vor allem über die Möglichkeit der IchFokalisierung. Der figurale Erzähler beschreibt seine Gefühle ganz explizit, kann sie dem Rezipienten vermitteln, selbst wenn er ganz allein ist, d. h. seine Worte sind 22 „Nachdem Harpa zur Arbeit gegangen war, stand ich lange mitten im Wohnzimmer und starrte auf die Fensterscheiben. Es war zu dunkel draußen, um etwas anderes als das gespiegelte Wohnzimmer zu sehen, und mich mittendrin.“ Ebd., S. 33. Der Krisenmann stürzt ab, weil er in die eigene Zukunft verliebt war, die es nun nicht mehr wie spekuliert gibt: „‚Markús, wir haben unsere Jobs verloren, aber nicht unser Leben, und damit muss es weitergehen.‘ Dem kann ich nicht widersprechen. Trotzdem ist da etwas, das mir sagt, dass das nicht so einfach ist. Natürlich müssen wir weiterleben, und ich würde nie sagen, dass die Arbeit mein Leben war, aber die Arbeit war ein Teil meines Lebens, mit dem ich sehr zufrieden war – ja, ich war richtig verliebt in mein Leben, besonders aber in die Zukunft, die noch folgen sollte.“ Ebd., S. 48. 23 Kappert, Ines: Der Mann in der Krise. Oder: Kapitalismuskritik in der Mainstreamkultur. Bielefeld: transcript 2008. S. 7f. Beispiele sind vor allem auch die Romane von Michel Houellebecq, wie Ausweitung der Kampfzone (Deutschland: 1999), welcher in der vitalaffektiven Dimension als Ekel des Krisenmanns vor dem Leben analysiert wird. 24 Ebd., S. 8. 25 Óskarsson, G.: Bankster. S. 203.
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nicht wie im Theater oder Film, sofern sie keine Voice-Over-Stimme bemühen, von der Vermittlung über einen Dialog abhängig: So lässt Markús den Leser an seinen inneren Bildern teilhaben, die an das Katastrophenszenario von 9/11 erinnern, aber verbunden mit einem Versuch des imaginativen Wiederaufbaus über den Akt des Schreibens: „Ich stehe mitten in der Staubwolke, die die Katastrophe aufgewirbelt hat, beuge mich über das Notizbuch und schreibe für mich, baue aus dem Nichts, baue nichts, außer vielleicht das Gefühl, etwas zu bauen.“26 Dabei lernt der Leser Markús nicht als das Klischee eines skrupellosen Bankers kennen, der nur auf den schnellen Profit und schnelle sexuelle Befriedigung aus ist – Figuren, wie wir sie in den anderen Krisenromanen kennenlernen werden –, sondern als reflektierten Menschen, der ausgelöst durch die große Krise unter Verlustängsten auch bezüglich seiner Freundin leidet. Eine Geliebte27 auf Geschäftsreisen existiert z. B. nur in seiner Phantasie: „Valentine [eine Prostituierten-Phantasie. Anm. N.U.] war auf ganze Nächte spezialisiert […], und in jenen Nächten offenbarte sich ihr Spezialistentum insofern, als dass ich nie an Harpa denken musste.“28 Doch gleich darauf stellt sich das als Täuschung, als Tagebuch-Phantasterei, heraus: „Ich habe darüber nachgedacht, ob ich eine interessantere Persönlichkeit wäre, wenn Valentine wirklich existiert hätte, nicht nur als verschriftlichte Kopfgeburt.“29 ÓSKARSSONS Krisenmann entspricht nicht den gängigen Vorstellungen von einem Banker, sondern der Autor, der selbst für die Landsbankinn Islands arbeitet, will über die Innenperspektive das wahre Sein der Bankerpersönlichkeit aufdecken: Mit Bankster habe ich versucht, dem durchschnittlichen Bankangestellten ein Gesicht zu geben. Es hat etwas mit der Vorstellung von Bankern zu tun, die ich habe. Es ist das Bild von René Magritte: ein Mann im Anzug mit einem Apfel vor seinem Gesicht. Es ist sehr leicht, ein Monster hinter dem Apfel zu vermuten, solange man nicht weiß, was dieser Mensch denkt.30
Damit bildet Bankster einen Ausnahmeroman in der Literaturgeschichte, denn es gibt, wie auch David GRAEBER in seinem anthropologischen Werk Schulden proklamiert, in der Weltliteratur „kaum eine freundliche Darstellung eines […] gewerbsmäßigen Geldverleihers, was definitionsgemäß bedeutet, dass er Zinsen nimmt. Ich bin nicht sicher, ob es eine andere Berufsgruppe (Henker vielleicht?) 26 Ebd., S. 75. 27 Vgl. besonders die spätere Analyse des Romans von Markus A. Will: Bad Banker. Basel: Friedrich Reinhardt 2010. 28 Óskarsson, G.: Bankster. S. 212. 29 Ebd., S. 213. 30 Islands neue Zukunft. http://www.3sat.de/page/?source=/kulturzeit/lesezeit/157342/ index.html (18.12.2012).
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mit einem so konstant schlechten Image gibt.“31 Im Film dagegen greifen durch die visuelle Ebene der charismatischen Bankerdarsteller andere Mechanismen, wie noch festzustellen sein wird. Die Leser bekommen vermittelt, was der sich unschuldig fühlende Banker empfindet, doch die anderen Figuren, die symptomatisch für die Gesellschaft stehen − hier in Form eines fremden Cafébesuchers, dessen Rede Markús mit anhört −, geben Männern wie ihm die Schuld. Ausgedrückt wird das in dem titelgebenden Kompositum des Romans, das der Cafébesucher erklärt: Ich habe es diese Woche gehört, und es ist teuflisch gut, gut und wahr. Ihr kennt sicher das Wort Gangster, oder, dieses gute alte? Aber habt ihr auch schon mal vom Bankster gehört? Nein? Jæja, das bedeutet natürlich genau dasselbe. Teuflisch gut! Dieser ganze maßlose Irrsinn, Jungs …32
In einem Anfall von Ekel zettelt Markús daraufhin eine Schlägerei an, von der er rückblickend in seinem Tagebuch berichtet. Damit ist ein weiteres signifikantes Merkmal der Krisenromane um 2000 angesprochen: Sie schildern häufig den Ekelaffekt, das Erbrechen oder Ausscheiden von Exkrementen als Artikulation eines Leidens an den gesellschaftlichen und finanziellen Bedingungen. Markús etwa kann seinen Kaffee nicht mehr mit der Kreditkarte bezahlen und empfindet das Wechselgeld der Barzahlung „als würde sie [die Kellnerin, Anm. N.U.] einen Eimer kalter Kotze über mich kippen.“33 Ekelthemen als Ausdruck des Leidens an der Krise von 2007/’08 prägen besonders den zweiten hier zu untersuchenden Roman, der ebenfalls als Ich-Erzählung von einer männlichen Mikrokrise in Verbindung mit der Makrokrise handelt: Bodo KIRCHHOFFS Erinnerungen an meinen Porsche aus dem Jahr 2009.34 Hier ist die Bankenwelt aber noch nicht untergegangen, d. h. sie fungiert nicht als direkte Ursache der Misere des Erzählers, sondern bildet die chronotopische Kulisse der Handlung rund um seine Mikrokrise. Der autodiegetische Ich-Erzähler Daniel Deserno war bis vor kurzem Investmentbanker und befindet sich in der erzählten Zeit in einer Kurklinik namens Waldhaus. Seine Freundin Selma, die in der Kulturstiftung seiner Bank arbeitet, hat ihm, wie Daniel sukzessive rückblickend in seinen sogenannten Notizen berichtet, am Weihnachtsabend seinen Porsche mit einem Edelkorkenzieher ruiniert. Hierbei handelt es sich aber nicht um seinen Porsche RS, sondern um sein bestes männliches Stück. Selma war ihm mit dem Korkenzieher in 31 Graeber, David: Schulden. Die ersten 5000 Jahre. Stuttgart: Klett-Cotta 2012. S. 16. 32 Óskarsson, G.: Bankster. S. 222. 33 Ebd., S. 191. 34 2. Aufl. Hamburg: Hoffmann und Campe, 2009.
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die Harnröhre gefahren, als er auf ihren Kinderwunsch mit „Nee, Selma, nee“35 reagiert hatte. Seit seine Männlichkeit verletzt ist und er täglich von diversen Ärzten und Psychotherapeuten behandelt werden muss, kann Daniel auch nicht mehr gehen und sitzt im Rollstuhl. Der Verlust der männlichen Potenz und Virilität bestätigt die von KAPPERT festgestellte zunehmend prekäre Lage des Mannes in den Medien um 2000.36 In der Luxus-Klinik ist er umgeben von Prominenten, die ihre psychischen Probleme und Persönlichkeitsstörungen behandeln lassen, darunter auch die junge Helene, die mit ihrem Bestseller über Hämorrhoiden so viel Erfolg hatte, dass sie darüber eine Depression bekommen hat.37 Wieder ist es eine Frauenfigur, die im Kontrast zur männlichen Krisenfigur zukunftsweisend ist: „Kein Test musste mir sagen, dass sie liebenswert war oder aufgeschlossen, verlässlich oder geschickt; sie strahlte das alles aus und war gewissermaßen die Bank der Zukunft in Gestalt einer Frau: ehrlich, bescheiden und doch erfolgreich.“38 Für die Unterhaltung mit Ekelthemen in der Klinik ist also dank der freizügigen Skandal-Autorin gesorgt, und auch das Anale, der Kot als Äquivalent für Geld, ist in Daniels Tagebuch, das mehr ein Therapiebericht ist, omnipräsent. So sucht die Finanzkrise auch die Edelklinik im Schwarzwald heim: Man muss an den Glühbirnen und am Luxusessen sparen, bis alle nach einem Abendessen kollektiv an einer Fischvergiftung und unter „überfallartigem Durchfall“39 leiden, der deutliche Analogien zur hereinbrechenden Krise und dem Wert des Geldes aufzeigt. So weist auch HÖRISCH in Kopf oder Zahl auf den bereits von FREUD festgestellten Zusammenhang von glänzendem Geld und schmutzigem Kot hin, nämlich dass auch „das schlechthin gebrauchswertlose Geld zum Wertvollsten wird“ und beide „ihren Ort in unterirdischen Bezirken“40 haben, ja, wie der Erzähler in KIRCHHOFFS Roman zeigt, gar ins Reich der Heimlichkeit oder Illegalität gehören: Immer wieder warf ich Blicke an meiner bleichen Backe vorbei in die Schüssel, fast mit einer Art Ehrfurcht gegenüber der Schöpfung Mensch in Gestalt von Daniel Deserno: als wäre es 35 Ebd., S. 120. 36 Darauf deutet auch sein Name „Deserno“ als Gegenteil des Infernos hin. Kappert, I.: Der Mann in der Krise. S. 9. 37 „[D]ie verstörte Helene, wie ich sie innerlich nannte, verstört und erdrückt vom Erfolg, den auf sie herabgestürzten Sternen, nach denen andere vergeblich greifen, eine lebendig begrabene, wie sie Selma – meine liebe, verfluchte Selma – schon beim Lesen des Porenners genannt hatte […]“ Kirchhoff, B.: Erinnerungen an meinen Porsche. S. 47. 38 Ebd., S. 84. 39 Ebd., S. 150. 40 Hörisch, Jochen: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1996. S. 116.
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nicht faulige Jauche, was da aus mir herauskam, sondern ein flüssiges Erz aus den tiefen Mienen meiner selbst. Ich schiss mir die Seele aus dem Leib, wie man so leichthin sagt, und zuckte dann auch entsprechend zusammen, nämlich wie beim Verzocken eines Vermögens ertappt, als auf einmal das Telefon im Bad klingelte.41
Die Figur selbst ekelt sich freilich nicht, sondern im Zusammenzucken bei der stolzen Exkremention deutet sich ein umfassendes schlechtes Gewissen ob der Verschwendungssucht, der eigenen Vergangenheit als Banker, an, die den Leser doppelt abstößt. Auch terminologisch drückt sich die Unmoral der Finanzgeschäfte in Daniels Bericht der vergangenen Monate, in der die Krise anlief, aus: Die Abteilung, in der er gearbeitet hatte, nennt er die „Schweineabteilung“,42 eine nach Niall FERGUSON übliche Tiermetaphorik in der Börsenkultur,43 verbunden mit der Eigenschaft des Stinkens: „seit es im Frühjahr angefangen hatte, aus den Landesbanken zu stinken, traute keiner mehr dem anderen, der Anfang vom Ende“,44 die Papiere sind „faul“45 und Geld ist toxisch.46 Die Sprache rund um die Finanzkrise hat sich mit Superlativen vollgesaugt,47 und auch der Finanztäter schreibt in seinem Tagebuch vom „Kollaps einer ganzen Welt“,48 vom „Bankendesaster“,49 und die Finanzwelt stehe „am Abgrund“,50 alles sei ein Finanzchaos.51 Daniels Gegenfigur, 41 Kirchhoff, B.: Erinnerungen an meinen Porsche. S. 150. 42 Ebd., S. 29. 43 „Umgekehrt kann die Blase der Euphorie, wenn die ‚tierischen Instinkte‘ (‚animal spirits‘) der Investoren von Habgier in Furcht umschlugen, erstaunlich schnell platzen. Zoologische Vergleiche sind ein integraler Bestandteil der Börsenkultur. Optimistische Aktienkäufer sind ‚Bullen‘, pessimistische Verkäufer ‚Bären‘. Heutzutage bezeichnet man Investoren als ‚elektronische Herde‘, die gerade noch positive Erträge abgrast und im nächsten Augenblick auf der Flucht das Hoftor nebenan niedertrampelt.“ Ferguson, Niall: Der Aufstieg des Geldes. Die Währung der Geschichte. Berlin: Ullstein 2009. S. 109f. 44 Kirchhoff, B.: Erinnerungen an meinen Porsche. S. 92. 45 Ebd., S. 96. 46 Ebd., S. 100. 47 „Wir erleben die schlimmste Wirtschaftskrise seit den Dreißigern, die teuersten Konjunkturpakete, die heftigsten Kursstürze, und man fühlt sich an die nicht abreißen wollende Serie von Jahrhunderthochwassern erinnert, deren Äußerung wir vor ein paar Jahren permanent erlebt haben und die immer hilfloser im Raum stehen blieben, weil sie niemand mehr abholen wollte.“ Röggla, Kathrin: Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion. Wien: Picus 2009. S. 53 48 Kirchhoff, B.: Erinnerungen an meinen Porsche. S. 44. 49 Ebd., S. 122. 50 Ebd., S. 53. 51 Ebd., S. 7.
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seine altlinke Mutter Ursel, macht über das Possessivpronomen ihren Sohn als Schuldigen der Krise aus: „Dein Kapitalismus“52 und „Deine Bank ist im Delirium!“, wobei sie ihn auffordert, als Insider die „Hosen runter“ zu lassen.53 Kurz: „die Sache stank“.54 Damit ist ein weiterer in dieser Dimension zu untersuchender Aspekt der Finanzkrise angesprochen: Wer ist schuld bzw. hat Schuld, und vor allem was ist Schuld bzw. was sind Schulden und wer schuldet wem was? Etymologisch weist GRAEBER dem Begriff „die Schuld“ drei Bedeutungen zu, die sich alle in KIRCHHOFFS Roman narrativ abbilden: Erstens bedeutet Schuld die „Ursache von etwas Unangenehmem, Bösem oder eines Unglücks, die Verantwortung dafür“.55 Dies ist die Frage, die die Nebenfiguren den protagonistischen Bankern in den untersuchten ich-fokalisierten Romanen stellen und die auch den Reiz dieser Gattung in den Medienkonkurrenzen rund um das Thema der Krise von 2008 ausmacht: Was verrät der Ich-Erzähler seinem geheimen Notizbuch? Wer sind die Täter oder was ist schuld an der Krise und wie lässt sie sich ursächlich erklären? Bei KIRCHHOFF gibt es durch die konkreten Fragen des Waldhaus-Personals und der Patienten und durch die offenen Antworten des Insiders Daniel zumindest einen Erkenntnisgewinn. So fragt ihn seine Therapeutin etwa nach dem Unterschied von Zertifikaten und Derivaten und Daniel gibt ihr eine Antwort wie eine Definition, die sich der Leser anders als der Film- oder Theaterzuschauer über die nicht-flüchtigen Schriftzeichen reflektierend und bei Bedarf auch zurückblätternd, im Text „springend“, zu Gemüte führen kann, um Verständnis zu erlangen. Ein Zuhörer wie die Figur der Therapeutin dagegen muss sich anstrengen, um die Antwort in der Kürze der Situation zu erfassen, weshalb Daniel ankündigt: „Und jetzt hören Sie gut zu“, bevor er den Unterschied definiert.56 Daneben will Daniel auch den Leser, den er zwar nicht als solchen anspricht, aber dennoch als unsichtbares Gegenüber intendiert, über das krankende, d. h. schuldige System aufklären, wie etwa: Das mit dem Ölpreis, um es bei der Gelegenheit einmal zu sagen, ging übrigens so: Man erwarb das Recht, zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Zukunft – daher der englische Ausdruck futures – eine bestimmte Menge des Produktes Rohöl zu einem festen Preis geliefert zu 52 Ebd., S. 7. 53 Ebd., S. 145. 54 Ebd., S. 28. 55 Graeber, D.: Schulden. S. 7. 56 „Ein Zertifikat ist nur eine Verpackung, es ist selbst gar nichts wert, es ist bloß die Urkunde für ein hinterlegtes Wertpapier. Und ein Derivat ist ein abgeleitetes Finanzprodukt, etwa ein weiterverkaufter toxischer Kredit, also im Grunde ein besserer Wettschein. Und isländische Banken treiben es recht kräftig mit Derivaten.“ Kirchhoff, B.: Erinnerungen an meinen Porsche. S. 39.
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bekommen oder auch abzugeben […] Und später ging es dann nur noch darum, die Risiken dieser Zeitgeschäfte zu mindern, und so kam man auf die Idee, dass der Anleger mit dem Rohstoff selbst, also dem Öl in meinem Fall, gar nichts mehr zu tun haben sollte, […] alle blieben sauber. Es waren nichts als Leerverkäufe und damit – bis vor kurzem, muss man wohl sagen – eine fast risikolose Art zu spekulieren […].57
Die Ursache für die Krise wird auch von diesem Ich-Erzähler in der fehlerhaften, ja geradezu naiven Zukunftsorientiertheit des Systems gesehen, an dem, wie GRAEBER zweitens definiert, ein „bestimmtes Verhalten“, „eine bestimmte Handlung, womit jmd. gegen sittliche Werte, Normen oder gegen die rechtliche Ordnung verstößt“,58 schuld war. Daniel gibt zu, dass der einzelne Banker Schuld hat, indem er seinem Tagebuch anvertraut: Aufschwung war übrigens, neben Rendite, das Wort, das alle im Schweinedepartment wie ein Brett vorm Kopf hatten, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass es nur so lange aufwärtsgeht, bis es abwärtsgeht, eins der simpelsten Dinge im Grunde, wahrscheinlich zu simpel. Die Finanzwelt konnte nicht nur aus Gewinn bestehen, irgendwo musste auch der Verlust stecken, und jahrelang hatte die Sprache darüber hinweggetäuscht, meine Wortschöpfungen taten das ihre dazu: die dunkle Seite des Schreibtalents.59
Schuld an der Krise haben die Akteure also nicht nur durch das gierige Wetten auf die Zukunft auf sich geladen, sondern auch durch den sprachlichen Gebrauch von Neologismen und Anglizismen.60 Dies aufzudecken ist besonders die Sache des Romans, weil das Wort hier nicht wie in der auditiven Sprachlichkeit des Films und des Theaters flüchtig, sondern schriftsprachlich festgehalten ist. In der Tagebuchform des Romans gibt der Erzähler offen zu, dass die Banker, er selbst, die neu benannten Finanzprodukte nicht verstanden und aus purem Größenwahn verkauft haben.61 Somit tragen auch die Charaktereigenschaften der Banker Schuld. Der
57 Ebd., S. 73f. 58 Graeber, D.: Schulden. S. 7. 59 Kirchhoff, B.: Erinnerungen an meinen Porsche. S. 91. 60 So klagen z. B. die Sprachnachrichten in einer kurzen Meldung an: „Im besten Denglisch haben die Banken stolz ihre Botschaften verkündet und uns damit einen Flächenbrand, die Finanzkrise, beschert.“ Sprachnachrichten Nr. 46/Juni 2010. Dortmund: Verein Deutsche Sprache e. V. 61 „Es war die Stunde des Grübelns über mein Leben, in dem vieles vorbestimmt zu sein schien – die frühe Besessenheit von dem kleinen Ding, das so nach oben ging wie das Logo einer Bank, meine beruflichen Ambitionen und der gewisse Größenwahn, ohne den man kaum rund um die Uhr vor Bildschirmen säße, um immer komplexere, sich jedem
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Roman hat das besondere Potenzial, solche Charakteristika aufzudecken, indem er – neben der Fremdcharakterisierung durch andere Figuren oder durch die Eigencharakterisierung mittels wörtlicher Rede oder die indirekte Charakterisierung durch das Handeln und Setting wie besonders im Film – auch durch eine narrative, deutende Erzählerstimme das Subjekt beschreiben kann. In diesem Fall beschreibt sich die narrative Stimme selbst62 und liefert innere Geständnisse ab, wie sie im Film oder im Theater kaum in dieser Ausführlichkeit gegeben werden können. Drittens, um in der GRAEBERSCHEN etymologischen Definition zu bleiben, ist die Schuld ein „Geldbetrag, den jmd. einem anderen schuldig ist.“63 Auch diese Schuld in Form von Schulden trägt der Ich-Erzähler in KIRCHHOFFS Roman: Er schuldet dem Waldhaus-Gärtner, ohne dass er es zuvor gewusst hätte, quasi stellvertretend für betrügerische Banker, 50 000 Euro. Der Gärtner hatte, dem Rat seiner Sparkasse folgend, sein Erspartes in Papiere von Lehman Brothers angelegt. Bevor Daniel ihm die Summe telefonisch überweisen lässt, begleicht er bei ihm wie beim Leser auch noch seine Erklärungsschuld, indem er ausführlich über das Bankenwesen und über den Verbleib der Ersparnisse aufklärt.64 Dennoch: Der gespenstische Impetus, den VOGL für die Mechanismen des Kapitalverkehrs ausmacht,65 bleibt auch hier aufrecht erhalten, d. h. so sehr Daniel sich bemüht zu erklären und Schuld zu begleichen, es gelingt ihm nur im Kleinen. Es bleibt die Erkenntnis, dass sich die Zukunft nicht errechnen lässt. Entsprechend reist er am Ende auch ins Ungewisse: nach Indien, zu seiner Telefonassistentin, die er noch nie gesehen hat. In diesem Verständnis entziehende Papiere in Umlauf zu bringen.“ Kirchhoff, B.: Erinnerungen an meinen Porsche. S. 28. 62 Wobei sich auch eine weitere Eigenschaft der Banker im Roman zeigt: Selbstverliebtheit: Sein Gesicht bezeichnet Daniel als „Hybrid-Financial-Product“ (S. 18), seine Unterlippe „reizt […] zum Küssen, und die Augen erscheinen bei Kerzenlicht weich; die Nase flößt Vertrauen ein, und der Porsche (im alten Zustand) galt als perfekt.“ (S. 107). Ebd. 63 Graeber, D.: Schulden. S. 7. 64 Kirchhoff, B.: Erinnerungen an meinen Porsche. S. 191ff. 65 „Politische Ökonomie hat seit jeher eine Neigung zur Geisterkunde gehegt und sich mit unsichtbaren Händen und anderem Spuk den Gang des Wirtschaftsgeschehens erklärt. Dies ist wohl einer gewissen Unheimlichkeit ökonomischer Prozesse geschuldet, in denen zirkulierende Objekte und Zeichen einen gespenstischen Eigensinn entwickeln.“ „Obwohl man Finanzmärkte als Veranstaltungen begreifen kann, in denen sich ein Gutteil menschlicher Wohlfahrt entscheidet, bleibt undurchsichtig, was genau in ihnen passiert. Das betrifft nicht nur die dabei wirksamen Verhaltensweisen, Mentalitäten, Praktiken oder Theorien, sondern auch die allgemeinen Dynamiken, die mit erhabenen, d. h. unvorstellbaren Geldsummen zu einem Beweggrund gegenwärtiger Sozial- und Weltverhältnisse geworden sind.“ Vogl, Joseph: Das Gespenst des Kapitals. 3. Aufl. Zürich: diaphanes 2010/11. S. 7.
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Ausgang deutet der Roman ein wichtiges Faktum der Krise von 2008 an: Mehr als bei allen vorangegangenen Finanz- und Wirtschaftskrisen handelt es sich jetzt um eine globale Krise. Damit ist ein weiterer temporaler Aspekt der Krise angesprochen, der sich besonders im dritten zu untersuchenden Ich-Roman von Kristof MAGNUSSON, Das war ich nicht66 (2010), niederschlägt. In dessen globalnarratologischer Struktur zeigt sich ihre hohe Geschwindigkeit, die auch Marcel HÉNAFF als ihr Charakteristikum identifiziert: Die Krise von 2008 hat quasi simultan die gesamte Welt erfaßt. Das hängt mit mindestens zwei Faktoren zusammen. Der erste ist technischer Natur: Quasi alle Finanzinstitutionen sind über den gesamten Planeten hinweg in einem Netzwerk verbunden. Der zweite Faktor betrifft das Wesen der Finanzprodukte, die in diesen Netzen zirkulieren: Die mit einem hohen Risiko behafteten Produkte zirkulieren besser und schneller als andere, weil sie sich den bestehenden Regulierungen entziehen und größere Profite erhoffen lassen. Die Toxizität der Produkte verhält sich proportional zu ihrer Ansteckungskraft.67
MAGNUSSONS Roman wird diesem Finanznetz in seiner dreifachen Fokalisierung gerecht: In zeitlich simultanen Handlungen sind drei Figuren über den Globus hinweg schicksalhaft miteinander verbunden, ohne dass sie sich zunächst überhaupt gegenseitig kennen. Sie sind auf den ersten Blick völlig verschiedenen Berufsgruppen und gesellschaftlichen Sphären zugehörig – und doch haben sie eine signifikante Gemeinsamkeit, die symptomatisch für die Figuren der Krise ist: Sie alle versuchen, „ihr Verhältnis zur Zeit zu modellieren“, sich „die Zukunft vorzustellen und zu kontrollieren, ein Bestreben, das der Macht der Menschen stets entzogen zu sein schien.“68 Der erste der figuralen Ich-Erzähler in dieser autodiegetischen Trias ist Jasper Lüdemann, ein Deutscher aus Bochum, der in Chicago als Banker bei Rutherford & Gold arbeitet. Er ist aus dem Back Office der Investmentbank in den hektischen Händlersaal aufgestiegen, wo er an „Desk 3, Futures und Optionen“69 an vier Monitoren auf die Zukunft spekuliert. Er vergibt nicht im ursprünglichen Sinne Darlehen an die Kunden der Bank, sondern handelt mit Optionen. In ihnen ist das Verhältnis von Geld und Zeit, das bereits im klassischen Darlehen instrumentalisiert war, ins Spekulative der Zukunft pervertiert. Während für ein Darlehen gilt, dass es in der Höhe der Zinsen die Laufzeit zum „Maß des Profits macht“,70 handelt
66 München: Kunstmann 2010. 67 Hénaff, Marcel: Menschen und Schulden. Flucht in die Zukunft, Realitätsvergessenheit und Zivilisationskrise. In: Lettre International 96, 2012. S. 7. 68 Hénaff, M.: Menschen und Schulden. In: Lettre International 96, 2012. S. 7. 69 Magnusson, K.: Das war ich nicht. 70 Hénaff, M.: Menschen und Schulden. In: Lettre International 96, 2012. S. 7.
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Jasper mit Wetten auf die Zukunft. Obwohl der Ich-Erzähler den Leser auch hier nicht direkt anspricht, ist der erklärende Impetus sehr deutlich: Mit Optionen wetten unsere Kunden darauf, wie sich der Kurs einer Aktie entwickeln wird. Informiertes Glücksspiel, wenn man so will. Da Aktien an sich schon eine Wette auf die Zukunft eines Unternehmens sind, ist das, was ich tue, eigentlich eine Wette auf eine Wette. Ich bin ein Meta-Buchmacher. Das ist natürlich hochkomplex, aber irgendwie auch ganz einfach. […] Solche Optionen gibt es nicht nur auf Aktien, sondern auch auf Indizes, Schweinehälften, Orangensaft, auf fast alles. Mehr muss man eigentlich gar nicht wissen. Zumindest wusste ich nicht mehr, als ich hier anfing.71
Das Kompositum „Buchmacher“ trifft im eigentlichen Sinne der komponierten Wörter „Bücher“ und „machen“ auf die beiden anderen Ich-Erzähler zu: Meike Urbanski ist die deutsche literarische Übersetzerin des US-Autors und PulitzerPreisträgers Henry La Marck. Die jeweiligen Ich-Fokalisierungen von Jasper, Meike und Henry decken die gleiche erzählte Zeit ab und schildern in repetitiver Erzählweise dieselben Ereignisse aus ihrer jeweiligen Perspektive: Der in den USA lebende Autor hat seinen Jahrhundertroman über die Anschläge vom 11. September angekündigt, den Meike zu übersetzen fest eingeplant hat. Auf dieses Geld in der Zukunft ist sie angewiesen, denn sie hat bei der Hypothekenbank HomeStar, auf die wiederum Jasper wettet,72 ein Darlehen aufgenommen und sich ein kleines Haus auf dem Land in Tetenstedt bei Hamburg gekauft. Doch sie spekuliert falsch: Henry hat noch keine Zeile geschrieben, und er verschwindet sogar von der Verlagsfeier anlässlich seines 60. Geburtstags, ist nicht mehr auffindbar. Meike macht sich auf nach Chicago, um nach Henry zu suchen und ihn zum Schreiben zu motivieren. Dieser wiederum hat sich in ein Zeitungsbild des ihm zunächst unbekannten Jungbankers Jasper verliebt, den er unbedingt kennenlernen möchte, weil er darauf spekuliert, dass dieser ihn zu einem Roman über die Finanzwelt inspirieren wird. Der Mensch und seine Gefühle dienen dem fiktionalen Schriftsteller als Motivation,
71 Magnusson, K.: Das war ich nicht. S. 48. 72 „Finanzwerte waren angesagt. Besonders Hypothekenbanken wie HomeStar, die es geschafft hatten, Leuten einen Immobilienkredit zu vermitteln, die sich, genau genommen, nicht mal eine Waschmaschine leisten konnten. Das schien riskant, war es aber nicht, da HomeStar diese Kredite nicht lange behielt. Sie machten Wertpapiere mit Namen wie High Grade Structured Enhanced Leverage Fund daraus und verkauften sie an andere Banken, Hedgefonds oder Investoren weiter. Eine geniale Idee: Auch Schulden von Leuten, die sie vielleicht gar nicht zurückzahlen konnten, waren auf einmal etwas wert.“ Ebd., S. 51.
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nicht das Geld73 oder das Finanzsystem. Im Zusammenhang mit der Fotografie in der Zeitung kann der multifokale Roman darauf hinweisen, dass Bildern anders als dem Medium der Sprache keine genuine Deutungsinstanz der menschlichen Emotionen immanent ist: Henry glaubt, in dem Zeitungsbild einen „verzweifelten Business-Boy“,74 einen Banker in der Krise, zu sehen: „Es zeigte einen erschöpften jungen Mann in weißem Hemd, der mit müden Augen in die Ferne blickte […]. Hinter ihm zeichnete sich unscharf etwas ab: die nach unten weisende Kurve eines Aktienkurses.“75 Als wiederum Jasper selbst sein Zeitungsbild erkennt, stellt sich für den Leser, der immer einen Wissensvorsprung vor den jeweiligen Figuren hat, weil er die Innensicht der jeweils anderen Figuren kennt, heraus, dass es zu diesem Zeitpunkt noch keinen Anlass zur Krisenspekulation gab: Der Fotograf hatte sich genau so hingestellt, dass hinter mir einer der großen Monitore zu sehen war, auf dem der Chart von irgendeinem Indikator für irgendetwas abschmierte. […] Es war ein ganz normaler Handelstag gewesen, ohne große Verluste. Ich war einfach müde gewesen.76
Der Roman markiert damit seine Deutungshoheit in der Konkurrenz der Medien sowohl in Abgrenzung zu den artifiziellen Filmbildern als auch den Bildern der faktualen Medienberichte, die immer nur einen Ausschnitt aus der Realität geben und meist auf Äußerlichkeiten festgelegt bleiben. Die Finanzkrise von 2008 ist hier anders als in Bankster nicht der Auslöser für die persönliche Krise des männlichen Protagonisten, sondern die Figur des Jasper ist vielmehr der direkte Verursacher – der Schuldige – der globalen Krise. Im Gegensatz zu Film und Theater muss seine Schuld nicht visualisiert oder dialogisiert werden, sondern manifestiert sich direkt in der Sprachlichkeit seines Gewissens. Die historische Krise ist hier nicht nur die Kulisse der Handlung der Mikrokrise eines Protagonisten, sondern Jaspers Handeln selbst entspricht modellhaft der Dramaturgie der Makrokrise, die sich langsam ankündigt, rasch bis zum Höhepunkt steigert und ab dieser Zäsur zu einer Transformation der Figuren führt. Die Makrokrise wird in diesem Roman im Rückblick des erzählerischen Präteritums der Figur quasi unters Mikroskop gelegt. Jasper dient dabei als Sündenbock,77 indem die ganze 73 Henry als Ich-Erzähler: „Ich interessierte mich nicht für Geld. Ich hatte Geld.“ Ebd., S. 129. 74 Ebd., S. 129. 75 Ebd., S. 60. 76 Ebd., S. 80f. 77 Ein Sündenbock dient der Kanalisierung der negativen Gefühle in der Bevölkerung, indem diese auf ein handhabbares Ziel (den zu Bestrafenden) gelenkt werden. Durch die subjektive Innenperspektive Jaspers wird in diesem Roman auf Rezeptionsebene gezeigt,
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Schuld der Krise narratologisch auf ihn geladen wird, während sein Handeln aber gleichzeitig durch die mikroskopische Innensicht verständlich wird. Damit suggeriert MAGNUSSONS Roman, er könne die Makrokrise über die Mikroperspektive ursächlich erklären. Als Ursache für die Krise wird die zu hohe Geschwindigkeit des Finanzsystems ausgemacht wie die Schnelllebigkeit der Banker, ihr Gefühl der durée, das stark vom „normalen“ Verhältnis zur realen Zeit (temps) divergiert. Das Getriebensein drückt sich auch sprachlich in der Auslassung von Wörtern aus: Stand als Junior Trader viel zu weit unten in der Hierarchie. Ich nahm keinen Urlaub, weil auf der Arbeit die Zeit so schnell verging. Weil ich vergaß, daran zu denken, was mich abends erwarten würde. Oder eben nicht. […] Gab bestimmt auch eine Zeit für das Privatleben. Frau. Kind. Später. Ich war erst 31. Zwischen 30 und 40 muss man brennen.78
Der Roman hat nicht nur unterhaltenden Charakter, sondern ist ebenso aufklärend, wenn auch auf einer weniger offenkundigen, ja auf einer raffinierteren Ebene als die faktualen Texte der Massenmedien wie Nachrichten oder Polit-Talkshows. Ein Mittel hierzu sind die unterschiedlichen Perspektivierungen, die in der Handlung aufeinandertreffen: Auf ihrer Suche nach Henry lernt die – wie ihre Freunde sie nennen – „Literaturverrückte“79 Meike den Banker Jasper im Café kennen. Die Übersetzerin repräsentiert die Vernunfthaltung der sich empörenden Öffentlichkeit, während Jasper als Sündenbock fungiert, der in seinem Glauben an entkoppelte Finanzprodukte für das Platzen der Immobilienblase und für die Makrokrise verantwortlich ist: „Ich bin Europaspezialist. Finanzwerte. Muss im Blick behalten, was heute besonders gehandelt wird: HSBC, UBS, HomeStar, für den Fall, dass …“ HomeStar – der Name kam mir bekannt vor. Natürlich, das war die Bank, die mir für den Kauf meines Hauses in Tetenstedt einen Kredit gegeben hatte. „Die würde ich nicht kaufen“, sagte ich. „Wen?“ „HomeStar. Die geben Kredite an Leute, die sie nicht bezahlen können.“ „Das ist doch der Trick. Alle anderen haben ja schon welche.“ „Ich weiß nur, dass die sehr unvorsichtig sind.“ dass dies ein zu einfacher Mechanismus ist, da Schuld sich nicht einfach objektivieren lässt. Vgl. hierzu: Lüdeker, Gerhard: Der Spekulant als Sündenbock und als Erlöser: Die Finanzkrise in Magnussons Das war ich nicht und Hasletts Union Atlantic. In: Krise, Cash & Kommunikation. Die Finanzkrise in den Medien. Hg. v. Anja Peltzer, Kathrin Lämmle, Andreas Wagenknecht. Konstanz, München: UVK 2012. S. 195–208. 78 Magnusson, K.: Das war ich nicht. S. 7ff. 79 Ebd., S. 117.
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„Vorsicht braucht doch kein Mensch“, sagte er. So hatte ich sie mir immer vorgestellt, diese Superbanker, die ihrer Sache so sicher sind, dass sie sich für gar nichts schämten.80
Henry wiederum repräsentiert auf fiktionaler Ebene das Kunstsystem, genauer, das schriftsprachliche Medium des Romans: Um die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge der Krise zu erklären, reicht es nicht, Bilder zu zeigen, sondern er will dem Mann auf dem Bild, Jasper, nahekommen, um in die Innenwelt eines Bankers einzutauchen, die ihm selbst als Künstler gänzlich fremd ist.81 Die Relevanz des Schreibens zur Erfassung des Finanzsystems drückt sich in diesem Roman wie auch in Bankster und Erinnerungen an meinen Porsche aus, allerdings will der fiktionale Autor hier keinen faktualen Text wie ein Tagebuch oder Notizen zur Krisentherapie schreiben, sondern ein fiktionales Werk mit einer Deutungsfunktion: einen Jahrhundertroman, ein Anschauungsmodell – Blätter, die die Welt bedeuten. Die Narratologie des Romans spürt der Dramaturgie der Krise in ihrer Steigerungskurve nach. Am Anfang spekuliert Jasper selbstsicher mit lediglich 12.000 Dollar Verlust, die sich so lange steigern, bis er als Auslöser der großen Krise aufgeflogen ist: In der Peripetie offenbart sich das Ausmaß seiner unkontrollierbar gewordenen Spekulation – minus 6 Milliarden Dollar – sowie die Geschwindigkeit des globalen Finanzsystems. Die Angst der Marktteilnehmer hatte einen Herdentrieb von Verkaufsaktionen ausgelöst. Daraufhin schiebt Jasper die Verantwortlichkeit auf eine Art und Weise ab, die der Anthropologe GRAEBER als uralt ausweist: Im Lauf der Jahrhunderte gab es immer zwei Möglichkeiten, wie ein Geldverleiher versuchen konnte, sich aus der Schande herauszuwinden: entweder, indem er die Verantwortung einem Dritten zuschob, oder indem er behauptete, der Schuldner sei noch viel schlimmer.82
So erklärt Jasper frei von Selbstzweifeln: „Die Angst [der Anleger. Anm. N.U.] war schuld, nicht ich!“83 In der fiktionalen medialen Berichterstattung, die ihn schließlich bis nach Deutschland, wohin er flüchtet, verfolgt, fungiert er aber als Sündenbock, auf den die Öffentlichkeit ihre Emotionen abführen kann. Das gilt auch für Jasper als Romanfigur: Der Leser bekommt die Makrokrise verständlich aufbereitet über die narrative Komplexitätsreduktion auf eine bzw. drei in die Krise involvierte, 80 Ebd., S. 96. 81 „So musste ich meinen Jahrhundertroman schreiben: aus der Innensicht des Systems. Vielleicht tat ich mich ja so schwer, weil ich genau das nicht mehr beherrschte: die Perspektive des arbeitenden Menschen. Die einzige Perspektive, die ich noch kannte, war der Blick durch das Loch von Enriques Massageliege auf den Marmorfußboden des Vital City Spa.“ Ebd., S. 70. 82 Graeber, D.: Schulden. S. 17. 83 Magnusson, K.: Das war ich nicht. S. 249.
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moralisch klar polarisierende Figuren. Die Motive des Finanztäters werden emotional nachvollziehbar, und dennoch zieht die literarische Sündenbockfigur die negativen Gefühle des Lesers auf sich – bis der geläuterte Jasper mit Meike als Liebespaar in Nordfriesland lebt. Als Entschuldigung der Finanzkrisen-Ich-Erzähler dient stets ihre Form der Unwissenheit durch die Verblendungen der Gier. Es gibt in den ich-fokalisierten Romanen freilich keine allwissende Perspektive. Besonders in der Frage der Konkurrenz der Medien drängt sich die Frage auf: Was ändert sich in den Romanen, in denen über die Figuren hinaus diese weiterführende, kenntnisreiche Erzählinstanz vertreten ist? Präziser gefragt: Was weiß der auktoriale Erzähler von der großen Krise?
H INTER DEN K ULISSEN DER AUKTORIALE R OMANE
F INANZWELT :
In der untersuchten Romanform der Ich-Erzählung gibt es mit Ausnahme von MAGNUSSONS Roman nur eine Perspektive – die des Ich-Erzählers selbst. Dieses Romangenre ist somit sehr weit von den meisten Filmen und Theateraufführungen entfernt, da die darstellenden und performativen Künste stärker auf Interaktionen mehrerer Figuren ausgerichtet sind und weniger auf die Innenwelt lediglich einer Hauptfigur. Im Ich-Roman kreisen dagegen alle anderen als Nebenfiguren um die erzählende Hauptfigur im Zentrum und werden von dieser zu durchschauen versucht, wodurch der Leser die Nebenfiguren lediglich durch die Augen dieser Erzählerfigur als bereits von ihr interpretiert „sieht“. Dies ist in Film und Theater nahezu unmöglich, da sich der Zuschauer, im wahrsten Sinne des Wortes, sein eigenes Bild macht; er kann lediglich durch eine interpretierende Voice-Over-Stimme geleitet werden. Die folgenden zu untersuchenden Romane nähern sich dieser filmischen Präsentation von Finanzkrisen-Akteuren ein Stück weit an. In John LANCHESTERS Roman Kapital84 von 2012 wird der Leser nicht nur mit dem Horizont einer Hauptfigur konfrontiert, sondern bekommt mehr oder weniger neutral wie durch die Linse einer Filmkamera einen ganzen Reigen von in der Narration gleichgestellten Krisenfiguren vorgestellt. Denn die Hauptfiguren teilen alle ein chronotopisches Merkmal, das sie gleichberechtigt in den Plot involviert: Sie leben von 2007, als sich die Bankenkrise anbahnt, bis 2008, nach der Implosion von Lehman Brothers, in der Londoner Pepys Road85. Es handelt sich um eine Straße, in der früher nicht 84 Aus dem Englischen von Dorothee Merkel. Stuttgart: Klett-Cotta 2012. 85 Die Straße existiert in London wirklich und ist vermutlich nach Samuel Pepys benannt: * 23. Februar 1633 in London; † 26. Mai 1703 in Clapham bei London, er war „Staatssekretär im englischen Marineamt […], Präsident der Royal Society und Abgeordneter
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besonders wohlhabende, aber fleißige Arbeiter gewohnt hatten, deren Immobilienwerte sich aber in die Millionen gesteigert haben, als „die Beschäftigten der Finanzwelt die Gegend für sich entdeckten“.86 So leben dort die alte Arbeiterklasse (wie die 82-jährige Witwe Petunia Howe oder der pakistanische Kioskbesitzer und seine Familie) und die zugezogenen Reichen (wie der Banker Roger Yount) in der Figurenkonstellation des Romans gleichberechtigt nebeneinander, mit der Gemeinsamkeit, dass ihre Häuser so begehrt sind, dass sie alle eines Morgens die gleiche unheimliche Karte mit Fotografien ihres jeweiligen Hauses bekommen, auf der steht: „WIR WOLLEN WAS IHR HABT“.87 Die Häuser, hinter deren Fassade der auktoriale heterodiegetische, d. h. nicht-figurale und unbekannte Erzähler blicken kann, bilden wie in einem Theaterstück die eingeschränkte Kulisse, die aber mit einer solchen Signifikanz ausgestattet ist, dass sie laut dem Erzähler sogar selbst der Hauptakteur ist: „Jetzt aber wurden die Häuser für die Menschen, die bereits darin wohnten, so wertvoll und für die, die gerade erst einzogen, so teuer, dass die Gebäude selbst die Rolle von Hauptdarstellern übernahmen.“88 In Film oder Theater wäre eine solche Semantisierung der verschiedenen Innenkulissen und der gesamten Außenkulisse zumindest schwieriger darzustellen, denn während dem Romanleser allein durch die Erwähnung und hier sogar über die explizite Erläuterung durch den Erzähler ihre Bedeutung signalisiert wird, ist die Kulisse vor allem im realistischen Film ohnehin stets präsent, und ihre semantische Relevanz müsste über den Umweg der Handlung oder durch bestimmte Kamera- und Montagetechniken hervorgehoben werden. In LANCHESTERS Roman wird die Bedeutung der Häuser in der Pepys Road zusätzlich dadurch unterstrichen, dass der unbekannte Kartenschreiber die Straße abfotografiert89 und abgefilmt90 hat. Während diese ominöse Figur samt Kamera draudes englischen Unterhauses. Pepys wurde der Nachwelt aber vor allem als Tagebuchautor und Chronist der Restaurationsepoche unter König Karl II. von England bekannt. Pepys wurde in eine Zeit hineingeboren, in der die Kämpfe zwischen dem zunehmend selbstbewusst auftretenden englischen Parlament und dem nach absolutistischer Herrschaft strebenden Stuart-Königtum eskalierten, in die Zeit des aufstrebenden Bürgertums und des beginnenden Kapitalismus.“ http://de.wikipedia.org/wiki/Samuel_Pepys 86 Lanchester, J.: Kapital. S. 9f. 87 Ebd., S. 18. 88 Ebd., S. 9. 89 „Das Foto war in einem Stil aufgenommen, der künstlerisch wirken sollte. Man hatte die Kamera ganz tief gehalten und schräg nach oben gerichtet, so dass die obere Hälfte des Türrahmens drohend über dem Rest der Tür aufzuragen schien. Dadurch wirkte die Perspektive irgendwie komisch.“ Ebd., S. 105. 90 „Der junge Mann, der an diesem Sommermorgen in die Gegend gekommen war, filmte eine Straße von Gewinnern.“ Ebd., S. 12.
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ßen bleibt, d. h. nicht in die Häuser eindringen kann, hat der körperlose Erzähler die Möglichkeit, jedem Haus und auch jeder einzelnen Figur auktorial immanent zu werden.91 Dabei ist Kapital im Umfeld der Krisenromane ein Ausnahmewerk, denn der Erzähler nähert sich nicht nur den Akteuren der Finanzkrise, sondern beschreibt mit gleicher Ausführlichkeit das Leben der unter ihnen arbeitenden „kleinen Leute“ wie das ungarische Kindermädchen Matya und der polnische Handwerker Zbigniew im Hause der Bankerfamilie Yount, oder die illegale Einwanderin aus Simbabwe Quentina, die den Bewohnern als Parkwächterin Strafzettel ausstellt. Sie alle waren in die Weltstadt (engl. wie der Originaltitel des Romans: Capital) London gekommen, um Geld zu verdienen, sich ein Stück vom Londoner Kapital abzuschneiden,92 das dort „höchst diffus präsent [ist], im Leben, im Denken, im Fühlen“.93 Der Roman ist in der Konkurrenz der Medien prädestiniert für die Narration dieser Bereiche, was sich in der großen Bandbreite von lebenden, denkenden und fühlenden Figuren in LANCHESTERS Kapital zeigt. Anders als die analysierten ich-fokalisierten Romane bietet der auktorial erzählte Krisenroman eine breite soziale Redevielfalt.94 Für die Analyse der Narration der Krise ist jedoch die Figur des Bankers Roger Yount aus dem romanesken Panoptikum hervorzuheben. Er hat Modellcharakter für die Frage, die sich auch VOGL stellt, nämlich „ob sich auf den Schauplätzen der internationalen Finanzwirtschaft ein effizientes Zusammenspiel vernünftiger Akteure oder ein Spektakel reiner Unvernunft vollzieht.“95 Rogers Streben beschränkt sich auf den bald zu erwartenden Bonus, den er dringend benötigt, um den Konsumwahn seiner Familie zu finanzieren. Indem der Erzähler Rogers irrationale Vorberei91 Dabei gibt der reale Autor seinem Erzähler alle Freiheiten, die ein Roman bietet, nach dem Vorbild von George Eliots Middlemarch. So Lanchester: „Heutzutage halten wir uns oft zu lange auf bei den theoretischen Fragen der Perspektive, was der Erzähler wissen darf und was nicht, dass wir uns selbst den Blick auf das Wesentliche verstellen.“ Er verzichtet aber auf die Möglichkeit, den Leser direkt anzusprechen. Lovenberg, Felicitas von: Wir wollen, was ihr habt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. Okt. 2012. 92 Vgl.: Lanchester, J.: Kapital. S. 394. 93 Diez, Georg: Pepys Road ist überall. Der Spiegel, 22. Okt. 2012. 94 Kappert stellt für die künstlerische Krisenthematisierung um die Jahrtausendwende fest: „Der Umstand, dass im Zuge der zu Recht festgestellten weiter fortschreitenden Ökonomisierung der sozialen Beziehungen und einer Verschärfung des Konkurrenzkampfes um existentielle Ressourcen andere Bevölkerungsgruppen ungleich mehr in Mitleidenschaft gezogen werden, findet hingegen keine Berücksichtigung. Themen wie soziale Gerechtigkeit und Umverteilung, eine Auseinandersetzung mit Armut und Deklassierten, Kranken und Marginalisierten interessieren nicht. Alles dreht sich stattdessen um die konstatierte Erkrankung des normativen Zentrums: den männlichen Angestellten.“ I.: Der Mann in der Krise. S. 28. 95 Vogl, J.: Das Gespenst des Kapitals. S. 7.
Kappert,
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tungsmechanismen auf die Bonusverkündung bis zu dessen Unterhose aufdeckt, stellt der Roman implizit FERGUSONS Frage, ob der kapitalistische Geist nicht „schlicht verrückt operiert“96: Unter all dem versteckte er das aufreizendste Geheimnis von allen: seine ganz speziellen, glücksbringenden Seidenunterhosen, die Arabella von einem Einkaufstrip nach Antwerpen mitgebracht hatte. Diese ganze Selbstverzärtelung hatte paradoxerweise zur Folge, dass er sich in Sicherheit und gegen alle Unannehmlichkeiten gewappnet fühlte.97
Auch die Bank hat für das Gespräch abstruse Vorkehrungen getroffen: „Die Spezialglaswände des Raums waren von transparent auf opak umgestellt worden, und man hatte das weiße Rauschen eingeschaltet, durch das ein etwaiges Belauschen der Besprechung vollkommen unmöglich wurde.“98 Was der Erzähler im Roman einfach behaupten kann, wäre im Film auf der auditiven Ebene schwieriger umzusetzen, denn es handelt sich beim weißen Rauschen um ein Geräusch, das sich aus allen Frequenzen des hörbaren Bereichs im gleichen Lautstärkepegel zusammensetzt.99 Wie würde ein solches Geräusch im Film klingen und wie könnte vermittelt werden, dass es bewirkt, dass die wörtliche Rede darin für Außenstehende quasi verschluckt wird? Auch im Theater wäre eine solche Situation schlicht nicht authentisch umzusetzen, weil die Zuschauer in der Position des potenziellen Lauschers sind, d. h. das reale weiße Rauschen würde ihnen als Teilnehmer im Zuschauerraum das Hören des Dialogs unmöglich machen. Darüber hinaus kann der Roman mühelos beschreiben, wie das Rauschen von der einzelnen Figur subjektiv wahrgenommen wird: Roger empfindet es, als sich herausstellt, dass er statt der bereits verplanten Summe von einer Millionen Pfund lediglich 30 000 Pfund erhält, auf einmal als sehr laut. Die künftige Gegenwart und die gegenwärtige Zukunft lassen sich nicht miteinander vereinbaren, was bei ihm eine Mikrokrise auslöst, die sich durch die gesamte Handlung zieht. Hierin zeigt sich die von FERGUSON festgestellte durch Geld evozierte „Neigung zur Überreaktion, zum Wechsel von Überschwang, wenn es gut läuft, zur tiefen Niedergeschlagenheit, wenn es nicht so gut läuft.“100 Mehr noch, Roger bekommt einen Nausea-Anfall, der vom Erzähler quasi in die Figur hineinfühlend und zeitdehnend – ähnlich wie die Zeitlupe im Film, aber auf innerliches Empfinden bezogen – beschrieben wird:
96 Ferguson, N.: Der Aufstieg des Geldes. S. 13. 97 Lanchester, J.: Kapital. S. 159. 98 Ebd., S. 159f. 99 Also von etwa 16 Hz bis 20 kHz. Weiß kann man riechen. http://science.orf.at/ stories/1708197/ (15.05.2013). 100 Ferguson, N.: Der Aufstieg des Geldes. S. 13.
270 | III. D IE G ESELLSCHAFTSPOLITISCHE D IMENSION Roger spürte, wie sich sein Magen verkrampfte und dann revoltierte, und dann hatte er ein ganz komisches Gefühl in der Speiseröhre, begleitet von einem Wogen, das sich anfühlte wie Übelkeit. Im nächsten Moment wurde ihm klar, dass es tatsächlich Übelkeit war. Ihm war sterbensschlecht. Ihm war nicht nur schlecht, nein, er merkte, dass er im Begriff war, sich zu übergeben.101
Im Gefühl, das er nach dem Erbrechen hat, deutet sich bereits der Verlauf seines weiteren Bankerdaseins an: „Aber dieses Mal unterschied es sich von all den anderen Malen, bei denen er sich erbrochen hatte, denn bei all den anderen Gelegenheiten war es ihm, nachdem er sich einmal übergeben hatte, besser gegangen.“102 In seinem Unvermögen, Schuld und auch Schulden zu verstehen, entwickelt sich Roger zu einem komischen Helden, der unterkomplexen Modellcharakter für die an der Makrokrise beteiligten Banker hat. Er gehört zu den Bankern der alten Schule – wobei er aber nicht als „Bankier“ bezeichnet wird –, und im Gegensatz zu seinem jungen Kontrahenten Mark fehlt ihm das mathematische Verständnis für die neuen Finanzprodukte. Vor sich selbst gesteht er dies ein, und somit vermittelt sich auch dem Leser eine Ahnung davon, wie es durch die undurchsichtigen Finanzprodukte zum großen Abstraktum der Krise kommen konnte. Auch dieser Roman vermag keine Detailfragen zur Makrokrise zu beantworten, sondern entwirft in Roger Yount vielmehr eine beispielhafte Figur, die als homo oeconomicus untergehen muss, weil ihm eine entscheidende Variable fehlt. So wird für den homo oeconomicus angenommen, dass er „seinen individuellen Nutzen auf der Grundlage vollkommener Information und stabiler und geordneter Präferenzen im Rahmen gegebener Restriktionen maximiere.“103 Die vollkommene Information fehlt den Finanztätern von 2008, und der Roman erweist sich als Kunstform, in der die Banker bzw. ihre Erzähler dies auf fiktionaler Ebene eingestehen. Anders als in Film oder Theater muss Roger seine mangelhafte Kenntnis der Finanzprodukte keiner anderen Figur anvertrauen, damit sie vermittelt wird, sondern es reicht im auktorialen Roman, dass er sie sich selbst eingesteht: Roger war nicht gerade begeistert davon, dass […] er nicht mehr in der Lage war, bis ins kleinste Detail hinein zu erklären, was genau bei den Handelsgeschäften vor sich ging, für die seine Abteilung zuständig war. Aber andererseits war auch sonst kaum jemand dazu in der Lage. Das lag einfach in der Natur der Arbeit, die derzeit am Finanzmarkt üblich war.104
101 Lanchester, J.: Kapital. S. 165. 102 Ebd., S. 166. 103 Esser, Hartmut: Soziologie. Allgemeine Grundlagen. 3. Aufl. Frankfurt/Main, New York: Campus 1999. S. 231. 104 Lanchester, J.: Kapital. S. 31.
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Aus dem inneren Geständnis der Romanfigur vermag der Leser die Mechanismen der Krise abzuleiten: Die Schuld der Banker besteht in ihrem Unvermögen, wirklich zu durchdringen, was Schulden bzw. die aus ihnen hervorgegangenen Finanzprodukte sind.105 Stattdessen war Roger wie die anderen Krisenmänner in den kapitalismuskritischen Werken „zum Konsumtrottel mutiert“,106 ein komischer Held, der sich quasi vom Gläubiger/Banker zum Schuldner transformiert. In der Tat lässt sich für die Romane um 2000 feststellen, dass Schulden, wie VOGL proklamiert, eine phantastische Vielfalt von tragischen und komischen Verwicklungen auf die Welt gebracht haben. Der Spaß des Gläubigers ist der Verdruss des Schuldners, der selbst wieder einigen Lustgewinn daraus beziehen kann, Bankrott zu gehen und sich auf und davon zu machen. Ohne Schuldverhältnisse gäbe es keine tragischen und komischen Helden.107
In der Figur des Roger sind all diese Handlungselemente in seiner krisenhaften Transformation kumuliert. Was LANCHESTERS Roman in der Konkurrenz der Medien besonders kennzeichnet, ist die Nähe, die er zwischen den Figuren und dem Leser herstellt, während sich der Erzähler fast wie in einem historischen Text vollkommen zurücknimmt. Eine Filmkamera beispielsweise oder die Perspektive des Zuschauers im Theater kann kaum so dauerhaft und nah an ihre Krisenfiguren herankommen. Gleichzeitig hat der auktoriale Erzähler die Möglichkeit, das Geschehen aus der größtmöglichen Distanz zu schildern, wie etwa in dem historisch anmutenden Satz: „Am Morgen des 15. September – es war ein Montag – wurde Roger gefeuert.“108 Wie in einem plötzlichen Zoom kann der Erzähler daraufhin ganz nah an die Figur heranfahren und mehr noch als der Film in Roger hineinsehen und dabei zusätzlich mühelos, wie nebenbei, – anders als die Filmkamera ohne das Mittel der Montage – verdeutlichen, dass er nicht nur die Gegenwart seiner Figur kennt, sondern auch ihre Vergangenheit und Zukunft. Dabei braucht der Roman noch nicht einmal seine Tempusform des epischen Präteritums zu wechseln:
105 So schreibt auch Graeber: „Schulden sind mittlerweile das zentrale Thema der internationalen Politik. Aber niemand scheint genau zu wissen, was es damit auf sich hat, oder darüber nachzudenken. Gerade weil wir nicht wissen, was Schulden sind – die Dehnbarkeit des Begriffs ist zugleich die Grundlage seiner Macht.“ Graeber, D.: Schulden. S. 11. 106 Kappert, I.: Der Mann in der Krise. S. 9. 107 Düker, Ronald: „Wir leben in einer Vorkriegszeit“. Gespräch mit dem Kulturtheoretiker Joseph Vogl. Literaturen Mai 2012. 108 Lanchester, J.: Kapital. S. 547.
272 | III. D IE G ESELLSCHAFTSPOLITISCHE D IMENSION Diese wenigen Minuten waren so furchtbar, dass Roger später große Schwierigkeiten hatte, sich daran zu erinnern. Er musste die ganze Zeit gegen das überwältigende Bedürfnis ankämpfen, nur auf seine eigenen Füße zu starren und nichts sonst anzusehen. Sich seinen Weg durch diese ganzen Schreibtische zu bahnen ist gar nicht so einfach! Ich muss nach unten schauen! Nein – Roger versuchte, den Kopf hochzuhalten. Aber das fiel ihm sehr schwer, denn jede einzelne Person im Raum starrte ihn an. […] Noch nie waren so viele Bildschirme mit Datenmaterial von so vielen Händlern für so lange Zeit ignoriert worden.109
Innerhalb kürzester Zeit ist der Banker selbst zum Schuldner degradiert worden, gerät in eine Mikrokrise, die von der Makrokrise, dem Untergang von Lehman Brothers, flankiert wird, was Roger durchaus aufmuntert, da er ja nun gezwungenermaßen die Seite gewechselt hat.110 Am Schluss wird ihm gewissermaßen das Vergnügen zuteil, als Schuldner ein neues Leben zu beginnen und seine Gläubiger auf den Schulden sitzen zu lassen. Mit dem Motto „Nur Besitz ist nicht genug“111 und der festen Überzeugung „Ich kann mich ändern, ich kann mich ändern, ich verspreche es hoch und heilig, ich kann mich ändern ändern ändern“112 verlässt er seine alte Kulisse des Materialismus und kehrt der Pepys Road, der Hauptdarstellerin dieses Romans, den Rücken zu. Mit der narratologischen Nähe zu einem Krisenmann und dessen Läuterung – durch eine „Opposition auf der Zeitachse“113 – geht meist ein empathisches bis sympathisches Einfühlen des Lesers in die Figur einher. Diesem Prinzip widersetzt sich der Roman Kreuzungen. von Marlene STREERUWITZ von 2008.114 Die männliche Hauptfigur ist der CEO115 und Milliardär Max, der eine Personifikation der Eigenschaften von Geld darstellt, wie SCHNAAS sie ausmacht:
109 Ebd., S. 550f. 110 „Die auf der Titelseite [des Evening Standard. Anm. N.U.] erwähnten Details waren absolut fantastisch. Im Wesentlichen stand dort zu lesen, dass die Vermögenswerte von Lehman Brothers mit einem Schlag jeglichen Wert verloren hatten und dass sich niemand bereit erklärt hatte, die Bank zu kaufen oder ihr aus der Patsche zu helfen, weswegen sie nun untergehen würde. Roger legte die Zeitung zurück auf den Stapel und lächelte. […] Es war schön zu wissen, dass er nicht der Einzige war, der gerade einen superbeschissenen Tag hatte.“ Ebd., S. 561. 111 Ebd., S. 579. 112 Ebd., S. 682. 113 Ludwig, Hans-Werner (Hg.): Arbeitsbuch Romananalyse. 5. Aufl. Tübingen: Gunter Narr Verlag 1995. S. 73. 114 Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 2010. 115 Chief Executive Officer.
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Rätselhaft substanzfrei, nichts als Ziffer, Zahl und Menge, an sich wesens- und wertlos und doch Mittel, Ziel und Zweck aller staatskapitalistischen Wirtschaft zugleich, stellt es ein geheimnisumwittertes, vielfach paradoxes Mysterium dar. Prinzipiell solo, ungebunden und ledig aller Fesseln, die es früher einmal an einen Wertspeicher gebunden haben, neigt es heute als papiernes Nichts und binärer Code zur totalen Grenzen-, Maß- und Zügellosigkeit. [Hervorhebungen durch N.U.]116
Max ist ein Mann mit ungeklärter Herkunft, der seine Mutter nie kennengelernt hat und sich seine Identität in der Geldvermehrung quasi selbst schaffen musste. Niemand kennt seinen wahren Reichtum, er ist anonym und muss nicht befürchten, auf der Forbes-Liste aufzutauchen,117 und auch er selbst kann seinen Reichtum sinnlich nicht erfassen: Das was er besaß. Diese Menge. Die war nur noch als Information zu erfassen. Dieser Besitz stellte sich durch das Hantieren mit Informationen als Information her. Ein ständiges Beschwören über Leistungen war das. Bildschirmgeflimmer. Auf dem Tagesbett liegend hatte er überlegt, wie er sich einen sinnlichen Eindruck seines Vermögens verschaffen könnte. Venedig kaufen und allein herumgehen.118
Zu diesem unfassbaren Reichtum hatte ihn seine Frau Lilli angespornt, von der er sich im Verlauf der Handlung aber trennt, um sich eine reine Vernunftehe zu erkaufen. Der Herkunftslose will sich eine neue selbstverherrlichende Existenz erschaffen, unterzieht sich einer Schönheitsoperation und reist danach zur Erholung nach Venedig, wo er Gianni kennenlernt, einen Kotkünstler. Da sich alles Geld ohnehin immer in Kot verwandelt,119 findet er in ihm die einzig sinnvolle Möglichkeit, sein Geld zu investieren. Fortan sind Gianni und Max damit beschäftigt, das richtige Essen zu beschaffen und zu kochen, um die gewünschten verschiedenen Kotkonsistenzen zur Herstellung von Giannis Kunstwerken zu erzeugen. So weist auch dieser Finanzroman eine ausgeprägte Verbindung zu degoutanten Aspekten auf. In der Figur des Max, in seiner über das Erzählen zugänglichen eigenen Logik, erweist sich 116 Schnaas, D.: Kleine Kulturgeschichte des Geldes. S. 18. 117 Vgl.: Streeruwitz, M.: Kreuzungen. S. 167. 118 Ebd., S. 148. 119 „Das Geld einfach zu verprassen. Das Geld also in andere stecken und das sich zeigen lassen. Frauen. Oder Designer. Und sich etwas bauen lassen. Oder nähen. Immer wäre das Geld ja doch nur durch die Gedärme der anderen gegangen. Diese Beschränkung. Die hatte er an Gianni studieren können und er hätte einen Hofstaat gründen können und jeder hätte seine Scheiße präsentieren müssen, die ja ihm gehört hätte. Wie die haute-couture-Kleider oder der Sex. Der Gedanke machte ihn vollkommen zufrieden.“ Ebd., S. 149.
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die Verbindung von Geldinteresse und Defäkation, wie FREUD sie in Charakter und Analerotik herausstellt,120 sogar als folgerichtig. Max kommt dem Teufel gleich, dessen Gold sich nach dem Schenken zu Dreck verwandelt, der aber für Gianni in seiner Kunst wertvoll ist – der Begriff des „Dukatenscheißers“121 wird in dieser Romanhandlung wörtlich genommen. Max ist kein Mann in der Krise, sondern ein Profiteur der Finanzkrise von 2008,122 der als Person so indefinit ist, dass er gar nicht erst in eine Mikrokrise geraten kann. Wie in LANCHESTERS Roman fungiert die große Krise hier lediglich als Hintergrundkulisse, die vom heterodiegetischen, auf Max’ Sicht festgelegten Erzähler in zerstückelten, durch Punkte getrennten Satzfetzen bruchstückhaft dargestellt wird: „Zeitungen. Er schielte nach rechts. Die Börsenkrise war unübersehbar. In allen Schlagzeilen fanden sich Hinweise. Der Dollar. Die Börse. Hedge Fonds. Der Immobilienmarkt. Er ging weiter.“123 Ein Versuch, den Leser oder die anderen Figuren über die Mechanismen der Krise aufzuklären, findet in diesem Roman nicht statt. Die erzählte Psyche des Protagonisten ist hochartifiziell und scheint deshalb darauf abzuzielen, Sinn zu zerstören. Stattdessen stellt die durch Interpunktion zerhackte Sprache die Verwirrung des Abstraktums der Krise künstlerisch dar. Die Narration der Krise folgt hier – anders als deutlich auszumachen in MAGNUSSONS Das war ich nicht – keiner dramaturgischen Kurve bzw. Dreieck, sondern gestaltet sich in der Zerrissenheit von Sinn und Sprache. Ebenso zerrissen, fragmentarisch angelegt, ist auch das neunte Kapitel im Zentrum des Romans. Mit dem unvollendeten Satz „Es doch so“124 bricht das Kapitel ab; d. h. der Text will nicht erklären, wie „es doch so“ ist, auch wenn der Satz in den beiden folgenden Kapiteln fortgesetzt wird. Die Relevanz des Schreibens erhält hier eine andere Dimension als in den zuvor analysierten Romanen. Es ist die Sprache selbst, die sich jeglicher Hermeneutik widersetzt, die Worte und zerhackten Sätze gewinnen eine Präsenz, die sie in die Nähe der Sprachlichkeit im Theater rückt. STREERUWITZ’ Roman bildet in dem hier zu untersuchenden Korpus eine signifikante Ausnahme: Kreuzungen. ist das einzige Werk, das – sei es mittels Erzähler oder Figuren – nicht versucht, inhaltlich über die Ursachen, Zusammenhänge und Begriffe der Krise zu belehren. Dieser Roman nutzt stattdessen sein mediales Potenzial, mittels sprachlicher Rhythmik die Irrungen und Wirrungen der Finanzwelt zu vermitteln und den Leser quasi affektiv hineinziehen zu können. In den Mas120 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke: chronologisch geordnet. Werke aus den Jahren 1906–1909. Hg. v. Anna Freud. Frankfurt/Main: S. Fischer 1947. S. 203–209. 121 Ebd., S. 208. 122 Vgl. Streeruwitz, M.: Kreuzungen. S. 148. 123 Ebd., S. 144. 124 Ebd., S. 157.
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senmedien und auch in den anderen analysierten Romanen sind es dagegen oft Fakten und Erklärungen, die die Stimmung des Lesers als Partizipant der gesellschaftspolitischen Lage beeinflussen können. Sie gestalten sich als regelrechte „Lehrwerke“, wobei sie meist aber nicht in die Nähe von faktualen Sachbuchtexten gelangen. Dies ist jedoch im folgenden zu untersuchenden Roman, der durch die Bezeichnung „Lehrwerk“ besonders treffend beschrieben wird, durchaus der Fall: Markus A. WILLS Roman Bad Banker125 bedient sich weitaus weniger der ästhetischen Potenziale der Sprache, ein fiktionales Kunstwerk zu erschaffen, sondern arbeitet zur Erschließung der Bankenkrise von 2007/‘08 vielmehr mit sachbuchtechnischen und journalistischen Erklärungsmechanismen innerhalb des der Realität aufoktroyierten figural-fiktiven Handlungsstrangs. WILLS Roman von 2010 stellt in fünf Großkapiteln, erinnernd an Akte in einem Drama, ein Modell der historischen Wirklichkeit auf und lässt es alle Phasen der Krise durchlaufen: „Rekordjahr 2006“126 als Exposition, „Krisenjahr 2007“127 als steigende Handlung mit erregendem Moment, „Katastrophenjahr 2008“128 als Höhepunkt und Peripetie und „2009. Das Jahr danach“129 als fallende Handlung – abgeschlossen von einem Epilog als Katastrophe/Schlusshandlung.130 Im Zentrum der Handlung stehen Mitch Lehman und Isabella Davis stellvertretend für zwei Typen von Finanztätern: Er ist der macht- und geldgierige Chef der Investmentsparte aus ursprünglich armen Verhältnissen, der ohne Rücksicht auf Verluste agiert. Sie ist Finanzingenieurin und studierte Physikerin und Mathematikerin, die ihren messerscharfen Verstand dafür einsetzt, immer innovativere und gewinnbringendere Finanzprodukte zu entwickeln.131 Im Gegensatz zu Mitch, der
125 Basel: Friedrich Reinhardt 2010. 126 Will, M. A.: Bad Banker. S. 15. 127 Ebd., S. 104. 128 Ebd., S. 339. 129 Ebd., S. 651. 130 Vgl. ausführlicher: Freytag, Gustav: Die Technik des Dramas. Berlin: Autorenhaus 2003. 131 Ab den 90er Jahren hielten Mathematiker Einzug in die Banken und entwarfen immer komplexere Finanzprodukte, die nichts anderes sind als Wetten auf Schwankungen. Die Physiker bilden auch in den soziologischen Porträts von Honegger, Neckel und Magnin eine prominente Gruppe. Sie weisen ihr genau jene Eigenschaften zu, welche die Figur der Isabella besitzt: Sie agiert im Hintergrund und ist den anderen Figuren ein Mysterium: „Immer wieder stößt man bei der Suche nach den Hintergründen der Finanz- und Bankenkrise auf die geheimnisvolle Gruppe der sogenannten ‚Quants‘ – studierte, zumeist promovierte Physiker, die in den letzten Jahren in großer Zahl in den Finanzsektor geholt wurden.“
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sich selbst als „General“ über seinen Finanzmarktsöldnern bezeichnet, wird Isabella nicht von ihrer Gier geleitet, sondern von ihrer seelischen Abhängigkeit von Mitch, mit dem sie zu Studentenzeiten eine Liaison hatte. Isabellas Gesicht ist aber zur Hälfte von Brandnarben entstellt132 und Mitch wendet sich vorwiegend jüngeren Frauen und seinen persönlichen Prostituierten zu. Weil Mitch Lehman als CEO der Carolina Bank eine immer höhere Rendite erzielen will, entwickelt Isabella Davis ein hochkomplexes neues Derivat, das sie auf den harmlos klingenden Namen „Holiri“ tauft. Die anderen handlungsrelevanten Figuren des Romans sind allesamt deren Gegenspieler: der aus einer Schweizer Privatbank-Dynastie stammende Carl Bensien zweifelt als Chief Risk Officer der Carolina Bank an dem neuen Finanzprodukt und räumt den Holiris einen wesentlich kleineren Verfügungsrahmen ein als von Mitch und Isabella gefordert: „nur“ fünf Milliarden. Durch Kapitalverschiebungen verschafft sich Isabella dennoch das benötigte Budget, was nur so lange funktioniert, bis das Platzen der US-Immobilienblase ihr System in sich zusammenfallen lässt. Isabella befreit sich durch einen dramatischen Selbstmord von der Schadenssumme von 50 Milliarden Dollar, aber nicht ohne zuvor Mitchs Mitwisserschaft per Audiodateien an Carl Bensien zu versenden. Es bedarf allerdings der jungen, attraktiven Journalistin Carla Bell, um den kriminellen Lehman ein für allemal zu eliminieren. Die Handlungs- und Figurenkonstellation zielt ganz evident darauf ab, die Frage zu beantworten, die auch Hans-Werner SINN auf der faktualen Ebene in KasinoKapitalismus stellt: Aber was war es genau, das die Finanzwelt an den Rand des Abgrundes trieb? Waren es psychische Defekte von der Art, wie man sie bei Lottospielern und im Spielkasino beobachtet? War es ein blind machender Spieltrieb, der die Banken ins Verderben getrieben hat? Oder steckt etwas anderes dahinter?133
Dröge, Kai: „Auf ein Modell hundert Prozent vertrauen? Na, dann wärs kein Modell, dann wärs ja die Wirklichkeit.“ In: Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt. Hg. v. Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal Magnin. Berlin: Suhrkamp 2010. S. 47. 132 „Eine Frau mit zwei Gesichtshälften: links hässlich und vernarbt, rechts schön und eben.“ Will, M. A.: Bad Banker. S. 40. 133 Sinn, Hans-Werner: Kasino-Kapitalismus. Wie es zur Finanzkrise kam, und was jetzt zu tun ist. 2. überarb. Aufl. Berlin: Econ 2009. S. 83.
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Entsprechend werden die zentralen Handlungselemente und das dahinterstehende Enthüllungsprogramm des von Fakten inspirierten fiktionalen Roman-Modells vom Autor WILL gleich zu Beginn im Paratext herausgestellt:134 Seit 2007 tobt in der realen Welt die Finanzkrise mit ihren absurden Finanzinstrumenten, komplizierten Verschachtelungen, harmlos klingenden Zertifikaten und Derivaten sowie der Gier und auch Arroganz verschiedener Akteure in der Parallelwelt des globalen Kapitalmarkts. Alles das ist wirklich geschehen.135
Diese Elemente der realen Krise versucht der Roman durch folgende vier, sich meist überschneidende narrative Strategien zu erklären und gemäß einem moralischen Programm zu transformieren: Erstens bedient sich der Roman eines Sachbuchstils und über die Figuren der Journalistin Carla Bell und ihrem Vorgesetzten Simon auch journalistischer Taktiken. Die zweite narratologische Erklärungsstruktur, die Hand in Hand mit der ersten Strategie geht, kann als ExpertenLaienstruktur bezeichnet werden. Die dritte, meist innerhalb der Laienstruktur auftretende Strategie ist die narrative Vergleichs- und Beispielstruktur, der sich meist die Expertenfiguren bedienen, um einer Laienfigur die Finanzwelt zu erklären. Viertens gibt es eine Kritikstruktur an den realen gesellschaftspolitischen Verhältnissen, die sich erstens aus moralischen Plotstrukturen wie der Figurenkonstellation und zweitens aus expliziten fiktionalen Lösungsansätzen speist. Gleich die erstgenannte Strategie des Romans, der über weite Passagen sachbuchartige und journalistische Stil, weist auf ein besonderes Gestaltungspotenzial des schriftsprachlichen Mediums im Vergleich zu den bewegten Bildern des Films und zur Präsenz des Theaters hin: Dies ist die Möglichkeit, Dialoge auch quantitativ so auszudehnen, dass sie Erklärungen wie in einem Sachbuch oder in journalistischen Ausführungen bieten können. Die Länge des Spielfilms, der auf Handlung und Auflösung ausgerichtet ist, wie auch die auditive Aufnahmefähigkeit des Zuschauers würden hier an ihre Grenzen stoßen. Ebenso wären erklärende Dialoge oder vielmehr Monologe dieser Länge für die Gedächtniskapazität des Schauspielers im Theater eine enorme Herausforderung bzw. müsste auf Improvisation in der Präsenz-Situation setzen, welche aber bedingen würde, dass der Schauspieler in Vorbereitung der Rolle ein tieferliegendes Verständnis der realen Krise erlangt hat, um sie in der Live-Situation einer anderen Figur und dem Publikum frei erklären zu können. Figural erfüllt in WILLS Roman die junge Carla Bell das journalistische Aufklärungsprogramm: Sie erweitert ihr Wissen über die Bankenwelt, angetrieben vom Glauben, ihre Mutter habe sich wegen einer Affäre mit einem Banker das Le134 Die Kursivsetzung durch N.U. markiert die programmatischen Elemente des Romans, wie sie im Folgenden näher untersucht werden. 135 Will, M. A.: Bad Banker. S. 7.
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ben genommen. Deshalb hat Carla ein biografisch tiefsitzendes Interesse an der Finanzwelt, die sie als „Risikojournalistin“136 des Londoner CityView kritisch beleuchtet: „[S]ie wollte wissen, wie Banken, Banker und deren System funktionieren.“137 Die erklärenden Dialoge ihrer Recherchen und auch Carlas Erläuterungen der Krise gegenüber ihrem Vater sind von einer nicht authentischen Länge138 und erinnern damit stark an Passagen aus faktualen Texten in Sachbüchern oder Zeitungen. Über Carla bzw. ihren Chefredakteur Simon macht sich der Roman außerdem das Potenzial zu Nutze, ganze Zeitungs- bzw. Newsletterartikel einfügen zu können.139 Der Roman bleibt hier anders als die in Film oder Theater zumeist vorherrschende dialogische Form nicht auf die Rede der Figuren beschränkt, sondern auch der Erzähler referiert die faktualen Ereignisse der Romanhandlung in einem journalistischen Stil, wie z. B. die Insolvenz von Lehman Brothers, die als GAU bezeichnet wird140 – dem Vergleich schlechthin zur Beschreibung des Ausmaßes der Krise.141 Neben den Journalisten gibt es aber noch die Experten im Kern der Handlung, die ihr Wissen quasi aus erster Hand an auserwählte, vertrauensvolle Finanzlaien vermitteln. So doziert Isabella Davis in der dialogisch-narratologischen ExpertenLaienstruktur ihrem Hautarzt Dr. Julian Luir während der Behandlung ihrer Gesichtsnarben – die einzige Situation, in der sie ihre Zeit passiv nutzt – die Mechanismen und den Aufbau der Bankenwelt.142 In dieser Form des Aufklärungsmodus offenbart sich auch die Komplexität der gesellschaftspolitischen Zusammenhänge der Krise, welche journalistische faktuale Texte nicht mehr entwirren können – sondern vielmehr verwirren. So ist Dr. Luir durchaus über den Finanzmarkt informiert, die Zusammenhänge wirklich zu begreifen vermag er jedoch nicht: „Aber ich verstehe es nicht mehr. Je mehr ich lese, desto weniger, Isabella.“143 In einer Art Frage-Antwort-Spiel liefert ihm die Insiderin Definitionen der Finanzprodukte wie
136 Ebd., S. 260. 137 Ebd., S. 57. 138 Ebd., S. 599–605. 139 Vgl.: Ebd., 635ff. 140 Ebd., S. 567. 141 Vgl.: Röggla, Kathrin: Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion. Wien: Picus 2009. S. 53. 142 „Zwischen dem Arzt und der Finanzspezialistin hat sich im Laufe der Sitzungen eine Art Seminar für Anlagemanagement ergeben. Dr. Luir hat sich als leidenschaftlicher Zocker am Kapitalmarkt entpuppt, hat aber nach Isas Einschätzung keine Ahnung.“ Will, M. A.: Bad Banker. S. 209. 143 Ebd., S. 420.
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den Zertifikaten144 und der Institutionen wie den Ratingagenturen zusammen mit brisanten Enthüllungen.145 In der Experten-Laien-Struktur drückt sich auch die Divergenz der Positionen aus: auf der einen Seite die Fassungslosigkeit ob des deregulierten Markts mit seinen abstrusen Finanzprodukten, auf der anderen Seite die emotionslose, rational-mathematische Erklärung.146 Schließlich schlüsselt Isabella Dr. Luir sogar die gesamten Zusammenhänge der Krise in einer Grafik, einem sich sukzessive entwickelnden „abstrakte[n] Bild“,147 das „furchterregend aussehen“148 mag, wie Isabella selbst zugibt, mit detaillierten verbalen Erklärungen auf. In der Abbildung einer solch unleserlichen Skizze (Abb. 26) zeigt sich die Offenheit der Form des Romans, verbunden mit der Möglichkeit ausführlicher narrativer Erläuterungen dieser Skizze über Figuren und Erzähler. Der Roman entpuppt sich hier in
144 „‚Zertifikate sind reine Wetten, ohne Unterlegung mit Werten. Was jetzt in Bewegung kommt, sind Papiere, die mit Immobilien besichert sind. […]‘“ Ebd., S. 210. 145 „‚[…D]ie Ratingagenturen bewerten die Mischung meiner Rezeptur und geben ihr dann ein Gütesiegel. Beispielsweise AAA, AA oder A. Dieses Siegel ist wichtig für den Käufer. Wie bei den Eiern.‘ ‚Dann ist doch alles okay.‘ ‚Na, ja. Die Ratingagenturen wissen eigentlich nicht, was ich zusammengemischt habe, sondern müssen meinen Dokumentationen glauben.‘ Isa wundert sich manchmal, wie viel sie Julian von ihrer Arbeit preisgibt, aber was soll der Doktor mit diesen Informationen schon anfangen? ‚Die Zertifikate sind mit Gütesiegeln versehen, die Sie im Prinzip vergeben?‘ ‚Genau […].‘“ Ebd., S. 211f. Im Vgl. hierzu die Anklage von H.-W. Sinn auf faktualer Ebene: „Hätten die Agenturen funktioniert, wie man es von ihnen erwartete, hätten sie die systemischen Risiken, die in den Papieren steckten, von vornherein erkennen und ihren Kunden mitteilen müssen. In Wahrheit haben sie kläglich versagt.“
H.-W.
Sinn: Kasino-Kapitalismus. S. 144. 146 „‚Es werden zu viele Subprimes faul, weil der amerikanische Immobilienmarkt überhitzt ist und offensichtlich dreht. Vor ein paar Wochen sind ein paar regionale Banken pleitegegangen, die Subprimes und Ninjas gegeben haben.‘ ‚Ninjas?‘ ‚No income, no job, no assets. Kurzform, Julian. Wir machen alles so schnell, dass wir nur noch in Kürzeln reden.‘ ‚Sie wollen allen Ernstes behaupten, dass Sie Kredite an Leute ohne Einkommen, ohne Job und ohne Vermögen vergeben?‘ ‚Ja, das geht, wenn man richtig berechnet. Leider können nicht alle richtig rechnen. Wenn man sauber kalkuliert, kann nichts passieren.‘“ Ebd., S. 212f. 147 Ebd., S. 422. 148 Ebd., S. 424.
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Abwandlung von BAUER149 als ein „Laboratorium des Erklärens“, da er mit der Instanz des Erzählers bzw. Erklärers im Vergleich zu Film und Theater eine weitere mögliche didaktische Stimme hat. Abb. 26: Grafik „Isabellas Teufelskreis“.
Will, Markus A.: Bad Banker. Basel: Friedrich Reinhardt 2010. S. 428.
Die Grafik enthält die Instanzen des Finanzsystems und ihre Produkte zusammen mit in Pfeilen ausgedrückten Verbindungen. Jedes Detail wird entweder von Isabella oder vom Erzähler erläutert, während Dr. Luir seine qualifizierten Fragen stellt. Als Börsenspekulant geht Dr. Luirs Wissen aber über das eines Finanzlaien hinaus, so dass dieser Erklärungsmodus des Romans nicht für jeden Leser gleichermaßen gewinnbringend ist. In dieser Figurenkonstellation geht der Roman nicht über faktuale erklärende Interviews hinaus, in denen meist ebenfalls gehobene Laien die Fragen stellen und nicht Repräsentanten der Massen. Mit dem Verstehen der Grafik stellt sich bei Dr. Luir, der anders als Isabella nur am Rande des Systems agiert, die Erkenntnis ein, dass es sich bei der Krise nicht um ein vorübergehendes Problem 149 Auf S. 111 nennt er die Gattung des Romans ein „Laboratorium des Erzählens“. Bauer, M.: Romantheorie und Erzählforschung.
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handelt, sondern dass das gesamte System krankt. Dies zu erkennen vermag nur der (Semi-)Laie – Dr. Luir wie der Leser – im Gegensatz zur Figur der Isabella, die mitten in der Spirale steckt. Die bewertende Funktion schreibt sie vielmehr den Medien zu, aber wie sich im Kenntnisstand der Figuren zeigt, erfüllen zumindest die faktualen Massenmedien dies kaum. In diesem Umstand deutet sich die Funktion der Kunst an: Wenn die Krise in den journalistischen Medien nur schwer darstellbar ist, müssen fiktionale Narrationen und Darstellungen diese Lücke füllen, etwa durch die Darstellung von figuralen Innenperspektiven, die die abstrakten gesellschaftspolitischen Zusammenhänge fühlbar werden lassen können. Über die vier verschiedenen Modi der Erklärung (Sachbuchstil, ExpertenLaienstruktur, Vergleichs- und Beispielstruktur, Kritikstruktur) kann die künstlerische Umsetzung der Krise im Roman auch in moralische Werturteile münden: [Dr. Luir:] „Ist das nicht eigentlich ein sehr schön gemalter Teufelskreis?“ Isabella betrachtet ihr Werk für einen längeren Moment: „Eigentlich haben Sie Recht, Julian.“ „Und wenn der in die Luft geht, was machen Sie dann, Isabella?“ „Umschichten, verschachteln, gegenwetten. Einfach schlauer sein als andere und abwarten, bis die Krise vorbei ist.“ „Was soll das eigentlich noch mit den MEDIEN?“, fragte er an der Türe, ehe er sie für Isabella öffnen will. „Die sollten das alles bewerten.“ Isabella steht noch einmal auf und zieht einen großen Kreis um das gesamte Bild, der bei MEDIEN anfängt und wieder aufhört. „Glauben Sie das?“ „Nein, Julian“, lacht Isabella. „Auf Wiedersehen und verraten Sie mich nicht, mein Doktor.“ „Wie bitte?“ „Na, dass ich die Künstlerin bin“, sie gluckst wie ein Teenager. Julian betrachtet das Bild noch eine Weile: „Nein, kein Teufelskreis, Isabella“, sagt er, obwohl die schon seit Minuten weg ist, „es ist eine Todesspirale.“150
Diese Prophezeiung erfüllt sich in Isabellas Werdegang, indem sie von der Spirale in den Selbstmord getrieben wird, als es keinen Ausweg mehr gibt. Die Skizze hat dabei über den Erklärungsmodus hinaus die narratologische Funktion, den wahren Schuldigen des Derivatebetrugs in der Carolina-Bank nach Isabellas Tod zu entlarven: Mitch Lehman. Isabellas Betrugsbeichte folgt der Sprung vom Hoteldach, bei dem sie direkt vor Mitch aufschlägt, was in der Beschreibung der degoutanten Details die Verwerflichkeit des Systems in den Fleischfetzen der Figur ausdrückt, die analog zur Krise auch die unbeteiligten Passanten treffen.151 150 Will, M. A.: Bad Banker. S. 427. 151 Ebd., S. 502.
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Der zweite festzustellende Erklärungsmodus in Bad Banker, der sich auch in den vorangegangen analysierten Romanen findet, ist die sprachliche Vergleichsstruktur zur Erhellung der komplexen Zusammenhänge des Finanzsystems. Sie findet auf drei Ebenen statt: im Dialog der Figuren; auf der personal erzählten figuralen Ebene in der Reflexion einer Person; in der Reflexion des unsichtbaren heterodiegetischen Erzählers. Letzteres gelingt z. B. in einem sprachlich vermittelten Bild von einem Sonnenaufgang, der sich im Wasser spiegelt und vom Erzähler metaphorisch gedeutet wird: Die Journalistin Carla Bell hat eine Affäre mit dem Banker Mitch und verbringt die Silvesternacht auf seiner hawaiianischen Privatinsel „Big Deal“152 am Strand. Der überdimensionierte Luxus seines Anwesens kann im Roman besonders einfach „überzeichnet“ und damit ad absurdum geführt werden, was im Theater nur schwer zu gelingen vermag. In Carlas Blick auf den Sonnenaufgang am Neujahrsmorgen im Großkapitel „Katastrophenjahr 2008“ steckt sowohl ein erzähltechnischer Erklärungsversuch der Finanzprodukte als auch die Vorausdeutung der Krise: Die aufgehende Sonne schickt ihre Strahlen über das Wasser direkt in ihr Gesicht. […] Das Wasser ist eben wie ein Spiegel und die Sonne ist gleich zweimal zu sehen: am Himmel und als perfekte Spiegelung im Wasser, wie eine Aktie und ihr Derivat. Nach kurzer Zeit ist der Winkel aber zu steil. Die derivate Sonne ist nicht mehr zu sehen – das Wertpapier, das für einen Moment tatsächlich auch als Spiegelbild hätte wärmen können, ist wertlos verfallen.153
Ein solches sich transformierendes Bild wäre im Film ohne narrative oder figurale Deutungsinstanz nur schwer als Metapher für die aufsteigende Krise zu interpretieren. Das Theater kann solch ein Potenzial allein über eine Figur entfalten, die per Mauerschau ein Bild in der Vorstellungskraft der präsenten Zuschauer zu entwerfen und zugleich die Interpretation nahezulegen vermag. Einen erklärenden Vergleich auf der Ebene der Figurenreflexion nimmt signifikanterweise die Heldenfigur Carl Bensien vor, der im Roman als Autorität stilisiert wird, welcher die anderen Figuren und auch der Leser Vertrauen schenken können. Er vergleicht die Derivate „Holiris“ in seinen Gedanken auf der Heimfahrt in die Schweiz mit Ricola Schweizer Kräuterbonbons: Das [Ricola-Bonbon] ist wenigstens etwas zum Anfassen. Aber es könnte auch ein Kunstname für ein Zertifikat sein: RIsk COllateral Leverage Asset oder ähnlich. RICOLA. Wie dieses HOLIRI aus dem Londoner Labor. Klingt süß, obwohl es eines der kompliziertesten Derivate 152 Indem Mitch eine solch übertriebene Terminologie für seine fiktional überzeichnete Privatinsel wählt, wird er im Roman auf der Ebene der Kritikstruktur als gierig und größenwahnsinnig und damit als Prototyp des Schuldigen der Krise gebrandmarkt. 153 Ebd., S. 355.
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ist, für die beim besten Willen die Verbriefungen von abgeleiteten Wertpapieren nicht erfunden worden sind: HOLIRI – Holistic Individual RIsk Security – wie verrückt muss man eigentlich sein, um solche Dinger zu entwickeln?154
An dieser Stelle geht die Vergleichsstruktur mittels der moralischen Reflexion des Risk Managers in die Kritikstruktur über: „Mir gefallen die Holiris nicht, legt er sich gedanklich fest: Verschiedene Risiken verschiedener Menschen auseinanderzuschneiden und dann neu zusammenzuwürfeln, nein. Und die Risiken sollen alle nichts miteinander zu tun haben? Das kann nicht sein.“155 Doch nicht nur in der Innerlichkeit der Romanfiguren wird Kritik an den deregulierten Finanzprodukten und dem System an sich geübt, sondern auch auf der Ebene der Figurenkonstellation selbst: Carl Bensien, der Schweizer Bankier, verkörpert den moralischen Gegenpol zum unvernünftig agierenden New Yorker Banker – die Weglassung des „i“ ist semantisch besetzt – Mitch Lehman, der Chef des Kapitalmarktbereichs der Carolina Bank ist. Hier ist es einmal der Erzähler, der Lehmans moralische Schuld entlarvt, die in seiner unermesslichen Gier und in seinem Größenwahn liegt: Der General hat […] eine sehr einfache Art, das Leben zu betrachten: Erst kommt Lehman und sein big Ego mit seinen big Balls, dann kommt Lehman und sein big Bonus und dann kommt Lehman und seine big Girls, wie er seine Gespielinnen nennt. Small kommt in Lehmans Welt nicht vor.156
Die Figur des Hauptschuldigen trägt Merkmale der Psychopathie, wie „ein durchgängig asoziales, egoistisches Verhalten und ein auffälliger Mangel an Reue und Schuldgefühl.“157 Eben jene psychopathische Hybris ist die Triebfeder der Krise, bei der realiter aber nicht so einfach schuldige Individuen auszumachen sind158 wie in der Kunst. Die Figur Lehman praktiziert wie die reale Bank Lehman Brothers die
154 Ebd., S. 24. 155 Ebd., S. 25. 156 Ebd., S. 85. 157 Noll, Thomas; Scherrer, Pascal: Börsenzocker im Labor. Psychologie heute, März 2012. S. 30–33. 158 So ist H.-W. Sinn der Meinung, dass es wenig sinnvoll ist, einzelne Schuldige vor Gericht zur Rechenschaft zu ziehen, vielmehr liege der Fehler im System und es sei versäumt worden, dieses zu hinterfragen. Er geht auch nicht auf einzelne Banker ein, sondern spricht allgemein von ignoranten Banken. Vgl. H.-W. Sinn: KasinoKapitalismus. S. 95.
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Abkopplung der Banken von der Realwirtschaft,159 und er irrt sich pars pro toto für die gesamte Finanzwelt in dem Glauben, Lehman Brothers sei – wie er selbst auch – too big to fail.160 In dieser Funktion erfüllt er Modellcharakter und bleibt eine eindimensionale Figur. Selbst als er mit seiner Vergangenheit in Form des Pfarrers Horacio Melander – die moralische Instanz, die sich als sein Vater entpuppt – konfrontiert wird, entwickelt die Figur keine Tiefe und kann narratologisch eher objektivisch geschildert werden, wodurch der Typus Mitch Lehman sehr einfach in Film oder Theater zu adaptieren wäre. Seine Gedanken bleiben immer an derselben Oberfläche, so dass eine narratologische Innenperspektive dieses Bankertypus kaum bemüht werden muss.161 Zur Anzeige seiner modellhaft-unumstößlichen moralischen Verwerflichkeit wird auch in diesem Roman der Affekt des Ekels bemüht: Carla hat die Affäre mit Mitch innerlich beendet, versucht aber zuvor noch Informationen aus ihm herauszubekommen. Danach muss sie sich übergeben,162 was nach MENNINGHAUS eine klare moralische Positionierung darstellt.163
159 „‚Die simple Begleitung der realen Wirtschaft durch die Banken ist mir schon lange nicht mehr genug. Ich kann den Quatsch nicht mehr hören, dass die Finanzindustrie zur Unterstützung der eigentlichen Wirtschaft da ist.‘ ‚Wozu sonst?‘ Carla versucht sich vorsichtig herauszuwinden. ‚Nein Carla, wir Händler sind die eigentliche Weltwirtschaft: Die meisten aller Finanztransaktionen finden inzwischen statt, weil wir das wollen. Sicher achtzig Prozent, schätze ich. […] Wir Investmentbanker sind The Masters of the Universe! Und ich bin The Star of these Masters.‘“ Will, M. A.: Bad Banker. S. 361. 160 Im Vergleich mit dem Sachtext von H.-W. Sinn zeigt sich die Analogie der Figur Lehman und der realen Bank Lehman Brothers: „Die Finanzwelt war irrtümlich davon ausgegangen, dass auch Lehman Brothers zu groß war, als dass der Staat es sich leisten könnte, sie fallen zu lassen. Als Finanzminister Paulson am 10. September 2008 erklärte, Lehman Brothers nicht retten zu wollen, verbreitete sich Panik. Die Banken bekamen Angst, dass sie die Gelder, die sie anderen Banken liehen, nicht mehr zurückbekommen würden. […] Der Interbankenhandel brach zusammen. Die schon lange schwelende Krise weitete sich zu einem Flächenbrand aus.“ Sinn, H.-W.: KasinoKapitalismus. S. 70. Auch Mitch Lehman verliert die Unterstützung seiner einstigen Verbündeten. 161 So fragt ihn Carla Bell während der Zeit ihrer Affäre nach dem tieferen Sinn seiner Tätigkeit des, wie er es selbst nennt, Geldscheffelns, wobei er offenbart: „‚Über den tieferen Sinn denke ich nie nach!‘ ‚Jeder hat Momente, in denen er über den tieferen Sinn seines Daseins nachdenkt.‘ ‚Ich denke nur an Deals. Ich bin ein Händler und kein Denker, Carla.‘“ Will, M. A.: Bad Banker. S. 359. 162 „‚[…] Wird Lehman sterben, Mitch?‘, setzt sie nach.
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Die moralische Schuld in der narrativen Kritikstruktur drückt sich auch in nationalen Kategorien aus: Der Schweizer Bankier Carl Bensien schafft Recht, während der New Yorker Banker Mitch Lehman (in NY sitzt der Commercial-Teil der Bank) klar als der Schuldige ausgemacht wird; Isabella Davis aus London (dort sitzt der Investment-Teil der Bank) hat eine Zwischenposition inne. Die Schuld der Finanzingenieurin und „Giftmüllmischerin“164 ist eine mindere als die des Bankers Mitch: Während er aus reiner Gier und Größenwahn heraus handelt, liegt ihr Fehler in der falschen Spekulation auf die Entwicklung in der Zukunft. Sie geht davon aus, dass in der Finanzwelt nur kurzfristig geplant werden könne und beruft sich dabei auf ein Zitat des britischen Ökonomen John Maynard KEYNES: „In the long run, we are all dead“.165 Als für sie in der nahen Zukunft keine Aussichten mehr auf funktionierende, Milliardenrendite bringende Finanzprodukte und auch auf Mitch als Liebhaber bestehen, setzt sie ihrem Leben ein Ende, wobei ein „unglaublich komplexes Kartenhaus“166 zusammenbricht, das von den eindeutig als heldenhaft identifizierbaren Figuren Carl und Carla erst einmal entwirrt werden muss. Dies führt in die Struktur der fiktionalen Lösungsansätze: WILLS Bad Banker ist der einzige Roman, in dem eine Figur über die reflexive Läuterung hinaus das Potenzial hat, in das System einzugreifen: Carl Bensien soll als neuer CEO die Bank aus der Krise führen. Die vorangegangenen Romane weisen keine solche Heldenstruktur auf, wie sie meist in filmischen Hero’s Journeys anzutreffen ist. „[D]er verschlossene Bankier“167 Bensien – genannt „Dr. No Risk“168 – bildet hier die romaneske Ausnahmefigur. Er verkörpert eine moralische Lösungsstruktur vergleichbar einer Auflösung am Ende eines Films. Carl Bensien ist kein Krisenmann und bleibt daher nicht wie die Figuren der meisten anderen untersuchten Romane auf Reflexion, Diskussion und Läuterung festgelegt, sondern hat fernab jeder Mikrokrise auf der Makroebene des Systems eine Handlungsmacht: Er tritt die Nachfolge des als Verbrecher entlarvten Mitch Lehman an und hält eine Rede vor den Mitarbeitern, in der er „jeden einzelnen Händler auf[fordert], sich den Risikos seiner Trades stärker bewusst zu werden.“ In einer zweiten Chance solle der „gesunde[...] Menschenver‚Investmentbanken dieser Größe können nicht untergehen, Carla. Lehman ist unsterblich, aber sie werden nicht mehr Herr ihrer Lage sein, küsst er sie hart. Als er von ihr ablässt, geht er mit einem knappen Abschied, Mitch ist kein Mann großer Gesten. Angeekelt schaut ihm Carla für einen Moment hinterher, dann stürzt sie ins Bad und übergibt sich.“ Ebd., S. 563. 163 Vgl.: Menninghaus, W.: Ekel. S. 34. 164 Will, M. A.: Bad Banker. S. 543. 165 Ebd., S. 406. 166 Graeber, D.: Schulden. S. 392. 167 Will, M. A.: Bad Banker. S. 24. 168 Ebd., S. 300.
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stand“169 stärker zum Einsatz kommen. Da Gier offenbar vergesslich macht, wiederholt er sein Credo, die Bank solle für die Kunden da sein und nicht für sich selbst,170 vor den Mitarbeitern immer wieder. Auf privater Ebene wird er zum Retter von Carlas zerrüttetem Liebesleben. Bis zuletzt unterstreicht auch dieser Roman die Relevanz des Schreibens zur Erklärung der Krise in Form der aufklärerischen Journalistin Carla Bell. Allerdings schreibt sie nur massenmedial-faktuale und keine künstlerischen oder privaten Texte. Der Kunst des Films scheint Carla ebenfalls nicht viel zuzutrauen: Im Flugzeug schaut sie sich den Film Wall Street aus den 1980ern an, der im Folgenden in seiner Fortsetzung analysiert werden soll. Sie findet den Spielfilm langweilig, da er „gegen die Realität 2008 nur noch als Lehrstück dienen kann.“171 Möglicherweise mag das auch darin begründet liegen, dass der Film aus ihrer Sicht nicht das „richtige“ Medium ist, um die abstrakten Zusammenhänge der Krise zu reflektieren. Denn interessanterweise besteht die Kongruenz der schriftsprachlichen Form und des Finanzsystems in der Abwesenheit des Körpers. Der Roman versucht zwar, der Krise auf figuraler Ebene Leben einzuhauchen, doch die Gesichter der Schuldigen bleiben – wie meist auch die visuelle Ebene der realen „schuldigen“ Banker, die nicht in die mediale Berichterstattung eingehen – der Phantasie überlassen. In den faktualen Berichten im Fernsehen werden zwar einige wenige Schuldige herausgehoben, aber die Mehrheit der Finanztäter verharrt in einer grauen, körperlosen, unbestimmten Masse in der Imagination jedes Einzelnen. Sie haben anders als in den beiden nun zu untersuchenden medialen Umsetzungen keine audiovisuelle Präsenz. Im Gegensatz zur sprachlichen Begrifflichkeit, so Gumbrecht, spricht das Bild stärker die Sinne an, weshalb eine Heteronomie von Sinnlichkeit und begrifflich vermittelter Reflexion anzunehmen ist.172 Im Folgenden wird zu untersuchen sein, wie sich die ästhetische Wahrnehmung der Krise in den Filmen von der sprachlichen Erfahrung des Romans unterscheidet. Ist auch in den Filmen eine Reflexion über die Krise möglich und wenn ja, wie unterscheidet sich diese von den sprachlichen Ausführungen im Roman? Welchen Unterschied macht es, wenn das Gesicht der Schuld nicht mehr der Phantasie des Lesers überlassen wird, sondern über die Präsenz der Schauspieler vermittelt wird? Bestätigt sich der aus den Romanen gewonnene Eindruck, dass es sich bei der Finanzkrise von 2007/’08 um ein männlich besetztes
169 Ebd., S. 584. 170 Ebd., S. 647. 171 Ebd., S. 598. 172 Gumbrecht, Hans Ulrich: Wahrnehmung versus Erfahrung oder die schnellen Bilder und ihre Interpretationsresistenz. In: Gumbrecht, H.U.: Präsenz. Berlin: Suhrkamp 2012. S. 240f.
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Feld handelt?173 Und schließlich: Haben die filmischen Umsetzungen auch eine prädominant aufklärende Funktion wie vor allem Wills Bad Banker, in dem alle Instanzen, d. h. Figuren wie Erzähler, eine erklärende Funktion haben? Sicher ist: In einem Roman lässt sich kaum mehr Wissen vermitteln als über die vielen untersuchten Strukturen in Bad Banker, die so auch nicht eins zu eins im Film umzusetzen sind. Was also weiß nun der Film von der Krise?
173 Auffällig ist, dass sich bis auf Streeruwitz’ Kreuzungen. kein Roman von einer weiblichen Autorin findet und vorwiegend das männliche Geschlecht als an der Finanzkrise schuldig präsentiert wird.
2. Die Gesichter der Täter und Opfer Finanz- und Wirtschaftskrise im Film „Kapitalismus ist bösartig, und etwas Bösartiges kann man nicht regulieren.“ MICHAEL MOORE, KAPITALISMUS: EINE LIEBESGESCHICHTE
Getreu diesem Motto des Kapitalismuskritikers Michael MOORE zeichnen Filme über die Finanzwelt oft Gesichter des Bösen, um den Kapitalismus zu enttarnen. Dafür scheint das Medium Film auf den ersten Blick prädestiniert. Doch wie vor allem in der Analyse der Figur des Gordon Gekko (Michael DOUGLAS) aus den beiden Wall-Street-Filmen in der folgenden Untersuchung aufscheint, kann sich diese Intention im filmischen Medium in ihr Gegenteil transformieren und stattdessen „böse Helden“ erschaffen, die anders als die meisten Schurken im Roman im Rezipienten Bewunderung statt Verachtung evozieren. Ein Grund dafür mag in der visuellen Realitätsnähe der filmischen Darstellung der Akteure an der Wall Street liegen: Die Figuren schwelgen wie ihre realen Pendants in filmbildlich beeindruckendem Luxus und haben in ihrer gesamten Funktion an der Börse eine Handlungsmacht über unvorstellbare Geldsummen, wie sie in kaum einer anderen Berufsgruppe vorzufinden ist. Besonders in den vor der historischen Krise von 2007/’08 gedrehten Finanzfilmen mag das eine Sehnsucht im Zuschauer geweckt haben. Die Wirtschafts- und Finanzkrise, so sollte man meinen, hat diese Reaktion der Zuschauer transformiert. Tatsächlich stellt die Krise eine Zäsur im DELEUZESCHEN Sinne dar1: Vor 2007 war das Aktionsbild im Finanzfilm noch nicht in die Krise geraten, die Akteure verfügten noch über sensomotorische Handlungsmacht. Dies wird besonders im ersten zu untersuchenden Film deutlich, in dem ein einzelner junger Trader mit seinen Spekulationen, die aus seiner Mikrokrise resultieren, über die Kontinente hinweg eine britische Traditionsbank in die Insolvenz führen kann:
1
Vgl. z. B.: Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 276.
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Bei Das schnelle Geld – Die Nick-Leeson-Story2 aus dem Jahr 1999 handelt es sich um die Verfilmung einer wahren Begebenheit, die die Mikromechanismen der späteren Makrokrise in aller Deutlichkeit vorwegnimmt.
AUS M IKRO WIRD M AKRO : D AS E GO ALS V ORBOTE DER
GROSSEN
K RISE
Um die Mechanismen der Finanzwelt und der daraus resultierenden Krise begreifbar machen zu können, haben sich die Romane den Figuren dicht genähert. Der erste zu untersuchende Film über Nick LEESON bleibt diesem narrativen Modus verhaftet, indem sich gleich zu Beginn die Stimme des Ich-Erzählers voice over meldet und sich selbst und die eigene Geschichte parallel zu den symbolischen Bildern des Vorspanns einordnet. Als würde der Zuschauer von LEESON selbst an die Hand genommen, erläutert er zu seinen Wahrnehmungsbildern auf das Traditionshaus der Barings Bank chronotopisch: Maggie Thatcher hatte die City of London weiteren Kreisen geöffnet, und daher konnte auch jemand wie ich, der aus Woodford stammte, in einem so vornehmen Laden wie der Barings Bank unterkommen […]: Nick Leeson. Wahrscheinlich haben Sie schon mal von mir gehört.3
Tatsächlich ist aus der medialen Berichterstattung von 1995 bekannt, dass er der Mann ist, der die älteste Privatbank der Welt durch seinen Ehrgeiz und sein mangelndes Verantwortungsgefühl gegenüber abstrakten Geldgeschäften in den Ruin getrieben hat. LEESON arbeitet sich vom Sachbearbeiter zum General Manager auf dem Börsenparkett von Singapur hoch, wo er sein eigenes Team zusammenstellen kann4, mit dem er relativ risikofreie Arbitrage-Geschäfte betreiben soll.5 Auch
2
Regie: James Dearden, GB 1999.
3
Ebd., 00:02:35.
4
„Mein Team war jung, sie waren hungrig … und sie hatten keine Ahnung.“ Ebd., 00:10:07.
5
Um das zu begreifen, muss der unkundige Filmzuschauer allerdings auf externe Erklärungen zurückgreifen, wie z. B. das Sachbuch zur Finanzkrise von John Lanchester: „Er [Nick Leeson. N.U.] sollte winzige Differenzen im Preis von Nikkei-225-Futures ausnutzen, die zwischen den Börsen von Osaka und Singapur entstanden, weil in Osaka der Handel elektronisch abgewickelt wurde, in Singapur dagegen nicht. Der Preisunterschied bestand jeweils nur ein paar Sekunden, und während dieser Zeit würde Barings dann günstig kaufen und teuer verkaufen – ein garantierter und vollkommen risikofreier Gewinn.
F INANZ -
UND
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wenn der Film speziell hierzu keine genauen Erklärungen gibt, nutzt er wie die analysierten Romane Erklärungsstrukturen, um Wissen über abstrakte Finanzprodukte an Laienfiguren – die paradoxer- und bezeichnenderweise das Team von Leeson bilden – und damit gleichzeitig an den Zuschauer weiterzugeben: Die Arbitrage als Anwendungsgebiet von Derivaten erklärt Leeson seinem Team zunächst im Sachbuchstil, woraufhin er verständnislose Blicke erntet: „Ein Terminkontrakt ist eine Vereinbarung über den Kauf oder Verkauf einer bestimmten Menge einer Ware zu einem bestimmten Preis zu einem zukünftigen Termin.“6 Im Film ist die Verwirrung der „Laien“ am unmittelbarsten und empathisch teilbar wahrnehmbar, wie hier aus der Perspektive des Ich-Erzählers, der in die verständnislosen Gesichter seines Teams blickt und daraufhin eine weitere Erklärungsstrategie bemüht: die Vergleichs- und Beispielstruktur, die ganz offenbar mehr Verständnis erringen kann: Nick Leeson: „Gut, angenommen ich verpflichte mich, eine solche Tasse Cappuccino, die mir noch nicht gehört, für 45 Cent zu verkaufen, und zwar in vier Wochen. Kaufe ich den Cappuccino nun für 43 Cent, mache ich Profit. [Die Assistentin Bonnie nickt.] Entwickelt sich der Preis allerdings nach oben, muss ich mehr bezahlen und mache Verlust. Es ist das Timing: Das heißt kaufen oder verkaufen im richtigen Moment. Manchmal verspricht Espresso das beste Geschäft, oder Salz oder Pfeffer.“ Ein Teammitglied lachend: „Dann machen wir also ‘n Supermarkt auf.“ Nick Leeson: „Natürlich werden von uns keine wirklichen Waren umgesetzt. Es sind nur Zahlenspiele.“7
In diesem Film wie in den Krisenromanen wird der Hang der Finanzakteure deutlich, auf die künftige Gegenwart zu spekulieren, indem der Ich-Erzähler zurückblickt: „Und die Zukunft … sah rosig aus.“8 Doch es kommt zu einer Störung, die den künftigen Finanztäter aber zunächst als guten statt gierigen Helden ausweist: Seine Teamkollegin Kim begeht einen Buchungsfehler über 20.000 Pfund, den er selbst ausgleichen will, statt sie wie angeraten zu entlassen. Mit dieser Summe beginnt das Unheil, die Störung, die der über die Vergangenheit erhabene IchErzähler bereits im ersten Filmdrittel andeutet: „Ich hätte die Position gleich am Montag glattstellen und mich mit dem Verlust abfinden sollen.“9 Stattdessen spekuliert er darauf, dass der Markt sich ändert. Nick vergrößert damit den Verlust zuLanchester, John: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt. Die bizarre Geschichte der Finanzen. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel. Stuttgart: Klett-Cotta 2013. S. 70. 6
Das schnelle Geld – Die Nick-Leeson-Story. Regie: James Dearden, GB 1999. 00:10:19.
7
Ebd., 00:10:25.
8
Ebd., 00:13:06.
9
Ebd., 00:18:05.
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nächst auf 60.000 Pfund und eröffnet für die Summe ein Fehlerkonto, dem er die Nummer 88888 nach der chinesischen Glückszahl seiner Assistentin gibt. Ab diesem Zeitpunkt hat er Schuld auf sich geladen und entwickelt sich zum Finanztäter, der alle drei Formen der Schuld-Definition aufweist:10 Auf der Mikroebene seiner Konten vertuscht er erstens einen immer größer werdenden Geldbetrag, den er der Bank schuldig ist, wofür zweitens sein gegen sittliche Normen verstoßendes und von Hybris gezeichnetes Spekulationsverhalten verantwortlich ist, was ihm drittens die Schuld an der Krise, am Niedergang der Barings Bank, zukommen lässt. In diesen Punkten zeigt der Film symptomatisch die Mikromechanismen, die schließlich auch in der Realität zur Krise geführt haben. Dabei zeichnet sich Nicks Risikofreude, seine Spielgier, filmisch sehr eindringlich in seiner Großaufnahme im Wahrnehmungsbild der Assistentin Bonnie ab (Abb. 27), der er langsam, wie bei der Formulierung einer Verschwörung, erklärt: „Der ganze Markt ist doch so: Ein einziges Kasino.“11 Die Schuss-Gegenschuss-Technik suggeriert dem Zuschauer, wie ein Insider in das Gesicht der optimistischen, ja blauäugigen, mit Unschuld getarnten Gier blicken zu können. Abb. 27: Das schnelle Geld – Die Nick-Leeson-Story.
Regie: James Dearden, GB 1999 (00:19:09).
Hierbei handelt es sich nach DELEUZE um das schwer zu definierende Triebbild, das „sozusagen zwischen Affektbild und Aktionsbild gezwängt ist“.12 Indem sich an 10 Vgl.: Graeber, D.: Schulden. S. 7. 11 Das schnelle Geld – Die Nick-Leeson-Story. 00:19:09. 12 Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 185.
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dieser Stelle Bonnies Wahrnehmungsbild aus Nicks Gesichtsausdruck speist, kann der Film wie der Roman ihre subjektive Perspektive auf seine Gier wiedergeben, allerdings unmittelbar und in Sekundenschnelle in den kleinsten Regungen seiner Gesichtsmuskeln. Fortan gerät Nick Leeson in ein Wechselbad der Gefühle: Auf der einen Seite verbucht er bereits nach 20 Filmminuten einen Verlust von 10 Millionen Pfund auf dem 8er-Konto, andererseits beschert ihm der steigende Nikkei Gewinne, die ihn in Phasen der Euphorie versetzen. Damit bestätigt der Film die alte dynamische Wirtschaftstheorie des Ökonomen W.G. Langworthy TAYLOR von 1904, dass es keine äußere Störquelle ist, die als Fremdkörper in die Wirtschaft eindringt und damit die Krise auslöst, sondern dass die Störungen zum ökonomischen Geschehen – und damit zum Handeln der Finanzakteure – gehören. In den etlichen Eruptionen der Nick-Leeson-Story, also bereits in den Zeiten vor dem Platzen der Blase, findet sich deutlich STÄHELIS Interpretation der ‚Kinetic Theory of Economic Crises‘ wieder: So wie es in der Natur zu Stürmen, Erdbeben und Vulkanausbrüchen kommt, ereignen sich in der Ökonomie Krisen: „it is the unexpected that always happens“ (Taylor 1904:18). Aber all diese großen und spektakulären Ereignisse gehen auf eine Vielzahl von Kleinstereignissen zurück, sie lassen sich nicht durch einen Grund erklären.13
Diese Kleinstereignisse lassen sich laut STÄHELI nicht über ihre Qualität definieren, sondern über ihre Abfolge und Geschwindigkeit.14 Genau hierfür ist das Medium des Films prädestiniert: Er dringt weniger reflexiv als der Roman in die Störungen ein, sondern bildet sie in einem spezifischen Tempo in der Montage und auch in den Bewegungen vor der Kamera ab. Die Störungsbilder zeigen sich etwa in der Aggressivität und Hektik, der wilden Gestik hunderter schwitzender und schreiender Händler, die auf dem Börsenparkett in Singapur auf kleinste Marktschwankungen reagieren.15 Der Film kann diese Eindrücke durch einen schnellen Schnitt sowie Schwenks und Zooms auf die wilde Meute einfangen, indem er etwa das Gerangel aus der Obersicht, aus dem Zentrum oder von außen filmt. So zeigt er Nick Leeson 13 Stäheli, Urs: Die Beobachtung von Wirtschaftsstörungen. In: Störfälle. Hg. v. Lars Koch, Christer Petersen und Joseph Vogl. ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/2011. Bielefeld: transcript 2011. S. 59. 14 Vgl. ebd. 15 In der Omnipräsenz der Hektik auf dem Börsenparkett fällt sofort ins Auge, dass es sich hier um einen Film aus den 90ern handelt, in denen das „Herz der meisten Finanzmärkte“ noch dort war, während die Geschäfte heute über Computersysteme laufen, die die Kaufund Verkauforder tätigen, wobei es beim Bedienen der Computer wesentlich ruhiger zugeht. Mackenzie, Donald: Elektronische Börsen. In: Lettre International 99, Winter 2012. S. 24.
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in einer Allmachtspose, wenn der Nikkei steigt,16 ebenso wie die verzweifelten Gesichter der Gier seines Teams.17 Der Höhepunkt der Geschwindigkeit ist erreicht, als es in Japan ein Erdbeben gibt und der Nikkei rasant fällt. Der Film vermittelt einen Eindruck davon, indem er Großaufnahmen der Monitore zeigt, auf denen die Händler den Kursabfall verfolgen. Die Schnittfolge ist entsprechend rasend schnell, so dass die Filmzuschauer keine Zeit für das Erfassen der Zahlen haben, sondern vielmehr über das Tempo einen Eindruck des Ausmaßes der Störung gewinnen. Die Sequenz gipfelt in einer Kombination aus zwei übereinander gelagerten Bildern – einem Kristallbild (Abb. 28) – und der auditiven Bekräftigung durch Nick Leeson: „Ich hab noch nie erlebt, dass er sich so schnell bewegt hat.“18 Abb. 28: Das schnelle Geld – Die Nick-Leeson-Story.
Regie: James Dearden, GB 1999 (01:07:45).
Indem die Kamera quasi aus dem Computerbildschirm heraus Nicks fassungsloses Gesicht fokussiert, kann der Film simultan den Gegenstand des Entsetzens – den fallenden Kurs blau auf dem Bildschirm bzw. auf dem Gesicht des Protagonisten – und die Gefühlsregung des Betrachters der Zahlen (zu sehen im Affektbild der Figur), vermitteln. Parallel dazu bekräftigt die auditive Bekundung des Ich-Erzählers das Ausmaß der Störung, die sich zu einer persönlichen sowie finanzökonomischen Krise auswächst, da die Höhe seines Verlustes sich inzwischen auf 50 Millionen Pfund beläuft. Als er dies realisiert, stellt sich bei ihm, wie bei den meisten Krisenmännern der untersuchten Romane, ein nicht zu unterdrückendes Nausea-Gefühl 16 Das schnelle Geld – Die Nick-Leeson-Story. 00:27:02. 17 Ebd., 00:54:16. 18 Ebd., 01:07:45.
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ein. Um das Ausmaß der moralischen Verwerflichkeit seines Handelns auszudrücken, zeigt der Film Nick Leesons Imaginationsbilder: Bei seiner Tischrede vor den Londoner Bankern, die ihn alle unwissend aufgrund seiner großen Erträge als eine Art Wunderknaben verehren, erhebt er sich und beichtet die Summe seiner Verluste, woraufhin alle Banker am Tisch unmittelbar beginnen zu würgen und sich in das Luxusessen oder die Weinkübel übergeben.19 Diese filmischen Imaginationsbilder zur Darstellung von Nicks Versagensgefühlen sind noch effektiver und eruptiver als etwa die Großaufnahme seines Gesichts oder die sprachliche Schilderung, wie sie Nick Leeson später auch im Laufe seiner viereinhalb-jährigen Haft verfasste. In diesem Aspekt zeigt sich erneut – hier auf der Ebene der Realität – die Relevanz des Schreibens zur Verarbeitung der Krise. Laut David TUCKETT erklärt sich das aus der Tatsache, dass sich die Finanzmarkt-Akteure ihre eigenen Narrative schaffen, um ihrem teilweise irrationalen Handeln eine Sinnhaftigkeit und gar eine Legitimation zu verleihen.20 Dabei umgeben sie sich gar mit „Mythen der Außergewöhnlichkeit“,21 wie vor allem auf rein fiktionaler Ebene der Hauptakteur des WallStreet-Zweiteilers um einen der größten Schurken des amerikanischen Films: Gordon Gekko (Michael DOUGLAS).22 Sowohl in Wall Street von 1987,23 dem Film, der in seiner Darstellung der Mikromechanismen der Finanzwelt in Form der Gier ihrer Akteure als Vorbote der Makrokrise von 2007/’08 gelesen werden kann, als auch in Wall Street: Geld schläft nicht von 2010,24 fungiert Gekko als Repräsentant des unfairen Kapitalismus: Der Kapitalismus ist keineswegs von Natur aus fair: Er ist durchaus nicht geneigt, die Früchte des Wirtschaftswachstums von sich aus gleichmäßig zu verteilen. Stattdessen folgt er den Grundsätzen „Der Sieger bekommt alles“ und „Dem, der hat, wird gegeben werden“.25
19 Ebd., 01:15:18. 20 Tuckett, David: Geld verstehen: Understanding Money. In: Die phantastische Macht des Geldes. Ökonomie und psychoanalytisches Handeln. Hg. v. Ingo Focke; Mattias Kayser und Uta Scheferling. Stuttgart: Klett-Cotta 2013. S. 152. 21 Ebd., S. 155. 22 Gordon Gekko rangiert gemessen an dem ersten Wall Street-Film von 1987 auf Platz 24 der größten Schurken auf der „Top-Liste des American Film Institute“ (den ersten Platz besetzt Hannibal Lecter, der uns bereits in der vitalaffektiven Dimension dieser Arbeit begegnet ist). Wedding, Danny et al.: Psyche im Kino. Wie Filme uns helfen, psychische Störungen zu verstehen. Bern: Huber 2011. S. 325. 23 Regie: Oliver Stone. 24 Regie: Ders. 25 Lanchester, J.: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt. S. 35.
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Gekko ist ein Finanzinvestor, immer auf Mehrheitsbeteiligungen an großen Unternehmen aus. Im ersten Teil ist es der aufstrebende Börsenmakler Bud Fox (Charlie SHEEN), der Gekko bewundert und ihn zum Kauf von Aktien bewegen will. Nachdem Bud ihn mit Insiderinformationen über das Flugunternehmen „Bluestar“, in dem sein Vater arbeitet, versorgt hat, avanciert er zu Gekkos Zögling. Es kommt allerdings zum Zerwürfnis zwischen Mentor und Mentee, als Bud erfährt, dass Gekko das Flugunternehmen gar nicht sanieren, sondern zum eigenen finanziellen Profit zerschlagen will. Bud kann Gekko daraufhin des Insiderhandels überführen, und so muss dieser für sieben Jahre ins Gefängnis. Innerhalb dieser recht schmalen Handlung vermag es die Leinwandpräsenz der Hauptfigur Gekko, zum Symbol von Materialismus und Luxus zu avancieren, wobei sich offenbar die Potenziale des Mediums Film in der Darstellung von Gier und Reichtum regelrecht verselbständigt haben. Denn die Intention des Regisseurs Oliver STONE sei das Gegenteil davon gewesen, eine Kultfigur des Kapitalismus zu schaffen, die sich Millionen von Bankern zum Vorbild nahmen: Es war die Zeit von Ronald Reagan und Margret Thatcher, eine Epoche, die vollkommen vom Materialismus geprägt war. Das Haben allein zählte, dazu passte das „Gier ist gut“-Zitat von Gekko bestens. Natürlich war unsere Absicht eine andere, das bringt der Film deutlich zum Ausdruck – aber das wollte keiner hören.26
Dies lässt sich aus der Perspektive der Medienkonkurrenz-Forschung mit der Kombination der medialen Potenziale des Films und den Eigenschaften des Geldmediums erklären. Erstens, so HÖRISCH, hat Geld fetischistische Qualitäten, d. h. es erscheint übernatürlich und daher anbetungswürdig.27 Diese Übersteigerung und Anbetungswürdigkeit findet ihren Ausdruck in den superlativen Bauten von New York. Entsprechend ist es dem Medium des Films eigen, die imposante Skyline, in der sich das Geschehen der Krisenfilme verortet, in fast allen untersuchten Filmen aus verschiedensten Kameraperspektiven zu kadrieren. In den beiden Wall-StreetFilmen zeigen die Bilder im Vorspann bezeichnenderweise die Skyline im Dunkeln bzw. in der Dämmerung, was auf die untertitelgebende Eigenschaft von Geld verweist: dass es gottähnlich nie schläft. Mehr noch kann der Film das Bild der Skyline als Grafik des fallenden Dow Jones im Krisenjahr 2008 einblenden, um sich gleich auch zeitlich und thematisch zu verorten (Abb. 29).28
26 http://ikz.m.derwesten.de/dw/kultur/kino/oliver-stone-der-wall-street-teufel-ist-pleiteid3845510.html?service=mobile (09.03.2013). 27 Hörisch, Jochen: Gott, Geld, Medien. Studien zu den Medien, die die Welt im Innersten zusammenhalten. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2004. S. 114. 28 Wall Street: Geld schläft nicht. Regie: Oliver Stone, USA 2010. 00:03:09.
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Abb. 29: Wall Street: Geld schläft nicht.
Regie: Oliver Stone, USA 2010 (00:03:09).
Zweitens ist Geld „deutlich von sexuellen Konnotationen umstellt“: „Wer viel Geld besitzt, ist potent und liquide.“29 Auch in diesem Punkt wird evident, dass die Kunst des Films hier einen medialen Darstellungsvorteil hat: Der Darsteller des Gekko kann seine Strahlkraft über die Filmleinwand direkt in die Phantasie der Zuschauer transportieren und umgibt sich zudem im ersten Teil mit einer jungen Geliebten, über die er sogar die Macht hat, sie an seinen Schützling Bud Fox weiterreichen zu können. Der Darsteller ist in seiner Männlichkeit gleichermaßen wie in den Symbolen seines Reichtums präsent – optische Eindrücke, die auf den Zuschauer freilich durchaus beeindruckend wirken können. In einem Roman kann sich der Rezipient das Luxusleben des Protagonisten zwar imaginativ erschaffen, doch im realistischen Film ist die Kulisse omnipräsent, d. h. die Welt des Gordon Gekko kann sich viel nachdrücklicher und über visuelle Kanäle in das Bewusstsein des Rezipienten „brennen“. Drittens umgibt die Figur des Gekko auch ein leichter Spott, eine widernatürliche Überlegenheit über den wie auch immer gearteten, neben ihm verblassenden „Rest der Schöpfung“: Indem er es schafft, mit Geld wiederum Geld zu zeugen, persifliert er die weibliche Prokreation,30 erhebt sich über Naturgesetze bis hin zur Unsterblichkeit, die sich bereits in seinem Nachnamen Gekko spiegelt: eine Echse, die die Welt seit Urzeiten bevölkert und sich durch ihre außergewöhnliche Anpassungsfähigkeit die verschiedensten Lebensräume erobern kann. Ebenso ist laut GRAEBER vor 2009 der Glaube an den ewigen Fortbestand des Kapitalismus, den Gekko repräsentiert, vorherrschend gewesen: 29 Hörisch, J.: Gott, Geld, Medien. S. 114. 30 Ebd.
298 | III. D IE G ESELLSCHAFTSPOLITISCHE D IMENSION Mit der Aussicht auf ein ewiges Leben konfrontiert, explodiert der Kapitalismus, jedenfalls der Finanzkapitalismus. Wenn er ewig existieren wird, gibt es nicht den geringsten Grund, darauf zu verzichten, unendlich Kredit, das heißt zukünftiges Geld zu erzeugen.31
Nach eben dieser Devise hat Gekko gehandelt und ist schließlich dafür ins Gefängnis gekommen, was ihn aber im zweiten Teil nicht daran hindert, als die Personifikation des Kapitalismus wieder aufzuerstehen. In diesem Zusammenhang der Faszination des Unsterblichkeitsmythos in der Filmrezeption darf an dieser Stelle nicht die Ebene der Realität außer Acht gelassen werden: Den Darsteller des Gekko, Michael DOUGLAS, umgab beim Dreh des zweiten Teils eben diese Faszination: Während seiner Krebserkrankung wurden ihm in der medialen Berichterstattung kaum Überlebenschancen eingeräumt – woraufhin er überraschenderweise als Schauspieler in seiner Rolle des Lebens als Gordon Gekko ein zweites Mal „auferstand“ und eine Attraktion in der Medienkonkurrenz wurde. Gekko ist unterdessen seiner Haltung „Gier ist gut“ über all die Jahre treu geblieben: Der entscheidende Punkt ist doch, dass die Gier – leider gibt es dafür kein besseres Wort – gut ist. Die Gier ist richtig. Die Gier funktioniert. Die Gier klärt die Dinge, durchdringt sie und ist der Kern jedes fortschrittlichen Geistes. Gier in all ihren Formen, die Gier nach Leben, nach Geld, nach Liebe, Wissen, hat die Entwicklung der Menschheit geprägt. Und die Gier – bedenken Sie diese Worte – wird nicht nur die Rettung sein für Teldar Papers, sondern eben auch für diese andere schlecht funktionierende Firma, die USA.32
In letzterer Hinsicht, so zeigt der zweite Teil von 2010 ebenso wie die Realität, irrt er sich: Es ist jene Gier, die die Akteure der Finanzwelt veranlasst hat, durch komplizierte Finanzprodukte neues Geld zu erschaffen, statt sich wie Gekko „nur“ an dem bereits vorhandenen Geldkreislauf zu bereichern. Dennoch führen die genannten Punkte dazu, dass die Faszination des Finanzschurken Gekko aufrechterhalten bleibt, entgegen der kapitalismuskritischen Intention des Regisseurs.33 Laut RÖGGLA ist diese Kontrawirkung eine unheimliche Erfahrung, wie sie, gefiltert
31 Graeber, D.: Schulden. S. 378. 32 Wall Street. Regie: Oliver Stone, USA 1987. 01:14:46. 33 Auch die Filmkritik erklärt sich das im Anklingen an die visuelle Präsenz des Schurkens im Film: „Die Leute mögen an ihm den Schimmer des Geldes. Kaum taucht Michael Douglas im Film auf, will man ihn beinahe berühren. Man spürt, wie er die Geldkultur verkörpert, das Verlangen, immer reicher zu werden. Das macht die Figur so faszinierend. Er ist der Geist des Geldes, und das zieht uns alle an.“ Owen Gleiberman, Filmkritiker. Extras auf der DVD Wall Street: Geld schläft nicht. Regie: Oliver Stone, USA 2010. 01:26.
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durch den Erzähler im Roman oder die Sparsamkeit der Bühnenkulisse, wohl kaum zustande gekommen wäre: Eine der unheimlichsten Theatererfahrungen ist, wenn die Sitznachbarn, ja der ganze Theatersaal, an den falschen Stellen lachen. Das zweitunheimlichste aber ist, wenn sie einen kapitalismuskritischen Film als Aufforderung missverstehen, noch mehr in die kritisierte Richtung zu gehen. Wenn sie sich sozusagen den bösen Helden als Vorbild nehmen.34
Die physische Wirkung des Akteurs, sein Aussehen, sein Charme, der Glamour seiner Umgebung, haben über die Leinwand hinweg eine Faszination wider Willen erwirkt, wie das Kino sie von Anbeginn ausübt: Die Zuschauer suchen im Kino den „Ersatz für ihre Träume“,35 fernab den Anstrengungen ihres eigenen Alltags samt oft unlösbar scheinender auch finanzieller Mikrokrisen. Solche Krisen kennt Gekko nicht einmal, als er in Teil 2 völlig mittellos aus dem Gefängnis entlassen wird: Das einzige Besitztum, das seinen früheren Reichtum repräsentiert, ist das überdimensional große Mobiltelefon vergangener Zeiten. Doch Gekko wird sich sogar vor dem Hintergrund der großen Krise von 2008 zu neuem Reichtum verhelfen.
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ALLES BEGINNT :
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AN DER
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Die gierigen Akteure der Nick-Leeson-Story und in Wall Street wurden in der damaligen Rezeption nicht als Vorboten der Makrokrise von 2007/’08 gelesen, sondern, wie festgestellt wurde, umrankten sie Bewunderung und Mythen der Außergewöhnlichkeit.36 Im Kontext des zweiten Teils des Wall-Street-Films von 2010 ist die gesellschaftspolitische Realität dagegen eine völlig andere, was auch die Filmhandlung prägt. Im ersten Drittel von Wall Street: Geld schläft nicht hat die Krise noch nicht stattgefunden, doch es gibt dramaturgische und visuelle Vorboten, die für die zeitgenössischen Rezipienten nun vor dem Hintergrund des Wissens um die reale Krise im wörtlichen Sinne nicht zu übersehen sind. Zunächst wird die Handlung chronotopisch verortet, wobei sich die Filme über die Finanzkrise oft des Tricks bedienen, einen fiktionalen oder realen Moderator bzw. Nachrichtensprecher zu Wort kommen zu lassen. So erfährt der Zuschauer über die audiovisuelle, hier fin34 Röggla, K.: Gespensterarbeit, Krisenmanagement und Weltmarktfiktion. S. 51. 35 Hofmannsthal, Hugo von: Der Ersatz für die Träume. In: Kino-Debatte. Hg. v. Anton Kaes. S. 149. 36 So klärt Leeson am Ende des Films über die Voice-Over-Stimme auf, dass er entgegen der Gerüchte nicht über geheime Bankkonten verfüge. Nach seiner Entlassung war er nicht der reiche Mann, für den viele ihn halten wollten. Leeson-Story. Regie: James Dearden, GB 1999. 01:33:05.
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gierte mediale Berichterstattung nochmals, wer Gordon Gekko war/ist und dass er in der Haft ein Buch geschrieben hat mit dem Titel „Ist Gier gut?“, das ein „Schocker“ sei.37 Auf diese Weise kann der Film mit den audiovisuellen Mitteln seines Mediums den narrativen Erzähler ersetzen und das bekannte Gesicht des personifizierten Kapitalismus – wenn auch sichtlich gealtert – auf der zweiten Ebene über die TV-Berichterstattung ins Bild treten lassen. Sogleich tritt das alte Motto der Habgier wieder in den Vordergrund, diesmal aber mit einem Fragezeichen versehen, quasi die Mechanismen prüfend, die letztlich zur Krise geführt haben. Noch bevor im Film die Krise stattgefunden hat, erklärt Gekko vor Hunderten von Studenten, dass sich die neuen Tendezen der Deregulierung an der Börse und die aufgrund maßloser Gier entworfenen Finanzprodukte negativ auswirken: Wisst ihr, es ist die Gier, die meinen Barkeeper drei Häuser kaufen lässt, die er sich nicht leisten kann, ganz ohne Anzahlung. Und es ist die Gier, die eure Eltern dazu bringt, ihr 200.000 Dollar-Haus zu refinanzieren für 250. […] Und es war Gier, die die Regierung nach dem 11. September veranlasst hat, den Leitzins auf ein Prozent zu senken, damit wir alle wieder shoppen gehen können. Und sie haben schicke Namen erfunden für Millionen an Kreditleistungen: CMO, CBOs, SIPs, ABSes. Ganz ehrlich, ich schätze, es gibt vielleicht 75 Menschen auf der Welt, die wissen, was das ist! Aber ich sage euch, was das ist: Das sind MVWs: Massenvernichtungswaffen. Während ich weg war, nichts anderes, scheint die Gier noch gieriger geworden zu sein. Gemischt mit einem Hauch von Neid. […] Die Wurzel allen Übels ist die Spekulation. Fremdfinanzierung. Unterm Strich heißt das: Überschuldung ohne Ende.38
Und abschließend bringt er noch einen Vergleich an, der auf die reale Ebene des Darstellers DOUGLAS anspielt: „Wie Krebs: Es ist eine Krankheit, und wir müssen sie bekämpfen.“39 Ein Kristallbild zweier übereinander montierter Wahrnehmungsbilder, aus der Perspektive der Studenten und durch die Augen des dozierenden Gekko, verdeutlicht den Eindruck, dass Gekko wie ein auferstandener Prophet aus seiner durch die Jahre im Gefängnis geprägten Metaperspektive heraus die Krise in ih37 Wall Street: Geld schläft nicht. Regie: Oliver Stone, USA 2010. 00:05:19. 38 Ebd., 00:30:06. Tatsächlich hat sich das Geschehen an der Börse seit den 80er Jahren stark geändert, die Geldschöpfung wurde legalisiert, während Gekko in Teil 1 sich kein Geld geschaffen, sondern es durch Insiderwissen an sich gebracht hat, wie Oliver Stone ausdrücklich differenziert: „Die Ironie liegt darin, dass die Gangster bei uns völlig legal agieren. Gekko handelte damals noch gesetzwidrig, weil er sein Insiderwissen nutzte. Das ist kein Vergleich zu dem, was heute passiert: die Vergewaltigung des gesamten Systems. Die Banken wurden süchtig wie Spieler im Casino.“ http://www.tagblatt.de/Home/ nachrichten_artikel,-Oliver-Stone-ueber-seine-Wall-Street-Fortsetzung-Geld-Gier-undGangster-_arid,114943_print,1.html (10.03.2013). 39 Wall Street: Geld schläft nicht. 00:33:11.
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ren lange vorherrschenden Mechanismen kommen sieht: Die Gesichter der begeistert applaudierenden und gar jubelnden Studenten sind überblendet mit Gekkos aufrechter Statur, der wie eine Erscheinung vor ihnen steht (Abb. 30). Im KrisenRoman sind es zwar auch ältere, weise männliche Figuren, die dozieren, doch der Film vermag es zusätzlich, ihnen visuell eine epiphanische Prägung zu verleihen. Eine derartige Rede auf der Theaterbühne würde zwar durch die Präsenz des Darstellers ebenfalls Kraft entfalten, doch kann der Film hier Gekkos höherliegende Bedeutung, ja seine Erhabenheit über die Mechanismen der Krise, visualisieren. Hierfür eignet sich das Potenzial des Mediums Film, „optisch einen Raum zu erschaffen, der technisch gesehen nicht möglich ist.“40 Abb. 30: Wall Street: Geld schläft nicht.
Regie: Oliver Stone, USA 2010 (00:31:01).
Dabei übt ausgerechnet der Prototyp eines Finanzhais Kritik am zeitgenössischen Kapitalismus, wodurch abermals der Ernst der realen wie fiktionalen makroökonomischen Lage deutlich wird. Zumal Gekko keine Figur in einer männlichen Mikrokrise ist: Obwohl er in einer finanziellen Misere steckt, wirkt Gekko nie handlungsunfähig, weshalb auch der Film trotz der historischen Zäsur der Krise dem sensomotorischen Schema treu bleibt. Kapitalismuskritik hat in Folge der Krise freilich
40 Frank, Franz: Unscharfe Sektoren – Beobachtungen zum kinematographischen Raum. In: Identität – Bewegung – Inszenierung. Düsseldorfer Schriften zu Kultur und Medien. Hg. von Bernhard Dieckmann, Hans Malmede, Katrin Ullmann. Frankfurt/Main: Lang 2010. S. 147.
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Hochkonjunktur41 und schlägt sich daher auch in den künstlerischen Darstellungen um 2000 als ein Kampfthema in der Medienkonkurrenz nieder. Gekko kritisiert allerdings nicht radikal, sondern verlangt quasi zurückgewandt reformistisch die Rückverwandlung des Kapitalismus in die Zeiten vor den Deregulierungen der Finanzprodukte. Im Publikum sitzt auch der Gekko-Bewunderer Jacob „Jake“ Moore (Shia LABEOUF), der mit dessen Tochter Winnie Gekko (Carey MULLIGAN) liiert ist, ohne dass Gekko davon weiß, weil seine Tochter den Kontakt zu ihm abgebrochen hat, nachdem ihr Bruder während der Abwesenheit des Vaters an Drogen gestorben ist. Der Hauptakteur Jake ist selbst an der Wall Street als freier Trader für Keller Zabel tätig, wo er sich auf grüne Energie spezialisiert hat. Als ein weiterer Vorbote vor dem großen Crash hat sich dessen Chef Louis Zabel (Frank LANGELLA) umgebracht, der über eine Information verfügt hatte, die er allerdings nicht mit seinem Zögling geteilt hat. Bei einem Spaziergang hatte auch diese Mentorenfigur die Krise deutlich vorweggenommen,42 wobei sich der Film in dieser Szene wieder sein visuelles Potenzial zu eigen macht, die Krise symbolisch zu verdeutlichen, indem Kinder in dem New Yorker Park Seifenblasen aufsteigen lassen, die platzen.43 Dadurch kann der Film eine bestimmte Stimmung erzeugen und den Zuschauer auf die bevorstehende Krise vorbereiten,44 ohne wie der Roman auf die Sprache eines Erzählers oder auf das explizite Wissen von Figuren angewiesen zu sein. Über solche relativ handlungsarmen Bilder vermag es der Film auch, ähnlich wie Literatur, dem Rezipienten Zeit zur Reflexion zu geben, sei sie auch vom Schnitt zeitlich vorgegeben. Die Blasen platzen aber auch auf der Mikroebene der Figuren, auf der Jake beginnt, sich hinter dem Rücken seiner Verlobten seinem neuen Mentor Gekko zuzuwenden. Dieser wiederum benutzt Jake, um einen Bezug zu seiner Tochter zu bekommen und wieder in ihr Leben zu treten. Obwohl Gekko die saubere Energie, für die sich Jake einsetzt, als „die nächste Blase“45 bezeichnet, versucht er scheinbar, Jake dabei zu helfen. Gerade als Jake einen Deal mit chinesischen Investoren abschließen will, bricht die große Finanzkrise als Zäsur in die Handlung ein. In einem der vielen New-York-Bilder rast die Kamera diesmal begleitet von einem ratternden 41 Vgl.: Plumpe, Werner: Ökonomiekolumne. Die Konjunkturen der Kapitalismuskritik. In: Merkur 6, 66. Jahrgang, Juni 2012. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 523. 42 „Louis, gehen wir unter?“ „Du stellst die falsche Frage, Jacob.“ „Und welche ist die richtige?“ „Wer nicht?“ Ebd., 00:19:13. 43 Ebd., 00:19:31. 44 Vgl.: Wedding, D. et al.: Psyche im Kino. S. 22. 45 Wall Street: Geld schläft nicht. 00:35:48.
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Geräusch die Außenfassade der Gebäude herunter46 und erlangt eine Geschwindigkeit, die bewirkt, dass die gleichförmigen Fenster der Skyscraper wie Dominosteine aussehen. Diese Assoziation bestätigt sich im darauffolgenden symbolträchtigen Bild, in dem auf einer glatten, sich spiegelnden Oberfläche eine Reihe von Dominosteinen umfällt.47 Es folgt sekundenschnell eine weitere signifikante Kamerafahrt begleitet von einem starken Zoom: Ausschnitte einer nicht genau lesbaren roten Zahlenreihe auf einem dunklen Hintergrund rasen in einer Detailaufnahme hinunter (Abb. 31).48 Jenseits von inhaltlichem Gehalt und Verständnis vermag der Film gänzlich ohne Sprache oder Akteure zu vermitteln, dass es einen unaufhaltsamen Abwärtstrend in der Handlung gibt, ein Abwärtstrend in der Welt der Banken und Zahlen. Abb. 31: Wall Street: Geld schläft nicht.
Regie: Oliver Stone, USA 2010 (01:18:14).
Nachdem zuvor die mikroökonomischen Aspekte der Krise in Form der Handlungsweise der Akteure im Bewegungsbild dargestellt wurden, nutzt der Film ab dieser Zäsur die Möglichkeit, die makroökonomischen Sachverhalte zu visualisieren. In diesen Zeitbildern wird eine rein optische und akustische Situation geschaffen, die sich in den Bildern nicht in Aktion umsetzt. Sie zeigen, dass es sich bei der Krise um eine Situation handelt, die einmal angelaufen nicht gestoppt werden kann, da sich der Abwärtstrend weltweit rasend schnell verbreitet: „Es geht um etwas, was zu gewaltig, zu ungerecht […] ist und von nun an unsere sensomotorischen
46 Ebd., 01:18:06. 47 Ebd., 01:18:08. 48 Ebd., 01:18:14.
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Vermögen übersteigt.“49 Diese reine Vermittlung des Sachverhalts des rapiden Abwärtstrends wird fortgesetzt durch diverse grafische Statistiken der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung, die über filmische Aufnahmen der Skyline von Finanzmetropolen gelegt sind. So zeigt der Film in der Skyline von New York den fallenden Dow Jones zusammen mit dem NASDAQ und der fallenden Kurve der RatingAgentur Standard and Poor’s im September und Oktober 2008 (Abb. 32).50 Auch der Montag nach dem 10. Oktober 2008, dem Schwarzen Freitag dieser Krise, ist in die Grafik aufgenommen und befindet sich rechts im Bild quasi im Meer, fernab der hohen Gebäude der Wall Street. Die Bilder des Börsencharts (auch Abb. 33) sind allerdings in kurzen zeitlichen Abständen hintereinander montiert und werden von keiner sprachlichen Instanz eingeordnet, so dass der Filmzuschauer anders als in einem Dokumentarfilm oder in einem Roman wie Bad Banker, in den erklärende Passagen eingewebt sind, kaum die Möglichkeit zum Verständnis hat. Rein visuell, ohne sprachliche Superlative und Konjunktive wie z. B. in SINNS Sachbuch,51 kann lediglich ein Eindruck vom Ausmaß der Krise und ihren zeitlichen Verhältnissen vermittelt werden. Der Börsenchart52 ordnet die Kurswerte auf einer Zeitskala an, wobei er Kaufs- und Verkaufstransaktionen verrechnet. Er ist als „Komplexitätsreduktionsmechanismus“ konzipiert, „denn mit Blick auf den Chart sind keine detaillierten Informationen mehr notwendig.“53 Kurz gesagt handelt es sich hierbei um ein Zeit-Bild, das die Fähigkeit hat, drei Zeitstufen zu kristallisieren, d. h. das „Gespenst des Kapitals“54 abzubilden: Die Werte des vergangenen Kursgeschehens geben einen Eindruck des Kursverlaufs, der in der Gegenwart dazu dienen soll, finanzmarkttechnische Entscheidungen auf Prognosen des zukünftigen Kursverlaufs 49 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 32. 50 Wall Street: Geld schläft nicht. 01:18:49. 51 „Der 10. Oktober 2008 geht als Schwarzer Freitag in die Geschichte ein, denn an diesem Tag endete eine Börsenwoche, in der die Kurse weltweit in einem Ausmaß einbrachen, wie es Generationen nicht hatten beobachten können, nämlich um 18,2%. […] Am Montag nach dem neuen schwarzen Freitag, dem 13. Oktober 2008, wäre es zur Kernschmelze des Weltfinanzsystems gekommen, wenn nicht bereits am vorherigen Samstag die Regierungen der G7-Länder bei ihrem Treffen in Washington Leitlinien für eine Rettungsstrategie entwickelt und sich die Staats- und Regierungschefs der EU nicht zusätzlich sofort am nächsten Tag in Paris auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt hätten.“ Sinn, H.W.: Kasino-Kapitalismus. S. 15f. 52 Erfunden von Charles H. Dow, dem Herausgeber des Wall Street Journals. 53 Bartz, Christina: Börsencharts im Fernsehen: Beobachtungsinstrumente des Finanzmarktes und seiner Krisen. In: Krise, Cash & Kommunikation. Die Finanzkrise in den Medien. Hg. v. Anja Peltzer, Kathrin Lämmle, Andreas Wagenknecht. Konstanz, München: UVK 2012. S. 184. 54 Vogl, J.: Das Gespenst des Kapitals.
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hin zu treffen. Für Laien wie das Gros der Filmzuschauer ist es dabei dennoch kaum möglich – und schon gar nicht in der Geschwindigkeit der montierten Filmbilder – diese Gespenstigkeit der Kapitalverläufe zu verstehen. Doch immerhin: Der Börsenchart schafft es, der abstrakten Krise überhaupt ein Bild zu geben, den Abwärtstrend zu visualisieren. Er ist ein Zeit-Bild, das gemäß der filmischen Medialität „Anschaulichkeit suggeriert, obwohl es hochabstrakt bleibt.“55 Abb. 32: Wall Street: Geld schläft nicht.
Regie: Oliver Stone, USA 2010 (01:18:49).
Abb. 33: Wall Street: Geld schläft nicht. R.: O. Stone, USA 2010 (01:43:51).
55 Bartz, Ch.: Börsencharts im Fernsehen. In: Krise, Cash & Kommunikation. Hg. v. Anja Peltzer et al. S. 188.
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Der Film hat in der Konkurrenz der Medien die besondere Möglichkeit, Störungen visuell darzustellen und sich von logischen Handlungsverläufen zu lösen. Bei Wall Street: Geld schläft nicht handelt es sich zwar in seiner Gesamtheit nicht um einen Film im Paradigma des Zeitbildes – das würde dem zielorientierten, handlungsmächtigen Akteur Gekko und auch seinem Zögling Jake widersprechen –, aber die Zäsur der Makrokrise schlägt sich filmisch an dieser Stelle deutlich nieder. Gekko schafft es allerdings, die Krise für sich zu nutzen und das Erbe seiner Tochter (das er ihr abluchst, indem er vorgibt, es in ein Energieunternehmen investieren zu wollen) durch Investitionen auf eine Milliarde Dollar zu vergrößern. Damit ist er der einzige Akteur im Korpus der gesellschaftspolitischen Filme, dem es gelingt, sich an der großen Krise zu bereichern. Alle anderen Akteure verlieren ihre Handlungsfähigkeit und fallen gar, wie der folgende zu untersuchende Film zeigen wird, in das Paradigma des Zeitbildes nach DELEUZE. In Der große Crash – Margin Call (2011)56 ist es eine Information, die die Macht hat, die Handlung von einem „Kino der Aktion“ hin zu einem paradigmatischen „Kino des Sehenden“57 zu wandeln. Die brisante Botschaft bewirkt eine eklatante Störung in der Möglichkeit, die Situation (S) beherrschen und transformieren zu können, d. h. die Störung zu beheben (S‘ ist nicht mehr möglich): Eric Dale (Stanley TUCCI), der Risikomanager einer großen Bank an der Wall Street, wird von zwei professionellen Entlasserinnen – die quasi als „Vollstrecker“ der Finanzkrise agieren und auch in den beiden folgenden zu untersuchenden Filmen Bedeutung haben – gekündigt. In der Kameraeinstellung, die den Gekündigten von hinten zeigt, während die Entlasserinnen ihm monoton, aber mit scheinbar betretenen Gesichtern die Modalitäten seiner Kündigung erläutern, wird deutlich, dass der Kopf von Dale pars pro toto für jeden Gekündigten der Krise stehen kann.58 Doch die Figur des Dale erhält noch eine Relevanz, indem er bei seinem letzten Gang aus der Firma seinem ehemaligen Zögling Peter Sullivan (Zachary QUINTO) einen USBStick überreichen kann, auf dem sich brisante Daten befinden. Nach Feierabend rechnet Peter diese nach – mit einer offenbar erschreckenden Erkenntnis, die sich deutlich in seinem Affektbild aus der frontalen Perspektive des Monitors abzeichnet (Abb. 34). Der Moment der Bewusstwerdung, dass die brisante Information eine Krise auslösen wird, zeichnet sich in den Zügen seiner sich erhebenden Stirn ab und darin, dass er sich die Kopfhörer von den Ohren nimmt, um über alle seine Sinne zu verfügen. Im zweiten Affektbild werfen zusätzlich die Bildschirme im Hintergrund 56 Regie: J.C. Chandor, USA 2011. 57 Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 13. 58 Die Köpfe und Körper der Gekündigten von hinten sind ein häufig kadriertes Bild in den Krisenfilmen: Das Individuum hat aus makroökonomischer Sicht keine Bedeutung. Vgl.: Der große Crash. Margin Call. Regie: J.C. Chandor, USA 2011. 00:04:13.
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ein fahles Licht in den ansonsten menschenleeren dunklen Raum, was die Unheimlichkeit der Information, die in diesem Moment wie ein Geist aus der Flasche gelassen wird, unterstreicht (Abb. 35). Abb. 34: Der große Crash. Margin Call.
Regie: J. C. Chandor, USA 2011 (00:17:25).
Abb. 35: Der große Crash. Margin Call.
Regie: J. C. Chandor, USA 2011 (00:17:47).
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Es fällt auf, dass die Information, die erst die figurale Mikrostörung, dann die Krise auslöst, gespenstisch unsichtbar bleibt, d. h. allein in den Affekt- und Wahrnehmungsbildern und in der Rede der Figuren evident wird. Hierin setzt der Film konsequent die These von VOGL um, dass ökonomische Prozesse von einer gewissen Unheimlichkeit umgeben sind, wie auch die Wirtschaftswissenschaft eine Neigung zur Geisterkunde aufweist.59 Die Information entwickelt einen „gespenstischen Eigensinn“,60 als sie fortan beginnt, im nächtlich einberufenen Krisenstab der Bank zu zirkulieren. Wie in einer Kettenreaktion informiert Peter seinen Kollegen Seth Bregman (Penn BADGLEY) und ihren Vorgesetzten Will Emerson (Paul BETTANY), der wiederum seinen Boss Sam Rogers (Kevin SPACEY) informiert, der daraufhin seinen Vorgesetzten Jared Cohen (Simon BAKER) hinzuholt, sowie die Risikoexpertin Sarah Robertson (Demi MOORE) und den eigens nächtlich mit dem Hubschrauber eingeflogenen CEO der Bank John Tuld (Jeremy IRONS). Der folgende Plot dreht sich allein um das Verhandeln dieser Information und zeigt, wie die Akteure innerhalb dieser einen Nacht mit der durch sie ausgelösten Störung umgehen. Hierbei entstehen Szenen im Paradigma des Zeitbildes, in dem die Akteure nicht handeln können, sondern sich wartend durch die Nacht treiben lassen und zu reinen Sehenden werden. So haben Peter und Seth den Auftrag, den Gekündigten Eric Dale, von dem die Information stammt, sofort zu suchen und in den Krisenstab aufzunehmen. Die Lichter der Nacht spiegeln sich an der Fensterscheibe des durch unbestimmte Straßen von New York fahrenden Autos,61 während Peter und Seth die Eindrücke an sich vorbeiziehen lassen: „Sieh dir nur die Menschen an. Sie laufen umher und haben nicht den leisesten Schimmer, was bald passieren wird.“62 In ihrer Suche degradieren die Figuren von Handelnden zu Reflektierenden und Seth beginnt, sich Gedanken über die Sinnhaftigkeit seiner Arbeit zu machen, die stark an das Konzept der Bedeutung in der Dekonstruktion nach DERRIDA erinnert: Seth: „Ich hab letztes Jahr fast ‘ne viertel Million Dollar verdient. Fuck. Und wofür? Ich schieb auf ‘nem Computerbildschirm Zahlen hin und her, und ein Haufen Abhängiger traut den Erklärungen zu diesen Zahlen. Und geben vor, sie würden alles verstehen, um anschließend mit diesen Zahlen gegen Typen auf der anderen Seite der Welt anzutreten, die, wenn sie nicht diesen Job hätten, in irgendeinem Wettbüro wären und alles auf die Sieben setzen würden. Und einer ist der Gewinner am Ende des Tages.“ Peter: „Du weißt hoffentlich, dass es etwas komplizierter ist, nicht wahr?“ Seth (grinst): „Ja.“63 59 Vogl, J.: Das Gespenst des Kapitals. S. 7. 60 Ebd. 61 Der große Crash. 00:23:14. 62 Ebd., 00:23:17. 63 Ebd., 00:23:45.
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Die Zahlen haben stets nur die Bedeutung, die ihnen von selbsterklärten Finanzexperten gegeben werden, sie verweisen immer nur auf weitere Signifikanten, und ihre Bedeutung ist in dieser Signifikantenkette sowohl präsent als auch absent. Die Krise der Finanzwerte entsteht laut LANCHESTER in dieser Kette dadurch, dass es Momente gibt, in denen „[d]ieser Prozess der Verschiebung […] zum Stillstand kommt und in sich zusammenbricht.“64 Die ominöse Information in Margin Call ist ein eben solches Zeichen, das die Banker-Tätigkeit des Zahlenverschiebens abrupt unterbricht und ihnen die Handlungsmacht nimmt. In diesen Aporien treiben die Figuren nun durch die Nacht,65 finden Eric Dale nicht, kehren zurück in die Bank und warten auf den Beginn der Krisensitzung. Im Zeit-Bild nach DELEUZE sind die Figuren sehend geworden und können gerade deshalb nicht mehr auf die Situation reagieren. Sie können aber auch nicht wieder die Augen vor der Situation verschließen.66 So blicken die harrenden Figuren Seth, Peter und Will vom Dach des Bankgebäudes auf die Straßen New Yorks direkt die Fallhöhe hinab, die ihnen bereits in den nächsten Stunden droht. Der Film kann dies den Zuschauer schwindelerregend nachfühlen lassen, indem er erst das subjektive Wahrnehmungsbild der drei Männer aus ihrer Vogelperspektive hinab in die Wall Street zeigt (Abb. 36)67 und dann die objektive Perspektive auf sie, wie sie oben stehen (Abb. 37), während Will offenbar überlegt, ob er springen soll (sein Schweigen wird nachträglich deutbar, als er auf das Geländer klettert).68
64 Lanchester, J.: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt. S. 99. 65 Vgl. Deleuzes Erläuterungen zum Zeit-Bild auch in: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 278. 66 Vgl.: Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 171. 67 Der große Crash. 00:37:30. 68 Ebd., 00:37:32.
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Abb. 36: Der große Crash. Margin Call.
Regie: J.C. Chandor, USA 2011 (00:37:30).
Abb. 37: Der große Crash. Margin Call.
Regie: J.C. Chandor, USA 2011 (00:37:32).
Erst daraufhin, als die Krisensitzung startet, enthüllt sich sowohl den Figuren als auch dem Zuschauer langsam auf der dialogischen, niemals auf der visuellen Ebene, worum es sich bei der brisanten Information handelt. Hierfür wird ausgerechnet über den obersten Boss, John Tuld, die Laienstruktur zur Erklärung bemüht, indem
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er Peter, der über einen Doktortitel in Raketentechnik verfügt, auffordert: „Vielleicht können Sie mir sagen, um was es hier konkret geht. Und bitte sprechen Sie so, als wäre ich ein, ein kleiner Junge, oder ein Golden Retriever.“69 Tuld gibt gleich daraufhin offen zu, dass er über weniger Wissen verfügt als der in der Hierarchie der Bank weit unten stehende Peter: „Glauben Sie mir, ich sitze nicht auf diesem Stuhl, weil ich so viel weiß.“ Das Ausmaß der Störung drückt sich auch in dem nervösen Tonfall und der Gestik von Peter aus, der in aller Kürze und dennoch für den Laien kompliziert die illegal gepushten Hypotheken-Derivate erklärt. Viele dieser Papiere wurden falsch bewertet, und wenn der Markt sich nur gering anders verhält als in der fehlerhaften Risikoberechnung70 prognostiziert, wird die Bank an diesen Papieren bankrottgehen. Für die Darstellung der Krise im Film fällt auf, dass die Dialoge im Gegensatz zu den figuralen Erklärungen und Beleuchtungen im Roman weniger ausführlich sind und lediglich ein dramaturgisches Verständnis vermitteln, d. h. dem Filmrezipienten allein das Wissen an die Hand geben, das er braucht, um dem weiteren Handlungsverlauf auf einer nicht tiefgründigen, ja gar oberflächlichen Ebene, folgen zu können. So fasst der CEO Tuld in einer verkürzten Vergleichsstruktur zusammen: „Danke. Vermutlich wollen Sie [Peter. Anm. N.U.] mir mit Ihren Ausführungen Folgendes sagen – korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege. Der Bericht sagt uns zumindest […], dass wir die letzten Wochen eine holprige Straße benutzt haben. Und dass die Zahlen, die Ihre Kollegen aufgrund umfangreicher Erfahrungen eingegeben haben, überhaupt keinen Sinn ergeben, angesichts dessen, was heute passiert.“71 „Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, dass für uns die Musik schon bald aufhört zu spielen und wir mit einem riesen Koffer voll mit toxischen Papieren dastehen werden, so riesig, wie es in der Geschichte des Kapitalismus noch niemals vorgekommen ist?“72
Im Film deuten sich auf der dialogischen Ebene die Erklärungsmuster der Makrokrise anders als im Roman lediglich an, wobei es aber qualitativ die gleichen sind: So erklärt auch der CEO in diesem Film, dass es an der Börse einzig darauf an69 Ebd., 00:44:45. 70 Das Risikomanagement ist auch nach Lanchester der schwache Punkt, an dem die realen Banker gescheitert sind: „Sie scheiterten, weil sie sich auf fehlerhafte Rechenmodelle verließen, die sie selbst gar nicht hundertprozentig verstanden. […] Als Folge daraus scheiterten sie so radikal und uneingeschränkt, wie man überhaupt nur scheitern kann.“ Lanchester, J.: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt. S. 204. 71 Der große Crash. 00:46:23. 72 Ebd., 00:47:37.
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komme, richtig auf die künftige Gegenwart zu spekulieren. Er selbst, Tuld, sei befähigt, die Zukunftsmusik spielen zu hören, doch momentan höre er gar nichts: „Tut mir leid. Um mich herum nur Stille.“73 Auch die daraus resultierende Konsequenz zeigt anders als im Roman keinen fiktionalen Lösungsansatz auf, sondern führt lediglich vor, wie die Akteure versuchen, ihre Bank und damit sich selbst in Form ihrer Boni zu retten: John Tuld beschließt, dass gleich am nächsten Morgen, so schnell wie möglich, d. h. bevor der Markt misstrauisch werden kann, alle faulen Papiere verkauft werden müssen – egal zu welchem Preis und in Kauf nehmend, dass damit das Vertrauen der Anleger in ihre Bank verspielt wird. Dafür soll jeder Trader einen Bonus von 1,4 Millionen Dollar erhalten. Nachdem dieser Beschluss verkündet ist, verfallen die verschiedenen Figuren, die kaum in Haupt- und Nebenfiguren einzuteilen sind, erneut in sensomotorisches Unvermögen. Der Film stellt nunmehr lediglich das Warten auf den nächsten Morgen, auf den großen Crash, dar, der dann, anders als in Wall Street – Geld schläft nicht aber nicht inszeniert wird. Er simuliert weder journalistische Berichte noch bietet er Erklärungen und Lösungen an. Stattdessen nutzt Magin Call die filmische Möglichkeit, über künstlerisch komponierte Bilder Stimmungen zu erzeugen und hierüber die Krise und die Ohnmacht ihrer Akteure fühlbar werden zu lassen: Alles scheint in schwarz oder grau getüncht, die Anzugträger fahren stumm die Rolltreppe herauf74 und Seth weint einsam auf der Toilette, wobei die Kamera in einer Detailaufnahme seiner Füße die Trostlosigkeit der Stunden vor dem großen Crash einfängt.75 Abschließend ist es ein anonymes „Gewimmel von Gestalten“,76 das den Abverkauf vornimmt, was durch die Diskrepanz der visuellen und der auditiven Ebene deutlich wird: Die Totale zeigt den großen Händlersaal mit den vielen, figural keine weitere Handlungsrolle spielenden, statistengleichen Akteuren. Das Bild könnte dokumentarisch in einer realen Situation im Händlersaal aufgenommen worden sein. Die auditive Ebene bietet dagegen keine Totale des Stimmengewirrs, sondern vermittelt voice over Ausschnitte von einzelnen, herausgehobenen Verkaufsgesprächen, in denen die Händler sämtliche Lügen-Register ziehen, um die toxischen Papiere loszuwerden. Als der Börsentag mit einem Klingeln endet, wird das Bild zum Abspann auf Schwarz abgeblendet; der Rezipient versteht auch ohne Worte, die in diesem Film ohnehin ihren Sinn verlieren: Dies ist der Startschuss zur Krise; die Luftpapiere sind in den Umlauf gebracht und es gibt nichts mehr zu retten. Die Krise selbst wird nicht ins Bild gerückt, sie bleibt in der Schwärze des Filmendes, be73 Ebd., 00:48:30. 74 Ebd., 01:17:27. 75 Ebd., 01:17:44. 76 Deleuze über das Paradigma des Zeit-Bilds in: Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 279.
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gleitet von Streichmusik, verborgen bzw. wird als bekannt vorausgesetzt. Die Massenmedien haben den großen Crash in seinem Verlauf oft genug in Szene gesetzt und vermeintliche Aufklärungsarbeit geleistet. Der Film zur Krise scheint seine Aufgabe daher vielmehr darin zu sehen, ihre Psychogramme und Stimmungen sinnlich fühlbar werden zu lassen.
D AS E NDE DER ABSTRACT W ORKER ? D IE RESULTIERENDE W IRTSCHAFTSKRISE Dieser Befund wird auch von den beiden nun zu analysierenden Filmen über die amerikanische Rezession als Folge der Krise bestätigt. In Company Men77 aus dem Jahr 2010 gibt es keinerlei Versuche, das Abstraktum der Krise zu erklären oder darzustellen – und dennoch basiert die gesamte Handlung auf ihr, indem der Film ihre Auswirkungen auf die Arbeitswelt und die Psyche der „Arbeiter“ thematisiert. Company Men zeigt gleich im Vorspann, dass er ganz im Zeichen der Krise steht: Dafür greift er auf die bereits vorhandenen faktualen Bilder und Berichte der medialen Berichterstattung über die Krise zurück, d. h. er versucht ebenfalls nicht, eigene fiktionale Bilder für sie zu finden, sondern konzentriert sich zu Beginn ganz auf das filmische Potenzial der Montage, um aus den bereits um die Welt gegangenen Bildern eine neue fiktionale Geschichte auf gesellschaftspolitischer Basis zu schaffen. So zeigt er unter den Titeleinblendungen Bilder aus den Breaking News78 und von der Versammlung der Kongressmitglieder um George W. BUSH als Redner an die Nation im Zentrum.79 Parallel dazu werden vermutlich faktuale ModeratorenReden voice over eingeblendet, die das Geschehen zeitlich im Jahr 2008 verorten. Sie unterstreichen die Geschichtsträchtigkeit dieser Tage80 und das Ausmaß der Krise81 und kommen schließlich zu den Entlassungen,82 die daraufhin das Thema des Spielfilms sind, wie in der unmittelbaren Abblende auf Schwarz mit dem Film-
77 Regie: John Wells, USA 2010. 78 Ebd., 00:00:33. 79 Ebd., 00:00:40. 80 „Heute ist Montag, der 18. September 2008, und es wird wieder einer von diesen Tagen werden, der einem für eine Weile im Gedächtnis haften bleibt, und von dem man später sagen wird: Weißt du noch, damals, als …“ Ebd., 00:00:16. 81 „Die Auflösung der California Indie Bad Bank hat möglicherweise zum teuersten Bankencrash in der Geschichte der Vereinigten Staaten von Amerika geführt.“ „Der Dow Jones ist um 800 Zähler eingebrochen, und niemand weiß, ob damit das Tal bereits durchschritten ist.“ Ebd., 00:00:26. 82 „53.000 Angestellte der City Group verlieren ihren Arbeitsplatz.“ Ebd., 00:00:45.
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titel Company Men deutlich wird.83 Bobby Walker (Ben AFFLECK) ist einer von ihnen: Völlig unvermittelt bekommt er die Kündigung seines Managerjobs in einer Werft, weil in der Rezession der Aktienkurs des Unternehmens fällt und sich das Unternehmen „verschlanken“ muss, um mit „positiven“ Nachrichten an der Wall Street punkten zu können. Er gehört im Sinne von Lothar BÖHNISCH zur Kategorie der „abstract worker“84 im Kapitalismus um 2000 und muss nach seiner Entlassung eine neue Definition von Männlichkeit und von Privatleben im Zusammenhang mit dem Finden einer neuen Arbeit erlangen. All dies manifestiert sich filmisch in der Handlung und im Schauspiel von Ben AFFLECK, das durchaus als stoisch bezeichnet werden kann und zur Deplacierung der Figur des Bobby passt.85 Für ihn wie für seine beiden entlassenen Kollegen Gene McClary (Tommy Lee JONES) und Phil Woodward (Chris COOPER) bedeutet die Entlassung das Ende ihrer Männlichkeit und die Umkehr des amerikanischen Traums, sich nach oben arbeiten zu können. Dabei gleicht der Film einer Fallstudie – mit Bildern, die dokumentarisch anmuten, sowie mit Dialogen, die in aller Deutlichkeit aufdecken, wie die Opfer der Krise mit dieser Situation unterschiedlich umgehen: Bobby geht die Jobsuche mit der Arroganz des erfolgsverwöhnten Managers an, der finanziell nicht kürzer treten möchte und nicht einsehen will, warum er seinen Porsche verkaufen und das Golfclub-Abo kündigen soll. Als er die Rechnung nicht mehr bezahlen kann, wird er vom Golfplatz komplementiert, woraufhin sich in einem Streit mit seiner Frau Maggie (Rosemarie DEWITT) seine Überheblichkeit offenbart, an der er zunächst stur festhält: Bobby: Ich stand da wie ‘n Vollidiot, Maggie. Maggie: So ist es nunmal! Das ist die Realität, Bobby. Der müssen wir uns stellen. Aber du verschließt einfach die Augen und tust so, als wär nichts. Du spielst Golf? Du gibst den Porsche zur Durchsicht? Bobby: Maggie, es ist wichtig, dass ich erfolgreich aussehe, verstehst du? Ich kann nicht wie irgend ‘n Arschloch auftreten, das sich für ‘n Job bewirbt! Maggie: Aber du bist irgend ‘n Arschloch, das sich für ‘n Job bewirbt!86
Obwohl er täglich in die Welt des Outplacement Centers abtaucht,87 in dem man ihm für drei Monate einen Platz eingerichtet hat, von dem aus er seine Arbeitssuche
83 Ebd., 00:00:52. 84 Böhnisch, Lothar: Die Entgrenzung der Männlichkeit. Verstörungen und Formierungen des Mannseins im gesellschaftlichen Übergang. Opladen: Leske + Budrich 2003. S. 13f. und S. 43. 85 Vgl.: Wellershoff, Marianne: Der Kulturspiegel über den Film. Booklet in Große Kinomomente Nr. 113. 86 Company Men. Regie: John Wells, USA 2010. 00:45:16.
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organisieren kann, sind seine Aussichten in den Zeiten der Rezession düster. Im selben Gespräch, das die Kamera wie eine versteckte Dokumentarszene aus der Untersicht kadriert,88 gesteht er seiner ihn stets ermutigenden Frau seine schlechte Ausgangsposition ein: Seit drei Monaten suche ich einen Job, und nicht mal ein Angebot, nicht eins. Glaub mir, ich war bei jedem, den wir kennen und Leuten, die überhaupt nicht wussten, wer ich bin. Und alle hab ich angefleht, sie angebettelt, verdammte Scheiße, mich einzustellen, egal, was es ist. Da draußen gibt es tausende BWL-Absolventen ohne Hypotheken, ohne Kinder. Die 90 Stunden die Woche arbeiten, für nichts! Du willst die Wahrheit hören, Maggie? Ich bin ein 37 Jahre alter arbeitsloser Versager, der es nicht schafft, seine Familie zu ernähren.89
Sein Handeln bleibt trotz der widrigen Umstände zielgerichtet dem sensomotorischen Schema des Bewegungs-Bildes verhaftet – und dennoch entwickelt der Film eine Anmutung des Zeit-Bildes.90 Denn Arbeitssuche ist kein Zustand, in dem die Figuren die Situation im Griff haben, in der ihr Handeln unmittelbar etwas bewirken kann. Gegen die mikroökonomischen und sozialen Folgen der großen Krise ist der einzelne Akteur machtlos. So dienen zwar die Bewegungen der Akteure dem sensomotorischen Schema der Zielverfolgung wie zu Zeiten vor dem großen Kriseneinschnitt,91 aber sie laufen zumindest auf der ökonomischen Ebene ins Leere. Nach einem gescheiterten Vorstellungsgespräch steht Bobby entsprechend statisch auf der Straße, während die Passanten gewohnt hektisch an ihm vorbeigehen. Er ist seinem vorigen Dasein als abstract worker enthoben und befindet sich in einem Zwischenstadium, das er nur bedingt beeinflussen und durchdringen kann. Dabei zeigt ihn die Kamera von hinten (Abb. 38),92 eine Strategie der Krisenfilme, die ein Denkbild evoziert: Der arbeitsuchende Krisenmann auf der Straße, uniformiert im schwarzen Mantel und weißen Hemd, steht für viele weitere Opfer der Krise. Temporal ist das Bild der Reinzustand dieser Krisenzeit, dieser Momente, in denen Handeln vergeblich ist und der Film „eher Werden als Geschichten“93 zeigen kann.
87 Dargestellt in den weißen Zellen, in der jeweils ein Arbeitsloser sitzt, die Datenbank nach Stellenanzeigen durchforstet und Korrespondenzen führt. 88 Ebd., ab 00:46:48. 89 Ebd., 00:50:09. 90 Vgl. auch: Deleuze, Gilles: Unterhandlungen. 1972–1990. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993. S. 89. 91 Vgl.: Ebd. 92 Company Men. 01:14:44. 93 Deleuze, G.: Unterhandlungen. S. 89.
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Abb. 38: Company Men.
Regie: John Wells, USA 2010 (01:14:44).
Ein solcher Bildtypus zeigt sich auch im Anschluss an die Entlassung von Gene und Phil: Nachdem sie ihre Sachen gepackt haben (was visuell immer in der Box symbolisiert wird, in welche die Gekündigten ihr Eigentum aus dem ehemaligen Büro verstauen), sitzen sie tatenlos im Foyer ihrer ehemaligen Firma, sprechen und schweigen ein letztes Mal in dem einst so vertrauten, nun in der Totale frostig anmutenden Gebäude (Abb. 39). Abb. 39: Company Men.
Regie: John Wells, USA 2010 (00:53:05).
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Ein weiteres Zeit- als Denkbild ergibt sich, als Gene nach seiner Entlassung in sein luxuriöses Haus kommt, nach oben geht, in den unbelebten Luxus blickt, in dem er mit seiner Frau Jahrzehnte lang gelebt hat, um dann wortlos zu seiner Geliebten, der Personalchefin Sally Wilcox (Maria BELLO), die ihm die Kündigung übermittelt hat, aufzubrechen und bei ihr zu bleiben. Das subjektive Wahrnehmungsbild von Gene ist reine Zeit, in ihm geschieht nichts, außer dass es das Denken der Figur und damit des Zuschauers anregt und zu einer ziellosen Handlung führt: Bei seiner Geliebten scheint Gene Tag für Tag unmotiviert vor sich hinzuleben; anders als Bobby begibt er sich nicht auf Jobsuche. Phil Woodward dagegen darf tagsüber erst gar nicht nach Hause kommen, die Arbeitslosigkeit ist seiner Frau peinlich. So verbringt er die Zeit in Bars und betrinkt sich, bis er sich schließlich in seiner Garage das Leben nimmt. Für Bobby hingegen findet sich eine Lösung darin, sein Ende als sogenannter abstract worker anzunehmen und zu einem archaischeren Arbeitsverhältnis als working man zurückzukehren: Er beginnt bei seinem Schwager Jack Dolan (Kevin COSTNER) eine Tätigkeit als Bauarbeiter und lernt, wieder selbst „Hand anzulegen“, statt mit abstrakten Informationen, Tasten und Touchpads zu hantieren wie in der postindustriellen Arbeit, die immer einen „Stich ins Unwirkliche, um nicht zu sagen: Surreale“94 hat. Indem es nun um den anthropologischen Kern der Arbeit geht, etwas selber zu schaffen, wird sie wieder visualisierbar und damit filmisch wirksam, z. B. in einer Detailaufnahme von Bobbys Arbeitsschuhen, die tatkräftig auf die Baustelle zusteuern.95 Er entwickelt sich zu einem produktiven Charakter, ebenso wie Gene, der Bobby zu dem Zeitpunkt, als dieser beginnt, Gefallen an der Tätigkeit als Bauarbeiter zu finden, mit einer Idee überrascht: Gene will eine neue Firma auf dem Gelände seines alten Unternehmens gründen. Die Bilder davon besitzen erneut dokumentarische Qualität, denn bei dem alten Fabrikgebäude handelt es sich nicht um eine künstlich erbaute Filmkulisse, sondern die leere Werft mit den zerschlagenen dominoartigen Fensterreihen96 ist die reale Folge der zeitgenössichen Wirtschaftskrise, welche die Zuschauer teilen. Es folgt erneut eine Einstellung, die die beiden künftigen Unternehmer als anonyme Gestalten von hinten zeigt: Ohne die Sprache eines Erzählers oder einer Figur bemühen zu müssen, hat der Film hier in einem Denkbild das Potenzial, seine amerikanische Moral zu übermitteln: Jeder kann es aus der Krise schaffen, wenn er selbst aktiv wird und versucht, Neues zu schaffen.
94 Kaeser, Eduard: Hand anlegen! Von der immateriellen zur materiellen Ökonomie. In: Merkur, Heft 2, 64. Jahrgang, Februar 2010. Stuttgart: Klett-Cotta. S. 168. 95 Company Men. 00:59:25. 96 Ebd., 01:22:18.
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Das Gegenteil von Bobby und Gene ist der destruktive Charakter des Hauptakteurs Ryan Bingham (George CLOONEY) in Up in the Air (2009).97 Ryan ist ein Gewinner der Krise, der aber anders als die Figuren in Company Men nicht gekündigt wird und dann erstarkt, sondern der selbst die Kündigungen vornimmt: Seine Arbeit als „Transition Counsellor“, euphemistisch „Übergangsberater“, bei der er im Auftrag von Firmen den künftigen Arbeitslosen die schlechte Nachricht überbringt, hat in der Zeit der Rezession Hochkonjunktur.98 Dabei weist er alle Merkmale auf, die Walter BENJAMIN dem destruktiven Charakter zuschreibt – und schafft es auf Rezeptionsebene dennoch, ein Filmheld zu sein.99 Erstens kennt er „nur eine Parole: Platz schaffen; nur eine Tätigkeit: räumen.“100 So hält Bingham neben seiner Tätigkeit des personalen Platzschaffens in Firmen auch Vorträge als Coach, in denen er die Philosophie vertritt, dass der Mensch möglichst wenig Ballast im Koffer seines Lebens mit sich führen soll, d. h. auch möglichst wenig Menschen in sein Leben lassen bzw. sie aus ihm entfernen soll. Er selbst ist ca. 322 Tage im Jahr auf Reisen, da darf sein Rollkoffer sowie der Lebenskoffer nicht viel Gewicht haben: Bingham ist unverheiratet, kinderlos, ohne Freundschaften, und er fühlt sich auf Reisen zu Hause. „Sein Bedürfnis nach frischer Lust und freiem Raum ist stärker als jeder Haß.“101 Diese Eigenschaft kommt bereits in der Gestaltung der Titelsequenz zum Ausdruck, die ähnlich wie der Prolog im Roman die Gelegenheit bietet, das Publikum noch vor Filmbeginn in die passende Stimmung zu versetzen. Laut ihrem Designer Gareth SMITH ist die Titelsequenz ein „Tongedicht“, das die zeitlose Isolation des Protagonisten zeigt.102 Sie bietet Ryan Binghams Perspektive auf Amerika, wie er sie fast täglich im Flugzeug genießt – passend zum Titel Up in the Air, was einerseits schlicht mit „über den Wolken“ übersetzt werden kann, aber auch „in der 97 Regie: Jason Reitman, USA 2009. 98 Die Krisenmeldungen erhalten in diesem Film eine völlig andere, grotesk anmutende Interpretation. So wird Ryan von seinem Chef über eine aus seiner Sicht positive Nachricht informiert: „Wir kriegen super Zahlen aus Phoenix, Ryan. Neues aus der Autobranche: Da sollen noch vor Monatsende 10.000 Jobs gestrichen werden.“ „Im Ernst?“ „Ja, frühe Bescherung.“ Ebd., 00:10:20. 99 Vgl. hierzu die medialen Ursachen für das filmische Heldentum des Gordon Gekko in den beiden Wall-Street-Filmen. 100 Benjamin, Walter: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1977. S. 289. 101 Ebd. 102 Extra „Vor der Geschichte“ auf der DVD: Up in the Air. Regie: Jason Reitman, USA 2009.
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Schwebe sein“ bedeutet, was zu Binghams unverbindlichem Lebensstil durchaus passt. In einem Split-Screen werden nach der Titeleinblendung vier Bilder aneinandergefügt, welche die verschiedensten US-Landschaften von oben zeigen: Wald, Felder, Stadt und Industrie (Abb. 40).103 In diesem besonderen Bild wird deutlich, dass der Film auf der visuellen Ebene viel direkter und simultaner als die Sprache des Romans oder die Handlung auf der Theaterbühne Informationen, Stimmungen und figurale Subjektive ausdrücken kann. Innerhalb nur eines Bilds, bereits vor der Filmhandlung, hat der Zuschauer die Perspektive des Protagonisten eingenommen und kann dessen ungewöhnlichen Lebensstil als destruktiver Charakter zumindest für die Dauer des Films teilen und quasi nacherleben. Das Gefühl der Freiheit, das Bingham wie die Luft zum Atmen braucht, überträgt sich unmittelbar in diesen Bildern der Kameraflüge. Abb. 40: Up in the Air.
Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:02:23).
Weiter weiß BENJAMIN über einen solchen Charakter, dass er „jung und heiter“ ist: Denn Zerstören verjüngt, weil es die Spuren unseres eigenen Alters aus dem Weg räumt; es heitert auf, weil jedes Wegschaffen dem Zerstörenden eine vollkommene Reduktion, ja Reduzierung seines eignen Zustands bedeutet. Zu solchem apollinischen Zerstörerbilde führt erst recht die Einsicht, wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird.104
103 Up in the Air. Regie: Jason Reitman, USA 2009. 00:02:23. 104 Benjamin, W.: Illuminationen. S. 289.
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Auch diese Eigenschaft des Krisenprofiteurs wird gleich zu Beginn über das filmische Potenzial des Off, Leerstellen erzeugen und sie plötzlich wie ein Rätsel auflösen zu können, evident. Zunächst werden in Zwischenschnitten in jeweils der gleich kadrierten Großaufnahme Männer und Frauen in ihrer direkten Reaktion auf die Kündigung gezeigt: Die jeweilige zu entlassende Person ist rechts ins Bild gerückt und bis zu den Schultern zu sehen. Es bleibt im Verborgenen, wer ihnen die Krisenbotschaft überbringt; der Zuschauer kann sich zunächst ganz in das Leid der Arbeitslosen einfühlen und auf die in der nahen Einstellung deutlich sichtbaren Gefühlsregungen empathisch reagieren. Indem unser „Raumbewusstsein außer Kraft gesetzt“105 wird, können die psychischen Reaktionen auf die Kündigungen – wenn auch potenziell ambig und nicht so detailreich und ausführlich wie die sprachliche Schilderung einer Innenperspektive im Roman – visuell dargestellt werden. WEDDING stellt aus der Perspektive der psychologischen Filmwissenschaft fest, dass sich „tiefe emotionale Erfahrungen (z. B. Trauer) viel wirksamer durch einen Gesichtsausdruck vermitteln als durch Worte.“106 BALAZS ist gar der Meinung, dass Worte und Begriffe überhaupt keine Empfindungen ausdrücken können, ganz im Gegensatz zu menschlichen Gesten.107 Das Besondere an den Gesichtsausdrücken in Up in the Air ist allerdings ihre Authentizität: Es handelt sich bei ihren Trägern um reale Arbeitslose aus St. Louis und Detroit, die sich in diesem Film selbst spielen und ihre Gefühle bei der Kündigung schildern durften.108 Anders als den schauspielenden Darstellern, die in Company Men oder auch in Margin Call pars pro toto für die Entlassenen der Krise von hinten gezeigt werden, blickt das Kameraauge den realen Opfern der Rezession direkt ins Gesicht.109 Im Hintergrund einiger Bilder ist eine Tapete oder ein Bild mit einem Muster aus Wellen zu sehen, das zusätzlich noch das Potenzial hat, das emotionale Wechselbad der Betroffenen ikonographisch zu symbolisieren (Abb. 41). 105 Wedding, D. et al.: Psyche im Kino. S. 19. 106 Ebd., S. 19f. 107 Balázs, B.: Der sichtbare Mensch (1924). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 225. 108 Diese Information stammt aus den Berichten über den Film, z. B. im SPIEGEL: Wolf, Martin: George Clooneys Paraderolle in der Wirtschaftskomödie „Up in the Air“. http://www.spiegel.de/spiegel/a-675026.html (12.03.2013). 109 Dabei erklärt einer der Gekündigten: „Vom Stress her gesehen hab ich gehört, dass arbeitslos zu werden so ist wie ein Todesfall in der Familie. Aber ich persönlich, ich hab eher das Gefühl, als ob meine Kollegen hier meine Familie wären und ich bin, ich bin gestorben.“ Up in the Air. 00:03:36. Der Eindruck von Wedding, reale Personen, die sich selbst spielen, seien weniger überzeugend als Schauspieler, kann hier nicht repräsentativ und objektiv untersucht werden und muss außer Acht gelassen werden. Wedding, D. et al.: Psyche im Kino. S. 20.
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Nach einer Feststellung von TYNJANOV nähert sich der Film über die Darstellung von Gefühlen realer Personen der Glaubwürdigkeit von originalen Figuren im Roman an: Der Zuschauer braucht sich an dieser Stelle keine Gedanken mehr über die schauspielerische Leistung der Darsteller zu machen, sondern kann die Figuren eins zu eins wie im Roman als quasi gegebene Individuen wahrnehmen.110 Aber anders als im Roman kann der Filmzuschauer auf den „sichtbaren Geist“ ihrer Mimik reagieren statt auf den „lesbaren Geist“,111 der im Roman durch den Erzähler oder die Versuche, im stream of consciousness Unmittelbarkeit zu suggerieren, vermittelt wird. Der Filmzuschauer vermag hierdurch in eine „Schicht der Seele [zu dringen], die von Worten und Begriffen nicht erreicht werden kann, ähnlich wie ja unsere musikalischen Erlebnisse nicht in rationale Begriffe eingefangen werden können.“112 Abb. 41: Eine der realen Entlassenen als Darstellerin.
Up in the Air. Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:03:16). 110 „Wenn wir einen Roman über Alexander I. lesen, dann können seine Taten im Roman sein, wie sie wollen – sie werden dennoch die Taten ‚Alexanders I.‘ sein. Wenn sie unwahrscheinlich sind, dann ist ‚Alexander I. schlecht gezeichnet‘, aber daß es ‚Alexander I.‘ ist, wird weiterhin vorausgesetzt. Im Kino wird ein naiver Zuschauer sagen: ‚Wie ist dieser Schauspieler Alexander I. ähnlich (oder unähnlich)!‘, und er wird recht haben, und indem er recht hat, zerstört er (auch wenn es ein Lob war) gerade die Voraussetzung der Gattung, die Glaubwürdigkeit.“ Tynjanov, Jurij N.: Über die Grundlagen des Films (1927). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. F.-J. Albersmeier. S. 169. 111 Balázs, B.: Der sichtbare Mensch (1924). In: Texte zur Theorie des Films. Hg. v. Ebd. S. 224. 112 Ebd., S. 225.
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Wer der Auslöser dieser tiefen Emotionen der Fassungslosigkeit und Verzweiflung ist, den der erste „vorgeführte“ Arbeitslose einen „Vollidioten“ nennt,113 bekommt der Zuschauer erst zu sehen, nachdem ein Gekündigter unter Tränen fragt: „Wer sind Sie eigentlich, Mann?“ Unmittelbar danach zeigt der Film in der Technik des Gegenschusses das vormalige hors champ: den im Vergleich zu den Entlassenen frisch aussehenden, wenn auch Betroffenheit mimenden, Ryan Bingham (George CLOONEY).114 Die Heiterkeit seines nach BENJAMINS Definition destruktiven Charakters drängt sich den Entlassenen regelrecht auf, indem er ihre Situation mittels Euphemismen schönt; er spricht z. B. nie von „Entlassungen“, sondern von „neuen Herausforderungen“, bevor er ihnen eine Ratgeberbroschüre überreicht. Sein heiteres Gemüt drückt sich außerdem in seinen fröhlichen Voice-Over-Kommentaren aus, in denen er sich dem Zuschauer vorstellt und ihn direkt anspricht. Auch gegenüber seiner neuen Kollegin, der jungen Natalie (Anna KENDRICK), einer motivierten Absolventin der Cornell-Universität, scheint er völlig im Reinen mit seiner Tätigkeit zu sein.115 Sie möchte das Kündigungsverfahren modernisieren und entwickelt eine Technik per Videokonferenz, wovon der Firmen-Chef zunächst angetan ist. Für Ryan Bingham würde dies aber das Ende seines geliebten Nomadendaseins bedeuten. Um das zu verhindern, nimmt Ryan Natalie mit auf Dienstreise und zeigt ihr die Realität der Branche, in der deutlich wird, dass der menschliche Elementarkontakt in dieser Situation nicht zu ersetzen ist. Sie begeben sich auf eine Reise durch das von der Rezession gezeichnete Amerika, wobei jede Station mit einem Luftbild samt Insert der jeweiligen Stadt eingeleitet wird (Abb. 42), wodurch ein atemlos wirkender Ortswechsel und eine Rastlosigkeit suggeriert werden.
113 Up in the Air. 00:03:08. 114 Ebd., 00:04:00. 115 Ryan erklärt Natalie: „Unsere Aufgabe ist, einen Übergang erträglich zu machen. Wir befördern verwundete Seelen über den Fluss des Grauens zu einem Punkt, wo die Hoffnung am Horizont aufleuchtet. Dann stoppen wir das Boot, schubsen sie ins Wasser und zwingen sie zu schwimmen.“ Natalie kalt: „Äußerst beeindruckend. Kommt das in Ihr Buch?“ Ebd., 00:29:28.
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Abb. 42: Up in the Air.
Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:10:48).
In einer Hotelbar in Dallas lernt Ryan die Geschäftsfrau Alex (Vera FARMIGA) kennen, die zunächst sein weibliches Pendant zu sein scheint, und mit der er eine unverbindliche Affäre beginnt.116 Sie passt zu seiner Eigenschaft als destruktiver Charakter, „nichts Dauerndes“117 zu sehen. Doch in der Tradition der von KAPPERT untersuchten medialen Kapitalismuskritik in der Mainstreamkultur um 2000 ist es nur folgerichtig, dass Ryan sich in Alex verliebt und die überlegene Karrierefrau ihn dadurch in eine Krise stürzt: Als er sie überraschend zu Hause besucht, muss Ryan feststellen, dass Alex bereits einen Mann und Familie hat und ihn kalt an der Haustüre abwimmelt. Es „findet keine nachhaltige Reintegration, keine ‚Zivilisierung‘ der derivaten Männerfigur durch die liebende Familie oder die zugewandte Frau statt.“118 Trotz aller Attraktivität hat das „Gesicht des Kapitalismus“119 im Film um 2000 keinen persönlichen Erfolg. Nach KAPPERT ist das Narrativ vom „Mann in der Krise“ ein „Kode, um auf gewinnbringende Weise eine in der Luft liegende Angst angesichts von Veränderungen in der gesellschaftlichen Ordnung zu kommunizieren.“120 Kurz: Der Krisenmann ist, besonders in der Popularität des Darstellers CLOONEY, der ein breites Publikum erreicht, ein Kampfthema in der Medien116 „Ich bin die Frau, um die du dir keine Gedanken machen musst. […] Betrachte mich so, als wäre ich du, nur mit Vagina.“ Ebd., 00:30:25. 117 Benjamin, W.: Illuminationen. S. 290. 118 Kappert, I.: Der Mann in der Krise. S. 9. 119 Wolf, M.: George Clooneys Paraderolle in der Wirtschaftskomödie „Up in the Air“. http://www.spiegel.de/spiegel/a-675026.html (12.03.2013). 120 Kappert, I.: Der Mann in der Krise. S. 11.
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konkurrenz, wobei das Medium des Films für die Bündelung einer diffusen Angst in einer fassbaren Figur besonders prädestiniert zu sein scheint. Dabei ist die Kapitalismuskritik in Up in the Air im Vergleich zur von Gordon Gekko in Wall Street – Geld schläft nicht geäußerten Kritik durchaus eine implizite, wofür das Medium des Films wiederum besondere Potenziale bereithält: Auf der Reise durch Amerika bekommen Ryan und Natalie Bilder der Trostlosigkeit in Folge der Rezession zu sehen, wobei diese den destruktiven Charakter Bingham kalt lassen.121 Es sind z. B. Wahrnehmungsbilder in der Totale, die ein Großraumbüro zeigen, in dem die Schreibtische abgebaut wurden, die Telefone auf dem Boden stehen (Abb. 44) und nur noch eine verzweifelte Rezeptionistin zusammen mit zwei Mitarbeitern die Stellung hält (Abb. 43). Die Wahrnehmungsbilder sind von einem Realismus geprägt, dessen Bedrückung wiederum in Natalies Affektbild unterstrichen wird (Abb. 45), zusammen mit dem traurigen Gesang von einer Instanz außerhalb der Szenerie. Abb. 43: Up in the Air.
Das Wahrnehmungsbild auf das von der Rezession gezeichnete Büro. Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:41:40).
121 „[…D]as wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt. Zunächst, für einen Augenblick zumindest, der leere Raum, der Platz, wo das Ding gestanden, das Opfer gelebt hat. Es wird sich schon einer finden, der ihn braucht, ohne ihn einzunehmen.“ Benjamin, W.: Illuminationen. S. 289.
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Abb. 44: Up in the Air.
Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:41:48).
Abb. 45: Up in the Air.
Das Affektbild von Natalie als Reaktion auf die Firma in der Krise. Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:41:51).
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Abb. 46: Up in the Air.
Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:43:11).
Die Bilder der Trostlosigkeit wirken in ihrem Realismus gar grotesk, wenn z. B. Natalie wie ein gekränktes Kind einsam auf Ryan wartend in einem Raum sitzt, in dem sich alle Stühle der Firma befinden, die momentan nicht mehr gebraucht werden (Abb. 46).122 Sie stehen symbolisch für jeden einzelnen, den Ryan und sie in dieser Firma entlassen haben. Als Natalie erfährt, dass sich eine Frau, deren Entlassung sie übermittelt hat, das Leben genommen hat, kündigt sie den Job als „Übergangsberaterin“. Ryan erreicht unterdessen sein großes Ziel: Er erhält die lang ersehnte Vielfliegerkarte von American Airlines, weil er zehn Millionen Flugmeilen „erreicht“ hat. Die Karte bezeugt seine Wirksamkeit als destruktiver Charakter123 und bedeutet Ryan Binghams finales Glück. Destruktive Charaktere finden sich auch in den folgenden zu untersuchenden Theaterperformanzen der Krise um 2000. Nach BENJAMIN ist dies auch ein Charakter, der überall, das heißt auch in der Krise, Wege sieht:
122 Up in the Air. 00:43:11. 123 „Der destruktive Charakter tut seine Arbeit, er vermeidet nur schöpferische. So wie der Schöpfer Einsamkeit sich sucht, muß der Zerstörende fortdauernd sich mit Leuten, mit Zeugen seiner Wirksamkeit umgeben.“ Benjamin, W.: Illuminationen. S. 289.
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Wo andere auf Mauern oder Gebirge stoßen, auch da sieht er einen Weg. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter. Weil er überall Wege sieht, steht er selber immer am Kreuzweg. Kein Augenblick kann wissen, was der nächste bringt.124
Auffallend bei der Auswahl des Korpus ist allerdings, dass dieser Charakter weitaus seltener in narrative Abläufe von Dramen eingeordnet ist als in den Filmen, die von den Schuldigen und Betroffenen in der Krise handeln. Kurz gesagt: Das Theater der Krise um 2000 zu analysieren bedeutet, mit einer völlig anderen Umsetzung der Krise konfrontiert zu sein. Wie lässt sich durch die Überlegungen der Medienkonkurrenz erklären, dass der Krisendiskurs hier oft nur marginal in eine narrative Form übersetzt ist 125 und vielmehr zwischen Dokumentartheater und aufständischem oder aufklärendem Happening schwankt? Doch nicht nur die filmische Kontinuität der Handlung im meist noch vorhandenen Bewegungsbild bedingt den großen Unterschied zum Theaterkorpus, sondern auch die nationale Prägung: Während für die Analyse allein Filme aus dem angelsächsischen Raum und damit vorwiegend Fokussierungen auf die Krise in Amerika fruchtbar zu machen waren, findet nun126 ein Sprung auf die Perspektive des deutschsprachigen Raums statt.
124 Ebd., S. 290. 125 Vgl.: Wende, Waltraud ‚Wara‘; Koch, Lars: Krisenkino – zur Einleitung. In: Krisenkino. Filmanalyse als Kulturanalyse. Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm. Hg. v. Waltraud ‚Wara‘ Wende u. Lars Koch. Bielefeld: transcript 2010. S. 10. 126 Aus Gründen der Verfügbarkeit von Mitschnitten.
3. Die kollektive Empörung Geprobter Aufstand im Finanzkrisen-Theater
Die Finanzkrise als aktuelles gesellschaftspolitisches Thema auf die Bretter des Theaters zu bringen, bedeutet ein Auseinandersetzen mit der eigenen Realität. Das Theater als Institution und die Theaterschaffenden wie die Zuschauer sind im besonderen Maße selbst von der ökonomischen Misere betroffen. Im Vergleich zu den ebenfalls prekären Finanzlagen von Film- und Literaturschaffenden handelt es sich hier um existenzielle Fragen wie die „Zusammenlegung von Sparten, […] Schließungen ganzer Häuser, […] Publikumsschwund und Legitimationskrisen.“1 Die Krise verschärft die ohnehin in der telematischen Kommunikationsgesellschaft problematisch gewordenen Wirtschaftsbedingungen des Theaters zusätzlich.2 Daraus resultiert auf thematischer Ebene ein Niederschlagen dieser Wirtschaftslage in den Theatertexten und Inszenierungen, weshalb Katharina PEWNY das Gegenwartstheater als „Das Drama des Prekären“ untersucht:3 Die Ökonomie sei neben Versehrtheit und Sterblichkeit eines seiner vorwiegenden Themen. Tatsächlich kann die Thematik der Finanzkrise als ein Kampfthema des Theaters in der Konkurrenz der Medien gelten, um Aufmerksamkeit zu erregen in einer Zeit, in der das Prinzip L’art pour l’art nicht mehr zu funktionieren scheint. Indem etwa das Theater Lübeck offensiv dafür warb, mit Michael WALLNERS Stück Flying down to Rio habe der Regisseur Christoph ROOS ein Finanzkrisendrama inszeniert, sollte das Pub-
1
Schössler, Franziska; Bähr, Christine: Die Entdeckung der ‚Wirklichkeit‘. Ökonomie, Politik und Soziales im zeitgenössischen Theater. In: Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Hg. v. Franziska Schössler und Christine Bähr. Bielefeld: transcript 2009. S. 9.
2
Das Theater hatte bereits seit 1989 mit Rationalisierungsmaßnahmen zu kämpfen. Vgl.: Ebd.
3
Pewny, Katharina: Das Drama des Prekären. Über die Wiederkehr der Ethik in Theater und Performance. Bielefeld: transcript 2011. S. 8ff.
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likum ins Theater gezogen werden.4 Tatsächlich ist es eines der wenigen Stücke, das die Finanzkrise in einem fiktionalen Plot auf die Bühne bringt, statt auf dokumentarische Publikumsaufklärung oder Evokation von Empörung und Aufstand zu setzen. Wie PEWNY es für das Theater des Prekären feststellt, bricht der Abgrund hier nicht wie in einer klassischen Tragödie im Verlauf der Handlung auf, sondern die Krise – bei WALLNER die Mikrokrise des Hauptakteurs Dirk Fischer (Jörg-Heinrich BENTHIEN) aufgrund der Makrokrise – besteht von Anfang an und wird als solche „unermüdlich gezeigt.“5 Im folgenden Kapitel gilt es zu untersuchen, wie das Thema Ökonomie und die an ihr geübte Kritik auf die Bühne gebracht werden und worin die Unterschiede zwischen der Performanz einer fiktionalen Handlung und der Veranstaltung eines postdramatischen Live-Events der kollektiven Empörung bestehen. Wie kann das Theater, das Medium der materiellen Zeichen-Präsenz per se, die immateriellen abstrakten Verhältnisse der Finanzkrise auf der Bühne darstellen?
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DER K RISE AUF DER B ÜHNE : HANDLUNGSBASIERTE P ERFORMANZEN Der Beginn der Inszenierung von Flying down to Rio6 (Michael WALLNERS Stück unter der Regie von Christoph ROOS 2010) kann im wahrsten Sinne als narrativ bezeichnet werden: Nachdem wie in einem Roman-Prolog zu sehen war, wie ein Mann sich über einem Stuhl den Strick nimmt, tritt ein anderer Mann räumlich exponiert auf die Bühne, der ganz offenbar kein Teil der fiktionalen Handlung und damit kein theatraler Darsteller ist, sondern als extradiegetischer Erzähler fungiert. Er erklärt dem Publikum, wer die Figur ist und was sich im Präsensperfekt zugetragen hat, womit er die Gegenwart der Handlung und die der Zuschauer in Verbindung zur Vergangenheit der Figur setzt: Dirk Fischer hat es vorausgesagt. […] Er hat seine Vision zum Programm gemacht, hat das Fischerprogramm in den Dienst unserer Profite gestellt. […] Meine Damen und Herren: Dirk Fischer. Der Prophet auf dem Olymp der Hedge-Fonds-Manager. (Applaudiert ihm selbst.)7 4
Vgl. die Kritik von Grund, Stefan: Finanzkrisendrama: „Flying Down to Rio“ in Lübeck. http://www.welt.de/welt_print/kultur/article6429881/Finanzkrisendrama-Flying-Downto-Rio-in-Luebeck.html (01.05.2013).
5 6
Pewny, K.: Das Drama des Prekären S. 10. Michael Wallner: Flying down to Rio. Regie: Christoph Roos. UA 4. Februar 2010. Theater Lübeck 2010.
7
Ebd., 00:08:30.
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Wie Fischer daraufhin selbst erklärt, handelt es sich dabei um seine eigene Erfindung eines Derivats namens „Socks“, ein Gewinnsystem, mit dem er seinen Anlegern so lange Profite bescherte, bis die Finanzblase platzte. Nun ist er vor der Staatsanwaltschaft und der deutschen Steuerbehörde nach Rio de Janeiro geflüchtet. Ab diesem Zeitpunkt geht das Stück in ein rein präsentisches Schauspiel über, ohne das Publikum weiter explizit anzusprechen oder einzubeziehen. Fischer sitzt in seinem heruntergekommenen Hotelzimmer und unternimmt diverse Versuche des Selbstmords. Als er sich wieder gefangen hat, geht er hinaus, wobei ersichtlich wird, dass der Boden der unteren Bühne aus Wasser besteht, das für die angebrochene Regenzeit steht. In einem Lokal lernt Fischer die Kellnerin Tamoya (Anne SCHRAMM) kennen, die von brasilianischen Indianern abstammt und viele Jahre mit einem Schweizer Geschäftsmann in Europa gelebt hat. Als dieser starb – aus Kummer über seine Pleite nach einer Fischer-Transaktion –, hinterließ er ihr einen Berg von Schulden, woraufhin sie in ihre Heimat zurückkehrte. Fischer und die noch unwissende Tamoya beginnen eine Affäre, über deren Dialoge sich die Handlung um den Krisenmann entfaltet. Die beiden Figuren bilden ein deutliches Gegensatzpaar aus Schuldigem und Opfer, wofür die jeweils unterschiedliche Einstellung verantwortlich ist: Fischer äußert die Meinung, dass Profitstreben ein natürlicher Trieb des Menschen sei, während Tamoya den Markt für zerstörerisch hält. Das Geld als materieller Gegenstand spielt allein dann eine Rolle im Stück, wenn Fischer Tamoya Geld geben will, um seine Schuld(en) zu begleichen, was an die direkte Handlung des Schuldigen gegenüber dem Gärtner in KIRCHHOFFS Erinnerungen an meinen Porsche erinnert: Tamoya: Sie investieren in mich. Warum? Warum sind Sie nett zu mir? Fischer: Glauben Sie mir, ich bin alles andere als … nett.8
Als sie es nicht annimmt, muss er sich in einem performativen Akt im Wasser auf dem Bühnenboden selbst von der Schuld reinwaschen.9 Dass ihm dies aus der Sicht der später um seine Schuld am Tod ihres Mannes wissenden Tamoya nicht gelungen ist, wird im finalen Showdown der beiden evident. Fischers Frau Liane (Claudia HÜBSCHMANN) ist gekommen, um ihn zurückzuholen, da er, wie sie lachend verkündet, zum Treuhänder seiner Bank werden soll, was ihrer Meinung nach nicht ganz unpassend ist, denn: „Im Krisenrat sitzen ausschließlich Leute, die die Krise selbst verursacht haben.“10 Die mögliche Empörung, welche Aussagen wie diese erwecken, kanalisiert sich im letzten Bühnenbild, das an ein filmisches Zeit-Bild er8
Ebd., 00:53:00.
9
Ebd., 00:57:42.
10 Ebd., 01:22:20.
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innert: Einige Zeit ist die Bühnenkulisse des spärlichen Pensionszimmers in Dunkelheit getaucht, ohne dass eine Person zu sehen ist. Das pure Warten dient hier als dramaturgische Spannungserhöhung, begleitet von Musik, die an die Vertonung eines Krimis erinnert. Es findet sein Ende, als Fischer in das dunkle Zimmer zurückkehrt und Tamoya erklärt, dass er traurig sei. Mit dem Satz „Dagegen weiß ich ein Mittel!“ feuert sie daraufhin zwei Schüsse auf ihr Feindbild ab, woraufhin das Licht abgeblendet wird und der Zuschauer zunächst im Ungewissen gelassen wird. In der abschließenden Anklage, bei der sie ihn kopfüber aufhängt, schreit sie seine Schuld – die noch immer eine allein auf verbalen Informationen beruhende ist – gen Publikum heraus: „Du bist die Inkarnation der Zerstörung. Und weil es dir nicht gelingt, dich selbst zu zerstören, zerstörst du alles um dich rum. Was du Profit nennst, ist nichts als angestaute Aggression.“11 Stellvertretend für alle Betroffenen der Finanzkrise will sie ihn unschädlich machen, er fungiert quasi als theatraler Sündenbock, auf den die Zuschauer potenziell viel näher als in Film und Roman ihre Empörung abladen können. Dies – so muss hier auf Eindrücke von live anwesend gewesenen Rezensenten zurückgegriffen werden – scheint nicht zu gelingen, da Fischer trotz der präsentischen Anwesenheit des Darstellers BENTHIEN die Mechanismen der Krise nicht verkörpert, weil die Zuschauer ihn allein in der resultierenden Mikrokrise erleben und die Erklärung der Makrokrise auf spärliche dialogische Erklärungen oder Schuldbekundungen festgelegt bleibt.12 Offenbar ist die theatrale Darstellung von Handlung, die der großen Krise nachgelagert ist, d. h. in der sich der Abgrund des Prekären schon längst geöffnet hat, nicht mehr prädestiniert, die abstrakten Mechanismen der Finanzkrise zu erklären. Konträr hierzu wird im Folgenden ein Stück analysiert, das quasi in actu, von der Gründung einer Bank an bis zu ihrer 11 Ebd., 01:30:05. 12 So lautet die vernichtende Kritik von Stefan Grund: „Wer ein Ticket erworben hatte, stand hinterher nicht nur wie üblich mit einem wertlosen Fetzen Papier in der Hand vor dem Theater, er hatte auch vergeblich auf eine Dividende gehofft. Zudem quetschte das Theater das zahlende Publikum für die Dauer der Aufführung in eine ausrangierte Kirchenbank, die durchaus die Bezeichnung ‚Bad Bank‘ oder gar Folter-Bank verdient.“ http://www.welt.de/welt_print/kultur/article6429881/Finanzkrisendrama-Flying-Downto-Rio-in-Luebeck.html (01.05.2013). Und auch Michael Laages erfährt wenig Neues über die Finanzkrise: „Über die Strukturen des Crashs weiß der Dramatiker nicht sehr viel mehr zu berichten als das, was auch der blutigste Laie inzwischen aus der Zeitung weiß: dass nämlich Derivate auf Wetten basieren wie im Spielsalon. In denen geht es darum, Wert und Preis eines Produkts für einen bestimmten Zeitpunkt auch dann zu fixieren, wenn beides sich längst verändert hat. Verfällt der Preis, gewinnt der Zocker, weil ihm ja hohe Preise garantiert wurden; oder es kommt
halt
umgekehrt.“
http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content
&task=view&id=3899 (01.05.2013).
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Zerschlagung, alle Mikroabläufe der Krisendramaturgie, die im großen Crash münden, durchläuft: John VON DÜFFELS Das Geld unter der Regie von Tina LANIK.13 Die Inszenierung von Das Geld beruht quasi auf einer doppelten Adaption: John hat den 1891 erschienenen gleichnamigen Roman von Émile ZOLA für die medialen Bedingungen des Theaters in ein schriftsprachliches Drama adaptiert; diesen Theatertext wiederum hat die Regisseurin Tina LANIK am Düsseldorfer Schauspielhaus 2009 zur Aufführung gebracht. ZOLA beschreibt eine Gesellschaft im Spekulationswahn, was verdeutlicht, dass die menschliche Gier eine anthropologische Konstante aufweist: Die Finanzkrise von 2007 hat die Pleonexie deutlich als Ursache für das Platzen der Blase enttarnt. Eingebettet ist diese Enttarnung der mikromechanistischen Eigenschaften der Banker und Spekulanten in eine rein fiktionale, aber exemplarische dramatische Handlung, wie sie für das Theater der Krise um 2000 nicht allzu üblich ist. So stellt LANIK ihre Intention dar, die stark an den narrativen Aufbau der untersuchten Romane (besonders deutlich in WILLS Bad Banker) erinnert: fiktionale Handlung als Spiegel realer gesellschaftspolitischer Gegebenheiten zur Erklärung der komplexen Zusammenhänge, die möglicherweise, vorgeblich aber nicht intentional, zur Bewusstwerdung und damit möglichen moralischen Transformation der Rezipientenschaft führt:
VON DÜFFEL
Lanik inszeniert „Das Geld“ aus dem Blickwinkel der Börse, ohne es zu einem Plädoyer für oder gegen den Aktienmarkt werden zu lassen. „Ich wollte nicht sagen: diese bösen, bösen Börsianer.“ Es gehe ihr nicht darum, ein moralisches Urteil zu fällen, sondern das System begreifbar machen. Trotzdem sei ihr Stück kein Volk[s]wirtschafts-seminar, sondern ein echtes Drama.14
Die Adaptierbarkeit des Stoffs aus dem 19. ins 21. Jahrhundert verdeutlicht, dass die Bankenskandale universal sind wie die menschliche Eigenschaft der Gier und des Profitstrebens, weshalb die Gründung der Universalbank (zu ZOLAS realhistorischer Zeit die Banque Union Générale) im Stück noch immer aktuell ist im Dienste des fiktionalen Verständnisses realer Finanzstrukturen. Im Auftakt herrscht ein Naturzustand, der mittels einer Überblendung von real anwesenden Schauspielern als Figuren auf der Bühne und filmisch auf eine Leinwand „gebannten“ Menschen surreal und damit paradiesisch anmutet. Die transparente Leinwand füllt den gesamten Bühnenraum aus, übergroß sind darauf fröhlich und leicht hüpfende Menschen unter einem hellen Wolkenhimmel zu sehen, während sich die davor befindlichen, im 13 Düsseldorfer Schauspielhaus. UA 12. September 2009. 14 Puttkamer, Sophie von: Finanzkrisen-Theater: Gemetzel an der Börse. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/finanzkrisen-theater-gemetzel-an-der-boerse-a648490.html (02.05.2013).
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Verhältnis ihrer leiblich präsenten Größe viel kleiner wirkenden, Darsteller über die Unsterblichkeit der Natur äußern.15 Als die Gespräche in einer Utopie vom bereicherten Orient münden, fährt die Bühnentechnik die Filmleinwand hoch und das Theater inszeniert sich wieder als ein primäres Medium des menschlichen Elementarkontakts – Handlung über das Mittel der Sprache steht wieder im Vordergrund: Auf einer runden Empore, die mit der Weltkarte bedruckt ist, befinden sich der Finanzjongleur und Spekulant Saccard (Michele CUCIUFFO), der Ingenieur Hamelin (Götz SCHULTE) und dessen Frau Caroline (Anna KUBIN). Hamelin tritt mit einer Geschäftsidee an Saccard heran: Er schlägt die Erschließung der Silberminen in Kleinasien vor, damit verbunden ein großes Infrastrukturprojekt samt neuen Schifffahrtsgesellschaften und Eisenbahnlinien. Saccard lässt sich für „d[ie] friedliche[…] Eroberung des Orients“ begeistern. Weil hierfür allerdings das Kapital fehlt und keine Bank ihm mehr Geld leihen will, beschließt Saccard kurzerhand, selbst eine Bank mit einem Kapital von mindestens 25 Millionen zu gründen. Die leidenschaftliche Beflügelung Saccards durch diese Idee – ein Psychogramm der Emotionen Gier und Tatendrang – drückt sich daraufhin sowohl über seine leibliche Präsenz aus als auch über die erneute Verstärkung durch eine filmische Einblendung unter Rückgriff auf die Schriftsprachlichkeit: Saccard beginnt auf der verdunkelten Bühne wild und zuckend zu lauter Musik zu tanzen, während im Hintergrund auf der Leinwand sich ablösende Schriftzüge erscheinen wie „Vereinigte Schiffahrtslinien“, „Spanien, Frankreich, Italien, Griechenland, Ägypten“, schwebende Euro-Zeichen und wie Feuer leuchtend „Eroberung des Orients.“ Die Schriftzüge zerfallen schließlich in der Linearität der Buchstaben, während sie gleichzeitig immer größer werden, so dass der Eindruck entsteht, sie durchdringen nicht nur den klein wirkenden Darsteller, sondern rücken auch dem Publikum mehr und mehr zu Leibe (Abb. 47).
15 John von Düffel: Das Geld. Regie: Tina Lanik. Düsseldorfer Schauspielhaus. UA 12. September 2009. 00:02:20.
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Abb. 47: John von Düffel: Das Geld.
Regie: Tina Lanik. Düsseldorfer Schauspielhaus. UA 12. September 2009 (00:09:48).
Als die Bühne schließlich wieder ausgeleuchtet ist, scheint die Gründung der Universalbank vollzogen zu sein. Sie ist ein Abstraktum, das qua Behauptung erschaffen wurde, bekräftigt durch die Bühnenkulisse, die nun im Hintergrund von einem Vorhang silbern funkelnden Lamettas ausgekleidet ist. Das wallende Silber steht symbolisch für die Minen des Karmel, das ursprüngliche Projekt, welches allerdings fortan neben der Geschäftigkeit der Bankengründung auch thematisch, nicht nur bühnenbildnerisch, in den Hintergrund rückt. Die Universalbank dient nur noch, wie SCHNAAS es für die Deregulierungen der Börse diagnostiziert, als „Geldmaschine, die darauf programmiert ist, alle Verbindungsreste zur schwach wachsenden Realwirtschaft zu kappen.“16 Saccard verkörpert als Gründer der Bank sowie als (wenn auch abstrakt bleibender) hoffnungsvoller Investor beide Seiten der „Traumfabrik“ Börse, für die Thomas VON STEINAECKER in der zeitgenössischen Krise eine Phantasie-Explosion diagnostiziert: „hier die Banker, die nicht nur auf steigende Gewinne spekulierten, sondern auch immer neue, absurdere Finanzprodukte erfanden; dort die Anleger und Schuldner, die kurzzeitig ihre Hoffnung auf Wohlstand verwirklicht sahen.“17
16 Schnaas, D.: Kleine Kulturgeschichte des Geldes. S. 18. 17 Steinaecker, Thomas von: Das dünne Eis der Fiktion. In: Die Zukunft des Kapitalismus. Hg. v. Frank Schirrmacher u. Thomas Strobl. Berlin: Suhrkamp 2010. S. 99. So sagt auch Saccard: „Man braucht ein visionäres Projekt, das die Phantasie beflügelt, man braucht die Hoffnung auf eine beträchtliche Rendite. Einen Lotteriegewinn, der den
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Saccard wird über seinen Phantasien gar größenwahnsinnig und blasphemisch, ohne je einen Bezug zur Realität seines Vorhabens im Orient herzustellen: „Universalbank. Universalbank. Das umfasst alles. Das verspricht die ganze Welt.“18 Die Dynamik des Stücks speist sich also losgelöst von der Realwirtschaft allein aus den abstrakten Bankgeschäften und den fallenden und steigenden Aktienkursen. Dies beginnt bereits in dem Moment, als Saccard den Namen der Bank erstmalig nennt und sich der runde Bühnenboden als requisitisches Zeichen für die Welt zu drehen beginnt. Wie in WALLNERS Stück Flying Down to Rio ist es auch hier eine Frauenfigur, die eine moralische Gegenposition einnimmt, obwohl sie dem Kapitalisten, auf den sie anziehend wirkt, nahe steht. Als Caroline, ihr Mann und Saccard auf die Gründung der Universalbank anstoßen, äußert sie rechtliche Zweifel, da sie sich die Verwirklichung der Silberminen des Karmel mehr als ein „Paradies“19 denn als betrügerischen Akt vorgestellt hatte: „Ist es legal, dass sich mehrere Geschäftsleute zusammentun, und die Aktien einer Bank noch vor der Emission unter sich aufteilen?“20 Als sie sich auf das Gesetz beruft, erntet sie von den Männern schallendes Gelächter und zieht gar die Wut Saccards auf sich: „Sie liest das Gesetzbuch. [mehrmals ungläubig.] Wenn wir uns nach dem Gesetz richten würden, könnten wir keine zwei Schritte tun, während die Konkurrenz mit allen Tricks und Kniffen arbeitet, verdammt!“21 Für ihre Einwände muss sie sich mit Sekt bespritzen und niederwerfen lassen; doch als Personifikation der moralischen Instanz kann sie dennoch unter den Männern wieder aufstehen. In den euphorischen Reden der gierigen Akteure und den klaren Trennungen von Moral und Unmoral zeigt sich deutlich, dass das Theater der Finanzkrise mehr noch als Film und Roman die Leidenschaft des Publikums wecken will. Während sich der Roman diverser Strategien bedient, um die Krise über die Figuren- und Erzählerebene in ihren Ursachen zu erklären und der Film mittels Bildern die Stimmung der Krise einfängt, ist es dem Theater an direkter Empörung gelegen. Laut VON DÜFFEL wird dies sogar vom Theater erwartet: „Ich glaube, die Erwartung an die Bühnen ist groß, sich dazu in irgendeiner Weise zu verhalten oder dem Zuschauer mit diesem Thema ein Forum [zu] bieten, in der er Wut oder Leidenschaft entwickeln kann.“22 Anders als in Film und Roman kann diese Leidenschaft im Theater über die feedback-Schleife empathisch von den Einsatz verzehnfacht. So entsteht das Shiva, so lockt man die Leute. […] Was soll daran schlecht sein?“ John von Düffel: Das Geld. Regie: Tina Lanik. 00:41:51. 18 Ebd., 00:17:53. 19 Ebd., 00:07:34. 20 Ebd., 00:39:04. 21 Ebd., 00:39:40. 22 „Wir sind wie Alkoholiker.“ Interview Zeit Online mit John von Düffel. http://www.zeit. de/kultur/literatur/2009-09/interview-von-dueffel (02.05.2013).
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Akteuren auf die Zuschauer übergehen, sich unter den Zuschauern im kollektiven Erlebnis ausbreiten und durch die entstehende Dynamik zumindest potenziell Einfluss auf das Spiel der Akteure nehmen. Im Theater können auf der realen Bühne und im Zuschauerraum ambivalente Haltungen aufeinanderprallen, die nach VON DÜFFEL in der Natur des Geldes liegen: Wir haben es mit Strukturen zu tun, die teilweise aus menschlichen Impulsen der Gier kommen und andererseits auch in der Natur des Geldes liegen. Hier wird das Theater wieder interessant. Denn die Frage ist eben, wie man das Geld wertet. In der Öffentlichkeit ist die Wertung erstaunlicherweise sehr negativ. Auf der anderen Seite ist [es] sehr begehrt. Da gibt es einen merkwürdigen Widerspruch zwischen dem Materiellen und dem Moralischen. Da würde ich mich selbst gar nicht ausnehmen.23
Wie Gordon Gekko im Film Wall Street spricht sich Saccard explizit für Spekulationen und Gier aus. Auch auf der Bühne scheint diese Rede von den anderen Handlungsdialogen exponiert, indem der Protagonist seine Botschaft mit Pathos in ein Mikrophon spricht und sich – auch – ans Publikum, hier ein face-to-face anwesendes, wendet: Obligationen … Niemals. Obligationen sind tote Materie. Die Spekulation ist ja gerade der Puls, das Herz einer riesen Unternehmung wie der unseren. Sie zieht das Gut herbei, saugt es ein und pumpt es durch alle Adern. Sie beschleunigt den Kreislauf des Geldes und bringt die Geschäfte zum Leben. Denken Sie an die großen Aktiengesellschaften. Was hat man gegen sie gewettert. Wie wurden sie beschimpft als Spielhöllen und Casinos. In Wirklichkeit hätten wir ohne sie weder Eisenbahn noch Fabriken. […] Was soll daran schlecht sein? Caroline, wenn wir Erfolg haben wollen, vergessen Sie diesen Unsinn, diese billigen Vorurteile gegen das Spekulantentum und das Geld! Sie verteufeln die Spekulation, die nichts weiter ist als die Seele, das Feuer dieser Geldmaschine, die mir vorschwebt.24
Und einige Minuten später noch offenkundiger: „Es ist das Eigeninteresse, der Egoismus, die Geilheit und Gier – sie bringen das Notwendige hervor. Der Dreck, Caroline, ist der Humus des Wachstums. Und die Spekulation ist das Vorspiel.“25 Hieraus ergibt sich nach VON DÜFFEL ein ähnliches Paradoxon wie für die filmische Figur des Gordon Gekko: Saccard ist das personifizierte Feindbild eines Gros der Gesellschaft, sein Darsteller leiht quasi der Gier sein Gesicht – und dennoch dient der Protagonist dem Publikum als Identifikationsfläche: „Nicht nur Feindbild, son23 Ebd. 24 John von Düffel: Das Geld. 00:41:00. 25 Ebd., 00:56:03.
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dern auch Held. In gewissen Momenten können wir den Spekulanten beinahe sympathisch finden.“26 Für die Untersuchung der Medienkonkurrenz ist es aber bedeutsam zu konstatieren (wenn auch nicht empirisch belegt), dass die Strahlkraft der Theaterfigur sich kaum über die Performanz hinaus auszubreiten vermag, d. h. sie bleibt meist nur im Verlauf der Aufführung bestehen – dafür aber in sehr intensiver Ausprägung über die leibliche Ko-Präsenz des faszinierenden Bösewichts und des Publikums. Da sich Saccard und die anderen Spekulanten aber auf der Bühne nicht mit Requisiten im realistischen Paradigma umgeben und auch nicht wie in den Banken-Filmen in die faszinierende Kulisse von Luxusbauten und -büros gesetzt sind, bleibt der Wunsch des Zuschauers, aus seinem Alltag in die Außergewöhnlichkeit einzutauchen, hier unbefriedigt. Stattdessen stellt die Bühne im Laufe der Handlung ein immer größer werdendes Chaos dar, welches das unstete, nervöse Innere der Bankengründer und Spekulanten im Trubel der Finanztransaktionen repräsentiert. Laut Saccards Widersacher Gundermann (Michael ABENDROTH) – ein mächtiger Bankier, der nicht in die Universalbank einsteigen wollte – ist Saccard psychisch nicht für die Börse konstituiert, weil er zu emotional sei.27 Tatsächlich bewegt sich sein Darsteller stets unruhig und aufgedreht auf der Bühne, während der Bankier Gundermann abstrakt bleibt, d. h. immer nur auf einer großen Leinwand gezeigt wird, wenn er gottgleich auf die Akteure herunter spricht, und nie als realer Darsteller die Bühne betritt. Er kündigt die Krise an, da die Kurse der Universalbank zu rasant und zu hoch gestiegen seien: „Nach einer Phase der Überhitzung folgt mit mathematischer Sicherheit die Baisse.“28 Das ist auch laut FERGUSON eine der „ewigen Wahrheiten der Finanzgeschichte“,29 die im Stück wiederum der kurzfristig auftretende Sigismund (Milan ZERZAWY), ein Anhänger von Karl MARX, formuliert und als eine Chance begreift. Während Saccard mit einem großen Bullenkopf bekleidet am oberen Ende einer Treppe steht, die ins Nichts führt, doziert der Marxist wie zu Beginn Saccard im Zentrum der erhobenen Rundbühne. Sigismund prognostiziert die Krise, feiert sie als Startschuss der „historisch notwenige[n] Zerstörung unseres kapitalistischen Systems“30 und bezeichnet Saccard als dessen „Wegbereiter“, als seinen „Apostel“.31 Der Marxist bleibt quasi der letzte große Redner des Stücks und behält zudem recht: Nachdem die Aktie der Univer26 „Wir sind wie Alkoholiker.“ Interview Zeit Online mit John von Düffel. http://www. zeit.de/kultur/literatur/2009-09/interview-von-dueffel (02.05.2013). 27 Gundermann: „Um sie zu regieren und um nicht von ihr regiert zu werden, darf man keine Gefühle haben.“ John von Düffel: Das Geld. 01:22:15. 28 Ebd., 01:22:17. 29 Ferguson, N.: Der Aufstieg des Geldes. S. 13. 30 John von Düffel: Das Geld. 02:02:55. 31 Ebd., 02:07:04.
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salbank das Rekordhoch von 3000 erreicht hat, kommt es an der Börse zu Panikverkäufen, dargestellt in den lauten Händlertumulten auf der Bühne und den überall verteilten und von der Decke fallenden Orderzetteln (Abb. 48). Dies formt das dramaturgische Schlussbild, bei dem die Handlung durch die Krise als Peripetie quasi wieder auf die Ausgangslage zurück retardiert ist, wie Pillerault, einer der optimistischen Spekulanten, abschließend bemerkt: „Naja, dann fangen wir morgen eben von vorne an. Von Null.“32 Abb. 48: John von Düffel: Das Geld.
Regie: Tina Lanik. Düsseldorfer Schauspielhaus. UA 12. September 2009 (02:13:52).
Das Theater von VON DÜFFEL/LANIK und auch von WALLNER/ROOS entfaltet seine aufklärerische Kraft in der dramaturgischen Darstellung der Konjunktur und der psychischen Mechanismen der Krise über das Vorführen irrationaler Handlungen, bei DÜFFEL/LANIK in Form wilder Kauf- und Verkaufshandlungen bis zum abschließenden vollständigen Verstummen. Allerdings kann für die beiden untersuchten handlungsbasierten Dramen-Inszenierungen nicht vollständig behauptet werden, das Theater popularisiere hier ein „Elitewissen“.33 Wohl aber versucht es, „nebulöse und angsterregende Wirtschaftspraktiken zu durchleuchten“34 und das Publikum mit den Figuren dieser Mechanismen zu konfrontieren. Weitaus expliziter aber ge32 Ebd., 02:13:55. 33 Vgl.: Schössler, Franziska: Das Theater als Börse, Kaufhaus und Bordell. Das Festival Palast der Projekte. In: Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Hg. v. Franziska Schössler und Christine Bähr. Bielefeld: transcript 2009. S. 99. 34 Ebd.
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schieht dies in der folgenden zu untersuchenden Inszenierung, die ganz offenbar den Versuch unternimmt, „die Zuschauer zu Experten zu machen“.35 Eine solch immense Menge an Expertenwissen, wie es Andres VEIEL in Das Himbeerreich36 (2013) vermittelt, vermag in einer fiktionalen Dramaturgie im primären Medium des Theaters, das anders als der Roman nur mit einer begrenzten Zeit und Aufnahmefähigkeit des Publikums rechnen kann, nur schwer zu vermitteln sein. Vermutlich rückt in VEIELS Stück deshalb die Handlung in den Hintergrund zugunsten dokumentarischer Bekenntnisse von Bankern bzw. Täterfiguren. Die dramatische Rede ist nach wie vor als Bedingung des Theaters vorhanden, aber ihre pragmatische Dimension, mittels Reden Taten zu schaffen, ist hier nahezu aufgelöst: Die Dialoge dienen in den folgenden zu untersuchenden Stücken vielmehr der Reflexion der Krise statt der Darbietung eines handlungsreichen Schauspiels.
„I CH GEB MIR WIRKLICH M ÜHE , DASS MAN MICH VERSTEHT !“ D IE F INANZKRISE IN DER THEATRALEN D EBATTE Das Himbeerreich ist eine Montage von Interviews, die der Regisseur Andres VEIEL mit über zwanzig führenden ehemaligen und aktiven Bankern geführt hat. Dieses umfassende Material schreibt er im Stück selektiert fünf fiktionalen Investmentbanker-Figuren zu, darunter eine Frau (Susanne-Marie WRAGE als Dr. Brigitte Manzinger), die alle neben einem Vorstandsfahrer spielen, der als moralische Instanz fungiert. Somit sind die Figuren in ihrer Kumulation zwar fiktional, nicht aber ihre Aussagen an sich, zu denen laut VEIEL nichts hinzuerfunden wurde.37 Die Schauspieler auf der Bühne wiederum agieren als Platzhalter, als Sprachrohr für die hinter ihren Aussagen stehenden realen Banker-Personen. Gerade vor dem Hintergrund des Wissens um den authentischen Inhalt der von ihnen vorgetragenen Statements entfaltet sich den Zuschauern deren Ungeheuerlichkeit. Aufgrund seiner faktual-inhaltlichen Basis kann das Stück als „Dokumentartheater“ bezeichnet werden, auch wenn es in eine schlichte fiktionale Handlung einge-
35 Ebd. 36 Schauspiel Stuttgart, Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin. Aufzeichnung vom 15. Februar 2013. 37 „Ich habe nichts dazu erfunden. D. h. das, was ich da in den Gesprächen herausbekommen habe, ist zum Teil ungeheuerlicher, und zwar in einer Dimension, was ich mir als Drehbuchautor oder als ein fiktionaler Theaterautor in dieser Weise vorher nicht habe vorstellen können.“ Interview 3Sat Kulturzeit mit Tina Mendelssohn. http://www.3sat.de/ mediathek/index.php?display=5&mode=playset&obj=34256 (25.04.2013).
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bettet ist: Das Himbeerreich – nach einem Zitat von Gudrun ENSSLIN über das Kaufparadies BRD38 – „spielt“ zeitlich vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzkrise und bleibt räumlich ausschließlich in einer Etage. Es ist eine ganz besondere Etage einer großen Bank, eine Art toter Raum für die abgelegten, teilweise bereits gekündigten Investmentbanker. Bis auf drei verloren wirkende Bürostühle ist der weite Raum leer und unbelebt, aber die Figuren scheinen sich nicht von ihm trennen zu können: Wiederholt schweben sie in einem gläsernen Aufzug herein, um sich in ihren Monologen und teilweise auch Dialogen von der Schuld an der Krise freizusprechen, für ihre Überzeugungen einzustehen oder – wie der Konterpart, gespielt von Ulrich MATTHES als Herr Kastein – das Bankensystem und seine Teilnehmer in Form der anderen Figuren anzuklagen. Sie sind ihren Aufgaben entmündigt worden und ihre Existenz in der Bank erfüllt sich nur noch in diesen Sprechakten der Anklage oder Rechtfertigung, in ihren Reflexionen und Enthüllungen über die Mechanismen, die zur Krise geführt haben – während draußen die Gegner des Kapitalismus den Aufstand proben. Um die Frage zu beantworten, warum der bekannte Dokumentar- und Kinofilmregisseur VEIEL das Interview-Material nicht in einem Film verarbeitet, sondern es auf die Bühne bringt, die sich nicht an ein disperses und damit potenziell unbegrenztes Publikum richten kann, ist es wichtig, auf die Brisanz der Reden einzugehen. Diese ergibt sich in der Verschränkung ihrer Inhalte mit dem Wissen, dass hier reale Reflexionen und auch geheime Informationen preisgegeben werden. Face to face wird der Zuschauer mittels Platzhalterfiguren informiert „über die erste Liga der Banker, über ihr Sprechen und Denken, ihre brutale Intelligenz, ihre Geilheit auf Milliardengeschäfte, die Millionen ins Unglück stürzen können, und ihre Gewissensbisse, wenn sie eines Tages selber dran sind.“39 In ihrer Rede tauchen folglich genau jene Themen auf, die auch in den Umsetzungen von Film und Roman im Vordergrund stehen:40 das Abstraktum der Finanzwirtschaft, ihre Sprache, ihre Schuldigen und deren psychische Dimensionen. Das zeigt, dass Kunst an den gleichen wunden Punkten rührt, über die sich auch reale Investmentbanker Gedanken machen – Gedanken, die normalerweise nicht artikuliert werden, da sonst vonseiten der Bank erhebliche Sanktionen drohen.
38 Vgl. den Film: Wer wenn nicht wir. Regie: Andres Veiel, D 2011. 39 Franz
Dobler:
Kettensägensätze.
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buehne-und-
konzert/andres-veiels-himbeerreich-kettensaegensaetze-12022961.html
(03.05.2013).
Hervorhebung durch N.U. 40 Und sie decken sich – wenig überraschend – auch mit den Aussagen der realen Banker in den Interviews, die die Soziologen Honegger, Neckel und Magnin zusammenfassen in: Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt. Hg. v. Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal Magnin. Berlin: Suhrkamp 2010.
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Der erste Punkt der Abstraktheit ist das dominierende Thema der Rede. So wendet sich Frau Dr. Manzinger mit kaltem, dozierendem Ton an das Publikum und versucht, ihre Tätigkeit erst einmal zu erklären: In seiner Abstraktheit sperrt sich das Investmentbanking gegen jede vereinfachende Etikettierung. Unser Banking steht für spektakuläre Unternehmensfusionen, es steht für unseren Beitrag, Unternehmen an die Börse zu bringen und somit Kapital für neue Investitionen zu kreieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Es steht für exzellente Derivat- und andere Wertpapiergeschäfte, die by the way Jahrzehnte lang für gesamtgesellschaftlichen Mehrwert gesorgt haben. Und: Es steht für ein Modell, das in sich utopisch ist.41
Die Brutalität der Banker offenbart sich darin, dass sie in einem System agieren, das sie wohlwissend selbst nicht durchdringen können und in dem sie Krisen als sinnvoll annehmen, ohne Skrupel in Anbetracht der Menschen, die ihr Vermögen verlieren oder vom System ausgebeutet werden: Krisen haben in diesem System nämlich durchaus ihren Sinn. Sie eliminieren beispielsweise überflüssiges Kapital – das ist eine wichtige Voraussetzung für einen Neubeginn. Der Zyklus von schöpferischem Kreieren und nicht weniger schöpferischem Zerstören begleitet uns seit 5000 Jahren.42
Vor dem Publikum tritt Frau Dr. Manzinger folglich mit der Haltung auf, „dieses wunderbare System globaler Freiheit“43 verteidigen zu wollen, ja sie fordert gar auf: „Wir sollten den Mut haben, mehr Kapitalismus zu wagen.“44 Das gespenstisch Wirkende an der Rede ist, dass meist weder die anderen Darsteller noch das Publikum45 mündlich darauf reagieren und sich kaum ein Dialog entfaltet. Eine Erklärung dafür mag wieder in der Natur der Abstraktheit des Finanzsystems liegen: Die Zuschauer als Laien versuchen zu reflektieren und das Gesagte, das quasi direkt aus dem System heraus stammt, mit Verständnis zu durchdringen, was nach Frau Dr. Manzinger aber gar nicht möglich ist: Wir müssen täglich Entscheidungen treffen, die kein Mensch wirklich durchschaut. Vielleicht ein oder zwei Mitarbeiter, die wirklich wissen, was in einem Produkt drinsteckt. Die spezialisieren sich dann auf den Inhalt und darauf, wie sie die Ware für den Kunden verpacken. […] 41 Das Himbeerreich, Regie: Andres Veiel. Schauspiel Stuttgart, Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin. Aufzeichnung vom 15. Februar 2013. 00:04:50. 42 Ebd., 00:06:35. 43 Ebd. 44 Ebd., 00:07:05. 45 In der besuchten Vorstellung vom 26.01.2013 am Schauspiel Stuttgart.
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Ich gehe in eine schwere Verhandlung und weiß, dass ich nichts weiß. Deswegen kann ich mit offenen Situationen sehr gut umgehen, im Gegensatz zu meinen Kollegen, die kleben an ihrem Kleinwissen und haben keinerlei Überblick.46
Entsprechend der „Experten“-Laien-Struktur reagiert darauf allein der Chauffeur (Jürgen HUTH) in einem wütenden Aufschrei gen Publikum,47 der erklärt, warum zwischen Laien und „Experten“ keine Erkenntnis bringende Kommunikation möglich ist: „Ich geb mir wirklich Mühe, dass man mich versteht. Und DIE [deutet auf die Frau] geben sich Mühe, dass man sie nicht versteht! Versteht doch: Die wollen unter sich sein!“48 Im Grunde drückt er damit ein Tabu aus, das besonders für das dramatische, weniger für das postdramatische Theater im Medium des menschlichen Elementarkontakts gilt: Der Akteur selbst, nicht etwa wie im Film die Vertonung, hat dafür zu sorgen, dass das Publikum ihn versteht; dass er seinen Text aus dem Gedächtnis so abruft, dass er in der jeweiligen Handlungskonstellation meist Sinn ergibt.49 Verständnis und Kommunikation scheint folglich nicht möglich zwischen den Platzhaltern vermeintlicher Experten auf der Bühne und dem LaienPublikum, wohl aber in der Konstellation von „Experte“ zu „Experte“: Der Einzige, der versiert auf die Rede der überzeugten Kapitalisten eingehen kann, ist ein Akteur, der als Kritiker des Systems selbst aus diesem stammt. So antwortet Herr Kastein (Ulrich MATTHES) auf die Frage seines ehemaligen Kollegen, was 60 Milliarden seien, mit einem Versuch der Konkretisierung, unter der sich auch das Laienpublikum eine Dimension vor Augen führen kann: „Wenn Sie jede Sekunde einen Euro zum Fenster rauswerfen, Tag und Nacht, Samstag, Sonntag, mit Schaltjahr und ohne. Wann müssen Sie damit beginnen, um auf 60 Milliarden zu kommen? Bei Christi Geburt.“50
46 Das Himbeerreich. 00:16:50. 47 Wie er überhaupt derjenige ist, der das Publikum durch die verschiedenen Teile des Stücks lenkt, indem er die Akte tituliert, z. B. mit „Das große Fest“ oder „Der Deal“. 48 Ebd., 00:20:20. 49 Die spezifische Sprache der Insider auf die Bühne zu bringen, war dabei explizit die Intention des Regisseurs: Andres Veiel: „Es geht darum, die Sprache dieser Welt und dieser Menschen, die ja eine ganz eigentümliche ist, als Ganzes zu belassen und damit auch Momente zu haben, wo man vielleicht etwas nicht sofort versteht, aber gleichzeitig in die Antriebskräfte dieser Menschen hineinschaut – was macht sie zu dem, dass sie über Jahre, Jahrzehnte so eine Arbeit sehr gerne gemacht haben, was treibt sie an?“ In: „Ein schwindelerregender Blick in diese Abgründe“. Interview Jörg Bochow mit Andres Veiel. Diestaatstheaterstuttgart. Das Journal. Nr. 06, Dezember 2012 – Februar 2013. S. 19. 50 Das Himbeerreich. 00:09:07.
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Zweitens stellt das Stück mit den Mitteln, die dem multimedialen Theater zur Verfügung stehen, das Psychogramm der Banker dar, das Intimste, was die realen Interviewten von sich preisgegeben haben. Die Bedeutsamkeit der persönlichen Hintergründe für ein zumindest im Ansatz zu erlangendes Verständnis der jeweiligen Bankerfigur wird hier dadurch angezeigt, dass die Bühne nach dem jeweiligen offenen, direkt ins Publikum gesprochenen Statement abgedunkelt wird. So sitzt etwa Herr Kastein nach seiner Rede still auf der unbeleuchteten Bühne, während aus dem Off eine verzerrte Sprechchor-Stimme von seiner Kindheit berichtet bzw. die vermeintlichen Gedanken der Figur wiedergibt: Ich bin mit Büchern aufgewachsen. […] Mein Vater war Kunsthistoriker. Und konnte nichts wegwerfen. Er hat Texte geschrieben, die mal eine Fachzeitschrift gedruckt hat, mal in einem Ausstellungskatalog sich wiederfanden. Und dafür hat er sich wochenlang eingelesen. In Bibliotheken die Tage verbracht. Am Wochenende durchgearbeitet. Und das alles für einen Lohn, wo ein Fassadenreiniger das Dreifache verdient. Er hat darunter gelitten. Das fehlende Geld war die Währung für eine Nichtanerkennung nicht nur seiner Arbeit, sondern seines gesamten Lebens.51
Die technisch erzeugte Stimme ist hier vom präsentisch anwesenden Körper losgelöst und anders als die durch einen Erzähler vermittelte Sprachlichkeit im Roman oder bei den meisten filmischen Voice-Over-Stimmen bleibt völlig in der Schwebe, wer hier genau spricht. Spricht der Chor tatsächlich für die Vergangenheit von Herrn Kastein oder doch für einen anderen Banker, der sich im Dunkeln der Bühne verbirgt? Steht diese Kindheits-Erfahrung pars pro toto für die psychische Motivation aller Banker, sich gewissenlos nach oben arbeiten zu wollen? Durch die elektroakustische Verzerrung wird hier gar eine „‚Monstrosität‘ der Stimme generiert“,52 mit dem Effekt, dass es dem Zuhörenden – in dem Fall dem Theaterbesucher, der der Aufführung ohnehin „ausgeliefert“ ist, unmöglich wird, sich ihrer Eindringlichkeit zu entziehen. Die Verzerrung generiert einen Aufmerksamkeitsgrad, welcher der unverstärkten und originalen Rede überlegen ist und anders als die Rede im Roman brutal sein kann, ohne bei der Intonation auf die Phantasie des Lesers angewiesen zu sein: Die so bearbeitete Stimme erhält etwas Brutales, Abstoßendes, vielleicht sogar etwas Obszönes, sie zwingt dem Rezipienten in einer solchen Weise jede mögliche Aufmerksamkeit auf,
51 Ebd., 00:11:28. 52 Pinto, Vito: Stimmen auf der Spur. Zur technischen Realisierung der Stimme in Theater, Hörspiel und Film. Bielefeld: transcript 2012. S. 52.
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die für den Zuhörenden bis zur Erschöpfung reicht und zur akustischen Folter werden kann: sie wirkt monströs.53
In diesem Fall versucht die Stimme in übergriffiger Weise, dem Publikum Verständnis für das Verhalten der Banker über den akustischen Sinn einzutrichtern. Doch die Figuren leisten auch direkte Überzeugungsarbeit ans Publikum, wenn sie ihre Charaktereigenschaften wie zum Beispiel Gier rational erklären und rechtfertigen.54 Einer der Männer gibt gleich zu Beginn offen zu: „Ja, das sind kleine Flirts mit Mephisto, keine Frage.“55 Mit diesem mephistophelischen Programm hält er es wie die liberalistischen Anhänger von Adam SMITH, die davon ausgehen, dass eine Regierung, die umgekehrt das Gute will stets das Böse schafft.56 Der gekündigte Aufwiegler Kastein ist neben dem Chauffeur der einzige auf der Bühne, der sich hierüber empört und auch die Empörung des Publikums schüren will. Er konfrontiert es direkt damit, dass es keinen Protest äußert, sondern alle still, wenn auch sicher ob der komplexen Thematik reflektierend, auf ihren Stühlen sitzen bleiben. Wie ein Aktivist der Occupy-Bewegung, die laut Figurenbericht draußen vor dem Bankgebäude tobt, erklärt er dem Publikum fern aller Abstraktheit die konkreten Auswirkungen der Krise: Eine gigantische Umverteilungsmaschine. […] Und wie kommen die raus aus diesen Millionen von Schulden? Inflation. Und wen trifft es? Die, die keine Häuser haben, keine Goldbarren im Safe, den kleinen Sparer, der sein Vermögen verliert. Wozu führt das? Gigantische Rezession.57
An seine klaren Worte anschließend fragt er das Publikum brüllend und energisch gestikulierend: „Warum wird da keiner wütend?“58 Weil ihm die Zuschauer die Antwort schuldig bleiben, zieht er fassungslos die Schultern hoch, verständnislos, dass keine Reaktion kommt. Und fügt etwas später hinzu: „Wir [zeigt mit kleiner Fingergeste eine Runde] sind alle nur noch Geister.“59 Eine derart direkte Konfrontation der Kunstrezipienten mit gesellschaftspolitischen Problemlagen bleibt allein dem Theater vorbehalten. Wobei Frau Dr. Manzinger das Publikum bereits zu Be53 Ebd., S. 58. 54 „Gier ist mehr als Habgier und Habsucht. Denken Sie an Begriffe wie Neugier. Begierde. Begehrlichkeit. Gier kann durchaus etwas sehr Sinnstiftendes und Anregendes haben.“ Das Himbeerreich. 00:09:33. 55 Ebd., 00:08:32. 56 Vgl.: Vogl, J.: Das Gespenst des Kapitals. S. 40. 57 Das Himbeerreich. 00:55:15. 58 Ebd., 00:55:54. 59 Ebd., 01:15:45.
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ginn darüber aufgeklärt hatte, dass Empörung eine rein neurologische Stimulierung der Zuschauergehirne sei – nichts weiter: Aber was ist Empörung? [Schaut die Antwort kurz abwartend ins Publikum.] Emotionalität. Und was ist Emotionalität? Ein morphologisches Korrelat. Die Ausschüttung von Nervenzellen in ganz bestimmten Hirnregionen. Wenn ich einen spezifischen Bereich in Ihrem Gehirn stimuliere, dann fangen Sie plötzlich an zu weinen, echte Tränen schießen Ihnen in die Augen. Aber ist das dann auch ein echtes Gefühl? Es ist die Reaktion auf zahlreiche Einflüsse, die wir im täglichen Leben nicht definieren, und nur unzureichend voneinander unterscheiden können, und deswegen nennen wir es Emotionalität. Im Kern heißt das aber: Wir haben keinen freien Willen. […] Und wenn der Mensch nur die Marionette dieser Einflussmöglichkeiten ist, dann erübrigen sich die Begriffe Freiheit und Verantwortlichkeit.60
Indem sie dem Menschen den freien Willen abspricht, weist Frau Dr. Manzinger jegliche Schuld von sich und ihren Kollegen und eröffnet damit eine Front gegen die vor dem Bankgebäude auflaufende Masse, die den Bankern sehr wohl die Verantwortlichkeit an der Krise zuschreibt. Im letzten Kapitel „Der große Regen“ muss das Bankengebäude evakuiert werden und die Banker tarnen sich mit Jogginganzügen, um in der wütenden Masse untergehen zu können. Dies kann als Gleichnis gesehen werden für die realen Investmentbanker, deren Interview-Aussagen hinter den theatralen Figuren stehen. Resümierend haben sie sich darin als skrupellos, gierig und wohlwissend unwissend offenbart und teilweise auch ihre Psyche offengelegt. Sie rechnen mit Empörung. Dies führt zur Beantwortung der Frage der Medienkonkurrenz, warum der Regisseur aus diesem realen Fundus ein Theaterstück mit fiktionalen Platzhalterfiguren kreiert hat und nicht etwa einen Dokumentarfilm: „Ich hätte ja gerne einen Film gemacht. Dafür brauche ich aber Menschen, die den Mut haben, mit dem, was sie zu sagen haben, vor eine Kamera zu treten. […] Keiner der Banker war bereit, vor einer Kamera zu sprechen.“61 Das Theater sei der richtige Ort, weil die Interviewten hier anonymisiert werden können. Doch inwiefern grenzen sich die Möglichkeiten des Theaters hier von einem Spielfilm ab, in dem die Montage der ungeschönten Interviews ebenfalls im Schauspiel hätte anonymisiert werden können? Hierzu spricht VEIEL eine thematische Besonderheit an, die sich auch in der vorliegenden Untersuchung der Werke der gesellschaftspolitischen Dimension als ein hervorstechendes Analyseergebnis herauskristallisiert hat:
60 Ebd., 00:27:27. 61 Interview 3Sat Kulturzeit mit Tina Mendelssohn. http://www.3sat.de/mediathek/index. php?display=5&mode=playset&obj=34256 (25.04.2013).
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das Abstraktum der Finanzwirtschaft bzw. ihrer Krise und die „Sperrigkeit“62 des Stoffs, die daraus hervorgeht. Es sei schwer, für dieses Thema Bilder zu finden, abgesehen von der üblichen Ikonographie, die auch die obige Filmanalyse herausgestellt hat: „Banken von innen, Banken von außen, Menschen die eine Jacht haben, Menschen die Golf spielen, Menschen die sich in ihren Bugatti reinsetzen.“63 All diese Bilder können aber die Finanzströme nicht erklären, sondern visualisieren lediglich den Luxus, der für einige wenige Banker, Spekulanten und Investoren aus den Transaktionen resultiert. Das Theater aber kann sich in der Spärlichkeit seiner Kulisse tatsächlich mittels mündlicher Auseinandersetzung der Abstraktheit der Thematik annähern und somit versuchen, ihrem Kern näherzukommen. Die Einfachheit des Theaters vermag es, eine größtmögliche Komplexität herzustellen. Und: Das Publikum kann darauf nicht nicht reagieren, selbst wenn es schweigt. Zweitens ist die Geschlossenheit des Theaterraums für die Konzentration auf solch abstrakte Themen förderlich: Das Ereignis der Performanz bleibt einmalig auf die Anwesenden in diesem Raum beschränkt, zu denen nichts nach innen dringen kann. Eine Theateraufführung lässt sich in der genuinen Form nicht wiederholen oder im Ablauf stoppen wie bei der Wiedergabe einer DVD. Sie kann folglich nicht nur mit der physischen Präsenz der Zuschauer spielen, sondern auch mit deren ungeteilter geistiger Präsenz rechnen. Kurz: Es ist davon auszugehen, dass Theaterzuschauer in besonderem Maße aufmerksam auf den Stoff der Makrokrise und deren Mikrostrukturen reagieren. Das führt zu einem weiteren Punkt der Medienkonkurrenz, den auch VEIEL betont: Im Theater besteht anders als vor allem im Mainstream-Kino die Möglichkeit der Zumutung. Erstens hat der Zuschauer keinen unbeachtlichen Preis für das Spektakel bezahlt und zweitens will er in der Regel mit seinem Verlassen des Raums keine zweite Bühne eröffnen, d. h. die Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen. Außerdem hat es ein Theaterregisseur meist per se mit einem Publikum zu tun, das keine seichte Unterhaltung erwartet, sondern gewillt und gewohnt ist, sich mit komplexen Stoffen und Darstellungsformen auseinanderzusetzen. Der Fakt, dass das Theaterpublikum in besonderem Maße belastbar ist, zeigt sich auch immer wieder in den Zumutungen, denen die Zuschauer – oder in der folgenden zu untersuchenden Inszenierung treffender: Besucher – in JELINEKS Stücken ausgesetzt sind. Auch hier haben wir es mit einem Stück zu tun, das auf meist nichtfiktionaler Basis eine theatrale Debatte über die Finanzkrise darstellt und evoziert. Die besondere Zumutung des JELINEKSCHEN Theaters besteht in der Inszenierung
62 „Ein schwindelerregender Blick in diese Abgründe“. Interview Jörg Bochow mit Andres Veiel. Diestaatstheaterstuttgart. Das Journal. Nr. 06, Dezember 2012 – Februar 2013. S. 18. 63 Ebd.
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von Nicolas STEMANN64 zusätzlich darin, dass dem Zuschauer eine Schuld zugeschoben wird. Hier wird realisiert, was keiner von VEIELS Bankern tun wollte: vor der Kamera die eigene Schuld einzugestehen. Die Inszenierung von 2009 am Thalia Theater Hamburg, übertragen im Fernsehen auf 3Sat, verdeutlicht auf allen Ebenen die Gleichwertigkeit der Schuld aller an der Krise Beteiligten. Inhaltlich treffen sich die frustrierten Anleger und die Banker nach dem Platzen der Blase. Die Gier der einen nach wachsender Rendite entspricht dem pleonexischen Selbstverständnis des Bankenwesens nach maximalem Umsatz.65 Auf der Ebene der Performanz wird das Theater (von der Bühne über den Zuschauerraum bis ins mit einbezogene Foyer) von gleichrangig auftretenden Schuldigen bevölkert: Auf der Bühne sind sowohl Schauspieler als auch Techniker und auch der Regisseur anwesend, sie bewegen sich frei im Publikum wie sich umgekehrt die Zuschauer im Theatergebäude und darüber hinaus frei bewegen und zurückkehren können und damit das Live-Erlebnis für sich selbst steuern können. Die fast vierstündige Premiere wird von STEMANN selbst anmoderiert, der die Eckdaten des Spektakels erklärt, wobei deutlich wird, dass die Inszenierung die spezifischen gestaltungsästhetischen Potenziale des Theaters im Vergleich zum Kinofilm voll ausschöpfen wird: Es ist eine Premiere. Wir haben dieses Stück zwar schon einige Male gespielt […]. Dieses Stück ist jeden Abend anders und deswegen ist jeden Abend, wenn dieses Stück gespielt wird, auch gleichzeitig die Premiere des Stückes. Und nicht nur ist es die Premiere eines Stückes, sondern eines Stückes, das immer wieder ein bisschen anders ist, auch vom Text her, was aber der Einfachheit halber nach wie vor „Die Kontrakte des Kaufmanns“ heißt. Wir wissen auch nicht so ganz genau, wie lang es wird.66
Als Richtwert kann sich das Publikum über den Verlauf des Stücks mittels eines Countdowns in Form einer elektronischen Anzeigentafel auf der Bühne orientieren. STEMANN erklärt, dass das Skript 100 Seiten hat und der Countdown entsprechend des im wahrsten Sinne des Wortes abgearbeiteten Texts dem Ende des Stücks entgegenläuft. Hierdurch wird in dieser Inszenierung der Text selbst, d. h. als linearsprachliches Medium, zum Körper, zum Requisit auf der Bühne: Die Akteure lesen ihn von eben jenen 100 Blättern ab, die jeweils nach ihrer mündlichen Aufführung 64 Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie. Regie: Nicolas Stemann. Koproduktion des Thalia Theater mit dem Schauspiel Köln. Übertragung in 3Sat. Premiere im Thalia Theater am 2. Oktober 2009. 65 http://www.rowohlt-theaterverlag.de/stueck/Die_Kontrakte_des_Kaufmanns.2769478. html (30.04.2013). 66 Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Regie: Nicolas Stemann. 00:01:32.
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auf den Boden geworfen werden, bis die Bühne mehr und mehr übersät ist von Blättern, die an die toxischen Papiere auf dem Börsenparkett erinnern. Der literarische Text im schriftsprachlichen Medium wird im Ablesen der Akteure vor den Augen aller Beteiligten in die theatrale Mündlichkeit transformiert, um sich dann einerseits zurückzuverwandeln in seine vorige mediale Materialität und andererseits als Signifikant in die Bühnenrealität einzutreten. Als Requisit im Wortsinne von „Requirere“ für etwas „verlangen“ für ein „Objekt des Bedarfs und […] des Begehrens“67 dient das Textblatt somit auf einer zweiten Ebene als Signifikant für das übergeordnete Thema des Stücks: Geld in Form von Papieren, die keinen Wert mehr haben – Wegwerfpapiere. Das Textblatt auf der Bühne ist nicht bloß ein Textblatt, sondern es spielt erstens ein Textblatt (das erforderlich ist, weil der JELINEKSCHE Text die realen Akteure überfordert) und es spielt zweitens als Zeichen eines Zeichens ein toxisches Papier. Das Spektakel beginnt folglich scheinbar harmlos mit einem älteren Paar (Therese DÜRRENBERGER und Ralf HARSTER), das auf einem mit Schutzfolie überzogenen Sofa sitzt und die ersten Blätter liest und vor sich niederwirft. Sie markieren zu Beginn des Stücks eine fiktionale Dramenhandlung, in der sie sich als Teil einer Gemeinschaft von Kleinanlegern präsentieren, deren Geld nun weg ist, so dass ihnen kommentarlos die Möbel unter dem Hintern weggepfändet werden. Ab diesem Zeitpunkt ist die Bühne aber kein fiktionaler Handlungsraum mehr, sondern wird wieder zum Theaterbau, auf dem sich statt eines Schauspiels ein Spektakel um die Bankenkrise und ihre sprachliche und visuelle Sezierung ereignet. Während die Debatte und Reflexion der Krise bei VEIEL zumindest in einer Art von fiktionaler Rahmenhandlung situiert ist, zerstört die Inszenierung von STEMANN gleich nach der ersten Szene die Illusion – simultan mit der Zerstörung der Illusionen der beiden Kleinanleger –, dass ein Stück von JELINEK als Dramenhandlung erzählt werden könne. Stattdessen ergreift ein Chor die Macht, der zunächst wie ein Geheimbund an einem Tisch sitzt und flüsternd von den Textblättern abliest, wobei er schließlich die Lautstärke erhöht und die beiden Alten übertönt: „Die Krise breitet sich also aus und erfasst alle Segmente des Finanzmarkts, für dessen Gewinner wir uns hielten.“68 Die Seniorenanleger werden abgeführt und auf Stühle gehoben, auf denen sie zitternd und zur Tatenlosigkeit verdammt in sich zusammenfallen. Von diesem Moment an tritt der Chor in den Vordergrund, bestehend aus den Darstellern Franziska HARTMANN, Maria SCHRADER, Patrycia ZIOLKOWSKA, Daniel LOM-
67 Fliedl, Konstanze: Bühnendinge. Elfriede Jelineks Requisiten. In: Ökonomie im Theater der Gegenwart. Ästhetik, Produktion, Institution. Hg. v. Franziska Schössler und Christine Bähr. Bielefeld: transcript 2009. S. 313. 68 Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Regie: Nicolas Stemann. 00:16:58.
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und Sebastian RUDOLPH. Er steigert sich in ein ominöses Nichts hinein69, bis es zur „Publikums-Anschreiung“ aus voller Kehle kommt,70 die für die Akteure wie für die Zuschauer schon zu Beginn eine Zumutung bedeutet, bis erstere wütend ihre Textblätter auf den Boden knallen – eine körperliche Leistung des inflationären Schreiens ist abgeschlossen, welche das Publikum aber mit starkem Beifall kommentiert. Die lautstark inszenierte Entäußerung korreliert mit der inhaltlichen Klassifizierung von JELINEKS Texten als abject art: Die Sprache wird im poetischen Akt des – wie JELINEK selbst es nennt – „Auskotzens“71 wie ein abjektes Material behandelt. Ihr Text nimmt keine Position ein – Kleinanleger und Banker vermischen sich im Chor der Engel und Greise –, sondern debattiert die Krise über die Dekonstruktion ihrer Sprache: „jedes Wort ist bereits angesteckt, angeschimmelt, toxisch.“72 Die Rede knüpft sich auf wie eine assoziative potenziell unendlich lange Kette, in der zwischendurch der Faden verloren geht. Ein zerstreutes „Was wollte ich sagen?“ zieht sich durch den Text und mündet in einen Zustand der sprachlichen Erschöpfung, ohne aber je ausgeschöpft zu sein: „Uff. Ich fürchte, das werden wir mit ganz anderen Worten noch einmal ganz anders sagen müssen. Man sieht, es gebricht uns nicht an Stoff zum Reden, sind wir ungeübt mit Worten auch.“73 Die sprachlichen Assoziationen spiegeln die fatalen Verknüpfungen der Finanzströme, deren Sinn immer zielgerichtet bleibt, sich letztlich aber weder als finanzieller Ertrag noch als ein über das Medium der Sprache vermittelter Sinn erfüllt:
MATZSCH
Sie suchen nach Inhalten?, bitte, hier in ihrem Portefeuille haben Sie jetzt die Inhalte, aber sie enthalten nichts, doch Ihr Portefeuille enthält sie, das hält sie, aber es sucht, es ist ein Suchendes, Ihr Portefeuille, der kleine Teufel, nicht wahr, es ist ein Sinnsucher, ihr Geld, Sie haben ihm das beigebracht, und jetzt suchen Sie, geldentleert wie Sie sind, wenigstens nach einem Sinn darin, ja, Ihr Geld sucht nach einem Sinn, aber nicht bei Ihnen, einen Sinn, den es in sich nicht finden kann […] der Sinn mußte ihm zugeraunt werden, denn Immo-Papiere dürfen in keinem Portefeuille fehlen, das haben wir Ihnen doch die ganze Zeit schon gesagt, so-
69 „Es muss jemanden geben, für den es sich ausgezahlt hat. Das Nichts, das erst das Nichts auszahlen muss und dessen Forderungen und die Forderungen des Nichts an uns sind nicht Nichts. Die sind nicht ohne. Die sind nicht ohne Zinsen.“ Ebd., 00:21:37. 70 Ebd., 00:26:29. 71 Vgl.: Fliedl, K.: Bühnendinge. In: Ökonomie im Theater der Gegenwart. Hg. v. F. Schössler und Ch. Bähr. S. 322f. 72 Ebd. S. 323. 73 Jelinek, Elfriede: Drei Theaterstücke. Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009. S. 300.
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gar im Fernsehen, schon als Sie auf Ihr armes kleines, unschuldiges Sparschwein einprügelten […], wir haben auf Sie wie ein krankes Pferd eingeredet […]74
Die JELINEK’SCHEN Sprachverknüpfungen entsprechen genau jener Erwartungserwartung, die VOGL am Finanzmarkt feststellt,75 doch es sind immer nur sich im nächsten Moment wieder verbrauchende Informationen verfügbar und abgesehen vom Ziel der Geldvermehrung schon gar kein Sinn. Somit ist die Intransparenz der Sprache bei JELINEK ein Spiegel der Intransparenz der Märkte, die auf der Theaterbühne vorgeführt und auch zur Debatte gestellt wird. Die Finanzwelt wird in ihrer Unzugänglichkeit präsentiert und das JELINEK’SCHE Theater vermag es einzigartig, ihre Virtualität zu vergegenwärtigen; anders als der Film, der die abstrakten Finanzströme in einen dramaturgischen Handlungsverlauf einspeist, um eine Illusion von Transparenz zu schaffen.76 In der Ikonographie des Filmbilds ist die Finanzwelt scheinbar zugänglich, und auch der Roman suggeriert auf der sprachlichen Ebene, man könne sich ein Bild vom ökonomischen Abstraktum machen. Während die hier üblichen Metaphern wie „Spekulationsblase“ oder „Finanz-Tsunami“ und „Finanzspritze“ ein „kommunizierbares Narrativ“77 schaffen, indem sie auf bekannte Diskurse referieren, seziert der Sprachkosmos von JELINEK die Metaphern und Sprachwendungen, indem ihre Signifikanten wieder wörtlich genommen und damit ad absurdum geführt werden. Das Herunterstufen der Wertpapiere wird etwa rückbezogen auf die Treppenstufe, die beim Herunterstufen verfehlt wird, so dass sie „stürzen und stürzen, ach!“ und die Anleger haben nicht nur falsch gesetzt, sondern sich falsch gesetzt: „wir hätten uns selber draufsetzen sollen, bevor sie fielen, bevor wir fielen, aber wir haben anders gesetzt, wir sind anders gesessen, wir sind gar nicht gesessen, wir hatten nicht Sitz und nicht Stimme […].“78 Das sprachliche Wirrsal, die Missverständnisse und die Vertuschungen durch Metaphern werden hier als Ursache der Krise ausgemacht: „[…] wir haben Ihnen etwas versprochen, das wir gar nicht haben versprechen können, Entschuldigung, wir haben uns versprochen!“79 Die Finanzkrise wird hier folglich als Repräsentationskrise der Sprache präsentiert, doch darüber hinaus auch als Krise der ikonographischen Repräsentation. Das Geld der Anleger ist kurzgesagt weg, es weilt auf ei74 Ebd., S. 281. 75 Vgl. z. B.: Vogl, J.: Das Gespenst des Kapitals. S. 155. 76 Vgl.: Burgdorf, Anna: Virtualität und Fiktionalität – Überlegungen zur Finanzwelt als ‚Vorstellungsraum‘. In: Finanzen und Fiktionen. Grenzgänge zwischen Literatur und Wirtschaft. Hg. v. Christine Künzel und Dirk Hempel. Frankfurt/Main, New York: Campus 2011. S. 107. 77 Ebd. 78 Jelinek, E.: Drei Theaterstücke. S. 218. 79 Ebd., S. 235.
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ner Insel und die Investoren können sich lediglich „davon überzeugen, daß es ihm gutgeht, Ihrem Geld, besser als bei Ihnen, denn bei uns hat es Freunde, Spiel, Sport und Spaß auf der Insel […].“80 Diese Personifikation des Geldes wird in der Inszenierung von STEMANN als winziger Punkt auf einen Flipchart gezeichnet (Abb. 49), der mit der Perspektive der Zuschauer im Theater spielt, die wiederum der Perspektive der Anleger auf „ihr“ Geld entspricht: Sie können es schlicht nicht sehen, was dagegen den Banken – repräsentiert durch die Akteure, die den kleinen schwarzen Punkt zeichnen – keine Sorgen bereitet: „Also die Ohren sind nicht so richtig, aber das macht ja nichts, man kann es erkennen.“81 Abb. 49: Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns.
Regie: Nicolas Stemann (01:21:23).
Es gibt nur die Möglichkeit der sprachlichen Explikation der enormen Summe des auf der Insel verweilenden Geldes: „Wir können es aber auch laut sagen: Macht summa summarum die Summe von 160 Millionen.“82 Da es hierdurch jedoch noch immer nicht zu erfassen ist, wendet sich die Performanz der materiellen Seite des Geldes zu. Die Tafel wird mit Farbe bespritzt, auf die einer der Akteure Geldscheine klebt und in Ekstase gerät, wobei er mehrfach wiederholt: „Es ist so geil, das Geld!“83 Die Erregung, die es auslöst, wird gleichgesetzt mit der Erregung durch die männliche Beschmutzung der Frau, die – ikonographisch stark an das Theater
80 Ebd., S. 262. 81 Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Regie: Nicolas Stemann. 01:21:19. 82 Ebd., 01:24:42. 83 Ebd., 01:27:51.
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von NITSCH erinnernd – am Flipchart gekreuzigt und mit Farbe bespritzt wird (Abb. 50) mit der Kommentierung: „Das ist auch geil!“84 Abb. 50: Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns.
Regie: Nicolas Stemann (01:28:18).
Neben der Performanz des Action Paintings bemüht die Inszenierung zwei weitere Versuche, das Geld nicht nur als Signifikant, sondern auch als Signifikat in Erscheinung treten zu lassen. Erstens geschieht dies dadurch, dass sein Zeichen, d. h. sein Signifikant als Geldschein, schlichtweg aufgegessen wird. Franziska HARTMANN isst unkontrolliert und gierig große Geldscheine und verarbeitet es damit zu seiner ursprünglichen Substanzlosigkeit85 – das Zeichen selbst ist wertlos, sein Signifikat dagegen erhält den Wert erst in Korrelation zu „den realen Gütern (bzw. Dienstleistungen)“.86 Zweitens wird ein vermeintlicher Zaubertrick aufgeführt, der dem Publikum selbst an die Geldbörse geht und ihm schließlich vor Augen hält, wie die Banken das Geld der Anleger in den globalen Geldmarkt einspeisen, so dass keiner mehr weiß, wo sein Geld sich befindet.87 Der Trick spielt mit der Verlockung jedes Einzelnen, dem Ruf „Lassen Sie ihr Geld arbeiten“ zu folgen, während das Publikum selbst untätig herumsitzt: Daniel LOMMATZSCH fällt vorgeblich auf, dass 84 Ebd., 01:28:18. 85 „[…] wir haben uns an Ihrem Geld vollgefressen, doch überessen kann man sich ja gar nicht, es ist nie genug, und es war ja für einen guten Zweck, es war ein Wohltätigkeitsdinner […].“ Jelinek, E.: Drei Theaterstücke. S. 275. 86 Hörisch, J.: Gott, Geld, Medien. S. 16. 87 Vgl. den Dokumentarfilm Let’s Make Money. Regie: Erwin Wagenhofer, AT 2008.
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einem Herrn im Publikum langweilig ist und möchte ihn mit einem Trick unterhalten, den ihm sein Berater auf der Bank gezeigt habe. LOMMATZSCH gibt vor, Geld verdoppeln zu können88 und fragt die Zuschauer nach einem Geldschein „je nachdem, wie viel Sie verdienen wollen.“89 Nach langer Überredungskunst bekommt er einen echten 20-Euro-Schein aus dem Publikum, den er verbrennt, um ihn angeblich zu verdoppeln. Danach zeigt er auf den Mann und gibt vor: „Es müsste jetzt ein 50-Euro-Schein bei Ihnen in der Tasche sein.“90 Nachdem dieser keinen solchen in seiner Tasche findet, gibt LOMMATZSCH an, dass der vermehrte Geldschein dann in der Tasche eines anderen gelandet sein müsse, der diesen bitte zurückgeben solle. Dem Zuschauer als Kunden wurde das Geld regelrecht aus der Tasche gezogen, um es in einen unabschließbaren Kredit-Kreislauf einzuspeisen.91 Der KreditKreislauf92 bleibt in dieser Performanz zwar trotzdem gemäß seiner essenzlosen Natur abstrakt und undurchschaubar,93 doch bekommen die Zuschauer ihn im Theater einzigartig in Abgrenzung zur Narration im Roman oder zur Darstellung im Film in der Situation als Beteiligte statt nur Rezipienten genuin zu spüren. Ebenso direktperformativ wird der Zuschauer als Teil des interaktiven Kreislaufs zwischen Banken und Anlegern als Schuldner und damit als „schuldig“ ausgewiesen:94 Eine Kamerafrau begibt sich ins Publikum und trägt einen Schein, vermutlich ein Zertifikat, mit sich, auf dem groß SCHULDIG steht. Die einzelnen Zuschauer halten ihn sich unter das Gesicht; ein Bild (Abb. 51), das simultan auf die 88 Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Regie: Nicolas Stemann. 02:17:31. 89 Ebd., 02:23:10. 90 Ebd., 02:27:05. 91 Vgl.: Schnaas, D.: Kleine Kulturgeschichte des Geldes. S. 17. 92 „Also es wandert jetzt, das Geld, gut, es wandert, kommt aber nirgends an, weil es wie im Nebel im Kreis läuft, immer ringsherum, rundherum, und jedesmal wird es weniger, das eine Geld geht schon mal los, nicht wahr, um das Geld des nächsten, das auch seinen Fitness-Sport machen möchte, zu bezahlen […].“ Jelinek, E.: Drei Theaterstücke. S. 305. „Das eine Geld ist gleichzeitig das andre, denn das andre hat es ja mit sich selbst gekauft, es ist Gott, es ist, was es ist, Reiche können stürzen, Reiche fallen, es trifft sogar Reiche, es trifft sogar Steinreiche, und die fallen dann, da kann was nicht stimmen, doch, das stimmt schon, das eine Geld zahlt für das andre, weil es sich, immer im Kreis herumgeschickt, nichts mehr für sich kaufen kann. Das eine Geld, das einem schon nicht mehr gehört, wurde mit dem andren Geld bezahlt, das noch jemandem gehört, wehe, er verlangt es zurück!“ Ebd., S. 306f. 93 „Das Geld hat es nie gegeben, das Geld hat es nur solange gegeben, wie wir es Ihnen gegeben haben, ach, ich weiß nicht, ich verstehe es, aber ich weiß nicht, ich weiß nicht! Blödsinn!“ Ebd., S. 305. 94 „Und unschuldig ist hier niemand.“ Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Regie: Nicolas Stemann. 02:34:38.
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große Leinwand übertragen wird, so dass das Publikum seiner eigenen Schuld an der Krise ins Auge blicken kann. Abb. 51: Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns.
Regie: Nicolas Stemann (03:24:18).
Gleichzeitig wird die Performanz auf der Bühne fortgesetzt, in der sich der Chor über diese Opferlämmer austauscht: „AD. Alt und doof. Das sind die Worte, die die Bank für Menschen wie Sie erfand. Für die Opferlämmer.“95 In dieser Verarbeitung der Krise in der postdramatischen Inszenierung scheint das Potenzial des Theaters auf, das Publikum durch einen polemischen und vielschichtigen Text und durch das Ausspielen der Ko-Präsenz zum Denken anzuregen, d. h. keiner der Anwesenden kann sich der Thematik der Finanzkrise und den Anschuldigungen entziehen. Dass Denken im Sinne von BRECHT auch Veränderung bedeutet, wird aber vor allem in den beiden folgenden zu analysierenden Inszenierungen umgesetzt. Während in Die Kontrakte des Kaufmanns ein reflexiver, das Abstruse enttarnender Geist weht, der
95 Ebd., 03:25:11. Verachtung haben auch die real interviewten Banker der soziologischen Studie von Honegger et al. für die Gier der unteren Schichten übrig, aus der sie vielfach selbst stammen: „Ein Volk von Zockern!“, heißt es in einem der Interviews, es ließe seinen „niedrigen Instinkten freien Lauf“ in der Welt der modernen Finanzprodukte. Czingon, Claudia; Neckel, Sighard: „Ein Volk von Zockern!“ Franz Sobolek (geb. 1963), Ressortleiter Treasury Sales. In: Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Hg. v. C. Honegger, S. Neckel und Ch. Magnin. S. 97.
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als einzigen Ausweg den kollektiven Selbstmord sieht,96 ist es bei Falk RICHTER und Lutz HÜBNER ein revolutionärer.
„W ILLST DU MEHR SEIN ALS S TAUB , S AND , D RECK ?“ D AS T HEATER DES AUFSTANDS Die Inszenierung Büchner von Falk RICHTER (Düsseldorfer Schauspielhaus 2012) stellt ein Mixtum compositum aus Fiktion und theatraler Aufwiegelung der Akteure und des Publikums vor dem Hintergrund der aktuellen Europakrise dar. RICHTER verdichtet die literarischen Texte von Georg BÜCHNER – Lenz (1835), Woyzeck (1837, Dramenfragment), Dantons Tod (1835) und Der Hessische Landbote (Flugschrift 1834) – und vermischt sie mit zeitgenössischen revolutionären Passagen zu einem politisch-aktuellen Pamphlet. Die Akteure stellen somit einerseits Figuren aus dem literarischen Kosmos BÜCHNERS dar, andererseits fungieren sie als Repräsentanten von politischen Protestbewegungen wie Occupy und Die Empörten. Sie stehen im alten Geist von BÜCHNERS „Wutdichtung“ in den 1830er Jahren, die der Märzrevolution von 1848 vorausging, in der das liberale besitzlose Bürgertum gegen die absolutistischen Herrschaftsstrukturen protestierte. Die Inszenierung RICHTERS steht in der theatralen Form ganz in der Tradition BÜCHNERS, Kunst und soziale Wirklichkeit in Form von Agitation, Engagement und politischer Verantwortung zu verbinden.97 Die Inszenierung beginnt mit einem dunklen Raum, in dem sich die Theaterbühne zu mystischen Klängen erst noch zu einem Schauplatz der Revolution formieren muss: Wie eine überdimensionale bedrohliche Maschine dreht sich die Bühne vor den Augen des Publikums zurecht, um dann eine Art Spielfläche, zunächst ganz ohne Requisiten, zu bilden.98 Auf ihr rennt ein Mann – Thomas WODIANKA als Woyzeck – hin und her und ordnet hektisch und mechanisch grüne Plastikstühle auf der Fläche an. Im Hintergrund läuft eine rasende digitale Uhr, die ihn zu „verhetzen“ scheint, während sich der Hauptmann wie ein Moderator vorne am Bühnenrand über ihn lustig macht: „Langsam, Woyzeck, langsam; eins nach dem andern!“, und: „Er ist dumm, ganz abscheulich dumm! Woyzeck, Er ist ein guter Mensch –
96 Bühnentauglich inszeniert, indem die Akteure ihren Kopf auf die Schienen einer ModellEisenbahn legen, die im Kreis fährt. Im Abschlussbild stehen sie gar über das Nichts philosophierend vor einer Projektion von überdimensional großen Schienen. In dem Moment, in dem der Zug eintrifft und sie erfassen wird, springt die digitale Anzeigentafel auf Null und das Licht erlischt. 97 Vgl.: http://www.falkrichter.com/logic/article.php?cat=11&id=20075 (25.04.2013). 98 Büchner. Regie: Falk Richter. Düsseldorfer Schauspielhaus. UA 20.10.2012. 00:05:03.
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aber Woyzeck, Er hat keine Moral!“99 Eine Frau auf der Bühne lacht ihn provozierend aus und stellt dann die Leitfrage des Stücks, welche nicht nur Woyzecks Aufbegehren, sondern das aller Akteure begründet: „Willst du mehr sein als Staub, Sand, Dreck?“100 Woyzeck steht für den „verhetzten“ Zeitgeist, in den der Marktschreier in seiner Ansprache an das Publikum alle miteinbezieht, die sich nicht dagegen auflehnen: Meine Herren, meine Herren – sehen Sie hier die Kreatur wie Gott sie geschaffen hat: einsam, verhetzt, überfordert ohne Halt – und sehen Sie jetzt die Kunst: macht einfach weiter, immer weiter ohne Rücksicht auf Verluste, schindet sich, windet sich, will allen alles Recht machen, bricht lieber zusammen als jemals eine Pause einzulegen, HAT ANGST ABZUSTÜRZEN, HAT ANGST, NICHT MEHR MITZUHALTEN, MACHT IMMER WEITER UND WEITER UND WEITER, BEGEHRT NIE AUF, WEHRT SICH NICHT, SAGT IMMER JA, JAWOHL, NIE NEIN, NIE ICH WILL NICHT, sagt nie STOP, AUFHÖREN ICH KANN NICHT MEHR.101
Die Leinwand im Hintergrund zeigt an, dass ein Umdenken erforderlich ist: Vor schwarzem Hintergrund bilden sich Zeichnungen von Gehirnen ab, die sich transformieren und verschwinden, um sich wieder neu zu bilden (Abb. 52).102 Abb. 52: Büchner.
Regie: Falk Richter. Düsseldorfer Schauspielhaus. UA 20.10.2012 (00:18:52). 99 Ebd., 00:09:05. 100 Ebd., 00:16:29. 101 Ebd., 00:15:00. 102 Ebd., 00:18:52.
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Das unermüdliche Stühle-Rücken Woyzecks steht für den problematischen verhetzten Zeitgeist mit einerseits der Darstellung der Stupidität dieser Tätigkeit als Problematisierung der Unterforderung (z. B. bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im Zuge von Arbeitslosigkeit) und andererseits der Überforderung durch Überarbeitung103 bei gleichzeitiger Demütigung durch eine repressive Macht von oben. Ein Zeitgeist, der sich besonders im postdramatischen Theater manifestiert, in dem „die Zuschauer […] zu einer besonderen Aufmerksamkeit aufgefordert werden, weil es Begegnungen mit dem Prekären inszeniert.“104 In diesem Stück sind sie in der geteilten gesellschaftspolitischen Gegenwart Teil des Prekären, der Verhetzung, und ein Teil der Krise, welche selbst verhetzt und unverständlich ist. So wendet sich die Akteurin Judith ROSMAIR dem Publikum zu: Ihr seht ja alle so verhetzt aus, Ihr kommt nicht mehr zur Ruhe, Ihr habt keine Sekunde zum Nachdenken! Sind es die Märkte? Die Märkte sehen ja immer so verhetzt aus, die Märkte reden so wirr, wir verstehen sie nicht mehr. Die Apokalypse zieht sich über Europa zusammen, Untergangsszenarien jeden Tag in den Nachrichten. Und das sind alles zu viel, zu viel, viel zu viel Informationen. LANGSAM WOYZECK LANGSAM! Wo soll ich denn mit all dem Wissen hin, das mir da an einem Tag über alle Bildschirme flimmert, Das sieht alles immer so verhetzt aus.105
In einer solchen Ansprache, die sich direkt agitierend an das Publikum richtet, erfährt sich der Zuschauer, anders als bei der Rezeption eines bereits fertigen Produkts, als unersetzbar. Ohne es läuft das Ziel des Stücks, einen neuen Zeitgeist zu fördern, ins Leere; die Wut soll sich in der feedback-Schleife von der Bühne auf das Publikum und wieder zurück übertragen. Diese Erfahrung der Unersetzbarkeit ist sowohl medialformal einzigartig als auch vor dem gesellschaftspolitischen Zeitgeist des Spätkapitalismus: „Das Gefühl, gebraucht zu werden, wird, so [Richard] Sennett, im modernen Kapitalismus negiert, denn ‚das System strahlt Gleichgültigkeit aus‘ und die ‚Wirtschaft vermittelt das Gefühl, ersetzbar zu sein‘.“106
103 Vgl.: Pewny, K.: Das Drama des Prekären. S. 12. 104 Ebd., S. 107. 105 Büchner. 00:31:19. 106 Pewny, K.: Das Drama des Prekären. S. 107.
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Verstärkt wird das Bedürfnis des Gehörtwerdens beim Zuschauer dadurch, dass die Akteurin das Pamphlet in ein Mikrophon spricht, wodurch es die Qualität einer akustischen Nahaufnahme erhält im Gegensatz zur Fernsicht, auf die der Zuschauer anders als im Film in dieser Inszenierung festgelegt bleibt.107 Auf der akustischen Ebene tickt außerdem eine Uhr, an eine Bombe mit Zeitzünder erinnernd, während Begriffe des Aufstands auf die Leinwand projiziert werden wie „Wut“, „Angst“ und „Wunde“. Daraufhin wird der Beginn des Widerstands auf performativer Ebene zeichenhaft ausagiert, indem die Akteure auf der Bühne wild und teilweise aggressiv tanzen. Auf der Handlungsebene findet die Bruchstelle in der folgenden Szene statt, in der sich Woyzeck von den Demütigungen durch seine Frau Marie (Xenia NOETZELMANN) befreit, indem der Darsteller sie mit einem imaginären Messer und den Worten aus BÜCHNERS Drama brutal ersticht. Maries Darstellerin steht daraufhin aber als Xenia NOETZELMANN wieder auf und performt mit den anderen Schauspielern die zeitgenössische Tour de Force der 99 Prozent in der aktuellen Krise (gemäß der Occupy-Bewegung) und die Aufrufe zum Widerstand. Hierfür platzieren sich die Akteure in einer Stuhlreihe an der Rampe vor dem Publikum und reflektieren die Krise vor dem Hintergrund des zu erwartenden Aufstands, wenn die toten Hunde wie Woyzeck als Wölfe auferstehen und einfallen. Im Sprechchor schüren sie Empörung durch Sätze wie: „Das Einkommen der Reichen wächst und wächst, und wächst und wächst und wächst und die Staatsmedien nennen diesen Vorgang Finanzkrise!“108 Die Finanzkrise fungiert dabei als Schreckenswort, auf das die anderen Akteure mit heftigen physischen Zuckungen reagieren, jedes Mal wenn NOETZELMANN es – das „gewaltige[…] Ding“109 – in ihrer Rede an das Publikum besonders deutlich und erschreckend laut in den Mund nimmt: Wer sind denn die, welche diese FINANZKRISE gemacht haben, und die wachen, diese FINANZKRISE zu erhalten? Die FINANZKRISE ist das Eigentum einer Klasse von Reichen und Mächtigen, die sich durch diese FINANZKRISE die Herrschaft zuspricht. Klagt einmalüber den Diebstahl, der durch diese FINANZKRISE jeden Tag an eurem Eigentum begangen wird. Wo sind Gerichtshöfe, die eure Klage annehmen, wo die Richter, die Recht sprächen? Die Justiz ist in Deutschland seit Jahrhunderten die Hure der Reichen und Mächtigen.110
Bei jeder weiteren Nennung des „Unwortes“ zucken sie nicht nur zusammen, sondern werfen die Arme nach oben, klammern sich aneinander fest oder fallen von den Stühlen, so dass der Schrecken auch ohne Zuhilfenahme von elektronischer Verstärkung mittels Nahaufnahmen oder Mikrophon bis in die letzten Ränge über107 Vgl.: Pinto, V.: Stimmen auf der Spur. S. 45. 108 Büchner. 00:56:02. 109 Ebd., 00:56:14. 110 Ebd., 00:56:17.
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tragen werden kann. Komplexere Auseinandersetzungen mit den Ursachen der Krise wechseln sich mit einfachen, verständlichen Warnungen ab, wie dem chorisch gesprochenen Satz: „Wer das Geld hat, hat die Macht, bis es unterm Auto kracht.“111 In rasender Sprechgeschwindigkeit erörtern sie daraufhin die Ursachen der Krise wie die Entkopplung des Geldes vom Goldwert und die Unmöglichkeit, sich gegen die staatliche Entscheidungsgewalt aufzulehnen. Die entschlossene Stimmung suggeriert, dass der Konjunktiv – „Hätte, hätte, Fahrradkette“112 – keinem mehr weiterhelfe, sondern nur noch Taten: Sie fragen das Publikum wiederholt und mit auf Antwort wartender Ratlosigkeit: „Was machen wir denn jetzt?“ Da sich auch nach einigem Warten kein Austausch in der face-to-face-Kommunikation über die Theaterrampe entwickelt, errichten sie in der folgenden Szene einen Studienraum, bestehend aus zusammengeschobenen Tischen, auf die sie immer mehr Bücher aufladen.113 Auch hier folgt das Stück der Logik der Fragment-Dramaturgie BÜCHNERS: Der geistige Gehalt der Revolution soll aus Versatzstücken zusammengesetzt werden und kann wie RICHTERS Textkörper potenziell alles in sich aufnehmen, ohne einer stringenten Handlung zu folgen: Auch reale Videos von Straßenkämpfen und Polizisten, die mit Gewalt gegen Demonstranten vorgehen,114 dienen der Auseinandersetzung und Agitation für den Aufstand bis zur völligen Erschöpfung. Als sie schließlich regungslos zwischen ihren Büchern auf dem Boden liegen, sind es die Tafeln mit Widerstandssprüchen des Vormärz, die bleiben: „Krieg den Palästen“, „Das Volk ist ein Leib“ und „Erhebt Euch“.115 Diese Inszenierung in einer Art „Weltinnenraum der Büchnergedanken“116 verdeutlicht in besonderem Maße die Potenziale des politischen Theaters im Kontrast zur Darstellung gesellschaftspolitischer Verhältnisse in den elektronischen tertiären Medien. In Film und Massenmedien ist die dramatisierte Politik für den Zuschauer lediglich konsumierbar und bietet nicht die Möglichkeit der unmittelbaren Reaktion auf die Missstände. Die Erfahrung der Teilnehmer im Theater dagegen beruht auf der Wahrnehmung von gewissermaßen realen Zeichen und präsentischen Stimmungen, die sie selbst deuten, aufnehmen und zurückgeben können. Im postdramatischen Theater des Aufstands gibt es kein dramaturgisch bereits „ausgedeutetes“ Produkt wie im Spielfilm auf fiktionaler Ebene oder in den Massenmedien basierend auf einem Ausschnitt der Realität. In dieser aktiven Teilnahme der Deutung
111 Ebd., 00:56:53. 112 Ebd., 00:58:00. 113 Ebd., 01:01:44. 114 Ebd., 01:06:30. 115 Ebd., 01:15:36. 116 http://www.falkrichter.com/logic/article.php?cat=11&id=20075 (25.04.2013).
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besonders im postdramatischen Theater liegt folglich ein politisches Potenzial,117 das sich in der Ansprache und Aufwiegelung des Publikums gar zu einer Revolutions-Stimmung formieren kann. Die Eigenschaften von Revolutionen, rauschhaft und in ihrer Stimmung der Unerbittlichkeit unwiederbringlich zu sein, spiegeln die Flüchtigkeit starker feedback-Emotionen im Theater wieder. Das Publikum nimmt sich vor dem Hintergrund der Energie der BÜCHNERSCHEN Texte als Teil der 99 Prozent wahr, die etwas bewegen können. Im theatralen Live-Erlebnis macht der Zuschauer anders als im täglichen Medienkonsum die Erfahrung, gegen den Staatsapparat potenziell handlungsfähig zu sein. So heißt es bei RICHTER in Anlehnung an den Hessischen Landboten: Die Justiz ist in Deutschland seit Jahrhunderten die Hure der Reichen und Mächtigen. Ihr dürft euren Nachbarn verklagen, der euch eine Kartoffel stiehlt; aber klagt einmal über den Diebstahl, der von Staatswegen jeden Tag an eurem Eigentum begangen wird, klagt einmal, daß ihr der Willkür einiger Fettwänste überlassen seid und dass diese Willkür Gesetz heißt, klagt über eure verlorenen Menschenrechte: Wo sind Gerichtshöfe, die eure Klage annehmen, wo die Richter, die rechtsprächen?118
Genau dies wird im theatralen Raum möglich, der für den Zeitraum der Aufführung auf fiktionaler Ebene seine eigene Justiz schafft – eine Art direkte Demokratie, an der sich potenziell alle beteiligen können. Das findet exemplarisch im letzten zu untersuchenden Stück der gesellschaftspolitischen Dimension statt: Die usurpatorische Autorität wird vor Gericht gestellt – die Revolution ist bereits in vollem Gange. Das Bankenstück – Das Geld, die Stadt und die Wut von Lutz HÜBNER in der Inszenierung von Volker HESSE119 probt den Aufstand bereits vor der realen zeitgenössischen Krise von 2007 bis heute. Es basiert auf dem realen Skandal der Berliner Bankgesellschaft von 2001. Wie VEIEL hatte es HÜBNER im Zuge seiner Recherchen mit realen Bankern zu tun, deren Identität für die künstlerische Transformation verwischt werden musste. Für das Verhältnis von Kunst und Realität im Zusammenhang der Medienkonkurrenz lässt sich feststellen, dass VEIEL und HÜBNER seitens des Theaterbetriebs auf gegensätzliches Interesse an dem politischen Stoff gestoßen sind. HÜBNERS Stück greift die Machenschaften der Banken bereits vor der großen Krise auf und zu diesem Zeitpunkt stellt er fest: „Stücke zu politischen und zeitgeschichtlichen Themen gelten hier zu Lande noch immer als unfein, nicht als 117 „Das Politische im Gegenwartstheater ist daher nicht primär in seinen Stoffen, sondern in seinen (Wahrnehmungs-)Formen zu finden.“ Pewny, K.: Das Drama des Prekären. S. 12. 118 Büchner. 00:56:37. 119 Maxim-Gorki-Theater. Aufzeichnung der Hauptprobe vom 18. März 2004.
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richtiges Theater und richtige Kunst. Es gibt kaum Nachfrage von Theatern nach solchen Stoffen.“120 Nachdem der große Crash die Relevanz des Themas auf realer Ebene herausgestellt hat, hat sich die Bankenkrise gegenteilig gar als Kampfthema in der Medienkonkurrenz herausgestellt, das sich großem Zuschauerandrang erfreut.121 Im Vergleich zu der Verarbeitung der Krise im Film, für dessen Analyse hier bis dato kein deutschsprachiger Film fruchtbar gemacht werden konnte, scheint das Theater hierzulande einen Reiz in diesem politischen Stoff entdeckt zu haben. Wie in RICHTERS Büchner steht auch in HESSES Inszenierung des HÜBNERSCHEN Bankenstücks der Aufstand im Mittelpunkt, der sich in Wellen auf das Publikum überträgt, es gar mittels des unter die Zuschauer gemischten wütenden Mobs regelrecht durchflutet. Auch die Sonosphäre ist gleich zu Beginn aufwieglerisch und gespannt aufgeladen: Ein Pulk aus Akteuren steht bedrohlich summend auf der Bühne und rennt plötzlich mit einem 27-kehligen Schrei auseinander in den gesamten Theaterraum hinein.122 Für das Publikum gibt es keine Möglichkeit, sich dieser kollektiven akustischen Blase123 und der leiblichen Beteiligung, hier gar in bedrohlichem Ausmaß, zu entziehen. Eine der Revolutionären erklärt dem Publikum ins Mikro, was sich zugetragen hat: Die Berliner Commune ist Wirklichkeit. Wir haben erreicht, wovon niemand zu träumen wagte: Berlin ist eine von seinen Bürgern regierte Stadt. Berlin gehört dem Volk. Berlin gehört den Berlinern.
Die Radiomoderatoren der Berliner Commune verkünden ihre Forderungen wie „Streichung der Hauptstadtsteuer“, „sofortige Freigabe der privaten Bankguthaben“ und programmatisch für die Handlung des Stücks: „Bestrafung der Verantwortlichen der Berliner Bankgesellschaft.“124 In einer Art moderner Mauerschau über die Radiomoderatorin erfahren alle im Saal Anwesenden, was sich auf den Straßen Berlins simultan ereignet: „Am Brandenburger Tor sind über eine Millionen Menschen, 120 Sontheimer, Michael: Theaterstück über Bankenskandal: „Jede Zeile von Juristen überprüft“. Interview mit Lutz Hübner. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/ theaterstueck-ueber-bankenskandal-jede-zeile-von-juristen-ueberprueft-a-291422.html (11.05.2013). 121 So waren beispielsweise die Karten aller Vorstellungen von Veiels Himbeerreich innerhalb weniger Tage ausverkauft. 122 Lutz Hübner: Bankenstück – Das Geld, die Stadt und die Wut. Regie: Volker Hesse. Ab 00:03:02. 123 Vgl.: Pinto, V.: Stimmen auf der Spur. S. 31. 124 Lutz Hübner: Bankenstück – Das Geld, die Stadt und die Wut. 00:07:07.
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können auch mehr sein. Da draußen ist die Hölle los. Quatsch, der Himmel.“ Die Moderatorin erklärt die Berliner Zustände zu einem Modell der Zukunft, das im Verlauf des Theaterabends auf die Probe gestellt wird: Berlin ist das Labor, in dem wir die Zukunft erfinden. Laden wir die Welt ein. […] Werden wir eine Denkfabrik für alle Ideen und Pläne, die eine gerechte und nachhaltige Welt zum Ziel haben. Wir werden beweisen, dass neues Denken wirtschaftliche Macht bedeuten kann.125
Wie in RICHTERS Büchner drückt sich der revolutionäre Geist im körperlichen Ausagieren mittels wilden Tanzens der im Raum verstreuten Revolutionäre aus, während drei Frauen auf die Hauptbühne schweben.126 Sie bilden das Tribunal, welches den gewaltsam festgehaltenen Verantwortlichen des Berliner Bankenskandals nun den Prozess machen wird – eine neue Form der Justiz, die, anders als im von Büchner angeprangerten Zustand nicht mehr die Hure der Reichen und Mächtigen ist: „Was die Berliner Justiz nicht geschafft hat, wir werden es schaffen.“127 Hinter den Angeklagten wird eine Stahlwand heruntergelassen, sie stehen nun exponiert und frontal vor dem Publikum. Dem Tribunal geht es um die Klärung der verfehlten Immobilienpolitik der Bank und die Frage, warum die Bankenaufsicht die sogenannten Sorglos-Fonds nicht geprüft hat.128 Es beginnt eine theatrale Schuldverhandlung, in der sich auch der Zuschauer seiner eigenen Verantwortung stellen muss, als der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Berliner Bankgesellschaft das Wort ergreift und mit dem Finger auf das Publikum zeigt: Sie [das Tribunal] wollen die Schuldigen? Ich nenne sie Ihnen. Sie werden es nicht akzeptieren, aber ich weiß, dass ich Recht habe, und insgeheim wird jeder Einzelne mir Recht geben. Schuldig ist jeder Einzelne hier im Raum. Da sitzen die Milliardenverluste! Jeder Einzelne, der von der Berliner Subvention profitiert hat, ist schuldig. […] Die Beamten, die hoch dotierte Anstellungen mit Rentenanspruch haben, obwohl kein Mensch weiß, was sie tun, Schuld! […] Die Künstler, die in einer beispiellos subventionierten Kulturlandschaft noch die abartigsten Ideen pflegen und hätscheln konnten. Schuldig!
125 Ebd., 00:12:18. 126 Ebd., 00:15:47. 127 Ebd., 00:21:50. 128 Ebd., 00:32:02.
364 | III. D IE G ESELLSCHAFTSPOLITISCHE D IMENSION Die Wissenschaftler, die ihre Institute noch für die apartesten Orchideenfächer finanziert bekamen. Schuldig! Die Journaille, die sich die Stadt fünfzig Jahre lang auf Weltniveau schön geschrieben hat – schuldig!129
Mit seiner akustisch verstärkten Stimme und dem ausgestreckten Zeigefinger rückt er den Hörenden und Sehenden sowohl auf den Leib als auch in den Leib130 und verhandelt dabei – wie auch die Sachbuchliteratur – die individuelle Verantwortung im freimarktwirtschaftlichen Kapitalismus. Entsprechend heißt es bei LANCHESTER: „Wir müssen anfangen, darüber nachzudenken, an welchem Punkt wir genug haben – genug Geld, genug Besitztümer – und ob wir die Dinge, von denen wir glauben, wir bräuchten sie noch zusätzlich zu dem, was wir haben, wirklich brauchen.“131 Das Stück verhandelt die Schuld auf drei Ebenen, mit dem Ziel, die Verhältnisse zu verändern: Erstens versucht das Tribunal, die Ursache, die Verantwortung an der größten Bankenpleite Deutschlands nach 1945 aufzuspüren.132 Zweitens soll das Verhalten sowohl aufseiten der Banker und Politiker als auch der Bevölkerung gewaltfrei erörtert werden133, und drittens entsteht aus diesem Prozedere ein Schuldenbetrag für die Revolution, für die laut dem angeklagten Vorstandsvorsitzenden ebenfalls die Berlin-Subvention aufkommt.134 In mindestens einer dieser Schuldformen gemäß der Etymologie nach GRAEBER ist jeder Einzelne dieses theatralen Revolutionsspektakels zu belangen.135 Dabei mahnt das Tribunal zu Rationalität, zu einem Verfahren ohne das Ausleben von Wut und Gewalt, was eine der Frauen immer wieder stoisch und bestimmt in den Raum ruft: „Keine Gewalt. K e i n e Gewalt.“136 Dass dieses Programm scheitert, wird im darauffolgenden Bühnenbild ersichtlich: Die Anzugträger stehen aufgeknüpft mit hängenden Köpfen im Zentrum der Bühne. Sie müssen sich ein zweites Mal einer Verurteilung abseits der Justiz unterziehen – doch diese fällt nun gänzlich anders aus: Mit der Figur Jacky und ihrer Brigade von bewaffneten Frauen übernehmen amazonische Rächerinnen das Zepter. Sie treten betont weiblich und als Einheit mit gleichen Perücken auf und 129 Ebd., 00:33:45. 130 Vgl.: Pinto, V.: Stimmen auf der Spur. S. 25. 131 Lanchester, J.: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückzahlt. S. 262. 132 „Wie sollen wir etwas ändern, wenn wir nicht wissen, WAS wir ändern?“ Lutz Hübner: Bankenstück – Das Geld, die Stadt und die Wut. 01:03:00. 133 So stellt der Vorstandsvorsitzende fest: „Gab es nicht genug Anzeichen dafür, dass dieses Leben im Schlaraffenland irgendwann einmal zu Ende sein wird? Da machte man die Augen zu, da fühlte man sich nicht zuständig […].“ Ebd., 00:36:50. 134 Ebd. 00:33:40. 135 Vgl.: Graeber, D.: Schulden. S.7ff. 136 Lutz Hübner: Bankenstück – Das Geld, die Stadt und die Wut. 01:02:49.
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demütigen die Männer, indem sie sie zunächst wie an der Leine führen137 und ihnen schließlich Autoreifen um den Hals legen, die sie mit Benzin übergießen.138 Statt wie das Tribunal die Schuld lange zu sezieren, fordern sie von den Männern eine einzige, kurz gefasste Auskunft binnen fünf Minuten: „Wenn wir hier über was reden, dann über Geld. Los, sagt wo die Kohle ist und wir haben es hinter uns. […] Wie macht man 20 Milliarden platt?“139 Über diese eine Frage, auf die sie durch Ausübung offensiver Repression und Gewaltandrohung schließlich eine Antwort erhalten, emanzipieren sie sich von den Verschleierungstaktiken, die selbst nach dem Crash noch greifen. Sie erfahren so konkret wie im Nachhinein möglich: Das Geld steckt in den Fonds und in den Verschleierungstaktiken, die nur darauf abzielten, den Zeitpunkt zu erreichen, an dem die Bank „too big to fail“ war. Die sprachlichen Ausweichmöglichkeiten sind unter der Macht der amazonischen Brigade nicht mehr gestattet. Der Typus dieser unerbittlichen Frauenfiguren beruht auf einem antiken Mythos, der bis in die heutige Zeit von der Kunst immer wieder aufgegriffen, tradiert und transformiert wird. Meist treten sie, wie hier, im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Ungerechtigkeit als Rächerinnen auf. Diese Funktion mag erklären, warum sich die Amazonen ihren Pfad durch die Kunstgeschichte bis in die heutige Medienlandschaft geschlagen haben. Das folgende Kapitel der mythologischen Dimension untersucht, welche Rolle sie in den verschiedenen medialen Umsetzungen spielen – denn Amazonen kämpfen nicht nur auf der Theaterbühne, sondern mischen auch die Kinolandschaft sowie die Rolle der Frau im Roman auf.
137 Ebd., 01:10:40. 138 Ebd., 01:30:44. 139 Ebd., 01:31:00.
4. Resümee Krisengeschüttelte Ästhetik
Wie sich heraugestellt hat, haben Wirklichkeitsverhältnisse mit negativem Vorzeichen die Kraft, die ästhetische Ausgestaltung der Künste und Medien zu prägen und vor allem zu konturieren. In dieser Dimension findet – trotz aller Medieninterferenzen – vorwiegend eine Betonung der eigenen medialen Spezifität statt. Der Krisenroman etwa zeigt hier deutlich seine einzigartige Nicht-Determinierbarkeit, seine Offenheit, wie sie zu Beginn der Arbeit bei dem Versuch einer Gattungsdefinition festgestellt wurde. Im Zusammenhang der Krise kann der Roman entweder zum Zeugen figuraler Tagebuchgeständnisse oder Therapieberichte werden, ebenso aber ist er zum didaktischen Reflexionsmedium ökonomischer Entfesselungen avanciert. Er betont seine Leistung gegenüber den Körperkünsten, die Krise auf sprachlicher Ebene durchdringen zu können und dafür die entsprechende Zeit zu haben (besonders das Aufklärungsprogramm bei WILL). Dies trifft vor allem auf die deutschen Romane zu, aber auch auf das fiktionale Augenzeugentagebuch aus Island. Die Erklärungen der Erzähler und/oder Figuren kunkurrieren vor allem auch mit faktualen Texten und heben sich durch die Psychisierung der Krisenerlebnisse stark von ihnen ab. Eben dies können auch Film und Theater nur in Ansätzen über Handlungsebene und Voice-Over-Techniken erzielen. Allerdings hat der Film ein besonderes Potenzial, die Krisenstimmung zu inszenieren, indem er entweder Zeit-Bilder montiert oder mit der Kameralinse dokumentarisch auf die Wirklichkeitsverhältnisse zielt. Der Erfolg der fiktionalen Krisenverarbeitungen deutet darauf hin, dass ihre Bilder, Kulissen, Figuren und Erzähler etwas preisgeben, das die journalistischen Medien ihren Zuschauern, Zuhörern und Lesern vorenthalten haben: Wer sind die Täter, wie leben sie, was denken sie, was fühlen sie „wirklich“ und was treibt sie an? Die massenmediale Berichterstattung dagegen erliegt Vereinfachungsprozessen und bestimmten stilistischen und lexikalischen Maximen, um die Wirklichkeitsverhältnisse in eine vermeintliche Ordnung bringen zu können. Solche Vereinfachungsprozesse greifen in der Kunst nicht, sie muss versuchen, aus der Sperrigkeit
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des Stoffs das in ihren medialen Mitteln Mögliche an ästhetischem innovativem Wert zu destillieren. Besonders im dokumentarischen Theater kommt hier noch eine Ebene hinzu: Der Zuschauer soll sich über jene Enthüllungen der Finanztäter in der Sphäre der Kunst direkt aufregen. Die Theatersituation ist dafür prädestiniert, da sich der Zuschauer real involviert sieht und im direkten Elementarkontakt von den Platzhalter-Finanztätern und ihren Enthüllungen aufgerüttelt wird. Kurz: Es scheint strategisch am vorteilhaftesten zu sein, die Krise wie der Roman in linearsprachlicher Ausführlichkeit und psychischer Nähe zu bearbeiten oder wie der Film in Stimmungsbildern und im dokumentarischen Duktus1 oder wie das Theater in der Agitation der feed-back-Schleife. Von der Krise geschüttelt besinnt sich die Kunst auf das, was sie jeweils am besten kann: reflektieren und emotional durchdringen, darstellen und zeigen, aufführen und aufwiegeln.
1
Wodurch sich das Hollywood-Kino zur ernsthaften Unterhaltung formiert. Aus Mangel an deutschen Filmen zur Krise kann hier kein Vergleich gezogen werden.
IV. DIE MYTHOLOGISCHE DIMENSION
Amazonenfiguren in Roman, Film und Theater „Und irgendwann werden wir nur noch Legende sein. Wer wird sich an uns erinnern? Der Wind mag durch einen Staubwirbel oder das Flackern der Flamme erkannt werden. Aber wer kann den Wind sehen?“1 ELEUTHERA, DIE KÖNIGIN DER AMAZONEN
Auf den ersten Blick mag es so erscheinen, als folge nun eine Dimension, die den Roman- und Filmrezipienten sowie den Theaterbesucher weniger stark physisch und psychisch involviert als die beiden vorangegangenen: Werden Mythen medial in die Künste aufgenommen, adaptiert oder transformiert, so verspricht dies keine derart intensive und unmittelbare Ansprache der Rezipienten-Sinne wie bei der Darstellung und Evokation von Ekel, welcher direkt auf den Leib zu rücken vermag. Ebenso liegt die Annahme nahe, dass ein Kunstwerk, das sich auf alte Mythen stützt, mehr Distanz zu gesellschaftspolitischen Belangen der zeitgenössischen Lebenszusammenhänge aufweist als Werke und Stücke etwa zur aktuellen Finanzkrise. Resultiert der ästhetische Wert mythenbasierter Fiktionen folglich aus der „jüngeren“ Distanz zu den alten Mythen, wie Hans BLUMENBERG nahelegt? Nicht der Stoff des Mythos, sondern die ihm gegenüber zugestandene Distanz des Zuhörers und Zuschauers ist das entscheidende Moment. Was in der Mythologie Götterlehre im strengen Sinne gewesen sein mag, hat menschliches Leben vielleicht einmal mit Zwang und Furcht bedrückt; aber das alles ist in Geschichten aufgegangen, und daß selbst die Göttergeschichten nicht mehr schrecken und nicht mehr binden, disponiert sie zugleich in ihrer ästhetischen Rezeption.2
1 2
Pressfield, Steven: Die Königin der Amazonen. München: Goldmann 2003. Blumenberg, Hans: Wirklichkeitsbegriff und Wirkungspotential des Mythos. In: Terror und Spiel. Probleme der Mythenrezeption. Hg. v. Manfred Fuhrmann. München: Fink 1971. S. 17.
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Eine mythologische Kunstpraxis, wie sie heute in den Medien vielfach praktiziert wird, ist folglich erst mit der Entfernung zur Lebenswelt der griechischen Antike möglich geworden, indem die Mythen nicht mehr zur Erklärung der Welt gebraucht und gefürchtet werden, sondern zu einem unerschöpflichen Ausgangsbestand3 für Imaginationen wurden. So spielerisch diese mythenbasierte ästhetische Praxis in Produktion und Rezeption auch anmuten mag, so ungemütlich ist der Kern des Mythos bis heute dennoch geblieben.4 Denn auch in den vom mythologischen Ursprung weit entfernten Variationen und Transformationen haftet ihm noch immer etwas Gewaltiges an: Zum Mythos gehört der Schrecken, die Unverfügbarkeit plötzlich hereinbrechender Gewalt, die Augenblicklichkeit des Schocks, die physische und psychische Erregung. Der Mythos ist Schrecken, genauer: Der Schrecken ist seine Form.5
Gerade im Schreckensmoment liegt möglicherweise der Reiz künstlerischer Aufnahmen des Mythos in den Medien. Denn wie dem Ekeln haftet auch dem Erschrecken etwas Faszinierendes an, wodurch im Konkurrenzkampf der Medien und Künste Aufmerksamkeit erregt werden kann. Neben dieser Intensitätserzeugung, die wie der Ekel als „vitalaffektiv“ bezeichnet werden kann, ist nicht auszuschließen, dass antike Mythen in den Zusammenhang mit aktuellen sozialen und politischen Bedrängnissen gestellt werden, wodurch die ästhetische Distanz zum zeitgenössischen Rezipienten ebenfalls aufgehoben wird. Der Mythos hat folglich auch eine gesellschaftspolitische Dimension, die bisweilen „ungemütlich“ sein kann. Gerade der Mythos der Amazonen eignet sich für beide Formen der ästhetischen Distanzverringerung (vitalaffektiv sowie gesellschaftspolitisch) zwischen dem Kunstwerk und Rezipienten. Als Kriegerinnen sind diese mythologischen Frauengestalten per se auf Gewalt und damit auf Schrecken angelegt; und durch die unkonventionelle Rolle, die sie damit als starke und autarke Frauen innehaben, sind sie für die Debatte um aktuelle Problematiken der Geschlechterrollen fruchtbar zu machen. Wie ein Mythos in den Künsten aufgenommen und medial ausgestaltet wird „ist signifikant für die Weltsicht der jeweili-
3 4
Nach: Ebd., S. 21. Vgl.: Treusch-Dieter, Gerburg: Göttliche Schnitte ins eigene Fleisch. Die Antike in der modernen Reproduktionstechnologie. In: Transfigurationen des Körpers. Spuren der Gewalt in der Geschichte. Hg. v. Dietmar Kamper und Christoph Wulf. Berlin: Dietrich Reimer 1989.
5
Karpenstein-Eßbach, Christa: Derivationen der Diskursanalyse. New Historicism und mediale Mythenanalyse. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft. Ästhetik und Kulturwissenschaft. Passagen Verlag 47. Jahrgang 2001. S. 16.
A MAZONENFIGUREN IN ROMAN , FILM UND T HEATER
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gen Epoche“6 und lässt auch Rückschlüsse auf die unterschiedlichen Potenziale im Wandel der Medien zu. Die konkurrierenden Medien und Künste, welche im Wettbewerb auf Innovation und Weiterentwicklung aus sind, haben in der mythologischen Dimension folglich auch eine regressive Tendenz.7 Sie wenden sich zurück zu einer Art Ursprung oder Lebensquelle, weil nach Hartmut HEUERMANN die Dinge „offenbar so (beunruhigend) stark im Fluß [sind], daß sie ihre Richtung verlieren und umkehren.“8 So tauchen in den Medien und Künsten – sowohl in high als auch low culture – mythologische Gestalten auf, die auf archaischer Stufe mit der historischen Kontextualität und deren schnellem Wandel umgehen.9 Während die Mythen früher zunächst hauptsächlich mündlich und später auch schriftlich verbreitet wurden, sind sie heute transmedial flexibel.10 So sind es gleichermaßen Roman, Film und Theater, die ihre Stoffe und Motive aus den Mythen beziehen. Dabei bestehen nicht nur innerhalb der Kunstformen Unterschiede in den jeweiligen Bearbeitungen des Mythos, sondern vor allem zwischen den medialen Formen. Der Roman legt z. B. seine Schwerpunkte bei der Aufnahme des Amazonen-Mythos weniger als der Film auf das Rache-Motiv, sondern nimmt – wie auch das Theater – stärker die antiken Einzelmythen11 in den Fokus. Worauf diese Differenzen in der stofflichen und motivischen Umsetzung zurückgehen, soll hier in den Werk- und Aufführungsanalysen untersucht werden. Fest steht zunächst, dass alle drei in ihren Narrations- und Gestaltungspotenzialen konkurrierenden Formen auf ein Repertoire antiker Mythen zurückgreifen, die sich um das Volk der Amazonen ranken; Einzelmythen, die ehedem narrativ meist völlig anders ausgestaltet waren. Etwa in der Fahrt der Argonauten12, in HOMERS 6
Dembski, T.: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. S. 381.
7
Mit der Hypothese, dass sich die Kultur partiell rückwärts entwickelt, befasst sich ausführlich: Heuermann, Hartmut: Medien und Mythen. Die Bedeutung regressiver Tendenzen in der westlichen Medienkultur. München: Fink 1994.
8
Ebd., S. 7.
9
Vgl.: Ebd., S. 7.
10 „Nicht nur von Mund zu Mund oder im Roman finden sich mythische Erzählungen, sondern auch in Foto, Film, Theater, Internet oder Schulbuch.“ Wodianka, Stephanie: Zur Einleitung: „Was ist ein Mythos?“ – Mögliche Antworten auf eine vielleicht falsch gestellte Frage. In: Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform. Hg. v. ders. und Dietmar Rieger. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2006. S. 2. 11 Wie die Einzelmythen um die Heldenpaare Penthesilea und Achilles, Antiope und Theseus, Hippolyte und Herakles, sowie auch die Mythe um die Verbindung und Feindschaft der Amazonen mit den Skythen. 12 Zugrunde gelegter Text: Apollonios von Rhodos: Die Fahrt der Argonauten. Griechisch/Deutsch. Stuttgart: Reclam 2002.
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Ilias13, in den Historien von HERODOT14 oder auch noch in den zusammengefügten Erzählungen der Griechischen Mythologie von Robert VON RANKE-GRAVES15 zeigt sich die narrative Spezifität, dass mythologische Erzählungen einst quasi „erzählerlos“ waren, den Adressanten verbargen, ganz so, als sei es die Natur selbst, die hier erzähle.16 Anders als im Roman findet eine scheinbar deutungslose Wiedergabe des mythischen Geschehens statt. Diese „Rhetorik der Verbergung“17 lässt sich z. B. auch noch in VON RANKE-GRAVES’ komprimierter Mythos-Nacherzählung beobachten, indem er z. B. schlicht schreibt: „Die Amazonen waren die streitbaren Priesterinnen der Mondgöttin.“18 Oder mit Rekurs auf andere Erzähler, welchen er sich überordnet: Manche behaupten, Theseus habe an der erfolgreichen Expedition des Herakles gegen die Amazonen teilgenommen. Als seinen Anteil an der Beute soll er deren Königin Antiope, auch Melanippe genannt, erhalten haben. Sie war nicht zu bedauern, wie manche dachten. Im Gegenteil: Sie liebte Theseus so sehr, daß sie als Beweis ihrer leidenschaftlichen Liebe sogar die Stadt Themiskyra am Flusse Thermodon an ihn verriet.19
Ebenso zurückgenommen wie die Person und Position des Erzählers ist in den griechischen Mythen die psychische Ebene der handelnden Akteure. Damit steht der antike Mythos konträr zur Tradition des Romans, obwohl er wie dieser sprachlich vermittelt ist und anders als Film und Theater prinzipiell seelische Vorgänge erzählen könnte, ohne „Umwege“ über Bilder und Performanz zu gehen. Die fehlende Innerlichkeit mythologischer Erzählungen begründet LUKÁCS damit, dass der Held im Epos noch eins mit der äußeren Welt ist und seine Taten mit seiner Seele konform sind: „es liegt ein weiter Weg vor ihm, aber kein Abgrund in ihm.“20 Der Heros besteht nicht aus seiner Psyche, sondern er ist allein durch sein Handeln, in dem er Prüfungen besteht, ohne sie zu hinterfragen und damit die Götter- und Weltordnung bestätigt. Ebenso grenzt sich der antike Mythos von seinen modernen und postmodernen medialen Adaptionen ab, indem ihm die zeitliche Kontextualisierung 13 Nach: Homer: Ilias. Odyssee. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1979. 14 Herodot: Historien. Erster Band. Griechisch-deutsch. Hg. v. Josef Feix. München: Ernst Heimeran 1963. 15 Ranke-Graves, Robert von: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung. Reinbek: Rowohlt 1960. Band 1 und 2. 16 Nach: Wodianka, S.: Zur Einleitung: „Was ist ein Mythos?“ In: Mythosaktualisierungen. Hg. v. ebd. und D. Rieger. S. 3. 17 Ebd., S. 3. 18 Ranke-Graves, R. von: Griechische Mythologie. Band 1. S. 231. 19 Ebd., S. 320. 20 Lukács, G.: Die Theorie des Romans. S. 26.
A MAZONENFIGUREN IN ROMAN , FILM UND T HEATER
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fehlt.21 Die archetypischen Erlebnisse der Helden beanspruchten überzeitliche Gültigkeit, weshalb die Historizität völlig irrelevant ist. Daraus resultiert bis heute die Anwendbarkeit und auch Instrumentalisierbarkeit antiker Mythen in sämtlichen historischen Kontexten und Gesellschaftslagen. Fern der psychischen Dimension der Helden – bzw. hier vor allem Heldinnen – und jenseits der zeitlichen Einordnung und Interpretation durch antike Erzähler muss es folglich in der mythologischen Handlung einen Kern geben, auf dem die Faszination gründet, welche sich die modernen medialen Transformationen zunutze machen. So ist nun zu fragen, worin das Wesen der mythologischen Amazonen bis heute besteht, wenn doch weder erzählt wurde, wann sie lebten, noch ihre Innerlichkeit sie zu den Frauen machte, die wir uns heute unter ihnen vorstellen. Zunächst wäre zu explizieren, wie sich die Amazonen einordnen in die antiken Erzählungen „von göttlichem Geschehen, das die Tradition der Menschheitsgeschichte erläutert und begründet“.22 Denn sie sind weder Göttinnen in der Genealogie des Olymp noch griechische Heroen. Obwohl sie nach Apollonios VON RHODOS von Kriegsgott Ares und der Nymphe Harmonië abstammen23 sowie Artemis verehren24 und Teil der griechischen Mythologie sind, stehen sie außerhalb des griechischen Kulturkreises: Sie sind keine Griechen und leben geografisch in Distanz zu ihnen, „an der Grenzschwelle zwischen Europa und Asien.“25 Genauer: im Schwarzmeergebiet, in der Gegend des Reiternomadenvolks der Skythen und der Sauromaten, wo sie ihre Hauptstadt Themiskyra am Ufer des sagenhaften Flusses Thermodon haben, gelegen zwischen Sinope und Trapezus26 an der Nordküste der heutigen Türkei. Dort leben sie der Argonautensage nach in drei Stämmen, Hippolytes Stamm, die Lykastierinnen „und gesondert die speerwerfenden Chadesierinnen.“27 Nicht nur letztgenannte Speerwerferinnen sind „kriegsliebend[…]“28, sondern es ist ein bestimmendes Merkmal des Amazonentums, sich gegenseitig zu unerschrockenen Kämpferinnen zu erziehen und bewaffnet und zu Pferde in den Kampf zu ziehen. Darin sind sie nach HOMER männergleich, er bezeichnet sie in der 21 Vgl.: Wodianka, S.: Zur Einleitung: „Was ist ein Mythos?“ In: Mythosaktualisierungen. Hg. v. ebd. und D. Rieger. S. 3. 22 Dembski, T.: Paradigmen der Romantheorie zu Beginn des 20. Jahrhunderts. S. 381. 23 Apollonios von Rhodos: Die Fahrt der Argonauten. 2. Buch, 990. S. 171. 24 Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Band 1. Hg. v. Konrat Ziegler. München: dtv 1979. S. 292. 25 Döhl, Hartmut: Amazonen. Traumfrauen und Schreckensbilder. In: Waren sie nur schön?: Frauen im Spiegel der Jahrtausende. Hg. v. Bettina Schmitz. Mainz: von Zabern 1989. S. 228. 26 Nach: Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Band 1. Hg. v. K. Ziegler. S. 292. 27 Apollonios von Rhodos: Die Fahrt der Argonauten. 2. Buch, 995f. S. 171. 28 Ebd., 2. Buch 990. S. 171.
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Ilias als „Männinnen“29 und als „die männliche Hord Amazonen.“30 Dadurch sind die Amazonen ein ernstzunehmender Gegner für die griechischen Heroen und erhalten hierin ihre Positionierung und Funktion im griechischen Mythos. Für die patriarchalisch geprägte Welt der Griechen stellt die matriarchale Gesellschaft der Amazonen eine Bedrohung dar,31 weshalb die Siege der Heroen über die mächtigsten Amazonen (wie Penthesilea, Antiope und Hippolyte) die soziale Ordnung der Griechen, d. h. die allumfassende Differenzierung der Rolle von Frau und Mann,32 immer wieder bestätigen und legitimieren sollen. Amazonen sind sozusagen Grenzgängerinnen der griechischen Mythologie, indem sie geografisch, sozial und kulturell außerhalb stehen und „wild“ sind,33 ihre Funktion aber im Mythos als Antagonistinnen ganz im Sinne der Griechen erfüllen. Für die Werke um 2000, die den Amazonen-Mythos aufgreifen, stellt sich nun die Frage, welche Funktion die kriegerischen Heldinnen hier erfüllen, wenn es nicht mehr ihre vorwiegende Aufgabe ist, die patriarchalen Verhältnisse zu bestätigen. Woher rührt die Faszination für diese eigenständigen aber auch gewalttätigen, niemals erschrockenen aber meist erschreckenden Frauenfiguren in den heutigen Medien? Und welchen Teil tragen die ästhetischen, technischen, sinnlichen und philosophischen Potenziale der Medien heute zu dieser Faszination bei? Wie hauchen sie dem Mythos Leben ein?
29 Homer: Ilias. Odyssee. III. Gesang, 189. S. 51. 30 Ebd., VI. Gesang 186, S. 104. 31 Nach der Grundthese der Ausstellung „Amazonen. Geheimnisvolle Kriegerinnen“ im Historischen Museum der Pfalz Speyer, 2010. Vgl. z. B.: Koch, Alexander. Vorwort. In: Amazonen. Geheimnisvolle Kriegerinnen. Begleitbuch zur Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz Speyer. Speyer: Hist. Museum 2010. S. 10. 32 „Mit großer Selbstverständlichkeit wurden seinerzeit Frauen von der Gleichheit der Bürger ausgeschlossen, ihr Leben galt der Familie und der Verehrung des Mannes. Die ‚Amazonen‘ hingegen lebten autonom und unabhängig von Männern, wussten mit Waffen umzugehen und Kriege zu führen. Ebd., S. 10. 33 Vgl.: Börner, Lars: Als die „männergleichen“ Amazonen kamen. In: Amazonen. Geheimnisvolle Kriegerinnen. S. 19.
1. Mit doppelter Klinge Amazonen im Roman
Bei der Korpusauswahl der Romane aus dem Zeitraum von 1990 bis ins neue Jahrtausend fällt auf, dass es hauptsächlich Werke aus der sogenannten U-Kategorie gibt, die den Amazonenmythos bearbeiten und meist in einen aktuellen emanzipatorischen Kontext stellen. Bei allem Ernst der weiblichen Gleichberechtigungs- und Unabhängigkeitsthematik vor allem in den 90er Jahren wird der Mythos hier meist intentional unterhaltsam aufgenommen, entweder als Eskapismus von der Gegenwart (in den pseudo-historischen Romanen von Birgit FIOLKA) oder als Aufruf zur Emanzipation der Frau. In letzterem Fall wird der Mythos so transformiert und über die Romanfiguren psychisiert, dass klare Botschaften daraus hervorgehen: Moderne Frauen sollen sich wehren oder gar rächen und sich eine unabhängige Existenz aufbauen. Damit dies in der Medienkonkurrenz einen Unterhaltungswert hat, sind Männer als Liebhaber durchaus erwünscht. Kurz: Feministisch ernste Botschaften sollen um 2000 über unterhaltsame Amazonen-Romane verbreitet werden, die belletristische Trivialität nicht scheuen. Einzig im Zusammenhang des Amazonenmythos mit dem historischen Kontext des Afghanistan-Kriegs ließ sich für die hier erfolgende Untersuchung ein Roman der sogenannten hohen Literatur finden.
(P SEUDO -)H ISTORISCHE
UND MYTHOLOGISCHE
R OMANE
Die beiden Amazonen-Romane von Birgit FIOLKA, Amazonentochter (2008)1 und Das Vermächtnis der Amazonen (2009)2, wollen gemäß der eigenen Genrezuschreibung als „historische“ Romane verstanden werden. Die Amazonen werden nicht nur als mythologische Gestalten aufgefasst, sondern als ein Volk, das vor Jahrtausenden existiert hat. Dass es keine archäologischen Beweise für die Existenz des 1
Fiolka, Birgit: Amazonentochter. Historischer Roman. Bergisch Gladbach: Lübbe 2008.
2
Fiolka, Birgit: Das Vermächtnis der Amazonen. Bergisch Gladbach: Lübbe 2009.
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Amazonenvolks gibt, wird dabei außer Acht gelassen.3 Wie im Nachwort ausgewiesen, geht es in den beiden Romanen nicht darum, die Amazonen „in ein wissenschaftlich anerkanntes Zeitkolorit zu pressen“,4 sondern intendiert ist vielmehr eine Entmystifizierung5 der Figuren. Damit ist gemeint, dass die Romane es ermöglichen sollen, „dass sich der Leser am Ende […] vorstellen kann, dass es tatsächlich ein Volk gegeben hat, das lebte wie das hier beschriebene.“6 Dies würde die Differenz zwischen Epos und Roman herausstreichen, wie LUKÁCS sie festmacht: Der Roman schildert nicht nur die Taten der Heldinnen (denn letztere sind seit dem Einbruch der Moderne mehr als diese), sondern führt darüber hinaus ihre innere Zerrissenheit vor. In den Romanen von FIOLKA und auch von Steven PRESSFIELD7 sind es dabei nicht nur Versatzstücke des Amazonen-Mythos, die in den Roman übergehen, wie etwa die Attraktivität, welche kämpferische Frauen auf Männer ausüben (als eine Art „Airbrush-Barbie“8 wie z. B. Lara Croft) oder der Aspekt ihrer Gynaikokratie, durch den die Medien sie oft als „Kampfemanzen“9 stilisieren. Sondern es sind ganze Einzelmythen, die einfließen und mit denen das (hinzu-)erfundene Personal im Roman konfrontiert wird (wie z. B. die im Roman ersonnene Amazone Selina, die in den Trojanischen Krieg zieht, oder bei PRESSFIELD die Mythe um Antiope und Theseus, der die Figuren beiwohnen). Aufgrund dieser expliziten Verbindungen mit den Erzählungen der Antike sollen diese drei zu untersuchenden Romane10 hier als „mythologische Romane“ bezeichnet werden. Amazonen als Romanfiguren werden nicht nur als Handelnde mit den alten Mythen konfrontiert, sondern sie erhalten eine Psyche, die gewissermaßen mit den antiken Geschehensmomenten umgeht – wie z. B. die Beobachtung des Totschlags Penthesileas durch Achilles. So erfindet FIOLKA das Mädchen Selina, das als Säugling bei einem Überfall auf der assyrischen Handelsstraße nach Zalpa von den Amazonen entführt wird und fortan als Tochter der Amazonenkönigin Penthesilea aufwächst. Geschuldet ist dies dem Umstand, dass ihr Vater, der Händler 3
Denn man könne schließlich laut Fiolka auch nicht das Gegenteil beweisen. Nach : Bieger, Marcel: AMAZONENTOCHTER eine Buchvorstellung. http://www.oriental-cosmos.de/ amazonen.htm (20.06.2011).
4
Fiolka, B.: Das Vermächtnis der Amazonen. S. 513.
5
Ebd., S. 513.
6
Ebd., S. 513.
7
Pressfield, Steven: Die Königin der Amazonen. München: Goldmann 2003. (Original: „Last of the Amazones.“ 2002.)
8
Fiolka, Birgit: Die Amazonen – eine Spurensuche. http://www.oriental-cosmos.de/
9
Ebd.
amazonen.htm (20.06.2011). 10 Birgit Fiolkas Amazonentochter, Das Vermächtnis der Amazonen und Pressfields Die Königin der Amazonen.
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Thimotheus, nicht an den „Mythos“ der Amazonen glaubte und unvorsichtig die Warnung vor ihnen missachtete. Der Mythos der Amazonen soll an dieser Stelle dadurch entmystifiziert werden, d. h einen Anstrich von Glaubwürdigkeit erhalten, dass er von den „Unwissenden“ bereits damals, im 13. Jahrhundert v. Chr., nicht geglaubt wurde: Der assyrische Führer schüttelte den Kopf. „Ich fürchte weder die Hethiter noch die Barbaren. Es ist das Weibsvolk, das mir Sorgen macht. In der letzten Zeit sind einige Handelstrupps auf dieser Straße überfallen worden, und die Weiber berauben wahllos jeden, der das Unglück hat, ihnen zu begegnen. […] Nur wenige Männer sind ihnen mit dem nackten Leben entkommen. Sie töten ohne Gnade! […]“ Timotheus verzog säuerlich den Mund. „Ihr fürchtet euch vor eurem eigenen Schatten. Ich habe diese Geschichten gehört – Weiber, die auf Pferden reiten, Äxte und Bogen mit sich führen und sich über die Männer erheben. Ich glaube nicht an derartige Lügengeschichten!“11
Die Romanfigur des Thimotheus entspricht gewissermaßen dem heutigen Rezipienten, der die Amazonen als Mythos „abtut“, nicht an ihre historische Existenz glaubt.12 Die mangelnde Bereitschaft, Mythen Glauben zu schenken, wird hier auf fiktionaler Ebene damit erklärt, dass diese Frauengestalten ein unfassbares Faszinosum sind, die nicht in die gesellschaftliche Ordnung passen,13 ergo unwahrscheinlich sind. Als Thimotheus sie schließlich leibhaftig zu Gesicht bekommt, erlebt er, was die Rezeption dieser mythologischen Gestalten seit der griechischen Antike bis heute ausmacht: Während des Überfalls der Amazonen auf seinen Handelstrupp nimmt Thimotheus die Position eines außenstehenden Zuschauers ein und ist abgestoßen und angezogen zugleich:
11 Fiolka, B.: Amazonentochter. S. 18f. 12 Weniger skeptisch ist die Trojanerin Melania, die Selina später berichtet, was sie aus Erzählungen über das Frauenvolk weiß: „Ja, ich habe gehört, dass es Frauen gibt, die kämpfen können wie Männer. In Zalpa erzählt man sich Geschichten über ein Frauenvolk. Einige behaupten, diese Kriegerinnen mit eigenen Augen gesehen zu haben, andere wiederum tun diese Erzählungen als Geschichten ab. Sie dienen der alten Erdgöttin, der ersten Mutter, die alles Leben geboren hat. Bist du vielleicht eine aus diesem Volk?“ Ebd., S. 275. 13 Thimotheus: „Weiber sitzen in den Häusern ihrer Männer und behüten die Kinder. Sie weben und spielen die Laute. Sie haben weder genügend Kraft in Armen und Beinen, noch ist die Klugheit ihrer Gedanken ausreichend, um ein Leben ohne die Hilfe eines Mannes zu führen.“ Ebd., S. 19.
380 | IV. DIE M YTHOLOGISCHE D IMENSION Der Assyrer bedeutete ihm, vorsichtig über den Felsen zu schauen. Thimotheus hob langsam seinen Kopf, dann stockte ihm der Atem. Er konnte nicht glauben, was er sah. Entsetzt und angezogen zugleich starrte er auf die Gestalten, die sich leise und flink zwischen den Feuerstellen hin und her bewegten und die leblosen Körper der Männer durchsuchten. Thimotheus schloss kurz die Augen. Angst und Scham überfielen ihn. ‚Das sind Weiber!‘, flüsterte er mit hoher Stimme.14
Durch die personale Perspektive dieser Figur darf der Leser einen Blick auf die mythologischen Gestalten werfen und erhält ein imaginatives Bild wie von einer Kamera eingefangen: Er beobachtete die Frau weiter. Sie hatte ihr langes Haar unter einer spitzen, eng anliegenden Lederkappe gebändigt, die am oberen Ende eine Öffnung für die Haare aufwies. Sie trug halbhohe Lederstiefel und Beinkleider wie ein Mann, ihren Oberkörper bedeckte ein Harnisch aus Leder. Ihre Oberarme, die Handgelenke und Fesseln waren mit schlichten breiten Bronzereifen geschmückt, über der Schulter trug sie einen geschwungenen Bogen, und an einem ledernen Hüftgürtel hing eine bronzene Streitaxt mit doppelter Klinge.15
Die leidenschaftliche Bezauberung in der Konfrontation mit den sagenhaften Gestalten16 wird in diesem Roman von einem auktorialen Erzähler verbrieft, der heterodiegetisch selbst keine Figur im Geschehen ist. Wie der mythologische Erzähler (z. B. HERODOT, HOMER oder Apollonios VON RHODOS) nimmt er sich selbst völlig zurück; FIOLKAS Romane wirken nahezu erzählerlos. Anders aber als im antiken Mythos gibt die unbekannte Erzählinstanz die Innenwelt der mit den Amazonen konfrontierten Figuren wieder. Doch nicht nur die Subjektivität der Amazonen als Antagonistinnen, sondern vor allem die Innerlichkeit der Kämpferinnen selbst erfüllt die Intention von FIOLKAS Romanen: die Entmystifizierung dieser unglaublichen „Weibsbilder“. Dies vollzieht sich in Anschluss an die Raub- und Entführungsszene, nach der ein chronotopischer Sprung erfolgt und die Erzählung auf der Zeitachse 15 Jahre vorspringt zur heranwachsenden Selina, der einst entführten Tochter des Händlers, die nun in Lykastia am Fluss Thermodon als Amazone lebt. Ihren Ursprung – ihre leiblichen Eltern waren Mykener und damit Teil der griechi14 Ebd., S. 21. 15 Ebd., S. 21. 16 „Thimotheus war gleichzeitig abgestoßen und gefangen vom Bild dieser Frau.“ [Hervorhebung durch N.U.] Ebd., S. 21. Selbst Thimotheus’ Frau, die Mutter des von den Amazonen entführen Babys, hat im gewaltsam herbeigeführten Tod noch „einen Ausdruck des Erstaunens“ im Gesicht, woraufhin sich Thimotheus übergeben muss, so abgestoßen ist er von der Grausamkeit und der mit ihr einhergehenden ungläubigen Faszination. Ebd., S. 22.
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schen patriarchalen Ordnung – kennt Selina nicht; aus ihrer Perspektive ist der Frauenstaat die legitime soziale Ordnung: Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Männer ihre Frauen in Häuser sperrten und ihnen sagten, was sie zu tun hatten. Sie betrachtete einen Knecht, der gerade zu einer der Frauen humpelte und ihr einen Hasen reichte. Männer waren gute Knechte, jedoch nicht dazu geeignet, ein Volk zu führen oder zu kämpfen.17
Diese Sicht gründet auf einem signifikanten Merkmal des antiken Mythos, das in den Romanen heute meist aufgegriffen wird: Die Amazonen lebten in autarken Frauengemeinschaften, in denen Männer lediglich zu einer bestimmten Jahreszeit zum biologischen Zweck der Fortpflanzung benötigt wurden.18 Die Uneinigkeit über die Auslegung des Adjektivs antianeirai, mit dem HOMER die Amazonen beschreibt, das in der Antike entweder als „männergleich“ oder als „männerfeindlich“ ausgelegt wurde,19 schlägt sich in den Hauptfiguren der hier untersuchten modernen Romane aber meist nicht nieder: Sie sind den Männern zwar ebenbürtige kriegerische Gegnerinnen, doch hassen sie das andere Geschlecht lediglich, wenn dieses die Herrschaft über sie gewinnen will.20 Die subjektive Einstellung der Amazone Selina hierzu wird nicht nur zusammenfassend vom Erzähler beschrieben, sondern in ihren ausformulierten Gedanken in Kursivschrift wiedergegeben, als „Worte im Kopf“: Das ist wunderbar, dachte Selina, während ihre Füße auf dem Boden aufstampften. Sie fühlte sich stark und mächtig, Antianeiras Worte hallten in ihrem Kopf. Sie wollten uns niederzwingen, doch wir töteten sie alle!21
Dadurch kann der Roman die Wichtigkeit bestimmter Haltungen und Einstellungen markieren. Ein bedeutender Aspekt des Amazonentums, der in allen hier untersuchten Romanen immer wieder auftaucht, ist das teilweise befriedigte, teilweise 17 Ebd., S. 37f. 18 Vgl.: Franke-Penski, Udo: Das ambivalente Geschlecht der Amazonen. Eine Einleitung. In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. ebd. und Heinz-Peter Preußer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. S. 7. In Fiolkas Roman treffen sich die Amazonen einen Mondzyklus lang mit den Kaskäern. Vgl.: Fiolka, B.: Amazonentochter. S. 70f. 19 Nach: Döhl, H.: Amazonen. In: Waren sie nur schön? Hg. v. B. Schmitz. S. 225. 20 Z. B. unterweist Antianeira die Amazonentöchter Selina und Palla vor ihrer Weihung: „Treibt mit ihnen Handel, kämpft gegen sie, doch folgt ihnen niemals!“ Fiolka, B.: Amazonentochter. S. 43. Oder Selina erklärt später: „[…] Wo Männer herrschen, leiden die Frauen.“ Ebd., S. 276. Und: „Entweder man unterwarf die Männer, oder sie unterwarfen die Frauen. Es gab keine andere Möglichkeit …“ Ebd., S. 318. 21 Ebd., S. 43.
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ersehnte Bedürfnis dieser Figuren nach Freiheit. Im Matriarchat der Amazonen sozialisiert und ins Patriarchat der Hethiter verschleppt,22 kennt die Heldin die Verzweiflung über die Unfreiheit in der für sie verkehrten Welt. Obwohl in einer patriarchalen Gesellschaft nicht glücksfähig, sind viele der Amazonen im modernen Roman – gleich ihren antiken Vorbildern Penthesilea, Antiope und Hippolyte – dennoch von der Liebe zu einem Mann dieses Kulturkreises geprägt. Doch wie Selina prophezeit wird, geht dies für sie nicht wie im griechischen Mythos tödlich aus, sondern am Ende ihres Lebenswegs epischen Ausmaßes23 stehe das Glück, sofern sie ihrem Herzen folge.24 Sie verliebt sich in den Stadtverwalter von Piramses aus Ägypten, Pairy, den sie zunächst als Gegner betrachtet, sich aber stark von ihm angezogen fühlt.25 Dieses Phänomen der Attraktivität des Gegners zieht sich sowohl durch die antiken Mythen als auch durch die Aufnahmen in den aktuellen Romanen.26 In fast allen belletristischen und auch literarisch „ernsten“ modernen Mythosadaptionen spielt das Thema Liebe eine wichtige Rolle für die dargestellte Gefühlswelt. Somit nutzen alle Romane die Möglichkeit der Subjektivierung der Liebe der Amazone, welche schon seit der Antike ein wichtiges Handlungsmoment ist. Der Unterschied zum antiken Epos ist dabei, dass dies das Schicksal und Handeln der modernen Amazonenfiguren nicht unweigerlich determiniert. Sie unterwerfen sich ihren Liebhabern nicht, sondern bewahren ihre Reflexionsfähigkeit,27 Macht
22 Eine Art Kulturschock, wie ihn auch die Zeitreisende Amazone in Walkers Roman (siehe die Analyse unten) erlebt. Walker, Barbara G.: Amazone. Frankfurt/Main: Fischer 1996. (Original: „Amazon“. San Francisco: 1992.) 23 Sie wird von den Hethitern gefangen genommen, kann schließlich zurück an den Thermodon flüchten, zieht dann aber in den Tojanischen Krieg, um nach der Niederlage endlich den weiten Weg zu ihrem Gatten und dem zurückgelassenen Sohn nach Ägypten anzutreten. 24 Fiolka, B.: Amazonentochter. S. 50. 25 Ebd., S. 160. 26 Ebenso hier in der Konfrontation der mythologischen Gestalt des Achilles mit der Romanfigur Selina: „Selina spürte Zorn in sich aufsteigen, und sie begann, diesen Mann zu hassen und sich gleichzeitig auf unerklärliche Art von ihm angezogen zu fühlen.“ Ebd., S. 382. Von Achilles, hier gewissermaßen als Fleisch gewordener Akteur aus einem Mythos, geht eine mythische Ausstrahlung aus: „Als er fort war, spürte Selina, dass sie am ganzen Körper zitterte. Von diesem Mann ging etwas aus, das sie kaum in Worte fassen, geschweige denn begreifen konnte. Sie fühlte sich von ihm abgestoßen, gehetzt wie ein Tier, und gleichzeitig zog er sie an, lockte sie und forderte sie heraus.“ Ebd., S. 385. 27 Die in den Ägypter Pairy verliebte Selina schilt sich: „‚Du bist so dumm, Selina! Das kam davon, wenn man zu nah mit Männern zusammenlebte. Penthesilea hätte sie nur verständnislos angeschaut.“ Ebd., S. 173.
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und Freiheit,28 selbst wenn das zu innerer Zerrissenheit führt.29 Darum entscheidet sich Selina auch bewusst gegen den „bequemen“ Lebensweg, sofort mit Pairy nach Ägypten zu gehen, sondern zieht erst mit ihrem Volk nach Troja, um gegen die Mykener zu kämpfen. Wie der Mythos um das Frauenvolk ist auch der Trojanische Krieg in FIOLKAS Roman sowohl Historie als auch Sage, je nach Perspektive der Figuren. Die Augenzeugin Melania berichtet Selina von der Lage in Troja, der Marktherr Kosmas dagegen gestaltet den Krieg als Legende aus. Hier kann sich der Roman anders als Theater und Film, die meist erzählerlos sind, der resümierenden künstlerischen Darbietung eines Dialogs, z. B. zwischen Selina und Kosmas, bedienen, d. h. eine szenische Wiedergabe der Erzählung des Mythos ist nicht nötig. Er kann sogar personal aus der Sicht von Selina beschrieben werden: Während sie die Karre gemeinsam zu Kosmas’ Haus zogen, erzählte er Selina von der mächtigen Stadt Troja, ihren großen Palästen, dem Schutzgott Apollon und dem unbedarften Prinzen Paris, der sein Volk durch seine Vernarrtheit in die schöne Königin von Sparta ins Elend gestürzt hatte. Selina musste sich ein Lächeln verkneifen: Kosmas[’] Geschichten waren ausgeschmückt wie die alten Geschichten und Märchen, die man sich in langen und kalten Winternächten in den Gemächern Hattusas über Götter und Legenden erzählt hatte, und es war leicht zu erahnen, dass er nie in seinem Leben einen Palast betreten hatte, jedoch zu gerne als reicher Mann am Hofe Trojas gelebt hätte.30
Auf Bitte des Prinzen von Hatti ziehen die Amazonen in einem Heer zu Hunderten in den Trojanischen Krieg. Auch in Troja und bei den Mykenern hält man das Volk der Amazonen für bloße Legende, doch leibhaftig (d. h. entmystifiziert) und durch König Priamos eingeordnet in die Genealogie der mythischen Götter (d. h. mystifi-
Oder über Paris, der sein Volk wegen Helena in den Krieg führt, sagt sie zur Trojanerin Melania: „‚Wie dumm von eurem Prinzen, ein solches Königreich für eine Frau zu zerstören.‘ Melania lächelte nachsichtig. ‚Wer weiß schon, welch verbotene Wege die Liebe geht, wenn sie sich in ein Herz stiehlt.‘ ‚Er tauscht das Leben seines Volkes gegen die Liebe. Er muss einfach dumm sein.‘ Selina bemühte sich, überzeugend zu klingen, doch in ihre Gedanken drängte sich Pairys Gesicht, und eine tiefe Sehnsucht überkam sie.“ Ebd., S. 274. 28 Später, mit ihm verheiratet, sagt sie zu Pairy: „Ich bin deine Gemahlin, aber nicht deine Gefangene!“ Ebd., S. 222. 29 „Es war vielleicht die Liebe, die einen Mann dazu nötigte, sich zum Narren zu machen, doch sie selber wurde von der Liebe zerrissen – von der Liebe zu ihm und der Liebe zu ihrem Land und ihrem Volk.“ Ebd., S. 339. 30 Ebd., S. 288.
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ziert)31 bekommt sogar Achilles Respekt vor ihnen. Entmystifiziert aus Selinas Beobachterperspektive heraus wird schließlich auch der Kampf des Achilles gegen die Amazonenkönigin Penthesilea. Ihr Gedankenverlauf32 gibt den legendären Kampf wieder und bestätigt letztlich das griechisch-antike Weltbild, dass Penthesilea dem Heros nicht gewachsen ist, wobei sie aber weniger ebenbürtig-heldenhaft erscheint als in den alten Mythen: Penthesilea schlug mit aller Kraft, doch Selina traute dem Kampf des Thessaliers nicht. Er hält sich zurück! Er hält sich zurück, während Penthesilea mit ihrer ganzen Kraft kämpft und glaubt, dass er ebenso erbittert zuschlägt. Er spielt mit ihr, es ist das Spiel eines Raubtieres mit seinem Opfer! Ihre Gedanken überschlugen sich. Wenn ich dazukomme, wenn wir gemeinsam gegen ihn kämpfen, können wir ihn vielleicht besiegen.33
Die Mythe um den Kampf von Penthesilea und Achilles stammt aus der nicht erhaltenen Aithiopis, ein Epos, das an die Handlung von HOMERS Ilias anschließt.34 Durch die Erfindung der Romanfigur Selina schließt der Kampf nicht damit ab, dass Achilles sich in die getötete Kontrahentin verliebt, sondern es ist Selina, der er seine unbarmherzige Macht demonstrieren will, was aber vielmehr mit Begehren als mit Liebe zusammenhängt.35 Nach dem Fall Trojas bleiben lediglich 16 Amazonen übrig, die sich an den Thermodon zurückziehen, während sich Selina auf den Weg zu Sohn und Ehemann nach Ägypten macht. Die Romane von FIOLKA bewältigen Ortswechsel großer Dimension und springen teilweise zwischen den Schauplätzen, indem die Überschriften der Kapitel jeweils die Ortsangaben markieren. Die Hauptfiguren werden auf ihren weiten und langen Reisen zu Pferd und mit dem Schiff begleitet, chronotopische Bedingungen, die anders als im Theater fließend bewältigt werden können. Auch in FIOLKAS zweitem mythologischen Roman, in dem die Tochter der Amazone Selina – die in Ägypten aufgewachsene Kamara – Protagonistin ist, finden Ver31 „‚Ich kann sie dir nicht überlassen, Prinz von Thessalien [Achilles, der Selina als Tausch für Hektors Leiche will]. Sie ist die Tochter der Kriegerkönigin Penthesilea und diese ist eine Tochter des Ares, wie du der Sohn einer Nymphe bist. Du weißt es am besten: Der Zorn der Götter würde uns treffen.‘ Er war zufrieden mit seiner List. Der Aberglaube der einfachen Soldaten, die mittlerweile diese Geschichte um das kriegerische Frauenvolk verbreiteten, gefiel ihm. Selina hatte keine Ahnung, wer oder was Ares war, doch Priamos’ Worte schienen Achilles zu überzeugen.“ Ebd., S. 382. 32 Typografisch abgesetzt von der Erzählung und vom Dialog in kursiven Lettern. 33 Ebd., S. 403. 34 Vgl.: Börner, Lars: Der tragische Tod der Penthesilea. In: Amazonen. Geheimnisvolle Kriegerinnen. S. 27. 35 Vgl.: Fiolka, B.: Amazonentochter. S. 403.
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schleppungen und Reisen statt. Allerdings gerät sie nicht in mythische Schlachten, sondern es sind Versatzstücke des Amazonenmythos, die sie vorantreiben. Wie in vielen Filmen, die den Frauentypus der Amazone aufgreifen, wird Kamara im Zuge von sexueller Demütigung zur Rächerin. Der Kaufmann Lisias verkauft sie in Mykene als Sklavin, doch das von der Mutter zur Kriegerin erzogene Mädchen begehrt so stark dagegen auf, dass er sie mit der „Salbe der Tugend“36 versucht, gefügig zu machen. Das entspricht dem Muster von „rape and revenge“-Filmen, weil die brennende Salbe, die Kamara zur Züchtigung zwischen die Beine aufgetragen wird, mit einer Vergewaltigung gleichzusetzen ist,37 die einen Rache-Plot nach sich zieht. Vergeltung soll hier im Sinne des Amazonenvolks erfolgen: „[… S]ie betete zur Großen Mutter, dass diese ihr helfen möge zu entkommen und sich an Lisias zu rächen, auf eine Art, auf die auch ihre Mutter und deren Volk sich gerächt hätte.“38 Kamaras Psyche besteht aus zwei Seelen, die innerlich zu ihr „sprechen“ und zwischen denen ihre Taten und ihre Persönlichkeit hin- und hergerissen sind: ihr ägyptisch sozialisiertes Ich einerseits und das „wilde“ Amazonen-Ich39 andererseits, analog zur Verstandes- und Gefühlebene. Letztere Gefühlsschicht wird von der sprachlichen Medialität des Romans ausgeschöpft, indem er z. B. Kamaras innere Monologe ausformuliert wiedergibt (bisweilen zwischen ihren beiden Hälften auch als Dialog40) – „Kämpfe endlich für deine Freiheit!“41 –, oder Kamara im Geiste das Lied des Volks ihrer Mutter summt,42 welches dem Roman vorangestellt ist. Wie in Theater und Film kommuniziert die Amazone ihre inneren Vorgänge aber auch nach außen, äußert z. B. gegenüber einer Priesterin, dass sie glaubt, an einer Geisteskrankheit zu leiden.43 Zu ihrem wahren Ich findet Kamara erst, als sie ihrer Wildheit nachgibt und lernt, alle zu töten, die sie von ihrer Spurensuche nach dem Amazonenvolk abzubringen versuchen. Es ist aber ihre Mutter Selina, die Lisias 36 Fiolka, B.: Das Vermächtnis der Amazonen. S. 78. 37 Der erzählerische Konjunktiv, hier Irrealis, wird genutzt, um das Ausmaß der Demütigung zu beschreiben: „Stockhiebe, Schläge, Ohrfeigen – alles wäre erträglicher gewesen.“ Ebd., S. 69. 38 Ebd., S. 69. 39 „Ihr ägyptischer Verstand sagte ihr, dass sie ihre Flucht mit Bedacht würde planen müssen, um dann auf direktem Wege zurück nach Piramses zu gelangen. Ihr Gefühl jedoch drängte sie, Lisias zu töten und am besten sofort aus Mykene zu fliehen. Sie wollte nicht denken, wollte Rache, wollte Blut, wollte frei sein. Das Gefühl, eingesperrt zu sein, den Mund verboten zu bekommen, war dieser Hälfte von ihr unerträglich.“ Ebd., S. 73. 40 Z. B.: Ebd., S. 264f. 41 Ebd., S. 101. 42 „Flieg, kleine Schwester, flieg! Kämpfe, kleine Schwester, kämpfe, summte sie gedankenverloren die alte Weise des Volkes der Großen Mutter.“ Ebd., S. 109. 43 Ebd., S. 327.
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mit dem rachedürstigen Satz „Und heute wirst du sterben, Lisias – für meine Göttin, für mein Volk und für meine Tochter!“ umbringt. Die protagonistische Amazone im mythologischen Roman von Steven PRESSFIELD, Die Königin der Amazonen (2003), trägt einen ganz ähnlichen Namen wie FIOLKAS Amazone: Selene. Die Namensgebung in den mythologischen Romanen um 2000 erfolgt meist ebenso wesenhaft wie im antiken Mythos und wird von den Erzählern oder Figuren reflektiert.44 Die Penthesilea bei FIOLKA nannte ihre Tochter nach „einer fremden Mondgöttin“45, und auch die Rahmen-Ich-Erzählerin bei PRESSFIELD erklärt, dass Selene Mond bedeute.46 Nach VON RANKE-GRAVES ist das Wort „Amazone“ nicht von a mazon her, für „ohne Brüste“, zu verstehen, sondern als armenisches Wort aufzufassen, wo es Mondfrau bedeutet.47 Im Mythos steht nach Ernst CASSIRER der Name nicht nur für eine Gestalt, sondern er ist gar „das Wesen selbst“, „und die Kraft des Wesens [liegt] in ihm beschlossen“.48 Vermutlich darum werden die Figuren jener Romane, die in der mythologischen Tradition geschrieben sind (FIOLKA und PRESSFIELD, im Ansatz auch WALKER49) mit bedeutungsvollen Namen bedacht. Sie greifen auch auf mythologisch tradierte Amazonennamen zurück, die Rückschlüsse auf die ihnen nachgesagte Lebensweise zulassen, z. B. in den Komposita mit hippos (Pferd) oder maché (Kampf).50 Weitere Eigenschaften der Frauen aus dem „Wilde[n] Land“51 werden in PRESSFIELDS Roman in einer komplex verschachtelten Erzählstruktur vorgestellt. Das epische Merkmal der scheinbaren Erzählerlosigkeit trifft auf diesen mythologischen Roman nicht zu, denn hier treten Augenzeugen-Erzähler vor ein Publikum, das sie explizit ansprechen. Die Erzählerinnen und Erzähler berichten mündlich von ihren 44 Kleite, Selinas Großmutter und Penthesileas Mutter über die wesenhafte Namensgebung: „Ich gab meinen Töchtern immer Namen, die zu ihnen passten: Hippolyta – die die Pferde befreit –, weil sie als Kind die Zäune öffnete, um die Herden im wilden Galopp am Fluss entlangjagen zu sehen; Antianeira – gegen die See –, weil sie einmal in einen Sturm geriet, als sie von der heiligen Insel kam, und das raue Wasser schwimmend bezwang; Penthesilea – die Männer zur Trauer zwingt –, weil sie sich weigerte, jemals von einem Mann berührt zu werden.“ Fiolka, B.: Amazonentochter. S. 29. 45 Ebd., S. 36. 46 Pressfield, S.: Die Königin der Amazonen. S. 9. 47 Ranke-Graves, R. von: Griechische Mythologie. Band 1. S. 322. 48 Cassirer, Ernst: Philosophie der symbolischen Formen. Wesen und Wirkung des Symbolbegriffs. Sonderausgabe. 8. Auflage. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1994. S. 74. 49 Unten zu den phantastischen Romanen gezählt. 50 Nach: Döhl, H.: Amazonen. In: Waren sie nur schön? Hg. v. B. Schmitz. S. 228. 51 Pressfield, S.: Die Königin der Amazonen. S. 9.
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Begegnungen mit den Amazonen, die sie mit allen Sinnen erlebt haben. Die Rahmenerzählung stammt von der (vermeintlichen) Griechin Thyone, die gemeinsam mit ihrer Schwester Europa die „zahme Amazone“52 Selene als Kinderfrau und Lehrerin hatte. Einmal im Jahr erzählt Thyone ausschließlich Zuhörerinnen von Selene, rezitiert das selbst Erlebte, ergänzt mit dem ihr Überlieferten, um das Amazonentum als einen unauslöschlichen und unabänderlichen Tatsachenbericht – und nicht als zweifelhaften Mythos – im kollektiven weiblichen Gedächtnis zu etablieren.53 Sie berichtet, wie sie von Selene körperlich gezüchtigt wurde, weil die Amazonen an den „Kult des Hasses“54 glauben und erklärt, dass sie ebenso zu großer Liebe fähig seien. Sie kennt den eigentümlichen Geruch der Amazone, beschreibt aber lediglich die Reaktion ihrer Mutter auf diesen55 und erzählt von ihrer kindlichen Bewunderung für die Haartracht der Amazone.56 Aber auch in diesem Roman geht es nicht allein um die Eigenschaften der kriegerischen Frauen. Sondern das fiktionale Personal wird mit mythologischen Figuren und Einzelmythen (wie die Legende von Theseus und Antiope) konfrontiert, wodurch diese auf fiktionaler Ebene entmystifiziert, d. h. zur Realität der Figuren erhoben werden. Sie erleben die antiken Amazonenmythen in Superlativen, die in ihrer Übertreibung den Mythos wiederum bekräftigen und sogar erhöhen. Kurz: Die mythischen Figuren und Geschehnisse werden von den ihnen begegnenden Romanfiguren so intensiv und gigantisch-heldenhaft erlebt, dass aus dieser erlebenden Entmystifizierung eine Steigerung des Mythos für künftige Legenden erwächst: 52 Ebd., S. 9. 53 „Jeder Vers soll sich unauslöschlich in euer Gedächtnis prägen. Ihr Ältesten, die ihr schon viele Herbste die Geschichte vernommen habt, gedenkt eurer Pflicht: Sollte ich auch nur eine Zeile nicht korrekt wiedergeben, gebietet mir umgehend Einhalt, denn unserem Vortrag darf auch nicht der Hauch von Legendenbildung anhängen. Nur die Wahrheit gilt. Und sollte die Zeit gekommen sein, da ihr diese an eure eigenen Töchter weitergebt, seid euch dieser Verpflichtung stets bewusst, tragt das Geschehene unverfälscht weiter, so wie ich es euch überliefert habe.“ Ebd., S. 10f. 54 Ebd., S. 11. 55 „Selene roch. Mutter verwehrte ihr den Zutritt zu den Empfangsräumen des Hauses, da der Geruch, den sie verströmte, so behauptete Mutter, in jedem Kleidungsstück, in ihrem Haar und sogar an den Wänden hängen bliebe. Zu unserem großen Vergnügen machte unsere Mutter oft Jagd mit einem Besen auf unsere Kinderfrau.“ Ebd., S. 13. 56 „Die Wirkung dieser Haartracht, ob unbedeckt oder unter der Rehlederkappe der Phrygier getragen, wirkte hoheitsvoll und Furcht erregend zugleich, denn die Haarmassen ließen ihre Trägerin um einen halben Kopf größer erscheinen, während sie gleichzeitig als eine Art Helm dienten, der Sturz oder Schlag abfederte. Die schmerzhafteste Tracht Prügel bekamen Europa und ich von unserer Mutter, als sie uns dabei ertappte, wie wir versuchten, diese Haartracht nachzuahmen.“ Ebd., S. 14.
388 | IV. DIE M YTHOLOGISCHE D IMENSION Nie zuvor hatte ich [Thyone] einen schöneren Mann [als Theseus. Anm. N.U.] gesehen! Er war noch einen halben Kopf größer als mein Vater, der schon alle in dieser Gegend überragte, und seine Züge waren wie aus Eichenholz geschnitzt. Seine Arme waren goldgebräunt von der Sonne, und seine schulterlangen Locken glänzten. Es bedurfte keiner üppigen Fantasie, sich vorzustellen, weshalb Antiope, die Amazonenkönigin, ihm verfallen war und für ihn ihr Volk verließ und es später sogar verriet, indem sie an seiner Seite gegen ihre Schwestern in die Schlacht zog.57
Durch die Übersteigerung des Mythos, welche hier bei den fiktionalen Zuhörerinnen und bei den Leserinnen und Lesern um 2000 intensive imaginative Bilder erweckt, vermag der mythologische Roman zu faszinieren. Es sind konkret beschriebene und überspitzte Bilder, die hier ausgeformt werden und dem Rezipienten wenig Raum für Ergänzungen lassen. Ebenso ist der Rezipient determiniert durch die Perspektive, d. h. die beschriebene sinnliche Wahrnehmung, des jeweiligen figuralen Erzählers. Nach Theseus’ Besuch bei Selene, bei dem Thyone ihn erleben durfte, flüchtet die amazonische Kinderfrau zurück in ihre Heimat. Doch zuvor hinterlässt sie den Mädchen ihr Vermächtnis, das nun Thyone wortwörtlich weitergibt. Es stellt folglich die Ich-Binnenerzählung dar, welche anders als Thyones Ich-Rahmenerzählung nicht allein aus „Tatsachen“ besteht: Fühlt eine Amazone die Stunde ihres Todes nahe […], verlangte das Gesetz ihres Volkes von ihr, ihr Vermächtnis zu hinterlassen. […] Ein solches Vermächtnis, so erklärte Selene uns, wurde nur selten in Form eines Tatsachenberichts weitergegeben, sondern enthielte vor allem auch Visionen und Träume von zu erwartenden Geschehnissen.58
Dieses Vermächtnis enthält u. a. Selenes Perspektive auf die einstige Ankunft Theseus’ im Amazonenland und den anschließenden Marsch auf Athen, sowie ihre Sicht auf Herakles im bereits fortgeschrittenen Alter, in dem er „aber immer noch schön und strahlend“,59 ein „Wunder in Menschengestalt“60 war. Für die Amazone Selene ist es aber unnatürlich, „ich“ zu sagen, denn wie die Figuren des antiken Mythos allgemein verfügt sie kaum über eine individuelle Psyche, was sich in diesem Fall durch das Kollektivwesen der Amazonen begründet: 57 Ebd., S. 17. Auf diese Weise wird später auch der Mythos der Amazonen vom Augenzeugen-Erzähler Damon erhöht: „All die Geschichten vom Land der Amazonen, die an unsere Ohren gedrungen waren, waren nichts gegen das, was uns wirklich erwartete. Wie soll ich es euch begreiflich machen, Brüder?“ Ebd., S. 107. 58 Ebd., S. 20f. [Sic! Unregelmäßiger Konjunktiv] 59 Ebd., S. 44. 60 Ebd., S. 46.
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Bei den tal Kyrte [Bezeichnung für das Amazonenvolk, was so viel bedeutet wie „Freies Volk“. Anm. N.U.] sagt man nicht „ich“, sondern „die, die spricht“ oder „sie, die antwortet“. Um sich auszudrücken, beginnt man mit: „Das ist, was mein Herz mir sagt“, oder: „Die, die spricht, wird so bewegt.“ Eine unseres Volkes sieht sich nicht als Einzelwesen, getrennt von anderen, Herrin einer privaten Welt, trennbar von der Welt der anderen.61
Selenes Binnen-Ich-Erzählung entbehrt folglich der innerpsychischen Ebene, das personalisierende Pronomen vermeidet sie in der Narration an ihre hellenischen Zuhörerinnen aber nicht gänzlich. Ohne emotionales Beiwerk zählt sie die Namen von Herakles’ Opfern auf, wodurch ihr Vermächtnis stellenweise dem Stil der alten Epen (wie etwa die Namenskataloge in HESIODS Theogonie) entspricht.62 Auf Thyone und ihre Schwester Europa üben diese Heldenepen aus dem Mund einer Augenzeugin eine so große Faszination aus, dass Europa mit der Amazone flüchtet. Um Selene zu verfolgen und die griechische Tochter zurückzuholen, stellen die Hellenen ein Heer auf. Die Rahmenerzählerin Thyone schließt sich diesem ansonsten männlichen Suchtrupp an, dem u. a. ihr Vater Elias und Onkel Damon, der in die flüchtige Selene verliebt ist, angehören. Diese Figuren werden während der Wochen der Verfolgung zu weiteren Binnenerzählern in Thyones Rahmenerzählung, denn das Mädchen ist nicht bei den Kampfhandlungen dabei. Damon weiß z. B. nach einer Verfolgungsjagd in der Unterwelt von der unendlichen Grausamkeit zu berichten, mit der Selene ihre Verfolger abzuhängen versucht. In diesen Binnenerzählungen des Romans bricht der Schrecken des Mythos aus:63 Der Ich-Erzähler Damon schildert die Brutalität der Amazone gegen ihre Kontrahenten, die sowohl ihn als überlebende Figur der Narration eruptiv erschreckt (hat) als auch seine unmittelbaren Zuhörer (den Verfolgungstrupp und Thyone) sowie seine mittelbaren Zuhörerinnen (das Publikum von Thyone) ebenso wie die Leserschaft des Romans: Ich drehte mich um und sah Selene auf der anderen Seite, wie sie Mandrokles’ leblose Gestalt aus den Flammen zerrte. Sie hob ihn beim Haar hoch und schlug ihm den Kopf ab. Die Amazone steckte seinen bluttriefenden, brennenden Schädel auf ihre Kampfaxt und stieß einen Schrei so wilder Freude aus, wie dieser nur hier, an den Toren des ewigen Verderbens, möglich war.64 61 Ebd., S. 41. 62 Hesiod: Theogonie. Hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart: Reclam 1999. Vgl.: Ebd., S. 45f. 63 Vgl.: Karpenstein-Eßbach, Ch.: Derivationen der Diskursanalyse. In: Weimarer Beiträge. S. 16. 64 Pressfield, S.: Die Königin der Amazonen. S. 69. Auch Thyone erklärt aus zweiter Hand, wie sinnlich erschütternd die Begegnung mit der Gewalt einer Amazone sein kann: „Umso schlimmer waren seine [Phormions] inneren Verletzungen – jenes Entsetzen, das (wie Damon uns später erklärte) jede kämpferische Auseinandersetzung mit den Kriegerinnen
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Der Roman kreiert hier in der Binnengeschichte eine autodiegetische, unmittelbare Erzählsituation von einem gleichzeitig mit seinen Rezipienten anwesendem Sender, der im Austausch mit diesen steht. So kann Damon in direkten Bezügen auf seine Zuhörer eingehen und deren Schrecken wiederum indirekt für den Romanleser greifbar machen: „Was aus unserem Mut geworden sei, fragt ihr? Er war im Arsch, wenn ich so sagen darf.“65 In den Worten des Erzählers spiegeln sich auf „theatralische“ Art die Reaktionen und Fragen des Publikums. Die produktive Eigenleistung des Romanlesers kann hier darin bestehen, sich die Reaktion der anwesenden Zuhörer vorzustellen, welche – anders als er selbst – implizite Figuren sind. Außerdem sind in Thyones Narration Binnenerzählungen in Form von wörtlicher Rede, die nicht als separate Kapitel abgegrenzt sind, integriert. So fordert Prinz Attikus, der Anführer des Suchtrupps, die altgedienten Krieger (Phormion, Philippus, Thyones Vater Elias und Onkel Damon) dazu auf, von ihren vergangenen Reisen zu den Amazonen zu berichten. Sie sind wiederum fiktionale Romanfiguren, die die mythische Gestalt des Theseus auf der Fahrt zu den Amazonen begleitet hatten. Attikus erbittet ausdrücklich eine chronotopisch explizit definierte, strategische und lehrreiche Narration: „Tretet vor, meine Herren. Unsere Schar bereist dieselbe Küste, die ihr schon zwanzig Jahre zuvor mit Theseus erkundet habt. Erzählt uns von dieser Fahrt. Wann genau hat sie stattgefunden? Zu welchem Zweck wurde sie unternommen? Was geschah, als ihr die Heimat der Amazonen erreicht hattet? Und wie kann unsere Schar heute von euren Erfahrungen profitieren?“66
Aus Thyones Zuhörerinnen- und Rahmenerzählerinnenperspektive sind es „schaurige Geschichten“ und „Blutrünstiges“,67 was Damon zu berichten weiß. Wie ein roter Faden ziehen sich solche Thematisierungen der allgemeinen Erzählpraxis und -funktion durch PRESSFIELDS mythologischen Roman, sowie auch Reflexionen über die Entstehung von Legenden und deren subjektive Verklärungen. Das Repertoire an mythologischen Geschichten für die Aufnahme in die Kunst des Romans erweist sich als unerschöpflich, weil jede Mythe und Erzählung immer eine Vorgeschichte (und selbstverständlich auch ein „Nachspiel“) hat, die von den modernen Romanfiguren erzählt und individuell perspektiviert werden können.
Amazoniens zur Folge hat und das die menschlichen Sinne in nie geahnte Abgründe stürzt, begegnet er dem Weiblichen in Form dieser barbarischen Grausamkeit.“ Ebd., S. 70. 65 Ebd., S. 66. 66 Ebd., S. 91. 67 Ebd., S. 91.
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Anders als in antiken Epen ist dies bei PRESSFIELD – z. B. durch die Erzählfigur des Damon – auch die „Brille der Liebe“.68 Die Protagonist(inn)en selbst sind von einer Liebe epischen Ausmaßes durchdrungen, die ihr Handeln determiniert. Das Unvermögen, sich der Liebe zu erwehren, ist der Umstand, der auch bei PRESSFIELD dazu führt, dass sich die hellenische Ordnung des Patriarchats bestätigt und das Matriarchat der Amazonen durch einen griechischen Heroen geschwächt wird. Gegen einen Gott kann nicht einmal eine Amazonenkönigin etwas ausrichten, wie Antiope einsieht: „Die Liebe ist eine Gottheit, Selene, gegen deren Ränke kein Kraut gewachsen ist. Selbst die Unsterblichen, so heißt es, sind dagegen machtlos.“69 Die Intensität von PRESSFIELDS mythologischem Roman besteht in der Konfrontation der Kraft der Liebe mit der Kraft des Schreckens. Beide Phänomene stellen für die Amazonen Grenzüberschreitungen dar, welche auch in PRESSFIELDS mythologischen Adaptionen die Handlung bestimmen. In Selenes Vermächtnis kommt Antiope zu Wort, die sich beiden Formen der Transgression nicht erwehren kann: „Die Kriegerin auf dem Weg in die Schlacht überschreitet eine Grenze, Selene, wie wir von tal Kyrte [Amazonen] sagen. Und jenseits davon sprechen wir sogar eine andere Sprache. Es ist die Nähe des Todes, die uns verändert. Dasselbe gilt für die Liebe. In der Liebe überschreiten wir eine Grenze. Und jenseits dieser Grenze ändert sich alles. Auch wir selbst sind nicht mehr dieselben. Du verstehst das, Selene. Auch dich hat die Liebe verändert. […]“70
Beide Grenzüberschreitungen offenbaren sich in den von Augenzeugenerzählern entmystifizierten und perspektivisch gesteigerten Einzelmythen: die Geschichte von Theseus und Antiope und die grausam geführte Schlacht der Amazonen gegen die Skythen.71 Anders als die von Theseus geführten Attiker sind die Skythen bereits im antiken Mythos keine ernstzunehmenden Gegner; sie wollen vielmehr eine Verbindung mit dem Frauenvolk eingehen.72 Die Überlegenheit über die Skythen beweist die Stärke des Frauenvolks, während die letztliche Unterlegenheit gegenüber der kämpferischen Kraft und erotischen Ausstrahlung der Hellenen die griechische Weltordnung bestätigt. Im Sinne Heinz-Peter PREUßERS wäre es folglich eine feministische Fehldeutung, PRESSFIELDS mythologischen Roman emanzipatorisch zu in68 Vgl. z. B.: Ebd., S. 107. 69 Ebd., S. 113. 70 Ebd., S. 185f. 71 Z. B. das erschütternde Bild von Antiope in dieser Schlacht aus Damons Sicht: „Und mittendrin in diesem Spektakel des Schreckens stand Antiope, die Streitaxt in der einen, den abgetrennten Schädel eines Skythen in der anderen Hand, die Beine bis zur Hüfte mit Blut getränkt. Blut, Speichel und Gekröse tropften von der Klinge ihrer Axt. Ihr Haar und selbst die Zähne waren dunkel verfärbt vom Blut.“ Ebd., S. 166. 72 Vgl.: Herodot: Historien. Erster Band. Hg. v. J. Feix. Buch IV, 114. S. 585.
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terpretieren. Die kriegerische Stärke der Amazonen und ihre exzessive Gewalt haben hier lediglich die Funktion, die imaginative Rezeption des Romans zu steigern; an der subalternen Position der Frau hat sich in diesem Roman gegenüber den antiken Mythen nicht viel geändert: In allen Amazonenmythen unterliegen also die kriegerischen Frauen, sei es durch Liebe, sei es im direkten Kräftemessen auf dem Feld, sei es in einer Kombination aus beiden Anteilen. Sie werden ernst genommen, nur um die Fallhöhe zu vergrößern. Die männlichen Helden strahlen dann umso kräftiger.73
Nun mag dies darauf zurückzuführen sein, dass es sich bei den Romanen um mythologische bzw. (pseudo-)historische Romane74 handelt, d. h. dass sich die kriegerische Stärke und die anschließende Niederlage der Amazonen sowohl bei PRESS75 FIELD als auch bei FIOLKA an die antiken Einzelmythen anlehnen. Darum werden nun auch Romane untersucht, die nicht in der historisch-mythologischen Zeit der Amazonen (um 1300 v. Chr.) spielen, sondern den Mythos versatzstückartig in einen zeitgenössischen Plot aufnehmen. In den folgenden beiden zu analysierenden Romanen treffen die Figuren um 2000 in ihrer Konstellation nicht mit mythologischen Amazonen zusammen, sondern verfügen selbst über singuläre Eigenschaften, die den Amazonen seit der Antike zugeschrieben werden. Diese Dispositionen werden funktional in gesellschaftspolitsch-problembezogene Zusammenhänge gestellt. Im ersten dieser Romane ist dies das Amazonen-Motiv der Kriegerin: Als Soldatin der Bundeswehr im zeitgenössischen Afghanistankrieg geht der „Amazone“ im Roman von Dirk KURBJUWEIT aber das mythologische Heldenpathos ab. Inwiefern gilt hier die These von der Bestätigung des männlichen Heldentums durch die weibliche Kriegerin noch?
73 Preußer, Heinz-Peter: Der Mythos der Amazonen. Eine männliche Konstruktion und ihre feministischen Fehldeutungen. In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. U. FrankePenski und ebd. S. 37f. 74 Fiolkas Zweiteiler und Pressfields Roman spielen ca. im 13. Jh. v.Chr. Pressfield merkt abschließend an, dass in diesem Zeitalter Historie und Mythologie gemischt waren, woraus er schließt, dass damals „die Legenden von den Amazonen vermutlich auf einem wahren Kern basierten.“ Pressfield, S.: Anmerkungen des Autors. In ebd.: Die Königin der Amazonen. S. 379. 75 Hier unterliegen die Amazonen an der Seite der Trojaner gegen die Mykener, und ihr Volk wird beinahe ausgelöscht.
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AMAZONEN IM GESELLSCHAFTSPOLITISCHEN G EGENWARTSROMAN Während die untersuchten mythologischen Romane von FIOLKA und PRESSFIELD einen vorwiegend unterhaltenden Wert haben, gestaltet sich KURBJUWEITS Roman Kriegsbraut von 201176 – als „erste[r] Roman über das Engagement der Bundeswehr am Hindukusch“77 – problembezogen. Der Bezug zum Mythos der Amazonen stellt sich zunächst implizit über das prädominante Merkmal dieser „männergleichen“78 Frauen dar: Protagonistin Esther will kämpfen und erlernt das Kriegshandwerk. Als Amazonen wurden bereits im Frankreich des 18. Jahrhundes (wie heute häufig in der Alltagssprache) „nicht nur die Angehörigen des mythischen weiblichen Reitervolkes bezeichnet, sondern in verallgemeinernder Übertragung auch kämpferische, waffentragende Frauen.“79 Lyn Webster WILDE dagegen befindet, dass gerade in der heutigen Kriegsführung Soldatinnen nicht mehr als Amazonen gelten können, da die moderne Kriegsführung Gegner nicht mehr von Angesicht zu Angesicht gegenüberstellt. Soldatin in irgendeiner Armee zu sein macht eine Frau noch nicht zur Amazone. […] Es geht um etwas Subtileres und zugleich Radikaleres, das etwas mit dem absichtlichen Überschreiten der Grenze zwischen männlich und weiblich zu tun hat und mit dem Ziel, Energie anders einzusetzen.80
Bei der Bekämpfung des Terrorismus der Taliban hat Esther es zunächst tatsächlich mit einem stillen Feind zu tun, den sie lange nicht zu Gesicht bekommt: „Ein Krieg, hatte sie immer gedacht, ist laut, nun starb sie an der Stille.“81 Dennoch ist es wie im Mythos etwas Radikales, das sie dazu antreibt, der Bundeswehr beitreten zu wollen, was für das bürgerliche Umfeld, aus dem sie stammt, eine Grenzüberschreitung bedeutet: Nach einer enttäuschten Liebe entwickelt Esther einen diffusen und zugleich radikalen Drang zu kämpfen, was der Beamte auf dem Arbeitsamt ihr nicht zutraut: 76 Kurbjuweit, Dirk: Kriegsbraut. Berlin: Rowohlt 2011. 77 Mensing, Kolja: Blut an den Händen. http://www.faz.net/artikel/C30347/dirk-kurbjuweitkriegsbraut-blut-an-den-haenden-30330205.html (11.03.2011). 78 Börner, L.: Als die „männergleichen“ Amazonen kamen. In: Amazonen. Geheimnisvolle Kriegerinnen. S. 17. 79 Grubitzsch, Helga: Mit Piken, Säbeln und Pistolen … ‚Amazonen‘ der Französischen Revolution. In: Amazonen. Geheimnisvolle Kriegerinnen. S. 243. 80 Wilde, Lyn Webster: Amazonen. Auf den Spuren kriegerischer und göttlicher Frauen. Hamburg, Wien: Europa Verlag 2001. S. 213. 81 Kurbjuweit, D.: Kriegsbraut. S. 111.
394 | IV. DIE M YTHOLOGISCHE D IMENSION „Informatik haben Sie studiert?“, sagte er. „Ja, aber ich könnte auch was anderes machen.“ „Was stellen Sie sich vor?“ „Kämpfen.“ „Infanterie?“ „Ja.“ „Schwierig für Frauen.“ „Warum schwierig?“ „Man muss sehr fit sein.“ „Ich bin sehr fit.“ „Muskeln, man braucht Muskeln.“ Er schlug ihr vor, Fernmelder zu werden, das sei eine gute Sache. „Kommt man da auch nach Afghanistan?“, fragte sie. „Natürlich, gerade Fernmelder kommen nach Afghanistan.“ „Gut, Fernmelder“, sagte sie.82
Damit geht eine amazonenhafte Distanzierung vom männlichen Geschlecht einher, in dessen Verbindung sie sich bislang eher schwach gefühlt hatte.83 Doch auch in der Position als kriegerische Kameradin erringt sie keine Gleichheit mit den Männern: Die Frauen der Bundeswehr messen ihr Können mit dem der kampftechnisch überlegenen Soldaten,84 und umgekehrt bestätigen sich die Männer ihre Überlegenheit im Vergleich mit den Soldatinnen.85 In ihrer Grundausbildung wird aus der einst empfindsamen, von der Liebe enttäuschten Romanfigur zunächst eine Art mythologische Kämpferinnengestalt, indem sie ihre psychische Ebene ablegt und in ein Kollektiv eintaucht.86 Darum verachtet sie die Liebschaften, die vor allem zwischen Ausbildern und Rekrutinnen 82 Ebd., S. 57. 83 Als ein Rettungsschwimmer in ihrem Urlaub vor der Grundausbildung mit ihr flirtet heißt es: „Keine Chance, mein Lieber, dachte sie, eine Soldatin kriegst du nicht.“ Ebd., S. 58. 84 „Sie erschrak immer noch beim Schuss, das musste sie bei den ersten Übungen auf der Schießbahn feststellen. Aber den Männern ging es nicht anders, und das war der Maßstab für sie und die anderen Soldatinnen: Wie steht unser Können zum Können der Männer? Gleichstand war das Ziel, doch sie gaben sich selbst einen kleinen Rabatt, sodass ‚fast so gut wie die Jungs‘ eigentlich hieß: ‚so gut wie die Jungs‘.“ Ebd., S. 60. 85 „Sie wusste genau, welche Blicke in ihrem Rücken getauscht wurden. Sie kannte dieses erleichterte Männergrinsen. Also doch, sagte das Grinsen, es gibt also doch einen Unterschied, Krieg können die Mädels nicht. Krieg können die Fotzen nicht.“ Ebd., S. 77. 86 „Sie vereiste innerlich: nichts an sich heranlassen, kein Wort, kein Erlebnis mit einem Gefühl adeln, nicht einmal die eigenen Erinnerungen, sondern Konzentration auf die Aufgabe, kaltes Sein.“ Ebd., S. 60.
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stattfinden, und auch auf sexuelle Anzüglichkeiten geht sie nicht ein.87 Doch wie in den bereits untersuchten mythologischen Romanen und im antiken Mythos wird die Protagonistin auch hier gegen alle Regeln zur liebenden Amazone, zur Kriegsbraut. Denn Esther verliebt sich bei Patrouillenfahrten zu einer Schule in deren afghanischen Schulleiter. Weder hält sie sich damit an die Dienstvorschrift, noch ließe sie sich in Mehsuds Mentalität und Kultur integrieren, in der sich Frauen meist aus Furcht in einer Burka verhüllen. Er, als Bestandteil der Fremde, erscheint ihr so andersartig, dass sie sich trotz der Anziehungskraft, der sie sich nicht erwehren kann, manchmal beinahe vor ihm ekelt: Da wollte sie auf keinen Fall wissen, was in seinem Kopf wirklich vorging, sie wollte nicht einmal wissen, wie er unter seiner seltsamen Kleidung aussah. Gänsehaut. War das Ekel? Nein, Hitzefieber, sagte sie sich vorwurfsvoll wegen dieses bösen Wortes.88
Die beiden Welten scheinen unvereinbar wie die von Antiope und Theseus, Penthesilea und Achilles: Sie ziehen sich wie in der Legende fast magisch an, und doch stoßen sie sich in ihrer Unvereinbarkeit ab. Hier, im postheroischen Roman, droht aber als befürchtete Konsequenz statt einer Schlacht mit Waffen eine Schlacht in den Medien.89 Esther ist sich ihrer Alterität als kriegerische Frau aus der Sicht des Afghanen bewusst; die ihr bekannten Geschlechterrollen bei der zwischengeschlechtlichen Annäherung geraten ins Wanken: Sie, dachte Esther, musste ihm genauso fremd vorkommen wie er ihr, vielleicht noch fremder. Uniform und Gewehr, unter Weiblichkeit stellte er sich sicher etwas anderes vor, wie die deutschen Männer auch, aber die waren schon ein bisschen daran gewöhnt, jedenfalls die im Lager.90
Der Fokus des Erzählers bleibt personal bei der Protagonistin, die Sicht des afghanischen Schulleiters auf die deutsche Soldatin liegt im Verborgenen. Esthers Ge87 Vgl.: Ebd., S. 61. 88 Ebd., S. 213f. 89 „Die Strafe würde fürchterlich sein, nicht nur die offizielle. Unehrenhafte Entlassung, das war klar. Sie wusste nicht, was sie dann machen würde. Woher ein anderes Leben nehmen? Aber schlimmer war die Vorstellung, dass jemand die Sache einer Zeitung stecken würde. Sie steigerte sich ins Irrationale, sah die Schlagzeilen und erfand Wörter, die sie verletzen würden. Verräterin, Kriegsbraut, Kriegshure, fielen ihr als Erstes ein, doch damit würden sie sich nicht begnügen. Talibanliebchen. Talibanhure. Terrorbraut. Sie sah Fotos von sich, verhuscht, gehetzt […].“ Ebd., S. 210f. 90 Ebd., S. 195.
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danken und Gefühle werden indirekt im Präteritum erzählt statt wörtlich wiedergegeben. Der Erzähler weiß alles über den aus seiner Position heraus bereits vergangenen Einsatz Esthers in Afghanistan, über ihre Liebe und Gefühle.91 Die anderen Figuren bleiben an dieses Erzählen der Perspektive der Protagonistin gebunden, d. h. der Leser erfährt von ihnen nur im Zusammenhang mit Esther und den Dialogen, die sie mit ihnen führt. Z. B. fragt Esther Mehsud, was er denkt, und erst über seine Antwort bekommen sie und der Leser die Emotionen des Afghanen und sein damit einhergehendes Erstaunen mit.92 So überraschend im Mythos Achilles von Penthesilea angezogen ist (allerdings ist sie bereits verloren, weil dieser sie getötet hat), so wehrlos ob seiner Liebe ist auch Mehsud.93 Im Zusammenhang mit Esthers Liebesempfinden zeigt sich, wie der Roman das individuelle Verhältnis der Figur zu Modalitäten der Zeit beschreiben kann. Nach BERGSON ist das Gefühl der Dauer (durée) anders als die Zeit (temps) nicht zu messen. Der Romanerzähler hat jedoch die Möglichkeit, diese durée personal zu beschreiben. Die Monotonie in Afghanistan führt dazu, dass Esther die Sekunden wie Minuten und die Minuten wie Stunden empfindet.94 Die Zeit mit Mehsud rast dagegen, „als würden sich die Zeiger aller Uhren in olympischen Wettkämpfen messen.“95 In KURBJUWEITS Roman wird aber nicht nur geschildert, wie lange die Zeit für die Protagonistin „dauert“, d. h. sich anfühlt, sondern Esther unterteilt auch bewusst in relevante Zeit, die mit Erleben und Gefühlen gefüllt ist, und irrelevante Zeit, die fast leer verstreicht: Es gab jetzt tatsächlich Zeit und Zwischenzeit. Zeit waren die Stunden bei ihm, Zwischenzeit war der Rest. Selbst wenn sie ihn sah, erlebte sie eine Stunde Zeit und dreiundzwanzig Stunden Zwischenzeit, ein unerträgliches Verhältnis.96
91 Ein Beispiel für die Erzählung ihres inneren Monologs: „Mehsud war Afghanistan, während ein geliebter Deutscher nicht Deutschland war. Das war der Unterschied, ein großer. Ein Italiener, der auch Italien war, ging ja noch. Aber Afghanistan? Sich Afghanistan ins Herz holen? Hatte sie ‚geliebt‘ gedacht? […] Hatte sie jetzt die ganze Zeit in der Kategorie ‚Liebe‘ gedacht? Hatte sie.“ Ebd., S. 214f. 92 „‚Und was denkst du?‘ ‚Ich habe gelernt, dass ein Soldat eine wundervolle Frau sein kann. Ich würde das eine der größten Überraschungen meines Lebens nennen.‘“ Ebd., S. 221. 93 Vgl.: Börner, L.: Der tragische Tod der Penthesilea. In: Amazonen. Geheimnisvolle Kriegerinnen. S. 27. 94 Kurbjuweit, D.: Kriegsbraut. S. 232. 95 Ebd., S. 232. 96 Ebd., S. 191.
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Auch Esthers Perspektive auf das Leben im Lager verändert sich durch das Gefühl der Verliebtheit: Das Lager und seine Umgebung werden ihr zur imaginativen Kinokulisse des eigenen Liebesfilms.97 Insgesamt spielen das Medium Film und intermediale Bezüge für die Handlung des Romans eine dominante Rolle. Denn nach ihrer unglücklichen Liaison mit dem verheirateten Filmproduzenten Thilo hatte die Protagonistin begonnen, ihr Umfeld in Bilderszenarien wahrzunehmen, einzelne Erlebnisse in eine Filmdramaturgie einzuordnen und auch imaginative Bilder daraufhin zu untersuchen, ob sie in einem Film „funktionieren“ würden oder nicht. Das Problem ist in Afghanistan nun, dass letztere in der realen Kriegsumgebung nicht funktionieren – hier ist es schwer, einen imaginativen Liebesfilm zu drehen, geschweige denn, ihn real werden zu lassen: Aber das Bild funktionierte nicht richtig. Sie war darin immer ohne Gewehr, und das war unrealistisch. Dabei ging es hier nur um realistische Bilder, das war ja der Punkt, die Möglichkeit, diese Bilder zu leben.98
Auch findet sie keine Vorbilder für Kriegsfilme mit Frauen in der Hauptrolle. Vielmehr muss ein solcher von Thilo und seinen Freunden auf einer Party während Esthers Diensturlaub erfunden werden. Darin soll der Krieg in Afghanistan mit der legendären Varusschlacht gleichgesetzt werden, wobei Varus George W. Bush entspräche und Armenius den Afghanen. Einer dieser beiden solle eine „germanische Amazone“99 zur Kriegsbraut haben. Einig ist sich die Partygesellschaft lediglich darin, dass die Amazone von einer echten Soldatin gespielt werden müsse, da nur diese die Authentizität von kriegerischer Brutalität transportieren könne.100 Anders als in diesem Roman, in dem der Schrecken des Krieges lange auf sich warten lässt, würde ihn der darin entworfene Film in mythologisch dimensionierter Brutalität inszenieren: „‚[…] Es muss ja ein extrem brutaler Film sein, sonst hat es keinen Sinn, großes Abschlachten, Meere von Blut, Eingeweide, berstende Knochen.‘“101 Bezüge zu einem visuellen Referenzmedium werden auch in Esthers Entscheidung für eine Laufbahn als Soldatin integriert. So bleibt sie „beim Zappen an einem Film über deutsche Soldaten in Afghanistan hängen. Sie fand die Herausforderung interessant, bei vierzig Grad anstrengende Dinge zu tun.“102 Über den Film kann sie 97 Ebd. 98 Ebd., S. 196. 99 Ebd., S. 303. 100 „‚Das müssen Leute sein‘, sagte der Schauspieler, ‚die selbst schon Mündungsfeuer gesehen, die selbst schon getötet haben. Da brauchen wir Killer, keine Schauspielerinnen. […]‘“ Ebd., S. 303. 101 Ebd., S. 303. 102 Ebd., S. 37.
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die Hitze nicht sinnlich wahrnehmen, sie existiert nur in ihrer Phantasie als eine Art Betäubung von der Routine ihres Lebens. Zweitens ist es wieder ein visueller Eindruck, der ihr Afghanistan als verheißungsvolle Alternative zur bisherigen Perspektivlosigkeit aufscheinen lässt: ein Imagebild der Bundeswehr, das sie auf dem Arbeitsamt erblickt: „Eine Frau, die sympathisch lächelte, blickte unter einem Stahlhelm hervor.“103 Im Kontrast dazu kennt sie aus den Nachrichten die Bilder von den Militärlagern in Afghanistan. Die Welt scheint ihr ganz im Sinne MCLUHANS durch die audiovisuellen Medien zu einem Global Village geworden zu sein.104 Aber auch über Spielfilme machen Zuschauer Erfahrungen, an denen sie die Realität messen. Die Kamera direkt am Geschehen scheint ein intensiveres Kriegserlebnis zu gewähren als Esthers reale Erzählungen vom stillen Kampf gegen den Terrorismus, der wie im Roman vom Rezipienten imaginiert werden muss: Manchmal ärgerte es sie fast, dass die Flut der Kriegsfilme jeden zum Experten machte und sie als Soldatin dem keine eigenen Erfahrungen entgegenhalten konnte, nur Theorie, die bei einem gemütlichen Abendessen in Deutschland weniger zählte als eine Episode aus einem Kriegsfilm.105
Esther vergleicht das eigene Erleben in Afghanistan mit einem alten, gelbstichigen Stummfilm, bei dem aber der Kino-Raum mit Cola und Eiskonfekt fehlt.106 Aufgenommen werden die intermedialen Bezüge auch vom Erzähler, der sich teilweise die ästhetische Medialität des Referenzmediums Film zu eigen macht, indem er sich der gedrängten Sprache von Regieanweisungen bedient – wie z. B. kurz „[g]roße Umarmung“107 statt grammatikalisch ausformuliert etwa „X und Y umarmten sich lange“. In KURBJUWEITS gesellschaftspolitischem Roman findet sich eine andere Weltinterpretation108 als in den oben analysierten mythologischen Romanen. Der Mythos der Amazonen wird nicht mehr als Abenteuer erzählt, sondern aufgenommen in aktuelle politische Problematiken. Mythen erfüllen nicht mehr wie in der Antike Orientierungsfunktionen im Dasein, d. h. die kämpferischen Frauen müssen nicht mehr 103 Ebd., S. 50. 104 „Sie war enttäuscht, sie kannte das ja alles, nichts Neues, als wäre sie hundertmal hier gewesen. So hatte sie es auch bei ihrer Reise nach Sardinien erlebt, so war es jetzt immer. Man hatte alles schon gesehen, im Fernsehen, auf Fotos, auf Videos im Internet, es gab in dieser Welt nur noch vertraute Orte.“ Ebd., S. 79. 105 Ebd., S. 104. 106 Ebd., S. 112. 107 Ebd., S. 278. 108 Vgl.: Grabner-Haider, Anton: Strukturen des Mythos. Theorie einer Lebenswelt. Frankfurt/Main: Peter Lang 1989. S. 11.
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gemäß der These von PREUßER die Stärke der männlichen Helden bestätigen.109 Ebenso dient der Amazonen-Mythos auch nicht wie im mythologischen Roman zur Unterhaltung, sondern er wird aufgenommen, um Problemlagen zu erörtern. Bei KURBJUWEIT sind dies der Einsatz der Bundeswehr am Hindukusch und das Thema der weiblichen Emanzipation von gewohnten Geschlechterrollen. Letzteres ist auch das Motiv für die Aufnahme des Amazonen-Mythos im zweiten hier zu untersuchenden gesellschaftspolitischen Roman aus dem Jahr 1995: Bettina HOFFMANNS Die Emanzen sind los. Die Gründung des Frauenstaates Lilith.110 Die weiblichen Figuren um die namenlose Ich-Erzählerin durchleben in der Männergesellschaft ein Gefühl der Heimatlosigkeit, das zwar meist humoristisch geschildert wird,111 doch im Kern ihr Dasein so problematisch gestaltet, dass sie nicht mehr eins mit sich selbst sein können. Sie finden sich in der Ellenbogengesellschaft der Männer nicht zurecht, haben keine Ambitionen mehr, ihnen stets zu Diensten zu sein und müssen sich nachts auf der Straße vor ihren Übergriffen fürchten.112 Kurz: Sie sind in ihrer Freiheit, die äußere Lebensform ihrer inneren Haltung anzupassen, eingeschränkt, Sein und Sollen klaffen im Sinne LUKÁCS’ auseinander. Die weiblichen Figuren sind hier problematische Individuen auf der Suche nach einem Ursprung, in dem es noch eine Totalität des Seins gibt.113 Diesen sehen sie in alten Mythen begründet, zu welchen es zurückzukehren gilt. Zum einen sind dies ihre „kriegerischen Schwestern“,114 die Amazonen; zum anderen Lilith, die der Legende nach Adams erste Frau war, „und sie lehnte es strikt ab, sich zu einer ‚Gehilfin‘ reduzieren zu lassen.“115 Dabei wird ignoriert, dass im griechischen Mythos gerade
109 Preußer, H.-P.: Der Mythos der Amazonen. In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. U. Franke-Penski und ebd. S. 37f. 110 Frankfurt/Main: Fischer 1995. 111 Z. B.: „‚Ich bin dafür‘, sage ich schon etwas angeheitert, ‚ein ausreichend großes Reservat abzustecken, das Ganze bombenfest zu überdachen und alle Männer dort hineinzusetzen. Dann können sie ungehindert Krieg spielen oder Tarzan oder Jack the Ripper, sie können ihre Umwelt verpesten, Autorennen veranstalten, sich wichtig fühlen und sich gegenseitig mit gelehrten Reden oder Machtintrigen beeindrucken. […]‘“ Ebd., S. 13. 112 „Für Frauen ist überall Vietnam. […] Bei den täglichen Zeitungsmeldungen über ermordete, vergewaltigte, zerstückelte oder zu Tode gequälte Frauen genügt im Grunde ein Normalmann nachts auf der Straße, um in deinem Kopf einen ganzen Krimi in Gang zu setzen.“ Ebd., S. 20. 113 Vgl.: Lukács, G.: Die Theorie des Romans. S. 31. 114 Hoffmann, B.: Die Emanzen sind los. S. 128. 115 Ebd., S. 128.
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die Amazonen zur Festschreibung biologischer und sozialer Rollen dienten,116 sondern die Frauen des Romans fokussieren das amazonische „Modell“ der Gynaikokratie, einer frauendominierten Gesellschaft. Dafür ist es zunächst folgerichtig, dass auch die Sprache von der Dominiertheit durch das männliche Geschlecht befreit wird. Die schriftliche Medialität des Romans ist am besten dafür geeignet, sprachliche Diskriminierungen aufzudecken, indem sie augenscheinlich getilgt werden. So führt HOFFMANN neue Schreibweisen ein, die zurück zu einem matriarchalen Ursprung führen sollen: Die Ich-Erzählerin benutzt z. B. statt niemand das Wort keinefrau117, es heißt frau statt man118, und wenn man gemeint ist, wird es mann geschrieben.119 Für das männliche Klischee steht der Name Horstfelixklaus, für die veraltete Frauenrolle Isasabinecarola.120 Solche kleinen, aber semantisch mit einer feministischen Botschaft versehenen lexikalischen und orthografischen Modifikationen wirken in dieser Deutlichkeit nur in der Ästhetik des Romans. Denn der Leser sieht die unkonventionelle Schreibweise, kann sie visuell erfassen und sich gegebenenfalls Zeit nehmen, darüber zu reflektieren. In Film und Theater würden solche Besonderheiten der Schreibweise und Neologismen untergehen, es sei denn, Figuren oder Voice-Over-Erzähler würden sie eindringlich wiederholen, oder ein Schriftzug auf der Leinwand bzw. auf der Bühne würde die Wörter visualisieren. Als die Frauen sich schließlich daran machen, einen eigenen Staat namens Lilith zu gründen, sind viele Wörter des ordinären Sprachgebrauchs auch nicht mehr sinnvoll und offenbaren die gesellschaftliche Unterdrückung der Frau in zur Selbstverständlichkeit gewordenen sprachlichen Sedimenten. Liliths Staatspräsidentin Hilde verkündet entsprechend: „Es ergeht also der Beschluß, daß wir zum Nutzen der angestrebten diplomatischen Beziehungen die entsprechenden Ministerien einrichten, daß aber innerhalb Liliths direkte Demokratie frauscht.“121 Darüber hinaus rufen sie auch keinen männlichen Gott mehr an, sondern wie die Amazonen bei FIOLKA, PRESSFIELD und WALKER wenden sie sich – wenn auch humoristisch – einer Göttin zu.122 Bevor die literarische Utopie des Frauenstaats Lilith errichtet ist, werden über die weiblichen Figuren, die den Staat u. a. auf einem öffentlichen Symposium planen, feministische Pamphlete verkündet und erörtert. Die Rezipienten sind neben 116 Nach: Grabner-Haider, A.: Strukturen des Mythos. S. 219. 117 „‚[…]Keinefrau würde sie vermissen, und wir hätten endlich unsere Ruhe.‘“ Hoffmann, B.: Die Emanzen sind los. S. 13. 118 Ebd., S. 34. 119 Ebd., S. 56. 120 Ebd., S. 14. 121 Ebd., S. 130. 122 So ruft die Ich-Erzählerin bei sich aus: „Göttin, ist mir dieser Politfirlefanz zuwider!“ Ebd., S. 129. Oder: „Göttin, schmeiß Hirn vom Himmel!“ Ebd., S. 161.
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den Frauen auch die Presse, die in der Utopie eine Art Krieg der Amazonen wittert. Ein Journalist notiert sich: „Frauen planen Krieg! Bundesregierung soll gestürzt werden. Alle Männer unter fünf Jahren in Umerziehungslager. Terror auf offener Straße. Jeden Tag sollen zehn Männer erschossen werden. Todesstrafe für sogenannte Vergewaltiger. Schw. ab. Verhandlungen mit Sadam Hussein üb. Ankauf von Mittelstreckenraketen und Panzern. Geh. Waffendepots im Wald. Attent. gepl. Eroberungskrieg schon nächsten Monat?“123
Dies mag neben dem Amazonenmythos auch auf den Mythos aus der Argonautensage zurückgehen, der sich um die Fraueninsel Lemnos rankt, deren Bewohnerinnen ihre Männer in einer einzigen Nacht getötet haben sollen. Deren Motiv sei aber laut DÖHL in dieser Sage nicht die „amazonische Männerfeindlichkeit“, sondern Rache für die Untreue ihrer Männer.124 Da aber sowohl den mythischen Amazonen und den Frauen auf Lemnos als auch den Frauen der Utopie im modernen Roman in biologischer Hinsicht Männer fehlen, werden diese (die Argonauten auf Lemnos, bei HERODOT die Verbindung der Amazonen mit den Skythen) zum Verweilen eingeladen. Utopia, der Staat Lilith, gegründet auf einer Vorstellung von Glück, die sich auf die mythische Essenz rückbezieht,125 soll im kämpferisch-emanzipatorischen Roman um 2000 möglichst plausibel erscheinen. Plausibilitätserzeugung erfolgt im Roman der Politologin HOFFMANN erstens über die Reflexionen der Ich-Erzählerin und der Figuren über verschiedene denkbare Staatsformen („Insel der Seeligen“ versus „Brutstätte der Revolution“126) und „den organisatorischen Kleinkram.“127 Zweitens werden die Leserinnen direkt angesprochen, weil sie implizit von der Richtigkeit eines Frauenstaates überzeugt werden sollen.128 Drittens wirken die Listungen der Abstimmungen und Beschlüsse zur Verwirklichung der Utopie authen-
123 Ebd., S. 59f. 124 Döhl, H.: Amazonen. Traumfrauen und Schreckensbilder. In: Waren sie nur schön? Hg. v. B. Schmitz. S. 235. 125 Heuermann, H.: Medien und Mythen. S. 107. 126 Hoffmann, B.: Die Emanzen sind los. S. 128f. 127 Ebd., S. 128. 128 Z.B. auch eine Bestandsaufnahme einer unterhaltsamen Erörterung: „Wir bestellen noch ein Bier. Ab dieser Stelle, liebe Leserin, sind unsere Gedankengänge in düstere Nebelschwaden gehüllt, und darum wollen wir den Fortlauf der Unterhaltung [d. h. die dialogische Wiedergabe. Anm. N.U.] hier abbrechen. Das Grundproblem ist klar. Wenn wir jeden Kontakt zu den Patriarchenstaaten abbrechen wollen, müssen wir auf nahezu alles verzichten, was uns bis dato lieb und teuer war.“ Ebd., S. 71.
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tisch.129 Wiederum deutlich fiktional erscheint die Utopie in ihrer letztendlichen gelungenen Umsetzung, indem die Ich-Erzählerin von Queen Elizabeth II. eingeladen wird, die aber bei aller Sympathie keine politische Zukunft für Lilith sieht. Bei all dem ist die Leserin aufgrund der Nähe zur namenlosen Ich-Erzählerin eine Art Augenzeugin. Über die grammatische Form des Präsens ist sie immer dicht bei der Erzählerin, entsprechend einer durchgängig subjektiven Kameraperspektive. Jeder Schritt kann imaginativ mit ihr gegangen und jeder Gedanke wahrgenommen, jeder Sinneseindruck miterlebt werden.130 Eine ähnliche Erzählkonstellation verbunden mit emanzipatorischen Intentionen weist Barbara WALKERS Roman Amazone von 1992 auf.131 Wie es scheint, sind es die Romane aus den frühen 90er Jahren, die den Amazonenmythos für feministische Botschaften funktionalisieren. Bei WALKER ist die Utopie eines Frauenstaates aber nicht in der erzählten Gegenwart verortet, sondern es findet eine phantastische Rückwendung zur mythologischen Zeit der Amazonen statt.
P HANTASTISCHE AMAZONENROMANE Der Mythos der Amazonen ist aus mehreren Gründen prädestiniert für eine Umsetzung im Genre der phantastischen Literatur. Dies wird augenscheinlich, wenn die Merkmale der Phantastik nach Annette SIMONIS132 und Tzvetan TODOROV133 zugrundegelegt werden für die Analyse von WALKERS und Paul DI FILIPPOS134 Romane. Zunächst einmal ist es die Unschlüssigkeit des Lesers, die das Genre bestimmt.135 Bezogen auf den Mythos beinhaltet das schlicht die Zweifel an einem wahren Kern der historischen Existenz des Amazonenvolks.
129 Ebd., S. 131 und S. 133f. 130 Z.B.: „Ich gehe in Deckung. […] Irgendwann erreicht die Geräuschkulisse ein Maß hart an der Schmerzgrenze, und ich beschließe, auf mein gepeinigtes Trommelfell zu hören und eine Zigarettenpause vor der Tür einzulegen.“ Ebd., S. 132. 131 Frankfurt/Main: Fischer 1996 (Original 1992). 132 Simonis, Annette: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. Einführung in die Theorie und Geschichte eines narrativen Genres. Heidelberg: Winter 2005. 133 Todorov, Tzvetan: Einführung in die fantastische Literatur. München: Hanser 1972. 134 Di Filippo, Paul: Mund voll Zungen. Ihre totipotenten Tropicanalia. Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Bendels und Dietmar Dath. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010. (Original: A Mouthful Tongues, USA 2002.) 135 „Der uneingeschränkte Glaube ebenso wie die absolute Ungläubigkeit würden uns aus dem Fantastischen herausführen; es ist die Unschlüssigkeit, die es ins Leben ruft.“ Todorov, T.: Einführung in die fantastische Literatur. S. 31.
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Sprachlich wird die Unschlüssigkeit in WALKERS Roman dadurch erzeugt, dass die Amazone Antiope ihre Geschichte von der chronotopischen Reise aus dem Kleinasien des ersten vorchristlichen Jahrhunderts in die USA des 20. Jahrhunderts und wieder zurück im Präteritum aus der eigenen Perspektive berichtet. Keine der beiden Stationen findet in der Gegenwart statt, wodurch der Leser unschlüssig bleibt, welche der Existenzen „real“ ist und ob die andere womöglich lediglich ein Traum oder eine Art mythische Meditation der Heldin ist. Die Form des Präteritums ist nach HAMBURGER zwar die adäquate Erzählzeit des Romans, weil sie die Fiktionalität weniger deutlich vor Augen führe als andere Zeitstufen.136 Aber indem hier kein auktorialer Erzähler über Vergangenes berichtet und es aufbereitet, sondern die Protagonistin selbst, leidet die Glaubwürdigkeit der Figur sowohl bei den anderen Figuren als auch beim Leser, der durch diese „ambivalenten Wahrnehmungen der berichteten Ereignisse“137 in die Fiktion integriert ist. Will ihm die autodiegetische Erzählerin einen Traum als „Wahrheit“, als die reale Existenz des Mythos der Amazonen verkaufen, um emanzipatorische Botschaften zu verbreiten? Oder hat die Ich-Erzählerin auf fiktionaler Ebene „tatsächlich“ eine Zeitreise gemacht? Ist die Amazonen-Existenz in der Antike die Vision der Ich-Erzählerin138 oder ist die Gegenwart des Lesers, das 20. Jahrhundert, surreal? Die Zeitreisende selbst kann sich nicht die Frage beantworten, ob die Gesellschaft, in die sie gereist ist, eine Vision von der tatsächlichen Zukunft ist oder ob es nur ein Traum ist, der niemals wahr wird: „Würde eine solche Gesellschaft tatsächlich eines Tages existieren, unsere gesegnete Erde plündern, vergiften und ihre menschlichen und tierischen Geschöpfe grausamen Qualen aussetzen?“139 Die sprachliche Erzählung vermag sich solche Fragen zu stellen, in Bildern ohne auditive Begleitung könnten sie nicht explizit formuliert werden. Auch im Theater müssten sie über die Rede einer Figur gestellt werden. Obwohl vergangen, perzipiert der Leser imaginativ an dem unheimlichen Ereignis140 der Zeitreise, welche eine naturgesetzliche Grenzüberschreitung in einen jeweils fremden Bereich impliziert: Für den Leser wie für die zeitgenössischen Figuren des Romans betrifft die Alterität die Welt des Mythos, für die vorchristliche Amazone Antiope ist das Fremdkulturelle das Amerika des 20. Jahrhunderts: „Plötzlich erwachte ich an einem so entsetzlichen Ort, daß ich zuerst glaubte, in ei-
136 Hamburger, K.: Die Logik der Dichtung. S. 61. 137 Todorov, T.: Einführung in die fantastische Literatur. S. 31. 138 So glaubt auch Diana, die Antiope bei sich aufnimmt: „‚ […] Es klingt wunderbar, selbst wenn es nur deiner Phantasie entsprungen ist.‘“ Walker, Barbara G.: Amazone. S. 51. Später kommen ihr Zweifel, ob es wirklich nur eine „Wahnidee“ ist. Ebd., S. 58. 139 Ebd., S. 182. 140 Was nach Todorov ein weiteres Merkmal des Phantastischen ist.
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ner der fürchterlichsten Gegenden des Hades gelandet zu sein.“141 Sie liegt nach ihrer Zeitreise an einem Highway, und vor allem ihr Geruchssinn nimmt die Umgebung so intensiv wahr, dass sie sich vor den fremden Eindrücken regelrecht ekelt: Aber was war das für eine Luft! Ein abgestandener, stickiger, fremdartiger Gestank erfüllte sie, anders als alles, was ich je im Leben gerochen hatte. Er erstickte die Düfte der Gräser, Blätter, Tiere und andere Gerüche, die ich bisher gewohnt war. Diese abscheuliche Luft war die charakteristische Atmosphäre einer bizarren Welt, in der ich mich wiederfand.142
Der Schrecken des Mythos formiert sich bei WALKER durch die sinnlich wahrgenommene und erzählte Diskrepanz der Vergangenheit mit dem Gegenwärtigen. In Antiopes alter Heimat dagegen waren es die Griechen, die das Fremde und Schreckliche für die Amazonen darstellten: Überall lagen Leichen. Ich sah mehrere Säuglinge und kleine Kinder, die von unten nach oben aufgeschlitzt waren – eine für Griechen typische Greueltat. Dasselbe machten sie mit Frauen, nachdem sie sie vergewaltigt hatten.143
Wie im antiken Mythos die Amazonen ernstzunehmende Gegner zur Bestätigung der Heroen sind, so sind hier die Griechen erbitterte Kämpfer,144 gegen die sich die Amazonen erfolgreich zur Wehr setzen und ihr weibliches Heldentum untermauern. Für die Figuren, denen Antiope im 20. Jahrhundert begegnet, ist sie wiederum selbst das Andersartige, das eine längst vergangene Sprache spricht. Antiope dagegen kann ihre neuen Mitmenschen über den sog. „denksensitiven Zustand“145 verstehen. Der Prozess dabei ist ähnlich wie der Ablauf beim Lesen: Spricht ihr Gegenüber etwas aus, sieht sie mental die Bilder davon vor sich, mit dem Unterschied, dass sie die Sprache des Senders nicht beherrschen muss. Antiopes Alterität erhält in WALKERS Roman eine soziokulturelle Bedeutung,146 indem sie in ihrer phantastischen Gesamterscheinung und ihrem Verhalten eine einzige Zivilisationskritik147 ist und Tabus bricht. Die Amazone ist es z. B. gewohnt, 141 Walker, B. G.: Amazone. S. 19. 142 Ebd., S. 19. 143 Ebd., S. 7. 144 „Sie mochten grausam sein und hinterhältig, aber sie waren auch ausgezeichnete und erbitterte Kämpfer.“ Ebd., S. 7. 145 Ebd., S. 21. 146 Vgl.: Simonis, A.: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. S. 43. 147 Z.B.: „Es war in der Tat eine unglückliche Welt. Ihre Menschen lebten im Paradies, doch sie behandelten sich selbst und ihresgleichen, als seien sie Verdammte des Hades.“ Walker, Barbara G.: Amazone. S. 45.
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ihre Sexualität und alle Gefühlsregungen offen auszuleben, ohne sich dessen zu schämen.148 Aus dieser Perspektive kann der Leser ebenso einen distanzierten Blick auf die Gegenwart und ihre sozialen Gepflogenheiten werfen. Hier nutzt der Roman die Möglichkeit, szenische Darstellungen von Rede und Tat mit zusammenfassenden Passagen der Erzählerin zu variieren, um entweder plastisch oder konklusiv Kritik zu üben, wie z. B. an den Medien: Die Gerätschaften des Fernsehens und Radios erscheinen Antiope als „Zauberkästen“, die „Musik, Stimmen und Bilder [enthielten], die so lebendig waren, daß sie den Eindruck erweckten, sie seien mit einer unendlichen, ständig wechselnden Zahl von winzigen Menschlein und Szenen angefüllt.“149 Die Differenz dieser Medien zur leiblichen Präsenz wird ihr dadurch deutlich, dass beim Medienkonsum der (oben beschriebene) denksensitive Zustand nicht funktioniert. Die Kritik an den audiovisuellen Medien bezieht sich aber auch auf die inhaltliche Ebene der Gewalt.150 Die Frau, die Antiope bei sich aufnimmt, Diana, ist eine Schriftstellerin, die über das mythische Wesen, das in ihr Leben getreten ist, einen Roman schreiben möchte. Diese Fähigkeit des Lesens und Schreibens von Buchstaben erscheint Antiope wie ein Zauber, denn „[d]ie Buchstaben zeigen den Augen Wörter“,151 und diese schildern ihre ungewöhnliche Geschichte. Der Erfolg von Dianas Buch und das anschließende Medieninteresse verdeutlicht auf fiktionaler Ebene, wie der Amazonenmythos durch die Medien wandert: Antiope soll ihr Abenteuer in Talkshows berichten, und es wird ein Videotape mit ihren kriegerischen Übungen gedreht.152 Die regressive Tendenz der Medien zum Mythos versorgt die Frauen hierbei mit einem emanzipierten Vorbild, das ihnen eine „neue[…] Philosophie menschlichen Verhaltens eröffne[t].“153 Wie in DI FILIPPOS phantastischem Roman und den meisten Filmen, die den Amazonenmythos aufgreifen, tritt auch die zeitreisende Antiope als Rächerin der Unterdrückten auf. Mit ihrem Relikt aus der mythologischen Zeit, dem Schwert, droht sie z. B. einem Mann, der in der Öffentlichkeit seine Frau und sein Kind schlägt.154 Dieses filmisch anmutende Heldentum löst bei Diana aber lediglich eine Welle der Komik aus.155 148 Ebd., S. 41, 44f., 48. 149 Ebd., S. 34. 150 „‚Jeden Tag lernen Männer im Fernsehen grausam zu sein‘, antwortete ich. ‚Auf diese Weise werden sie bestimmt nicht anständiger.‘“ Ebd., S. 56. 151 Ebd., S. 39. 152 Vgl.: S. 77. 153 Ebd., S. 80. 154 „In meinem Land beschützen die Frauen sich gegenseitig. Ich bin eine Kriegerin. Ich werde die Frauen verteidigen.“ Ebd., S. 55. 155 „Plötzlich brach sie in Gelächter aus. Sie beugte sich vor und schlug mit der Faust auf die Motorhaube. Ich konnte nicht anders, als in ihr Gelächter einzustimmen. ‚Du bist
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In den phantastischen Romanen geschieht auf fiktionaler Ebene das Unmögliche: Bei WALKER ist es die Zeitreise einer Amazone, bei DI FILIPPO die Transformation des menschlichen Körpers, welche einen amazonischen Rachefeldzug transbiologischen Ausmaßes ermöglicht. Beides wären in der Realität Medienereignisse par excellence.156 Im Roman dagegen sind diese Surrealismen und Grenzüberschreitungen Strategien der Medienkonkurrenz, indem die Künste infolgedessen faszinieren, dass sie das Unmögliche auf ästhetischer Ebene zur Imagination bringen. Nach SIMONIS können diese Transgressionen „dadurch besondere Prominenz gewinnen, dass sie mit Tabubrüchen assoziiert sind.“157 Solche kommen in DI FILIPPOS Roman nicht nur sporadisch vor, sondern sind Programm. Hierüber gelangt sein Leser in bisher ungeahnte Dimensionen der Einbildungskraft,158 die meist keine literarisch „schöne“ Erfahrung sind, sondern darauf abzielen, eine Faszination mit negativem Vorzeichen hervorzurufen: eine „Irrfahrt“159 – nicht nur auf Figurenebene. Die Einzelhandlungen dieses Science-fiction-Romans160 sind oft undurchsichtig und verlangen dem Rezipienten im Leseprozess „aktive Eigenleistung“161 ab, wobei zumindest das grobe Handlungsschema klar wird: Die Protagonistin Kerry wird in einer Nacht gleich drei Mal Opfer sexueller Gewalt. Aus Verzweiflung geht sie eine Verbindung mit einer parabiologischen Macht ein, emigriert daraufhin in den südamerikanischen Urwald162 und kehrt schließlich zurück, um als androgynes Wesen163 die Demütigung ihres ehemaligen Geschlechts zu rächen.164
mir vielleicht eine Kriegerin‘, keuchte sie schließlich und wischte sich über die Augen. ‚Weißt du, was du bist, Ann? Superwoman. Furchtlose Kreuzritterin. Maskenlose Rächerin. Beistand der Ohnmächtigen. Lieber Himmel! […]‘“ Ebd., S. 55. 156 Diana zu Antiope: „‚[…] Du kommst aus einer Zeit, die längst vergangen ist, und hast dich auf irgendeine Art Tausende von Jahren in der Zukunft materialisiert […] Wenn es möglich wäre, dann ist es das erste Mal in der Geschichte der Welt, daß so etwas passiert. Und damit bist du ein echtes Medienereignis, nicht nur bei uns, sondern auf der ganzen Welt.‘“ Ebd., S. 59. 157 Simonis, A.: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. S. 49. 158 Vgl.: Ebd., S. 54. 159 Dath, Dietmar: Die Hüterin des Fiebers. In: Di Filippo, P.: Mund voll Zungen. S. 8. 160 Nach Simonis eine Sub-Gattung der Phantastik. Ebd., S. 233. 161 Ebd., S. 54. 162 So kehrt der Amazonemythos in das Amazonasgebiet zurück, wie bereits bei der Entdeckung dieses unbekannten Landes durch die Europäer im 16. Jahrhundert. Sie griffen damals auf den antiken Mythos zurück, um die Kolonisierung zu begründen: Amazonen seien die Herrscherinnen über das fruchtbare Land und dessen Reichtümer, die Spanier müssten ihnen nur noch die Kontrolle entreißen und ihr Recht des Stärkeren in der Besiedlung geltend machen. Vgl.: Bolle, Willi; Vejmelka, Marcel; Castro, Edna:
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Die Racheaktionen enthalten jeweils viele phantastische Elemente, so dass sie in der Leserimagination individuell und diffus bleiben müssen. Gerade darin sieht SIMONIS aber einen Grund für den medialen Erfolg phantastischer Fiktionen: Durch ihre Vielschichtigkeit regten sie den Leser an, ergänzend an der Konstruktion der surrealen Horizonte teilzuhaben.165 Der geistige Versuch der Plausibilisierung der Handlung, die imaginative Kreation einer phantastischen Welt und die Konfrontation mit dem Fremden lassen den „Vorwurf des Trivialen“166 obsolet erscheinen. Ob dies auch für phantastische Filmwelten gilt, die visuell ausgestaltet und entsprechend weniger diffus sind, wird noch festzustellen sein. Für DI FILIPPOS Roman jedenfalls gilt, dass er der Vorstellungskraft des Lesers einiges abverlangt und selbst in der Handlung der Rache keine Welt kreiert, die Anlaufstellen für wohltuende Eskapismen bietet – allenfalls für brutale Rachegelüste. Z. B. hat Kerry eine mit Zähnen besetzte Zungenspitze,167 mit der sie den Soldaten massakriert, der sie einst vergewaltigte und der nun durch ihre phantastischen Kräfte in eine Schar von Eidechsen zerfällt. Dies wäre im Film ein Effekt, der über digitale Bildtechnik hergestellt werden müsste, ebenso wie der Körper ihres Exfreundes, der in Schmetterlinge zerfällt: Plötzlich beginnt der Körper ihres Gefangenen sich zu verändern. Flügel erblühen auf seiner nun pergamentartigen Haut, kleine papierne Insektenflügel mit den spezifischen Kennzeichnungen von einem Dutzend verschiedener Spezies.168
Kerry kann mit ihren Armen „durch den bunten Schwirrflüglerschwarm“169 fahren, mit dem visuell sicherlich eindrucksvollen phantastischen Effekt, dass die menschliche Form des Racheobjekts darin zunächst noch erkennbar bleibt. Ihr ehemaliger Chef verwandelt sich dagegen in eine Schar von Vögeln, was sich ebenfalls viel leichter vom Erzähler im Roman behaupten und mit dem subjektiven Empfinden der Rächerin verbinden lässt als dass es im Film darstellbar oder gar im Theater aufführbar wäre: Vorwort. In: Amazonien. Weltregion und Welttheater. Hg. von dens. Berlin: trafo 2010. S. 9. 163 „‚Ich bin weder Mann noch Frau. Ich bin beides und doch keines von beidem. […]‘“ Di Filippo, P.: Mund voll Zungen. S. 161. 164 Sie ist eine „gewaltige Amazone“, die Männer absorbieren, d. h. in sich verschwinden lassen kann. Ebd., S. 192. 165 Nach: Simonis, A.: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. S. 284. 166 Ebd., S. 295. 167 Di Filippo, P.: Mund voll Zungen. S. 233. 168 Ebd., S. 238. 169 Ebd.
408 | IV. DIE M YTHOLOGISCHE D IMENSION Mit jedem Vogel, der aus ihm herausschlüpft, lässt Jarius etwas von seiner Menschlichkeit zurück und verwandelt sich in simplere Seelen. Sieben Papageien für einen Mann.170
Dieses Merkmal der imaginativen Konstruktion des Phantastischen findet sich nach SIMONIS nicht in der „unmittelbaren auratischen Präsenz“171 des Theaters, wo die audiovisuellen Eindrücke meist vollständig sind und phantastische Geschehensmomente dem Zuschauer geschlossen ansichtig und hörbar werden. Gerade der phantastische Roman ist prädestiniert für die Darstellung vielgestaltiger mythologischer Wesen. Denn wie bei DI FILIPPO besteht die Struktur des Mythos aus diversen Gestalten, die sich nicht immer so einfach schauspielerisch darstellen lassen wie etwa eine menschliche Amazone. In dem Roman existieren z. B. auch tierischmenschliche Mischwesen, und Kerry ist in ihrer parabiologischen „Totipotenz“ eine Art Gottheit. Wie im antiken Gesamtmythos sind die „Übergänge zwischen Tier, Mensch und Gottheit […] fließend“.172 Dennoch kann Kerry in den Mythos der Amazonen eingeordnet werden, da sie sich von Beginn des Romans an (noch als Frau) regressiv nach einem Ursprung sehnt, der an das Dasein in einem Amazonenstaat erinnert: wild soll es sein, frei und sinnlich.173 In den Filmen, die an den Amazonenmythos angelehnt sind, ist diese Zuordnung oft nicht eindeutig, denn es werden einzelne Grundelemente aus dem Mythos extrahiert und visuell möglichst reizvoll in Szene gesetzt. In den im Folgenden zu analysierenden Filmen sind es weitaus seltener als in den Romanen antike Einzelmythen, die adaptiert oder in eine neue Fiktion eingespannt werden. Sie bedienen sich stattdessen meist des amazonischen Motivs der Rache und des freien Daseins als Kriegerin.
170 Ebd., S. 242. 171 Simonis, A.: Grenzüberschreitungen in der phantastischen Literatur. S. 60. 172 Grabner-Haider, A.: Strukturen des Mythos. S. 153. 173 Di Filippo, P.: Mund voll Zungen. S. 41.
2. Kampfbereit Filmische Amazonen in der Medienkonkurrenz
In den Filmen um 2000, die sich der Motive des Amazonenmythos bedienen, wird wie in den meisten hier untersuchten Romanen eine heroische Figur fixiert. Auch für die Amazonen-Filme gilt, dass „heroisch“ weder mit „männlich“ gleichzusetzen ist1 noch eine Unabhängigkeit vom Geschlecht bedeutet. Besonders filmische Amazonen sind meist nicht einfach heroisch und zusätzlich weiblich, sondern ihr Heldentum liegt in ihrer Weiblichkeit begründet. Entweder kann die Weiblichkeit als Waffe in ihrer Heldenreise eingesetzt werden, oder die Reise nimmt ihren Ausgang (nach Joseph CAMPBELL: die „Berufung“2) aufgrund der weiblichen Verletzlichkeit, die überwunden werden soll. Beide Varianten lösen eine männliche Krise aus, die aber, wie noch zu zeigen sein wird, in den modernen und postmodernen Filmen meist nicht in eine abschließende Bestätigung des Patriarchats oder des männlichen Heldentums mündet. Dass auch die männliche Rezipientenschaft dennoch Gefallen an solchen publikumswirksamen Heldinnen-Filmen findet, die meist aus Hollywood stammen, liegt im großen Schauwert der Amazonen im Medium des Films begründet. Schon seit Jahrtausenden sind sie „ein äußerst beliebtes Motiv der Bildkunst und Malerei“,3 und heute können die bewegten Bilder des Films diese visuelle Faszinationskraft noch verstärken: Die Kamera rückt der Amazone auf den Leib, während sie – optisch meist ins beste Licht gerückt – wütet, kämpft und dominiert.
1
Wie dies etwa diverse Lexika nahelegen. Vgl.: Kollmann, Anett: Gepanzerte Empfind-
2
Campbell, Joseph: Der Heros in tausend Gestalten. Frankfurt/Main: Fischer 1953. S. 58.
3
Der kleine Pauly. Lexikon der Antike. Band 1. Hg. v. Konrat Ziegler. München: dtv
samkeit. Helden in Frauengestalt um 1800. Heidelberg: Winter 2004. S. 35.
1979. S. 292.
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D AS ATTRAKTIVE ANDERE : AMAZONEN IM S CIENCE F ICTION -F ILM Der Science Fiction-Film Sumuru. Schiffbruch auf dem Planeten der Frauen (2003)4 bedient diese Objekthaftigkeit der Amazonen im Film sehr deutlich. Im doppelten Sinne sind die leicht bekleideten Frauen auf dem Planeten Antares – Corsagen aus Metall als Rüstung, Hotpants oder knappe Stahlhöschen, hohe Stiefel, kräftige Schminke – nicht nur optisch reizvoll für den Zuschauer, sondern auch auf fiktionaler Ebene für die beiden männlichen Besucher, die sie zunächst heimlich beobachten: Die Astronauten Adam Wade (Michael SHANKS) und Jake Carpenter (Terence BRIDGETT) stürzen auf dem Planeten ab und müssen feststellen, dass hier die Kriegerinnenkönigin Sumuru (Alexandra KAMP) herrscht. Adam fühlt sich sofort von ihr angezogen. Für ihn wie für den Zuschauer ist Sumuru trotz ihrer vorgeblichen Macht auf dem Planeten mehr ein Schauobjekt als ein Subjekt der Handlung. Denn mit der Ankunft der Männer übernehmen diese die Dominanz des Handlungsverlaufs. Damit ist Sumuru der einzige Film des dieser Arbeit zugrundegelegten mythologischen Filmkorpus, der den Amazonen-Mythos nicht allein als „Motivquelle“5, sondern auch als Stofflieferant nutzt. In allen anderen hier zu untersuchenden Filmen treten sie als unabhängige Kämpferinnen und/oder Rächerinnen auf und bedienen allein dieses Versatzstück aus dem antiken Amazonenmythos. Sumuru ist dagegen teilweise eine Mythenadaption – gemäß den Potenzialen des audiovisuellen Mediums Film. Der Plot greift sowohl den Einzelmythos um Theseus und die Amazone Antiope auf als auch die diversen Sagen um das Frauenvolk am Schwarzen Meer.6 Theseus, der athenische Königssohn, entspricht hier dem Astronauten Adam, welcher aus dem Patriarchat stammt und eine Expeditionsreise zu den Amazonen unternimmt. Dem Sci-Fi-Genre angemessen reist Adam per Raumschiff an, statt wie Theseus mit einem Schiff. In dem Frauenstaat verliebt er sich in dessen Oberhaupt Sumuru (im antiken Mythos Antiope entsprechend) und bewegt sie dazu, ihn in seinem „Schiff“ nach Hause zu begleiten.7
4
Regie: Darrell James Roodt, Südafrika 2003.
5
Karpenstein-Eßbach, Ch.: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. S. 244.
6
Z. B. bei Herodot: Historien. Erster Band. Griechisch-deutsch. Hg. v. Josef Feix. Mün-
7
Hier zeigte sich schon Antiope nicht abgeneigt: „Denn die Amazonen sollen von Natur
chen: Ernst Heimeran 1963. S. 585. aus Mannspersonen geneigt und bey der Ankunft des Theseus in ihr Land nicht geflohen seyn, sondern ihm vielmehr Geschenke geschickt haben; er habe diejenigen, welche die Geschenke brachten, gebeten, in das Schif zu steigen, und da sie es gethan, sey er davon gesegelt.“ Biographien des Plutarchs. Mit Anmerkungen. Von Gottlob Benedict von Schirach. Erster Teil. Berlin, Leipzig: Decker 1777. S. 48f.
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Zuvor lernt Adam den Frauenplaneten kennen, der dem Amazonenstaat aus den antiken Mythen nachempfunden ist (deren Bewohnerinnen sich aber hier wie dort selbst nicht als „Amazonen“ bezeichnen): Sie beten die „große Mutter“ an, eine überdimensionale, monströs ins Bild rasende Schlange, die es in Ritualen zu besänftigen gilt. Männer werden nur zur Fortpflanzung gebraucht und verrichten als Knechte die körperlich anstrengende Arbeit wie Gas- und Ölförderung.8 In Adam und Sumuru stehen sich Patriarchat und Matriarchat personifiziert gegenüber und ziehen sich gleichzeitig an. Trotz der erhaben-königlichen Gestikulation Sumurus dominiert sie den Film nicht als Heldin – anders als die Amazonen in den Hollywood-Actionfilmen. Wie einst Theseus ist es Adam, der als Subjekt die Handlung bestimmt und das Objekt seiner Begierde zum Fortgehen bewegt. Allerdings hier aus „vernünftigen“ Gründen, denn Adam vermittelt Sumuru die Einsicht, dass ihr Planet bald zerbrechen wird. Er selbst und sein Begleiter Jake dagegen, als die letzten nicht von einem Gen-Virus auf der Erde infizierten Menschen, benötigen die Erbmasse der Frauen auf Antares, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern. Entsprechend dem antiken Mythos und seinen Aufnahmen in den explizit mythologischen Romanen von PRESSFIELD und FIOLKA ist die Gynaikokratie durch den männlichen Helden widerlegt worden. Dieser tritt ihnen hier allerdings nicht als Antagonist, sondern als Retter entgegen. Der Film endet auch nicht damit, dass zurückbleibende Amazonen zum Sturm auf Adams Heimat antreten (wie ehedem die Amazonen vor Athen wegen des Verlusts ihrer Königin Antiope). Der Schrecken einer Schlacht mythologischen Ausmaßes bleibt dem Science Fiction-Zuschauer um 2000 erspart. Der Mythos wurde verkürzt – um mit CAMPBELL zu sprechen, er unterliegt hier augenscheinlich einer „Beschädigung und Verdunkelung“9 – gemäß den medialen Gestaltungspotenzialen des Films im Science Fiction-Genre: Optische Zeichen konstituieren den phantastischen Raum, eine galaktische Szenerie, und das Personal des Planeten Antares. LEHMANN nennt dies einen „Kinomythos“, der vom Zuschauer nicht überprüft, sondern „als wahr vorausgesetzt“ wird, weil die Bilder den Rezipienten in diesen Raum einbeziehen.10 Die trocken-sandige und felsige Wüstenlandschaft des Planeten der Frauen und die Weltraumbilder sind hier aber nur eine Art 8
Vgl. mit der griechischen Mythologie: „Damals, wie auch jetzt, rechneten die Amazonen ihre Abkunft nur von der Mutter. Lysippe hatte das Gesetz festgelegt, daß die Männer die Hausarbeiten ausführen müßten, während die Frauen kämpften und regierten. Deshalb wurden die Arme und Beine der kleinen Knaben gebrochen, um sie für Krieg und Reise untauglich zu machen.“ Ranke-Graves, R. von: Griechische Mythologie. Band 2. S. 119.
9
Campbell, J.: Der Heros in tausend Gestalten. S. 228.
10 Lehmann, Hans-Thies: Die Raumfabrik – Mythos im Kino und Kinomythos. In: Mythos und Moderne. Begriff und Bild einer Rekonstruktion. Hg. v. Karl Heinz Bohrer. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. S. 580.
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theatrale Kulisse für die Darstellung des attraktiven Andreren, einer „verkehrten Welt“, in die eine Männerphantasie hineinprojiziert wird. Wie in der Als-obSituation im Theater11 muss in Sumuru diese offensichtlich irdische Landschaft vom Zuschauer imaginiert werden, als ob sie ein fremder Planet sei. Da der Hintergrund meist aus gelbbrauner Wüste besteht, benötigt der Film im Grunde keine Wahrnehmungsbilder (Totalen); die Kulisse und das Dekor wechseln kaum und brauchen nicht zur Anschauung gebracht werden. Der Fokus liegt wie im Theater auf den Aktionen und Anziehungsdynamiken (halbnahe und halbtotale Aktionsbilder), die sich zwischen den matriarchalen und patriarchalen Parteien abspielen. Anders als in den meisten Science Fiction-Filmen geht vom Dekor kaum Bedeutung oder Faszination aus, diese wird ganz absorbiert von den zum bewegten Bild gewordenen mythologischen Frauenfiguren „in ungewohnten dominant-erotischen Posen“,12 denen sich der (männliche) Blick mittels Kameraauge nähert. Der Film bemächtigt sich des weiblichen Körpers in einem Maße, wie es weder im Roman noch im Theater möglich ist. Der Roman bleibt auf nicht determinierte sprachliche Beschreibungen festgelegt (es sei denn im enhanced E-Book), das Theater verbannt in der Bühnenrealisation im dramatischen Theater den Zuschauer auf seinen Platz und hält den Blick auf Distanz. Die Kamera dagegen visualisiert die Männerphantasie. Die mythologische Implikation wird dabei zur Nebensache degradiert, selbst wenn sie Stoffvorlage und nicht bloß Motivquelle ist.
„S TIRB NICHT ! D AS WAR NUR EIN S PIEL ...“ AMAZONEN -M OTIVE IM H OLLYWOOD -ACTIONKINO Anders als in Sumuru greift der erste Teil des Hollywood-Blockbusters Lara Croft: Tomb Raider von 200113 lediglich auf ein motivisches Versatzstück des Mythos der Amazonen zurück: die Frau als Kämpferin. Diese Heldinnenfigur ist wiederum der virtuellen Spielfigur eines Action-Adventure-Spiels nachempfunden, die als Grabjägerin archäologische und wertvolle Artefakte erkämpft. Dabei dürfte sie alle auf der mythologischen Beschreibung der Amazonen als „Männinnen“14 basierenden „Verdachtsmomente“ ausräumen, weibliche Kämpferinnen seien „Mannswei-
11 Z. B. wird die Bühne imaginiert, als ob sie ein Marktplatz sei, etc. 12 Franke-Penski, Udo: Amazonen in der modernen Populärkultur. In: Amazonen. Geheimnisvolle Kriegerinnen. Begleitbuch zur Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz Speyer. Speyer: Historisches Museum der Pfalz 2010. S. 280. 13 Regie: Simon West, USA 2001. 14 Homer: Ilias. Odyssee. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1979. III. Gesang, 189. S. 51.
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ber“15 oder homosexuell. Damit Lara Croft zu einem „‚Cultural icon‘ der neuen Mediengesellschaft“16 werden konnte, benötigte sie eine sexuelle Identität, die sie sowohl für männliche als auch für weibliche Spieler und Rezipienten attraktiv machte. Virtuell ist sie eine in Computersprache programmierte „‚unkörperliche‘ Gestalt“;17 die Verbildlichung dieser Schrift bringt aber eine Spielfigur mit erotisch erhöhter Erscheinung hervor: Gegenteilig zu diversen Ableitungen des Begriffs „Amazone“ von a und mazon für „ohne Brüste“18 – unter der Annahme, dass sie sich eine Brust zur besseren Bedienung der Waffen wegbrannten – ist Lara Croft mit im Verhältnis zu ihrer zierlichen Figur überdimensionierten Brüsten ausgestattet. Nach Hartmut DÖHL wäre es in den visuellen Medien anders als in schriftlichen Medien oder mündlichen Überlieferungen nahezu unmöglich, die erotische Komponente der mythologischen Amazonen aufrecht zu erhalten, wenn sie mit fehlender Brust dargestellt werden würden: „In gesprochener oder geschriebener Form mag die Vorstellung einer verstümmelten Frauenbrust vielleicht pikant erscheinen, in der bildlichen Realität stört es die erotische Note, die das Amazonenbild seit Phidias eindeutig hat.“19 Eine brustlose Amazone ist in der Medienkonkurrenz folglich für den Film nicht förderlich, was im Kampf um mediale Aufmerksamkeit sogar zu einer Überhöhung führte: der Überdimensionierung von Lara Crofts Weiblichkeit. Freilich kann ihr großer Erfolg, welcher die einst virtuelle Figur zu transmedialer Verbreitung brachte, nicht nur darin begründet sein. Bereits ihre Spielfigur bietet vielmehr omnipotente Rezeptionsweisen: Nach FRANKE-PENSKI ist sie nicht nur „herkömmliche sexuelle Männerfantasie“, sondern auch ein „Alpha-Weibchen“, das, den Gegner prügelnd, möglicherweise „eine männlich-masochistische Lust an der Unterwerfung“ evoziert sowie „Ausdruck eines neuen feministisch geprägten weiblichen Selbstbewusstseins“20 ist. Die Identifikation mit der emanzipierten Amazone Lara21 – für FRANKE-PENSKI ein modernes klischeehaftes Bild einer 15 Vgl.: Franke-Penski, Udo: Faster, Pussycat, Kill! Amazonen im modernen Action-Film. In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. ebd. und Heinz-Peter Preußer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. S. 119. 16 Deuber-Mankowsky, Astrid: Lara Croft. Modell, Medium, Cyberheldin: das virtuelle Geschlecht und seine metaphysischen Tücken. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. S. 10. 17 Ebd., S. 63. 18 Ranke-Graves, R. von: Griechische Mythologie. Band 1, S. 322. 19 Döhl, Hartmut: Amazonen. Traumfrauen und Schreckensbilder. In: Waren sie nur schön?: Frauen im Spiegel der Jahrtausende. Hg. v. Bettina Schmitz. Mainz: von Zabern 1989. S. 253. 20 Franke-Penski, U.: Faster, Pussycat, Kill! In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. ebd. und H.-P. Preußer. S. 123. 21 Die wie in den anderen Amazonen-Filmen und in den meisten Romanen des Korpus der mythologischen Dimension nicht als solche bezeichnet wird.
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Amazone22 – mag im Computerspiel noch viel stärker erfolgen, denn hierbei werden ihre Aktionen aktiv manuell gesteuert: Spieler(in) und Lara Croft interagieren via Computermaus oder Spielkonsole. Anders als im Film ist der Konsument nicht nur Zuschauer, sondern eine Art sich mit ihr assimilierender Regisseur. Durch den großen Erfolg des Spiels Tomb Raider wurde Lara Croft bereits zum Medienstar, bevor ihr der fleischliche Star Angelina JOLIE den Körper „lieh“. Lara Croft begibt sich kämpfend auf einen medialen Streifzug sowohl durch Print- als auch durch audiovisuelle Medien: Ihre virtuelle Gestalt tritt im Musikvideoclip der ÄRZTE Männer sind Schweine auf, ihr Bild ziert diverse Druckmedien,23 es wurde eine Serie von Romanen zum Spiel geschrieben,24 und auch das Marktphänomen der „Novelization“,25 d. h. das Buch zum Film,26 folgte dem ersten Teil der erfolgreichen Hollywoodverfilmung. Im ökonomischen Kampf bedienen sich die verschiedenen Künste und Medien der modernen Amazone. Die Kunstfigur Lara Croft ist ein musterhaftes Beispiel dafür, wie dabei Mediengrenzen überschritten werden können. Die Transgression in das Medium Film findet hierbei nicht allein auf inhaltlicher Ebene, d. h. in thematischer Interferenz mit dem Computerspiel statt, sondern auch hinsichtlich ästhetischer Ausgestaltungen. Konkret: Tomb Raider 1 und 2 sind zwar Filme im realistischen Paradigma, dennoch folgen sie einer Computerspielästhetik. Dem Spiel entsprechend liegt der Schwerpunkt auf der Geschicklichkeit der Heroin und ihrer Reaktionsfähigkeit im Kampf um Artefakte. Außerdem strukturieren sie sich ebenso in Aktionsszenen – in diesen ist die Heldin im Spiel nur von hinten zu sehen – und in Zwischensequenzen (sogenannte „Cutscenes“ zwischen den Levels),27 die auf die persönliche Entwicklung der Heldin eingehen. Solche Cutscenes zeigen z. B. in farblich abgetönten, etwas grobkörnigeren filmischen Rückblenden28 Laras Beziehung zu ihrem verstorbenen Vater, der ihr das Wissen und die Faszination für alte Schätze und deren mythologische 22 Franke-Penski, U.: Amazonen in der modernen Populärkultur. In: Amazonen. Geheimnisvolle Kriegerinnen. S. 284. 23 „Sie war die erste virtuelle Gestalt, die den Schritt aus der Spielwelt in die universale Medienrealität schaffte. Schon wenige Monate nach der Lancierung des Computerspiels begegnete man ihr auf Plakatsäulen, im Fernsehen, auf den Titelseiten von Magazinen wie Playboy, Spiegel und Stern, in einschlägigen Game-Zeitschriften und in den Feuilletons diverser Tages- und Wochenzeitungen.“ Deuber-Mankowsky, A.: Lara Croft. S. 10. 24 Eng verknüpft mit den Tomb Raider-Spielen z. B. Band 1: Resnik, Mike: Das Amulett der Macht. Stuttgart: Panini 2004. 25 Borstnar, Nils; Pabst, Eckhard; Wulff, Hans Jürgen: Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft. Konstanz: UVK 2002. S. 77. 26 Stern, Dave: Lara Croft. Tomb Raider. München: Goldmann 2001. 27 Nach: Deuber-Mankowsky, Astrid: Lara Croft. S. 23. 28 Lara Croft: Tomb Raider. Regie: Simon West, USA 2001. 00:12:05.
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Bedeutungen vermittelte.29 Auch ihre dem Game nachempfundene, aber im Film nicht phantastische Unverwundbarkeit wird in diesen Cutscenes untermauert.30 Im Fokus der Filme stehen aber die Aktionsbilder des Kampfs, im Fall des ersten Films um das „Dreieck des Lichts“, dessen zusammengefügte Teile seinem Besitzer Macht über die Zeit verleihen. Da Lara in einer Uhr den Schlüssel zu einem seiner Teile findet, sind machthungrige männliche Gegner hinter ihr her. Dies wird zum Nervenkitzel für den Rezipienten, indem z. B. mit dem Mittel der Parallelmontage, die dem Zuschauer einen Wissensvorsprung vor der Figur gibt, „suspense“ erzeugt wird (wie bereits bei HITCHCOCK): Während Lara in der Eingangshalle ihres Anwesens akrobatische Seilübungen betreibt, sind Bilder der sich um ihr Haus aufstellenden Männer zwischengeschnitten,31 die gleich darauf in Kontrast zur leichten, übungsbegleitenden Klaviermusik laut ballernd einbrechen.32 Es sind die Männer des Kronanwalts Powell, gegen die Lara mit spinnengleichen Kampfbewegungen33 zwar ihr Leben, nicht aber die Uhr mit dem Hinweis auf das Dreieck verteidigen kann. Der Film rekurriert nicht allein auf die Ästhetik der unverwundbaren Figur im Computerspiel, sondern transformiert das Motiv der Kämpferin mittels Kameraund Montagetechniken zu einem eigenen Kunstwerk. Lara Croft bekommt über ihren Spiel-„Lebenslauf“ hinaus auch einen Charakter jenseits ihrer Kämpferinnennatur. In einer Überblendung der Schrift ihres Vaters in einer Rückblende und Laras Gesicht, das während ihres gegenwärtigen Lesevorgangs Regungen zeigt, wird z. B. ein Affektbild der besonderen Art erzeugt: Detailaufnahme und Großaufnahme sind übereinandergelegt, wodurch gezeigt wird, was Lara wahrnimmt – ein objektives Bild des Briefs – und wie sie darauf reagiert (Abb. 53), nach DELEUZE ein subjektives Affektbild, das die Empfindung der Figur abzeichnet.34 Im Gegensatz zum Roman kann hier beides simultan gezeigt werden und muss nicht linear sprachlich beschrieben werden. Dabei entgeht dem Zuschauerauge, anders als im nicht durch Filmprojektion unterstützten Theater, kein Detail des Affekts, und auch die Schrift von Laras Vater tritt ihm „original“ vor Augen, während es im Theater nicht einmal auffallen würde, wenn es ein leeres Stück Papier wäre, das in der Performanz nur so behandelt wird, als ob es ein Brief sei. Mehr noch wird dieser filmische Brief nicht
29 Weshalb ihr laut Kronanwalt Manfred Powell ein Ruf vorauseilt: „Man hört, Sie sind eine Koryphäe in Sachen Altertum und Mythologie“. Ebd., 00:23:29. 30 Beispielsweise kann Lara eine zum Dampfen erhitzte Schale mit bloßen Händen anfassen. Ebd., 00:22:11. 31 Ebd., 00:26:04. 32 Ebd., 00:27:18. 33 Ebd., 00:28:39. 34 Ebd., 00:37:50.
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nur als gegenwärtiges Artefakt behandelt, sondern als virtuelle Rückblende auf den Schreibvorgang des verstorbenen Vaters. Abb. 53: Lara Croft: Tomb Raider.
Regie: Simon West, USA 2001 (00:37:51).
Dieser Brief des Archäologen gibt ihr den Hinweis, dass sich die andere Hälfte des Dreiecks im Tempel Ta Prohm in Kambodscha befindet, zu dem Lara prompt reist. Ihr erster Eindruck dieser Kulisse, mit dem in Stein gehauenen Buddha im Zentrum und den grabenden Männern davor, stellt ein subjektives Wahrnehmungsbild ganz im Sinne von DELEUZE dar: Die Rahmung des Bildes ist Laras futuristischem Fernglas nachempfunden (Beschränkung des Sichtfeldes mit schriftlichen Angaben am Rand), durch das sie blickt und ihre Kontrahenten wie erwartet unter den Männern ausmacht (Abb. 54).35
35 Ebd., 00:39:23.
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Abb. 54: Lara Croft: Tomb Raider.
Regie: Simon West, USA 2001 (00:39:37).
Zusätzlich erfährt der Zuschauer auf der auditiven Ebene ihrer zu sich selbst gemurmelten Worte, was sie wahrnimmt und darüber denkt: „Ah, Mr. Powell. Wie vorhersehbar. Alex West. Was hast du hier zu suchen?“36 Mit diesem auditiven Mittel wird der Umstand umgangen, dass die Gedanken einer Filmfigur anders als im Roman meist nicht schlicht erzählt oder im inneren Monolog bzw. einem eher assoziativen stream of consciousness wiedergegeben werden können. Lara muss ihre Assoziationen selbst aussprechen, damit dem Rezipienten nicht entgeht, was sie in ihrem Sichtfeld genau erblickt und wie sie über das Wahrgenommene denkt. Und: Der Zuschauer hätte die beiden Kontrahenten in dieser Einstellung nicht ohne weiteres ausmachen können – bisweilen reichen Bilder allein nicht aus, um Handlung zu vermitteln. Nach DELEUZES Kategorisierung des Kinos in Bewegungs- und Zeit-Bild handelt es sich beim ersten Teil von Lara Croft: Tomb Raider, wie bei den meisten kommerziellen Erfolgen, um einen Film im ersteren, sensomotorischen Paradigma, bei dem der Glaube, dass sinngerichtetes Handeln etwas bewirken kann, (noch) vorhanden ist. Dies aber mit Einschränkungen, denn Laras kämpferische Macht besteht nicht darin, mit ihren Aktionen (A) die chronologische Weltordnung (Situation S) aus den Fugen zu heben (zu einer veränderten Situation S‘). Sondern ihr Handeln bewirkt vielmehr intentional eine Verhinderung dieser negativen, blasphemischen Umwälzung, die durch das Zusammenfügen des Dreiecks möglich wäre. Damit wird auf fiktionaler Handlungsebene ein Übergang zum Zeit-Bild verhindert, das impliziert, dass Kontinuitäten reißen können,37 und zwar hier nach den Bedürf36 Ebd., 00:39:32. 37 Vgl.: Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. S. 277.
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nissen von Laras Antagonisten: Geriete das geschlossene Dreieck in deren Hände, könnten sie über die Zeit herrschen, ihre Kontinuität brechen, indem sie sie z. B. anhalten zu rein optisch-akustischen Situationen oder vordrehen etc. Um das zu vereiteln, muss sich Lara selbst kurzzeitig über die Chronologie erheben und die Zeit zurückspulen. Bei dem Rückwärtslauf der Bilder bleibt die Erzählhandlung dennoch organisch strukturiert.38 Die Vergangenheit ihres Vaters und Laras Gegenwart überschneiden sich, so dass sie von ihm zu zweckgerichtetem Handeln angehalten werden kann, auch wenn sie am liebsten die Zeit so weit zurückdrehen würde, dass sie seinen Tod ungeschehen machen könnte. Der audiovisuell verlebendigte Tote ermahnt sie aber: „Wir dürfen in die Zeit nicht eingreifen“,39 und darum solle sie das Dreieck vernichten. In einem Rückwärtslauf der Zeit – die filmischen Bilder laufen in umgekehrter Richtung40 – gelingt es ihr, dass das fliegende Messer ihres Kontrahenten Powell die Richtung ändert und sie das Dreieck zerstören kann. Somit ist sie eine Art Retterin der Welt vor der göttlichen Macht, die Powell erlangt hätte. Der zweite Teil des Abenteuerfilms Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens (2003)41 ist stärker mythologisch geprägt als der erste. Er bedient sich zwar auch allein des populären Kampfmotivs der mythologischen Amazonen, geht aber dafür zurück auf einen anderen Mythos, welchen er mit der Amazone Lara Croft interferieren lässt: den welterklärenden Mythos der Büchse der Pandora. Die Grabjägerin findet im „Luna-Tempel“ von Alexander dem Großen, der vor Griechenland im Meer versunken ist, eine geheimnisvolle Kugel. Bevor ihr diese von einer Truppe ihres neuen Kontrahenten, dem skrupellosen Wissenschaftler Jonathan Reiss42 (Ciarán HINDS), entwendet wird, kann sie sie fotografieren, weiß aber noch nicht um ihre große Bedeutung. Zurück auf ihrem Anwesen in England – die Ortsangaben werden in Game-Optik in großen weißen Lettern auf den schwarzen unteren Bildrand geschrieben,43 was den Handlungsraum wie im Roman konkret bestimmt – weist sie ihren Butler Hillary (Christopher BARRIE) und den bei ihr wohnenden Computerfreak Bryce (Noah TAYLOR) an, die gesamte griechische Mythologie nach der möglichen Bedeutung der Kugel zu durchforsten. Das Wissen sollen sie aus sämtlichen Büchern hierzu beziehen, wobei Hillary einwendet: „Da gibt es womöglich Tausende“, und die Kämpferin bestimmt: „Dann lesen wir über Tausende!“,44 38 Vgl.: Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. S. 170. 39 Lara Croft: Tomb Raider. Regie: Simon West, USA 2001. 01:21:41. 40 Ebd., 01:22:40. 41 Regie: Jan de Bont, USA 2003. 42 „Der heutige Dr. Mengele“, wie ihn ein Agent vom MI6 nennt. Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens. Regie: Jan de Bont, USA 2003. 00:23:12. 43 Z. B.: „CROFT MANOR. BUCKINGHAMSHIRE“. Ebd., 00:19:50. 44 Ebd., 00:21:05.
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während sie mit ihrem Kampfstock auf eines der Bücher der großen Bibliothek ihres Anwesens zielt. Sie finden heraus, was es mit der Kugel auf sich hat, und Lara überrascht die Männer vom MI6 mit ihrem Wissen: Lara: Reiss will mit der Kugel die Büchse der Pandora finden. MI6-Agent: Die aus der griechischen Mythologie. Pandora kriegt ‘ne Büchse von Zeus, soll sie nicht öffnen, tut es doch und bringt das Übel über die Menschheit. Lara: Das wäre die harmlose Version, ja.45 […] Wenn er [Dr. Reiss] sie öffnet, verfügt er über eine Waffe, die wirkungsvoller ist als alles, was Sie sich vorstellen können.46
Mit den „Übeln“ sind nach VON RANKE-GRAVES’ Zusammenfassung „Alter, Wehen, Krankheiten, Irrsinn, Laster und Leidenschaften“47 gemeint. Der Schurke Dr. Reiss ist vor allem an den Krankheiten interessiert, denn er entwickelt biologische Waffen. Was genau aber diese „Waffe“ noch enthält, dürften beide Wettstreiter nicht wissen, weil die Büchse in der Mythologie ja bereits geöffnet wurde48 und die Übel in der Welt sind. Auch gewinnt Reiss erst durch die hinweisende Kugel die Gewissheit, dass es die Büchse wirklich gibt: „Ein Teil von mir hat immer die Überlegung mit einbezogen, dass die Büchse der Pandora nur eine Legende ist.“49 Somit hat es der Film mit zwei Artefakten zu tun, die es gilt, im Bild sichtbar mythisch aufzuladen. Dies wird erreicht, indem z. B. die Kamera die Perspektive der Kugel einnehmen kann, etwa wenn Reiss über ihr steht und sein Gesicht aus der Untersicht (der Kugel) gezeigt wird, alternierend mit auf die leuchtende Kugel zoomender Kameraeinstellung aus der Position ihres fiktionalen Betrachters (in der Schuss-Gegenschuss-Technik).50 Als Lara die Kugel hält, kann sie in ihren Strahlen Bilder erkennen, die zeigen, wo sich „die Wiege des Lebens“, der Ort, an dem die Büchse der Pandora versteckt ist, befindet: In das helle Leuchten sind wie in einem Hologramm Bilder der Wildnis Afrikas projiziert (Abb. 55). Hinzu kommt die auditive Ebene: Lara hört die Geräuschkulisse Afrikas, wie z. B. das Kreischen der Vögel, Elefantentrompeten und die Laute eines Stammes.51 Zusätzlich ist hinter diesem Strahlen noch der Ort zu erkennen, an dem Lara sich während dieser kontemp45 Ebd., 00:23:12. 46 Ebd., 00:25:16. 47 Ranke-Graves, R. von: Griechische Mythologie. Band 1. S. 129. 48 „Sie entflohen augenblicklich in einer Wolke, stachen Epimetheus und Pandora in alle Körperteile und fielen über sämtliche anderen Sterblichen her. Die trügerische Hoffnung jedoch, die Prometheus auch in das Kästchen gesperrt hatte, hielt die geplagten Menschen davon ab, all ihrem Leid durch freiwilligen Tod ein Ende zu setzen.“ Ebd., S. 129. 49 Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens. 00:54:42. 50 Ebd., 00:54:40. 51 Ebd., 01:15:13.
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lativen Visualisierung tatsächlich befindet: bei einer chinesischen Familie, deren Fernsehgerät sie benutzt, um eine Verbindung zu ihrem Helfer Bryce herzustellen. Damit auch für den Rezipienten eindeutig wird, was in der Überblendung zu sehen war, expliziert sie über den Bildschirm, auf dem sie Bryce sehen kann: „Afrika. Sie liegt in Afrika. Irgendwo am Kilimandscharo.“52 Abb. 55: Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens.
Regie: Jan de Bont, USA 2003 (01:15:15).
An diesen Originalschauplatz begibt sich der Film daraufhin. Besonders in der Afrika-Sequenz wird offenkundig, welche Mittel der Authentizitätserzeugung der Kunst des Films heute zur Verfügung stehen: Durch bewegliche Kamera und Schnitttechnik vermag er die Zuschauersinne an entlegene reale Orte der Erde audiovisuell mitzunehmen und ist nicht wie Roman und Theater allein darauf angewiesen, die Zuschauerphantasie auf Reisen zu schicken. Die Landschaftsaufnahmen dieses Films erinnern gar an die Totalen und „extreme long shots“, die Weitaufnahmen eines Dokumentarfilms.53 Dem Regisseur des Films, Jan DE BONT, ist neben der Authentizität des Raums aber auch an der teilweise „originalen“ Besetzung der Schauspieler gelegen, wie z. B. die griechischen Taucher zu Beginn des Films vor Santorini und der afrikanische Stamm54: In diesem Film habe ich außerdem fast alle Filmrollen mit Schauspielern aus der Gegend besetzt. Ich versuchte in jedem Land, einheimische Schauspieler einzusetzen, anstatt Leute ein-
52 Ebd., 01:15:48. 53 Ebd., 01:16:30. 54 Ebd., 01:18:31.
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zufliegen. Ich fand es interessant, Einheimische, die Gesichter echter Leute einzufangen, die zu dieser Landschaft, diesem Land und diesem Klima gehören. Es sieht echter aus und hat etwas unglaublich Authentisches.55
Aus diesem Zitat geht hervor, dass DE BONT nicht behaupten möchte, sein Kino könne die Realität einfangen, sondern dass die Fiktion seines Films dadurch vielmehr eine Art Realitätsanstrich bekommt. Der Eindruck von Originalität kann aber auch durch digitale Technik erzeugt werden, wofür der zweite Teil von Lara Croft viele Beispiele gibt: Der Kampf der Amazone gegen einen Hai wurde unter minimalistischen Bedingungen wie im Theater eingespielt und nachträglich so bearbeitet, dass die „Unterwasser“bilder laut DE BONT echter aussehen, als wenn sie tatsächlich im leicht trüben Meerwasser gedreht worden wären.56 Außerdem hängt dies auch immer von den physischen und psychischen Konditionen der Schauspieler ab, die den Aufwand betreiben zu trainieren und ihre Ängste überwinden müssen. In den mythologischen Romanen berichtet ein Erzähler von der Reitkunst der Amazonen; die Darstellerin der Lara Croft hingegen musste hart üben, um mit zwei Waffen schießend und in vollem Galopp reitend nicht aus dem Damensattel ihres durch den Nebel jagenden Pferdes zu fallen (Abb. 56).57
55 Ebd., Audiokommentar Jan de Bont 00:02:11. 56 „Ob Sie’s glauben oder nicht, diese Sequenz wurde ganz im Trockenen gedreht. Das heißt, es gab überhaupt kein Wasser. Die Schauspieler schwebten über einer leeren Bühne, auf kleinen Schlitten. Alles andere wurde hinzugefügt. Das Wasser, die Wasserbläschen … das Gras, die Fische. Und es sieht fast überzeugender aus als unsere Unterwasseraufnahmen.“ Ebd., 00:06:45. 57 Vgl.: Ebd., 00:21:37.
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Abb. 56: Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens.
Regie: Jan de Bont, USA 2003 (00:21:19).
Dank technischer und digitaler Mittel sind dem Film um 2000 wie dem Roman, in dem über das Medium der Sprache jede Fiktion möglich ist, prinzipiell keine Grenzen gesetzt. Tatsächlich ist dies aber mit einem Aufwand verbunden, wie er in den anderen Medien niemals zu betreiben ist: Einen internationalen Abenteuerfilm zu produzieren, mit halsbrecherischen Stunts der bis zur Makellosigkeit bearbeiteten Amazone Angelina JOLIE,58 erfordert die kostspielige Zusammenarbeit eines Filmteams von Experten, Bildbearbeitern, Sounddesignern, Schauspielern, Stuntleuten uvm. Grundsätzlich gilt: Heute kann in einem Film aufgrund digitaler Möglichkeiten alles artifiziell erzeugt sein, eine garantierte Authentizität gibt es nicht. Trotz des Generalverdachts ist der Film ein Künste-Medium, das nicht so tun muss, als ob. Die Orte können reine Kulisse sein und die Schauspieler nur so tun als ob sie aus diesem Land stammten. Das meiste in einem Actionfilm – weniger im Science Fiction-Genre – vermag authentisch gedreht worden zu sein. Ob dem wirklich so ist, oder ob die Bilder am Computer erzeugt wurden, lässt sich während der Rezeption aber meist nicht feststellen. Es sind entweder Bilder und Töne, die eindrücklich die Welt bedeuten, oder tatsächlich einen Ausschnitt von ihr zeigen. Die mythisch aufgeladenen Artefakte sind, anders als die Aktionen der Amazone an diversen Schauplätzen, phantastisch. Ihre Sagenhaftigkeit wird im Bild durch
58 „Ich denke immer wieder, dass das Aussehen von Lara Croft, von Angelina perfekt ist. […Das ist] etwas, was man machen kann […] Sie ist natürlich auch so wunderschön, aber ich denke, man kann jedes Detail hundert Prozent perfekt machen.“ Ebd., Audiokommentar Jan de Bont 00:28:53.
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Bearbeitung unterstrichen. Die Büchse der Pandora ist relativ klein59 und schwimmt in der ätzenden Flüssigkeit einer Grotte. Ihr digital erzeugtes, hellorangefarbenes Leuchten strahlt in einem Kristallbild auf Lara Crofts Gesicht (Abb. 57) und zeigt die Verlockung, gegen die sie kämpft, als sie die Büchse einen kleinen Spalt weit öffnet:60 Die Vorderseite des Kristallbilds wäre nach DELEUZE die Großaufnahme ihres Gesichts, die Rückseite der Wunsch, die strahlende Büchse zu öffnen, die sich auf ihrem Gesicht spiegelt. Die Büchse ist das Virtuelle, das sich in diesem Moment im „hors-champ“, dem Off, befindet, aber zugleich aktuell auf Laras Gesicht – nicht nur als affektiver Ausdruck, sondern als Lumineszenz – zu erkennen ist.61 Es ist ein doppeltes Bild des Virtuellen62 und Aktuellen, hier von Wunsch und „Wirklichkeit“. Die Verlockung ist groß, denn Amazonen sind in der narrativen Kunst kluge und wissbegierige Frauen. Und hier handelt es sich immerhin um das Wissen der Welt! Doch die moderne Hollywood-Amazone lässt sich nicht mit Pandora gleichsetzen, auch wenn sie deren Attribut der Schönheit tragen mag,63 was aber im Film anders als im Mythos allein die Funktion des Schauwerts hat. Lara ist weiser als Pandora64 und tritt an die Erdoberfläche mit den Worten: „Es gibt Dinge, die sollen nicht gefunden werden.“65
59 Reiss: „Die ganze Macht in so einer banalen Kiste.“ Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens. 01:33:20. 60 Ebd., 01:40:23. 61 Ebd., 01:40:47. 62 Vgl.: Deleuze, G.: Das Zeit-Bild. Kino 2. S. 96f. 63 „Diese Frau, Pandora, war die schönste, die je geschaffen wurde.“ Ranke-Graves, R. von: Griechische Mythologie. Band 1. S. 128. 64 „Zeus hatte sie so dumm, böswillig und faul gemacht, wie sie schön war – die erste einer langen Reihe solcher Frauen!“ Ebd., S. 128. 65 Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens. 01:41:45.
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Abb. 57: Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens.
Regie: Jan de Bont, USA 2003 (01:40:47).
Insgesamt leistet dieser Film die Tradierung des Mythos, indem er ihn nach LEH66 MANN bildsam zur Einprägung bringt und affektiv verankert. Im Gegenzug war im Roman eine emotionale Verankerung des Mythos durch die intra- oder extradiegetischen Innenperspektiven festzustellen. Das Theater tradiert den Mythos dagegen vermutlich durch eine Art Erlebnis-Prägung im Zuschauer, die durch die unmittelbare Performanz möglich ist. In allen Medien werden transmedial existente Mythen weitergegeben, um noch die Rezipienten um 2000 in eine Art Ur-Zeit – „die Wiege des Lebens“ – zurückzuführen. Die Worte des Kontrahenten Reiss, um Lara Croft zur Kooperation zu bewegen, sind im Kern auch bezeichnend für das Verhältnis von medialen Mythenadaptionen und deren Rezipienten: „Überlegen Sie doch, was ich Ihnen anbiete: Die Möglichkeit, herauszufinden, wie alles begann. Das Leben, Lara, der Ursprung unseres Seins. Erzählen Sie mir nicht, das würde Sie nicht reizen.“67 Der Mythos als Erzählung vom Ursprung übt eine Faszination aus und ist somit auch ein Kampfthema in der Medienkonkurrenz. Die Figur Lara Croft hat auf fiktionaler Ebene eine makrokosmische Relevanz, da es besonders in den Filmen um die Machtverteilung im Universum geht. Nach LEHMANN ist daran auch mythisch, dass die Heldin „tatsächlich etwas bewirkt“.68 Lara Crofts mythisches Wirken liegt allerdings in der Verhinderung makrokosmischer Mächteumverteilungen. Das unterscheidet sie grundlegend von der Amazone 66 Lehmann, H.-T.: Die Raumfabrik. In: Mythos und Moderne. Hg. v. K. H. Bohrer. S. 579. 67 Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens. 01:22:90. 68 Lehmann, H.-T.: Die Raumfabrik. In: Mythos und Moderne. Hg. v. K. H. Bohrer. S. 577.
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des Revenge-Actionzweiteilers von Quentin TARANTINO: Kiddo, „die Braut“ in Kill Bill.69 Allgemein gefasst ist die Protagonistin der Kill Bill-Filme (2003, 2004) keine Mythenheldin, sondern die Kämpferin wirkt – wenn sie auch international unterwegs ist – auf mikrokosmischer Ebene, räumt in ihrem eigenen Umfeld auf bzw. rechnet ab. Nach CAMPBELL ließe sie sich demnach eher als Märchenheldin klassifizieren: Bezeichnenderweise ist der Triumph des Märchenhelden ein häuslicher, mikrokosmischer, während der des Mythenhelden ein weltgeschichtlicher makrokosmischer ist. Während jener – das jüngste oder verachtete Kind, das zum Herrn ungewöhnlicher Kräfte wird – über seine persönlichen Bedrücker triumphiert, bringt dieser von seinem Abenteuer die Mittel zurück, die seine Gesellschaft im ganzen regenerieren.70
Anders als für Lara Croft liegt die Kampfmotivation der Protagonistin von Kill Bill in einem persönlichen Rachemotiv begründet, das seinen Ausgang nimmt in der Verletzung ihrer weiblichen, körperlichen Integrität. Das mikrokosmische Grundmuster dieses US-Streifens ist sehr einfach: Eine junge Frau (Uma THURMAN), die im Filmverlauf verschiedene Namen trägt – „die Braut“, „Black Mamba“, „Kiddo“, später „Beatrix Kiddo“ –, möchte nicht mehr für das Attentatskommando Tödliche Viper als Killerin arbeiten, das von Bill angeführt wird, mit dem sie ein festes Liebesverhältnis hat. Als sie von ihm schwanger wird, setzt sie sich heimlich ab, um für ihr Kind eine sichere Existenz aufzubauen. Mit ihrem neuen Freund probt sie gerade die Hochzeitszeremonie, als Bill und sein Attentatskommando einfallen und die Abtrünnige samt der Hochzeitsgesellschaft erschießen. Bevor Bill „die Braut“ erschießt, kann sie gerade noch hervorbringen, dass es sein Baby ist. Doch sie überlebt den Kopfschuss und liegt vier Jahre lang im Koma. Als sie aufwacht, muss sie feststellen, dass man ihr das Baby genommen bzw. es vermutlich nicht überlebt hat und sie während des Komas regelmäßig durch die Vermittlungen eines korrupten Pflegers sexuell missbraucht wurde. Sie flüchtet und erstellt die „Death List Five“, auf der ihre ehemaligen Kollegen des Attentatskommandos stehen – mit dem finalen Ziel Bill. Ihre weibliche Verletzlichkeit hat sie zur Rächerin gemacht, und beide Teile des Films drehen sich allein darum, wie sie einen nach dem anderen mit ausgefeilten Kampftechniken tötet.
69 Kill Bill – Volume 1: USA 2003. Kill Bill – Volume 2: USA 2004. Sowohl Drehbuch als auch Regie jeweils von Quentin Tarantino. 70 Campbell, J.: Der Heros in tausend Gestalten. S. 41.
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Nach Uwe LINDEMANN handelt es sich hierbei um einen „Minimalplot“, wie er sich bis weit zurück in die Antike findet.71 Die mythologischen Amazonenfiguren sind mit Rachestoffen verbunden, wie z. B. die Schwester der Amazonenkönigin Antiope, die Rache an Theseus dafür nehmen möchte, dass er mit der Königin davongesegelt ist: Antiopes Schwester Oreithya, von der manche fälschlicherweise annehmen, sie wäre Hippolyte, deren Gürtel Herakles trug, schwur Rache an Theseus. Sie schloß ein Bündnis mit den Skythen und führte ein mächtiges Amazonenheer über das Eis des Kimmerischen Bosporos[.]72
PRESSFIELD nimmt diesen Stoff in seinem mythologischen Roman Die Königin der Amazonen auf; in den Filmen hingegen wird das amazonische Rachemotiv auf eine singuläre Frau bezogen. Im antiken Mythos wie in PRESSFIELDS Roman stehen Schlachten im Vordergrund. Der Film inszeniert stattdessen die Grausamkeit mythologischen Ausmaßes einer Einzelkämpferin gegen ihre (teils pluralen) Widersacher. Ein Grund hierfür mag sein, dass im modernen Kino anders als im antiken Mythos auch nicht-göttliche Frauen Einzelheroinen sein können und die Heldenreise nach dem von CAMPBELL ausgemachten mythologischen Muster beschreiten können. In der griechischen Mythologie galten bestimmte Amazonen zwar als Einzelheldinnen, aber von ihnen wurde nicht in individualisierten Stoffen berichtet, d. h. sie „spielten“ nicht die Hauptrolle in den Einzelmythen. Die Amazonen bestanden allein in ihrer kollektiven Funktion für den männlichen Heros / Protagonisten, der sich in einer Art Mutprobe an ihnen messen und bestätigen sollte. Das hat sich vor allem im modernen Hollywood-Kino geändert, weil ein möglichst breites – und damit auch weibliches – Publikum angesprochen werden soll, das sich mit einer einzelnen und zudem attraktiven Heroin besser empathisch verbinden kann als
71 „Es ist eine Story, deren Originalitätsgrad gegen Null tendiert und deren einzelne Erzählsegmente sich bis zu den Anfängen der Schriftkultur, mindestens aber bis in die griechische Antike zurückverfolgen lassen.“ Lindemann, Uwe; Schmidt, Michaela: Die Liste der Braut. Einige Bemerkungen zur Filmästhetik von Quentin Tarantinos Kill Bill. In: Unfinished Business: Quentin Tarantinos „Kill Bill“ und die offenen Rechnungen der Kulturwissenschaften. Hg. v. Achim Geisenhanslüke. Bielefeld: transcript 2006. S. 133. Tarantino selbst ist sich des Vorwurfs bewusst: „Manche sagen: ‚An der Geschichte ist nicht viel dran.‘ Nun, es geht um Rache. Was braucht man mehr? Fünf Leute haben etwas Schlimmes getan und müssen jetzt dafür bezahlen. Sie hat eine Liste mit fünf Namen und will sie alle abhaken. Mehr Geschichte braucht man nicht.“ Kill Bill – Volume 2. Regie: Quentin Tarantino, USA 2004. Extra 2 der DVD, 00:01:05. 72 Ranke-Graves, R. von: Griechische Mythologie. Band 1. S. 320.
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mit einem Heer von Heldinnen. Für TARANTINOS Amazone „Kiddo“73 gilt ein identifikatorisches Potenzial, wie FRANKE-PENSKI es für den Film um den Racheengel Foxy Brown74 diagnostiziert: Weibliche Zuschauer „können sich mit Foxy als Opfer identifizieren; sie können sich gleichzeitig als unabhängig von männlicher Hilfe wahrnehmen und die Gewalt gegen Männer genießen, die ohne Zweifel gerechtfertigt ist und ohne Konsequenzen für die Täterin bleibt.“75 Männliche Rezipienten dagegen haben die Wahl zwischen der Identifikation mit dem Täter – was bei der Figur des Bill durchaus nicht abwegig ist, schließlich hat Kiddo ihn heimlich mit seinem Kind im Bauch verlassen und ihn damit emotional verletzt –, oder sie können „eine masochistische Lust an der Bestrafung der Männer empfinden“76 und natürlich auch die Wut der Amazone teilen. Der Reiz der Rezeption einer solchen rächerischen Amazone im Film liegt in der schaulustigen Verquickung all dieser Rezeptionspotenziale.77 Der große Erfolg des Kill Bill-Zweiteilers geht darüber hinaus aber sicherlich auch darauf zurück, dass er sich in der Medienkonkurrenz durch ein strategisches Interferenzgeflecht behauptet – die sogenannte „Tarantino-Strategie“. Indem sich diese Filme bewusst nicht abgrenzen von anderen Medien und Filmen bzw. Genres, entsteht etwas Neues: postmodernes Kino78 jenseits der Kategorisierung in populärkulturelle Filme oder B-Movies und hochkulturelles Art-Cinema. Kill Bill überschreitet sowohl intramediale als auch intermediale Grenzen. Auf intramedialer Ebene bedient er sich etlicher, im Filmprodukt in der Summe schier unentwirrbarer, vexierspielartiger Bezüge auf andere Filme und Kinomythen wie dem Eastern und Italo-Western. Darum ist TARANTINOS Kino über die thematisch brutale Inhaltsseite hinaus eine cineastische Horizonterweiterung, als betrete der Zuschauer ein Filmarchiv.79 73 Der Einfachheit halber wird sie, wo es für die Analyse nicht bedeutsam ist, nach ihrem vermeintlichen Nachnamen benannt und nicht nach dem jeweiligen Namen, den sie in den verschiedenen Filmkapiteln trägt. 74 Regie: Jack Hill, USA 1974. 75 Franke-Penski, U.: Faster, Pussycat, Kill! In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. ebd. und H.-P. Preußer. S. 112. 76 Ebd., S. 111. 77 Vgl.: Ebd., S. 112. 78 Vgl.: Blaseio, Gereon; Liebrand, Claudia: „Revenge is a dish best served cold.“ „World Cinema“ und Quentin Tarantinos Kill Bill. In: Unfinished Business. Hg. v. A. Geisenhanslüke. 79 Przybilski und Schössler verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff des intertextuellen Archivs, der aber im Zusammenhang mit der Untersuchung der Medienkonkurrenz nicht klar genug ist, denn Tarantinos Filme bedienen sich nicht nur der Texte anderer Filme, sondern es sind vor allem audiovisuelle Bezüge.
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Darin liegt wiederum eine intermediale Annäherung an die Potenziale des Romans, der via Schrift zum Archiv anderer Texte werden kann. Das Buch ist jenes Medium, an das sich TARANTINOS Filme anlehnen, „[s]eine Arbeit gleicht der eines Novellisten“.80 Merkmale hierfür sind die Texteinblendungen (Inserts) weiß auf schwarz, begleitet von einer übersetzenden extradiegetischen, d. h. nicht figuralen Voice-Over-Erzählerstimme. So steht am Anfang des Zweiteilers im Bild: „Revenge is a dish best served cold“, „Old Klingon Proverb“. Gleichzeitig wird aber auch die auditive Ebene genutzt, erstens für die Übersetzung durch die Erzählerstimme und zweitens für das simultan, quasi aus dem Hintergrund ertönende und zunächst unbebilderte hektische Atmen einer Frau.81 Dadurch werden Fragen gestellt, ohne dass diese artikuliert werden müssen: Woher kommt das Atmen, von wem stammt es und wie hängt es mit dem Rache-Zitat zusammen? Diese Simultanität eines Spruchtextes mit dem Handlungselement, das die angeschossene Frau – „die Braut“ alias „Kiddo“ alias hier die Amazone – einführt, ist im Roman nicht möglich. Der Film dagegen hat, wie am Anfang von TARANTINOS Racheepos vorgeführt wird, immer zwei Ebenen, die visuelle und die auditive, die derart miteinander verbunden werden können, dass die Neugier des Rezipienten gereizt wird, bis er damit belohnt wird, auch sehen zu dürfen, von wem das Atmen stammt: Bewegte Schwarz-WeißBilder zeigen eine blutverschmierte und wüst zugerichtete Braut.82 Die nichtkolorierte Bebilderung weist darauf hin, dass es sich um eine vergangene Zeitstufe handelt. Eine Männerhand wischt ihr mit einem Taschentuch, auf das der Name „Bill“ gestickt ist, Blut vom Gesicht. Diesmal ist es das Off, das die Frage evoziert: Wer ist der Mann, der über ihr steht, aber nicht im On zu sehen ist, und warum zittert die blutige Frau vor ihm und seiner sowohl sanften als auch sadistischen Stimme? Eine Art Antwort wird auf auditiver und visueller Ebene gegeben, die wieder inhaltlich miteinander kontrastiert werden: Nach einem harten Schnitt auf Schwarz folgen ohne Hintergrundbilder die Einblendungen der Namen der Darsteller und des Titels KILL BILL, Vol. 1, begleitet von dem Lied Bang Bang (My Baby Shot Me Down) von Nancy SINATRA. Aus Ton und Bild lässt sich folgende Handlungskonstellation erschließen: Eine Braut wurde von ihrem Geliebten erschossen (Song), das Ereignis muss chronologisch zurückliegen (Schwarz-Weiß-Bilder), weshalb naheliegt, dass sich das Rachemotiv (Insert) darauf gründet. Die romaneske Durchkreuzung des Chronotopos führt dem Rezipienten im wahrsten Sinn vor Augen, dass es
Vgl.: Martin Przybilski, Franziska Schössler: Bell und Bill, Buck und Fuck: Gespaltene Geschlechter und flottierende Signifikanten in Tarantinos Kill Bill. In: Unfinished Business. Hg. v. A. Geisenhanslüke. S. 35. 80 Ebd., S. 36. 81 Kill Bill – Volume 1. 00:00:40. 82 Ebd., 00:01:04.
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sich hierbei um ein fiktionales Konstrukt handelt, denn nur hier ist es möglich, über Raum und Zeit zu verfügen. Dies ist eine Erzählform, wie sie in Film (mittels Montagetechnik) und Roman (über sprachliche Erzählung von zeitlich Vergangenem) mühelos praktiziert werden kann, im Theater dagegen aufwändig wäre und dysfunktionale Verwirrung stiften würde. In den Kill Bill-Filmen jedoch wird wie in einem Roman (Schein-)Ordnung hergestellt, indem er in Kapitel unterteilt ist wie „Chapter One“, das mit „2“ überschrieben ist,83 weil das erste Kapitel zeigt bzw. auch erzählt, wie die zweite Person auf Kiddos Racheliste getötet wird (die inzwischen bürgerliche Hausfrau Vernita Green alias Copperhead, ehemalige Tödliche Viper-Killerin). Die Schrift hat in TARANTINOS Filmen einen dramaturgischen Stellenwert, z. B. indem sie aufdeckt, dass die Bilder anachronistisch arrangiert sind. Nach dem ersten Rachemord, den der Zuschauer zu sehen bekommen hat, wird die Todesliste von Kiddo eingeblendet,84 auf der zu sehen ist, dass der Name O-Ren Ishii alias Cottonmouth (Lucy LIU) bereits durchgestrichen ist. Der Kampf gegen diese wird aber chronologisch „nachgereicht“ in Kapitel 5 „Showdown im Haus der Blauen Blätter“. Die Bedeutung der Sprache für die fiktionale Welt von TARANTINOS Filmen ist auch erkennbar in der mythologischen Signifikanz, die den Namen der Figuren beigemessen wird. Einerseits sind die Akteure anders als in antiken Mythen streckenweise namenlos, andererseits wird herausgestrichen, welche Macht mit dem Wissen der Namen verbunden ist. Während im Roman Namen grafisch unkenntlich oder schlicht abgekürzt werden können (z. B. „K.“ in KAFKAS Romanen), wäre dies im Film nur schwer sprachlich umzusetzen. In Kill Bill werden deshalb – neben diversen Namensvariationen pro Figur85 – auch auditive Zensuren vorgenommen, indem z. B. Kiddos Name „Beatrix“ mit einem Piep-Laut übertönt wird. Der Name der Braut wird so „dem Raum des Unaussprechlichen, des Obszönen und Numinosen zugleich zugeordnet“.86 Dies ist ebenfalls ein ästhetisches Mittel, um darauf hinzuweisen, dass es sich nur um eine Fiktion handelt, um „Spielfiguren“ mit mythologischen Fähigkeiten: Als namenlose ist die Protagonistin ohne Geschichte, verfügt über keine Genealogie, keinen Ursprung, keine Familie. […] Der Name transportiert die Geschichte/die Identität einer Person – die Protagonistin in Kill Bill erscheint hingegen zunächst als reine Präsenz ohne Ursprung und Vergangenheit.87 83 Ebd., 00:04:55. 84 Ebd., 00:15:06. 85 Allein Bill trägt nur einen Namen. 86 Przybilski, M.; Schössler, F.: Bell und Bill, Buck und Fuck. In: Unfinished Business. Hg. v. A. Geisenhanslüke. S. 38. 87 Ebd., S. 39.
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Aber vor allem durch Anlehnungen und Rückgriffe auf Potenziale anderer Medien unterstreichen die Kill Bill-Filme durchgängig ihren Spielcharakter. Die Protagonistin ist nicht nur Figur, sondern kann sich aus dem Spiel heraus – wie eine Figur im postdramatischen Theater, die sich ans Publikum wendet – als Erzählerin ihrer eigenen Rachegeschichte inszenieren: Am Anfang von Kill Bill 2 fährt die Amazone in einem Cabrio zu ihrer letzten Mission („kill Bill“). Dabei spricht sie die Worte, die eine Art Einführung in den zweiten Teil geben und den Film als Fiktion ausweisen, direkt in die auf ihr Rächerinnengesicht zoomende Kamera (Abb. 58)88: „Als ich aufgewacht bin, hab ich mich aufgemacht zu einem – wie es in der Werbung heißt [vermutlich meint sie die Werbung zu den Kill Bill-Filmen. Anm. N.U.] – zu einem grausamen Rachefeldzug. Ich hab geschrien. Und gewütet. Und verschaffte mir blutige Genugtuung. Ich musste ’ne Menge Leute umbringen, um an diesen Punkt zu gelangen. Aber einer fehlt mir noch. Nur er fehlt noch. Ich bin gerade unterwegs zu ihm.“89
Abb. 58: Kill Bill – Volume 2.
Regie: Quentin Tarantino, USA 2004 (00:01:17).
88 Da sich die Kamera frontal vor Uma Thurmans Gesicht, d. h. mit ihr im fahrenden Auto befindet, vermutlich auf der Motorhaube, wird deutlich, dass die Kamera Bewegung nicht nur abfilmen kann, sondern als übergeordnetes Fortbewegungsmittel selbst Bewegung ist. Sie ist in der Lage, aus dem Transportmittel Auto „das Bewegtsein […] herauszulösen.“ Deleuze, G.: Das Bewegungs-Bild. Kino 1. S. 41. 89 Kill Bill – Volume 2. 00:00:50. Erwähnenswert an den bewegten Bildern von Kiddos Rachemiene ist, dass diese in Millisekundenschnelle wechselt zwischen hasserfüllter Härte (gefletschte Zähne, aufgerissene Augen mit stahlhartem, unerbittlichen Blick, wutgeblähte Nase) und weiblicher Weichheit, die sich sichtlich auf die Rache freut.
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Da diese Bilder schwarz-weiß sind, weiß der Rezipient wie im Roman, dass ihm hier eine bereits vergangene Handlung retrospektiv „vorgeführt“ wird. Wieder arbeitet sich der Film nicht chronologisch zu Bill vor, sondern die Kausalität zerbricht erneut, indem zunächst gezeigt wird, wie Kiddo einst als Berufskillerin das Töten gelernt hat, und wie sie vor Bill an zwei weiteren auf ihrer Liste stehenden Mitgliedern Rache nimmt. Die einzelnen Tötungskapitel erinnern an die Wiederholbarkeit von Computerspiel-Leveln: Es zählt nur, dass und wie gekämpft wird, nicht wann und in welcher Reihenfolge. Der Zuschauer muss nur die Disposition kennen, danach könnte er in jedem beliebigen Kapitel einsteigen. Die Zeit wird hier „gewissermaßen zum Verschwinden gebracht“.90 Aktionen bewirken zwar eine veränderte Situation S‘, aber immer nur im jeweiligen Level – die Gesamtsituation bleibt diffus. Darum lässt sich der TARANTINO-Zweiteiler weder dem klassischen Hollywoodkino zuordnen – nach DELEUZE meist im „Bewegungs-Bild“ – noch dem modernen „Zeit-Bild“. Denn das sensomotorische Schema bleibt auf Kapitelebene durchaus erhalten, das Programm der Figuren ist die zielgerichtete Aktion. Das Gesamtziel der Amazone wird aber nur scheinbar erreicht: Alle auf Kiddos Liste sind „am Ende“ tot, sie lebt überglücklich mit ihrer Tochter. Das Insert und die Stimme eines unbestimmten Erzählers am Schluss scheinen dies zu bestätigen: „Die Löwin und ihr Junges sind endlich wieder vereint. Und im Dschungel kehrt wieder Ruhe ein.“91 Doch im Abspann geht alles wieder von vorn los: Kiddo ist unterwegs zu Bill, um ihn zu töten. Das heißt, dass das „Spiel“ beliebig oft erlebbar ist, der Film als Medium ist zeitlos, seine Bilder können immer wieder abgespielt werden. Indem er das ästhetisch umsetzt und sich im Ganzen sowohl dem Paradigma des klassischen Bewegungs- als auch des modernen Zeit-Bildes verweigert, ist er als postmodernes Kino zu bezeichnen. Oder aber als Kino mit einer vormodernen, mythologischen Struktur: Die separaten Kapitel sind aufgebaut wie Einzelmyhten, die ein Motiv (die Rache, wie in der Ilias der Zorn) bis ins Unendliche variieren und erweitern können und damit den Mythos der Heroin tradieren. Dass die Kunst des Films für TARANTINO ein Spiel ist, und die Darsteller sich im Grunde auf Bühnen bewegen, wird auch durch die vielen Interferenzen mit dem (Tanz-)Theater deutlich: Z. B. kämpft Kiddo in Tokyo mit ihrem mythisch aufgeladenen Schwert (Abb. 60)92 gegen die Leibgarde ihrer Erzfeindin O-Ren Ishii auf ei90 Lindemann, U.; Schmidt, M.: Die Liste der Braut. In: Unfinished Business. Hg. v. A. Geisenhanslüke. S. 139. 91 Kill Bill – Volume 2. 01:58:52. 92 Die Vorgeschichte ihres „Hattori Hanzo-Schwerts“ wird sorgfältig inszeniert. Kiddo bekommt es in einer Zeremonie überreicht und ist damit unbesiegbar. Die Amazone wird wie einst Achilles mit einem mächtigen und gewaltigen Phallus ausgestattet: „Also redete jener und zog das geschliffene Schwert aus, Welches ihm längs der Hüfte herabhing, groß und gewaltig“, heißt es in der Ilias über Achills Kampf gegen Hektor.
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ner Art Glasbühne in einem Restaurant. Die Schlacht ist kunstvoll choreografiert (Abb. 59) und die Beleuchtung wechselt, so dass die Bühne z. B. in Blau getaucht ist (Abb. 61) und die Schwerter der schattengestaltartigen Kämpfer glänzen.93 Totale Wahrnehmungsbilder auf die Bühnenszenerie nehmen die Perspektive des Zuschauers wie im Theater ein,94 aber die Kamera kann auch in die Mitte der Schlacht hinein.95 Abb. 59: Kill Bill – Volume 1.
Beatrix Kiddo tritt (von romantischer Off-Musik begleitet) zum choreografierten Tanz auf der Bühne gegen die Crazy 88 an. Regie: Quentin Tarantino, USA 2003 (01:18:56).
Homer: Ilias. Odyssee. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1979. Gesang 22, Vers 306f., S. 385. 93 Kill Bill – Volume 1. 01:23:27. 94 Ebd., 01:23:36. 95 Ebd., 01:23:47.
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Abb. 60: Kill Bill – Volume 1.
Regie: Quentin Tarantino, USA 2003 (01:19:15).
Abb. 61: Kill Bill – Volume 1.
Regie: Quentin Tarantino, USA 2003 (01:23:65).
Einerseits sind die Gewaltdarstellungen in Kill Bill hoch artifiziell, andererseits realistischer und eindringlicher als sie im Theater je aufgeführt werden könnten. Mit all den abgehackten Gliedmaßen – überall auf der „Bühne“ des Restaurants sind Arme und Beine verteilt und Blut wird wie Wasser aus Duschköpfen verspritzt96 – machen sich die Filme das Reizthema Gewalt für die Behauptung in der Medienkonkurrenz zunutze. Der allgemeinen Ambivalenz von medialer Gewalt – reizvolle Attraktion bei gleichzeitiger moralischer Ablehnung – wird in Kill Bill nach Georg 96 Ebd., 01:11:27.
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MEIN durch deren ästhetische Inszenierung eine Legitimation erteilt: Intermedial ausgestaltete und choreografierte Bilder ermöglichen ein Bekennen zum Gewaltfilm, dessen „Konsum ohne ein solches Muster vielleicht nur negativ kodiert werden könnte (z. B. als pervers, makaber, ekelhaft usw.).“97 Indem der Film immer wieder beteuert, alles sei nur ein Spiel,98 findet die exzessive Gewalt stets im Konjunktiv statt. Die Ästhetik der finalen Szene, in der Kiddo Bill tötet, enttarnt sich mit Garten-Panoramawand und Plastikrasen selbst als Filmkulisse.99 Es sind eben Helden, die Gewalt nur spielen – so oft es dem Zuschauer beliebt.
F LATTERNDE N ERVEN – AMAZONEN IN T HRILLER
UND
H ORRORFILM
Die Amazonen im Actionfilm sind artifizielle Superheldinnen,100 die sich in Martial-Arts-Künsten schulen und in ihrer Unbesiegbarkeit keine Angst kennen. Ihre Expression ist der Kampf. Emotionen motivieren zwar ihr Handeln, doch die psychische Ebene hat in der filmischen Umsetzung kaum Resonanz. Im Filmgenre des Thrillers findet dagegen eine psychologisierte Bearbeitung des mythologischen Versatzstücks der rächerischen Amazone statt. Der Kampf ist hier nur ein notwendiges Mittel, um den Ausgleich für eine tiefschichtigere Wunde zu schaffen. Eine solche Backstorywound hat auch die Protagonistin Leyla in Christian PETZOLDS deutschem Fernsehfilm Toter Mann aus dem Jahr 2001. Davon erfährt der Zuschauer allerdings erst am Ende des Films, wie sich überhaupt erst dann herausstellt, dass alle ihre rätselhaften Taten einem präzisen Racheplan geschuldet sind. In den letzten Filmminuten wird sie als Amazone enttarnt – allerdings auch nur, wenn 97 Mein, Georg: Kill Bill, Kleist und Kant oder: „You didn’t think it was going to be that easy, did you?“ In: Unfinished Business. Hg. v. A. Geisenhanslüke. S. 80f. 98 Z. B. auch die Detailaufnahme von Bills Stiefeln, die auf das bühnenartige Parkett der Kirche schlagen, als er die Braut, seine ehemalige Geliebte Kiddo, bei ihrer Hochzeitsprobe (und nicht etwa auf ihrer „originalen“ Feier) erschießt. Ebenso das Spiel, das Kiddos Tochter mit ihr und Daddy Bill am Ende spielt: Als Kiddo Bill und ihre Tochter gefunden hat, ruft die Kleine mit der Spielzeugwaffe in der Hand: „Pengpeng!“, um gleich darauf zu sagen: „Oh Mami! Stirb nicht! Das war nur ein Spiel.“ Kill Bill – Volume 2. 01:25:46. 99 Vgl.: Steltz, Christian: Wer mit wem abrechnet: Intertextualität in Kill Bill. In: Unfinished Business. Hg. v. A. Geisenhanslüke. S. 68. 100 In seiner Analyse der filmischen Superheldenmythologie vergleicht Bill seine Exgeliebte mit Superman, allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Kiddo fragt ihn: „Denkst du, ich wäre eine Superheldin?“ Bill daraufhin: „Du bist eine Killerin. Von Natur aus eine Killerin.“ Kill Bill – Volume 2. 01:42:00.
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man eine subtile, ängstliche Rache als ebenso „amazonisch“ auffasst wie die martialische. Das Objekt der Rache ist der Vergewaltiger und Mörder ihrer Schwester, der sich nach 14 Jahren Haft in einem Resozialisierungsprogramm befindet. Der Weg zu diesem führt Leyla (Nina HOSS) über dessen Anwalt Thomas Ritter (André HENNICKE), den sie systematisch dazu bringt, sich in sie zu verlieben. Der (Un-) Wissensstand der männlichen Figur entspricht dem des Zuschauers. Als erstes ist es die Kunst der Fotografie, die in dieser Rätseldramaturgie einen Hinweis auf Leylas wahre Identität und Intention gibt: Thomas macht ein Foto von seiner schlafenden Angebeteten.101 Im Gegensatz zu seiner direkten Wahrnehmung und dem Bewegungs-Bild, das der Zuschauer von Leyla auf Thomas’ Sofa gesehen hat, offenbart das unbewegte Foto, dass Leyla gar nicht geschlafen hat. Auf einem angehaltenen Bild kann die wahre Essenz einer Situation besser erkannt werden als in dem erlebten Moment, als Thomas sehnsüchtig bei der Schlafenden wacht: Leyla hat für den kurzen Moment, in dem er sie fotografiert, die Augen offen. Am nächsten Morgen, als sie verschwunden ist, ist sie somit als Lügnerin enttarnt. Doch obwohl auch sein Laptop fehlt, will Thomas nicht wahrhaben, dass die Schöne ihn hintergangen hat. Dem Zuschauer geben weiterhin auch die Schwarz-Weiß-Fotografien, die Leyla in ihrem abgelegenen, verdunkelten Haus auf dem Tisch liegen hat, sowohl Hinweise als auch Rätsel auf: Ein Bild zeigt ein blutverschmiertes Bett, ein anderes eine Schere mit der Nummerierung 14.102 Zweitens ist es ein Buch, das einen Hinweis auf ihre Intrige gibt: Thomas findet es in ihrer ehemaligen Wohnung in einem zurückgelassenen Karton: „Zielobjekt Mann.“103 Darin ist detailgenau und sogar illustriert beschrieben, wie auch Leyla Thomas’ Begehren erweckte. Er war zur Spielfigur geworden in einem von der „Regisseurin“ Leyla umgesetzten Drehbuch.104 Obwohl nun klar ist, warum sie sich schlafend gestellt hat (damit er Zeit hatte, sie zu beobachten und sich in sie zu verlieben), bleibt dennoch das Rätsel bestehen, weshalb sie ihn erobern wollte. Falsche Hinweise darauf werden im Film durch die Musik gegeben. Sie ertönt hier nie extradiegetisch außerhalb der Filmhandlung, sondern hat wie meist die Musik auf der Theaterbühne ihre Funktion in der fiktionalen Realität der Figuren. Sie kann somit in diesem Thriller keiner übergeordneten, nicht visualisierten Erzählinstanz zugeordnet werden, die das Geschehen interpretiert. Sondern sie wird im On, meist von Leyla, aufgelegt oder gesungen und schließt sich damit der Rätselhaftigkeit ihrer Figur an. Dennoch überträgt sich die Stimmung des Leitsongs von Dionne WARWICK What the World Needs Now auf 101 Toter Mann. Regie: Christian Petzold, Deutschland 2001. 00:21:13. 102 Ebd., 00:43:10. 103 Ebd., 00:50:40. 104 Thomas sagt zu seinem Bruder: „Alles, was ich mit ihr erlebt habe, ist in dem Buch.“ Ebd., 01:03:00.
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den Zuschauer: In der Date-Situation mit Thomas mutet sie romantisch an; in der Szene, als Leyla nach einem Gespräch mit Racheobjekt Blum singend abspült, wirkt es, als könne ihre Liebe auch einem so unattraktiven Häftling auf Resozialisierung gebühren. Der Songtext führt in die Irre: „There are oceans and rivers enough to cross / Enough to last until the end of time / What the world needs now is love sweet love …“105 Dasselbe Lied spielt auch, als es schließlich zur Racheaktion von Leyla an Blum kommt. Sie gibt vor, dass es ein Date sei und mischt seinem Cocktail ein Betäubungsmittel bei. Blum beobachtet sie heimlich dabei. Doch indem nun seine Illusionen, Leyla könnte sich wirklich für ihn als Mann interessieren, zerstört sind, hat er nichts mehr zu verlieren. Sein Handeln verliert jegliche Sinnhaftigkeit, und er liefert sich Leylas Rache widerstandslos aus, trinkt den Cocktail und lässt sich ans Bett fesseln. Während der Song im Hintergrund die positive, berauschende Energetik des nun in Rache mündenden Zornaffekts transportiert,106 so wie Leyla es sich wohl vorgestellt hatte, erlebt sie deren tatsächliche Ausübung nicht wie die ActionAmazone Kiddo als lustvoll, sondern als Ausbruch ihrer tiefenpsychischen Trauer. Sie konfrontiert Blum mit seinen in der Akte festgehaltenen Taten (Abb. 62). Was sie sich bisher imaginativ wie eine Romanleserin vorstellen musste – Leyla liest vor: „Das Opfer versuchte vergeblich, sich zu befreien […]“107 –, will sie jetzt an dem gefesselten Blum selbst als Täterin ausleben. Die Kamera verkehrt nun die bisherige Frau-Opfer und Mann-Täter-Konstellation, indem sie Leyla aus der Sicht des unter ihr auf dem Bett liegenden Blum kadriert.108 In dieser dominanten Position bleibt sie aber nicht, denn sie bekommt Mitleid mit dem devoten Mann, der sie sogar auffordert, ihn mit der Schere zu erstechen.
105 Ebd., 00:54:10. 106 „Aristoteles stellt fest, dass der Zorn in jedem Fall von einem gewissen Lustgefühl begleitet ist, das auf der Hoffnung, sich rächen zu können, basiert; denn es ist angenehm, sich vorzustellen, man werde das, wonach man strebt, erreichen. […]“ Geisenhanslüke, Achim: „Silly Caucasian Girl likes to play with Samurai Swords.“ Zur Affektpolitik in Quentin Tarantinos Kill Bill. In: Unfinished Business. Hg. v. ebd. S. 115. 107 Toter Mann. Regie: Christian Petzold, Deutschland 2001. 01:15:98. 108 Ebd., 01:18:50.
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Abb. 62: Toter Mann.
Die vorlesende Rächerin, im Hintergrund Aktenbilder der toten Schwester. Regie: Christian Petzold, Deutschland 2001 (01:16:12).
Der „Thrill“ dieses Films betsteht darin, dass Toter Mann den Vorteil der Medialität des Films nutzt, minimale Bewegungen in Gesichtern, vor allem im close-up, zeigen zu können. Diese Äußerlichkeiten vermögen innere Regungen abzuzeichnen, sind dabei jedoch in der Decodierung nicht determiniert. Z. B. regen sich Leylas Züge sichtbar, als sie den Strafgefangenen Blum das erst mal sieht: Alles in ihrem Gesicht scheint sich etwas zu weiten, was ein gesteigertes Interesse spiegelt (Abb. 63).109 Dass dies mit dem lange gehegten Hass zusammenhängt, kann das Affektbild aber nicht vermitteln (Hass ist in ihrer Miene überhaupt nicht auszumachen). Um das zu erklären, müsste entweder ihre eigene wörtliche Rede oder die eines Erzählers bemüht werden. Doch Determinierung wäre der Rätseldramaturgie dieses Films ohnehin abträglich.110 Eine solche Konstellation könnte im Roman fast nur über den Verzicht auf innere Monologe und auktoriale Erklärungen durch einen Erzähler aufgestellt werden bzw. über einen personalen Erzähler, der allein die Perspektive der unwissenden männlichen Figuren vermitteln würde. 109 Ebd., 00:30:01. 110 Nina Hoss über das Verhältnis von Mimik, Gestik und Rede in diesem Film: „Man zerredet nicht immer alles. Vieles bleibt im Ungewissen. Ich wusste, ich kann wirklich mal länger mit den Augen sprechen oder mit Gesten. Man kann den Zuschauer auch irgendwann Dummerklären.“ http://www.filmportal.de (25.07.2011).
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Abb. 63: Toter Mann.
Regie: Christian Petzold, Deutschland 2001 (00:30:03).
Da die psychische Ausgangsmotivation der Protagonistin lange Zeit verborgen bleibt und sie ihr geheimes Vorhaben letztlich nicht aus eigener Kraft umsetzen kann – ihr vermeintlicher Gegner Blum bringt die Polizei dazu, ihn zu erschießen –, widerspricht die Handlung dieses deutschen Fernsehfilms gänzlich der mythologischen Heldenreise, die von den meisten Hollywoodfilmen adaptiert wird. Im Gegensatz zu Erica Bain (Jodie FOSTER) im US-Thriller DIE Fremde in Dir (Original: The Brave One, 2007)111 schafft Leyla es nicht, männliche Gewaltbereitschaft zu übernehmen112 und Selbstjustiz zu üben. Ein Grund mag darin liegen, dass die Heldenreise der Erica Bain mit einer Metamorphose zur „fremden“ Amazone verbunden ist. Der Monomythos, das charakteristische narrative Muster, das Campbell aus Sagen und Mythen der ganzen Welt extrahiert,113 wird hier präzise mit den ästhetischen Mitteln des filmischen Mediums umgesetzt. Der „Kinomythos“ im Sinne LEHMANNS, d. i. der Raum des Films, der die Heldin dominiert,114 sind reale New Yorker Schauplätze als Orte des Verbrechens und der Angst. Erica ist dort Radio111 Regie: Neil Jordan, USA 2007. 112 Vgl.: Franke-Penski, U.: Amazonen in der modernen Populärkultur. In: Amazonen. Begleitbuch zur Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz Speyer. S. 283. 113 Vgl.: Karpenstein-Eßbach, Ch.: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. S. 238ff. 114 Lehmann, H.-Th.: Die Raumfabrik. In: Mythos und Moderne. Hg. v. K. H. Bohrer. S. 584.
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moderatorin der Sendung Street Walk und fängt bei ihren Streifzügen durch die Stadt mit einem Aufnahmegerät deren Töne und Geschichten ein. Darum legt auch der Film einen Schwerpunkt auf die auditive Ebene. Dies z. B. gleich zu Beginn, als sie und ihr Verlobter von einer Jugendgang zusammengeschlagen werden, während einer der Täter sie dabei mit dem Handy filmt. Die Handyfilm-Ästhetik liefert wackelige, undeutlich-grobpixelige Bilder (Abb. 64), welche die Phantasie des Zuschauers anregen. Das grausame Gebrüll der Täter und die dumpfen, lauten Töne der Schläge115 evozieren den Schrecken im Zuschauer selbst.116 Abb. 64: Die Fremde in dir (The Brave One).
Handyfilmästhetik: Erica zusammengeschlagen. Regie: Neil Jordan, USA 2007 (00:10:22).
Als Erica danach aus dem Koma erwacht, muss sie erfahren, dass ihr Freund den Überfall nicht überlebt hat und bereits beerdigt wurde. Ihre innere Pein visualisiert sich durch ihren Griff ans schmerzende Herz117 und die überbelichteten Rückblenden auf die Szenen ihrer Liebe, zwischen die dunkle Bilder ihrer retrospektiven Gedanken an den Überfall geschnitten sind.118 Bevor sie die Metamorphose zur Kämpferin und Rächerin durchläuft, entwickelt sie eine Paranoia: Die Heimat New York wird ihr zum Ort der Angst, was durch eine Verfolgungsästhetik der Kamera und 115 Die Fremde in dir (The Brave One). Regie: Neil Jordan, USA 2007. 00:10:00. 116 Nach Faulstich ist das ein Merkmal der Rezeption des Thriller-Genres. Faulstich, Werner: Grundkurs Filmanalyse. München: Fink 2002. S. 45. 117 Die Fremde in dir. 00:16:00. 118 Ebd., 00:19:00.
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durch zur Bedrohung intensivierte Alltagsgeräusche umgesetzt wird.119 Die Kamera hat das Potenzial, nicht nur figurale Blickwinkel einzunehmen oder Geschehen abzufilmen, sondern kann selbst hetzen, d. h. zur Verfolgerin werden (Abb. 65). Abb. 65: Die Fremde in dir (The Brave One).
Regie: Neil Jordan, USA 2007 (00:20:26).
Die „Berufung“ der Heldin Erica ist es – in der ersten Station nach CAMPBELL: „Aufbruch“ –, sich im Moloch New York, das aus ihrer Sicht eine Transformation von der sichersten Stadt der Welt zur Unterwelt mit dunklen Ecken, Kriminalität und Gewalt durchgemacht hat, weiterhin als „Stimme der Stadt“ zu behaupten.120 Zunächst verweigert sie sich und sperrt sich in die abgedunkelte Wohnung ein. Um ihre Angst aber doch zu besiegen, bekommt sie wie in den meisten Mythen Hilfe zur Seite gestellt: d. i. hauptsächlich eine illegale Schusswaffe, aber auch Detective Mercer (Terrence HOWARD). Damit ist sie kein Opfer mehr, sondern New Yorks Kriminelle sollten sich vielmehr vor ihr in Acht nehmen. Die Kamera verfolgt jetzt nicht mehr die Figur, sondern umgekehrt bedroht Erica die Kamera nun selbst, indem sie bei ihren Schießübungen mit der Waffe direkt in die Linse zielt (Abb. 66).121
119 Ebd., 00:22:90. 120 „Im ersten Stadium der mythischen Fahrt, der Berufung […], hat die Bestimmung den Helden erreicht und seinen geistigen Schwerpunkt aus dem Umkreis seiner Gruppe in eine unbekannte Zone verlegt.“ Campbell, J.: Der Heros in tausend Gestalten. S. 58. 121 Die Fremde in dir. 00:27:14.
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Abb. 66: Die Fremde in dir (The Brave One).
Regie: Neil Jordan, USA 2007 (00:27:14).
Doch die erste Schwelle des Monomythos hat sie damit noch nicht überschritten. Erica wandelt sich erst zur Rächerin bzw. Amazone, als sie Gebrauch von ihrer Waffe macht: In einem Lebensmittelladen wird sie Zeugin, wie die Verkäuferin erschossen wird. Die Kamera zeigt erst Ericas Wahrnehmungsbild, wie sie durch ein Regal auf die Szenerie blickt, danach folgt ein Affektbild, das den kausalen Schock auf ihrem Gesicht einfängt: Augen und Mund sind weit aufgerissen.122 Nachdem sie den Täter aus Notwehr erschossen hat, befindet sie sich auf der zweiten monomythischen Stufe, der Initiation.123 Fortan ist diese Rächerin, wie Ericas Voice-OverStimme erklärt, eine Fremde in ihr: Es ist erstaunlich und betäubend zu erkennen, dass eine Fremde in einem steckt. Eine, die deine Arme hat, deine Beine, deine Augen. Eine schlaflose, ruhelose Fremde, die weiter umherstreift, weiterhin ist, weiterhin … lebt.124
Sie tötet nun die „Bösen“ New Yorks, während die Polizei mit der Kriminalitätsbekämpfung und auch mit der Suche nach „dem Rächer“ überfordert ist. Es dauert eine Weile, bis die Polizei ihr auf die Schliche kommt, denn ihr Töten entspricht nicht deren Erfahrung mit weiblichen Tätern: „Frauen töten ihre Kinder, ihre Ehemänner, ihre Freunde. Irgendeinen Arsch, den sie lieben. Aber nicht so.“125 Stattdessen ist sie eine Art Amazone, die wie im antiken Mythos ein alternatives Dasein verkörpert: Ihre Selbstjustiz steht für die Defizite in der patriarchalen Gemeinschaft. Sie 122 Ebd., 00:31:35. 123 Campbell, J.: Der Heros in tausend Gestalten. S. 93. 124 Die Fremde in dir. 00:37:21. 125 Ebd., 01:25:32.
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ist nicht nur fremd im Körper der Erica Bain, sondern auch in der amerikanischen Gesellschaft und ihrem Rechtssystem. Recht hat sie nur implizit, in einem gespiegelten virtuellen Bild von der Welt – im Kosmos des Films.126 Im Recht statt im Konflikt mit dem sozialen Umfeld befindet sich dagegen die Kämpferin in Wes CRAVENS Horrorfilmreihe Scream – Schrei! (USA 1996, 1997, 2000). Heroin Sidney Prescott (Neve CAMPBELL) hat sich in den TeenSlasherfilmen gegen psychisch gestörte Mörder mit Riesenmesser und einer dem Gemälde Der Schrei von Edvard MUNCH nachempfundenen Maske zu verteidigen. Nach FRANKE-PENSKI ist Sidney, als das Final Girl, welches den/die Mörder erledigt, in die Reihe amazonischer Kämpferinnen im Hollywoodfilm einzuordnen, weil sie sich von den unzähligen, meist dümmlich gezeichneten anderen TeenOpfern unterscheidet: Diese Heldin wird meist von vornherein als „männlicher“ dargestellt, sie hat kurzes Haar oder einen männlich klingenden Namen und zeigt sich weniger freizügig mit ihren weiblichen Reizen. Sie wird vom Opfer zur Täterin, indem sie sich nach anfänglicher Wehrlosigkeit dem Mörder im Kampf stellt. Durch die Aneignung männlicher Gewaltbereitschaft reift die jugendliche Heldin zur Frau.127
Im Gegensatz zu den Actionheldinnen Kiddo und Lara Croft – und auch der Fremden/der Amazone in Erica Bain – hat Sidney Angst um ihr Leben. Sie kämpft aus Notwehr, nicht aus Rache oder aus makrokosmischen Gründen wie Lara Croft. In den Horrorfilmen ist es vielmehr der Mörder, der den Tod nicht fürchtet. Die Angst seiner Opfer ist nicht nur innerlich, sondern, wie die MUNCH-Maske und der nach ihr benannte Filmtitel schon signalisieren, expressiv: Die Weitung aller Körperöffnungen im Gesicht als Reflex zur intensiveren sinnlichen Wahrnehmung in der Verteidigung gegen den Angreifer (Augen geweitet, Mund zum Oval aufgerissen, Na126 Ein Kristallbild visualisiert diese Indirektheit: Detective Mercer, inzwischen ein guter Freund Ericas, ist der Rächerin dicht auf den Fersen. In einem Café sitzt er neben Erica, doch warnt er sie nicht, indem er direkt mit ihr spricht. Stattdessen läuft die Kommunikation via Spiegel ab, vor dem sie beide frontal sitzen. Darin können sie sehen, was auf direkter Ebene nicht gesagt wird. Mercer erzählt Erica von den Ermittlungen: „Noch ein einziger Beweis, und sie ist dran.“ Im Spiegel verständigen sich ihre Blicke darüber, dass sie beide wissen, dass dies eine Warnung ist, Erica aber implizit im Recht ist. Ebd., 01:35:20. Dies entspricht auch dem monomythischen Muster der insgeheimen Lenkung des Heros durch einen Helfer. Campbell, J.: Der Heros in tausend Gestalten. S. 93. 127 Franke-Penski, U.: Amazonen in der modernen Populärkultur. In: Amazonen. Begleitbuch zur Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz Speyer. S. 283.
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senlöcher wie Nüstern gebläht) zeichnet alle Teen-Opfer aus. Doch wie für die Akteure im Kino des Zeit-Bildes nach DELEUZE ist ihr Kämpfen und Davonlaufen aussichtslos: Der Mörder sticht alle nieder, die er im Visier hat – mit der Ausnahme des Final Girls. Darum handelt es sich bei den Scream-Streifen trotz der handlungsunfähigen Opfer um Filme im klassischen Paradigma des Bewegungs-Bildes. Die Aktionen der kämpfenden Protagonistin im sensomotorischen Schema zeigen durchaus noch Wirkung, die Amazone ist als einzige wehrhaft. Das Gemälde von MUNCH dient den um die Jahrtausendwende entstandenen Scream-Filmen nicht nur als Leitmotiv in der Übernahme des Themas (Angst und Apokalypse zur Zeit des Fin de Siècle), sondern Der Schrei ist ihm auch im direkten Sinne ein Leitbild: Das gemalte Bild wird von den Bildkompositionen des Films adaptiert. Bei MUNCH steht die schreiende Figur im Bildvordergrund auf einer Brücke, der Hintergrund wird dominiert von den wild gemalten Bewegungen des Wassers und den aggressiv anmutend kontrastierten Farben des Himmels. In Scream finden sich diesem Aufbau entsprechende Bilder sowohl mit dem Mörder als schreiende Hauptfigur128 als auch mit dem verfolgten Opfer, hinter dessen Rücken die Gefahr lauert. Als der Mörder Sidney in ihrem Haus jagt, befindet sie sich auf einer Galerie analog zur Brücke, auf der die MUNCH-Figur schreit. Außerdem erhebt sie dieser ähnlich die Arme, während sie davonläuft. Die Komposition des Hintergrunds ist in ihrer überzeichneten Bedrohlichkeit – der rennende Mörder und sein übergroßer Schatten – der von MUNCH nicht unähnlich (Abb. 67).129
128 Besonders in Scream 2, als der Mörder im Tonstudio hinter Glas steht und das Opfer auf der anderen Seite ängstigt, indem er wie die Munch-Figur die Arme erhebt, allerdings nicht aus Angst, sondern um seine körperliche Macht zu präsentieren. Auch der Bildhintergrund (vermutlich diverse Requisiten und schallisolierte Wände) erinnert vage an die Muster seiner künstlerischen Vorlage. Scream 2. Regie: Wes Craven. USA 1997. 01:19:26. 129 Scream – Schrei! Regie: Wes Craven. USA 1996. 01:16:03.
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Abb. 67: Scream – Schrei!
Regie: Wes Craven. USA 1996 (01:16:03).
Im Vergleich dazu könnte ein Roman zwar die auf einem Gemälde gezeichnete Handlung in die sprachliche Beschreibung einer Szenerie überführen, doch bleibt dies immer vage und in der Phantasie des einzelnen Rezipienten nur schwer als die nachempfundene Komposition eines Gemäldes zu erkennen. Auf der Theaterbühne dagegen wäre ein Nachstellen der Schrei-Szenerie denkbar. Aber dessen filmtechnische Erweiterung, wie sie bei CRAVEN z. B. im Zoom auf Details des Bildes und auch in der Konstruktion eines Kristallbildes stattfindet, wäre freilich nicht umsetzbar: Als der Mörder des ersten Teils den Schulleiter umbringt, zoomt die Kamera auf dessen angstgeweitete Augen und zeigt die Schrei-Maske des Mörders sich spiegelnd in Iris und Pupille des Opfers (Abb. 68).130 Mit solchen Mitteln kann das Medium des Films über die nachgestellte Performanz eines Gemäldes im Theater hinausgehen. Die Scream-Filme sind ein Beispiel dafür, wie der Film mit der bildenden Kunst interferieren kann.
130 Ebd., 00:49:59.
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Abb. 68: Scream – Schrei!
Regie: Wes Craven. USA 1996 (00:50:01).
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3. Etwas Drittes und auch Viertes Amazonen im Theater
Die Besonderheit der Darstellung von Amazonenfiguren auf der Theaterbühne im Vergleich zu ihren Adaptionen im Film und auch Roman besteht darin, dass sie trotz ihrer körperlichen Präsenz weit weniger ein erotisches Objekt sowohl in der Figurenkonstellation als auch gegenüber dem Publikum darstellen. Dies liegt zum einen darin begründet, dass theatrale Amazonenfiguren meist auf älteren literarischen Dramentexten basieren, die sich stärker auf die stoffliche Seite des antiken Mythos rückbesinnen als die modernen Filme und Romane. Eine Trivialisierung der antiken Amazonen, wie sie etwa in den pseudohistorischen und auch plakativemanzipatorischen Romanen oder in der Beschränkung auf das Rachemotiv bzw. die Kampfhandlung im Film festgestellt wurde, ist im Theater nicht auszumachen. Hier wird der Mythos zwar ebenfalls transformiert, aber insgesamt erfolgt auch eine Tradierung, weil es nicht nur einzelne amazonische Motive aufgreift wie etwa die körperliche Kampfkraft der äußerlich meist attraktiv dargestellten oder beschriebenen Amazonen. Vielmehr geben die Wiederaufführungen literarischer Dramen, die den antiken Stoff interpretieren, den Mythos weiter. Wie in den untersuchten explizit-mythologischen Romanen von FIOLKA und PRESSFIELD – in Ansätzen auch die von WALKER uminterpretierte Figur der Antiope – stellt der Dramentext deutlich heraus, dass er auf Amazonenmythen gründet. Besonders in den Filmen um 2000 ist dies nicht mehr der Fall. Der Zuschauer ohne mythologische Vorkenntnisse rezipiert die Heldinnen als starke Kämpferinnen, nicht aber unbedingt bewusst als moderne Schwestern der antiken Amazonen. Es kann behauptet werden, dass im Film das Wissen über den Einzelmythos der Amazonen verlorengeht – was die Filmkunst nicht daran hindert, die weiblichen Kämpferinnen in das Muster der mythologischen Heldenreise einzupassen –, wohingegen das Theater etwa in seinen Wiederaufführungen der Stücke Penthesilea von Heinrich von KLEIST (1808) und auch Die Amazonen von Stefan SCHÜTZ (1974) das Wissen der mythologischen Stoffe überliefert. Dieses Wissen besteht in den Stücken darin, dass es sich bei den Figuren Antiope und Penthesilea nicht um erotische
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Objekte handelt, sondern um dem alten Verständnis nach „widernatürliche Frauen, die gegenüber einem von der Natur vorgegebenen Rollenverhältnis freveln.“1 Sie gehören einer unbestimmten und rätselhaften dritten (Un-)Ordnung an. In Elfriede JELINEKS Ein Sportstück wird dieses Dasein als etwas Drittes durch die Dekonstruktion des Amazonenmythos noch gesteigert: JELINEKS postprotagonistische „Amazonenfiguren“ sind im Grunde weder Menschen noch Tiere noch Amazonen, sondern stellen sich außerhalb der Massennorm zu etwas Viertem auf. Somit gilt es für die Theaterstücke zu untersuchen, mit welchen ästhetischen Mitteln sie dieses monströse Dritte oder gar Vierte darstellen können: In ihrer Widernatürlichkeit sind Penthesilea, Antiope und JELINEKS „Frau“ nicht menschlich oder tierisch, nicht eindeutig männlich oder weiblich sozialisiert,2 weder Feind noch Verbündete. Vor allem in KLEISTS Penthesilea findet sich eine Rätseldramaturgie – wie sie auch für die Filme Toter Mann und Die Fremde in dir festgestellt wurde, allerdings im Zeichen der verdeckten Ordnung weiblicher Selbstjustiz –, die das Monströse immer weiter aufdecken lässt. Penthesilea und ihr Heer kämpfen hier im Trojanischen Krieg sowohl auf griechischer als auch auf der Seite Trojas, was für die hellenischen Helden einen „sinnentblößten Kampf“3 darstellt. Auch die Namen, die der Amazone seitens der griechischen Heroen gegeben werden, führen in eine undefinierbare dritte Sphäre: Neben der mehrfachen Bezeichnung Penthesileas als „Hündin“, als „Dogge“, als „Hyäne“ werden die Mischgestalten der Mythologie als Vergleichsbilder herangezogen: „Kentaurin“ (V. 118, 584), „Sphinx“ (V. 207), „rasende Megäre“ (V. 393, 533), „halb Furie, halb Grazie“ (V. 2456).4
Mit GOETHE kurz zusammengefasst stammt Penthesilea aus einem „wunderbaren Geschlecht“.5 Wie diese Komponente des wunderbaren Dritten und dessen kämpferische Gewalt mit dem damit verbundenen rezeptiven Schrecken im Theater zur Geltung gebracht werden kann, wird in diesem Kapitel an den drei genannten Stücken und ihren Inszenierungen um 2000 untersucht. Dabei gilt es, sowohl die (teilweise älteren) literarischen Dramentexte, aber insbesondere deren theatrale Büh1
Döhl, H.: Amazonen. Traumfrauen und Schreckensbilder. In: Waren sie nur schön? Hg.
2
Die Uneindeutigkeit bezieht sich auf die Genderkategorie und nicht auf das biologische
3
Kleist, Heinrich von: Penthesilea. Ein Trauerspiel. Tübingen: Cottaische Buchhandlung
4
Brandstetter, Gabriele: Penthesilea. „Das Wort des Greuelrätsels“. Die Überschreitung
5
Ebd., S. 86.
v. B. Schmitz. S. 249. Geschlecht. 1965 [1808]. S. 11, V. 211. der Tragödie. In: Kleists Dramen. Hg. v. Walter Hinderer. Stuttgart: Reclam 1997. S. 86.
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neninszenierung um 2000 auf die spezifische Leistungskraft und die Defizite der theatralen Form hin zu analysieren. Die Transgressionen der Amazone: Heinrich von Kleists Penthesilea in der Inszenierung von Anselm Weber (2001). Im literarischen Dramentext von KLEIST lassen sich drei Arten der Überschreitung festmachen, die das Skandalon des Stücks begründen: inhaltliche, figurale und gattungstheoretische bzw. mediale Transgression. Auf figuraler Ebene ist es die oben festgestellte, das Stück augenscheinlich in die tragische Katastrophe treibende Überschreitung der Geschlechter und Gattungen hin zu einem widernatürlichen Dritten, das Odysseus nicht greifen kann: „So viel ich weiß, giebt es in der Natur / Kraft blos und ihren Widerstand, nichts Drittes.“6 Auf inhaltlicher Ebene sorgen die Transformation des antiken Mythos und die sich daraus ergebende Konsequenz des kannibalischen Akts Penthesileas an der Leiche Achills für Entsetzen.7 Diese Umformung des Mythos, der Plot in KLEISTS Trauerspiel, wird in Anselm WEBERS Inszenierung8 beibehalten. Zu beachten ist, wie auch Ortrud GUTJAHR anmerkt, dass KLEIST eine Randfigur der griechischen Mythologie zur Hauptfigur macht, deren Geschichte „in einem verloren gegangenen Teil aus dem Sagenkreis um den Trojanischen Krieg, der Aithiopis, niedergelegt“9 war. Dieses Epos schloss an die Ilias an und erzählt, wie das Frauenvolk im Trojanischen Krieg gegen die Griechen kämpfte. Die Unparteilichkeit zu etwas Drittem ist folglich KLEISTS dramatische Konstruktion, und auch die finale Szene hat er entgegen dem antiken Mythos verkehrt: In der Sage stirbt Penthesilea im Kampf gegen Achill,10 bei KLEIST ist es unerhörterweise die Amazone, die den größten griechischen Krieger nicht nur niederstreckt, sondern ihm auch brutal die Zähne in den Leib schlägt. Diese Transformationen des Mythos ins Extreme wiederum bringen Probleme der Aufführbarkeit im Theater mit sich. Darum greift KLEIST in seinem Drama auf die theatralen Mittel des Botenberichts und der Mauerschau zurück, aber dennoch galt das Stück lange Zeit als un6 7
Kleist, H. von: Penthesilea. S. 7, V. 125f. Zum Begriff des Entsetzens siehe unten die Analyse von Einar Schleefs Inszenierung von Jelineks „Ein Sportstück“.
8
Penthesilea von Heinrich von Kleist. Regie: Anselm Weber. Schauspiel Frankfurt. Premiere: 10.11.2001.
9
Gutjahr, Ortrud: Gewalt im Spiel. Kriegsschauplätze in Kleists Penthesilea. In: Penthesilea von Heinrich Kleist: GeschlechterSzenen in Stephan Kimmigs Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Hg. v. ders. 2. Aufl. Würzburg: Königshausen u. Neumann 2007. S. 31.
10 „Sohn des Königs Peleus von Phthia und der Meeresgöttin Thetis. Ein Halbgott also, den seine Mutter unsterblich machen wollte, indem sie ihn mit Ambrosia salbte und in glimmende Kohlen legte. Nach einer späteren Überlieferung tauchte sie den Sohn, ihn an der Ferse haltend, in den Styx, um seinen Körper unverletzlich zu machen.“ Ebd., S. 33.
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spielbar – als reines Lese-Drama – und wurde erstmals im Jahr 1876 uraufgeführt.11 Heute erfreut sich das Stück indessen großer Beliebtheit, was sich in den vielzähligen und vielfältigen Inszenierungen um 2000 niederschlägt. Woran mag das liegen, und sagt dies etwas über eine mögliche Erweiterung der performativen Möglichkeiten im Theater aus? Ein erster möglicher Grund mag sein, dass KLEISTS Text in vielfältiger Weise interpretierbar ist und sich das Theater um 2000 – anders als GOETHE12 – von dieser Undeterminiertheit nicht abschrecken lässt. Es nimmt die Herausforderung an, die literarischen Zeichen einer solch fremdartigen Frauenfigur in eine intensive Körperlichkeit umzusetzen und damit auch neu zu interpretieren. Zweitens stellt das Stück eine Herausforderung an die Zuschauer dar, indem es die Medialität der Sprache in Form von Botenbericht und Mauerschau als Narration – analog zu den Erzählinstanzen allgemein im Roman – mit dem primären Medium der Performanz – Penthesilea und Achill als Figuren unmittelbar auf der Bühne – kombiniert. Das heißt, dass vom Zuschauer wie vom Romanleser eine imaginative Ergänzungsleistung abverlangt wird, indem die Berichte der Nebenfiguren über die Begegnungen und Kämpfe von Penthesilea und Achilles das Theater zu einem Sprachraum13 formieren. Dies wirkt einer zu Langeweile führenden Publikumsentmündigung entgegen, wie sie LAZAROWICZ für jene Inszenierungen feststellt, die nichts unbestimmt lassen und es versäumen, die „Produktivkräfte des Publikums“14 zu stimulieren. Die Zuschauer einer Penthesilea-Inszenierung wie der von Anselm WEBER werden dagegen entsprechend einem Romanleser zu Mitbegründern der Geschichte, indem sie diese simultan zu den vorgetragenen Handlungselementen im Modus des Botenberichts bzw. der Teichoskopie imaginativ komplettieren können, ja sogar müssen, um das Stück überhaupt zu erfassen. Doch mehr noch: Die Inszenierungen des Stücks führen noch heute vor Augen, dass die Sprache das einzige Medium ist (von digitaler Bildtechnik einmal abgesehen), das etwas veranschaulichen, ein Bild davon geben kann, was nicht zu sehen 11 Vgl.: Scheifele, Sigrid: Projektionen des Weiblichen. Lebensentwürfe in Kleists Penthesilea. Würzburg: Königshausen & Neumann 1992. S. XVI. 12 „Mit der Penthesilea kann ich mich noch nicht befreunden. Sie ist aus einem so wunderbaren Geschlecht und bewegt sich in einer so fremden Region, daß ich mir Zeit nehmen muß, mich in beide zu finden.“ (Goethe aus Weimar an Kleist, 1. Februar 1808) Lautenbach, Ernst: Lexikon Goethe-Zitate. Auslese für das 21. Jahrhundert aus Werk und Leben. München: Iudicium 2004. S. 544. 13 Vgl.: Schuller, Marianne: Penthesilea weint. Zum Problem der Darstellbarkeit auf dem Theater. In: Penthesilea von Heinrich Kleist: GeschlechterSzenen in Stephan Kimmigs Inszenierung am Thalia Theater Hamburg. Hg. v. ders. S. 84. 14 Lazarowicz, K.: Der Zuschauervorgang. In: Texte zur Theorie des Theaters. Hg. v. dems. und Ch. Balme. S. 131.
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ist bzw. nur vorgeblich von einer Figur gesehen wurde. Denn weder waren/sind die berichtenden Akteure in WEBERS Inszenierung mit Fotoapparaten und Kameras ausgestattet, um das Gesehene zu belegen, noch können die Figuren des Stücks das beobachtete Geschehen beweisen. Dabei hat die sprachlich berichtende Instanz auch die Möglichkeit, von der Nichtexistenz von Personen und Dingen zu künden,15 während es im Film und auf der Bühne nicht möglich ist zu zeigen, was nicht stattgefunden hat. Dies lässt sich in zweifacher Hinsicht für die Vermittlung des mythologischen Schreckens instrumentalisieren: Einerseits kann die berichtende Figur ihr eigenes Grauen beim Anblick des Kampfes von Penthesilea und Achilles vermitteln bzw. auch dessen, was auf dem Kampfplatz nicht stattgefunden hat, andererseits transportiert sie den Schrecken via Narration in die Köpfe der Zuschauer. Diese Dominanz der Lexis (Rede) über die Opsis (Schau, Szenerie) im Stück kann dazu verleiten, mit ARISTOTELES das KLEISTSCHE Stück und dessen moderne Inszenierungen nicht als tragödisches Theater, sondern als eine Art Hörspiel zu bezeichnen. Denn die Nachahmung ist nicht das handlungstragende Moment: Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.16
Doch in der Adaption der Grausamkeit mythischen Ausmaßes ist das Theater hier auf Botenbericht und Mauerschau angewiesen, um das Undarstellbare sowie den Schrecken der berichtenden Figur zu vermitteln. Allgemein stehen sie dem Theater als Mittel zur Verfügung, um die Defizite auszugleichen, die sich aus der leiblichen Präsenz der Darsteller auf der Bühne in Konkurrenz zu den anderen Medien ergeben: Film und Roman können über Raum und Zeit frei verfügen via visuellen und sprachlichen Rückblenden auch innerhalb einer chronotopisch fixen Szene. Dem Film ist eine Bebilderung des Vergangenen und auch Zukünftigen möglich, ohne den Bericht einer Figur oder eines Erzählers zu bemühen. Dadurch sind Roman und Film auch nicht an die Perspektive einer intradiegetischen Figur gebunden, sondern können bereits vergangenes Geschehen objektiv zeigen oder wiedergeben. Eine solche neutrale Wiedergabe einer anderen Zeitstufe ist im Botenbericht des Theaters nicht gegeben, da er an die subjektive Sicht des figuralen Beobachters gebunden 15 Vgl.: Schuller, Marianne: Liebe ohne Gleichen. Bildersprache in Kleists Trauerspiel Penthesilea. In: Penthesileas Versprechen. Exemplarische Studien über die literarische Referenz. Hg. v. Rüdiger Campe. Freiburg: Rombach 2008. S. 55. 16 Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam 2008. S. 19, 1449b–1450a. Hervorhebung durch N.U.
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ist;17 die – wenn auch nicht zwingend involvierte – Beteiligung des Boten ist Voraussetzung, und diese Figur kann darauf im Sinne WATZLAWICKS wie jeder Mensch nicht nicht reagieren. Im Falle von KLEISTS Stück ist dies aber für das Publikum ein die Rezeption intensivierender Faktor, denn es kann face to face sehen, wie das Entsetzen der Figur sich ihrem Bericht in Sprache, Mimik und Gestik einschreibt.18 Gleichzeitig ist es durch die Vielzahl der Erzähler raschen Fokuswechseln ausgesetzt, was den harten Bildschnitten im Film entspräche.19 Das hohe Tempo, die berichteten Verfolgungsjagden und die im Bericht fast präsent erscheinende Gewalt veranlassen Mareen VAN MARWYCK dazu, KLEISTS Tragödie als eine „Vorform der [filmischen] ‚Action‘“20 zu bezeichnen. Dieser Eindruck der Präsenz von Gewalt – die auch in WEBERS Inszenierung von 2001 nie direkt in Form von Kämpfen und Schlachten auf der Bühne sichtbar wird – entsteht dadurch, dass den berichtenden Figuren im Theater anders als dem Erzähler im Roman kinesische Zeichen zur Verfügung stehen. So ahmt Odysseus in seinem Bericht an Antilochus über die eigene Begegnung mit Penthesilea ansatzweise Mimik und Gestik der Amazone nach: Doch mit Erstaunen, in dem Fluß der Rede Bemerk’ ich, daß sie mich nicht hört. Sie wendet, Mit einem Ausdruck der Verwunderung, Gleich einem sechzehnjähr’gen Mädchen plötzlich, Das von olymp’schen Spielen wiederkehrt, Zu einer Freundin, ihr zur Seite sich, [Darsteller Markus BOYSEN wendet sich zur Seite] Und ruft [laut wie Penthesilea]: solch einem Mann [ruhig weiter in eigener Intonation, die seine Verwunderung spiegelt], o Prothoe, ist Otrere, meine Mutter, nie begegnet! Die Freundinn, auf dies Wort betreten, schweigt, 17 „Wer aber kann Augen und Ohren trauen? Die Aktualisierung im Erzählvorgang ist – je nach Figurenrede – in unterschiedlichem Maße subjektiv modelliert; durch ‚Geben oder Hinzufügen, Darreichen oder Unterschieben‘. Die Darstellung erweist sich immer schon als Übertragung einer Lektüre: eine Lesung von Körpern und Ereignissen, der die jeweils erzählende Figur die Stimme leiht.“ Brandstetter, G.: Penthesilea. „Das Wort des Greuelrätsels“. In: Kleists Dramen. Hg. v. W. Hinderer. S. 94. 18 Exemplarisch vor allem in Meroes Bericht über Penthesileas Schändung der Leiche des Geliebten. Penthesilea von Heinrich von Kleist. Regie: A. Weber. 01:34:03. 19 Runte, Annette: Liebeskriege. Zum Amazonenmythos in Heinrich von Kleists Trauerspiel Penthesilea. In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. U. Franke-Penski u. H.-P. Preußer. S. 58. 20 Marwyck, Mareen van: Gewalt und Anmut. Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800. Bielefeld: transcript 2010. S. 211.
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Achill und ich, wir sehn uns lächelnd an, [lacht in der Erinnerung daran kurz fassungslos auf] Sie ruht, sie selbst, mit trunk’nem Blick schon wieder Auf des Äginers schimmernde Gestalt: Bis jen’ ihr schüchtern naht, und sie erinnert, Daß sie mir noch die Antwort schuldig sei. Darauf mit der Wangen Roth, war’s Wuth, war’s Schaam, […] Verwirrt und stolz zugleich: sie sei Penthesilea, kehrt sie sich zu mir […]21
Mimik und Gestik des Odysseus-Darstellers BOYSEN verdeutlichen hier die theatrale körperliche Präsenz der Erzählerfigur im Gegensatz zum Erzähler im Roman. Weiterhin zeigt sich in Odysseus’ Bericht, dass das Theater für die Beschreibung von mimischen Gefühlsregungen einer Figur nicht wie der Film auf Nahaufnahme und visuelle Effekte zurückgreifen kann, sondern wie der Roman davon erzählen muss, dass Penthesilea hier errötet ist. Da Odysseus kein allwissender Romanerzähler ist, sondern eine intradiegetische Figur, kann er diese Gesichtsverfärbung der Amazone nicht sicher deuten (Wut oder Scham). Doch das offensichtliche Wissen um die Problematik der Darstellbarkeit von Gefühlen auf der Bühne hindert KLEIST in seinem Drama nicht daran, dennoch unerfüllbare Forderungen an die Schauspieler zu stellen: Mit Anweisungen im Nebentext wie „mit plötzlich aufflammendem Gesicht“,22 „die Thränen stürzen ihr aus den Augen“,23 „sehn sprachlos und mit Entsetzen einander an“,24 „mit zitternder Lippe“25, „glühend“,26 „ihre Thränen unterdrückend“,27 „leichenbleich“,28 „das Blut schießt ihm ins Gesicht“29 und „weinend“30 verlangt er den Darstellern physiologi21 Die Orthografie folgt dem hier zugrundegelegten Drama von Kleist (Kleist, H.: Penthesilea. Erster Auftritt, S. 6.), da Anselm Webers Inszenierung an dieser Stelle bis auf Auslassungen textgetreu ist. Die Kommentare kursiv in Klammern sind eigene Beobachtungen bei der Rezeption des nichtkommerziellen Mitschnitts von: Penthesilea von Heinrich von Kleist. Regie: Anselm Weber. Schauspiel Frankfurt. Premiere: 10.11.2001. Hier: 00:07:10. 22 Kleist, H.: Penthesilea. Neunter Auftritt V. 1209, S. 63. 23 Ebd., V. 1270, Penthesilea, S. 67. 24 Ebd., die Fürstinnen, S. 75. 25 Ebd., sechzehnter Auftritt, V. 2267, Penthesilea, S. 125. 26 Ebd., zwanzigster Auftritt, V. 2392, Penthesilea, S. 134. 27 Ebd., Penthesilea, S. 135. 28 Ebd., die Oberpriesterin, S. 139. 29 Ebd., einundzwanzigster Auftritt, V. 2489, Achilles, S. 142.
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sche Vorgänge ab, „die nicht willentlich vom Subjekt ausgelöst werden können. Sie sind folglich auch nicht als theatralische Zeichen frei verfügbar.“31 Auch die moderne Inszenierung von WEBER versucht sich nicht an der visuellen Umsetzung solcher Ausdrücke seelischer Vorgänge, weder durch Theaterschminke noch mittels technischer Tricks durch Zuhilfenahme des filmischen Mediums und einer Leinwand. Dass Penthesilea im 9. Auftritt weint, wird hier aber wahrnehmbar, indem sich ihre Darstellerin (Karin PFAMMATTER) auf Prothoes (Susanne BUCHENBERGER) Frage hin, wo sie Schmerzen habe, mit der Hand erst über das eine, dann über das andere Auge wischt und die Intonation bei der Auskunft „hier“ wie bei einer Frage setzt, um die Verzweiflung zu unterstreichen.32 Ein prädominantes Gefühl in KLEISTS Stück, auf das JELINEK in ihrer Dekonstruktion dieses mythologischen Stoffs aufbaut, ist das durch die Beobachtung der Taten erlangte Entsetzen, das bei KLEIST auch in physiologischer Unbestimmtheit in die Regieanweisungen eingegangen ist: „Die Fürstinnen sehn sprachlos und mit Entsetzen einander an“,33 „Eine Amazone die während dessen den Hügel erstiegen mit Entsetzen“34 oder Meroe, die während ihres langen Berichts vom kannibalischen Akt Penthesileas an Achilles eine „Pause voll Entsetzen“35 einlegen soll. Die Darstellerin der Meroe (Katharina LINDER) in WEBERS Inszenierung spielt dieses Entsetzen, indem sie erst Penthesileas wahnsinnige Hetzrufe auf das Objekt ihrer Begierde, Achilles, nachahmt (sie schreit abgehackt: „Tigris! Hetz, Leäne! Hetz, Sphynx!“36) und dann, als sie leise die unerhörte Tat berichtet („Sie schlägt … den Zahn …“), die Augen fest zukneift, die Stirn zusammenzieht und die Zähne angeekelt bleckt fast zu einer Art Lächeln.37 Dies ist über die Perspektive der dokumentarischen Kamera des Mitschnitts gut zu erkennen. Für die reale Zuschauersituation kann hier nur gemutmaßt werden, dass dies für die Zuschauer auf den letzten Rängen schwieriger zu erkennen war, da WEBERS Inszenierung auf unterstützende Videoleinwände verzichtet. Der für die Analyse vorliegende, nicht kommerzielle Mitschnitt lässt insgesamt stark die von FISCHER-LICHTE diagnostizierte „Kluft zwischen einer Aufführung und einem fixier- oder sogar reproduzierbaren Artefakt“38 hervortreten: Aus dem Medienwechsel ergibt sich eine schlechte Verständlichkeit, da die Vertonung mittels statischem Mikrophon freilich eine andere ist als im Spiel30 Ebd., vierundzwanzigster Auftritt, Prothoe, S. 157. 31 Fischer-Lichte, E.: Semiotik des Theaters. Band 3. S. 52. 32 Penthesilea von Heinrich von Kleist. Regie: A. Weber. 00:38:58. 33 Kleist, H.: Penthesilea. Neunter Auftritt, S. 75. 34 Ebd., zweiundzwanzigster Auftritt, S. 149. 35 Ebd., dreiundzwanzigster Auftritt, S. 153. 36 Penthesilea von Heinrich von Kleist. Regie: A. Weber. 01:33:20. 37 Ebd., 01:34:01. 38 Fischer-Lichte, E.: Ästhetik des Performativen. S. 127.
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film. Die Dokumentation bedient sich aber auch des filmischen Mittels des Zooms, wodurch wiederum die „totale“ Situation der Bühne wie auch die leibliche KoPräsenz von Darstellern und Publikum noch weniger dokumentiert werden als dies bei Mitschnitten ohnehin der Fall ist. Die Schauspieler wenden sich in WEBERS Penthesilea-Inszenierung durchaus an das Publikum – z. B. an der intendiert komischen Stelle, die sich auf den Mythos um die Fortpflanzung des Frauenstaates bezieht39 –, doch der Mitschnitt lässt lediglich ein murmelndes Lachen im Publikum vernehmen. Dieser Umstand verdeutlicht, dass sich eine Theateraufführung an ein meist geschlossenes, live anwesendes Publikum richtet und nicht wie Film und Roman an eine disperse, öffentliche Rezipientenschaft. Das Theater steht zwar prinzipiell jedem Interessierten offen – „offen“ auch in dem Sinne, dass er in die Aufführung eingreifen und sie dadurch modifizieren kann –, doch ist es in diesem Sinne nicht öffentlich, weil es nur von einer begrenzten Anzahl in dieser einen sozialen Situation erlebt werden kann. Spielfilme und Romane sind dagegen gleichbleibende, konservierbare Produkte, da sie einer fast unendlich über Generationen wachsenden Rezipientenschaft zur Verfügung stehen. Die Situation der Zuschauer der Penthesilea-Aufführungen ist dabei eine besonders beanspruchende, da KLEIST keine Pausen vorgesehen hat, sondern sich in „gehetzte[m] Tempo zu der grauenhaften Schlußszene der ‚Penthesilea‘ steigert“.40 Diese ununterbrochene dramatische Situation behält auch WEBERS Inszenierung im Jahr 2001 noch bei, wobei der „Scheincharakter der Bühnengegenwart“41 nicht durch einen erhellten Zuschauerraum, Arbeiten an den Requisiten auf der Bühne oder eigene Gespräche unterbrochen wird. Nach Martin SCHAUB hat dies den Effekt, dass in die skandalöse Handlung des Stücks keine versöhnlichen Einschnitte durch die Realität erfolgen können, so dass sich der Schrecken des Trauerspiels ungestört entfalten kann.42 Auch am Ende des Stücks, bei der Verbeugung der Darsteller vor dem Publikum, wird Wert darauf gelegt, den Schockmoment von Penthesileas Selbstmord und Achills Tod nicht zu zerstören: Mit zunächst finsteren Mienen nehmen sie den Applaus entgegen.43 Dass das Drama heute noch so häufig und in dem von KLEIST intendierten Modus des Entsetzens aufgeführt wird, kann als Indiz dafür gewertet werden, dass es um 2000 eine Tendenz hin zum skandalösen Stoff, zur nicht mehr schönen Kunst gibt, verbunden mit der Neugier des Publikums, wie dies in der jeweiligen Neuinszenierung umgesetzt wird. KLEIST konnte 39 Achill blickt nach seiner Frage „Wie pflanzt er doch ohne Hülfe sich der Männer fort?“ auffordernd ins Publikum. Penthesilea von Heinrich von Kleist. Regie: A. Weber. 01:08:05. Bei Kleist, H.: Penthesilea. 15.Auftritt, S. 114. 40 Schaub, Martin: Heinrich von Kleist und die Bühne. Zürich: Juris 1966. S. 38. 41 Ebd., S. 38. 42 Vgl.: Ebd., S. 38. 43 Penthesilea von Heinrich von Kleist. Regie: A. Weber. 01:47:06.
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zu seiner Zeit weniger auf dieses Interesse am monströsen Dritten hoffen, wie Walter MÜLLER-SEIDEL nach Sichtung alter Rezensionen belegt: Kleist beleidige den Geschmack, heißt es in einer Kritik des Dramas, die den Schweizer Schriftsteller Heinrich Zschokke zum Verfasser hat; er empöre „das Zartgefühl, wo er nur das Entsetzen hervorbringen wollte“. Wie sehr mit diesem Drama Erwartungen von Dichtung durchbrochen wurden, wird deutlich, wenn der Rezensent lapidar erklärt: „Das Ekelhafte ist niemals Objekt der schönen Kunst.“44
Dieses Entsetzen auf Rezipientenseite mag sich um 2000 zur Attraktion gesteigert haben, möglicherweise wie im Film verbunden mit dem Schauwert der Amazonenfiguren als eine jahrtausendealte Männerphantasie. So gibt der Dramentext laut MARWYCK durchaus Hinweise auf die Anmut der Amazonen, wie die „rosenblüthnen“45 Wangen, die „Silberstimme“46 oder der wallende Helmbusch.47 Die Beschreibung erinnert fast an die Kostüme der filmischen Amazone des 21. Jahrhunderts, Lara Croft, vor allem in ihrem engen, wie eine Rüstung glänzenden Taucheranzug: Die Darstellung bedient sich der Ästhetik der Schlangenlinie mit ihren erotischen und ausdrucksspezifischen Konnotationen. Auch die Kleidung der Penthesilea verweist auf den Anmutsdiskurs. Ihre Rüstung liegt eng am Körper an; einer der Griechen beschreibt sie als aus „Schlangenhäuten“ (18) gefertigt, ebenfalls ein wörtlicher und metaphorischer Verweis auf die Schlangenlinie. Denn neben der expliziten Nennung der Schlange evoziert die Beschreibung das Bild einer glänzenden, die Formen des weiblichen Körpers genau nachzeichnenden Kleidung – einer Kleidung, die so beschaffen ist, dass sie die Bewegungen des Körpers sichtbar werden lässt, ohne den Körper zu entblößen.48
Der Anmutsdiskurs der Amazonen ist im Theater stark von den Dispositionen der Schauspielerinnenkörper abhängig, da anders als im Film keine technische Bearbeitung der Opsis möglich ist. Das wird auch evident, wenn es um die Performanz der von KLEIST tradierten Legende der Einbrüstigkeit der Amazonen geht. KLEISTS unerfüllbare Forderung an den weiblichen Körper wird bei WEBER durch die Kostümierung gelöst, indem die eine Hälfte von Penthesileas und Prothoes Corsage verdeckend nach oben geklappt ist. Dennoch kann die Betonung dieses Aspekts des 44 Müller-Seidel, Walter: „Penthesilea“ im Kontext der deutschen Klassik. In: Kleists Dramen. Neue Interpretationen. Hg. v. Walter Hinderer. Stuttgart: Reclam 1981. S. 144. 45 Kleist, H.: Penthesilea. Vierter Auftritt, Odysseus, S. 29. 46 Ebd., vierter Auftritt, Diomedes, S. 30. 47 Ebd., vierter Auftritt, der Griechenfürst, S. 30. 48 Marwyck, M. v.: Gewalt und Anmut. S. 209.
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Mythos ein weiterer Hinweis darauf sein, dass KLEIST sein Stück gar nicht für den realen Bühnenraum geschrieben hat, sondern vielmehr eine „dialogisierte Novelle“49 im Modus des Berichts – ein unsichtbares Theater – geschaffen hat, bei dem der Schauwert der Amazonen allein in der Imagination relevant wird. Ebenso mag der Dramatiker wohl nicht davon ausgegangen sein, dass heulende Hunde und Elefanten auf der realen Bühne auftreten – bei WEBER wird aber immerhin Tiergeheul akustisch eingespielt.50 Entsprechend bleiben auch Kostümierung und Bühne in der Umsetzung um 2000 minimalistisch,51 Ortswechsel werden nicht in der Kulisse sichtbar (Abb. 69), und lediglich die aparten Musikeinlagen52 vor den einzelnen Auftritten betonen die zunehmende Bedrohlichkeit durch die Amazonen. Abb. 69: Penthesilea von Heinrich von Kleist.
Regie: Anselm Weber. Schauspiel Frankfurt. Premiere: 10.11.2001.
49 Schaub, M.: Heinrich von Kleist und die Bühne. S. 51. 50 Penthesilea von Heinrich von Kleist. Regie: A. Weber. 01:22:33. Dem Mitschnitt ist außerdem eine leichte Belustigung des Publikums zu entnehmen, als der Herold nach dem Sinn von Tieren im Zweikampf zwischen Achilles und Penthesilea fragt. Ebd., 01:28:30. 51 Zu sehen sind undefinierbare Faden-Zelte, die unter anderem für den Tempel der Priesterin stehen. 52 Zu beschreiben als laute Trommelschläge für Donner und Schüsse, außerdem Geigenkratzen in den höchsten Tönen im Stil von Hitchcocks Filmmusik.
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D AS P ROBLEM DER MYTHISCHEN S CHLACHT – K ONSTANZE L AUTERBACHS I NSZENIERUNG D IE A MAZONEN Eine weitere moderne Inszenierung des Mythos der Amazonen geht zurück auf das in der damaligen DDR entstandene Stück des heute nahezu in Vergessenheit geratenen Autors Stefan SCHÜTZ. 1974 schrieb er Antiopi und Theseus, dessen Titel aber „aufgrund des Drucks seines westlichen Verlegers werbewirksam in Die Amazonen umbenannt“53 wurde, was verdeutlicht, dass Antiope wie Penthesilea lediglich Randfiguren der griechischen Mythologie sind, wohingegen der Begriff der Amazonen allgemein verbreitet und in der Medienkonkurrenz wirksam zu machen ist. FRANKE-PENSKI liest das Stück als „radikale Kritik patriarchaler Machtkonstellationen und kapitalistischer Subjektzurichtung.“54 Hierfür umfasst die Arbeit am Mythos eine Transformation weg von der Vorstellung von Herakles und Theseus als starke Helden mit einer Art Vorbildcharakter, hin zu frauenfeindlichen, stupiden Charakteren auf der Bühne. Anders als im antiken Mythos sind der athenische Königssohn Theseus und sein Vetter Herakles nicht auf „Expeditionsreise zu den Amazonen“,55 sondern von Beginn an feindlich gesinnt mit dem Auftrag, sich der von Mars geschmiedeten Rüstung der Amazonenkönigin zu bemächtigen.56 Der Geschlechterkampf begründet die klare Exposition des Stücks, denn SCHÜTZ bezog hieraus seine Inspiration: „Die Idee zu dem Thema kam mir über das zuweilen heftige Gezänk zwischen den Geschlechtern, ob in Plattenbauten oder zerfallenen Altbauten …“57 Auch LAUTERBACHS Lesart von 2007 basiert darauf, dass zwischen den beiden Geschlechtern und Völkern – anders als im antiken Mythos – von Beginn an ein gewaltsamer Konkurrenzkampf herrscht: „Männliche Überlegenheitskämpfe contra weiblicher Selbstbestimmungswucht und -wut!“58 Der Hass der Männer und ihre Aggression im Lager erscheint anders als der der Frauen blind und unbegründet, allein auf Kampfeslust ausgerichtet: Sie hassen sie dafür, dass deren Stadt Themiskyra so gut gegen Angreifer abgeschirmt ist und sich der Zugriff dadurch verzögert. Die Männer legen ihnen dies im Sprechchor als Feigheit aus – 53 Franke-Penski, Udo: Das ambivalente Geschlecht der Amazonen. Eine Einleitung. In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. dems. und H.-P. Preußer. S. 11. 54 Ebd., S. 11. 55 Kondratiuk, Daniel: Theseus und Antiope. In: Amazonen. Begleitbuch zur Ausstellung im Historischen Museum der Pfalz Speyer. S. 29. 56 Schütz, Stefan: Die Amazonen (1974). Strichfassung des Bremer Theaters. In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. dems. und H.-P. Preußer. S. 129. 57 Schütz, Stefan: Wie ich zu den Amazonen kam. In: Ebd., S. 128. 58 Lauterbach, Konstanze: Der Körper als Waffe. Zu den Amazonen am Bremer Theater. In: Ebd., S. 172.
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„Feigheit hat ein Weib gebracht, und Feigheit ist euch eigen“59 – und verübeln den Amazonen, dass sie die auf sie projizierte männliche Kampfeslust nicht ausüben können. Die Aufführung inszeniert das auf der Bühne als eine Art „Lagerkoller“: Die Kulissenwände auf der eckigen Guckkastenbühne sind mit Fotografien von eintönigen in die Weite verlaufenden Zeltlagern dekoriert, die für die Größe des griechischen Heers stehen. Auf die weite Ausdehnung des männlichen Lagers deutet auch hin, dass LAUTERBACH in ihre Inszenierung englische Dialogfetzen einfügt: Das Heer beschränkt sich nicht auf die bekannten griechischen Heroen, sondern die Kriegspläne müssen auch internationalisiert ins Englische übersetzt werden.60 Dies kann aber ebenso als Marker der Spannung zwischen dem Schauspieler als Person und seiner Rolle im Theater ausgelegt werden: Der Darsteller selbst mag aus einem angelsächsischen Land stammen, die von ihm dargestellte Figur dagegen passt sich in das griechische Heer ein. Gleichzeitig wird in der Performanz aber auch die aufgrund quälender Untätigkeit empfundene Enge des Lagers betont, indem die gelangweilten Krieger die Beine an diesen begrenzenden Wänden hochlegen.61 Die Szene der Amazonen im Palast der Antiope spielt zwar vor derselben Kulisse, doch ist die Stimmung in diesem zweiten Bild – das Stück gliedert sich in zehn Bilder, die bei LAUTERBACH vor einer sich nur minimal verändernden Kulisse in lediglich 9 Szenen übertragen werden – eine völlig andere: In Einhelligkeit vollführen die Frauen ihre körperlichen Übungen, um sich auf den Kampf vorzubereiten. Das Amazonenvolk kämpft nicht aus purer Brutalität, sondern verteidigt sich vielmehr gegen den „Zwang männlicher Unterwerfungspolitik“,62 weshalb es im aktuellen Kontext auch generell gelesen werden kann als „ein ausgegrenztes und politisch verfolgtes Volk“.63 Hierin behält LAUTERBACH in ihrer Aufführung das politische Kunstverständnis von SCHÜTZ bei: „Er denkt im Affront, im prinzipiellen Widerspruch und geistigen Widerstand ‚zu dem was ist‘. Kunst ist für ihn eine Form des Anstoßes, Sand ins Getriebe der herrschenden Gesellschaftsordnung zu werfen.“64 Der Amazonenmythos wird folglich wie in HOFFMANNS Roman Die Emanzen sind los auch im Theater für den emanzipatorischen Diskurs funktionalisiert, wobei letzteres als primäres Medium in der sozialen Situation für diese Kunstpraxis prädestiniert scheint.
59 Die Amazonen im Bremer Theater. Regie.: Konstanze Lauterbach. Premiere: 01.02.2007. 00:05:20. 60 Ebd., 00:12:00. 61 Ebd., 00:05:20. 62 Lauterbach, K.: Der Körper als Waffe. In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. dems. und H.-P. Preußer. S. 172. 63 Ebd., S. 172. 64 Ebd., S. 173.
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Die alternative Existenz der Amazonen legt auch Theseus zunächst als etwas Drittes aus, das es nicht geben darf, indem er Antiope, bevor er sie kennenlernt, eine „Hündin“65 nennt. Emanzipiert und sogar im höchstem Maße männerfeindlich ist Antiope allerdings nur so lange, bis sie persönlich auf Theseus trifft und sich in ihn verliebt. Zuvor schwört sie Rache am männlichen Geschlecht, als sie erfährt, dass Iope im feindlichen Lager umgebracht wurde: Oh, ich will mit Haß verzehren diese Männerseuche, und aufspießen ihre Unfruchtbarkeit, einen Weg mir schlagen zu Herakles, um ihn vierzuteilen. Die Stücke dann, gespießt auf Lanzen, und in Feuer, räuchere ich aus bei Göttern und auf Erden den Wahnsinn auf Eroberung. Diese Penisbrut, Muskeln nur und After, und der Kopf ist eine Kläranlage. Wagt den Schrei nach Vorherrschaft, und ist doch nur Samengeber. […] Doch lieber den Tod als ein Leben in den wäßrigen Armen eines Mannes.66
Die von ihr intendierte Brutalität der Schlacht wird wie in den Inszenierungen von KLEISTS Penthesilea aber vorwiegend imaginiert. Im dritten Bild, das SCHÜTZ in seinem Stück ursprünglich entwarf, soll zwar ein „Schlachtfeld am Ufer. Mit Leichen und Verwundeten übersät“67 zu sehen sein, doch LAUTERBACH verweigert in ihrer Inszenierung solchen Bühnenrealismus: Erstens stehen die minimalistischen Requisiten auf der Bühne – die oben beschriebenen Fotowände sowie auch Mauern aus bunt hinterleuchteten Kästen mit Wasserflaschen als visuelle Metonymie für den Fluss Thermodon – für mehrere Räume/Bilder wie das Lager der Griechen, den Palast der Amazonen und Athen. Die verschiedenen Szenen sind lediglich voneinander abgesetzt, indem zwischen ihnen die Bühne verdunkelt wird und von außerhalb des Geschehens Streichmusik ertönt. Zweitens verzichtet LAUTERBACH auf realistisch inszenierte Schlachten, da Gewalt auf Theaterbrettern weitaus stärker als im Film durch ihre Künstlichkeit auffällt und die Fiktion stört. Folglich liegen im dritten Bild keine blutigen Leichen auf der Bühne, und es klirren auch keine Lanzen. Stattdessen bedient sich die Gewaltdarstellung allein der Leiblichkeit der anwesenden Körper, die nach ihren unterschiedlichen physischen Potenzialen ein violentes Bild choreografieren: Die Darsteller zeigen jeweils entweder Kampfsportfiguren, verrenken sich akrobatisch oder tanzen. Dies ist – neben Botenbericht und Mauerschau – eine theatrale Möglichkeit, das Problem zu umgehen, dass eine Live-Performanz weiblicher Stärke in mythologischen Dimensionen schlicht nahezu unmöglich ist. PRESSFIELD kann in seinem Roman die große, brutale Schlacht der Amazonen gegen die Athener mit vielen De65 Schütz, S.: Die Amazonen (1974). In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. dems. und H.-P. Preußer. S. 130. 66 Ebd., S. 136. 67 Ebd., S. 137.
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tails ausmalen. Im Theater würde es unglaubwürdig und sogar humoristisch wirken, wenn eine wie in diesem Stück sehr zierliche Antiope-Darstellerin einen kräftigeren Mann in einen erbitterten Kampf verwickelte, in dem der Heros fast unterliegt. Auf der Bühne bereitet es anders als in den untersuchten Filmen Probleme, die mythisch aufgeladene Stärke der Amazonen authentisch „auszustrahlen“. Als die verliebte Amazone Antiope Theseus in seinen Palast begleitet, d. h. von ihren emanzipatorischen Grundsätzen abkommt, nimmt ihr Niedergang seinen Lauf. Auf der einen Seite hat sie ihr Volk verraten und ist keine Amazone mehr, auf der anderen Seite begehrt auch die Elite von Athen gegen sie auf. Ihre innere Zerrissenheit wird aber nicht wie z. B. durch einen Erzähler im Roman schlicht behauptet, sondern in das Bühnenbild überführt: Dort wird ein transparentes Zelt als Antiopes und Theseus’ Palast in Athen aufgebaut. Solch ein unrealistisches Bild würde im Spielfilm auf Unverständnis stoßen und ist nahezu undenkbar; in LAUTERBACHS Inszenierung dagegen vermag es ein ganzes Dilemma darzustellen: In einem großen transparenten Zelt sitzt Antiope aufbewahrt, eingesperrt. Es sollte ein doppeldeutiges Bild sein! Schutzraum, Liebeszelt als Rückzugsort und Freiheitsberaubung. Später outet sich dieser Raum als assoziatives Luftschloss der Liebe, das am Ende einstürzt.68
Weder kann sich Antiope am Ende zurück zu ihrem Volk begeben, noch bekennt sich Theseus dauerhaft zu ihr. SCHÜTZ’ Plot stützt sich am Ende erneut auf den antiken Mythos, wie VON RANKE-GRAVES ihn zusammenfasst: Als er [Theseus] mit König Deukalion, dem Kreter, ein Bündnis schloß und dessen Schwester Phaidra heiratete, widersetzte sich Antiope. Eifersüchtig stürmte sie, die nicht seine gesetzliche Gemahlin war, vollbewaffnet in die Hochzeitsfeierlichkeiten und bedrohte die Gäste. Theseus und seine Gefährten schlossen die Tore und töteten sie in einem erbitterten Kampf.69
LAUTERBACHS Aufführung findet sich damit ab, dass solch ein erbitterter Kampf auf der Bühne lächerlich70 wirken würde, da die physische Kraft mythischer Figuren nur schwer real zu verkörpern ist. Es wäre schlicht nicht glaubwürdig, wenn Theseus Schwierigkeiten hätte, sich gegen Antiopes Angriff zu wehren. Deshalb wird hier ein fast zärtlich anmutender Kampf mit gebundenen Leintüchern ausgetragen, wobei Antiope den Geliebten zuerst verletzt, indem sie das Tuch um seinen
68 Lauterbach, K.: Der Körper als Waffe. In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. dems. und H.-P. Preußer. S. 177. 69 Ranke-Graves, R. von: Griechische Mythologie. Band 1. S. 322. 70 Lauterbach ist gegen „lächerlichen Bühnenrealismus“. Lauterbach, K.: Der Körper als Waffe. In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. dems. und H.-P. Preußer. S. 175.
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Nacken schwingt.71 Das Blut bleibt allerdings bloße Behauptung der AntiopeDarstellerin: „Der Fleck ist Blut! Getroffen!“72 Und auch als der griechische Heros schließlich doch die Amazone tötet, gibt es auf der Bühne kein Blut – in der fiktionalen Handlung dagegen umso mehr, wie sich Theseus’ Rede entnehmen lässt: „So haltet das Blut auf! Trink Antiope, damit es bei dir bleibe. Schließ die Wunde.“73 Der fiktionale Tod muss ebenfalls verbal verkündet werden, und zwar hier nicht an die der Katastrophe beiwohnende Hochzeitsgesellschaft, sondern dem real anwesenden Publikum: „Kein Hauch blendet meine Haut! Sie – ist tot […]“74 Mit dem Tod der fiktionalen Protagonistin hat das SCHÜTZSCHE Trauerspiel ein Ende. In JELINEKS Ein Sportstück hingegen ist die Performanz nicht an lebendige Figuren gebunden. Die im Folgenden zu analysierende „Figur“ der Frau wirkt auf postprotagonistischer Ebene zerstörerisch und destruiert damit den Amazonenmythos.
AMAZONISCHE E NTARTUNG IM POSTDRAMATISCHEN T HEATER : E LFRIEDE J ELINEKS E IN S PORTSTÜCK Dem Titel nach hat JELINEKS Ein Sportstück75 nicht viel mit dem antiken Mythos der Amazonen zu schaffen. Doch der Sport als mediales Massenphänomen, wie ihn JELINEK vorstellt, benutzt die gleiche Sprache: Kriegsterminologie. Wie in den beiden anderen untersuchten Amazonen-Stücken ist der Krieg auch hier das Universalprinzip. Er bestimmt das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, zwischen verschiedenen Nationen und Sportmannschaften. Während es bei LAUTERBACH um die Dekonstruktion des Kriegspathos geht, dekonstruiert JELINEK in ihrem 1998 erschienen Stück das Sportpathos durch die Verwendung von Kriegsmetaphern. In diesem Zusammenhang tauchen die Amazonen auf, allerdings anders als bei WEBER und LAUTERBACH nicht in einer dramatischen, sich durch Figurenkonflikte steigernden Handlung, sondern als Sprechkörper, die weder Schauspieler noch Figuren sein sollen. In deren vorgetragenen assoziativen Monologen werden Mythen bemüht, doch haben sie in ihrer Handlungslosigkeit und bis zur Dekonstruktion übersteigerten sinnlosen Brutalität ihren Schrecken verloren, wie auch die übermächtigen medialen Massenphänomene bloßes Thema sind und intertextuell und intermedial verknüpft werden. Der Grund dafür ist, dass es sich bei dem von Einar SCHLEEF inszenierten Sportstück um postdramatisches Theater handelt, wie JELINEK 71 Die Amazonen im Bremer Theater. 02:23:43. 72 Ebd. 73 Ebd., 02:24:53. 74 Ebd., 02:25:30. 75 Jelinek, Elfriede: Ein Sportstück. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998.
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es in ihrer literarischen Textvorlage entwirft. Diese Kunst bedient sich der theatralen Form auf spezifische, unkonventionelle, innovative Weise, wie es im Folgenden anhand der TV-Übertragung des ZDF-Theaterkanals76 in Ergänzung mit dem literarischen Text von JELINEK aufzufächern gilt. Welche postdramatischen Elemente gibt es, wie hängen diese mit dem Amazonenmythos zusammen und welche theatralen Potenziale werden dabei vorgestellt? Wie schon im Klappentext des JELINEK-Stücks offenbar wird, kann dieser literarische Text – wie auch seine theatrale Umsetzung – inhaltlich lediglich beschrieben, nicht aber in seiner Handlung wiedergegeben werden. Denn eine solche gibt es in diesem postdramatischen Stück gemäß LEHMANNS Definition nicht: Es ist frei von Zwängen der Kohärenz und Vollendung und rückt sich vielmehr in eine Traumnähe.77 Auf allen Ebenen herrscht Heterogenität, jedes Detail, sei es inhaltlicher, figuraler, verbaler oder optischer Art, kann an die Stelle des anderen treten.78 Z. B. könnten bei JELINEK die nicht zielgerichtet agierenden und auch nicht interagierenden Figuren beliebig untereinander ausgetauscht werden. Entsprechend lässt JELINEK in ihrer einführenden Anweisung den Regisseuren völlig freie Hand, was SCHLEEF in etlichen Abweichungen vom literarischen Text „befolgt“: „Die Autorin gibt nicht viele Anweisungen, das hat sie inzwischen gelernt. Machen Sie was Sie wollen.“79 Gleich darauf zeigt sich ein weiteres, von LEHMANN festgestelltes Merkmal des postdramatischen Theaters, das JELINEK ausdrücklich wünscht: die Tendenz zur Musikalisierung einer Inszenierung:80 Sie will einen Chor auf der Bühne, der wie eine Sportmannschaft einheitlich gekleidet ist,81 und „der Chorführer, oder die Chorführerin, soll mittels Ohrstecker mit dem Sportkanal verbunden sein und alle interessanten Sportereignisse oder die neuesten Ergebnisse, je nach seiner (ihrer) Einschätzung, dem Publikum bekanntgeben […].“82 Da es ohnehin keine Handlung in ihrem Stück gäbe, könne diese auch unterbrochen werden. Die 76 Elfriede Jelinek: Ein Sportstück. Aufführung des Wiener Burgtheater im Schiller Theater Berlin. Übertragung im ZDF-Theaterkanal. Theaterregie: Einar Schleef. Fernsehregie: Andreas Missler-Morell. 1998. 77 Lehmann, H.-Th.: Postdramatisches Theater. S. 141f. 78 Vgl.: Ebd., S. 143. 79 Jelinek, E.: Ein Sportstück. S. 7. 80 Lehmann, H.-Th.: Postdramatisches Theater. S. 155. 81 „Das einzige, was unbedingt sein muß, ist: griechische Chöre, einzelne, Massen, wer immer auftreten soll […] muß Sportbekleidung tragen, das gibt doch ein weites Feld für Sponsoren, oder? Die Chöre, wenns geht, bitte einheitlich, alles adidas oder Nike oder wie sie alle heißen, Reebok oder Puma oder Fila oder so.“ Jelinek, E.: Ein Sportstück. S. 7. 82 Ebd.
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geforderte intermediale Verknüpfung mit dem Fernsehprogramm setzt SCHLEEF aber nicht um, doch ist er ein Regisseur, der die ästhetischen Mittel des Chors auch in anderer Hinsicht voll auszuschöpfen weiß. Damit ist die Rückkehr einer der ältesten Figuren des Theaters gegeben, die bis in die 1980er Jahre als „ideologisch überlebt[…]“ und „faschistoid[…]“ galt,83 was vermutlich auf die Wirkung zurückzuführen ist, welche eine geschlossene, aufeinander abgestimmte Gruppe, die frontal auf das Publikum einsingt oder einspricht, hat. Für die Zeit ab den 1990er Jahren lässt sich aber eine Renaissance dieser Kunst im Theater feststellen,84 die in einem Spielfilm oder via Tonträger eine weit weniger intensive Wirkung hat. Verbunden ist eine solche Performanz des Chors als Figur im Theater mit langen und intensiven Proben aller Beteiligten, was unweigerlich eine „Provokation des Theaterbetriebs“85 bedeutet, wie es für den postdramatischen Regisseur SCHLEEF ohnehin nichts Ungewöhnliches ist. So sind nicht nur die musikalischen Einlagen des Chors von bis zu 40 Minuten ungewöhnlich in die Länge gedehnt, sondern die gesamte Aufführung des Sportsstücks ist mit ihren ca. 8 Stunden eine Herausforderung für Spieler und Publikum. Darum kam es bei der Premiere zum postdramatischen Merkmal des Einbruchs der Realität in die Inszenierung: Der Regie-Exzentriker holte sich während der Aufführung auf Knien die Erlaubnis des Direktors ein, auch nach 23 Uhr noch spielen zu dürfen (was das Burgtheater teure Überstundenzahlungen an die Schauspieler kostet). Bei dieser langen Aufführung sind schwankende Aufmerksamkeit und Ermüdungserscheinungen seitens des Publikums als ästhetisches Moment sicherlich einkalkuliert,86 was die Wahrnehmung der assoziativen Monologe auf der Bühne aber anders als beim Folgen einer dramatischen Handlung (A führt zu B, C reagiert auf B etc.) nicht unbedingt im negativen Sinne beeinträchtigt. Dennoch ist die enorme Länge ohne spannende Handlung, der das Publikum folgen kann, auch quälend, wie JELINEK eine ihrer Stimmen sagen lässt: „Das ist entsetzliches, quälendes Theater, es scheint nicht zu enden. Danke für den Applaus auch an dieser Stelle, wo er nicht hinpaßt!“87 Die Dauer als ästhetisches Moment zeigt sich besonders eindringlich in der ca. 40-minütigen Performanz des Sportler-Chors: 48 Männer und Frauen füllen die gesamte Bühne aus und vollführen frontal zum Publikum eine schweißtreibende Sprech- und Bewegungschoreografie, wobei die Inhalte des Sprechens völlig der 83 Schmidt, Christina: Tragödie als Bühnenform. Einar Schleefs Chor-Theater. Bielefeld: transcript 2010. S. 9. 84 Vgl.: Ebd. Als Beispiele führt sie Inszenierungen von Heiner Müller, Christoph Marthaler und Frank Castorf an. 85 Ebd., S. 12. 86 Vgl.: Meurer, Petra: Theatrale Räume. Theaterästhetische Entwürfe in Stücken von Werner Schwab, Elfriede Jelinek und Peter Handke. Berlin: Lit Verlag 2007. S. 52. 87 Jelinek, E.: Ein Sportstück. S. 45, Rede von „Mann“.
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Performanz der Körpermotorik und der Materialität der Sprache untergeordnet sind. Dies bewirkt eine größtmögliche Beanspruchung der einzelnen Akteure wie auch der Zuschauer. Erstere stellen ihre Körper in den Fokus, ihre physische Belastbarkeit, die gleichzusetzen ist mit der medienwirksamen Schinderei der Leistungssportler. Das Schwitzen und „Abkämpfen“ der Akteure wird im Theaterraum sinnlich wahrnehmbar, und nach Christina SCHMIDT überträgt sich auch die „energetische[…] Form“ des rhythmischen Sportchors als Provokation auf das Publikum, was schon durch den „schnelle[n] Zulauf eines großen Chors auf die Bühnenrampe […]“ die übliche auditive und visuelle Wahrnehmung überschreite88: Die Akteure bedrängen die Sinne der Zuschauer, und diese können sich nicht davon distanzieren oder sich über den dramatischen Inhalt von der räumlich-physischen Bedrängnis ablenken, denn die Aussagen sind sinnentleert. Die Konzentration des Publikums muss sich auf die leibliche Präsenz des Bewegungschors fokussieren. Nach vollbrachtem Aerobic-Kampf brechen die Sportler auf der Bühne zusammen; das Publikum honoriert die physische Leistung mit Jubel, Rufen und lautem Klatschen89 und entlädt darüber vermutlich auch die eigene Erleichterung über das Ende der langen, eindringlichen „Szene“. Die Interaktion der kopräsenten Gruppen – Sportler/Chor auf der Bühne, Publikum im Saal – wird bei SCHLEEF weiterhin zur Aufführung gebracht, als erstens eine Mannschaft von jungen FußballerInnenn auf der Bühne unter Anleitung ihres Trainers spielt, wobei naturgemäß der Ball immer wieder ins Publikum fliegt und von diesem zurückgeworfen werden muss. Wie der Aufzeichnung zu entnehmen ist, reagiert das involvierte Publikum auf dieses Phänomen der Emergenz jedes Mal mit aufgewühltem Raunen und Lachen. Ähnliches ist zu vernehmen, als SCHLEEF seinen Chor einvernehmlich über Minuten schweigend, das Publikum betrachtend, auf dem Boden der Bühne sitzen lässt. Dadurch zeigen die Akteure an, dass sie anders als in den mit ihnen konkurrierenden Massenmedien nicht nur Schauobjekte sind, sondern auch Schausubjekte. Auch hier lässt sich eine evozierte Unruhe des Publikums diagnostizieren, indem es Schritte im Saal gibt, Türen zugeschlagen werden und die Zeit für eigene Bedürfniserfüllung wie Husten, Naseputzen und Rascheln versucht wird, sinnvoll zu überbrücken bzw. sich von den Blicken seitens der Bühne abzulenken. Wachsende Ungeduld ist dadurch auszumachen, dass einzelne Anwesende durch Klatschen versuchen, die Akteure zum Fortgang der Aufführung zu bewegen.90 Wie in den von DELEUZE analysierten Zeit-Bildern des modernen Kinos schafft es diese Theater„szene“, die Zeit selbst zur Anschauung zu bringen, und zwar hier nicht nur als die fiktionale Zeit und durée des „Figuren“kosmos, sondern 88 Schmidt, Ch.: Tragödie als Bühnenform. S. 13. 89 Elfriede Jelinek: Ein Sportstück. Aufführung des Wiener Burgtheater im Schiller Theater Berlin. Übertragung im ZDF-Theaterkanal. Regie: E. Schleef. Teil 3, 00:07:05. 90 Ebd., Teil 3, 00:24:15.
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auch als die „von allen Anwesenden gemeinsam verbrauchte Zeit“.91 Die Theaterbesucher sind hier offensichtlich weit stärker auch als Teilnehmer aktiv als die Zuschauer in den beiden vorangegangenen Aufführungen. Doch auch bei SCHLEEF werden sie nicht zu Akteuren auf der Bühne, und sie eröffnen bis auf kurze Ausnahmen keine eigenen Bühnen im Zuschauerraum. Die Performanz geht von den Akteuren und Gruppen aus, die sich für die Zuschauer abplagen – wie besonders in der Sportler-Choreografie –, wodurch das Publikum in der Rezeption ebenfalls einen anstrengenden, da sinnlich involvierten und zeitlich stark ausgedehnten Theaterabend erlebt. Bei aller Nachordnung der inhaltlichen Dimension: Neben der rein präsentkörperlichen Ebene lässt sich die Sport-Performanz auch auf das in JELINEKS Stück dominierende und mit dem Amazonen-Mythos in Verbindung gebrachte Motiv des Geschlechterkampfs zurückführen. In der Choreografie kämpfen sich nicht nur die einzelnen Akteure simultan ab, sondern es kämpfen auch die Geschlechter gegeneinander, indem sie ihre repetitiven Textpassagen aufeinander richten wie sprachliche Geschosse: Die Männer wiederholen den Satz, den in JELINEKS Text ein „Andrer“ spricht – „Entsetzen greift um sich, ergreift was und wen es will“92 –, und der weibliche Part reagiert mit „Entsetzen, Entsetzen“ entsprechend des Ausrufs der Oberpriesterin in KLEISTS Penthesilea, als ihr berichtet wird, dass die einstige Amazonenkönigin Achill zerrissen hat.93 Das Entsetzen bei JELINEK/SCHLEEF ist keinem dramatischen Konflikt geschuldet, sondern einer assoziativen Zitationspraxis, die auf einen intermedialen Textfundus zugreift: Zeitgenössische Werbeslogans, Fernsehsendungen, Nachrichten uvm. ebenso wie Passagen klassischer Literatur wie das Drama von KLEIST. Auch wird der Geschlechterkampf nicht wie in LAUTERBACHS Inszenierung auf der Bühne als – wenn auch minimalistisch ausgestalteter – SchauRaum ausgetragen, sondern die Körper der auf der Bühne Sprechenden sind Hüllen, die meist ihren Signifikantendienst verweigern, d. h. deren Visualität in Mimik, Gestik und Proxemik keine Aussagekraft hat. Dadurch konstituiert SCHLEEFS Inszenierung laut MEURER vielmehr einen „theatralen Hör-Raum“94, dem der Bühnenraum und seine Talking Heads – wie die Sprechenden aufgrund der Redundanz ihrer körperlichen Erscheinung auch genannt werden können – untergeordnet sind. Die Bühne hat nicht die Funktion, eine Als-ob-Illusion zu erzeugen, in ihrer ostentativen Leere erfüllt sie lediglich den Dienst, den sprechenden Personen überhaupt einen Raum zu geben. Sie muss aber frei von Requisiten sein, weil es sich bei den auf den Brettern Sprechenden nicht um dramatische Figuren handelt, sondern um
91 Schmidt, Ch.: Tragödie als Bühnenform. S. 92. 92 Jelinek, E.: Ein Sportstück. S. 152. 93 Kleist, H.: Penthesilea. Zweiundzwanzigster Auftritt, S. 150. 94 Meurer, P.: Theatrale Räume. S. 9.
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etwas „Unbewusstes oder Vorbewusstes“,95 also etwas Drittes, das Es, das völlig grundlos aus dem Nichts spricht. Weil die FISCHER-LICHTESCHE Definition von Theater hier nicht mehr zutrifft – „Theater ereignet sich […], wenn es eine Person A gibt, die X verkörpert, während S zuschaut“96 – handelt es sich bei JELINEKS Akteuren um postprotagonistische „Figuren“, bei denen es keine klare Trennung zwischen A und X gibt. Kurz: JELINEK will gar kein Theater mit Schauspielern und Handlungsrollen, denn sie sieht sich nicht als Schöpferin eines fiktionalen Kosmos: Ich will nicht spielen und auch nicht anderen dabei zuschauen. Ich will auch nicht andere dazu bringen zu spielen. Leute sollen nicht etwas sagen und so tun, als ob sie lebten. […] Ich will nicht das Kräftespiel dieses ‚gut gefetteten Muskels‘ (Roland Barthes) aus Sprache und Bewegung – den sogenannten ‚Ausdruck‘ eines gelernten Schauspielers sehen. […] Der Schauspieler ahmt sinnlos den Menschen nach, er differenziert im Ausdruck und zerrt eine andere Person dabei aus seinem Mund hervor, die ein Schicksal hat, welches ausgebreitet wird. Ich will keine fremden Leute vor den Zuschauern zum Leben erwecken. Ich weiß auch nicht, aber ich will keinen sakralen Geschmack von göttlichem zum Leben Erwecken auf der Bühne haben. Ich will kein Theater.97
Stattdessen will sie schlicht Menschen, „Zivilisten“ auf der Bühne haben, die „sagen, was los ist“98 und damit genauso echt, fremd und vage sind wie die Zuschauer – eine unscharfe austauschbare Masse. JELINEKS Stücke und Inszenierungen schaffen es damit, das Ungleichgewicht zwischen Schauspielern und Zuschauern aufzuheben, wie es sonst im Theater üblich ist: Schauspieler geben eine Figur – „A’s Worte bedeuten hier X’s Worte“99 –, während die Zuschauer nicht spielen, d. h. echt sind. Kurz: In JELINEKS „Theater“ gibt es keine Figuren, sondern lediglich austauschbare Fremde, und dies sowohl auf den Brettern als auch auf dem Parkett und den Rängen. Hier bedeuten die Bretter keine Welt für nicht existente Charaktere, sondern sie sind lediglich der Ort, von dem aus sich die vielen oder einzelnen Stimmen an das Publikum richten. Die Sprechenden haben keinen signifikanten Körper bzw. ihre Opsis ist ohne Bedeutung, und doch wird durch die Personen auf der JELINEKSCHEN/SCHLEEFSCHEN Bühne versinnbildlicht, dass das Theater anders als der Roman und prinzipiell auch der Film ohne den menschlichen live anwesenden Körper nicht auskommt. Nun, wer sind diese Sprechenden in JELINEKS Stück, und wie treten sie bei SCHLEEF auf? SCHLEEFS Inszenierung wird von der Beschwerde der „Frau“ eröff95 Ebd., S. 149. 96 Fischer-Lichte, E.: Semiotik des Theaters. Band 1, S. 25. 97 Jelinek, Elfriede: Ich möchte seicht sein. www.elfriedejelinek.com (06.09.2011). 98 Ebd. 99 Fischer-Lichte, E.: Semiotik des Theaters. Band 1, S. 33.
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net, gesprochen mit reduzierter Mimik von Elisabeth RATH, die eine Rose hält, als stünde sie an einem Grab. In der literarischen Vorgabe hat sie Brüste, die sie „auch immer so beschwert haben“, und die ihr deshalb „nach hinten versetzt“ wurden, „weil vorn, inmitten all der Seufzer, einfach kein Platz mehr für sie war.“100 Statt zu kämpfen klagt diese postdramatische Amazone über die Sexualisierung der Frauen in den Medien und den Kampf ums beste Bild im Allgemeinen, dessen Opfer auch ihr Sohn Andi, ein verstorbener Leistungssportler, geworden ist. Ihr Klagen auf der Bühne könnte nach der Regieanweisung im literarischen Text begleitet sein von einem auf der Bühne eingeschalteten Fernsehgerät, „auf dem man Massen bei einer Sportveranstaltung toben sieht.“101 Obwohl die Kritik an der durch die Medien evozierten Sporthysterie und Homogenisierung der Massen das ganze Stück thematisch durchdringt und die Verbindung der Intertexte darstellt, gibt es auf SCHLEEFS Bühne keine elektrischen Medien.102 Stattdessen leisten allein das Sprechen der Sportlermutter und die assoziativen Entgegnungen des Chors die thematische Hinführung zur Verbindung von Sport und Krieg. Die Frau kämpft mit Worten gegen dieses medial erzeugte Pathos der körperlichen Ertüchtigung und den daraus entstehenden Starrummel an. Der Sport wird verstanden als ein Krieg für jedermann, beides zu Zeiten der Massenmedien ein quälendes und euphorisierendes Theater: Die Frau: Hat man verloren, wird der Patriotismus bestraft, denn ein anderes Land wird dann gewonnen haben. […] Wie rot die Kinderwangen der Zuschauer! Es macht ihnen Spaß! Endlich ein Sport, bei dem auch ich in meinem Alter noch mitmachen kann! Krieg! Krieg! Jubeln! Freuen! Frohlocken!103
Die Frau samt ihrer Haltung stößt die männlichen Sprechenden so sehr ab,104 dass diese sie nicht einmal in die Kategorie von etwas Drittem einordnen wie die der Amazonen im Mythos, sondern die ungute, unattraktive, ausgestoßene untote Frau gehört zu einer Art vierten Kategorie. In dem um 2000 medial pervertierten Amazonenmythos hat sie keinen Platz, denn die Idee von einem Frauenstaat ist der männlichen Phantasie anheimgefallen.
100 Jelinek, E.: Ein Sportstück. S. 111f. 101 Ebd., S. 17. 102 Aber auch die Verweigerung von Massenmedien auf der Bühne ist im Sinne der Autorin, die an dieser Stelle schreibt: „Man kann es aber auch ganz anders machen. Das ist nur eine Möglichkeit unter vielen anderen, jede ist mir recht.“ Ebd. 103 Ebd., S. 43. 104 „Megäre! So wie die aussieht, gar nicht zu den Frauen gehört sie und nennt Frauen doch Schwesterherzen! Unweiblich, vergeben Sie mir, unnatürlich, dem übrigen Geschlecht der Menschen fremd!“ Ebd., S. 49 (Rede des Opfers).
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Frau: Ein Frauenstaat, in dem keine Männerstimme mehr gehört wird. Dieser Frauenstaat besteht aus Frauen, von denen ich jetzt ein paar nenne: Claudia, Naomi, Helena, Christy, Amber, Brigitte und Susi. Sportler: Wo bitte ist dieser Staat, damit ich mich unverzüglich dort zum Dienst in der Fabrik melden kann, in welcher Menschen gemacht werden. […] Ich ewiger Jüngling würde mich solchen Frauen doch sofort zur Verfügung stellen! So eine will ich, und die dort auch! So eine Frau! Nie könnte ich die hassen! Wie könnte die mich zurichten! […] Alle diese Frauen, Claudia, Cindy, Amber, sind mir ja ohne Busen noch lieber als du mit zwei Brüsten! Wenn mir nur nicht Göttinnen erscheinen, die mich mit Hundeblicken zum Wahnsinn treiben! Das hätte mir noch gefehlt. Aber daß mich ein Foto verfolgt, ist gar nicht so unangenehm. Auf einem Foto ist es ganz normal, daß nur das Aussehen zählt.105
Das Auftreten von Elisabeth RATH, welche die Frau spricht, ist bei SCHLEEF ganz und gar antimedial: Weil sie kaum physische Reize einsetzt, ist sie, wie die anderen Sprecher ihr bestätigen, für die Medien völlig unattraktiv, und obwohl es doch einen Augenblick des physischen Kampfs gibt – wie eine Hündin fällt sie den Sportler an und zitiert Penthesilea: „Nun ists gut!“106 –, stellt sie lediglich die Dekonstruktion einer Amazone dar. Sie vermag niemanden mehr zu reizen oder zu entsetzen. Doch bei dieser Transformation des Mythos bleibt das Stück nicht stehen, sondern treibt ihn in der Rede der „alten Frau“ auf die Spitze: Hobby und Beruf dieser Amazone ist das Töten: „Ich arbeite ununterbrochen […]. Wenn ich nicht gerade töte, denke ich über das Töten nach oder übe es an primitiven Gegenständen. Ich töte, das ist die Dienstleistung, die ich produziere.“107 Diese von einem Mann gegebene Amazone wehrt sich augenscheinlich gegen die Sexualisierung, die den kämpferischen Frauen um 2000 in den Medien zuteilwird. JELINEKS/SCHLEEFS Amazonen weigern sich, in medialen Bildern zu verschwinden, die Bühne ist gänzlich frei von medienwirksamen Ikonografien, wie sie den Mythos so stark transformiert haben, dass heute ein neuer daraus geworden ist, in dem nur Models Platz haben. Hierin scheint auch die Entmythologisierungsarbeit auf, die JELINEK im Sinne von Roland BARTHES’ „Mythen des Alltags“ leistet. Als Mittel hierfür dient ihr die Sprachverfremdung, durch die sie „erstarrte Begriffsstrukturen […] bewusst macht“,108 indem sie sie assoziativ, rhythmisch und zitativ verfremdet.109 Die inten-
105 Ebd., S. 118f. 106 Elfriede Jelinek: Ein Sportstück. Aufführung des Wiener Burgtheater im Schiller Theater Berlin. Regie: E. Schleef. Teil 2, 01:58:52. 107 Jelinek, E.: Ein Sportstück. S. 76. 108 Meurer, P.: Theatrale Räume. S. 113.
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dierte Entmythologisierung in den untersuchten Romanen besonders von FIOLKA zielt darauf ab, den mythischen Figuren eine Plausibilität zuzuschreiben, so dass sich die Leser – z. B. über eine vermittelte Innenperspektive oder via von einem Erzähler berichteten Begegnungen der modernen Romanfiguren mit alten Heroen und mythischen Frauenfiguren – vorstellen können, dass hinter den Mythen einmal historische Figuren existiert haben. JELINEKS Entmythologisierungsarbeit zielt nicht auf Plausibilitätserzeugung ab, sondern auf die kritische Beleuchtung der Umstände, wie sich Trivialmythen und Ideologien der Gegenwart entwickelt haben bzw. entwickeln. Mit gutem Recht kann, wie besonders die Analyse der Hollywoodfilme in dieser Arbeit gezeigt hat, behauptet werden, dass der Amazonenmythos sich zu einem solchen Trivialmythos transformiert hat. Zurückgehen mag dies auf die neuen technischen Möglichkeiten der audiovisuellen Medien und auch auf die Bilderflut in den Massenmedien, die menschliche Leitbilder – wie die Models, die nun bei JELINEK den Frauenstaat bewohnen – formen. Nach BARTHES gilt es, die „Natürlichkeit“ von Leitbildern110 und Ideologien kritisch zu hinterfragen, denn im Grunde sei ihre „Wirklichkeit“ historisch und damit sprachlich indiziert.111 Indem JELINEK darauf rekurriert, heißt Entmythologisierung bei ihr, Mythen und Sprachgewohnheiten zu unterlaufen. Dabei entwirft JELINEK selbst Konnotationen, bei denen, wie Annette DOLL zusammenfasst, „eine sekundäre Bedeutung entsteht, weil das Zeichen eines bestimmten Zeichensystems in seiner Gesamtheit, also als Signifikat, in einem zweiten Zeichensystem, z. B. in einem literarischen Text, neue, d. h. konnotative Bedeutung annimmt.“112 Übergeordnet konnotiert sie hier Sport und Krieg, wie sich etwa bei der „alten Frau“ zeigt, der brutalsten Amazone im Stück, in der sich der Sport im zweiten Zeichensystem als Töten manifestiert. Im literarischen System von JELINEK ist der Sport kein Sport mehr, sondern für die erfundenen „Figuren“ ist er fast natürlich, d. h. unbemerkt, zum Kampf geworden, der die ursprüngliche Bedeutung, etwa von bloßer Leibesertüchtigung und Spiel, völlig abgelöst hat, ohne dass das von den in diesem Kosmos lebenden Personen hinterfragt würde: Sport – hier in Assoziation mit Schwimmen oder (Auf-)Tauchen – ist in dieser Fiktion Mord geworden:
109 Assoziativ verfremdend z. B.: Elfi Elektra: „Daß auch Körper gebildet sein können, habe ich nicht gewußt. Schad, daß ihnen dafür der Sinn für Tiefe abhanden kam, ausgenommen: Taucher.“ Jelinek, E.: Ein Sportstück. S. 13. 110 In Jelineks Ein Sportstück auch ganz konkret die medialen Vorbilder, welche die Frau braucht: „Über mich weiß ich leider noch nichts, muß warten, bis mein Vorbild auf dem Bildschirm auftaucht.“ Jelinek, E.: Ein Sportstück. S. 53. 111 Vgl.: Barthes, Roland: Mythen des Alltags. Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974. S. 7. 112 Doll, Annette: Mythos, Natur und Geschichte bei Elfriede Jelinek. Eine Untersuchung ihrer literarischen Intentionen. Stuttgart: M und P 1994. S. 39.
E TWAS DRITTES UND AUCH V IERTES: A MAZONEN IM T HEATER
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Die alte Frau: […] Das Töten ist einfach mein Lieblingssport, bei dem sich Schweiß mit Blut und Exkrementen verbindet. Später werde ich vielleicht andere Sportarten ausüben, bei denen ich sauber bleiben kann. Noch aber bohre ich mich in den anderen hinein wie ein Torpedo. Ist beim Golf, beim Segeln, beim Tennis, die Berührung mit einem anderen Körper bereits vollkommen unnötig geworden, so übe ich meine Lieblingssportart, das Töten, ja geradezu inmitten eines anderen Körpers aus. Ich plansche in ihm herum.113
Diese Konnotation ist rein sprachlich vermittelt und auf der Bühne nicht in kausale visuelle Bühnenhandlung überführt, d. h. es wird nicht figural dargestellt, wie die Amazone ihren Lieblingssport ausübt. Damit ist JELINEKS Stück stark prosaisch und nur schwer als Schauspiel zu inszenieren, weil die Opsis der Lexis nachsteht. JELINEKS Sprachspiele, die das zur Selbstverständlichkeit Gewordene enttarnen, wären ebenso gut in einem Roman aufgehoben, im Film adaptiert dagegen nahezu undenkbar, weil schlicht das „Spiel“ fehlt. Auch im Theater sind die Talking Heads eine Herausforderung,114 die SCHLEEFS Inszenierung dadurch annimmt, dass der Sport als nicht-narratives Bewegungselement von großer sinnlich-ausstrahlender Intensität die sprachlichen Performanzen miteinander verbindet.
113 Jelinek, E.: Ein Sportstück. S. 85. Bei Schleef: Elfriede Jelinek: Ein Sportstück. Aufführung des Wiener Burgtheater im Schiller Theater Berlin. Regie: E. Schleef. Teil 2, 00:13:26. 114 „Wenn ein Theatertext kein Situationsgerüst bietet und die Figuren nur hybride Sprecher sind – in der postmodernen Prosa längst etabliert, wenn nicht gar schon wieder verbraucht –, ist er für das Theater als ‚textverarbeitenden‘ Apparat immer eine Herausforderung; die Bühnen konnten sie für Elfriede Jelineks Texte noch nicht befriedigend bewältigen.“ Meurer, P.: Theatrale Räume. S. 144.
4. Resümee Sagenhaft emanzipierte Frauen
Der Amazonemythos hat in den ästhetischen Umsetzungen um 2000 eine meist medial bedingte Transformation erfahren. Besonders der Film emanzipiert sich von dem alten Mythos um das Frauenvolk und von seiner patriarchalen Funktionalisierung. Moderne filmische Amazonen haben nicht mehr viel gemein mit ihren antiken Vorbildern. Was sie noch miteinander verbindet, ist ihre Kampfkraft und ihr alternativer Lebensentwurf samt der damit einhergehenden Faszination für sie. Aus einer feministischen Perspektive heraus1 muss diese Popularisierung und Betonung des Schauwerts eines solchen Frauentyps nicht unbedingt beklagenswert sein. Denn die modernen Film-Amazonen sind ihren antiken Schwestern insofern überlegen, als dass sie am Ende der jeweiligen Geschichten nicht unterliegen, um einen männlichen Heros zu bestätigen. In den untersuchten Filmen sind sie – mit der Ausnahme von Sumuru und Toter Mann2 – selbst die Heldinnen und haben nicht wie Antiope, Hippolyte oder Penthesilea3 ihren Sinn im Scheitern. Im Actionfilm obsiegt die alternative Weiblichkeit; die unabhängigen Frauen Kiddo und Lara Croft schlagen sich mit artifiziell ausgestalteten Kampftechniken ans Ziel. Im Gegensatz zu den Amazonen im Roman fehlt den filmischen Amazonen die abstoßende Komponente, ihre Andersartigkeit wird visuell attraktiv ausgestaltet. Die teilweise grausamen Taten lassen sie nicht als Monster erscheinen, sondern sind entweder wie im Thriller gerechtfertigt und nachvollziehbar, oder wie bei TARANTINO kunstvoll komponiert. In solchen Kompositionen werden die Amazonen oft in Kulissen gesetzt, die ein anderes Medium oder die Fiktionalität und Ästhetik des eigenen Mediums reflektieren. Kiddo und Lara Croft kämpfen wie in einem Tanztheater, Erica Bain ist die Stimme einer New Yorker Radiosendung, und Sid1 2
Die hier, unter der Fragestellung der Medienkonkurrenz, nicht näher verfolgt wurde. Wobei Leyla letztlich doch ihre Rache bekommt, und sei es mit der intentionalen Hilfe des Täters/Vergewaltigers, der unter Einsicht und Reue zum Opfer wird.
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Und auch ihre Adaptionen in mythologischen Romanen wie von Fiolka und Pressfield.
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ney Prescott muss nicht nur ihren Antagonisten unter anderem auf einer Theaterbühne im College niederstrecken,4 sondern wird gleich ganz in Bilder kadriert, die einem Gemälde nachempfunden sind. In der Medienkonkurrenz um 2000 bedient der Mythos der Amazonen damit einerseits das Thema Gewalt, welches die Aufmerksamkeit des hart umkämpften Publikums auf sich zieht, und andererseits auch die Strategie der Intermedialität: Indem die Amazonen nicht nur insgesamt durch die Medien wandern bzw. sich durchkämpfen, sondern auch innerhalb der einzelnen Filmprodukte Anleihen aus anderen Medien nehmen, ziehen sie ein breites, divers künstlerisch interessiertes Publikum an. Die Amazonen im Roman dienen sogar explizit einem emanzipatorischen Programm, indem sie eine matriarchale Gesellschaft fordern und durch die Augen amazonischer Frauen dem Leser die Notwendigkeit dafür darlegen. Auch die Gattung des Romans hat sich folglich vom alten Kern des Mythos befreit und ihn für aktuelle Zwecke umformuliert. Dies gilt teilweise sogar in den pseudohistorischen Romanen, die den Mythos „entmystifizieren“, d. h. als Wahrheit auslegen wollen. Wie der Amazonenmythos einst am Rand der Heldensagen stand und nur bruchstückhaft überliefert ist, so variabel ist er heute. In der Medienkonkurrenz bedeutet das, dass die verschiedenen Umsetzungen ihn gemäß ihrer jeweiligen Potenziale tradieren oder transformieren: Der Roman beschreibt etwa infernalische amazonische Schlachten oder gestaltet moderne Geschlechterkämpfe aus. Dabei erfüllt die alternative Lebensform der literarischen Amazonenfiguren für die Leserinnen eine hauptsächlich eskapistische Funktion. Der Film verankert bzw. depotenziert den Mythos dagegen über die Gegensätzlichkeit amazonischer Schönheit im Bild versus ihrer artifiziellen und teilweise gnadenlosen Kampfkraft (Kill Bill). Das Theater immerhin tradiert den Mythos auf eine Weise, die die antiken Einzelmythen noch erkennen lassen – wenn auch wie bei KLEIST transformiert, indem Penthesilea Achill zu Tode beißt und nicht umgekehrt von ihm niedergestreckt wird. Allerdings findet dies in der Präsenz der Bühne rein narrativ statt, die Gewalttätigkeit der Amazone bleibt wie in der Romanrezeption der Phantasie überlassen – welche oft, so hat vor allem die Untersuchung der Ekelromane herausgestellt, die tiefsten Abgründe aufschürft.
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Scream 2. Regie: Wes Craven. USA 1997. 01:30:20.
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Schlussbetrachtung Mediale Erregungspotenziale um 2000
Abschließend stellt sich die Frage, ob es für das große Feld der drei KünsteDimensionen mal den drei konkurrierenden medialen Formen Roman, Film und Theater überhaupt einen gemeinsamen Nenner unter der Fragestellung der zeitgenössischen Medienkonkurrenzen auszumachen gibt. Wie sich in der Analyse des Materialkorpus gezeigt hat, ist allen untersuchten Werken und Theateraufführungen der nur auf den ersten Blick sehr different erscheinenden Dimensionen eine künstlerische, inhaltliche wie medialformale Intensität in Kontrast zur Ästhetisierung des reinen Schönen, Lieblichen gemeinsam. Kunst will mehr denn je in der medialen Informationsflut um 2000 intensive Rezeptionserlebnisse jenseits von Tabugrenzen bescheren, um im Kampf um ein knappes Gut zu bestehen: Aufmerksamkeit. Dies scheint einer Zeittendenz geschuldet, die der Soziologe Christoph TÜRCKE übergeordnet als „Erregte Gesellschaft“ bezeichnet. Diese Gesellschaft ist durch massive wissenschaftliche, technische, soziale, politische und religiöse Veränderungen in nur wenigen Dekaden stark in Unruhe geraten. In jener Flut von neuen Eindrücken und massenmedialen Reizen ist „bleibende Empfindung und Wahrnehmung“ nur noch möglich, indem Kunstwerke durch besonders starke Erregungen aus der Masse hervorstechen, „Sensation machen“.1 Die Fragestellung der Medienkonkurrenz ist vor diesem Hintergrund um 2000 so brisant wie nie zuvor, denn der Sog, in den Medien und Künste geraten, hat auch besorgniserregenden Charakter, folgt man TÜRCKE: Möglichereweise gibt es bald keine ästhetische Wahrnehmung jenseits des Extremen mehr, so dass „der Extremfall von Wahrnehmung zum Normalfall“2 in den Künsten und Medien wird. Diesen soziologischen Befund verifizierend, wurde in der ersten Dimension des Ekelaffekts deutlich, dass es Roman, Film und Theater gleichermaßen nicht allein daran gelegen ist, Figuren darzustellen oder sprachlich zu beschreiben, die sich 1
Türcke, Ch.: Erregte Gesellschaft. S. 8.
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Ebd., S. 18.
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ekeln, sondern der Degout soll sich auf den Zuschauer und Leser übertragen und somit zur öffentlichen Attraktion werden – bis hin zur Skandalisierung, Zensurversuchen (Orgien Mysterien Theater von NITSCH; das in Being Lawinky umbenannte Stück, dessen Premiere den Kritiker so stark affizierte, dass eine Quasi-Zensur erwirkt wurde; CHANS Dumplings in China) und zur Stilisierung als „Geheimtipp“ (PÁLFIS Taxidermia). Die international tendenziell tabuisierte Ekelkunst scheint in ihrem Export nach Deutschland auf fruchtbaren Boden zu treffen – bis hin zu Filmfestivals wie der Berlinale (Dumplings). Umgekehrt hat z. B. Roches Feuchtgebiete internationalen Anklang gefunden und wurde unter anderem in Südkorea, Taiwan und Großbritannien veröffentlicht.3 Doch die Popularisierung von AffekteEvokationen beschränkt sich nicht auf diese erste zu untersuchende Dimension, sondern findet sich auch in der Darstellung des ökonomisch Prekären und in den Schreckensdarstellungen des Amazonenmythos wieder. Es scheint ein Bedürfnis in der Gesellschaft um 2000 zu geben,4 sich in den Sphären der Kunst zu erregen, wo dies – abseits der Hygenisierungsbewegung und moralisch-juristischen Gewalttabuisierung auf realer Ebene – gestattet und erwünscht ist. Vor dem Ekelaffekt nivellieren sich gar soziale Unterschiede, d. h. diese vitalaffektive Störung kann universell von allen Menschen erlebt und geteilt werden und bietet folglich viele kommunikative Anschlüsse. Das Phänomen ist deshalb auch für trivialästhetische Umsetzungen offen, die eine größere öffentliche Aufmerksamkeit generieren als meist das Theater, das sich als Hochkulturgut um 2000 wiederum die Trivialisierung nicht so sehr leisten kann. Die signifikante Skandalisierung von Ekel-Romanen, wie besonders ROCHES Feuchtgebiete oder die Nestbeschmutzerdebatte um JELINEKS affizierende Literatur, deutet darauf hin, dass resümierend eine Exponierung der Kunst des Romans bezüglich affektiver Intensitäten festzuhalten ist. Tatsächlich ist hier eine genuine Besonderheit in der Nachhaltigkeit derartiger Perzeptionserlebnisse festzustellen: Ein nicht von anderen Medien adaptierter Roman ist ausnahmslos von der Imaginationsfähigkeit und -tätigkeit des Lesers abhängig, die Bilder, die sprachlich evoziert sind, in sich selbst aufsteigen zu lassen. Diese über die Abgründe in der eigenen Vorstellungswelt quasi selbsterzeugten Bilder grenzen sich deutlich von den in der Rezeption „fertigen“, d. h. determinierten und montierten Bildern, im Film ab. Die perzeptive Intensität gelingt dem Roman aber nicht zuletzt durch eine Anpassung der sprachlichen Medialität an die Simplizität der Rezeption technischer Bilder. Die Sprache des Romans um 2000 drängt sich wie der Bilderschock dem Auge auf,5 muss formal wie inhaltlich einfach zu fassen sein. Durch die Konkurrenz der Medien (auch der faktualen) entsteht folglich eine neue Ästhetik der Schriftprodukte, die 3
Quelle: www.spiegel.de/spiegel/print/d-57223344.html (05.07.2013).
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Vgl. besonders: Türcke, Ch.: Erregte Gesellschaft.
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Ebd., S. 292.
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sich in Ansätzen der zeitgenössischen Filmästhetik versucht anzupassen. Allerdings wird sich der Roman in seiner medialen Form des schriftsprachlichen Buchs freilich nie von der „Knechtschaft der Buchstabenfolge“6 befreien können, wohl aber wird er immer massiver versuchen, ein spontanes Lesevergnügen und intensive Perzeptionserlebnisse zu evozieren. Der Film dagegen – und das wird der schriftsprachliche Roman ohne Bebilderung wohl nie erreichen – kann auf einer vorsprachlichen Ebene Intensität erzeugen. Filme wie Dumplings und Das Parfum weisen die Spezifität auf, bereits in der technischen Umsetzung ekelerregend sein zu können, wenn z. B. die Kamera in ein Abjekt hineinfährt, oder wenn die Montage falsche Anschlüsse generiert oder Ekelszenerien derart rasch schneidet, dass sie Schwindel erregen und das Gefühl der Nausea simulieren. Auch die Schuss-Gegenschuss-Technik (das Bild einer affizierten Person wird dem Bild des Abjekts vorangestellt) hat Das Schweigen der Lämmer zum „Kult-Schocker“ avancieren lassen, ohne die Ekelhaftigkeiten deutlich ins Bild zu rücken. Das Ekeltheater dagegen scheint seinen Weg nur dann in die breite Öffentlichkeit zu finden, wenn es die Empörung eines bekannten Feuilletonisten geschürt hat, der seine eigenen Beschmutzungsgefühle einem dispersen Publikum zugänglich macht im Gegensatz zur ansonsten per se geringen Reichweite des Theaters. Das mag daran liegen, dass sich die körperliche Performanz eines Affekts lediglich für Millisekunden im Gesicht eines Darstellers und in den Gesichtern des Theaterpublikums spiegelt, wohingegen die sprachliche Beschreibung länger andauert und mehrfach rezipiert werden kann. Zudem ist sie meist diffiziler und nicht von der Zumutbarkeit für die Schauspielkörper abhängig, weshalb die sprachlichen Beschreibungen von Abjekten und die durch sie ausgelösten Affekte keinen Beschränkungen in Nähe und Dauer unterworfen sind. Vergleichbares konnte insgesamt für die künstlerische Umsetzung der Bankenkrise festgestellt werden. Soweit dies für ein Laienpublikum möglich ist, vermitteln die Erzählinstanzen im Roman den anderen Figuren sowie den Lesern ein – wenn auch meist figural determiniertes – Hintergrundwissen über die Mechanismen der Krise. Dies geschieht bisweilen, wie in WILLS Bad Banker, in einem Ausmaß und in einer faktualen Dichte, die jene Passagen mit journalistischen Texten konkurrieren lassen. Das Erklären bzw. Reflektieren im fiktionalen Akt des Schreibens scheint in der Verarbeitung der ökonomischen Makrokrise wie der daraus resultierenden virilen Mikrokrisen eine wichtige Bewältigungsstrategie mit oft therapeutischer Funktion (wie bei ÓSKARSSON, KIRCHHOFF, MAGNUSSON und WILL) zu sein. Aber auch sprachliche Rhythmik und narrative Strategien auktorialer Erzähler können dem Leser ein tiefschichtiges stimmungsbezogenes Begreifen der Krise jenseits von rationalen journalistischen Erklärungsstrategien ermöglichen. Die Vermittlung einer abstrakten, globalen Krisenstimmung im Gegensatz zu den romanesken sub6
Ebd.
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jektiven Stimmungs„bildern“ scheint aber vorwiegend die Aufgabe filmischer Deutungen zu sein. Leuchtende Börsencharts und diverse, in rasanten Schnittfolgen nicht genauer auszumachende Kurse und Indexmarker rauschen in bodenlose Tiefen, und an Bildschirmen werden abstrakte Finanztransaktionen getätigt – all das sind Versuche, die Krise und ihr naturgemäßes Tief zu visualisieren, nicht aber sie zu erklären. Filmische Erklärungsmomente ökonomischer Mechanismen beschränken sich auf knappe, stakkatoartige Redeakte, die das dialogische Pendant zu den rasant geschnittenen Bildern von fallenden Aktienkursen sind. Der Publikumsfilm hat aufgrund seiner medialen und kulturellen Implikation schlicht keine Zeit für diverse Erklärungsmodelle, wie der Leser sie im Roman aufgefächert bekommt. Stattdessen wird der Filmzuschauer visuell in eine ihm meist fremde Luxuskulisse „versetzt“ und entwickelt dadurch vielfach – wie die Reaktionen des Publikums besonders des ersten Teils von Wall Street zeigen – eine empathische Faszination für die Finanztäter in der realistischen Filmkulisse. Der Zuschauer der Filme über die Bankenkrise wird anders als in den Filmen über die kausale Wirtschaftskrise nicht zur Reflexion angeregt oder gar wie im Theater aufgefordert, sondern vielmehr auf vorbewusster Ebene durch die medialen Implikationen im realistischen Paradigma dazu animiert, die Objekte der Finanzwelt – besonders Gordon Gekko in der filmisch-realen Luxuskulisse – einfühlend zu bewundern. Eine derartige „Fehlwirkung“ von Kunst ist im Theater der Krise, wie die Analyse bestätigt hat, weitaus weniger wahrscheinlich. In der Aufklärung und Agitation durch die teilweise figuralen, teilweise postdramatischen Akteure wird das Theaterpublikum mit stereotypen Fakten und unmittelbar darauffolgenden Deutungen konfrontiert bzw. zur eigeninitiativen Deutung aufgefordert. Für die gesellschaftspolitische Dimension im Realitätsindex der von Produktion, Produkt und Rezeption geteilten globalen Krise gilt folglich, dass die Kunst die Wirklichkeit nicht nur deutet und erklärt, sondern ebenso, wenn auch auf einer weniger vitalaffektiven Ebene, das Potenzial hat, die „Welt- und Selbstverhältnisse der Subjekte“ zu tangieren.7 Wirklichkeitsverhältnisse mit negativem Vorzeichen hinterlassen, wie die Untersuchung vorherrschend gezeigt hat, auch in den ästhetischen Gestaltungsweisen Spuren, die von den medialen Implikationen bedingt sind. Für die Romane in Folge der Krise seit 2008 wurde eine Betonung der Relevanz des Schreibens in seiner intimsten Form festgestellt. In den zahlreichen romanesken Verarbeitungen der ökonomischen Zäsur hat sich die Gattung mittels häufiger IchFokalisierung auf ihre ursprüngliche sprachliche Materialität quasi zurückgezogen, um ganz im Sinne von KUNDERA und LUKÁCS psychische und damit auch gesellschaftspolitische Enthüllungen zu gewähren. Auch in den extradiegetischen Narrationen spielt die Schrift eine nicht minder große Rolle, entweder als enthüllender Drohbrief in LANCHESTERS Kapital oder gar als „Waffe“ in den Händen von Jour7
Karpenstein-Eßbach, Christa: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. S. 294.
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nalisten, die sich schreibend dem wahren Kern der Krise und dem inneren Kreis der Finanztäter nähern, wie in WILLS Bad Banker. Auch im Film hat die reale Krise eine spezifische Ästhetik kondensiert, erstens in der visuellen Adaption der Abstrakta der Finanzströme (wie in der Nick-LeesonStory, in Wall Street 2 und in Margin Call) und zweitens in der visuellen Konkretisierung der Folgen jener Abstrakta in der wirtschaftlichen Realität von leeren Büros und zahlreichen Kündigungen (Company Men und Up in the Air). Für das ästhetische Empfinden der Zuschauer ergibt sich folglich ein konträrer Modus zwischen zwei Extremen: Auf der einen Seite die perzeptive Erkenntnis, der Bankenkrise filmisch nur bezüglich von Stimmungsbildern und Indexen folgen zu können, d. h. die eigene Laienrezeption verdeutlicht zu bekommen, kein innerer Teil des Finanzsystems, wohl aber dessen ratloses Opfer zu sein. Auf der anderen Seite klären die beiden letztuntersuchten Filme dieser Dimension über die konkreten, durchaus realen Folgen in Amerika auf, wobei der Film seine ursprüngliche photographische Fähigkeit nutzt, Ausschnitte der Realität abbilden zu können. Für den Film um 2000 wurde festgestellt, dass er aufgrund der Möglichkeiten von digitaler Bearbeitung am Computer zwar an medialem Authentizitätsanspruch verloren hat, dafür dennoch im Modus der Problematisierung sozialer Lagen, wie der Arbeitslosigkeit in Folge der Krise, seinem ältesten Potenzial, der photographischen Implikation, treu bleibt: In der zweiten Dimension kadriert er reale Bilder (verlassene Werften, Nachrichtenbeiträge oder Aufnahmen der Wall Street) und gibt sich über halbtotale Kameraeinstellungen und entsprechende Montagetechnik einen dokumentarischen Anstrich. In Film und Roman findet meist8 keine generelle Verurteilung der Banker statt, sondern vielmehr werden sie dem Romanleser in ihrer individuellen Subjektivität beschrieben und dem Filmzuschauer – außer im Paradigma des Zeitbildes nach DELEUZE (Der große Crash – Margin Call) – gar als bewundernswerte Objekte, die Aufregendes erleben und im Luxus schwelgen, präsentiert. Hier werden die beiden Extreme der medialen Implikation der Abwesenheit des Körpers in der Sprache und der Anwesenheit des Körpers in einer filmischen Kulisse evident. Im ökonomischen Theater ist meist beides nicht der Fall: Weder identifiziert sich der Zuschauer über die Sprache mit den Subjekten, noch steigen die präsenten Körper vor ihm als bewundernswerte Objekte auf. Die Krisenzäsur hat vielmehr eine theatrale Sprachmodalität gefördert, die für diese Stücke das Ende der pragmatischen Dialogizität im Theater markiert: Die Akteure kreisen überwiegend um ihre individuelle Mikrokrise bzw. um ihre Gier; Interaktion findet nicht statt und Selbsthinterfragung bleibt auf Klischees mit Realitätsindex determiniert, die zirkulär strukturiert sind, d. h. meist keine dramatische Entwicklung der Akteure des Finanzsystems zulassen. Eine wichtige Funktion im Theater der Krise erfüllt die oft hinzugefügte moralische In8
Mit Ausnahme der klaren moralischen Kategorisierungen in Wills Bad Banker.
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stanz: Sie weist über das Schüren von Entsetzen jene Teile des Publikums, denen es entgangen sein mag, darauf hin, dass in diesen Zeiten jeder um seine eigene Mikrokrise und Gier oszilliert, was kumuliert unsere gesellschaftliche Realität in einer Art und Weise prägt, die nicht hinzunehmen ist. Das Entsetzen, das in VEIELS quasidokumentarischem Stück geschürt wird, gelangt gar bis an die Spitze der Politik: Bundeskanzlerin Angela MERKEL verweist in ihrer Empörung über die Telefonmitschnitte von irischen Bankern, die den Einsatz deutscher Steuergelder zur Rettung der Anglo Irish Bank verhöhnen, auf die „bankenübergreifende“ Tonalität, die sie bereits im Stück Das Himbeerreich als verachtungswürdig empfunden habe.9 Den künstlerischen Krisengestaltungen wie auch den faktualen Erklärungen von Bankern10 ist meist ein anthropologisches Erklärungsmoment inhärent: Die Gier der menschlichen Gattung wird als die Ursache der Krise ausgemacht. Während die moralische Instanz hierüber Empörung schürt, verschafft die Gier den realen wie fiktionalen Bankern vermeintliche Entlastung: „Da alle Menschen gierig sind, haben die gierigen Banker nur getan, was jeder andere an ihrer Stelle gemacht hätte.“11 In der Summe gilt diese „Entlastung“ für ein Gros der literarischen Subjekte wie filmischen Objekte, nicht aber für die Sündenböcke bzw. Platzhalter auf der Theaterbühne. Ihre Präsenz wird im Gegenteil dafür instrumentalisiert, Emotionen zu kanalisieren und auch Jahre nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers die Erschütterung des kapitalistischen Systems in der Bühnenrealität wiederzubeleben oder aufrechtzuerhalten. Für die interviewten realen Banker gilt dagegen nach HONEGGER et al., dass ihre Konsternierung und Nachdenklichkeit bereits nach ein paar Wochen wieder in das einstige unerschütterliche Selbstbewusstsein zurückgeführt wurde.12 Ihr Selbstvertrauen wurde durch die staatlichen BankenRettungsmaßnahmen gar noch gestärkt, da sie hierdurch als unverzichtbar, als too big to fail, ausgewiesen wurden. Dieser Vergleich von Realität und Kunst offenbart die politische Implikation von Kunst in ihren jeweiligen verschiedenen medialen Möglichkeiten: Kunst erfüllt in der zweiten untersuchten Dimension die Funktion eines Gedächtnisspeichers und eines Metagewissens, das auch dann noch bestehen bleibt, wenn die journalistische Berichterstattung und Proteste wie Occupy verstummt sind. Durch sie wird die Schuld der Finanzakteure nicht nur vergegenwärtigt, sondern im übertragenen Sinne sogar gestundet: Was die realen Finanztäter rasch verdrängten, werden Roman, Film und Theater als Erzählungen und Darstellungen der Ursachen der Krise in die 9
www.spiegel.de/politik/deutschland/kanzlerin-angela-merkel-kritisiert-ex-manager-deranglo-irish-bank-a-908285.html (02.07.2013).
10 Vgl.: C. Honegger, S. Neckel und Ch. Magnin: Schlussbetrachtung. In: Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt. Hg. v. dens. S. 305. 11 Ebd. 12 Ebd., S. 309f.
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Zukunft tragen bzw. auch Jahre später noch aufführen, wie VEIELS Stück von 2013 und nicht zuletzt der große Zuschauerandrang belegt. Theater lässt nicht locker, die Banker zu enttarnen und das als undemokratisch ausgemachte Verfügen über Steuergelder zur Bankenrettung anzuprangern. Das große Interesse an ästhetischen Darstellungen der Krise weist gesellschaftspolitische Erregung als eine Strategie in der Medienkonkurrenz aus, die eine Inszenierung des JELINEK-Stücks Die Kontrakte des Kaufmanns sogar in das Abendprogramm eines überregionalen TV-Senders gebracht hat. Die Ergebnisse der Untersuchung bestätigen das politische Wirkungspotenzial von Kunst,13 das zwar transmedial ist, sich aber zwischen den Medien dennoch unterscheidet. Die Medien mit ihren jeweiligen Potenzialen „verändern die Art und Weise, auf die wir die Welt sehen und von ihr erzählen, und sie verändern infolgedessen die Welt.“14 Die politische Bedeutung von Medien – nicht nur in ihrer faktualen, sondern zunehmend auch in ihrer fiktionalästhetischen Funktion – wird darin deutlich, dass das Thema Krisen jedweder Art um 2000 Konjunktur hat. Der Börsencrash von 2007/‘08 hat das Thema auf die Agenda gebracht, danach ist das mediale und öffentliche Interesse an Krisenthemen keineswegs abgeflaut, sondern hat sich vielmehr von der Finanzkrise zur Wirtschaftskrise zur Staatsschuldenkrise (in Griechenland, fortgesetzt in Irland, Portugal, Italien und Spanien) und schließlich zur Währungskrise in der Europäischen Union ausgewachsen. Die ökonomischen Ursachen dieser Krise und Folgekrisen sind so komplex, dass selbst fachwissenschaftliche Betrachtungen sie noch nicht vollständig durchdrungen haben und ihre Folgen zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar sind.15 Werden die freie Marktwirtschaft und die europäische Währungsunion die scheinbar nicht enden wollende Krisenabfolge überhaupt überstehen? In der Bewältigung dieser Zukunftsunsicherheiten scheint das mediale Krisennarrativ eine gesellschaftliche Funktion zu erfüllen. Auch Lebensmittelkrisen, Naturkatastrophen, Atomkrise, Terror, Folter und vieles mehr weisen das Krisenmoment und seine Folgen generell als ein Kampfthema in der Konkurrenz um Aufmerksamkeit, um mediale Erregung, aus. Dies widerlegt eine (wie auch immer begründete) öffentliche Politikverdrossenheit. Heute hat sich das politische Interesse stark auf das Gebiet der (Populär-) Kultur verlagert und ist auf die unterschiedlichen Deutungen angewiesen, die die Medien den Krisen und politischen Ereignissen geben (können): Die besondere Leistung der Literatur besteht darin, die verschiedenen Wertorientierungen (wie besonders in den drei Ich-Fokalisierungen in MAGNUSSONS Das war ich nicht) mitei13 Vgl. hierzu die Schlussbetrachtung Was heißt Kulturwissenschaft der Medien von Karpenstein-Eßbach, Ch.: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. 14 Butor, M.: Probleme des Romans. S. 64. 15 Vgl.: Koch, K.-J.; Jung, A.: Wahrnehmung und Folgen ökonomischer Krisen. In: Die Krise als Erzählung. Hg. v. U. Fenske et al. S. 333.
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nander zu konfrontieren und dadurch Reibungen zu evozieren. Im Film werden dagegen oft populäre Helden geschaffen, weil ihre Körperlichkeit als Star eine kritische Auseinandersetzung mit der Position seiner Figur verhindert. Im Theater kann diesem Phänomen unmittelbar entgegengewirkt werden, indem das Publikum durch eine moralische Instanz gegen bestimmte Figuren bzw. Personen und Positionen aufgewiegelt wird. Oft ist dies die Figur des Chors, eine Wiederbelebung des im antiken Theater bedeutenden Elements, das meinungsbildend, nicht aber identifikatorisch wirken kann. In VEIELS Stück erfüllt der Chor die alte Funktion, all das Hintergründige, Psychische, Vergangene auszudrücken, das die Finanztäter nicht zu sagen vermögen. Bei JELINEK stellt er lautstark die Repräsentationskrise der Sprache aus und steht für alle Teile der Gesellschaft, Akteure und Zuschauer, die die Krise nicht erklären können. Die Akteure im revolutionären Theater von RICHTER aus Versatzstücken von Büchner schüren dagegen in ihren Sprechchören programmatisch Empörung, markieren im simultanen Formulieren von Streitsätzen und Pamphleten die reale Handlungsnotwendigkeit. Mehr noch als beim griechischen Chor werden hier moralische Vorstellungen nicht nur untermauert, sondern in der feedback-Schleife mit Emotionen aufgeladen. Besonders in den untersuchten theatralen Inszenierungen der Krisenthematik scheint also das Erregungspotenzial von Kunst auf, über das Medien ihre politische Dimension entfalten können. Daneben wurde in der dritten untersuchten Dimension eine ästhetische „Politisierung von Weltbildern über einen mythischen Fundus“16 ausgemacht, die transmedial ist und gemäß den jeweiligen medialen Potenzialen divergiert. In den Ekelaffektionen in Roman, Film und Theater zeichnen sich die aktuell sehr ausgeprägten Unsicherheiten bezüglich der Hygienestandards in einer Zeit ab, in der nicht mehr allein der weibliche, sondern zunehmend auch der männliche Körper keim- und geruchfrei sein soll, um jegliche Verbindung zu vermeintlichen Ekelgefühlen zu kappen. HOUELLEBECQS Ausweitung der Kampfzone versucht entsprechend nachzuweisen, dass man sich in der sozialen Konkurrenz der liberalisierten Gesellschaft nur auf diese Weise, selbst ein Objekt der Schönheit zu sein, durchsetzen kann. Dies konvergiert sehr auffällig mit der Motivlage der Amazonenfiguren um 2000. Sie stehen ebenfalls für eine aktuelle Verunsicherung, nur begegnen sie dieser vor allem im Film nicht allein mit Abstoßung, sondern vor allem auch mittels ihrer übersteigerten Schönheit. In der Untersuchung haben sich die modernen Amazonen als ein Indikator für die aktuelle Verwirrung der Geschlechterrollen im Zuge einer Emanzipationsbewegung erwiesen, die in den letzten Jahrzehnten viel bewirkt hat, jedoch in der neuen Austarierung des Verhältnisses von Frausein und Mannsein noch lange nicht zu einer Befriedung gekommen ist. Wie in der Ekeldimension fördert die reale Verunsicherung eine kulturelle Erregungsbereitschaft in den Ersatzperzeptionen der Kunst. Dabei liegt die besondere Eigenschaft der mythischen Ge16 Karpenstein-Eßbach, Ch.: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. S. 296.
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stalt aber nicht mehr wie einst in ihrer Einigkeit von Subjektivität und Handlungsebene: Sogar in solch handlungsstarken Amazonen wie Lara Croft, Kiddo und den Protagonistinnen der pseudohistorischen und mythologischen Romane sowie in den auf der Bühne ausgetragenen Sprechkämpfen schlummert ein Abgrund.17 Die heutigen Amazonenfiguren haben nicht mehr die Funktion, in ihrer finalen kämpferischen Niederlage die Männlichkeit (wie einst die der Heroen des griechischen Olymp) zu bestätigen, sondern ihre nach wie vor bestehende alternative Lebensform bestätigt vielmehr emanzipatorische Tendenzen der liberalen Existenzformen der Gegenwart. Es geht ihnen darum, zu einer weiblichen Stärke, unabhängig von patriarchalen Verhältnissen und vor allem auch viriler Gewalt, zu finden bzw. diesen negativen Kern der Männlichkeit zu besiegen. Die Gewalt ist immer verkörpert von einem männlichen Konterpart, seien es Mörder, Vergewaltiger, Slasher oder Entführer. Im emanzipatorischen Roman von HOFFMANN, Die Emanzen sind los, hilft gegen die allgemeine Repression durch männliche Machtdemonstrationen und die latente Gefahr, die von der Männlichkeit ausgeht, nur die Abgrenzung. Das Amazonentum in seiner eskapistischen Funktion wird hier besonders in der sprachlichen Medialität des Romans deutlich, die herausstellt, dass ein grundlegendes, noch lange nicht erreichtes Umdenken erforderlich ist: Die Sprache selbst muss sich durch und durch verweiblichen, damit keinefrau mehr von Horstfelixklaus unterdrückt wird und Gleichberechtigung frauscht. Der Mythos dient in der heutigen Kultur folglich nicht allein als ästhetischer Fluchtpunkt, sondern sein Kern wird in eine gesellschaftspolitische Vision eingebaut, z. B. in den Traum von einer friedlicheren Großstadt, in der Frauen die männlichen Gewaltstrukturen durchbrechen (Die Fremde in dir). Dieser Impetus findet sich in allen untersuchten Romanen, die tendenziell der Trivialkultur zuzurechnen sind. Dass der Roman Kriegsbraut von KURBJUWEIT der einzige Roman der gehobenen Literatur in der mythologischen Dimension ist, deutet an, dass Forderungen nach Emanzipation um 2000 trotz oder gerade wegen der Verwirrung der Geschlechter ein tendenziell gesunkenes Kulturgut geworden sind. Im Gegensatz zum Narrativ der ökonomischen Krise scheint dieses im Kern ebenfalls ernste Thema nach einer leichteren, unterhaltsamen Umsetzung zu verlangen: Dies mag auf den Unterschied zurückzuführen sein, dass die emanzipatorische Problematik kaum abstrakt ist, sondern vielmehr konkret in den täglichen Geschlechterkämpfen – oft auf Beziehungsebene – ausgetragen wird. Auch hier wird aber wieder deutlich, dass sich das Theater diese Trivialität nicht leistet und sich dem Zwist zwischen der emanzipierten Kämpferin und dem Mann ihrer Begierde mit aller Ernsthaftigkeit und Tragik – bis hin zur postdramatischen Übersteigerung in JELINEKS Ein Sportstück – nähert.
17 Vgl.: Lukács, G.: Die Theorie des Romans. S. 26.
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Der Eindruck der Trivialität bestätigt sich auch in der Überzahl der untersuchten Amazonen-Filme. Hier ist der Mythos besonders „ausgedünnt“18 und weniger konkret emanzipatorisch im Hinblick auf eine alternative Gesellschaftsform. Während die Kunst des Romans mit ihrer psychischen Implikation der Sprache für den emanzipatorischen Diskurs prädestiniert ist, weil eine Interpretation der Verhältnisse hier gleich von einer diegetischen Erzählerfigur oder von einer auktorialen Erzählerin mitgegeben werden kann, betätigt sich die filmische Amazone meist lediglich im Motivfeld der kämpferischen und bildwirksamen Rache. Während sie kämpft, rückt ihr die Kamera so stark zu Leibe, dass sie zu einer leinwandgebannten Männerphantasie wird. Dem tragen auch die Möglichkeiten technischer Bildbearbeitung Rechnung, die der Amazone Lara Croft ein makelloses und überhöht weibliches Aussehen geben. Der Mythos wird folglich zwar affektiv verankert, oft aber gibt er sich, anders als in Roman und Theater, gar nicht mehr als die Mythe des amazonischen Frauenvolks zu erkennen. Der trivialkulturelle Zuschauer weiß kurzgesagt gar nicht, dass Sumuru gewissermaßen die moderne Schwester von Antiope ist und Lara, Kiddo, Leyla, Erica und das Final Girl Sidney auf einen alten Mythos zurückgehen. Sie sind deren „ausgezehrte“,19 rein auf Unterhaltung ausgerichtete Nachfahren, was sicherlich in den Potenzialen des Mediums Film begründet liegt, ihren Schauwert zu exponieren und dadurch Zuschauer ebenfalls sehr intensiv zu affizieren. Die Intensität der Perzeption wird zusätzlich gesteigert, indem der schreckliche Kern des Mythos auf die Spitze getrieben wird, wie in Kill Bill, wo das Blut literweise alles bespritzt, nur nicht den Zuschauer – wie es dagegen im Theater potenziell möglich wäre. Auf der Theaterbühne, anders als auf den TARANTINOSCHEN Filmbühnen, finden, wie die Analyse ergeben hat, allerdings keine Kämpfe statt, die realistisch anmuten sollen. Allein der Kampf von Antiope und Theseus bei LAUTERBACH findet nicht nur narrativ, sondern in der Bühnenpräsenz statt, wenn auch in stilisierter Form. Obwohl das Theater das Medium der körperlichen Präsenz ist und potenziell auch aufnahmefähig für tertiäre filmische Bilder ist, wird der Amazonenmythos hier nicht über den weiblichen Schauwert tradiert, sondern findet sein tragendes Handlungsmoment in der Zerrissenheit zwischen alteritärer Existenz als Frau im Matriarchat und dem Begehren eines ebenbürtigen Mannes. Bei JELINEK liegt das Begehr der Amazone allerdings nur in der Zerstörung, indem eine antimediale, d. h. unattraktive, mit Worten brutale Amazone die Medien diffamiert, die den alten Mythos visuell sexualisieren und damit trivialisieren. Sie spricht sich im Grunde dagegen aus, dass die audiovisuellen Medien ihre Potenziale für eine Sexualisierung des Mythos nutzen, wodurch das Fortschreiten der vormals erfolgreichen Emanzipation 18 Vgl.: Karpenstein-Eßbach, Ch.: Einführung in die Kulturwissenschaft der Medien. S. 245. 19 Vgl.: Ebd.
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nun an der Jahrtausendschwelle zurückgeworfen wird. Somit ist der Ausschöpfung der technischen Möglichkeiten der audiovisuellen Medien und auch der Bilderflut in den Massenmedien ein Schuldmoment inhärent. Tatsächlich konnte in den Werken der mythologischen Dimension gehäuft die mediale Strategie der Abgrenzung der eigenen Potenziale im Vergleich zu anderen Mythentradierungen festgestellt werden. So besinnt sich der Amazonenroman, wie bei PRESSFIELD, häufig auf seine Narration, indem das Erzählen an sich und die Potenziale der Legendenbildung reflektiert werden. Die erzählenden Figuren versuchen, die Amazonen zu entmystifizieren, d. h. sie möchten sie mit einem historischen Kern ausstatten.20 Bei FIOLKA wird das narrative Potenzial verdeutlicht, innerhalb weniger Wörter und Sätze große chronotopische Distanzen überwinden zu können, wie es in diesem Ausmaß im Theater nicht umzusetzen wäre und auch nur in einer kostspieligen historischen Filmproduktion. KURBJUWEITS und auch WALKERS Roman reflektiert die konkurrierende Medialität des Films gar auf der Handlungsebene, während HOFFMANNS Die Emanzen sind los auf der formalmedialen Ebene der Schrift die sprachliche Spezifizität hervorhebt. Und DI FILIPPOS Roman verdeutlicht eingängig, dass es allein die Sprache vermag, dem Leser imaginative Lücken in der phantastischen Narration zu belassen, so dass die Imaginationskraft in der Romanrezeption maximal ist. Diese Abgrenzungsstrategien können der Literatur entweder als Versuch, die eigene Relevanz in der sich wandelnden Medienlandschaft herauszustreichen, ausgelegt werden. Oder aber sie bestätigen den Befund der vorliegenden Untersuchung, deren Absicht es war, die verschiedenen medialen Voraussetzungen von Kunst um 2000 aus der Perspektive der Medienkonkurrenzen zu untersuchen: Jede mediale Form hat freilich ihre spezifische Berechtigung, es konnte insgesamt keine Dominanz bestimmter Medien über andere in den jeweiligen Dimensionen festgestellt werden. Sehr wohl aber gibt es medial bedingte Präferenzen in Bezug auf die Teilbereiche und Interpretationen der affektiven, gesellschaftspolitischen und mythologischen Stoffe und Motive. Bleibt abschließend die Frage, wie es denn nun in diesem medialen Künstegefüge konkret um das Buch bestellt ist: „Was geschieht mit ihm, dem Inbegriff linea-
20 Selene berichtigt etwa die Mythen um die erste Begegnung von Theseus mit Antiope: „Endlos wurde dieses Ereignis von Sängern besungen: die Ankunft von Athens strahlendem König und das Willkommen durch die herrliche Antiope, Kriegskönigin der Amazonen. Aber so ist es nie geschehen. Antiope war auf Jagd in den Bergen, Eleuthera an ihrer Seite. Ich weiß es, weil ich ausgeschickt wurde, sie zurückzuholen. Antiope war mit siebenundzwanzig noch Jungfrau. So weit hatten die geschwätzigen Sänger Recht.“ Pressfield, S.: Die Königin der Amazonen. S. 109.
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rer Standhaftigkeit?“21 in der heutigen „erregten Gesellschaft“? Entwarnung auf statistischer Basis gibt Torsten CASIMIR: Das Buch stirbt schon wieder nicht. Es blieb, als das Kino kam. Das Radio machte ihm nicht den Garaus. Mit dem Fernsehen pflegt es seit langem kommoden Umgang. Sogar das Internet führt ihm nun Leser zu. Und als E-Book erweitert es gegenwärtig seine Lebensmöglichkeiten.22
Oder wie HÖRISCH es ausdrückt: „Die Gutenberg-Galaxis hört nicht auf zu enden.“23 Das heißt mit den Befunden der vorliegenden Untersuchung sprechend: Das Buch erfüllt in der diversifizierten Medienlandschaft seine eigene, nicht redundante Rolle bei der fiktional-narrativen Durchdringung gesellschaftspolitischer Lagen und Veränderungen. In der medienkulturellen Erweiterung des SCHILLERSCHEN Diktums ließe sich resümieren: Die Blätter des Romans bedeuten die Welt im Sinne der historischen Lage und sie deuten sie über literarische Affektbeschreibungen und -evokationen. Dabei sind sie nicht auf bildliche Realisierungen angewiesen und gestalten sich unabhängig von Filmlängen und körperlichen Voraussetzungen der Darstellbarkeit auf der Bühne. Dies alles eröffnet dem Roman Welten und seinen Lesern damit Gefühle, die auch in der Zukunft offen stehen werden vor ihren dann jeweils eigenen epochalen Lagen, die ihre entsprechenden affektiven und gesellschaftspolitischen Geschichten und mythologischen Ausgestaltungen hervorbringen werden. Als E-Book oder gedrucktes Buch, flankiert von immer gigantischeren Filmproduktionen und provokanten Theaterinszenierungen – der Roman stirbt schon wieder nicht.
21 Titel, Volker: Kein Ende des Buches in Sicht. Vom Schicksal der Lese- und Buchkultur. In: Lesen in Deutschland 2008. Hg. v. Stiftung Lesen 2009. S. 72. 22 Casimir, Torsten: Das Buch stirbt schon wieder nicht! Lesen und Buchkauf in Deutschland. In: Lesen in Deutschland 2008. Hg. v. Stiftung Lesen 2009. S. 86. Und auch die Zahlen der GfK, der kontinuierlichen Befragung von 25.000 Konsumenten in Deutschland, deuten mit dem Blick auf das gesamte Medienbudget darauf hin, „wie wichtig der Bücher-/E-Book-Markt ist im Vergleich zu anderen medialen Warengruppen wie Musik, Kinobesuche oder Kaufvideos. 42 Prozent des Medienbudgets entfielen 2011 auf den Kauf von Büchern.“ Die Interpretation dieser Zahl ist freilich eine Frage der Perspektive. Corcoran-Schliemann, Bianca: Lesen und Mediennutzung im Wandel von Medientechnik und Mediensystem. In: Zukunft des Lesens. Hg. v. J. F. Maas und S. C. Ehmig. S. 18. 23 Hörisch, Jochen: Der Mensch als lesendes Wesen schlechthin. Die friedliche Koexistenz der ‚Gutenberg-Galaxies‘ mit audiovisuellen Medien. www.gutenberg.de/medienze.htm (30.06.2013).
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Q UELLEN Romane vitalaffektive Dimension Hegemann, Helene: Axolotl Roadkill. Berlin: Ullstein 2010. Houellebecq, Michel: Ausweitung der Kampfzone. Berlin: Wagenbach 1999 (Französisches Original: Extension du domaine de la lutte. 1994). Jelinek, Elfriede: Die Kinder der Toten. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995. Roche, Charlotte: Feuchtgebiete. Köln: Du Mont 2008. Einmalige illustrierte Ausgabe. Mit Zeichnungen der Autorin und einem Plakat. Roche, Charlotte: Schoßgebete. München: Piper 2011. Schneider, Robert: Schlafes Bruder. Leipzig: Reclam 1998 (1. Auflage 1992). Süskind, Patrick: Das Parfum. Zürich: Diogenes 1985. Filme vitalaffektive Dimension Das Parfum – Die Geschichte eines Mörders. Regie: Tom Tykwer, D, FR, ES, USA 2006. Das Schweigen der Lämmer. Regie: Jonathan Demme, USA 1991. Dumplings. Delikate Versuchung. Regie: Fruit Chan, Hongkong 2004. Feuchtgebiete. Regie: David F. Wnendt, D 2013. (ohne Detail-Analyse) Precious – Das Leben ist kostbar (Precious: Based on the Novel „Push“ by Sapphire). Regie: Lee Daniels, USA 2009. Schlafes Bruder. Regie: Joseph Vilsmaier, D 1994/’95. Taxidermia – Friss oder stirb. Regie: György Pálfi, HU, AT, FR 2006. Theaterstücke vitalaffektive Dimension Being Lawinky (Damals bekannt als: Das große Massakerspiel oder Triumph des Todes von Eugène Ionesco). Regie: Sebastian Hartmann. Schauspielfrankfurt 2006. Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. Joachim Schifer. Berlin: Edition Kröthenhayn 2006. Das obszöne Werk: Caligula. Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2000. Videoaufzeichnung der Vorstellung am 27. Februar 2000. Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie. Regie: Karin Beier. Kölner Schauspiel 2010. Schuld und Sühne (Adaption von Dostojewskij), Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2005. Das obszöne Werk: Caligula von Georges Bataille und Albert Camus. Regie: Frank Castorf. Regiebuch Stand 05.01.2000.
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Romane gesellschaftspolitische Dimension Kirchhoff, Bodo: Erinnerungen an meinen Porsche. 2. Aufl. Hamburg: Hoffmann und Campe 2009. Lanchester, John: Kapital. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel. Stuttgart: Klett-Cotta 2012. Magnusson, Kristof: Das war ich nicht. München: Kunstmann 2010. Óskarsson, Guðmundur: Bankster. Aus dem Isländischen von Anika Lüders. Frankfurt/Main: Frankfurter Verlagsanstalt 2011. Streeruwitz, Marlene: Kreuzungen. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuch 2010. Will, Markus A.: Bad Banker. Basel: Friedrich Reinhardt 2010. Filme gesellschaftspolitische Dimension Das schnelle Geld – Die Nick-Leeson-Story. Regie: James Dearden, GB 1999. (Alternativtitel: High Speed Money – Die Nick Leeson Story; Originaltitel: Rogue Trader) Der große Crash. Margin Call. Regie: J.C. Chandor, USA 2011. Company Men. Regie: John Wells, USA 2010. Up in the Air. Regie: Jason Reitman, USA 2009. Wall Street. Regie: Oliver Stone, USA 1987. Wall Street: Geld schläft nicht. Regie: Oliver Stone, USA 2010. Theaterstücke gesellschaftspolitische Dimension Büchner. Regie: Falk Richter. Düsseldorfer Schauspielhaus. UA 20.10.2012. Das Himbeerreich, Regie: Andres Veiel. Schauspiel Stuttgart, Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin. Aufzeichnung vom 15. Februar 2013. Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Eine Wirtschaftskomödie. Regie: Nicolas Stemann. Koproduktion des Thalia Theater mit dem Schauspiel Köln. Übertragung in 3Sat. Premiere im Thalia Theater am 2. Oktober 2009. Jelinek, Elfriede: Drei Theaterstücke. Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2009. John von Düffel: Das Geld. Regie: Tina Lanik. Düsseldorfer Schauspielhaus. UA 12. September 2009. Lutz Hübner: Bankenstück – Das Geld, die Stadt und die Wut. Maxim-GorkiTheater. Regie: Volker Hesse. Aufzeichnung der Hauptprobe vom 18. März 2004. Michael Wallner: Flying down to Rio. Regie: Christoph Roos. UA 4. Februar 2010. Theater Lübeck 2010.
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Romane mythologische Dimension Di Filippo, Paul: Mund voll Zungen. Ihre totipotenten Tropicanalia. Aus dem amerikanischen Englisch von Katja Bendels und Dietmar Dath. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2010. (Original: A Mouthful Tongues, USA 2002.) Fiolka, Birgit: Amazonentochter. Bergisch Gladbach: Lübbe 2008. Fiolka, Birgit: Das Vermächtnis der Amazonen. Bergisch Gladbach: Lübbe 2009. Hoffmann, Bettina: Die Emanzen sind los. Die Gründung des Frauenstaates Lilith. Frankfurt/Main: Fischer 1995. Kurbjuweit, Dirk: Kriegsbraut. Berlin: Rowohlt 2011. Pressfield, Steven: Die Königin der Amazonen. München: Goldmann 2003. Walker, Barbara G.: Amazone. Frankfurt/Main: Fischer 1996. (Original: „Amazon“. San Francisco: 1992.) Filme mythologische Dimension Die Fremde in dir (The Brave One). Regie: Neil Jordan, USA 2007. Kill Bill – Volume 1. Regie: Quentin Tarantino, USA 2003. Kill Bill – Volume 2. Regie: Quentin Tarantino, USA 2004. Lara Croft: Tomb Raider. Regie: Simon West, USA 2001. Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens. Regie: Jan de Bont, USA 2003. Scream – Schrei! Regie: Wes Craven, USA 1996. Scream 2. Regie: Wes Craven, USA 1997. Scream 3. Regie: Wes Craven, USA 2000. Sumuru. Schiffbruch auf dem Planeten der Frauen. Regie: Darrell J. Roodt, ZA 2003. Toter Mann. Regie: Christian Petzold, D 2001. Theaterstücke mythologische Dimension Dramen Jelinek, Elfriede: Ein Sportstück. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1998. Kleist, Heinrich von: Penthesilea. Ein Trauerspiel. Tübingen: Cottaische Buchhandlung 1965 [1808]. Schütz, Stefan: Die Amazonen (1974). Strichfassung des Bremer Theaters. In: Amazonen – Kriegerische Frauen. Hg. v. dems. und Heinz-Peter Preußer. Würzburg: Königshausen & Neumann 2010. S. 128–170.
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Inszenierungen Die Amazonen im Bremer Theater. Regie.: Konstanze Lauterbach. Premiere: 01.02.2007. Elfriede Jelinek: Ein Sportstück. Aufführung des Wiener Burgtheater im Schiller Theater Berlin. Übertragung im ZDF-Theaterkanal. Theaterregie: Einar Schleef. Fernsehregie: Andreas Missler-Morell. 1998. Penthesilea von Heinrich von Kleist. Regie: Anselm Weber. Schauspiel Frankfurt. Premiere: 10.11.2001.
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Aufmerksamkeit im zeitgenössischen Theater. Hg. v. Erika Fischer-Lichte, Barbara Gronau, Sabine Schouten und Christel Weiler. Theater der Zeit 2006. S. 72–85. Weimann, Robert: Zwischen Performanz und Repräsentation: Shakespeare und die Macht des Theaters. Aufsätze von 1959–1995. Hg. v. Christian W. Thomsen und K. Ludwig Pfeiffer. Heidelberg: Winter 2000. Weiß kann man riechen. http://science.orf.at/stories/1708197/ (15.05.2013). Wellershoff, Dieter: Der Roman als Krise (1979). In: Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. v. Hartmut Steinecke u. Fritz Wahrenburg. Stuttgart: Reclam 1999. S. 493–497. Wellershoff, Dieter: Fiktion und Praxis. In: Abhandlungen der Klasse der Literatur. Jg. 1969. Nr. 1. Mainz: Verlag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Wellershoff, Dieter: Fiktion und Praxis. In: Romantheorie. Texte vom Barock bis zur Gegenwart. Hg. v. Hartmut Steinecke u. Fritz Wahrenburg. Stuttgart: Reclam 1999. Einleitung. S. 483–485. Wellershoff, Marianne: Der Kulturspiegel über den Film. Booklet in Große Kinomomente Nr. 113. Wende, Waltraud ‚Wara‘: Kultur – Medien – Literatur. Literaturwissenschaft als Medienkulturwissenschaft. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. Wende, Waltraud ‚Wara‘; Koch, Lars: Krisenkino – zur Einleitung. In: Krisenkino. Filmanalyse als Kulturanalyse. Zur Konstruktion von Normalität und Abweichung im Spielfilm. Hg. v. Waltraud ‚Wara‘ Wende u. Lars Koch. Bielefeld: transcript 2010. S. 7–13. Werner, Florian: Dunkle Materie. Die Geschichte der Scheiße. München: Nagel & Kimche 2011. Wezel, Johann Karl: Versuch über die Kenntnis des Menschen (1784–1785). Band II. Frankfurt/Main: Athenäum 1971. Wilde, Lyn Webster: Amazonen. Auf den Spuren kriegerischer und göttlicher Frauen. Hamburg, Wien: Europa Verlag 2001. Winkels, Hubert: Leselust und Bildermacht. Literatur, Fernsehen und Neue Medien. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1997. Witzler, Anja von: Meister linken Furors. Wo Kresnik draufsteht, ist auch Kresnik drin. In: Zehn Jahre Volksbühne – Intendanz Frank Castorf. Hg. v. Thomas Irmer u. Harald Müller. Berlin: Theater der Zeit 2003. S. 86–101. Wodianka, Stephanie: Zur Einleitung: „Was ist ein Mythos?“ – Mögliche Antworten auf eine vielleicht falsch gestellte Frage. In: Mythosaktualisierungen. Tradierungs- und Generierungspotentiale einer alten Erinnerungsform. Hg. v. ebd. und Dietmar Rieger. Berlin, New York: Walter de Gruyter 2006. S. 1–13. Wolf, Martin: George Clooneys Paraderolle in der Wirtschaftskomödie „Up in the Air“. http://www.spiegel.de/spiegel/a-675026.html (12.03.2013).
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Wolf, Werner: Intermedialität als neues Paradigma der Literaturwissenschaft? Plädoyer für eine literaturzentrierte Erforschung von Grenzüberschreitungen zwischen Wortkunst und anderen Medien am Beispiel von Virginia Woolfs ‚The String Quartet‘. In: Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik (AAA), Heft 1, 1996. S. 85–116. Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache. Hg. v. Ruth Klappenbach und Wolfgang Steinitz. Dritter Band. Berlin: Akademie-Verlag 1969. Wroblewsky, Vincent von: Zu Lebens- und Weltentwürfen bei Sartre und Houellebecq. In: Denken/Schreiben (in) der Krise – Existenzialismus und Literatur. St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2004. S. 505–538. Zehn Jahre Volksbühne – Intendanz Frank Castorf. Hg. v. Thomas Irmer u. Harald Müller. Berlin: Theater der Zeit 2003. Zizek, Slavoj: Von Lust zu Ekel … und zurück. In: Große Gefühle. Bausteine menschlichen Verhaltens. Hg. v. ZDF-nachtstudio. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. S. 265–279. Zukunft des Lesens. Was bedeuten Generationenwechsel, demografischer und technischer Wandel für das Lesen und den Lesebegriff? Hg. v. Jörg F. Maas und Simone C. Ehmig. Mainz: Stiftung Lesen 2013. URL ohne definierten Autor 3Sat-Kulturzeit-Interview von Tina Mendelssohn mit Andres Veiel: http://www.3sat.de/mediathek/index.php?display=5&mode=playset&obj=34256 (30.04.2013). http://www.buehnen-frankfurt.de/content/schau_alt/spielplan/stueckinhalt 7eec.html?InhaltID=4166 (11.02.2012). http://www.falkrichter.com/logic/article.php?cat=11&id=20075 (25.04.2013). http://www.filmportal.de (25.07.2011) http://ikz.m.derwesten.de/dw/kultur/kino/oliver-stone-der-wall-street-teufel-istpleite-id3845510.html?service=mobile (09.03.2013). http://www.pagan-forum.de/Thema-F%C3%B6ten-essen (13.12.2011). http://www.rowohlt-theaterverlag.de/stueck/Die_Kontrakte_des_Kaufmanns. 2769478.html (30.04.2013). http://www.rp-online.de/kultur/castorf-schockt-mit-luegen-sex-und-faekalien1.1593263 (19.02.2012). http://www.schauspielkoeln.de/stueck.php?ID=224&tID=1624 (25.02.2012). www.spiegel.de/politik/deutschland/kanzlerin-angela-merkel-kritisiert-ex-managerder-anglo-irish-bank-a-908285.html (02.07.2013). www.spiegel.de/spiegel/print/d-57223344.html (05.07.2013). http://www.stiftunglesen.de/lesen-in-deutschland-2008 (28.06.2013). http://www.studiobabelsberg.com/Backlots. (06.03.2011).
L ITERATUR
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http://www.tagblatt.de/Home/nachrichten_artikel,-Oliver-Stone-ueber-seine-WallStreet-Fortsetzung-Geld-Gier-und-Gangster-_arid,114943_print,1.html (10.03.2013). http://www.tagesspiegel.de/kultur/theater-frankfurter-inszenierung-heisst-kuenftigbeing-lawinky/688026.html (11.02.2012). http://www.theaterverzeichnis.de/rueckblick06-07.php (30.01.2012). „Wir sind wie Alkoholiker.“ Interview Zeit Online mit John von Düffel. http://www.zeit.de/kultur/literatur/2009-09/interview-von-dueffel (02.05.2013).
A BBILDUNGSVERZEICHNIS
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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Coverbild: © Foto: Peter Hartwig / www.kineofoto.de / MAJESTIC Filmverleih Abb. 1: Dumplings. Delikate Versuchung. Regie: Fruit Chan, Hongkong 2004 (00:08:50). Abb. 2: Dumplings. Delikate Versuchung. Regie: Fruit Chan, Hongkong 2004 (00:09:35). Abb. 3: Das Schweigen der Lämmer. Regie: Jonathan Demme, USA 1991 (00:17:34). Abb. 4: Das Schweigen der Lämmer. Regie: Jonathan Demme, USA 1991 (00:18:05). Abb. 5: (1) Das Schweigen der Lämmer. Regie: Jonathan Demme, USA 1991 (01:40:20). Abb. 6: (2) Das Schweigen der Lämmer. Regie: Jonathan Demme, USA 1991 (01:40:21). Abb. 7: Precious – Das Leben ist kostbar. Regie: Lee Daniels, USA 2009 (00:39:39). Abb. 8: Precious – Das Leben ist kostbar. Regie: Lee Daniels, USA 2009 (00:40:34). Abb. 9: Precious – Das Leben ist kostbar. Regie: Lee Daniels, USA 2009 (01:17:15). Abb. 10: Taxidermia – Friss oder stirb. Regie: György Pálfi, HU, AT, FR 2006 (00:24:01). Abb. 11: Taxidermia – Friss oder stirb. Regie: György Pálfi, HU, AT, FR 2006 (00:28:44). Abb. 12: Taxidermia – Friss oder stirb. Regie: György Pálfi, HU, AT, FR 2006 (00:51:35). Abb. 13: Das Urbild: Der Gekreuzigte unter dem Tierkadaver. Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. Joachim Schifer. Berlin: Edition Kröthenhayn 2006 (00:30:15). Abb. 14: Der verkrampfte Versuch einer Teilnehmerin, das Tierblut nicht in die Körperöffnungen gelangen zu lassen. Ihr Gesichtsausdruck lässt auf Ekel durch die unmittelbaren Sinneseindrücke schließen. Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. Joachim Schifer. Berlin: Edition Kröthenhayn 2006, DVD 2. Teil (00:08:09). Abb. 15: Kulissenartiges Schüttbild aus Blut, das am 5. Tag hinter den Gekreuzigten angefertigt wird. Das Aktionstheater des Hermann Nitsch. Zwischen Herkunft und Zukunft. Hg. v. Joachim Schifer. Berlin: Edition Kröthenhayn 2006, DVD 2. Teil (01:10:00).
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Abb. 16: Being Lawinky. Regie: Sebastian Hartmann. Schauspielfrankfurt 2006 (00:50:35). Abb. 17: Being Lawinky. Regie: Sebastian Hartmann. Schauspielfrankfurt 2006 (00:51:52). Abb. 18: Das obszöne Werk: Caligula. Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2000. Videoaufzeichnung der Vorstellung am 27. Februar 2000 (00:01:34). Abb. 19: Kathrin Angerer spuckt mit vorgebeugter Geste über die Bühnenrampe. Das obszöne Werk: Caligula. Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2000 (02:19:21). Abb. 20: Das Bühnenbild. Schuld und Sühne (Adaption von Dostojewskij), Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2005 (00:07:23). Abb. 21: Überspielte Ekelgestik und -mimik. Schuld und Sühne, Regie: Frank Castorf. Berliner Volksbühne 2005 (00:08:00). Abb. 22: Das Bühnenbild. Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie. Regie: Karin Beier. Kölner Schauspiel 2010 (01:07:17). Abb. 23: Norbert schwingt den braunen Geldklumpen vor den Gesichtern der anderen, die sich im Affekt abwenden. Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie. Regie: Karin Beier. Kölner Schauspiel 2010 (01:07:26). Abb. 24: Norberts Ekelgestik und -mimik. Er streckt sichtbar angeekelt die Zunge heraus. Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie. Regie: Karin Beier. Kölner Schauspiel 2010 (01:07:42). Abb. 25: Die Schmutzigen, die Hässlichen und die Gemeinen. Eine bemerkenswert mitleidlose Komödie. Regie: Karin Beier. Kölner Schauspiel 2010 (01:34:31). Abb. 26: Grafik „Isabellas Teufelskreis“, Will, Markus A.: Bad Banker. Basel: Friedrich Reinhardt 2010. S. 428. Abb. 27: Das schnelle Geld – Die Nick-Leeson-Story. Regie: James Dearden, GB 1999 (00:19:09). Abb. 28: Das schnelle Geld – Die Nick-Leeson-Story. Regie: James Dearden, GB 1999 (01:07:45). Abb. 29: Wall Street: Geld schläft nicht. Regie: Oliver Stone, USA 2010 (00:03:09). Abb. 30: Wall Street: Geld schläft nicht. Regie: Oliver Stone, USA 2010 (00:31:01). Abb. 31: Wall Street: Geld schläft nicht. Regie: Oliver Stone, USA 2010 (01:18:14). Abb. 32: Wall Street: Geld schläft nicht. Regie: Oliver Stone, USA 2010 (01:18:49). Abb. 33: Wall Street: Geld schläft nicht. Regie: Oliver Stone, USA 2010 (01:43:51).
A BBILDUNGSVERZEICHNIS
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Abb. 34: Der große Crash. Margin Call. Regie: J.C. Chandor, USA 2011 (00:17:25). Abb. 35: Der große Crash. Margin Call. Regie: J.C. Chandor, USA 2011 (00:17:47). Abb. 36: Der große Crash. Margin Call. Regie: J.C. Chandor, USA 2011 (00:37:30). Abb. 37: Der große Crash. Margin Call. Regie: J.C. Chandor, USA 2011 (00:37:32). Abb. 38: Company Men. Regie: John Wells, USA 2010 (01:14:44). Abb. 39: Company Men. Regie: John Wells, USA 2010 (00:53:05). Abb. 40: Up in the Air. Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:02:23). Abb. 41: Eine der realen Entlassenen als Darstellerin. Up in the Air. Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:03:16). Abb. 42: Up in the Air. Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:10:48). Abb. 43: Das Wahrnehmungsbild auf das von der Rezession gezeichnete Büro. Up in the Air. Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:41:40). Abb. 44: Up in the Air. Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:41:48). Abb. 45: Das Affektbild von Natalie als Reaktion auf die Firma in der Krise. Up in the Air. Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:41:51). Abb. 46: Up in the Air. Regie: Jason Reitman, USA 2009 (00:43:11). Abb. 47: John von Düffel: Das Geld. Regie: Tina Lanik. Düsseldorfer Schauspielhaus. UA 12. September 2009 (00:09:48). Abb. 48: John von Düffel: Das Geld. Regie: Tina Lanik. Düsseldorfer Schauspielhaus. UA 12. September 2009 (02:13:52). Abb. 49: Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Regie: Nicolas Stemann (01:21:23). Abb. 50: Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Regie: Nicolas Stemann (01:28:18). Abb. 51: Elfriede Jelinek: Die Kontrakte des Kaufmanns. Regie: Nicolas Stemann (03:24:18). Abb. 52: Büchner. Regie: Falk Richter. Düsseldorfer Schauspielhaus. UA 20.10.2012 (00:18:52). Abb. 53: Lara Croft: Tomb Raider. Regie: Simon West, USA 2001 (00:37:51). Abb. 54: Lara Croft: Tomb Raider. Regie: Simon West, USA 2001 (00:39:37). Abb. 55: Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens. Regie: Jan de Bont, USA 2003 (01:15:15). Abb. 56: Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens. Regie: Jan de Bont, USA 2003 (00:21:19). Abb. 57: Lara Croft: Tomb Raider – Die Wiege des Lebens. Regie: Jan de Bont, USA 2003 (01:40:47). Abb. 58: Kill Bill – Volume 2. Regie: Quentin Tarantino, USA 2004 (00:01:17).
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Abb. 59: Beatrix Kiddo tritt (von romantischer Off-Musik begleitet) zum choreografierten Tanz auf der Bühne gegen die Crazy 88 an. Kill Bill – Volume 1. Regie: Quentin Tarantino, USA 2003 (01:18:56). Abb. 60: Kill Bill – Volume 1. Regie: Quentin Tarantino, USA 2003 (01:19:15). Abb. 61: Kill Bill – Volume 1. Regie: Quentin Tarantino, USA 2003 (01:23:65). Abb. 62: Die vorlesende Rächerin, im Hintergrund Aktenbilder der toten Schwester. Toter Mann. Regie: Christian Petzold, D 2001 (01:16:12). Abb. 63: Toter Mann. Regie: Christian Petzold, D 2001 (00:30:03). Abb. 64: Handyfilmästhetik: Erica zusammengeschlagen. Die Fremde in dir (The Brave One). Regie: Neil Jordan, USA 2007 (00:10:22). Abb. 65: Die Fremde in dir (The Brave One). Regie: Neil Jordan, USA 2007 (00:20:26). Abb. 66: Die Fremde in dir (The Brave One). Regie: Neil Jordan, USA 2007 (00:27:14). Abb. 67: Scream – Schrei! Regie: Wes Craven. USA 1996 (01:16:03). Abb. 68: Scream – Schrei! Regie: Wes Craven. USA 1996 (00:50:01). Abb. 69: Penthesilea von Heinrich von Kleist. Regie: Anselm Weber. Schauspiel Frankfurt. Premiere: 10.11.2001.
D ANKE
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D ANKE für die wertvollen Denkanstöße in den legendären Freiburger Doktorandentreffen! Frau Professor Karpenstein-Eßbach ist in ihrer Art, uns Doktoranden das Gefühl der Freiheit zu geben und zugleich immer quer mitzudenken, ein Fundament für kreative wissenschaftliche Streifzüge. Danke, dass ich mich nicht verbiegen musste – auch wenn ich es gerne getan hätte! Danke allen, die mich mit Interesse nach meiner Arbeit gefragt haben: Mara Ebinger, die zum Glück nicht locker gelassen hat und meine Dissertation dann auch noch ganz lektoriert hat! Meiner lieben Kollegin Sandra Walter danke ich für den beherzten und kreativen Cover-Einsatz. Es ist toll, dass von manchen Menschen Unterstützung kommt, die einfach nicht selbstverständlich ist. Frau Professor Möhrmann gebührt großer Dank, weil sie mich durch alles, was sie auf die Beine stellt, immer wieder inspiriert. Danke meiner Familie, besonders meinen Eltern. Es gibt keine Worte oder Bilder, die reichen würden, um meine volle Dankbarkeit auszudrücken – und hier ist auch nicht die richtige „Bühne“. Dafür gibt es Taten: Das Buch sei Euch gewidmet.
Edition Medienwissenschaft Sarah Ertl Protest als Ereignis Zur medialen Inszenierung von Bürgerpartizipation Juni 2015, 372 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3067-1
Gundolf S. Freyermuth Games | Game Design | Game Studies Eine Einführung Februar 2015, 280 Seiten, kart., 17,99 €, ISBN 978-3-8376-2982-8
Dennis Göttel, Florian Krautkrämer (Hg.) Scheiben Medien der Durchsicht und Speicherung März 2016, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3117-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Medienwissenschaft Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Oktober 2015, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,99 €, ISBN 978-3-8376-1755-9
Stefan Greif, Nils Lehnert, Anna-Carina Meywirth (Hg.) Popkultur und Fernsehen Historische und ästhetische Berührungspunkte Juli 2015, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2903-3
Ramón Reichert Die Macht der Vielen Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung 2013, 216 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2127-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Medienwissenschaft Martin Eckert Werbung mit Behinderung Eine umstrittene Kommunikationsstrategie zwischen Provokation und Desensibilisierung
Christina L. Steinmann Medien und psychische Prozesse Wie sich Traumata und Wünsche in Medien ausdrücken und deren Entwicklung antreiben
2014, 356 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2537-0
2013, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2506-6
Vincent Fröhlich Der Cliffhanger und die serielle Narration Analyse einer transmedialen Erzähltechnik
Anne Ulrich, Joachim Knape Medienrhetorik des Fernsehens Begriffe und Konzepte
April 2015, 674 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2976-7
Bernd Kracke, Marc Ries (Hg.) Expanded Narration. Das Neue Erzählen 2013, 800 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2652-0
Stefan Meier Visuelle Stile Zur Sozialsemiotik visueller Medienkultur und konvergenter Design-Praxis 2014, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2698-8
Stefan Meier Superman transmedial Eine Pop-Ikone im Spannungsfeld von Medienwandel und Serialität Januar 2015, 202 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2968-2
2014, 286 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2587-5
Thomas Waitz Bilder des Verkehrs Repräsentationspolitiken der Gegenwart 2014, 244 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2599-8
Sonja Yeh Anything goes? Postmoderne Medientheorien im Vergleich Die großen (Medien-)Erzählungen von McLuhan, Baudrillard, Virilio, Kittler und Flusser 2013, 448 Seiten, kart., 45,99 €, ISBN 978-3-8376-2439-7
Julia Zons Casellis Pantelegraph Geschichte eines vergessenen Mediums Juni 2015, 242 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3116-6
Caroline Roth-Ebner Der effiziente Mensch Zur Dynamik von Raum und Zeit in mediatisierten Arbeitswelten Februar 2015, 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2914-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de