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German Pages 170 [174] Year 1983
CLAUS-WILHELM CAN ARIS
Systemdenken u n d Systembegriff
Schriften zur Rechtstheorie H e f t 14
Systemdenken und Systembegriff i n der Jurisprudenz e n t w i c k e l t am B e i s p i e l des deutschen Privatrechts
Von Dr. Claus-Wilhelm Canaris o. Professor an der Universität München
2., ü b e r a r b e i t e t e
D U N C K E R
&
Auflage
H U M B L O T
/
B E R L I N
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Canaris , Claus-Wilhelm: Systemdenken u n d Systembegriff i n der Jurisprudenz : entwickelt am Beispiel d. dt. P r i v a t rechts / v o n Claus-Wilhelm Canaris. - 2., überarb. Aufl. - B e r l i n : Duncker und Humblot, 1983. (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 14) I S B N 3-428-05312-5 NE: GT
1. Auflage 1969 2. Auflage 1983 Alle Rechte vorbehalten © 1983 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1983 bei Werner Hildebrand, Berlin 65 Printed in Germany ISBN 3 428 05312 5
Meinem hochverehrten Lehrer Karl Lorenz in Dankbarkeit gewidmet
Vorwort zur 2. Auflage Die vorliegende Schrift, die auf meinen Habilitationsvortrag aus dem Jahre 1967 zurückgeht, ist seit vielen Jahren vergriffen. Gleichwohl bin ich dem Wunsch des Verlages nach einer Neuauflage nur zögernd nachgekommen, da größere Änderungen aus drucktechnischen Gründen ausgeschlossen waren. Indessen entsprechen die wesentlichen Gedanken, wie sie insbesondere in den Thesen am Ende des Buches ihren Niederschlag gefunden haben, auch heute noch meiner Überzeugung. Daß ich in Einzelheiten manches anders sagen würde, t r i t t demgegenüber zurück. Der Text stimmt also, von einigen wenigen Veränderungen abgesehen, m i t der Erstauflage überein. Das gilt auch für die Nachweise, die ich auf dem damaligen Stande gelassen habe; sie zu aktualisieren oder gar die seitherige Diskussion einzuarbeiten, hätte zwangsläufig dazu geführt, das Buch i n Teilen neu zu schreiben — und das war, wie gesagt, nicht das Ziel dieser Neuauflage. Übersetzungen ins Japanische und ins Portugiesische sind in Vorbereitung. München, i m Dezember 1982 Claus-Wilhelm
Canaris
Vorwort zur 1. Auflage Die vorliegende Schrift ist aus dem Vortrag hervorgegangen, den ich am 20. J u l i 1967 i m Rahmen meines Habilitationsverfahrens vor der juristischen Fakultät der Universität München gehalten habe. Die Ausarbeitung wurde i m August 1968 abgeschlossen; später erschienenes Schrifttum konnte nur noch vereinzelt in den Fußnoten berücksichtigt werden. Die Arbeit ist meinem hochverehrten Lehrer Karl Larenz gewidmet als bescheidenes Zeichen des Dankes für die reiche Förderung, die ich von i h m i n wissenschaftlicher wie i n persönlicher Hinsicht erfahren habe. Darüber hinaus habe ich auch den übrigen Mitgliedern der Münchner Fakultät für das Wohlwollen und die Unterstützung zu danken, die sie m i r i n meiner Assistenten- und Dozentenzeit stets haben zuteil werden lassen. Graz, i m Dezember 1968 Claus-Wilhelm
Canaris
Inhaltsverzeichnis § 1 Die Funktion des Systemgedankens in der Jurisprudenz
11
I. Die Merkmale der Ordnung u n d Einheit als Charakteristika des allgemeinen Systembegriffs I I . Die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit Rechtsordnung als Grundlage des juristischen Systems
der
11 13
1. Folgerichtigkeit u n d Einheit als wissenschaftstheoretische u n d hermeneu tische Prämissen 13 2. Folgerichtigkeit u n d Einheit als Emanationen und Postulate der Rechtsidee § 2 Der Begriff des Systems I. Systembegriffe, die sich nicht aus dem Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit u n d inneren Einheit der Rechtsordnung rechtfertigen lassen 1. Das „äußere" System
16 19
19 19
2. Das System „reiner Grundbegriffe"
19
3. Das formal-logische System a) Das logische System der Begriffsjurisprudenz b) Das axiomatisch-deduktive System i. S. der Logistik
19 19 25
4. Das System als Problemzusammenhang a) Der Systembegriff M a x Salomons b) Die Konzeption Fritz von Hippels
29 29 32
5. Das System der Lebensverhältnisse
34
6. Das „System von Konfliktsentscheidungen" i. S. Hecks u n d der Interessenjurisprudenz a) Die Stellung der lnteressenjurisprudenz zum Gedanken der Einheit des Rechts b) Die Schwächen des Systembegriffs der lnteressenjurisprudenz I I . Die E n t w i c k l u n g des Systembegriffs aus dem Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit u n d inneren Einheit der Rechtsordnung
35 35 39
40
1. Das System als axiologische oder teleologische Ordnung
41
2. Das System als Ordnung „allgemeiner Rechtsprinzipien" a) Die Vorzüge der „allgemeinen Rechtsprinzipien" bei der Systembildung gegenüber Normen, Begriffen, Rechtsinstituten u n d Werten
46 48
6
Inhaltsverzeichnis b) Die Funktionsweise der „allgemeinen Rechtsprinzipien" bei der Systembildung c) Die Unterschiede der „allgemeinen Rechtsprinzipien" gegenüber den A x i o m e n
§3 Die Offenheit des Systems
52 58 61
I. Die Offenheit des „wissenschaftlichen Systems" als Unabgeschlossenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis
62
I I . Die Offenheit des „objektiven Systems" als Wandelbarkeit der Grundwertungen der Rechtsordnung
63
I I I . Die Bedeutung der Offenheit des Systems für die Möglichkeiten von Systemdenken u n d Systembildung i n der Jurisprudenz
64
I V . Die Voraussetzungen von System Wandlungen und das Verhältnis zwischen Wandlungen des „objektiven" u n d Wandlungen des „wissenschaftlichen" Systems 1. Wandlungen des ,,objektiven" Systems 2. Wandlungen des „wissenschaftlichen" Systems § 4 Die Beweglichkeit des Systems I. Die Merkmale des „beweglichen Systems" i. S. Wilburgs I I . Bewegliches System u n d allgemeiner Systembegriff I I I . Bewegliches System u n d geltendes Recht 1. Der grundsätzliche Vorrang unbeweglicher Systemteile 2. Die Existenz beweglicher Systemteile I V . Die legislatorische u n d methodologische Bedeutung des beweglichen Systems
65 67 72 74 74 76 78 78 78 80
1. Das bewegliche System u n d die Forderung nach stärkerer Differenzierung 80 2. Bewegliches System u n d Generalklausel 81 3. Die Zwischenstellung des beweglichen Systems zwischen Generalklausel u n d festem Tatbestand und die Notwendigkeit einer Verbindung dieser drei Gestaltungsmöglichkeiten 82 § 5 System und Rechtsgewinnung I. Systematische Einordnung u n d Aufdeckung des teleologischen Gehalts 1. Die „systematische Auslegung" 2. Die A u s f ü l l u n g von Lücken aus dem System I I . Die Bedeutung des Systems für die Wahrung der wertungsmäßigen Einheit u n d Folgerichtigkeit bei der Rechtsfortbildung
86 88 90 95 97
1. Die Vermeidung v o n WertungsWidersprüchen
98
2. Die Feststellung von Lücken
99
I I I . Der Wertungsgehalt gesetzlicher Konstruktionen
100
I V . Die Schranken der Rechtsgewinnung aus dem System
104
Inhaltsverzeichnis 1. 2. 3. 4.
Die Notwendigkeit teleologischer Kontrolle 105 Die Möglichkeit einer Fortbildung des Systems 106 Systemrichtigkeit und materiale Gerechtigkeit 106 Die Grenzen der Systembildung als Grenzen der Rechtsgewinnung aus dem System 110
§ 6 Die Grenzen der Systembildung
112
I. Systembrüche
112
1. Systembrüche als Wertungs- u n d Prinzipienwidersprüche
112
2. Abgrenzung der Wertungs- u n d Prinzipienwidersprüche
113
a) b) c) d)
gegenüber gegenüber gegenüber gegenüber
den Wertungsdifferenzierungen den immanenten Schranken eines Prinzips der Prinzipienkombination den Prinzipiengegensätzen
113 113 114 115
3. Die Möglichkeiten zur Vermeidung von Wertungs- u n d P r i n zipienwidersprüchen i m Wege der Rechtsfortbildung 116 a) Die Möglichkeiten der systematischen Auslegung 116 b) Die Möglichkeiten der systematischen Lückenergänzung 118 c) Die Grenzen der Beseitigung von Wertungs- u n d Prinzipienwidersprüchen i m Wege der Rechtsfortbildung 119 4. Die Problematik der Verbindlichkeit systemwidriger Normen u n d der Bindung des Gesetzgebers an den Systemgedanken . . 121 a) Die Lösung m i t Hilfe der Annahme einer „Kollisionslücke" 121 b) Die Lösung m i t Hilfe des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes 125 5. Die Bedeutung der verbleibenden Systembrüche f ü r die Möglichkeiten von Systemdenken u n d Systembildung i n der Jurisprudenz 130 I I . Systemfremde Normen
131
1. Systemfremde Normen als Verstoß gegen den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung 131 2. Auslegung und Gültigkeit systemfremder Normen 132 I I I . Systemlücken 1. Systemlücken als Wertungslücken 2. Systemlücken als Einbruchstellen Denkweisen § 7 Systemdenken und Topik I. Z u r Charakterisierung der Topik
133 133 nicht-systemorientierter
134 135 136
1. Topik u n d Problemdenken 136 2. Topik u n d Prämissenlegitimation durch „ Ι'νδοξα " oder „common sense" 139
8
Inhaltsverzeichnis I I . Die Bedeutung der Topik für die Jurisprudenz
141
1. Grundsätzliche K r i t i k der Topik
141
a) Die Unbrauchbarkeit des „rhetorischen" Zweiges der Topik 141 b) Das Versagen der Topik gegenüber dem juristischen Geltungs- u n d Verbindlichkeitsproblem 142 c) Die Topik als Lehre v o m richtigen Handeln u n d die Jurisprudenz als Wissenschaft v o m richtigen Verstehen 145 2. Verbleibende Möglichkeiten für die Topik
149
a) Die Topik als Notbehelf bei Fehlen hinreichender gesetzlicher Wertungen, insbesondere i n Lückenfällen 150 b) Die Topik als funktionsgerechtes Verfahren bei gesetzlicher Bezugnahme auf den „common sense" und bei Billigkeitsentscheidungen 150 3. Die wechselseitige Ergänzung u n d Durchdringung tischen u n d topischen Denkens
systema-
151
§8 Thesen
155
Literaturverzeichnis
161
Sachregister
167
Die Frage nach der Bedeutung des Systemgedankens für die Jurisprudenz gehört zu den umstrittensten Problemen der juristischen Methodenlehre. I n kaum einer Streitfrage stehen sich die Meinungen auch heute noch so schroff gegenüber wie hier. Während z. B. Sauer emphatisch ausruft: „Nur das System verbürgt Erkenntnis, verbürgt K u l t u r . N u r i m System ist möglich wahres Wissen, wahres Wirken" 1 und H. J. Wolff sagt: „Rechtswissenschaft ist systematisch oder sie ist nicht" 2 , meint Emge mit skeptischer Zurückhaltung: „Ein System ist stets ein inhaltlich zu weit gehendes Unterfangen der »Vernunft 1 " 8 , — ein Satz, von dem aus es nur noch ein kleiner Schritt ist zu dem berühmten Wort Nietzsches, der den Willen zum System bekanntlich als einen „Mangel an Rechtschaffenheit", eine „Charakterkrankheit" bezeichnet hat 4 . Was das Privatrecht i m besonderen angeht, so war die wichtigste methodologische Auseinandersetzung dieses Jahrhunderts — die zwischen „Begriffsjurisprudenz" und „Interessenjurisprudenz" — nicht zuletzt eine Kontroverse über Sinn, A r t und Grenzen juristischer Systembildung. I n neuerer Zeit hat schließlich Theodor Viehweg durch seine Schrift über „Topik und Jurisprudenz " 5 die Diskussion neu belebt und bei seiner Systemkritik ebenso nachdrückliche Zustimmung wie entschiedene Ablehnung gefunden. Diese Hartnäckigkeit und Schärfe der Auseinandersetzung ist nun keineswegs verwunderlich, stehen doch i m Hintergrund zentrale Fragen der Methodenlehre und der Rechtsphilosophie. Wie vor allem die Diskussion um die Thesen Viehwegs erneut deutlich gemacht hat, geht es nämlich letzten Endes um die Grundlagen unseres Faches überhaupt, insbesondere um das Selbstverständnis der Jurisprudenz als einer Wissenschaft und um die Spezifika juristischen Denkens und Argumen* Juristische Methodenlehre, 1940, S. 171. 2 Typen i m Recht u n d i n der Rechtswissenschaft, Stud. Gen. 1952, S. 195 ff. (205). » Einführung i n die Rechtsphilosophie, 1955, S. 378. * Gesammelte Werke, 1895—1912, Bd. V I I I , S.64 bzw. Bd. X I V , S.354. Geradezu i n den Rang eines methodologischen Prinzips der Geisteswissenschaften erhebt Bollnow das Mißtrauen gegen das System, vgl. Die Objekt i v i t ä t der Geisteswissenschaften u n d die Frage nach dem Wesen der W a h r heit, Zeitschr. f. Philosophische Forschung 16 (1962), S. 3 ff. (15 f.). β 1. Aufl. 1953, inzwischen i n 3. Aufl. 1965.
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tierens. Ja, mehr noch: wie die Methodenlehre allenthalben in engstem Zusammenhang mit der allgemeinen Rechtsphilosophie steht, so sieht man sich auch hier sehr bald vor die Problematik der „obersten Rechtswerte" und ihres Verhältnisses zueinander gestellt 6 . Die bisherige Diskussion krankte indessen häufig daran, daß über ihren Gegenstand, also den Begriff des Systems, weder i n terminologischer noch i n sachlicher Hinsicht Klarheit geschaffen wurde. So mußte sich z. B. Viehweg von Diederichsen entgegenhalten lassen, er habe einen „Kampf gegen Windmühlenflügel" und ein „Scheingefecht" geführt, w e i l das von ihm angegriffene axiomatisch-logische System seit langem von niemand mehr verteidigt werde 7 , — und in der Tat liegt hier eine wesentliche Schwäche der Arbeit Viehwegs 8. Doch auch sonst findet man i n der Literatur meist bestenfalls Teilantworten auf die Frage nach dem jeweils vorausgesetzten Systembegriff. Ohne dessen umfassende Klärung fehlt aber der Systemdiskussion das unerläßliche Fundament, und daher soll i m folgenden versucht werden, hierüber etwas mehr Klarheit zu gewinnen.
« Vgl. näher unten §§ 1 I I 2, 4 I V 3, 5 I I , 6 1 4 b, 7 I I . Topisches u n d systematisches Denken i n der Jurisprudenz, N J W 1966, S. 697 ff. (700). 8 Vgl. näher unten § 7 bei u n d m i t Fn. 64. 7
§ 1 D i e F u n k t i o n des Systemgedankens i n der Jurisprudenz Nähere Aussagen über den juristischen Systembegriff zu machen, setzt voraus, daß man sich zunächst Klarheit über zweierlei verschafft: erstens über den allgemeinen, d. h. hier den philosophischen Begriff des Systems und zweitens über die besondere Aufgabe, die dieser in der Jurisprudenz sinnvollerweise erfüllen kann 1 . I. Die Merkmale der Ordnung und Einheit als Charakteristika des allgemeinen Systembegriffs Uber den allgemeinen Begriff des Systems dürfte — bei mancherlei Verschiedenheiten i m einzelnen — i m Grundsatz weitgehend Einigkeit herrschen 2 : maßgeblich ist noch immer die klassische Definition Kants, der das System als „die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee" 3 oder auch als „ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis" 4 bezeichnet hat. Ähnlich heißt es z. B. i m „Wörterbuch der philosophischen Begriffe" von Eisler 5, ein System sei „1. objektiv: Ein ganzheitlicher Zusammenhang von Dingen, Vorgängen, Teilen, wobei die Bedeutung jedes Teiles vom übergeordneten, übersummativen Ganzen her bestimmt ist (...) 2. logisch: eine einheitliche, nach einem Prinzip durchgeführte Mannigfaltigkeit von Erkenntnissen zu einem Wissensganzen, zu einem i n sich gegliederten, innerlich-logisch verbundenen Lehrgebäude, als möglichst getreues Korrelat zum realen System der Dinge, d.h. zu dem Ganzen von Beziehungen der Dinge untereinander, das w i r annähernd i m wissenschaftlichen Fortgange zu rekonstruieren' suchen". Dem entsprechen weitgehend auch die Definitionen, die sich i n der juristischen Literatur finden. So ist 1 Z u r Rechtfertigung dieses Vorgehens bei der Begriffsbildung vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken i m Gesetz, 1964, S. 15 f., w o derselbe Weg bei der Bestimmung des Lückenbegriffs eingeschlagen wurde. 2 Einen guten historischen Uberblick über die Entwicklung des Terminus „System" gibt Ritsehl, System u n d systematische Methode i n der Geschichte des wissenschaftlichen Sprachgebrauchs u n d der philosophischen Methodologie, 1906. * Vgl. K r i t i k der reinen Vernunft, 1. Aufl. 1781, S. 832 bzw. 2. Aufl. 1787, S. 860. 4 Vgl. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, 1. Aufl. 1786, Vorrede, S. I V . 5 4. Aufl. 1930, Bd. I I I , Stichwort „System".
12
§ 1 Die F u n k t i o n des Systemgedankens i n der Jurisprudenz
z . B . nach Savigny das S y s t e m d e r „ i n n e r e Z u s a m m e n h a n g , w e l c h e r a l l e R e c h t s i n s t i t u t e u n d Rechtsregeln z u einer großen E i n h e i t v e r k n ü p f t " 6 , nach Stammler „ e i n e erschöpfend gegliederte E i n h e i t " 7 , nach Binder „ e i n n a c h e i n h e i t l i c h e n G e s i c h t s p u n k t e n geordnetes Ganzes v o n R e c h t s b e g r i f f e n " 8 , nach Hegler „ d i e D a r s t e l l u n g eines Wissensgebietes i n e i n e m Sinngefüge, das sich als e i n h e i t l i c h e , z u s a m m e n h ä n g e n d e O r d n u n g desselben d a r s t e l l t " 9 , nach Stoll e i n „ e i n h e i t l i c h geordnetes G a n z e s " 1 0 u n d nach Coing eine „ O r d n u n g v o n E r k e n n t n i s s e n nach einem einheitlichen Gesichtspunkt"11. Z w e i M e r k m a l e s i n d es, die i n a l l e n D e f i n i t i o n e n a u f t a u c h e n 1 2 : das d e r Ordnung u n d das der Einheit; diese stehen z u e i n a n d e r i n engster Wechselbeziehung, s i n d aber g r u n d s ä t z l i c h doch zu t r e n n e n 1 3 . W a s zunächst die O r d n u n g b e t r i f f t , so ist m i t dieser h i e r — w e n n m a n v o r l ä u f i g e i n m a l sehr a l l g e m e i n f o r m u l i e r t , u m jede vorschnelle V e r e n g u n g z u v e r m e i d e n — eine r a t i o n a l erfaßbare „ i n n e r e " , d . h . v o n der Sache h e r b e g r ü n d e t e F o l g e r i c h t i g k e i t gemeint. W a s sodann die E i n h e i t angeht, so m o d i f i z i e r t dieses E l e m e n t das der O r d n u n g d a h i n gehend, daß j e n e n i c h t i n eine F ü l l e u n z u s a m m e n h ä n g e n d e r E i n z e l 6 Vgl. System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 214 (ähnlich S. X X X V I u n d S. 262). 7 Theorie der Rechtswissenschaft, 2. A u f l . 1923, S. 221; ebenso Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. A u f l . 1928; zustimmend z.B. Binder, Rechtsbegriff u n d Rechtsidee, 1915, S. 158 f. u n d Philosophie des Rechts, 1925, S. 922; Engisch, Sinn und Tragweite juristischer Systematik, Stud. Gen. 10 (1957), S. 173 ff. (186). 8 Philosophie des Rechts, a.a.O.; ähnlich schon Rechtsbegriff u n d Rechtsidee, a.a.O., u n d später Z H R 100, S. 34 f. u n d 78. 9 Z u m A u f b a u der Systematik des Zivilprozeßrechts, i n : Festgabe f ü r Heck, Rümelin u n d Schmidt, 1931, S. 216. Begriff u n d K o n s t r u k t i o n i n der Lehre der Interessenjurisprudenz, Festgabe für Heck usw. (vgl. vorige Fn.), S. 77. 11 Geschichte u n d Bedeutung des Systemgedankens i n der Rechtswissenschaft, F r a n k f u r t e r Universitätsreden Heft 17, zitiert nach Coing, Z u r Geschichte des Privatrechtssystems, 1962, S. 9; vgl. auch Coing, Bemerkungen zum überkommenen Zivilrechtssystem, i n : Festschrift für Dölle, 1963, S. 25. 12 M i t u n t e r w i r d auch noch das M e r k m a l der Vollständigkeit genannt, vgl. vor allem Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, a.a.O., S. 221 f., i m Anschluß an Kant: „Das Ganze . . . kann zwar innerlich (per intus suseeptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem) wachsen, w i e ein tierischer Körper, dessen Wachstum kein Glied hinzusetzt, sondern, ohne Veränderung der Proportion, ein jedes zu seinen Zwecken stärker u n d tüchtiger macht" ( K r i t i k der reinen Vernunft, a.a.O., S. 833 bzw. S. 861). Dieses M e r k m a l k a n n das juristische System keinesfalls erfüllen, da es wegen der „Offenh e i t " des „ o b j e k t i v e n Systems" (vgl. dazu eingehend unten § 3 I I ) stets auch „per appositionem" wachsen kann. Das Element der „Vollständigkeit" dürfte jedoch dem allgemeinen Systembegriff nicht wesentlich sein, sondern bereits auf einer bestimmten Verengung desselben beruhen. — Z u m E r fordernis der „Vollständigkeit" bei einem axiomatischen System i. S. d. Logistik vgl. unten S. 26 u n d 27 f. Richtig Stammler, a.a.O., S. 222.
I I . Die wertungsmäßige Folgerichtigkeit u n d innere Einheit
13
heiten zerfallen darf 1 4 , sondern sich auf wenige tragende Grundprinzipien zurückführen lassen muß. Dabei sind stets zwei Arten oder besser zwei Seiten des Systems zu unterscheiden: das System der Erkenn Inisse einerseits, das Eisler i n der zitierten Definition das „logische" nennt und das im folgenden etwas allgemeiner als das „wissenschaftliche" bezeichnet werden soll, und das System der Gegenstände der Erkenntnis andererseits, hinsichtlich dessen Eisler treffend von dem „objektiven" oder „realen" spricht. Beide stehen insofern i n engstem Zusammenhang, als das erstere das „möglichst getreue Korrelat" 1 5 des letzteren sein muß, wenn anders die wissenschaftliche Bearbeitung eines Gegenstandes diesem nicht Gewalt antun und damit ihr Ziel verfehlen soll. Für die juristische Systembildung folgt daraus unmittelbar, daß sie nur dann sinnvoll möglich ist, wenn ihr Objekt, d. h. das Recht, ein derartiges „objektives" System überhaupt aufweist. Jede nähere Erörterung über die Bedeutung des „Systemgedankens" in der Jurisprudenz und über deren Systembegriff setzt daher die Klärung der Frage voraus, ob und inwieweit das Recht jene Ordnung und Einheit besitzt, die als Grundlage des Systems unerläßlich ist. II. Die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung als Grundlage des juristischen Systems Wie steht es also m i t der inneren Ordnung und Sinneinheit des Rechts? 1. Folgerichtigkeit und Einheit als wissenschaftstheoretische und hermeneutische Prämissen
In methodischer Hinsicht setzt man sie regelmäßig als selbstverständlich voraus. Man tut dies schon allein dadurch, daß man Jurisprudenz als Wissenschaft betreibt 1 6 ; denn, wie Coing sagt: „Letzten Endes ist das Rechtssystem der Versuch, das Ganze der Gerechtigkeit im Hinblick auf eine bestimmte Form des gesellschaftlichen Lebens i n einer Summe rationaler Prinzipien zu erfassen. Daß aber eine vernünftige, dem Denken erfaßbare Struktur die geistige und die mate14 V o n „Ordnung" könnte auch dann w o h l noch gesprochen werden, da insbesondere auch die Gleichordnung eine Form der Ordnung darstellt, doch trägt zweifellos jede Ordnung als solche schon die Tendenz zur Einheit i n sich (vgl. auch bei Fn. 13). 15 Vgl. Eisler, a.a.O. 16 Den untrennbaren Zusammenhang zwischen dem Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz und dem Gedanken des Systems hat vor allem Binder i m m e r wieder nachdrücklich betont, vgl. z. B. Philosophie des Rechts, S. 838 f., 852 u n d schon Der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, K a n t studien X X V (1921), S. 321 ff. (356).
14
§ 1 Die F u n k t i o n des Systemgedankens i n der Jurisprudenz
rielle Welt beherrsche, ist die unaufgebbare Grundhypothese aller Wissenschaft 17 ." Dementsprechend geht auch die juristische Methodenlehre i n ihren Postulaten ohne weiteres vom grundsätzlichen Bestehen der Einheit des Rechts aus. Sie tut dies etwa mit dem Gebot „systematischer Auslegung" 1 8 oder bei der Ermittlung „allgemeiner Rechtsprinzipien" i m Wege der sogenannten Rechtsanalogie, und sie befindet sich dabei i n Einklang m i t den Lehren der allgemeinen Hermeneutik; denn für diese gehört der sogenannte „Kanon der Einheit" oder „Ganzheit", nach dem der Interpret seinen Gegenstand als ein i n sich sinnvolles Ganzes zu verstehen und vorauszusetzen hat, zum gesicherten Bestand 19 . Indessen liefe es auf eine petitio principii hinaus, aus dem Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz oder aus dem methodologischen Postulat einheitlichen Sinnesverständnisses ohne weiteres auf das Bestehen der Einheit des Rechts zu schließen. Denn ob die Jurisprudenz eine Wissenschaft ist, stellt logisch die Vorfrage dar, und es könnte sich daher durchaus erweisen, daß die Annahme ihres Wissenschaftscharakters ein Irrtum, w e i l ihrem Gegenstand unangemessen ist; so haben die Gegner des Systemdenkens denn i n der Tat der Jurisprudenz teilweise i n folgerichtiger Durchführung ihres Grundansatzes den Wissenschaftscharakter abgesprochen 20 und ihr lediglich den Rang einer A r t „technischer Kunstlehre" zuerkannt. Und ähnlich ist das Gebot „systematischer Auslegung", der Ermittlung allgemeiner Rechtsprinzipien und eines einheitlichen Sinnverständnisses wie alle methodologischen Maximen zunächst bloßes Postulat, das unerfüllbar bleiben muß, wenn es nicht i n seinem Gegenstand, d. h. i n der Rechtsordnung eine Entsprechung findet. Immerhin ist der Hinweis auf die methodischen Grundhypothesen, die der Jurist herkömmlicherweise macht, i n diesem Zusammenhang doch nicht gänzlich ohne Wert. Zumindest sollte er den K r i t i k e r n des Systemgedankens vor Augen führen, daß sie mehr preisgeben, als es auf den ersten Blick vielleicht scheint; ob etwa Viehweg den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz leugnen w i l l und ob i h m gar alle seine Anhänger in dieser Konsequenz folgen möchten, ist doch w o h l 17
Z u r Geschichte des Privatrechtssystems, S. 28. Vgl. dazu näher u n t e n § 5 1 1 m. Nachw. i n Fn. 21. 19 Vgl. dazu zuletzt eingehend Betti , Allgemeine Auslegungslehre als M e t h o d i k der Geisteswissenschaften, 1967, S. 219 ff. m i t umfassenden Nachweisen. 20 M i t besonderer Konsequenz Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts, 1913, S. 1 ff., 198 u n d öfter; zu Ehrlichs Ablehnung des Gedankens der Einheit der Rechtsordnung u n d zu seiner Systemkritik vgl. Die juristische Logik, 2. A u f l . 1925, S. 121 ff. (insbesondere S. 137) bzw. S. 258 ff. 18
I I . Die wertungsmäßige Folgerichtigkeit u n d innere
E i n h e i t 1 5
recht z w e i f e l h a f t 2 1 . D a r ü b e r h i n a u s μ n d v o r a l l e m aber lassen die H y p o t h e s e des Wissenschaftscharakters u n d die methodologischen M a x i m e n Rückschlüsse auf das Selbstverständnis des J u r i s t e n z u 2 2 , u n d dieses w i e d e r u m b i l d e t z u m i n d e s t e i n gewisses I n d i z 2 3 f ü r die S t r u k t u r des Gegenstandes der J u r i s p r u d e n z , d e r R e c h t s o r d n u n g 2 4 ; d e n n w ü r d e diese i n krassem Gegensatz z u d e n V o r a u s s e t z u n g e n u n d P o s t u l a t e n d e r M e t h o d e n l e h r e stehen, so m ü ß t e der J u r i s t i n seiner p r a k t i s c h e n A r b e i t b e s t ä n d i g S c h i f f b r u c h e r l e i d e n oder aber die F o r d e r u n g e n der M e t h o d o l o g i e n i c h t oder n u r z u m Schein beachten, — w a s indessen beides v o n d e r h e u t i g e n J u r i s p r u d e n z n i c h t gesagt w e r d e n k a n n . G l e i c h w o h l : dieses „ I n d i z " b l e i b t unsicher genug, v o n einer z w i n g e n d e n V e r i f i z i e r u n g d e r H y p o t h e s e k a n n n i c h t die Rede sein. D e r G e d a n k e d e r i n n e r e n O r d n u n g u n d E i n h e i t b e d a r f daher einer B e s t ä t i g u n g , die i n d e r S t r u k t u r seines Gegenstandes selbst, also i m Wesen des Rechts b e g r ü n d e t sein m u ß .
21 Viehweg bezeichnet die Topik als die „Technik des Problemdenkens", vgl. a.a.O. (S. 15), u n d es liegt nahe, den Ausdruck „Technik" als Gegensatz zu „Wissenschaft" aufzufassen (auf einen Gegensatz von Topik u n d Wissenschaft deuten auch die Ausführungen S. 25 unter V I I hin!). I n der Tat sollte man meinen, daß ein Verfahren, das lediglich „ W i n k e geben w i l l " (S. 15), das „bindungsscheu" ist (S. 23), das die Legitimierung seiner Prämissen n u r auf „die Annahme des Gesprächspartners" stützt (S. 24) usw. usw., nicht ernstlich den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erheben kann. Indessen scheint Viehweg neben den logisch-deduktiv arbeitenden Wissenschaften einen zweiten Typus der Wissenschaft anzuerkennen (worin i h m zuzustimmen wäre) u n d diesem die Jurisprudenz auch bei Bejahung ihrer topischen Grundstruktur zuorden zu w o l l e n (vgl. z. B. S. 1 f., S. 53 f., S. 63 f.) (was zumindest m i t dem herkömmlichen Wissenschaftsbegriff w o h l k a u m zu vereinbaren wäre). 22 Es besteht daher eine enge Verbindung zwischen der Methodenlehre eines Faches u n d einer Phänomenologie des Verstehens (zu letzterer vgl. vor allem Gadamer, Wahrheit u n d Methode, 2. Aufl. 1965): die Phänomenologie kann aus der Methodologie wesentliche Rückschlüsse auf die A r t des Verstehens i n dieser Disziplin gewinnen (sofern die M a x i m e n der Methodenlehre nicht bloße Postulate sind, sondern tatsächlich beachtet werden), u n d umgekehrt muß jede Methodenlehre die von der Phänomenologie herausgearbeiteten Wesensgesetzlichkeiten menschlichen Verstehens beachten, w i l l sie nicht unerfüllbare Forderungen aufstellen. 23 Diese Behauptung w i r d m a n aufstellen können, auch ohne sich auf die erkenntnistheoretische Problematik des Verhältnisses von Subjekt u n d O b j e k t einzulassen. 24 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Diederichsen, N J W 1966, S. 699 bei Fn. 29, der gegen die Thesen Viehwegs u. a. einwendet, „ i m konkreten Werterlebnis" erscheine ,.dem Juristen sein Fach als sinnvolles Ganzes u n d nicht als Gemenge unzusammenhängender Fragen". Zwingende Beweiskraft k o m m t natürlich auch dieser Behauptung — die übrigens i n ihrer Allgemeinheit zudem nicht unanfechtbar ist — nicht zu; denn das „Einheitserlebnis" des Juristen besagt als lediglich psychologisches F a k t u m nichts Endgültiges über die S t r u k t u r der Rechtsordnung, ja, i m Gegensatz zur Methodenlehre, nicht einmal etwas über die A r t richtigen juristischen Denkens.
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§ 1 Die F u n k t i o n des Systemgedankens i n der Jurisprudenz 2. Folgerichtigkeit und Einheit als Emanationen und Postulate der Rechtsidee
Diese ist nun in der Tat unschwer aufzuweisen. Die innere Ordnung und Einheit des Rechts sind nämlich weit mehr als nur die Voraussetzung des Wissenschaftscharakters der Jurisprudenz und Postulate der Methodenlehre; sie gehören vielmehr zu den fundamentalsten rechtsethischen Forderungen und wurzeln letztlich i n der Rechtsidee selbst. So ergibt sich das Erfordernis der „Ordnung" ohne weiteres aus dem anerkannten Gerechtigkeitspostulat, Gleiches gleich und Ungleiches nach dem Maße seiner Verschiedenheit ungleich zu behandeln: der Gesetzgeber wie der Richter sind gehalten, einmal getroffene Wertungen „konsequent" wieder aufzunehmen, sie bis i n alle Einzelfolgerungen „zu Ende zu denken" und sie nur sinnvoll, d. h. aus sachlichem Anlaß zu durchbrechen, — m i t anderen Worten: folgerichtig zu verfahren. Rationale Folgerichtigkeit aber ist, wie gesagt, das Merkmal der „Ordnung" i. S. des Systembegriffs, und deshalb bildet das aus dem Gleichheitssatz folgende Gebot wertungsmäßiger Folgerichtigkeit den ersten entscheidenden Ansatz für die Verwendung des Systemgedankens i n der Jurisprudenz, — was z. B. Flume 25 i m Anschluß an Savigny 26 treffend zum Ausdruck bringt, indem er das System als „die vorausgesetzte innere Konsequenz des Rechts" bezeichnet 27 . Ähnlich findet auch das Merkmal der Einheit seine Entsprechung auf Seiten des Rechts, gehört doch der Gedanke der „Einheit der RechtsOrdnung" zum gesicherten Bestand rechtsphilosophischer Einsichten 28 . Auch diese ist keineswegs nur ein „rechtslogisches Postulat" 2 9 , sondern geht ebenfalls auf das Gerechtigkeitsgebot zurück. Sie bildet nämlich einerseits — i n ihrer sozusagen negativen Komponente — wieder lediglich eine Ausprägung des Gleichheitssatzes, indem sie die Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung zu gewährleisten sucht (insoweit 2
« A l l g . T e i l des Bürgerl. Rechts, Bd. 2, 1965, S. 295 u n d 296. a.a.O., S. 292. Die Bemerkung Savignys bezieht sich allerdings nicht, w i e man nach den Ausführungen Flumes annehmen könnte, unmittelbar auf das System, sondern auf die Analogie; zum Systemsbegriff Savignys vgl. das Z i t a t oben bei Fn. 6. 2 ? z. T. ähnlich auch die unten Fn. 35 Zitierten. 28 Grundlegend die gleichnamige Schrift von Engisch aus dem Jahre 1935. Z u diesem leider verhältnismäßig wenig erörterten Problem vgl. ferner ders. y E i n f ü h r u n g i n das juristische Denken, 3. Aufl. 1964, S. 156 ff.; Ehrlich, Die juristische Logik, S. 121 ff. m i t ausführlichem historischem Überblick; Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, S. 209 ff., 211 ff.; Wengler, Betrachtungen über den Zusammenhang der Rechtsnormen i n der Rechtsordnung u n d die Verschiedenheit der Rechtsordnungen, i n : Festschrift f ü r Rudolf Laun, 1953, S. 719 ff.; Lareriz, Methodenlehre, a.a.O., S. 135 f., 353 f.; Hanack, Der Ausgleich divergierender Entscheidungen i n der oberen Gerichtsbarkeit, 1962, S. 104 ff. 2 » Z u eng daher Hanack, a.a.O., S. 107 (vgl. auch S. 104); es geht i n W a h r heit i n erster L i n i e u m ein axiologisches Postulat! 26
I I . Die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere
E i n h e i t 1 7
ist sie bereits durch den Gedanken der Folgerichtigkeit erfaßt 30 ), und sie stellt andererseits — in ihrer „positiven" Komponente 31 — nichts anderes dar als die Verwirklichung der „generalisierenden Tendenz" der Gerechtigkeit 32 , die den Aufstieg von der Fülle der im konkreten Fall möglicherweise relevanten Aspekte zu wenigen abstrakten und generellen Prinzipien fordert 3 3 . Durch letzteres aber ist gewährleistet, daß die „Ordnung" des Rechts nicht in eine Vielzahl unzusammenhängender Einzelwertungen zerfällt, sondern sich auf verhältnismäßig wenige allgemeine Kriterien zurückführen läßt 3 4 , und damit ist zugleich die Erfüllbarkeit auch des zweiten Merkmals des Systembegriffs, der Einheit, dargetan 35 . Weit entfernt, eine Verirrung zu sein, wie die Kritiker des Systemdenkens behaupten, läßt sich der Gedanke des juristischen Systems somit aus einem der obersten Rechtswerte, nämlich aus dem Gerechtigkeitsgebot und seinen Konkretisierungen im Gleichheitssatz und in der Tendenz zur Generalisierung 33 rechtfertigen. Es kommt hinzu, daß auch ein anderer oberster Wert, die Rechtssicherheit in dieselbe Richtung weist. Denn auch sie drängt i n nahezu allen ihren Spielarten — ob als Bestimmtheit und Vorhersehbarkeit des Rechts, als Stabilität und Kontinuität von Gesetzgebung und Rechtsprechung oder schlicht als Praktikabilität der Rechtsanwendung — zur Ausbildung eines Systems, da alle diese Postulate weit eher durch ein folgerichtig ge30 D a r i n w i r d wieder der enge Zusammenhang zwischen dem M e r k m a l der Einheit u n d dem der Ordnung deutlich. 31 Diese wurde bisher i m Schrifttum gegenüber dem anderen Element, dem der Widerspruchslosigkeit, zu Unrecht stark vernachlässigt. 32 Z u dieser (und zu ihrem Gegenstück, der individualisierenden Tendenz) vgl. vor allem Henkel, Recht u n d I n d i v i d u a l i t ä t , 1958, S. 16 f., 44 f. u n d öfter u n d Einführung i n die Rechtsphilosophie, 1964, S. 345 f.; vgl. ferner z.B. Salomon, Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1925, S. 147 ff. ; Radbruch, Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1956, S. 170; Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 114 f.; Engisch, Die Idee der Konkretisierung i n Recht u n d Rechtswissenschaft unserer Zeit, 1953, S. 199 ff. m i t weiteren Nachw.; Emge, Einführung i n die Rechtsphilosophie, 1955, S. 174 f. 33 Diese steht übrigens nicht etwa dem Gleichheitssatz selbständig gegenüber, sondern ist i m Gegenteil dessen Folge; denn das schlechthin I n d i v i duelle ist i n seiner wesensmäßigen Einmaligkeit immer „unvergleichlich", u n d die Anwendung des Gleichheitssatzes setzt daher notwendig stets eine gewisse Abstraktion und Generalisierung voraus, die eine „Vergleichung" erst möglich macht, so daß die „generalisierende Tendenz" der Gerechtigkeit i n der Tat ihren Ursprung i m Gleichheitssatz hat. 34 Natürlich w i r k t dem die „individualisierende Tendenz" entgegen, doch macht diese die Systembildung nicht unmöglich, sondern setzt i h r nur Schranken; vgl. dazu näher unten §6111 u n d § 7 I I 2 b. 35 Der Zusammenhang zwischen dem Gedanken der Folgerichtigkeit und vor allem dem der Einheit des Rechts u n d dem System w i r d oft hervorgehoben, wenn auch nicht selten mehr beiläufig; außer den oben Fn. 6 bis Fn. 11 Zitierten vgl. z. B. Kretschmar, Uber die Methode der Privatrechts-
2 Canaris
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§ 1 Die F u n k t i o n des Systemgedankens i n der Jurisprudenz
ordnetes, von wenigen überschaubaren Prinzipien beherrschtes, also „systemorientiertes" Recht erfüllt werden können als durch eine unübersehbare Vielzahl von unzusammenhängenden und allzu leicht miteinander i n Widerspruch geratenden Einzelnormen. So wurzelt der Systemgedanke in der Tat mittelbar i n der Rechtsidee (als dem Inbegriff der obersten Rechtswerte). Er ist dementsprechend jedem positiven Recht immanent, w e i l und sofern dieses deren Konkretisierung (in einer bestimmten historischen Form) darstellt, und bleibt daher nicht bloßes Postulat, sondern ist immer auch schon Voraussetzung allen Rechts und allen juristischen Denkens 36 — so bruchstückhaft Folgerichtigkeit und Einheit auch oft verwirklicht sein mögen 37 . Damit ist das zu Beginn dieses Paragraphen aufgestellte Ziel erreicht: es ist ein rechtliches Phänomen gefunden, das einen Anknüpfungspunkt für ein System i. S. des philosophischen Sprachgebrauchs bildet, und es ist dementsprechend dem spezifisch juristischen Systembegriff nunmehr eine Aufgabe zugewiesen, an Hand deren seine nähere Bestimmung möglich ist. Diese kann dann ihrerseits die Grundlage für genauere Aussagen über Sinn und Grenzen des Systemdenkens in der Jurisprudenz bilden und w i r d damit zugleich erlauben, das soeben Gesagte i m Fortgang der Untersuchung nach und nach zu überprüfen und zu präzisieren 38 . Jene Aufgabe des Systembegriffs aber ist, um es noch einmal zu sagen, die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung darzustellen und zu verwirklichen 39. Wissenschaft, 1914, S. 40 u n d 42 und JherJb. 67, S. 264 f.; Baumgarten, Die Wissenschaft vom Recht u n d ihre Methode, 1920, Bd. I, S. 298 und S. 344; Sauer, Methodenlehre, a.a.O., S. 172; Nawiasky, Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2. Aufl. 1948, S. 16 u n d 264; Coing, Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 276 ff. u n d JZ 1951, S. 485; Esser, Grundsatz und Norm, a.a.O., S. 227 u n d öfter; Larenz, Festschrift f ü r Nikisch, 1958, S. 299 f. u n d Methodenlehre, a.a.O., S. 133 f.; P.Schneider, W d D S t R L 20, S. 38; Raiser , N J W 64, S. 1204; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 532; Betti , A l l g . Auslegungslehre, a.a.O., S. 223 f.; Zippelius, N J W 1967, S. 2230; Mayer-Maly, The I r i s h Jurist, vol. I I , part 2, 1967, p. 375 (vgl. auch schon Festschrift f ü r Nipperdey, 1965, Bd. I, S. 522). 36 So sprach auch Savigny i n dem erwähnten Zitat von der „vorausgesetzten Konsequenz des Rechts". 37 Diese Bruchstückhaftigkeit besagt nichts gegen die grundsätzliche Möglichkeit des Systems, sondern macht nur deutlich, daß dessen vollständiger Ausbildung ersichtlich gewisse Grenzen gesetzt sind (zu diesen vgl. näher unten § 6). 38 Die vorstehenden Ausführungen sind also nicht mehr als ein erster A u f r i ß des Systemproblems, der i m folgenden noch mancherlei M o d i f i k a t i o nen erfahren w i r d . 39 Auch zu v e r w i r k l i c h e n ; denn die Einheit und Folgerichtigkeit sind nicht n u r vorgegeben, sondern immer auch erst aufgegeben, also nicht n u r Voraussetzung, sondern auch Postulat (vgl. soeben bei Fn. 36 u n d näher unten § 5 I V 2).
§ 2 D e r Begriff des Systems Weist man dem juristischen Systembegriff die soeben gekennzeichnete Aufgabe zu, so scheiden damit aus der Fülle der bisher entwickelten Begriffe 1 von vornherein alle diejenigen aus, die nicht zur Herausarbeitung der inneren Folgerichtigkeit und Einheit einer Rechtsordnung geeignet sind. Das heißt nicht notwendig, daß sie ohne Ausnahme verfehlt oder für die Aufgaben der Jurisprudenz i n jeder Hinsicht unbrauchbar sein müßten; immerhin schließt diese Unterscheidung aber doch auch eine gewisse Wertung ein, weil die Berechtigung eines Systembegriffs, der sich nicht auf die i m vorigen Paragraphen vorgetragenen Überlegungen stützen läßt, von vornherein beschränkt und häufig auch dem Bedenken ausgesetzt ist, er könne das Wesen des Rechts verfehlen. I. Systembegriffe, die sich nicht aus dem Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit der Rechtsordnung rechtfertigen lassen 1. Das „äußere" System
Nicht i n Betracht kommt i n diesem Zusammenhang zunächst das sogenannte äußere System i m Sinne der bekannten Terminologie Hecks 2, das i m wesentlichen auf den Ordnungsbegriffen des Gesetzes beruht; denn dieses dient nicht oder doch nicht primär dazu, die innere Sinneinheit des Rechts aufzudecken, sondern w i r d i n seinem Aufbau durch das Bestreben nach einer möglichst klaren und übersichtlichen Darstellung und Gliederung des Stoffes bestimmt. Freilich ist ein derartiges System darum nicht wertlos; i m Gegenteil: für die Übersichtlichkeit des Rechts und damit für die Praktikabilität seiner Anwendung und mittelbar auch für die Rechtssicherheit im Sinne der Vorhersehbarkeit der Entscheidung ist es von großer Bedeutung. Nur ist es eben nicht das „System des Rechts" i. S. einer innerlich zusammenhängenden Ordnung, mag es diese auch häufig zumindest teilweise spiegeln. 1 E i n Überblick findet sich z.B. bei Radbruch, Zur Systematik der V e r brechenslehre, i n : Frank-Festgabe I, 1930, S. 158 ff.; Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 177 ff. 2 Vgl. Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 139 ff. (142 f.).
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§2 Der Begriff des Systems 2. Die Systeme „reiner" Grundbegriffe
Ungeeignet, die innere Einheit und Folgerichtigkeit einer Rechtsordnung wiederzugeben, sind auch alle Systeme „reiner" Grundbegriffe, wie sie etwa Stammler 3, Kelsen 4 oder Nawiasky 5 entworfen haben. Denn dabei geht es um rein formale Kategorien, die jeder denkbaren Rechtsordnung zugrunde liegen, während die wertungsmäßige Einheit stets materialer A r t ist und sich nur in einer bestimmten historischen Rechtsordnung verwirklichen kann; über diese aber wollen und können die Systeme reiner Grundbegriffe ihrer eigenen Aufgabenstellung nach nichts aussagen. Daß es trotzdem von hohem Wert ist, das Instrumentarium der Rechtswissenschaft durch eine Besinnung auf die ihr immer schon vorgegebenen, a-priorischen Grundbegriffe zu verfeinern, bedarf keiner Hervorhebung, doch machen andererseits der rein formale Charakter und die Allgemeinheit dieser Begriffe oder Kategorien auch die Grenzen ihres Wertes für die wissenschaftliche Bearbeitung des Rechts, das es immer nur als eine bestimmte historische Individualität gibt, deutlich genug. So stellen sich denn auch nicht zufällig die Fragen, die man als typisch für die Problematik juristischer Systembildung ansieht — insbesondere die nach der Bedeutung des Systems für die Rechtsgewinnung, nach der Bindung des Gesetzgebers an den Systemgedanken oder nach der Behandlung der Systembrüche —, immer nur i m Hinblick auf eine bestimmte Rechtsordnung 6 ; auch wenn man von „Systemdenken" — etwa i m Gegensatz zum Problemdenken oder zur Topik — spricht, hat man dabei üblicherweise nicht ein System reiner Grundbegriffe, sondern das des positiven Rechts i m Auge. 3. Das formal-logische System
a) Das logische System der Begriffsjurisprudenz Ungeeignet, die innere Einheit und Folgerichtigkeit einer bestimmten positiven Rechtsordnung zu erfassen, ist weiterhin ein formal-logisches 7 System. Gleichwohl hat dieses Ideal lange Zeit die deutsche Rechts3 Vgl. vor allem Theorie der Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1911, 2. Aufl. 1923 u n d Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1928. 4 Vgl. vor allem Reine Rechtslehre, 2. A u f l . 1960. 5 Vgl. Allgemeine Rechtslehre als System der rechtlichen Grundbegriffe, 2. Aufl. 1948. 6 Vgl. auch Engisch, a.a.O., S. 182 vor V I . 7 Z u r Bestimmung des Begriffs „formale L o g i k " , über den weitgehende Einigkeit herrschen dürfte, vgl. etwa Scholz, Abriß der Geschichte der Logik, 2. Aufl. 1959, S. 15. Danach ist darunter derjenige T e i l der Wissenschaftslehre zu verstehen, der „die zum A u f b a u irgendeiner Wissenschaft erforderlichen Schlußregeln formuliert u n d zugleich alles das liefert, was
I. K r i t i k bisher entwickelter Systembegriffe
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Wissenschaft beherrscht, hatten sich doch die Anhänger der sogenannten „Begriffsjurisprudenz" die Ausarbeitung eines derartigen Systems zum Ziel gesetzt8. Ihren Systembegriff kennzeichnet Max Weber in seiner Rechtssoziologie treffend folgendermaßen: „Nach unserer heutigen Denkgewohnheit bedeutet sie (sc.: die Systematisierung): die Inbeziehungsetzung aller durch Analyse gewonnenen Rechtssätze derait, daß sie untereinander ein logisch klares, i n sich logisch widerspruchsloses und, vor allem, prinzipiell lückenloses System von Regeln bilden, welches also beansprucht: daß alle denkbaren Tatbestände unter eine seiner Normen müssen logisch subsumiert werden können, widrigenfalls ihre Ordnung der wesentlichen Garantie entbehrt 9 ." Ersichtlich steht i m Hintergrund dieser Konzeption der positivistische Wissenschaftsbegriff 10 , der am Ideal der Mathematik und der Naturwissenschaften ausgerichtet ist. So konnte etwa der Philosoph Wundt sagen, auf Grund ihres begriffsjuristischen Verfahrens sei die Jurisprudenz „eine in eminentem Sinne systematische Wissenschaft" und durch ihren „streng logischen Charakter" sei sie „ i n einer gewissen Hinsicht der Mathematik vergleichbar" 11 . Diese Auffassung von Wesen und Zielen der Rechtswissenschaft darf man heute ohne Einschränkung als überholt bezeichnen. I n der Tat ist der Versuch, das System einer bestimmten Rechtsordnung 12 als formal-logisches oder axiomatisch-deduktives zu konzipieren, von vornherein zum Scheitern verurteilt 1 3 . Denn die innere Sinneinheit des für eine exakte Formulierung dieser Regeln erforderlich ist". Über andere A r t e n der L o g i k u n d über die Frage, ob von einer nicht-formalen L o ^ i k überhaupt sinnvoll gesprochen werden kann, vgl. Scholz , a.a.O., S. 1 ff. bzw. S. 5. β Vgl. statt aller die Darstellung bei Larenz , a.a.O., S. 17 ff. 9 Vgl. Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl. (besorgt von Johannes Winckelmann) 1956, 2. HBd., S. 396 (Hervorhebungen hinzugefügt). M a x Weber stand dieser A r t von Jurisprudenz übrigens durchaus kritisch gegenüber, vgl. vor allem S. 493 und S. 506 f. 10 Z u dessen Einfluß auf die Jurisprudenz vgl. allgemein Larenz , Methodenlehre, S. 34 ff. » Vgl. Logik, Bd. I I I , 4. Aufl. 1921, S. 617 (vgl. aber auch S. 595 f.); wesentlich realistischer hinsichtlich der Brauchbarkeit eines logisch-deduktiven Systems für die Jurisprudenz dagegen schon Sigwart, Logik, 2. Bd., 2. Aufl. 1893, S. 736 ff. 12 Die Systeme der „reinen Grundbegriffe" dürften dagegen wegen ihres rein formalen Charakters durchaus den Anforderungen eines formal-logischen oder axiomatisch-deduktiven Systems genügen. 13 Ebenso i. E. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, S. 276 u n d Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens, S. 27; Viehweg , a.a.O., S. 53 ff.; Engisch , Stud. Gen. 10 (1957), S. 173 ff. u n d 12 (1959), S. 86; Esser , Grundsatz u n d Norm, 2. Aufl. 1964, S. 221; Larenz , a.a.O., S. 134 f.; Simitis, Ratio 3 (1960), S. 76 ff. ; Emge, Philosophie der Rechtswissenschaft, 1961, S. 289 f.; Bäumlin, Staat, Recht u n d Geschichte, 1961, S. 27; Perelman, Justice et raison, 1963, p. 206 sqq; Raiser , N J W 1964, S. 1203 f.; Flume , Allg. Teil des Bürgl. Rechts, Bd. 2, 1965. S. 295 f.; Diederichsen, N J W 1966, S. 699 f.; Zippelius, N J W 1967, S. 2230: vgl. auch schon Sigwart, a.a.O., S. 736 ff.
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§2 Der Begriff des Systems
Rechts, die es im System zu erfassen gilt, ist entsprechend ihrer Ableitung aus dem Gerechtigkeitsgedanken nicht logischer, sondern wertungsmäßiger, also axiologischer Art. Wer wollte denn auch i m Ernst behaupten, das Gebot, Gleiches gleich und Ungleiches nach dem Maße seiner Verschiedenheit ungleich zu bewerten, ließe sich m i t den Mitteln der Logik erfüllen? Wertungen liegen vielmehr unzweifelhaft außerhalb des Bereichs der formalen Logik, und dementsprechend läßt sich auch die Folgerichtigkeit verschiedener Wertungen untereinander und der innere Zusammenhang der Wertungen nicht logisch, sondern nur axiologisch oder teleologisch 14 erfassen. Dabei mag die schwierige Frage, inwieweit das Recht an die Gesetze der Logik gebunden ist und inwieweit die logische Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung daher als Minimaltatbestand i n ihrer wertungsmäßigen Einheit inbegriffen ist 1 5 , auf sich beruhen; selbst wenn man sie bejaht, so ist doch unzweifelhaft, daß eine eventuelle formal-logische Folgerichtigkeit der einzelnen Rechtsnormen die spezifisch rechtliche Sinneinheit einer Rechtsordnung nicht ausmacht. Diesem axiologischen und teleologischen Charakter der Rechtsordnung entspricht es, daß auch für das juristische Denken und die Methodenlehre der Rechtswissenschaft formal-logische Kriterien von vergleichsweise sehr geringer Bedeutung sind 1 6 . Zwar ist die Jurisprudenz, sofern sie den Anspruch der Wissenschaftlichkeit oder überhaupt nur der rationalen Folgerichtigkeit ihres Argumentierens erhebt, selbstverständlich an die Gesetze der Logik gebunden 17 , doch ist deren Einhaltung nur notwendige, nicht hinreichende Bedingung korrekten juristischen Denkens 18 ; ja, mehr noch: die eigentlich entscheidenden 1 4 I m weiteren Sinne des Wortes, vgl. unten S. 41. is Vgl. dazu auch unten S. 122 f. 16 Es versteht sich, daß i m Rahmen des hier erörterten Themas n u r eine Kennzeichnung des eigenen Standpunkts möglich ist u n d auf eine Auseinandersetzung m i t fremden Meinungen weitgehend verzichtet werden muß. Z u r Bedeutung der L o g i k f ü r die Jurisprudenz vgl. z.B. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 1943 (3. Aufl. 1963), S. 3 ff. (insbesondere S. 5 f. u n d S. 13) u n d Aufgaben einer L o g i k u n d Methodik des juristischen Denkens, Stud. Gen. 12 (1959), S. 76 ff.; Klug, Juristische Logik, 3. Aufl. 1966, S. I f f . , 9 ff., 172 ff.; Brusiin, Über das juristische Denken, 1951, S. 100 ff. (insoweit auch abgedruckt ARSP 39, S. 324 ff.); Simitis, Z u m Problem einer juristischen Logik, Ratio 3 (1960), S. 52 ff. m i t ausf. weiteren Nachw.; Dieter Horn, Studien zur Rolle der L o g i k bei der Anwendung des Gesetzes, Diss. B e r l i n 1962, insbesondere S. 142 ff.; Fiedler, Juristische L o g i k i n mathematischer Sicht, ARSP 52 (1966), S. 93 ff. 17 Das ist scharf von der B i n d u n g des Rechts oder des Gesetzgebers an die logischen Gesetze zu trennen: die Problematik entsteht hier daraus, daß es sich u m Sollens- oder Geltungssätze handelt, die als solche nicht w a h r oder falsch, sondern n u r geltend oder nicht-geltend sein können; demgegenüber macht der Jurist Aussagen (über das Recht), die ohne weiteres dem K r i t e r i u m von w a h r u n d falsch oder richtig u n d unrichtig unterliegen. 18 Das betont Klug, a.a.O. m i t Recht immer wieder, vgl. z. B. V o r w o r t zur 1. Aufl., S. 2, 173.
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juristischen Denkakte vollziehen sich außerhalb des Bereichs der formalen Logik 1 9 . Denn wie es das Wesen des Rechts ist, Wertentscheidungen zu treffen, so ist es die Aufgabe des Juristen, Wertungen verstehend nachzuvollziehen, zu Ende zu denken und schließlich, auf einer letzten Stufe, selbst vorzunehmen. Für diese Aufgaben aber kommt der Logik nur die Bedeutung eines „Rahmens" zu 2 0 , während das „Verstehen" oder die „Wertung" von ihr wesensgemäß nicht geleistet werden können— sowenig wie das „Verstehen" eines anderen geistigen Sinngebildes, etwa eines literarischen Kunstwerks oder eines theologischen Textes. Die Hermeneutik als Lehre vom richtigen Verstehen und die Kriterien für die Objektivierbarkeit von Wertungen spielen daher statt dessen die maßgebende Rolle innerhalb des juristischen Denkens 21 . Dies erweist sich ohne Ausnahme bei allen juristischen Schlußweisen. So ist etwa bei der sogenannten Subsumtion die Findung der Prämissen nahezu allein entscheidend: wenn „Obersatz" und „Untersatz" genügend konkretisiert und aufeinander abgestimmt sind — wofür die formale Logik unwesentlich ist —, dann ist die eigentliche Aufgabe des Juristen erfüllt; die Schlußfolgerung vollzieht sich jetzt sozusagen automatisch 22 , und selbst dieser letzte A k t , die „Subsumtion" 2 3 , ist keineswegs allein formal-logischer Art, sondern besteht i n einem wesentlichen, wenn auch häufig nicht explizit gemachten Teil in einer wertungsmäßigen Zuordnung 2 4 . Dementsprechend kommen kompliziertere logische Kettenableitungen i n der Jurisprudenz praktisch nicht v o r 2 4 a . Und dementsprechend lassen sich alle angeblich zwingenden logischen Schlüsse sehr leicht als Scheinlogik entlarven, w e i l der 19 Die Frage nach dem Gewicht des logischen Elementes innerhalb des juristischen Denkens ist keineswegs rein psychologischer Natur und damit systematisch uninteressant (vgl. aber Klug, a.a.O., S. 12 zum Problem der „Überbewertung" von Begriffen u n d Konstruktionen), sondern hat eminente wissenschaftstheoretische Bedeutung, hängen von ihrer Beantwortung doch weitgehend die Besonderheiten der juristischen Methodenlehre sowie die spezifische Stellung der Jurisprudenz i m Kreise der Wissenschaften ab. 20 So der anschauliche Ausdruck von Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 176, Sp. 1; zustimmend auch Simitis, a.a.O., S. 78, Fn. 134; vgl. aber auch Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 1951, S. 214 ff., 260 ff. 21 Vgl. dazu auch unten § 2 1 1 1 u n d §7111. 22 Nicht n u r psychologisch, sondern auch methodologisch gesehen; vgl. i m übrigen auch oben Fn. 19. 23 Z u r Frage, ob der hier gebrauchte weitere Begriff von Subsumtion oder der engere, der auf ein rein formal-logisches Verfahren beschränkt ist, vorzuziehen ist, vgl. einerseits Engisch, Einführung i n das juristische Denken, 3. Aufl. 1964, S. 199, A n m . 47 m i t weiteren Zitaten, andererseits Larenz, a.a.O., S. 210, Anm. 1. 24 Zur Problematik der Subsumtion vgl. statt aller Engisch, a.a.O., S. 54 ff. m i t Nachweisen; Larenz, a.a.O., S. 210 ff.; vgl. auch schon Sigwart, a.a.O., S. 737 f. 24a R i c h t i g Viehweg, a.a.O., S. 71 und öfter.
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§2 Der Begriff des Systems
Fehler in den Prämissen liegt und die Logik sich diesen gegenüber neutral verhält. So ist es, um zwei bekannte Beispiele anzuführen, keineswegs „logisch", daß ein nichtiger Vertrag nicht angefochten werden kann, oder daß beim Rückerwerb des Nichtberechtigten vom gutgläubigen Erwerber der (ehemals) Nichtberechtigte und nicht der (ehemals) wahre Berechtigte das Recht erwerben müsse; alles kommt hier vielmehr auf die Bildung des Obersatzes an, und darüber entscheiden allein teleologische Gesichtspunkte. Dasselbe gilt in noch stärkerem Maße für die übrigen juristischen „Schlußverfahren" wie Analogie, teleologische Reduktion, argumentum e contrario, argumentum a fortiori und argumentum ad adsurdum. Zwar hat Klug diese Argumentationsverfahren mit den Mitteln der modernen Logik dargestellt 25 , doch ist zu bezweifeln, daß damit für die juristische Arbeit Wesentliches gewonnen werden kann. Denn das entscheidende Element aller dieser Verfahren ist ausnahmslos nicht logischer, sondern teleologischer und axiologischer Natur, wie sich ihre methodische Rechtfertigung denn auch nicht mit den Mitteln der Logik, sondern allein durch ihre Rückführung auf den Wert der Gerechtigkeit und den in diesem enthaltenen (positiven oder negativen) Gleichheitssatz dartun läßt 2 6 . Wenn Klugs Untersuchung über die logische Struktur der Analogie mit der — unbestreitbaren — Feststellung endet, die A n t w o r t auf die „ i n der Praxis so wesentliche" (man darf wohl sagen: in der Praxis allein wesentliche) Frage nach der jeweiligen Zulässigkeit oder Unzulässigkeit einer bestimmten Analogie lasse sich nicht m i t den Mitteln der Logik geben, sondern hänge von der Definition des jeweiligen „Ähnlichkeitskreises", die nur nach teleologischen Kriterien erfolgen könne, ab 2 7 , so erhellt 25 Vgl. a.a.O., S. 97 ff., 124 ff., 132 f.; vgl. auch Schreiber, L o g i k des Rechts, 1962, S. 47 ff., der die erwähnten Verfahren durchweg f ü r unzulässige Schlußregeln erklärt, sowie zur Analogie i m besonderen Heller, L o g i k u n d Axiologie der analogen Rechtsanwendung, 1961, S. 10 ff., 24 ff., 44 ff. 26 F ü r die Analogie vgl. z. B. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 270; Latenz, a.a.O., S. 283, 288 u n d 296 sowie die bei Canaris, Die Feststellung von Lücken, a.a.O., S. 72, A n m . 47 Zitierten; f ü r die teleologische Reduktion Lorenz, a.a.O., S. 296; f ü r das argumentum a f o r t i o r i u n d das argumentum e contrario Canaris, a.a.O., S. 78 bzw. S. 45; f ü r das argumentum ad absurdum gilt nichts anderes: sinnvollerweise kann damit n u r gemeint sein, daß eine bestimmte Ansicht auf „bare W i l l k ü r " hinausliefe oder zu einem m i t anderen Wertungen des Gesetzes i n krassem Widerspruch stehenden, d. h. m i t dem Gleichheitssatz unvereinbaren Ergebnis führen würde, bzw. bei der nicht rein negativen (lediglich widerlegenden), sondern positiven (ein bestimmtes Ergebnis begründenden) Verwendung des Arguments: daß jedes andere als das vorgeschlagene Ergebnis auf „bare W i l l k ü r " oder auf einen krassen Wertungswiderspruch hinausliefe; auch hier w i r d die Uberzeugungskraft also letztlich n i d i t am Wert der Wahrheit, sondern an dem der Gerechtigkeit gemessen. 27 Vgl. a.a.O., S. 123; für das argumentum a fortiori vgl. S. 137, f ü r das argumentum ad absurdum vgl. S. 138.
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daraus sehr deutlich, wie wenig die formale Logik (in ihrer „klassischen" oder i n ihrer „modernen" Form) der Jurisprudenz zu geben vermag. Denn sobald der „Ähnlichkeitskreis" bestimmt ist, ist — ganz ähnlich wie bei der sogenannten Subsumtion — das Wesentliche erledigt 2 8 ; der Rest geht wieder sozusagen automatisch vor sich 22 . Oder welches Problem wäre wohl methodologisch noch zu bewältigen, wenn man z. B. herausgearbeitet hat, daß die ratio legis des § 463 S. 2 BGB in der arglistigen Ausnutzung eines Irrtums des Käufers über die Beschaffenheit der Sache liegt und daß diese ratio nicht nur auf das Verschweigen eines Mangels, sondern „genauso" auf das Vorspiegeln einer günstigen Eigenschaft „paßt"? Und entsprechendes läßt sich für alle anderen angeführten „Schlüsse" dar tun: wenn festgestellt ist, was die ratio einer Vorschrift ist und warum sie auf einen bestimmten Ausnahmetatbestand nicht „paßt", warum eine Wertung „erst recht" auf einen nicht ausdrücklich geregelten Fall „zutrifft" oder warum ein Tatbestand von einem anderen wertungsmäßig so verschieden ist, daß die Rechtsfolge nicht dieselbe sein darf 2 9 , ist schon entschieden, daß eine teleologische Reduktion bzw. ein argumentum a fortiori bzw. ein Umkehrschluß am Platze ist. Allenthalben also dasselbe Ergebnis: die Findung und Präzisierung der Prämissen ist die entscheidende juristische Aufgabe, die Vornahme formal-logischer Schlüsse demgegenüber von verschwindend geringer Bedeutung, — wobei die „dritte Stufe" juristischen Argumentierens, die Rechtsfindung mit Hilfe allgemeiner Rechtsprinzipien, aus der Natur der Sache usw., wo das Gesagte naturgemäß in noch weit stärkerem Maße gilt, nicht einmal in die Betrachtung einbezogen wurde. Demgemäß sollte man heute nicht mehr ernsthaft bezweifeln, daß ein formal-logisches System weder dem Wesen des Rechts noch den spezifischen Aufgaben des Juristen in irgendeiner Weise gerecht werden kann. b) Das axiomatisch-deduktive System i. S. der Logistik Die Ablehnung eines formal-logischen Systems führt folgerichtig auch zur Ablehnung eines axiomatisch-deduktiven Systems 30. Denn 28 Vgl. auch die K r i t i k an den Ausführungen von Klug bei Simitis, a.a.O., S. 66 ff. 29 Zur Beschränkung des argumentum e contrario auf diesen Fall u n d zu seiner Trennung v o m Analogieverbot vgl. Canaris , a.a.O., S. 44 ff. (46 f.). 30 Z u m axiomatisch-deduktiven System vgl. vor allem Hilbert-Ackermann, Grundzüge der theoretischen Logik, 3. Aufl. 1949, S. 31 ff. und 74 ff.; Fraenkel, Einführung i n die Mengenlehre, 3. Aufl. 1928, S. 268 ff. und vor allem S. 334 ff.; Carnap , Abriß der Logistik, 1929, S. 70 f. und Einführung i n die symbolische Logik, 1954, S. 146 ff.; eine kurze u n d leicht zugängliche Schilder u n g findet sich bei Bochenski , Die zeitgenössischen Denkmethoden, 1954, S. 81 f. u n d bei Popper , Logik der Forschung, 1966, S. 41.
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§ 2 Der Begriff des Systems
dieses setzt voraus, daß a l l e i n n e r h a l b eines b e s t i m m t e n Sachgebietes g e l t e n d e n Sätze sich aus den A x i o m e n i m Wege e i n e r rein formallogischen Deduktion a b l e i t e n lassen 3 1 . D a dies, w i e soeben gezeigt, m i t d e m W e s e n d e r J u r i s p r u d e n z u n v e r e i n b a r ist, scheidet die a x i o m a t i s c h d e d u k t i v e M e t h o d e entgegen der A n s i c h t Klugs z2 schon a l l e i n deshalb f ü r unser Fach a u s 3 3 . A b e r auch aus a n d e r e n G r ü n d e n erscheint die S c h a f f u n g eines a x i o m a t i s c h - d e d u k t i v e n Systems des Rechts ausgeschlossen. Es m u ß n ä m l i c h b e z w e i f e l t w e r d e n , daß eine s i n n v o l l e B i l d u n g der A x i o m e i n d e r J u r i s p r u d e n z ü b e r h a u p t m ö g l i c h ist. D e n n a n diese s i n d a n e r k a n n t e r m a ß e n z u m i n d e s t z w e i 3 4 F o r d e r u n g e n z u s t e l l e n : d i e d e r W i d e r s p r u c h s f r e i h e i t 3 5 u n d die der V o l l s t ä n d i g k e i t 3 6 , u n d schon die E r f ü l l b a r k e i t der ersten i s t a u ß e r o r d e n t l i c h p r o b l e m a t i s c h , die d e r z w e i t e n aber e i n w a n d f r e i zu v e r n e i n e n . W a s zunächst die W i d e r s p r u c h s f r e i h e i t a n l a n g t , so i s t diese a l l e r d i n g s j e d e n f a l l s i n s o w e i t g e w ä h r l e i s t e t , als a l l g e m e i n a n e r k a n n t ist, daß e i n W i d e r s p r u c h zwischen z w e i N o r m e n u n t e r a l l e n U m s t ä n d e n b e s e i t i g t w e r d e n m u ß , u n d die juristische M e t h o d e n l e h r e auch e i n I n s t r u Vgl. Fraenkel, a.a.O., S. 334 und S. 347; Carnap, Symbolische Logik, a.a.O., S. 147; vgl. ferner z.B. Härlen, ARSP 39 (1951), S.478f.; Viehweg, a.a.O., S. 55; Engisch, Stud. Gen., 10 (1957), S. 174, Sp. 1 und 12 (1959), S. 86, Sp. 2; Klug, a.a.O., S. 181; Bulygin, ARSP 53 (1967), S. 329 f. 32 Dieser fordert die Axiomatisierung des Rechts, vgl. a.a.O., S. 172 ff. (vgl. auch Kraft, a.a.O., S. 263; Härlen, a.a.O., S. 477 ff.). Darin könnte man insofern einen Widerspruch erblicken, als K l u g die Grenzen der Logik i n der Jurisprudenz sehr w o h l sieht und die Bedeutung des teleologischen Elements nachdrücklich betont (vgl. z.B. S. 123, 137, 138, 176 ff.); ein solcher liegt jedoch i n Wahrheit nicht vor, da K l u g das teleologische Element ersichtlich aus den Schlußverfahren i n die — logisch nicht erfaßbare — B i l d u n g der Prämissen verbannen w i l l (daher t r i f f t der Einwand von Diederichsen, N J W 66, S,. 700, Anm. 40 gegen Raisers Verständnis der A b sichten Klugs m. E. nicht zu), —• w o r i n i h m jedoch wegen des i n jedem juristischen „Schluß" enthaltenen Elements einer wertungsmäßigen Zuordnung nicht zu folgen ist. 33 Das entspricht der ganzen h. L., vgl. die Nachweise oben Fn. 13. 34 Außerdem w i r d häufig noch die „Unabhängigkeit", d. h. die Unableitbarkeit der A x i o m e auseinander gefordert (vgl. z. B. Hilbert-Ackermann, a.a.O., S. 33 f. ; Fraenkel, a.a.O., S. 340 ff.). Dieses Postulat k a n n jedoch i m vorliegenden Zusammenhang vernachlässigt werden, da es lediglich denkökonomischer oder vielleicht auch ästhetischer A r t ist und jedenfalls auch i n der Jurisprudenz zu erfüllen wäre, falls eine Axiomatisierung i m übrigen gelänge. 3 5 Vgl. Hilbert-Ackermann, a.a.O., S. 31 f., 74ff.; Fraenkel, a.a.O., S. 356 ff.; Carnap, Abriß, a.a.O, S. 70f. u n d Symbolische Logik, S. 148 f.; Leinf ellner. S t r u k t u r und Aufbau wissenschaftlicher Theorien, 1965, S. 208; Härlen, a.a.O., S. 477 f.; Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 174; Klug, a.a.O., S. 176; Bulygin, a.a.O., S. 330. sc Vgl. Hilbert-Ackermann, a.a.O., S. 31, 33 ff. (35); Fraenkel, a.a.O., S. 347 ff; Carnap, Abriß, a.a.O., S. 70 f. und Symbolische Logik, a.a.O., S. 149 (vgl. auch S. 147); Härlen, a.a.O., S.477f.; Engisch, a.a.O., S. 174; Klug, a.a.O., S. 176; Bulygin, a.a.O., S. 330.
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mentarium entwickelt hat, das dies (äußerstenfalls durch Annahme einer „Kollisionslücke" 37 ) ermöglicht 38 . Indessen gilt dies nur für echte Normwidersprüche, während Wertungs- und Prinzipienwidersprüche sich nicht ausnahmslos vermeiden lassen 39 , und dementsprechend ist das Postulat der Widerspruchsfreiheit auch nur in einem System von Normen, nicht jedoch auch in einem solchen von Werten oder Prinzipien zu erfüllen. Darin aber liegt ein nicht leicht zu nehmendes Bedenken, w e i l das System ja die die einzelnen Normen verbindende Einheit zum Ausdruck bringen soll und daher wohl kaum seinerseits aus Normen bestehen kann, sondern sich auf die hinter diesen stehenden oder i n ihnen enthaltenen Wertungen stützen muß 4 0 . Außerdem ließe sich auch bei einem Normensystem die Widerspruchsfreiheit nur dadurch erreichen, daß man außer den grundlegenden Normen auch alle die Ausnahmen, die diese einschränken, in den Rang von Axiomen erhöbe, und diese können so zahlreich sein, daß man sich fragen muß, ob es sich nicht i n Wahrheit um eine Scheinaxiomatisierung handeln würde; es ist doch mehr als fraglich, ob Sätze wie „Rechtsgeschäfte sind formfrei, es sei denn, daß das Gesetz eine Formvorschrift enthält" oder „Verträge müssen gehalten werden, es sei denn, daß das Gesetz eine Einwendung oder Einrede gewährt" sinnvoll als Axiom bezeichnet werden können 4 1 . Nimmt man hinzu, daß die Ausnahmen nicht selten „ungeschrieben" sind und u . U . erst i m Wege der „Rechtsfortbildung" geschaffen werden, so w i r d vollends deutlich, welche Schwierigkeiten schon das Postulat der Widerspruchsfreiheit aufwirft. Gänzlich unmöglich jedoch ist die Erfüllung des zweiten Merkmals, der „Vollständigkeit" 4 2 . Darunter ist nach Hilbert-Ackermann (mindestens 43 ) zu verstehen, „daß sich aus dem Axiomensystem alle richtigen Formeln eines gewissen, inhaltlich zu charakterisierenden Gebiets gewinnen lassen" 44 . Nimmt man hinzu, daß außerhalb der Axiome keine Sätze mit selbständigem materialem Gehalt eingeführt werden dürfen, sich vielmehr alle „Theoreme" aus rein formal-logischen Opera37
Vgl. dazu näher unten § 6 14 a. Vgl. dazu statt aller Engisch, Einheit, a.a.O., S. 46 ff. und Einführung, a.a.O., S. 158 f 39 Vgl. dazu eingehend unten §61, insbesondere S. 119 ff., 126 ff. und 130 f. 40 Vgl. näher unten S. 48 f. 4 * Vgl. auch Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 176. 42 Bei diesem M e r k m a l hat bisher die K r i t i k an der Möglichkeit eines juristischen axiomatisch-deduktiven Systems m. E. nicht genügend angesetzt. 43 Noch enger sprechen Hilbert-Ackermann dann von Vollständigkeit der Axiome, „ w e n n durch die Hinzufügung einer bisher nicht ableitbaren Formel zu dem System der Grundformeln stets ein Widerspruch entsteht" (vgl. a.a.O., S. 35). 44 Vgl. a.a.O., S. 35. 38
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tionen ergeben müssen 45 , so würde das Postulat der Vollständigkeit dementsprechend erfordern, daß nicht nur die grundlegenden Normen eines Gesetzes samt ihren Ausnahmen, sondern nahezu alle (geschriebenen und ungeschriebenen!) Vorschriften in den Rang von Axiomen erhoben werden müßten. Denn fast jede gesetzliche Bestimmung enthält einen selbständigen materialen Gehalt und modifiziert oder konkretisiert die rechtlichen Grundentscheidungen i n der einen oder anderen Richtung; anderenfalls wäre sie ja überflüssig, was sich indessen selbst bei schlecht ausgearbeiteten Gesetzen nur von wenigen Normen sagen läßt. N u n kann man zwar hinsichtlich der Zahl der Axiome, die ein axiomatisches System aufweisen darf, keine festen Regeln aufstellen, doch ist diese andererseits wohl auch nicht ganz gleichgültig 4 6 ; sie sollte sinnvollerweise jedenfalls wesentlich geringer sein als die Zahl der daraus abzuleitenden „Theoreme". Durch die Kombination einzelner Rechtssätze miteinander lassen sich jedoch nur verhältnismäßig wenig neue Rechtssätze formulieren, selbst wenn man die jeweils zur Entscheidung eines bestimmten Einzelfalles gebildeten konkreten „Obersätze" m i t in die Betrachtung einbezieht 47 . Mag man diesen Einwand vielleicht noch als Frage der Terminologie abtun, so ist doch ein zweiter jedenfalls zwingend. Sollen sich alle Sätze einer Rechtsordnung, wie gefordert, aus den Axiomen ableiten lassen, so müßten nämlich auch die Rechtssätze zur Ausfüllung von Lücken in diesen enthalten sein. Das aber würde voraussetzen, daß jene dem geltenden Recht — aus dem ja die Axiome entwickelt sind! — ausnahmslos immanent wären, und dies wiederum wäre reiner Zufall, ja, es ist praktisch so gut wie ausgeschlossen. Denn es gibt einen bestimmten Typus von Lücken, bei dem sich die Unvollständigkeit des Gesetzes zwar unzweifelhaft vom Boden des geltenden Rechts selbst aus ergibt, bei dem jedoch mit der Feststellung der Lücke über die Möglichkeiten einer Ausfüllung nicht das geringste auszumachen ist 4 8 und bei dem daher u. U. die gesamte übrige Rechtsordnung keinen Hinweis für die Schließung der Lücke enthält; das klassische Beispiel ist das Fehlen einer Vorschrift über das Obligationsstatut im deutschen internationalen Privatrecht. Da die Axiomatisierung des Rechts somit voraussetzen würde, daß für sämtliche Lückenfälle eine ausfüllende Wertung i n der Rechtsordnung vorhanden ist, liefe sie auf das Postulat 45
Vgl. oben bei und m i t Fn. 31. ® Vgl. auch Engisch, Stud. Gen. 12 (1959), S. 86 und das dort mitgeteilte Gespräch m i t Klug. 47 Daß m i t Hilfe dieser Sätze eine unendliche Vielzahl v o n „Lebensfällen" entschieden werden kann, ist jedenfalls eine andere Frage. 48 Vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken, a.a.O., S. 144 ff., w o der entsprechende Lückentyp als „Anordnungs-" oder „Rechtsverweigerungslücke" bezeichnet wird. 4
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einer teleologischen Geschlossenheit des Rechts hinaus; nicht nur die Theorie der logischen Geschlossenheit ist aber einwandfrei widerlegt, auch eine teleologische Geschlossenheit ist bare Utopie 4 9 . — Eng mit diesem Einwand in Zusammenhang steht schließlich, daß das Gesetz eine Fülle „wertausfüllungsbedürftiger" Generalklauseln, wie Treu und Glauben, gute Sitten, Zumutbarkeit, verkehrserforderliche Sorgfalt usw. enthält. Bei diesen kann die Konkretisierung der Wertung und die Rechtssatzbildung immer nur im Hinblick auf den konkreten Fall oder doch auf bestimmte, im Laufe der Rechtsentwicklung als typisch hervortretende Fallgruppen erfolgen, und derartige Normen sind daher einer Axiomatisierung von vornherein unzugänglich. Nun ist aber der Ubergang von solchen wertausfüllungsbedürftigen Klauseln zu den übrigen Vorschriften durchaus fließend, und letztlich kann man sagen, daß nahezu alle Gesetzesbestimmungen i n der einen oder anderen Richtung der wertungsvollziehenden Konkretisierung bedürfen. Diese Sinnkomplexität und -Variabilität steht daher letztlich stets der Axiomatisierung i m Wege. Die Errichtung eines axiomatisch-deduktiven Systems ist daher nicht möglich 5 0 und widerspricht dem Wesen des Rechts. Ein derartiger Versuch liefe vielmehr, wie vor allem die Ausführungen zum Erfordernis der „Vollständigkeit" der Axiome deutlich gemacht haben, auf die Utopie hinaus, daß sich alle innerhalb einer Rechtsordnung erforderlichen Wertentscheidungen abschließend formulieren lassen, — also auf ein typisch positivistisches Vorurteil 5 1 , das heute wohl als endgültig widerlegt gelten darf. 4. Das System als Problemzusammenhang
a) Der Systembegriff Max Salomons Gleichsam von der entgegengesetzten Seite kommt der Versuch, das System als Problemzusammenhang zu entwerfen. Dies hat Max Salomon unternommen 52 , und da eine derartige Konzeption heute zweifellos wieder besondere Aktualität besitzt, soll in folgendem näher auf sie eingegangen werden. Salomons Ausgangspunkt w a r das Ziel, den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz zu begründen. Wissenschaft aber kann seiner Meinung nach nur ein Unternehmen genannt werden. Vgl. näher Canaris, a.a.O., S. 173. Ebenso i. E. die oben Fn. 13 Zitierten. 51 Insofern t r i f f t also der V o r w u r f des Positivismus, gegen den Klug sich a.a.O., S. 173 f. verwahrt, durchaus zu. 52 Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1925, insbesondere S. 26 ff. u n d 54 ff.; zustimmend Burckhardt , Methode und System des Rechts, 1936, S. 131 m i t Fn. 24. 50
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das auf einen unvergänglichen Gegenstand gerichtet ist 5 3 . Daran fehle es indessen der Jurisprudenz, soweit diese sich mit einer bestimmten historischen Rechtsordnung befaßt, — womit Salomon unverkennbar im Banne des berühmten Vortrags von Kirchmanns über „Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft" steht, an dessen nahezu sprichwörtlichen Satz: „Drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zu M a k u l a t u r " 5 4 er denn auch ausdrücklich anknüpft 5 5 . Als Ausweg sieht Salomon nur die Beschäftigung m i t den (unvergänglichen) Problemen, nicht dagegen die mit deren (vergänglichen) Lösungen. Freilich scheidet dann das, was man herkömmlich Rechtswissenschaft nennt, nämlich die methodische Bearbeitung einer bestimmten positiven Rechtsordnung, ohne weiteres aus dem Kreis der Wissenschaften aus 56 , und es bleibt als Gegenstand echter Rechtswissenschaft nur noch die Bildung des „Systems der Probleme möglicher Gesetzgebung" 57 . Es ist auf den ersten Blick deutlich, daß ein solches System der Probleme und ihrer Zusammenhänge ungeeignet ist, die innere Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung darzustellen. Denn das Recht ist nicht eine Summe von Problemen, sondern eine Summe 5 8 von Problemlösungen, und so kann seine Sinneinheit auch nur in den diese tragenden Gesichtspunkten, nicht schon i n den isolierten Fragen gefunden werden. Der Systembegriff Salomons ist daher jedenfalls nicht tauglich, etwas zur Klärung des in der vorliegenden Untersuchung gestellten Themas beizutragen. Darüber hinaus muß aber auch bestritten werden, daß die Entwicklung eines Systems von Problemen überhaupt möglich ist 5 9 ; ein solches „System" ist vielmehr ein Widerspruch i n sich. Denn es fehlt i h m notwendig die für den Systembegriff unerläßliche Einheit, der innere Zusammenhang 60 . Probleme als solche sind nämlich nichts als isolierte Fragen, die man w i l l k ü r l i c h auswählen kann, und sie bedürfen daher, um i n eine systematische Beziehung gebracht werden zu können, eines sinn- und einheitsstiftenden Elements, das nur außerhalb ihrer selbst 53 Vgl. a.a.O., S. 11 ff., 18 ff. (21). Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, S. 17. ss Vgl. a.a.O., S. 13 und S. 21. sc Das ist denn auch die Meinung Salomons, vgl. z.B. S.24, 54ff., 63 und öfter. 57 Vgl. S. 54 ff., 67. ss Summe freilich nicht lediglich additiv, sondern als Sinnzusammenhang verstanden. 59 Vgl. zum folgenden auch die ausgezeichnete K r i t i k von Binder, K a n t studien 25 (1921), S. 321 ff. 60 Die gegenteilige Ansicht Salomons, a.a.O., S. 58 ff. bleibt bloße Behauptung.
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liegen kann. So erfordert schon das erste denkbare Problem, die Frage nach den Aufgaben einer Rechtsordnung, daß man i n gewisser Weise weiß oder voraussetzt, was Recht ist; völlig voraussetzungsloses Fragen ist unmöglich, weil schon die Fragestellung stets einen bestimmten „Blickpunkt" in sich schließt. Das läßt sich über alle Stufen eines Fragenzusammenhanges hinweg verfolgen. So ergibt sich etwa die Problematik der Privatautonomie und des Rechtsgeschäfts nur, wenn die Vorfrage nach der Ordnung der menschlichen Beziehungen in einer bestimmten Weise, nämlich zugunsten der Schaffung eines Privatrechts 61 , beantwortet worden ist; erst diese A n t w o r t w i r f t dann wieder neue Fragen auf wie etwa die nach der Formbedürftigkeit privatautonomer Akte, nach der Behandlung von Störungen wie z.B. I r r tümern oder nach den Grenzen der Privatautonomie; nur aus den Antworten hierauf entstehen dann wieder neue Unterprobleme, wie z.B. aus der grundsätzlichen Verneinung des Formzwanges das Problem eventueller Ausnahmen und ihrer sinnvollen Differenzierung, daraus wieder das der A r t der zu erfüllenden Form und deren Differenzierung, — aus der grundsätzlichen Bejahung der Beachtlichkeit von Irrtümern das Problem der Bestimmung der relevanten Irrtümer, der Geltendmachung des Irrtums und des Ersatzes des Vertrauensschadens des Gegners, — aus der grundsätzlichen Bejahung von Schranken der Privatautonomie das Problem ihrer Festlegung, etwa im Wege starrer Normen wie i n § 134 BGB oder i m Wege flexibler Regeln wie i n § 138 BGB, daraus wieder das ihrer Formulierung i m einzelnen, etwa der positiven oder der (in § 138 mit Recht gewählten) negativen Fassung 62 usw. usw. Alles i n allem ist nicht zu bestreiten, daß ein System bloßer Probleme unmöglich ist. Möglich ist nur, einen Zusammenhang von Frage und Antwort , (dadurch entstandener) neuer Frage und neuer Antwort usw., zu entwerfen. Ziel einer Wissenschaft, die sich nicht auf ein bestimmtes positives Recht festlegen lassen w i l l , müßte daher die Herausarbeitung der jeweils möglichen Problemlösungen, deren Zahl durchaus beschränkt ist, sein und der sich dann jeweils ergebenden Unterfragen und möglichen Unterantworten sowie der durch die Beantwortung der Vorfragen stets erfolgenden Beschränkung i n der Auswahlmöglichkeit hinsichtlich der Unterantworten; gegen den Wissenschaftscharakter eines solchen Unternehmens ließen sich die Bedenken Salomons gewiß nicht vorbringen 6 3 . 61 Vgl. dazu F. v. Hippel, Das Problem der rechtsgeschäftlichen P r i v a t autonomie, 1936. 62 Es muß also nicht festgestellt werden, daß das Rechtsgeschäft den guten Sitten entspricht, sondern daß es ihnen nicht widerspricht. 63 Sie treffen i m übrigen auch nicht gegenüber einer Jurisprudenz zu, die sich m i t einer bestimmten Rechtsordnung befaßt, sofern man das gesetzte Recht als eine der möglichen Lösungen des „ewigen" Problems der Ge-
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b) Die Konzeption Fritz von Hippels M i t den Gedanken Salomons verwandt ist die viel diskutierte 6 4 Untersuchung Fritz von Hippels zur juristischen Systembildung 65 . Dieser hat sich bemüht, den m i t der Anerkennung der Privatautonomie notwendigerweise gegebenen „immanenten Problemzusammenhang" aufzudecken und an diesem Beispiel allgemeine Gedanken über die Systembildung entwickelt. I m Mittelpunkt seiner Konzeption steht dabei die Bedeutung eben jenes „immanenten Problemzusammenhanges"; er sagt: „Kennen w i r ihn, so kennen w i r die privatrechtliche Systematik 6 6 ." Das ist nun freilich nicht unmißverständlich, legt es doch den Gedanken nahe, v. Hippel sehe das System ebenso wie Salomon ausschließlich in den Problemzusammenhängen. So hat in der Tat Viehweg seine Ausführungen verstanden und sie in dem Satz zusammengefaßt: „Daher macht dieser immanente Problemzusammenhang die gesuchte privatrechtliche Systematik aus"; deren Besonderheit liegt dann darin, daß sie nicht mehr „auf der Seite des positiven Rechts" gesucht wird, sondern ein „Gegenstück" zu diesem bildet, „welches sich als Fragengefüge erweist" 6 7 . Ein solches „System" wäre allen Einwänden ausgesetzt, die oben gegen Salomon vorgebracht wurden, und könnte daher den Namen eines Systems i n Wahrheit nicht beanspruchen. Es ist jedoch zweifelhaft, ob Viehweg v. Hippel wirklich richtig verstanden hat 6 8 . Denn dieser rechtigkeit unter den Anforderungen einer konkreten historischen Situation sieht. Daher ist auch der Satz v. Kirchmanns über die wissenschaftlichen Bibliotheken, die M a k u l a t u r werden, unzutreffend; die gesamte Geschichte des Privatrechts und insbesondere die Entstehung des BGB, das ohne die Vorarbeiten der Wissenschaft undenkbar wäre, ist die beste Widerlegung. Die von der Rechtswissenschaft entwickelten Gedanken werden nämlich keineswegs „durch einen Federstrich des Gesetzgebers" wertlos, sondern sind entweder i n der Fortentwicklung des Rechts (im Hegeischen Sinne) „aufgehoben" oder bereichern, gleichsam i m Wartestande, den „ewigen" Vorrat möglicher Problemlösungen. Daß die Werke, i n denen diese Gedanken vorgetragen wurden, veralten, teilen sie m i t allen wissenschaftlichen Arbeiten, und anderenfalls wäre j a auch jeder wissenschaftliche Fortschritt undenkbar. 64 Vgl. z.B. Viehweg, a.a.O., S. 66 ff.; Esser, Grundsatz u n d Norm, a.a.O., S. 5 f.; Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 179; Diederichsen, N J W 1966, S. 699. 63 Vgl. Z u r Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung, 1930; zitiert nach F. v. Hippel, Rechtstheorie u n d Rechtsdogmatik, 1964, S. 13 ff. 66 Vgl. a.a.O., S. 19. 67 a.a.O., S. 67. 68 Das bestreitet Diederichsen, a.a.O. Freilich genügt dazu nicht der bloße Hinweis auf die Absicht v. Hippels, ein System zu entwerfen, da diese j a auf einem Mißverständnis des Gedankensystems beruhen könnte, doch hätte andererseits die Selbstverständlichkeit, m i t der v. Hippel den Systemgedanken zugrunde legt, Viehweg i n der Tat an der Richtigkeit seiner Interpretation zweifeln lassen sollen; w i e Viehweg u n d gegen Diederichsen aber jetzt Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 597, Fn. 48.
I. K r i t i k bisher entwickelter Systembegriffe
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läßt die Antwortseite keineswegs außer Betracht, sondern fährt an der zitierten Stelle fort 6 9 : „ W i r können hinfort die Masse privatrechtlichen Einzelwissens als historische Antworten auf bestimmte Dauerfragen eines bestimmten Problemzusammenhangs ordnen, begreifen, . . . " Auch hat v. Hippel klar genug betont, daß sich dieser Problemzusammenhang keineswegs a priori, sondern erst auf der Grundlage einer bestimmten Antwort , nämlich der Entscheidung zugunsten der Privatautonomie, überhaupt ergibt. Der untrennbare Zusammenhang von Antwort und Problem, neuer Antwort und neuem Problem ist v. Hippel i m Gegensatz zu Salomon also durchaus bewußt. Er hat denn auch nicht gesagt, daß der Problemzusammenhang die Systematik „ausmacht", m i t dieser also identisch ist, wie Viehweg ihm unterstellt, sondern nur, daß w i r die Systematik „kennen", weil w i r die verschiedenen Lösungen nunmehr einordnen können. Immerhin bleibt insoweit ein gewisser zwiespältiger Eindruck zurück, selbst wenn man berücksichtigt, daß ν. Hippel die Problemseite als das eigentlich Neue seiner Untersuchung naturgemäß überbetonen mußte. Zwar sagt er völlig zu Recht: indem der Gesetzgeber „diese Fragen beantwortet, schafft er ein bürgerliches Gesetzbuch" 70 , doch muß man hinzufügen: „erst indem er sie beantwortet , schafft er auch ein System." Was diesen Antworten aber die einende Sinnmitte gibt, nach welchen übergeordneten Wertgesichtspunkten der Gesetzgeber also die Probleme löst, das sagt von Hippel nicht 7 1 , und daher gibt er auch nicht eigentlich einen eigenen Systementwurf 72 . Er macht 69 Es verdient Hervorhebung, daß die beiden Sätze durch einen Doppelp u n k t verbunden sind, was ihre enge innere Verknüpfung besonders deutlich macht. 70 a.a.O., S. 22. 71 Es liegt ganz i n der L i n i e dieses Einwands, daß die K r i t i k , die v. Hippel am System der A u f k l ä r u n g übt, nicht i n jeder Hinsicht überzeugt. I n diesem Systementwurf w a r i m m e r h i n die Einsicht lebendig, daß die Sinneinheit, auf die alles Recht wesensmäßig angelegt ist, n u r auf der Basis einiger weniger fundamentaler rechtsethischer Prinzipien gewonnen werden kann, — und das macht seine unbezweifelbare Großartigkeit aus. Daß diese Prinzipien einseitig überbewertet w u r d e n oder daß uns das zumindest heute so scheint und daß sie daher der Ergänzung durch die Aufnahme anderer Grundprinzipien i n unser System bedürfen (vgl. dazu vor allem Coing, Festschrift für Dölle, 1963, Bd. I, S. 25 ff., insbesondere S. 29 ff.), bedeutet nur, daß die Ordnungsw a h l (in historisch übrigens durchaus verständlicher Weise) einseitig getroffen wurde, nicht dagegen, daß die „Gesetzmäßigkeiten juristischer Systembildung" verkannt w u r d e n ; denn als A n t w o r t auf das Grundproblem der Gerechtigkeit läßt sich dieser E n t w u r f durchaus verstehen, — i m Gegensatz etwa zu der von v. Hippel so genannten „Theorie der juristischen Tatsache", die i n der Tat das Wesen juristischer Systembildung mißachtet (allerdings nicht pauschal m i t der „Systematik des 19. Jahrhunderts" gleichgesetzt werden darf, vgl. aber v. Hippel , a.a.O., S. 36). 72 Ob er das wollte, ist zweifelhaft, vgl. den T i t e l seiner Arbeit und dazu sogleich i m Text. F ü r die Bejahung dieser Frage spricht immerhin, daß er
3 Canaris
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§ 2 Der Begriff des Systems
vielmehr, völlig dem Titel seiner Arbeit entsprechend, lediglich Ausführungen „zur Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung", indem er den m i t einer bestimmten Grundentscheidung — d. h. schon: Problemlösung — notwendigerweise verbundenen immanenten Problemzusammenhang herausarbeitet. Daß dieser besteht, ist unzweifelhaft, und die Gedanken von Hippels verdienen daher insoweit durchaus Zustimmung; eine bestimmte Konkretisierung des Systembegrif/s — um den es in diesem Paragraphen ja geht — hat er dagegen nicht gegeben 78 . 5. Das System der Lebensverhältnisse
So wenig die Problemzusammenhänge als solche zur Systembildung ausreichen, so wenig genügen die Lebensverhältnisse und ihre immanente Ordnung 7 4 . Denn sie sind lediglich Objekt des Rechts und werden von diesem i n dessen spezifischer Weise gestaltet; sie können daher nicht selbst die innere Sinneinheit des Rechts bilden oder auch nur allein i n sich tragen. Das heißt natürlich nicht, daß sie nicht ihrerseits als „Natur der Sache" auf das Recht und damit u. U. auch auf dessen System einwirken könnten, aber dieses ist damit noch nicht i n den Lebensverhältnissen vollständig angelegt. Auch soll selbstverständlich nicht geleugnet werden, daß die Ordnung der Lebensverhältnisse einen wesentlichen Einfluß auf das „äußere" System des Rechts hat, — man denke nur an die Anlehnung von Rechtsgebieten wie dem Familien- und Erbrecht, dem Handels-, Arbeits- und Urheberrecht oder den einzelnen Typen des Besonderen Schuldrechts an die entsprechenden Lebensphänomene 75 ! Nur vor einer Identifizierung dieser Ordnung m i t dem seine eigene Konzeption offenbar begrifflich auf eine Stufe m i t den Systemen der A u f k l ä r u n g u n d des 19. Jahrhunderts stellt, vgl. S. 23 und S. 36. 73 M a n könnte i n A n k n ü p f u n g an seine Ausführungen allenfalls die Defin i t i o n geben, das System sei die Lösung eines bestimmten Problemzusammenhangs; indessen bleibt zum einen doch w o h l zweifelhaft, ob v. Hippel w i r k l i c h die „Antwortseite" i n den Systembegriff aufnehmen wollte, und zum anderen wäre das auch keine zureichende Definition, da i n i h m die wesentlichen Begriffselemente der Einheit u n d Ordnung nicht enthalten sind. 74 Die Auffassung, das innere System sei „ i n den Lebenszusammenhängen bereits gegeben", schreibt Latenz, a.a.O., Heck zu (vgl. S. 57 u n d S. 362). Z w a r finden sich i n der T a t Ansätze i n dieser Richtung (vgl. z. B. Heck, a.a.O., S. 149 f. u n d S. 158), doch t r i t t diese Seite von Hecks Systemverständnis hinter dem Gedanken eines „Systems von Konfliktsentscheidungen" (vgl. dazu sogleich i m Text unter 6.) durchaus zurück. Freilich wäre allein sie die folgerichtige Durchführung des soziologischen Ansatzes der „genetischen Interessentheorie" (vgl. auch unten Fn. 100) doch zeigt sich a u d i hier, daß die Interessenturisprudenz diesen nicht durchhält, sondern die Bedeutung der — nicht kausal determinierten — gesetzgeberischen Wertung berücksichtigt. 73 Auch hierin t r i t t übrigens eine, durch die Natur der Sache vermittelte, enge Beziehung zwischen „äußerem" und „innerem" System i n Erscheinung.
I. K r i t i k bisher entwickelter Systembegriffe
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spezifischen Zusammenhang der Rechtsnormen muß entschieden gewarnt werden, da darin ein den Rechtswert mißachtender Soziologismus läge 76 . 6. Das „System von Konfliktsentscheidungen" i. S. Hecks und der Interessenjurisprudenz
Es bleibt ein letzter Systembegriff zu untersuchen: der Hecks und der Interessenjurisprudenz. Von Heck stammt bekanntlich die wertvolle Unterscheidung zwischen dem „äußeren" und dem „inneren" System 77 . Z u r Aufdeckung der Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung kommt nun von vornherein nur das innere System i n Frage; denn dessen Aufgabe soll nach den Worten Hecks in der Erfassung eines „sachlichen Zusammenhangs", einer „immanenten Ordnung" liegen 78 . Wie sieht also dieses „innere" System nach der Ansicht Hecks aus? a) Die Stellung der Interessenjurisprudenz zum Gedanken der Einheit des Rechts Heck weist den — an sich naheliegenden 79 — Gedanken, die Elemente der immanenten Ordnung seien i n den einzelnen Interessen zu sehen, ausdrücklich zurück 80 und bezeichnet das System als „System von Konfliktsentscheidungen" 81. Die Frage, inwieweit nun dieses die innere Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung verwirklicht, führt unmittelbar zu der Vorfrage, wie denn die Interessenjurisprudenz überhaupt zum Gedanken der Einheit des Rechts steht, — und damit zu einem der kritischsten Punkte i n den rechtsphilosophischen Grundlagen dieser Lehre. Denn hier bietet die Interessenjurisprudenz ihren Gegnern i n der Tat wesentliche Angriffsflächen, und so ist ihr Verhältnis zum Gedanken der Einheit des Rechts denn auch immer wieder Gegenstand der K r i t i k gewesen. Bereits i m Jahre 1914 hat Kretschmar i n seiner vorzüglichen, Schwächen und Stärken sowohl der Begriffswie der Interessenjurisprudenz souverän abwägenden Rektoratsrede dieser die Vernachlässigung des Einheitsgedankens vorgeworfen 82 . 76 E i n Beispiel für diesen ist die Position Ehrlichs, der die „Einheit des Rechts i n seinen Rechtssätzen" leugnet (vgl. Die juristische Logik, 2. Aufl. 1925, S. 137) und sie n u r als „Einheit i m Zusammenhange der Gesellschaft" anerkennen w i l l (vgl. S. 146). Ehrlich müßte folgerichtig zu dem i m Text zurückgewiesenen Systembegriff gelangen; vgl. auch unten Fn. 100. 77 Vgl. Begriffsbildung u n d Interessenjurisprudenz, 1932, S. 139 ff. (142 f.). 78 Vgl. a.a.O., S. 143. 79 Vgl. oben Fn. 74. so Vgl. a.a.O., S. 150. ei Vgl. a.a.O., S. 149 ff. 82 Uber die Methode der Privatrechtswissenschaft, 1914, insbesondere S. 39 ff.; v g l auch Kretschmar, Grundfragen der Privatrechtsmethodik, Jher. Jb. 67 (1917), S. 233 ff., insbesondere S. 271 ff., 285 f., 291 ff. 3*
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§2 Der Begriff des Systems
Ähnlich hat Hegler später beklagt, die Interessenjurisprudenz betone nur die in den einzelnen Normen zum Ausdruck kommenden Werturteile sowie die obersten Rechtswerte wie Gerechtigkeit, Billigkeit usw., vernachlässige aber „das Dazwischenliegende, die grundlegenden spezifischen Zwecke des betreffenden Rechtsteils" 83 , w i r würden heute sagen: die allgemeinen Rechtsprinzipien; und bezeichnenderweise hat er damit den Vorwurf mangelnder Systembildung verbunden. Und auch Oertmann hat mit beredten Worten Klage darüber geführt, er habe trotz aller „trefflichen und vielfach überzeugenden Einzelbetrachtungen" i n den Arbeiten der Interessenjurisprudenz „kein Ganzes finden" und „nie und nimmer ein einheitliches Gesamtbild" gewinnen können, so daß er sich „eines gewissen Gefühls wissenschaftlicher Verzweiflung" nicht habe erwehren können 8 4 . Coing schließlich hat diese Einwände gegen die Interessenjurisprudenz in die Worte zusammengefaßt: „Das Recht ist indessen für die Interessenjurisprudenz ebensowenig moralisch wie logisch eine einheitliche Ordnung. Es hat überhaupt keine Einheit" 8 5 . Was aber sagen die Anhänger der Interessenjurisprudenz selbst zu dieser Frage? Die Stellungnahmen sind spärlich, enthalten aber klare Bekenntnisse zum Gedanken der Einheit des Rechts 86 . Es kann sich also nur fragen, was sie darunter verstehen. Zwei Äußerungen Hecks kommen in diesem Zusammenhang in Betracht. Die erste geht dahin, daß er die Einheit des Rechts mit seiner Widerspruchslosigkeit gleichsetzt 87 ; das ist sicher ein wesentliches Element, stellt jedoch nur die sozusagen negative Seite des Einheitsgedankens dar und läßt in keiner Weise erkennen, w o r i n denn positiv gewendet die Sinneinheit des Recht? liegt 8 8 . Die zweite Bemerkung bezieht sich auf den inneren Zusammenes Z u m Gedächtnis von M a x Rümelin, Kanzlerrede 1931, S. 19. 84 Vgl. Interesse u n d Begriff i n der Rechtswissenschaft, 1931, S. 40; vgl. dazu die Erwiderung von Heck, a.a.O., S. 207 ff., 212 ff. Hinsichtlich der Interpretation des Studentenbriefes mag Heck i n gewisser Hinsicht recht haben (vgl. S. 216 f.), i m übrigen aber geht seine Entgegnung i n höchst charakteristischer Weise an dem Anliegen Oertmanns vorbei; so bestätigt seine Reduzierung der Frage nach der inneren Einheit auf die der „Übersicht" S. 207 ff. ebenso wie die E r k l ä r u n g der allgemeinen Zusammenhänge der Rechtsordnung lediglich aus den „Lebensbedürfnissen" (S. 214) die i m T e x t vertretene Ansicht, Heck habe dem Gedanken der Sinneinheit des Rechts letzten Endes verständnislos gegenübergestanden. 85 Vgl. System, Geschichte u n d Interesse i n der Privatrechtswissenschaft, J Z 1951, S. 481 ff. (484); zustimmend Larenz, Methodenlehre, S. 133; wesentlich positiver insoweit das U r t e i l Binders, Z H R 100, S. 63 f. 86 Vgl. vor allem Stoll, Begriff u n d K o n s t r u k t i o n i n der Lehre der l n t e r essenjurisprudenz, Festgabe f ü r Heck, Rümelin und Schmidt, 1931, S. 96; Heck, a.a.O., S. 87 f. u n d S. 149 f. 87 a.a.O., S. 87 f. 88 Vgl. i n diesem Zusammenhang oben §1112 bei und m i t Fn. 31.
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hang der Rechtsordnung und sucht diesen i n der Beziehung der Normen auf „Teile des Lebens, die durch die mannigfachsten Zusammenhänge und Ubereinstimmungen miteinander verbunden sind" 8 9 ; daß das nicht genügt, wurde oben 90 schon eingehend dargelegt. — Darüber hinaus ist aber auch das Mittel unfruchtbar, m i t dessen Hilfe Heck die Einheit des Rechts erfassen w i l l . Als allein geeignet zu diesem Zweck sieht er nämlich die Bildung klassifikatorischer „Gruppenbegriffe von immer wachsender Allgemeinheit" an 9 1 . Abstrakte Allgemeinbegriffe sind nun aber durchaus untauglich zur Erfassung der stets konkreten Sinneinheit des Rechts 92 , und vollends unbrauchbar zu diesem Zwecke sind sie, wenn man ihnen nur die rudimentäre Funktion beläßt, die Heck seinen „Gruppenbegriffen" zuweist. Diese sollen nämlich nur zwei „Bedürfnissen" dienen: sie sollen zum einen die „Auffassung" des Mannigfaltigen „erleichtern", weil „der menschliche Geist nur eine beschränkte Zahl von Einzelvorstellungen zugleich erfassen" kann, und sie sollen zum anderen „die Erinnerung erleichtern" 93 . Es liegt auf der Hand, daß bei einer solchen „Subjektivierung", u m nicht zu sagen „Psychologisierung" der Bedeutung der Begriffe, die diese zu einem bloßen Hilfsvehikel für die Unzulänglichkeiten menschlicher Auffassungs- und Erinnerungskraft herabsetzt, die objektive Sinneinheit und -folgerichtigkeit des Rechts überhaupt nicht i n den Blick kommen kann. So bleibt nur ein letzter Ansatzpunkt: Hecks Hinweis auf die „Fernwirkung" der gesetzgeberischen Werturteile 9 4 , von der es an sich nur noch ein Schritt zur „vorausgesetzten inneren Konsequenz des Rechts" 95 wäre. Es steht außer jeder Diskussion, daß in der Herausarbeitung dieses Moments eine der wesentlichen methodologischen Leistungen der Interessenjurisprudenz liegt. N u r erhebt sich die Frage, worin sie denn diese Werturteile erblickt: allein i n den Einzelwertungen des Gesetzgebers oder auch i n tieferliegenden Schichten des Rechts? Vermutlich würde Heck im zweiten Sinne antworten 9 6 , und doch t r i f f t der Vorwurf Heglers, die Interessenjurisprudenz vernachlässige „das 89 a.a.O., S. 149 f.; vgl. auch die Abstellung auf die „Lebenskonflikte" (statt auf die für ihre Lösung maßgeblichen Kriterien) S. 158. so Vgl. Ziff. 5. 91 a.a.O., S. 150. 92 Vgl. näher unten S. 49. 93 Vgl. a.a.O., S. 82 f. 94 Vgl. a.a.O., S. 150; zur „ F e r n w i r k u n g " grundlegend Heck, Gesetzesauslegung u n d lnteressenjurisprudenz, 1914, S. 230 ff. 93 Vgl. § 1 bei Fn. 27. 96 So verweist er Gesetzesauslegung, a.a.O., S. 231 f. z. B. auf die F e r n w i r k u n g des Prinzips der Gleichheit i m bürgerlichen Recht; doch ist es w o h l kein Zufall, daß Heck hier zwar keine Einzelwertung, dafür aber m i t dem Gleichheitssatz einen der obersten Rechtswerte und nicht ein „dazwischenliegendes'· Prinzip gewählt hat, vgl. dazu sogleich i m Text.
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§2 Der Begriff des Systems
Dazwischenliegende", i m Grunde zu. Das w i r d an ihrem methodologischen Rüstzeug wie an ihren praktischen Arbeiten gleichermaßen deutlich. I n methodischer Hinsicht kennt die Interessenjurisprudenz i m wesentlichen nur die beiden ersten „Stufen" der Rechtsgewinnung, die der Auslegung und die von Analogie und Restriktion; danach folgt ohne Übergang bereits die richterliche „Eigenwertung". Der dritten „Stufe" dagegen, dem Arbeiten mit den „grundlegenden spezifischen Zwecken" 9 7 , also den tragenden Grundgedanken eines Rechtsgebietes und den „allgemeinen Rechtsprinzipien" erkennt sie kaum eine wesentliche Funktion zu; hinter lex und ratio legis stehen für sie unvermittelt die obersten Rechtswerte wie Gerechtigkeit, Billigkeit und Rechtssicherheit. Und was die dogmatisch-praktische Arbeit der Vertreter der älteren Interessenjurisprudenz betrifft, — wer könnte nicht über weite Strecken 98 Oertmanns 84 Unbehagen darüber nachfühlen, daß sich bei allen „trefflichen und vielfach überzeugenden Einzelbetrachtungen" kein „einheitliches Gesamtbild" ergibt? Kein Zweifel: die Stärke der Interessenjurisprudenz lag in der Erörterung des Einzelproblems, nicht i n der Herausarbeitung der „großen Zusammenhänge" 99 , — was übrigens methodengeschichtlich als antithetische Gegenbewegung gegen die Übertreibungen der vorhergehenden Epoche durchaus verständlich ist. So w i r d man das schroffe Urteil Coings 85 alles i n allem wohl bestätigen müssen, zumal es allein dem soziologischen Grundansatz der „genetischen Interessentheorie" entspricht 100 . 97 Vgl. Hegler, a.a.O. (wie Fn. 83). 98 Selbstverständlich gibt es Ausnahmen. M a n denke n u r an die noch heute methodisch w i e inhaltlich i n weiten Teilen vorbildlichen Arbeiten von Müller-Erzbach über die Gefährdungshaftung oder von Stoll über die Leistungsstörungen. 99 Heck verweist zwar gegenüber den Angriffen von Oertmann u n d Hegler u. a. darauf, daß er i n seinem Sachenrechtslehrbuch einen Allgemeinen T e i l vorangestellt habe, doch w i r d gerade i n diesem Allgemeinen T e i l m. E. sehr wenig von der inneren Sinneinheit" unseres Sachenrechts u n d den dieses tragenden Grundprinzipien deutlich. M a n könnte Heck i m Gegenteil erwidern, es sei kein Zufall, sondern hänge eng m i t dem Einheits- u n d Systemverständnis der Interessenjurisprudenz zusammen, daß die großen Lehrbücher des Allgemeinen Teils des bürgerlichen Rechts durchweg nicht von typischen Interessenjuristen stammen, sondern seit ν. Τuhr über Nipperdey bis Flume und Larenz von Wissenschaftlern, deren Denken w e i t über die — alles i n allem doch verhältnismäßig engen — methodologischen Grenzen der Interessenjurisprudenz hinausgeht; i n der T a t dürften sich diese Grenzen nirgends so deutlich zeigen wie gegenüber den Anforderungen des „Allgemeinen Teils". 100 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch oben Fn. 74. Folgerichtig übrigens Ehrlich, Logik, a.a.O., wenn er von seiner soziologischen Ausgangsposition her zu dem Ergebnis kommt, eine Einheit des Rechts als Einheit seiner Normen gäbe es nicht und fortfährt: „ F ü r die einzige wissenschaftliche, die historische Auslegung" — das entspricht genau der Ansicht Hecks! — „ist jeder Rechtssatz eine I n d i v i d u a l i t ä t , ein selbständiges Wesen, das sein eigenes Leben lebt u n d seine eigene Geschichte hat" (S. 137). Von dieser
I. K r i t i k bisher entwickelter Systembegriffe
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b) Die Schwächen des Systembegriffs der Interessenjurisprudenz M i t diesen Ausführungen über den Gedanken der Einheit in der Interessenjurisprudenz ist die Voraussetzung geschaffen, um auch ein Urteil über ihren Systembegriff zu fällen: er ist sehr wenig geeignet, die innere Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung zu erfassen. Ein „System von Konfliktsentscheidungen" sagt nämlich über die Sinneinheit des Rechts so gut wie nichts aus, mag Heck auch die Notwendigkeit betonen, „die Übereinstimmungen und die Verschiedenheiten bei den Konfliktsentscheidungen" herauszuarbeiten 101 . Denn die tragenden Grundgedankens z.B. unseres Privatrechts, die sein System bilden, wie die Prinzipien der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung, des Vertrauensschutzes usw. 1 0 2 , sind nicht mit den Konfliktsentscheidungen identisch, sondern liegen diesen zugrunde, geben ihnen die „Sinnmitte" und würden im übrigen in ihrer Substanz mißverstanden, wenn man sie auf bloße „Konfliktsentscheidungen" reduzieren w o l l t e 1 0 3 : sie würden ihres rechtsethischen Gehalts beraubt — So zeigt sich denn auch an den Stellungnahmen Hecks zu einzelnen praktischen Systemproblemen, wie fremd i h m i m Grunde der Zusammenhang zwischen dem System und dem Gedanken der Sinneinheit des Rechts war. Nur ein Beispiel sei an dieser Stelle 1 0 4 herausgegriffen, das der „Wertpapiertheorien", das Heck selbst stets als besonders typisch für sein Systemverständnis bezeichnet hat. Heck sieht als entscheidend an, daß die geltenden Rechtssätze aus den Lebensbedürfnissen hervorgegangen sind, und w i l l daher den ganzen Theorienstreit auf eine bloße „Formulierungsfrage" reduzieren 105 m i t der Folge, daß sich „ i n großem Umfang die Möglichkeit verschieden lautender, aber gleichberechtigter Formulierungen, eine „Äquivalenz wissenschaftlicher Konstruktionen" ergibt 1 0 6 . Kaum irgendwo ist das ein größeres Mißverständnis als hier. I n Wahrheit geht es um nicht weniger als um die Wahrung der Sinneinheit unseres Privatrechts, nämlich um die Frage, ob für ein wesentGrundlage aus kann das Recht eine Einheit i n der Tat „ n u r i m Zusammenhange der Gesellschaft, i n der sie (sc.: die Rechtssätze) w i r k e n " haben (vgl. a.a.O., S. 146). « ι Vgl. a.a.O., S. 150. 102 v g l . näher unten S. 47 f. u n d 53 ff. 103 was Heck auch nicht t u t ; er übergeht sie vielmehr so gut w i e ganz. Vgl. ferner unten § 5 I I I . !05 Vgl. Grundriß des Schuldrechts, 1929, § 137. 106 Vgl. a.a.O., S. 473, A n m . 2 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf § 137. Dagegen m i t Recht Stoll, a.a.O., S. 117 m i t Fn. 2 (vgl. a u d i S. 110) dessen Anliegen Heck i n seiner E r w i d e r u n g (Begriffsbildung, a.a.O., S. 211) nicht gerecht w i r d , w e i l er ganz i n dem Grundfehler seiner kausalen Betrachtungsweise befangen bleibt; ebenso unbefriedigend ist, was Heck, a.a.O., S. 100 ff. gegen die völlig berechtigten Angriffe Lehmanns vorbringt, vgl. dazu auch unten S. 96 f.
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§ 2 Der Begriff des Systems
liches Teilgebiet das sonst allgemein herrschende Vertragsprinzip zugunsten der Möglichkeit einseitiger Verpflichtungen einheitsgefährdend durchbrochen werden soll, oder ob statt dessen einheitswahrend das Vertragsprinzip anerkannt und lediglich durch das auch sonst weite Gebiete durchdringende Rechtsscheinprinzip in seiner Verbindung mit dem ebenfalls zu den Grundlagen zählenden Prinzip der Selbstverantwortung ergänzt werden soll. I n engem Zusammenhang damit steht das Unverständnis Hecks dafür, daß Systementscheidungen Wertungen in sich schließen, worauf noch eingehend zurückzukommen sein w i r d 1 0 7 . So vermag der Systembegriff der Interessenjurisprudenz alles in allem nicht völlig zu befriedigen, doch ist andererseits zuzugeben, daß es die K r i t i k wegen mancher Unklarheiten und Mehrdeutigkeiten in den Stellungnahmen ihrer Anhänger nicht leicht hat und daß auch die vorstehenden Ausführungen nicht den Anspruch auf eine vollständige Klärung dieser methodengeschichtlich hoch interessanten Frage 1 0 8 erheben können. Darüber hinaus aber ist zu betonen, daß die Interessenjurisprudenz in jedem Falle wertvolle Vorarbeit auch auf dem Gebiet der Systemproblematik geleistet 109 und vor allem m i t dem Gedanken des „inneren" Systems und dem Hinweis auf dessen teleologischen Charakter 1 1 0 wesentliche Ansatzpunkte geschaffen hat, die es aufzunehmen und weiterzuführen g i l t 1 1 1 . II. Die Entwicklung des Systembegriffs aus dem Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit der Rechtsordnung Die bisherigen kritischen Ausführungen haben zugleich auch weitgehend die Grundlagen für die Entwicklung eines Systembegriffs ge107 v g l . unten § 5 I I I . los völlig unbefriedigend ist i n dieser Hinsicht leider die unlängst erschienene Schrift von Edelmann, Die Entwicklung der Interessenjurisprudenz, 1967; allenfalls kann man die Ausführungen S. 102 f. heranziehen, an denen jedoch höchstens das K u r i o s u m bemerkenswert ist, daß Edelmann ausgerechnet die Kommentierung des § 242 B G B durch Weber bei Staudinger unter Berufung auf ihren ungewöhnlichen Umfang (!) als Beleg f ü r die Bemühungen der Rechtswissenschaft u m „systematische K o n s t r u k t i o n " anf ü h r t (oder soll das Ironie sein?). 109 Dem heute vorherrschenden und auch i n dieser A r b e i t vertretenen Systemverständnis dürfte übrigens Stoll wesentlich näher stehen als Heck (vgl. Stoll, a.a.O., S. 77 f., 96, 110), w i e denn überhaupt Stolls Gedanken i n mancher Hinsicht zukunftsweisender waren als die Hecks u n d wie es auch w o h l nicht zufällig Stoll war, der den Ausdruck „Wertungsjurisprudenz" geprägt (vgl. a.a.O., S. 67, Fn. 1 u n d S. 75 Fn. 5) u n d damit der heutigen Zivilrechtsdogmatik das methodologische Stichwort gegeben hat. no vgl. Heck, a.a.O., S. 147, 155, 160 u n d öfter (unter Bezugnahme auf Hegler).
m Z u m teleologischen System vgl. sogleich i m Text unter I I 1.
I I . Die Entwicklung des eigenen Systembegriffs
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legt, der geeignet ist, die innere Folgerichtigkeit und Einheit der Rechtsordnung zu erfassen. 1. Das System als axiologische oder teleologische Ordnung
Da diese entsprechend ihrer Ableitung aus dem Gerechtigkeitsgebot 1 1 2 wertungsmäßiger Natur ist, so kann auch das ihr entsprechende System nur eine axiologische oder teleologische Ordnung sein, — wobei hier teleologisch nicht i n dem engeren Sinn der bloßen Mittel-Zweckverknüpfung 1 1 8 , sondern i m weitesten Sinne jeder Zweckund Wertverwirklichung gemeint ist, also etwa in dem Sinne, in dem man die „Wertungsjurisprudenz" auch mit „teleologischer" Jurisprudenz gleichsetzt. Daß ein solches teleologisches System überhaupt möglich ist, versteht sich nun allerdings nicht von selbst. So dürfte i m Gegenteil z. B. die Begriffsjurisprudenz davon ausgegangen sein, daß es nur entweder ein logisches oder überhaupt kein System geben könne. Und Stammlers Beschränkung auf die „reinen" Grundbegriffe und sein resignierender Verzicht gegenüber einer Systematisierung einer bestimmten positiven Rechtsordnung hatte wohl nicht zuletzt i n diesem Verständnis des Systembegriffs seinen Grund 1 1 4 . Auch Walther Burckhardt unterschied noch 1936 scharf zwischen der „logischen" und der „ethischen Richtigkeit" des Rechts und beschränkte das System darauf, die erstere zu erfassen 115 . Schließlich sei aus jüngster Zeit Ulrich Klug erwähnt, der die Bedeutung des Systemgedankens als wesentlichen Beweis für das Gewicht formal-logischen Denkens i n der Jurisprudenz ansieht; denn schon „der Begriff des Systems selbst ist ein spezifisch logischer Terminus" und „nur die Logik vermag zu bestimmen, wo überhaupt ein echtes System vorliegt" 1 1 6 .
Vgl. oben § 1 I I 2. Auch i n diesem Sinn w i r d der Ausdruck nicht selten gebraucht; vgl. z. B. Binder, ZHR 100, S. 62 f.; Engisch, Einführung i n das juristische Denken, S. 161 f. u n d Stud. Gen. 10 (1957) S. 178 f. 118
114 Stammler sieht sein System als ein formal-logisches an, das aus abstrakten Allgemeinbegriffen gebildet ist; die Möglichkeit, ein „inhaltlich gefülltes" System einer bestimmten Rechtsordnung zu entwerfen, lehnt er ausdrücklich ab. Vgl. Theorie der Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 1923, S. 222 ff. u n d Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. A u f l . 1928, S. 278 ff.
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116
Vgl. Methode u n d System des Rechts, 1936, S. 121 ff. und 241 ff.
Vgl. a.a.O., S. 5; vgl. ferner z.B. Sigwart, a.a.O., S. 695: „Die Systematik hat die Aufgabe, die Totalität der i n irgendeinem Zeitpunkt erreichten Erkenntnisse als ein Ganzes darzustellen, dessen Theile durchgängig i n logischen Verhältnissen v e r k n ü p f t sind" (Hervorhebungen i m Original), — wobei allerdings die Beschränkung auf das System der Erkenntnisse (im Gegensatz zum objektiven System) zu beachten ist. — F ü r eine Gleichsetzung von axiomatischem System u n d System überhaupt Arndt, N J W 63, S. 1277 f.
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§ 2 Der Begriff des Systems
Diese B e s c h r ä n k u n g des S y s t e m b e g r i f f s a u f das f o r m a l - l o g i s c h e S y s t e m e n t b e h r t indessen n i c h t e i n e r gewissen W i l l k ü r 1 1 7 . S o w e i t es sich l e d i g l i c h u m F r a g e n der Terminologie h a n d e l t , k a n n m a n sich s e l b s t v e r s t ä n d l i c h ü b e r die B e r e c h t i g u n g e i n e r d e r a r t i g e n E i n e n g u n g s t r e i t e n ; als A u s w e g böte sich an, m i t Coing 118 einen engeren u n d e i n e n w e i t e r e n S y s t e m b e g r i f f zu unterscheiden, w o b e i der engere m i t d e m f o r m a l - l o g i s c h e n S y s t e m i d e n t i s c h w ä r e , w ä h r e n d sich i n n e r h a l b des w e i t e r e n auch f ü r e i n teleologisches S y s t e m R a u m fände. S o w e i t es dagegen u m die Sachproblematik geht, ist die B e s c h r ä n k u n g des S y s t e m b e g r i f f s auf das f o r m a l - l o g i s c h e S y s t e m eine d u r c h nichts e r h ä r t e t e H y p o t h e s e , u m n i c h t z u sagen eine p e t i t i o p r i n c i p i i . D e n n e i n S y s t e m b e d e u t e t j a nichts anderes als d e n Versuch, die E i n h e i t u n d O r d n u n g eines b e s t i m m t e n Sachgebietes m i t rationalen Mitteln zu erfassen u n d d a r z u s t e l l e n , u n d d i e A b s a g e an d i e M ö g l i c h k e i t eines n i c h t f o r m a l - l o g i s c h e n Systems k o m m t d a m i t der B e h a u p t u n g gleich, die f o r m a l e L o g i k stelle das e i n z i g e d e n k b a r e M i t t e l z u diesem Z w e c k e d a r . E i n e solche E i n e n g u n g des Bereichs, i n n e r h a l b dessen rational geleitetes Denken und Argumentieren m ö g l i c h i s t 1 1 9 , m u ß aber gerade 117 I n der Tat w i r d denn auch des öfteren die Möglichkeit eines teleologischen Systems ausdrücklich anerkannt, ohne daß freilich dessen wissenschafts-theoretische Problematik i m m e r gesehen würde. Vgl. z. B. Radbruch, Z u r Systematik der Verbrechenslehre, Frank-Festgabe I, 1930, S. 159; Hegler, a.a.O., S. 216 ff.; Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 178 ff.; der Sache nach auch Heck, der i n dieser Hinsicht mehrfach seine Übereinstimmung m i t Hegler ausdrücklich betont, vgl. a.a.O., S. 147, 155, 160 u n d öfter. Dabei w i r d allerdings der Ausdruck „teleologisch" z.T. auch i n dem oben bei Fn. 113 gekennzeichneten engeren Sinn gebraucht. Auch i m nicht-juristischen Schriftt u m w i r d nicht selten von „Wertsystemen" u n d dgl. gesprochen, vgl. z. B. Kraft, Die Grundlagen einer wissenschaftlichen Wertlehre, 1951, S. 21 ff., m. Nachw.; Stark, Die Wissenssoziologie, 1960, S. 59 ff., 92 ff., 144 ff., 252 ff. u n d öfter (vgl. Register unter „Wertsystem"), wo verschiedentlich auch der T e r m i nus „axiologisches System" verwandt w i r d , vgl. z.B. S. 93, 146, 252; vgl. i n diesem Zusammenhang ferner, w e n n auch ohne ausdrückliche Bezugnahme auf die Systemproblematik, Leinfellner, Einführung i n die Erkenntnis- u n d Wissenschaftstheorie, 1965, S. 178 ff. 118 Vgl. Zur Geschichte des Privatrechtssystems S. 9. 119 Ob eine solche Einengung tatsächlich der Konzeption der Anhänger eines formal-logischen oder axiomatisch-deduktiven Systems entspricht, ist nicht immer k l a r ersichtlich. I m m e r h i n verdient es Hervorhebung, daß Klug, a.a.O., der logischen Analyse juristischer Probleme n u r die I n t u i t i o n gegenüberstellt (vgl. V o r w o r t von 1950). D a m i t w i r d die Frage nach der Bedeutung der formalen Logik für die Jurisprudenz nicht beantwortet. Denn die I n t u i t i o n ist i n allen Wissenschaften unerläßlich — sonst könnte es keine wissenschaftlichen Genies geben, u n d der wissenschaftliche Fortschritt wäre vollständig „fabrizierbar" —, u n d selbstverständlich k o m m t daher auch der Jurist nicht ohne „wissenschaftliche Phantasie" aus; die Frage zielt daher nicht auf die Alternative von formaler L o g i k u n d I n t u i t i o n , sondern auf jenen „Zwischenbereich", also auf die Möglichkeit und das Gewicht einer nicht formal-logischen, darum aber doch rationalen spezifisch juristischen Methodik, nach dem i m Text Gesagten also w o h l einer „formalen Teleologik". A n anderen Stellen betont jedoch auch K l u g die Notwendigkeit einer teleologischen Ergänzung der formalen Logik nachdrücklich, vgl. die Nachweise oben Fn. 27.
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der J u r i s t 1 2 0 als unerträglich zurückweisen; denn da die eigentlichen Schwierigkeiten juristischen Denkens sich nicht mit den Mitteln der formalen Logik bewältigen lassen 121 , läge darin ein Todesurteil nicht nur über die Jurisprudenz als Wissenschaft, sondern ganz allgemein über jeden Versuch, die Rechtsanwendung als ein rational geleitetes Verfahren zu verstehen. Die Urteile des Juristen wären dann, wie in der Tat nicht selten behauptet wird, i m wesentlichen nur am Maßstab irgendeines „Rechtsgefühls" zu messen, das als solches stets irrational ist und über dessen „Aussagen" es daher, zumindest gegenwärtig, eine Verständigung, die Anspruch auf ein gewisses Maß an Allgemeinverbindlichkeit erheben könnte, nicht gibt. Anders gesprochen: Wer die Möglichkeit eines teleologischen Systems verneint, leugnet damit zugleich ganz allgemein die Möglichkeit, die Folgerichtigkeit teleologischen Denkens rational zu erfassen 122 , und damit auch die Möglichkeit, Jurisprudenz in ihrem entscheidenden Bereich überhaupt rational zu betreiben; denn das System im hier verstandenen Sinn ist (soweit es an dieser Stelle zur Diskussion steht 1 2 3 ) eben ex definitione nichts anderes als die rationale Erfassung der Folgerichtigkeit rechtlicher Wertungszusammenhänge. Daher muß man, wenn man nicht dem herkömmlichen Verständnis der Jurisprudenz als einem methodisch geleiteten, auf rationaler Argumentation beruhendem Unternehmen eine radikale Absage erteilen w i l l , die Möglichkeit eines axiologischen oder teleologischen Systems zumindest als Hypothese bejahen. Insoweit gilt für den Systemgedanken i m besonderen, was Binder für den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz i m allgemeinen gesagt hat: so wie Kant nicht gefragt habe, ob es eine Wissenschaft von der Natur gebe, sondern dies vorausgesetzt und es zu begreifen gesucht habe, so müsse man auch zunächst einmal davon ausgehen, .,daß es eine Rechtswissenschaft gibt, und nun fragen, was i h r Sinn ist und was ihren Anspruch auf Wissenschaftlichkeit begründet" 1 2 4 . In der Tat wäre für die moderne Methodendiskus120 Aber auch jeder andere Geisteswissenschaftler u n d der Philosoph. Die Vielzahl der Versuche, eine w i e i m m e r geartete materiale Logik zu schaffen, zeigt deutlich genug, w i e stark das Bedürfnis nach einer Ergänzung der formalen Logik durch eine andere A r t rationalen Denkens ist. 121 Vgl. eingehend oben S. 22 ff. 122 Er müßte also z. B. eine rationale Begründung eines jeden Analogieschlusses, die über die bloße Aufhellung seiner formal-logischen S t r u k t u r hinausgeht u n d i n den entscheidenden Kern, die Frage nach dem „Passen' der ratio legis eindringt, f ü r unmöglich erklären. 123
d. h. hinsichtlich des Merkmals der Ordnung, nicht der Einheit. 124 v g l . Philosophie des Rechts, 1925, S. 836 ff. (837) u n d Der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft, Kantstudien 25 (1921), S. 321 ff., insbesondere S. 352 ff.; eine bemerkenswerte Parallele findet sich (mit Bezug auf die allgemeine, also nicht spezifisch juristische, wissenschaftliche Erfassung von Wertungen) bei Lcinfellner, Einführung, a.a.O., S. 180 f.
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§ 2 Der Begriff des Systems
sion in der Jurisprudenz (und ganz allgemein i n den Geisteswissenschaften) viel gewonnen, wenn man sich diesen — leider zu wenig beachteten — Ausgangspunkt Binders zu eigen machte und, statt beständig die Wissenschaftlichkeit spezifisch geisteswissenschaftlicher Arbeitsweisen, insbesondere hermeneutischen und teleologischen Denkens, in Zweifel zu ziehen, die Besonderheiten dieser Methoden zu begreifen suchte und erst anschließend die Frage des Wissenschaftscharakters stellte 1 2 5 . Die Diskussion würde dann alsbald von den beiden Extremen, zwischen denen sie heute meist pendelt, zu jener Mittellage zurückkehren, die allein den spezifischen Aufgaben der Jurisprudenz angemessen ist: von der Unfruchtbarkeit bloßer logischer und logistischer Untersuchungen einerseits 126 und der Unverbindlichkeit reiner Topik andererseits 127 zu einer Teleologik und Hermeneutik, die m i t rationalen Mitteln rational nachprüfbare und daher verbindliche Ergebnisse liefert, — mag auch nicht jener Grad der Stringenz erreicht werden, der für die Naturwissenschaften oder die Mathematik charakteristisch ist. Und steht es denn um die Verifizierbarkeit der fraglichen Hypothese so schlecht? Wohl kaum! So hat z. B. die Literaturwissenschaft — wenn dies Urteil einem Dilettanten (im doppelten Sinne des Wortes) gestattet ist — geradezu verblüffende Fortschritte gemacht und Ergebnisse von höchster Evidenz erreicht, seit sie sich nicht mehr ausschließlich oder auch nur vorwiegend als historische Wissenschaft versteht 1 2 8 , sondern das Kunstwerk selbst i n seiner spezifischen Eigengesetzlichkeit, etwa unter dem Stichwort der „werkimmanenten Interpretation" oder der „Strukturanalyse", zum Gegenstand ihrer Untersuchungen gemacht hat und i n diesem Sinne eine hermeneutische Wissenschaft geworden ist. Und ähnlich kann die moderne teleologische Jurisprudenz unbestreitbare Erfolge für sich in Anspruch nehmen; man darf den Blick schließlich nicht beständig auf die Generalklauseln gerichtet 125 Wobei dann freilich nicht das Wissenschaftsideal des Positivismus zugrunde gelegt werden darf, das hermeneutischem Denken u n d jeder A r t von Teleologik — entsprechend dem ganz anderen Modell, an dem es orientiert ist (nämlich dem der M a t h e m a t i k u n d der Naturwissenschaften) — von vornherein nicht gerecht v/erden kann. M i t Recht ist daher z. B. einer der zentralen Gedanken der Methodenlehre von Latenz die Polemik gegen die alleinige Verbindlichkeit dieses Wissenschaftsbegriffs. 126 v g l . auch oben S. 22 ff. 127 v g l . auch unten § 7 I I 1 b. 128 Auch hier hat der positivistische Wissenschaftsbegriff schweren Schaden angerichtet. Denn w e i l außer Naturwissenschaften u n d Mathematik n u r die auf „positive Tatsachen" gerichtete Geschichtsschreibung als Wissenschaft anerkannt wurde, glaubte man, Literaturwissenschaft sei n u r als historische Wissenschaft möglich, u n d verbannte daher gerade das Spezifische, das ein K u n s t w e r k ausmacht, aus dem Bereich wissenschaftlicher Untersuchung.
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halten 1 2 9 , sondern muß auch jene Partien einbeziehen, in denen wie z. B. i n den „konstruktiven" Gebieten Sachenrecht, Erbrecht oder Wertpapierrecht in einer Unzahl von Fällen einfach nur das Urteil „falsch" oder „richtig" über ein Ergebnis möglich ist und von „vertretbar" usw. nicht die Rede sein kann. Ähnlich muß man sich die Fülle „zwingender" Auslegungen, „zwingender" Analogien, „zwingender" Restriktionen vor Augen halten und darf nicht allein die Probleme „freier" (d. h. nicht mehr an gesetzesimmanenten Wertungen orientierter) Rechtsfortbildung zum K r i t e r i u m der Verläßlichkeit juristischer Methoden machen. Schließlich kann es doch kein Zufall sein, daß sowohl dem Laien als auch häufig dem Juristen selbst juristisches Denken geradezu als ein Musterfall „logischen" Denkens erscheint; vergegenwärtigt man sich, daß i n Wahrheit nicht formal-logisches, sondern nur teleologisches Denken den spezifischen Problemen der Jurisprudenz gerecht w i r d und allein ihre Argumentation zu tragen vermag, so w i r d deutlich, was hinter diesem Urteil eigentlich steht: das Erlebnis einer besonderen Evidenz der Folgerichtigkeit und rationalen Überzeugungskraft axiologischen und teleologischen Denkens. Mag dessen Struktur auch noch wenig aufgehellt sein, so w i r d man alles i n allem doch sagen dürfen: die Hypothese, daß die Folgerichtigkeit juristisch-axiologischen oder teleologischen Denkens rationaler Art und daher rational begrLindbar ist und daß sie sich somit in einem entsprechenden System erfassen läßt, ist hinreichend erhärtet, um als wissenschaftliche Prämisse brauchbar zu sein. Sie ist die Bedingung der Möglichkeit juristischen Denkens überhaupt und insbesondere die Voraussetzung einer rational geleiteten und rational überprüfbaren Erfüllung des Gerechtigkeitsgebotes, Gleiches gleich und Ungleiches nach dem Maße seiner Verschiedenheit ungleich zu behandeln. Dabei bedarf abschließend allerdings eine Besonderheit noch ausdrücklicher Hervorhebung: wenn hier beständig von der Folgerichtigkeit des Wertens die Rede ist, so ist das so wörtlich gemeint, wie es gesagt ist. Es geht also nicht um die materiale „Richtigkeit", sondern allein um die formale „Folgerichtigkeit" einer Wertung, — wobei „formal" hier selbstverständlich nicht i. S. v. „formal-logisch" zu verstehen ist, sondern i n dem Sinne, i n dem man auch von dem „formalen" Charakter des Gleichheitssatzes spricht. Anders gesprochen: Aufgabe des teleologischen Denkens ist. soweit es in diesem Zusammenhang in Betracht kommt, nicht, eine irgendwie a priori inhaltlich „richtige" Regelung zu finden — etwa i. S. des Naturrechts oder i. S. der Lehre vom „richtigen 129 U n d auch deren Konkretisierung hat z. T. erstaunliche Fortschritte gemacht, — man denke n u r z. B. an die Arbeiten Sieberts und Wieackers zu §242 BGB.
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§ 2 Der Begriff des Systems
Recht" —, sondern allein, eine einmal gesetzte (primäre) Wertung i n allen ihren Konsequenzen zu Ende zu denken, sie auf vergleichbare Fälle zu übertragen, Widersprüche m i t anderen, schon gesetzten Wertungen zu beseitigen und Widersprüche bei der Setzung neuer Wertungen 1 3 0 zu verhüten. U n d dies formale Folgerichtigkeit zu gewährleisten, ist dementsprechend auch die Aufgabe des „teleologischen" Systems 131 , ganz i m Einklang m i t seiner Rechtfertigung aus dem „formalen" Gleichheitssatz. 2. Das System als Ordnung „allgemeiner Rechtsprinzipien"
M i t der Charakterisierung des Systems als teleologischer Ordnung ist indessen die zweite wesentliche Frage noch nicht beantwortet: die nach den tragenden Elementen, i n denen die innere Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung sichtbar wird. Geklärt ist allerdings auch insoweit schon, daß es sich dabei u m Wertungen handeln muß, doch kann dies noch nicht die abschließende A n t w o r t sein, w e i l sich sogleich die weitere Frage erhebt, welche Wertungen gemeint sind: alle oder n u r bestimmte? Wollte man i m ersteren Sinne entscheiden, so würde das zu einem Systembegriff führen, der Hecks „System der Konfliktsentscheidungen" sehr ähnlich wäre und dem gegenüber daher auch dieselben Bedenken bestünden: er könnte die Einheit gerade nicht sichtbar machen. Denn es geht ja darum, Elemente zu finden, die die inneren Zusammenhänge i n der Fülle der Einzelwertungen deutlich machen und die daher unmöglich mit deren bloßer Summe identisch sein können. Vielmehr muß man sich an dieser Stelle noch einmal das eingangs 132 herausgearbeitete Haupt Charakteristikum des Einheitsgedankens i n Erinnerung rufen: die Rückführung der Mannigfaltigkeit des einzelnen auf einige wenige tragende Grundgedanken. Das aber bedeutet, daß man bei der Aufdeckung des teleologischen Systems nicht bei den „Konfliktsentscheidungen" und den Einzelwertungen stehen bleiben darf, sondern zu den tiefer liegenden Grundwertungen, also zu den allgemeinen Prinzipien einer Rechtsordnung vordringen muß; es gilt also, hinter lex und ratio legis die übergreifende ratio iuris aufzuspüren. Denn nur so können die einzelnen Wertungen aus ihrer scheinbaren Isoliertheit befreit und i n den gesuchten „organischen" Zusammenhang gebracht werden, nur so w i r d jene Stufe der Allgemeinheit erreicht, auf der die innere Einheit der Rechtsordnung i m eingangs 132 130 Sei bildung. 131 Z u r wirklicht 132 v g l .
es i m Wege der Gesetzgebung, sei es i m Wege der RechtsfortFrage, i n w i e w e i t damit zugleich die materiale Gerechtigkeit v e r w i r d , vgl. unten § 5 I V 3. § 11.
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gekennzeichneten S i n n erst sichtbar w i r d . Das System läßt sich daher als eine axiologische oder teleologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien definieren 133, w o b e i i n d e m M e r k m a l der teleologischen O r d n u n g m e h r 1 3 4 das E l e m e n t der w e r t u n g s m ä ß i g e n F o l g e r i c h t i g k e i t , i n d e m M e r k m a l der a l l g e m e i n e n P r i n z i p i e n m e h r 1 3 4 das der i n n e r e n E i n h e i t angesprochen ist. W a n n e i n P r i n z i p als „ a l l g e m e i n " z u g e l t e n h a t , l ä ß t sich d a b e i n i c h t v o n v o r n h e r e i n festlegen; auch h a n d e l t es sich h i e r u m e i n durchaus r e l a t i v e s K r i t e r i u m . F ü r unsere gesamte R e c h t s o r d n u n g w i r d m a n z. B . n i c h t a l l e die P r i n z i p i e n als „ e i n h e i t s s t i f t e n d " u n d d a m i t system!33 Z u r systembildenden F u n k t i o n der Prinzipien vgl. vor allem Esser, Grundsatz u n d Norm, a.a.O., S. 227 f. u n d 323 ff. I m übrigen dürfte dem hier vertretenen Systembegriff der von Coing u n d der von Larenz am nächsten stehen (wichtige Ansätze aber schon bei Stoll, a.a.O., S. 77 f. u n d 96), vgl. vor allem Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 275 ff., JZ 1951, S. 481 ff. (484 f.), Geschichte und Bedeutung des Systemgedankens, S. 9 ff. u n d DÖlle-Festschrift, S. 25 ff.; Larenz, Festschrift f ü r Nikisch, 1958, S. 299 ff. u n d Methodenlehre, S. 133 ff. u n d 367 ff. Allerdings sehen beide das System nicht ausschließlich i n dem Zusammenhang der allgemeinen Rechtsprinzipien, sondern z. T. auch i n Lebenszusammenhängen, Werten, Instituten usw. (vgl. Coing, JZ, a.a.O., S. 485, Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 278; Larenz, a.a.O., S. 136 f. u n d S. 367) Darin dürfte jedoch n u r ein verhältnismäßig geringfügiger Gegensatz zu der i m Text vertretenen Auffassung liegen. Was zunächst die Bedeutung der Lebenszusammenhänge angeht, so ist scharf zwischen dem äußeren u n d dem inneren System zu trennen: für den Aufbau des äußeren sind sie von großer unmittelbarer Bedeutung, für den Aufbau des inneren dagegen können sie n u r mittelbar über die „ N a t u r der Sache" u n d die aus dieser vom Recht übernommenen, also i n eine spezifisch rechtliche Form umgesetzten Ordnungs- u n d Wertungsgesichtspunkte, d . h . aber eben doch über die Rechtsprinzipien relevant werden. Ähnliches gilt für die „sachlogischen Strukturunterschiede", etwa den zwischen Schuld- u n d Sachenrecht; auch hier k o m m t es darauf an, zwischen äußerem u n d innerem System zu trennen und f ü r das letztere n u r jene Elemente heranzuziehen, hinter denen sich materiale Wertungen verbergen. Z u den übrigen Elementen, w i e Begriffen, Rechtsinstituten oder Werten, vgl. sogleich i m Text unter a). — E i n System, i n dem alle oder mehrere dieser Elemente gleichrangig enthalten sind, i n dem also ζ. Β . Begriffe, Institute, Werte, Lebenszusammenhänge usw. auf derselben Stufe neben den Prinzipien stehen, scheint m i r allerdings wenig sinnvoll (vgl. aber Coing u n d Larenz, a.a.O.). Soweit dabei nicht schon das äußere u n d das innere System unzulässig vermengt werden, würde es sich jedenfalls u m die Gleichstellung von Elementen handeln, die auf verschiedenen Ebenen liegen. M a n mag zwar u. U. auch das innere System aus Werten, Begriffen, Instituten usw. aufbauen können (vgl. dazu sogleich i m T e x t unter a)), aber man sollte es dann jeweils n u r auf eines dieser Elemente gründen u n d nicht beständig die Ebene wechseln. M a n könnte auf diese Weise u. U. mehrere i n verschiedenen Schichten hintereinander oder i n Stufen übereinander liegende Systeme entwickeln, die sich weitgehend ineinander umformulieren ließen, aber es blieben eben verschiedene („wissenschaftliche") Systeme, d. h. verschiedene Arten, das („objektive") System der Rechtsordnung zu sehen u n d zu erfassen (zum Verhältnis zwischen dem „ o b j e k t i v e n " System und seiner Formulierung i m „wissenschaftlichen" System vgl. oben S. 13). 134 v g l . oben § 1 1 bei und m i t Fn. 13 u n d 14.
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§ 2 Der Begriff des Systems
tragend ansehen können, denen diese Funktion für das Privatrecht zukommt, für dieses wiederum sind nicht alle die Prinzipien systemtragend, die es etwa für das Schuldrecht, das Sachenrecht, das Erbrecht usw. sind, und innerhalb dieser Gebiete lassen sich weiter kleinere Untersysteme mit eigenständigen „allgemeinen" Prinzipien bilden, etwa das System der unerlaubten Handlungen, der ungerechtfertigten Bereicherung, der Leistungsstörungen oder der Vertrauenshaftung. Jeweils geht allenfalls ein Teil der das engere System tragenden Prinzipien als „allgemein" i n das weitere ein, und umgekehrt läßt sich regelmäßig das engere System nur z. T. aus den Prinzipien des weiteren aufbauen 135 . So ändert sich die „Allgemeinheit" eines Prinzips m i t der Höhe des Blickpunktes; letztlich entscheidend ist immer die Frage, welche Rechtsgedanken für die innere Sinneinheit d^s gerade i n Frage stehenden Teilgebietes als konstitutiv anzusehen sind, so daß dessen Ordnung durch eine Änderung eines dieser Prinzipien in ihrem „Wesensgehalt" verändert würde. Für das geltende Zivilrecht wären wohl — ohne Anspruch auf Vollständigkeit — beispielsweise die Prinzipien der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung, des Verkehrs- und Vertrauensschutzes, der Achtung der Persönlichkeits- und Freiheitssphäre des anderen und der Herausgabe einer ungerechtfertigten Bereicherung als systemtragend anzuerkennen 136 . Die Bedeutung der allgemeinen Rechtsprinzipien für die Systembildung bedarf indessen i n einigen Punkten noch der näheren Erläuterung. a) Die Vorzüge der „allgemeinen Rechtsprinzipien" bei der Systembildung gegenüber Normen, Begriffen, Rechtsinstituten und Werten Zunächst ist es nicht ohne weiteres selbstverständlich, daß das System gerade aus Prinzipien zusammengesetzt sein muß. Vielmehr drängt sich die Frage auf, ob es nicht auch auf anderen „allgemeinen" Elementen, z. B. auf Normen, Begriffen, Rechtsinstituten oder Werten beruhen könne. Die A n t w o r t hierauf ist nicht einfach und dürfte nicht zuletzt durch Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit und des Blickwinkels bestimmt sein. Was zunächst ein System von Normen angeht, so ist dies insofern wenig sinnvoll, als ia gerade der die Normen verbindende Zusam135 Die Prinzipien sind i. d. R. nicht sachhaltig genug, u m auch f ü r das engere Ordnungsgebiet alle maßgeblichen Wertgesichtspunkte zu enthalten, vgl. eingehend unten S. 57 f. 136 Eine Darstellung des Inhalts des Systems des heutigen Privatrechts ist nicht Gegenstand dieser Untersuchung (vgl. dazu vor allem Coing, DölleFestschrift, a.a.O.); hier geht es vielmehr nur u m die methodologische Seite der Problematik, u n d die i m T e x t angeführten Prinzipien dienen daher n u r der beispielhaften Veranschaulichung.
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m e n h a n g gesucht w e r d e n s o l l u n d dieser w o h l k a u m seinerseits ebenfalls i n e i n e r N o r m bestehen k a n n ; i n der T a t lassen sich die s i n n - u n d e i n h e i t s s t i f t e n d e n Rechtsgedanken d e n n auch a l l e n f a l l s zu g e r i n g e m T e i l i n d e r F o r m v o n N o r m e n , die j a nach V o r a u s s e t z u n g e n u n d F o l g e n t a t b e s t a n d l i c h e i n i g e r m a ß e n fest abgegrenzt sein m ü ß t e n , f o r m u l i e r e n u n d d r ä n g e n v i e l m e h r nach der flexibleren Fassung des Prinzips. W a s sodann ein System von allgemeinen Rechtsbegriffen b e t r i f f t , so i s t dies g e w i ß n i c h t n u r als r e i n f o r m a l e s S y s t e m a l l g e m e i n e r G r u n d b e g r i f f e d e n k b a r 1 3 7 , s o n d e r n w o h l auch als teleologisch „ g e f ü l l t e s " System einer bestimmten Rechtsordnung. Allerdings müßten die Beg r i f f e d a n n teleologische B e g r i f f e o d e r „ W e r t b e g r i f f e " 1 3 8 sein; auch d ü r f t e n f ü r d i e S y s t e m b i l d u n g w o h l k a u m die abstrakten Allgemeinb e g r i f f e i n B e t r a c h t k o m m e n 1 3 9 , s o n d e r n n u r d i e konkreten Allgemeinb e g r i f f e i. S. Hegels 140, da a l l e i n l e t z t e r e geeignet erscheinen, die die i n n e r e E i n h e i t ausmachende S i n n f ü l l e i n sich a u f z u n e h m e n 1 4 1 . W i e d e m 137 v g l . dazu oben § 2 12. 138 Den Terminus verwendet Coing, Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 272. !39 v g l . Larenz, a.a.O., S. 139 f. 140 Zur Bedeutung des konkret-allgemeinen Begriffs f ü r die Jurisprudenz grundlegend Larenz, a.a.O., S. 353 ff. 141 E i n System konkret-allgemeiner Begriffe hat Binder i n seiner nachgelassenen „Wissenschaftslehre" gefordert, vgl. S. 351 ff. (355) des i m Besitz des Seminars für Staatsphilosophie u n d Rechtspolitik der Universität K ö l n befindlichen Manuskripts. I n seiner „Philosophie des Rechts" von 1925 spricht Binder von einem System „empirischer Allgemeinbegriffe", vgl. S. 921 ff. (924), die er den „reinen" Rechtsbegriffen gegenüberstellt; „empirisch" sind diese Begriffe dabei insofern, als sie aus „dem I n h a l t der einzelnen geschichtlich gegebenen Rechtsordnungen" entwickelt werden müssen. Das Verhältnis zwischen diesen „empirischen Allgemeiribegriften" u n d den „historischen Individuaibegriffen" (i. S. Rickerts), die Binder sonst als maßgeblich für die Rechtswissenschaft ansieht (vgl. insbesondere a.a.O., S. 841 ff. u n d 888 ff.), w i r d dabei freilich nicht recht k l a r (zu den Schwierigkeiten der Begriffsbildung Binders vgl. auch Larenz, a.a.O., S. 106 f.). Die Lösung dürfte Binder schließlich i n Hegels konkret-allgemeinem Begriff gesehen haben, an den er auch i n der „Philosophie des Rechts" i n diesem Zusammenhang schon gelegentlich angeknüpft hatte (S. 842, vgl. auch S. 888). — Darauf, daß die Begriffe teleologischer A r t sein müssen, hat Binder w i e k a u m ein anderer unermüdlich hingewiesen, vgl. z. B. a.a.O., S. 886, 890, 897 ff. Larenz meint, das System des konkret-allgemeinen Begriffs sei das der Rechtsphilosophie, nicht das der Rechtsdogmatik (vgl. S. 367), d. h. also nicht das einer bestimmten Rechtsordnung. Ob das zutrifft u n d ob es auch n u r folgerichtig i n Larenz' sonstige Konzeption paßt, erscheint m i r zweifelhaft. Die Begründung, die Wissenschaft vom geltenden Recht bedürfe zur E r f ü l l u n g ihrer Aufgaben der abstrakt-allgemeinen Begriffe wegen ihrer Subsumtionsfähigkeit, ist jedenfalls w o h l k a u m zwingend. Denn das ist zwar richtig, doch ist es nicht Aufgabe gerade des Systems, die Möglichkeit unmittelbarer Subsumtion zu bieten; auch Prinzipien, Rechtsinstiute oder gar Lebenszusammenhänge sind ja durchaus nicht subsumtionsfähig. I m Gegenteil: subsumtionsfähig sind Normen, das System aber soll die „ h i n t e r " oder „ i n " diesen bestehenden Sinnzusammenhänge aufdecken und k a n n daher w o h l seinerseits gar nicht subsumtionsfähig sein. 4 Canaris
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aber auch sei, — daß ein System von Rechtsbegriffen möglich ist, heißt noch nicht, daß es auch zweckmäßig ist. Und dies ist für die hier gestellte Aufgabe i n der Tat zu bezweifeln. Denn das System soll ja die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und die innere Einheit des Rechts deutlich machen, und dazu sind Begriffe sehr schlecht geeignet. Sie enthalten nämlich auch dann, wenn sie richtig gebildet sind, die Wertung lediglich mittelbar, sozusagen verschlüsselt, während das Prinzip sie klar offenlegt; so w i r d die Wertung z.B. i m Prinzip der Selbstbestimmung wesentlich unmittelbarer sichtbar als i m (zugeordneten) Begriff des Rechtsgeschäfts, und welche Wertung gar der Begriff des subjektiven Rechts i n sich schließt, ist nur durch verhältnismäßig schwierige Überlegungen festzustellen. Man kann also sagen: Im (richtig gebildeten) Begriff ist die Wertung impliziert, das Prinzip dagegen macht sie explizit, und darum ist dieses besser geeignet, die Wertungseinheit des Rechts wiederzugeben. Außerdem sollte man auch nicht vergessen, daß keineswegs zu allen Grundwertungen unserer Rechtsordnung bereits die entsprechenden Begriffe herausgearbeitet sind und daß dies auch wesentlich schwieriger sein w i r d als die Formulierung allgemeiner Rechtsprinzipien. — I m übrigen bedarf es w o h l kaum der Hervorhebung, daß deshalb die Begriffsbildung nicht überflüssig ist. Sie ist i m Gegenteil zur Vorbereitung der Subsumtion unerläßlich, und daher sollte den Prinzipien ein korrespondierendes System von Rechtsbegriffen zugeordnet werden. Nur darf man nie vergessen, daß diese teleologischer Natur sind und daß daher i m Zweifelsfall immer der Rückgriff auf die i n ihnen enthaltene Wertung und das heißt auf das entsprechende Prinzip erforderlich ist; ist z.B. unklar, ob ein bestimmter A k t als Rechtsgeschäft oder eine geschützte Rechtsposition als subjektives Recht zu qualifizieren ist, so muß stets gefragt werden, ob i m fraglichen Falle die Regelung kraft privatautonomer Selbstbestimmung eintritt bzw. ob die bei anerkannten subjektiven Rechten geltenden Wertungen auch hier zutreffen. Ähnliches gilt auch gegenüber einem System von Rechtsinstituten 142. Auch diese machen nämlich die einheitsstiftende Wertung keineswegs unmittelbar sichtbar. Vor allem aber beruhen sie regelmäßig nicht auf einer einzigen Wertung, sondern auf der Verbindung mehrerer verschiedener Rechtsgedanken; so ist der Regelungskomplex der Privatautonomie, den man wohl als „ I n s t i t u t " unseres Privatrechts ansehen darf, nur aus dem Zusammenwirken der Prinzipien der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung und des Verkehrs- und Vertrauens142 Dieses entspricht vor allem dem Systembegriff Savignys, vgl. System des heutigen römischen Rechts, 1840, §5 (S. 10 f.); zum „ I n s t i t u t " als systembildenden Faktor vgl. i m übrigen Esser, Grundsatz und Norm, a.a.O., S. 324 ff. u n d Latenz, Methodenlehre, a.a.O., S. 137 ff.
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schutzes zu verstehen 143 , und eine ähnliche „Verschlingung" verschiedener Grundgedanken läßt sich wohl nahezu bei allen „Rechtsinstituten" nachweisen. Dann aber kann ein aus ihnen gebildetes System die Einheit der Rechtsordnung höchstens bruchstückhaft zum Ausdruck bringen, weil der auch zwischen den Instituten noch bestehende tiefere Zusammenhang so nicht sichtbar w i r d ; i m Gegenteil: daß für die verschiedenen Institute z. T. dieselben Prinzipien — etwa das der Selbstverantwortung oder des Schutzes der Freiheitssphäre — konstitutiv sind 1 4 4 , zeigt, daß man bei der Suche nach der Einheit des Rechts letztlich doch immer wieder auf die allgemeinen Rechtsprinzipien zurückverwiesen wird, — wobei das System sich freilich nicht aus deren bloßer zusammenhangloser Aufzählung ergibt, sondern durch ihr Zusammenspiel und ihre innere Rangordnung mitkonstituiert w i r d 1 4 5 und insoweit eine den Instituten verhältnismäßig ähnliche Komponente erhält. — Derselbe Einwand wie gegenüber einem System von Instituten gilt übrigens auch gegenüber einem solchen aus Begriffen, da auch diese meist mehrere Wertungsaspekte i n sich schließen; so trifft, was oben zum Institut der Privatautonomie gesagt wurde, ganz ähnlich auf den Begriff des Rechtsgeschäfts zu, und auch i m Begriff der unerlaubten Handlung und seinen einzelnen Elementen (Tatbestandsmäßigkeit, Rechtswidrigkeit, Schuld) verbergen sich mehrere voneinander verschiedene Wertungen oder Prinzipien. A m nächsten käme dem hier gemachten Vorschlag wohl der Versuch, das System als Ordnung von Werten zu verstehen 146 . Auch das wäre selbstverständlich grundsätzlich möglich; denn letzten Endes beruht jede Rechtsordnung auf einigen obersten Werten, deren Schutz sie dient. Gleichwohl sprechen auch hiergegen gute Gründe. Zwar ist der Übergang vom Wert zum Prinzip außerordentlich fließend, doch w i r d man, wenn man überhaupt eine einigermaßen praktikable Unterscheidung einführen w i l l , sagen können, daß das Prinzip bereits eine Stufe weiter konkretisiert ist als der Wert: anders als dieser enthält es schon die für den Rechtssatz charakteristische Zweiteilung in Tatbestand und Rechtsfolge 147. So steht etwa hinter dem Prinzip der rechts143
Vgl. näher unten S. 55 f. Vgl. auch Latenz, a.a.O., S. 139: „ . . . die durch die einzelnen Institute hindurchgreifenden, den Sinnzusammenhang eines umfassenden Normenkomplexes begründenden rechtsethischen Prinzipien . . . " 145 Vgl. näher unten S. 53 u n d 55 f. 146 Vgl. dazu vor allem Coing, a.a.O. (wie Fn. 133). 147 Vgl. näher Canaris, a.a.O., S. 123 f. Das bedeutet freilich nicht, daß es auch i m übrigen schon die F o r m eines Rechtssatzes aufwiese; von diesem unterscheidet es sich vielmehr dadurch, daß es regelmäßig noch nicht h i n reichend konkretisiert ist, u m eine Subsumtion zu erlauben, u n d daher der „Normativierung" bedarf, vgl. eingehend a.a.O., S. 160 ff. Dies ändert jedoch entgegen der Ansicht Bydlinskis (öJBl. 1968, S. 223) nichts an der Richtig144
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geschäftlichen Selbstbestimmung der Wert der Freiheit; während aber dieser allein noch keinen Hinweis auf die daraus abzuleitenden Rechtsfolgen enthält, sagt jenes darüber bereits etwas verhältnismäßig Konkretes aus, nämlich daß der Schutz der Freiheit insoweit durch die Legitimation des einzelnen zur privatautonomen Regelung seiner Beziehungen zu anderen gewährleistet wird. Das Prinzip hält also gegenüber dem Wert einerseits und dem Begriff andererseits gerade die richtige Mitte: jenem hat es voraus, daß es schon verfestigt genug ist, u m bereits eine Aussage über die Rechtsfolge zu enthalten und damit eine spezifisch rechtliche Einkleidung zu besitzen, diesem hat es voraus, daß es noch nicht verfestigt genug ist, u m die Wertung zu verdecken. Alles i n allem handelt es sich freilich, das sei zur Vermeidung von Mißverständnissen noch einmal wiederholt, vorwiegend um eine Frage der Zweckmäßigkeit und des Blickwinkels; ein System teleologischer Begriffe, rechtlicher Institute oder oberster Werte müßte einem System von Prinzipien jedenfalls sehr stark ähneln, eines müßte sich weitgehend, wenn auch nicht vollständig, in das andere umformulieren lassen. b) Die Funktionsweise der „allgemeinen Rechtsprinzipien" bei der Systembildung Erweist sich die Entscheidung, als einheitstragende Elemente die allgemeinen Rechtsprinzipien zu wählen, somit als gut begründbar, so ergibt sich als weitere Aufgabe, nähere Aussagen über die Art und Weise zu machen, in der diese ihre systemtragende Funktion erfüllen. Dabei lassen sich vier Charakteristika herausstellen: die Prinzipien gelten nicht ohne Ausnahmen und können zueinander i n Gegensatz keit der vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen Prinzip u n d W e r t ; denn das Prinzip weist anders als der Wert doch i m m e r h i n schon wenigstens die Richtung für die Rechtsfolge (vgl. a.a.O., S. 161 ff.), mag es deren Einzelheiten auch noch offenlassen. Was insbesondere das von Bydlinski erwähnte B e i spiel des Prinzips, daß die Erhaltung des Grundkapitals einer A G gesichert bleiben muß, angeht, so ist bei diesem die Zweiteilung i n Tatbestand („Das Grundkapital") und Rechtsfolge („muß erhalten bleiben") durchaus bereits i m Ansatz erkennbar; auch scheint es gerade i n diesem F a l l besonders wenig sinnvoll, von einem „ W e r t " zu sprechen, w e i l die Erhaltung des Grundkapitals doch nicht u m seiner selbst willen, sondern eben zum Schutz „dahinter stehender" und also davon verschiedener „Werte" erforderlich ist. I m übrigen ist natürlich ohne weiteres zuzugeben, daß sich rechtliche Werte verhältnismäßig leicht i n die entsprechenden Prinzipien u m formulieren lassen und daß daher die Übergänge fließend sind, — handelt es sich doch n u r u m verschiedene Stufen eines i n sich kontinuierlichen Konkretisierungsvorganges (der sich i n seiner nächsten Phase v o m Prinzip zur N o r m fortsetzt und dort wieder ähnlich fließende Ubergänge aufweist). — Was Bydlinski zum Unterschied von Analogie und allgemeinem Rechtsprinzip, a.a.O., sagt, ist dagegen überzeugend u n d stellt einen wichtigen Fortschritt i n dieser Frage dar.
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oder Widerspruch 148 treten; sie erheben nicht den Anspruch der Ausschließlichkeit; sie entfalten ihren eigentlichen Sinngehalt erst i n einem Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung; und sie bedürfen zu ihrer Verwirklichung der Konkretisierung durch Unterprinzipien und Einzelwertungen m i t selbständigem Sachgehalt. Die Prinzipien gelten nicht ohne Ausnahmen und können zueinander in Gegensatz oder Widerspruch treten. Dieses Charakteristikum bedarf kaum der Erläuterung; denn daß Grundentscheidungen der Rechtsordnung vielfachen Ausnahmen unterliegen und daß einzelne Prinzipien nicht selten zu entgegengesetzten Entscheidungen drängen, ist für den Juristen eine vertraute Erscheinung. Man denke nur an die Ausnahmen, die etwa das Prinzip der Formfreiheit der Schuldverträge, der Formlosigkeit der Vollmacht, der Vertretungsfreundlichkeit der Rechtsgeschäfte, der Bedingungsfreundlichkeit der Rechtsgeschäfte, der Genehmigungsfreiheit der Geschäfte des gesetzlichen Vertreters usw. erfährt. Oder man denke an die vielfältigen Einschränkungen des Prinzips der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung, die sich aus der Berücksichtigung entgegenwirkender Prinzipien und der dadurch entstehenden Gegensätze ergeben, z. B. die Einschränkung der Abschlußfreiheit durch die verschiedenen Tatbestände des Kontrahierungszwanges, der schuldvertraglichen Inhaltsfreiheit durch das Kündigungsschutzrecht i m sozialen Mietrecht und i m Arbeitsrecht, der Testierfreiheit durch das Pflichtteilsrecht usw. usw. Dabei besteht zwischen einer bloßen Ausnahme und einem Prinzipiengegensatz naturgemäß ein fließender Ubergang; man w i r d darauf abzustellen haben, ob die Wertung, die die Einschränkung fordert, eine hinreichende Allgemeinheit und Ranghöhe besitzt, um auch ihrerseits als systemtragendes Prinzip zu gelten. Das t r i f f t bei den obigen Beispielen sicher nicht zu hinsichtlich der Rechtsgedanken, die hinter den verschiedenen Formvorschriften stehen, also dem Schutz vor Übereilung oder der K l a r stellung der Beweislage; das BGB räumt diesen Wertungen keine solche Bedeutung ein, daß man hier von einem systemtragenden Prinzip des bürgerlichen Rechts oder auch nur des Schuldrechts sprechen könnte, und es liegen daher bloße Ausnahmen vom Grundsatz der Formfreiheit vor. Demgegenüber haben der Gedanke des Arbeitnehmerschutzes und des Schutzes der Familie, die hinter dem Kündigungsschutzrecht bzw. dem Pflichtteilsrecht stehen, zweifellos systemtragende Funktion für unser Arbeits- bzw. Erbrecht, darüber hinaus aber auch für das gesamte Privat recht; es liegen also Prinzipiengegensätze vor. Die Prinzipien erheben nicht den Anspruch auf Ausschließlichkeit. Das bedeutet, daß dieselbe Rechtsfolge, die für ein bestimmtes Prinzip 148
Z u m Unterschied von Gegensatz u n d Widerspruch vgl. unten § 6 1 2 d.
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§2 Der Begriff des Systems
charakteristisch ist, auch an ein anderes Prinzip geknüpft sein kann. Man sollte meinen, daß dies selbstverständlich sei. Es ist jedoch, zumindest hinsichtlich einzelner Prinzipien häufig verkannt worden, und dieses Mißverständnis hat sich z. T. als schweres Hemmnis für die Fortbildung unseres Privatrechts erwiesen. So war es z. B. keineswegs immer allgemein anerkannt, daß Schadensersatzansprüche nicht nur aus schuldhafter Rechtsverletzung entstehen können; heute freilich ist nicht mehr streitig, daß es daneben eine Reihe anderer, ebenfalls systemtragender Zurechnungsprinzipien gibt, wie das Risiko-, das Vertrauens- oder das Aufopferungsprinzip, und daß die auf ihnen beruhenden Vorschriften, wie die Tatbestände der Gefährdungshaftung bzw. die §§ 122, 179, 307 BGB bzw. § 904 S. 2 BGB, keineswegs „systemwidrige" Ausnahmetatbestände, sondern i m Gegenteil (z. T. unvollkommene) Ausprägungen allgemeiner Prinzipien sind. Gewiß kommt dem Prinzip der Einstandspflicht für verschuldetes Unrecht noch immer eine gewisse Vorrangstellung zu, die z.T. i n seiner historischen Bedeutung, vor allem aber i n seiner besonderen rechtsethischen Evidenz, begründet ist; das rechtfertigt aber i n keiner Weise, i h m einen Ausschließlichkeitsanspruch zuzuerkennen, sondern führt allenfalls dazu, bei der Anerkennung anderer Zurechnungsgründe die Frage ihrer inneren Uberzeugungskraft besonders sorgfältig zu prüfen. Es versteht sich von selbst, daß diese gewandelte Blickweise von höchster Bedeutung für die Auslegung und die Rechtsfortbildung ist 1 4 9 . Eine ganz ähnliche Problematik wie hinsichtlich des Verschuldensprinzips ergibt sich auch hinsichtlich des Prinzips der Privatautonomie, und diese besitzt noch heute große Aktualität. Es scheint nämlich nicht selten das Mißverständnis vorzuherrschen, Ansprüche „wie aus einem Rechtsgeschäft", also insbesondere Erfüllungsansprüche, könnten grundsätzlich nur aus Rechtsgeschäften hervorgehen 150 . Das würde z. B. der Anerkennung der Vertrauenshaftung als eines gleichrangigen systemtragenden Prinzips entgegenstehen, soweit aus dieser nicht nur Schadensersatzansprüche, sondern, wie etwa bei der Rechtsscheinhaftung, Erfüllungsansprüche erwachsen. I n Wahrheit läßt sich ein derartiger Ausschließlichkeitsanspruch des Prinzips der rechtsgeschäftlichen Selbstbestimmung nicht begründen 1 5 1 , so daß dieses der Anerkennung von Erfüllungsansprüchen 149 Vgl. auch unten S. 71 f. und 99 f. Dies dürfte vor allem die Meinung Flumes sein, weshalb er die einschlägigen Erscheinungen entweder als nicht weiter erklärungsfähige Sondertatbestände abtut wie z. B. die Lehre v o m kaufmännischen Bestätigungsschreiben (vgl. Allg. T e i l I I , 1965, §36) oder als m i t dem geltenden Recht u n d insbesondere m i t der Rechtsgeschäftslehre unvereinbar ablehnt w i e z.B. die „Anscheinsvollmacht" (vgl. a.a.O., §49, 4, vgl. vor allem S. 834: „ . . . so daß (!) auch die Regeln über Rechtsgeschäfte nicht eingreifen."). 151 Vgl. dazu näher Canaris, Die Vertrauenshaftung i m deutschen P r i v a t recht, 1971, S. 431 ff. 150
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aus Vertrauenshaftung oder aus anderen Tatbeständen „objektiver Zurechnung" 1 5 2 nicht entgegensteht. Ganz allgemein ist daher zu sagen: Prinzipien dürfen grundsätzlich nicht i n eine Ausschließlichkeitsfassung gebracht werden; sie dürfen also nicht nach dem Schema „nur wenn . . . , dann . . . " formuliert werden. Die Prinzipien entfalten ihren eigentlichen Sinngehalt erst in einem Zusammenspiel wechselseitiger Ergänzung und Beschränkung 153. Auch hierfür finden sich allenthalben Beispiele. So w i r d etwa die Rechtsgeschäftslehre und insbesondere die Irrtumsregelung des BGB nur aus der Verbindung der drei Prinzipien der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung und des Verkehrs- und Vertrauensschutzes verständlich. Selbstbestimmung ist nur i n Selbstverantwortung möglich 1 5 4 , so wie echte Freiheit ganz allgemein stets die ethische Bindung in sich schließt. Dementsprechend muß der Verantwortungsfähige für die gesetzte Regelung u.U. auch dann einstehen, wenn seine Selbstbestimmung fehlerhaft ist; hier t r i t t die Selbstverantwortung als ergänzendes Prinzip hinzu. Diese aber ist wiederum eng verbunden mit dem Gedanken des Vertrauensschutzes, weil i m allgemeinen nur dem gutgläubigen Dritten gegenüber Anlaß besteht, das Rechtsgeschäft trotz der Fehlerhaftigkeit der Selbstbestimmung unter Berufung auf das Prinzip der Selbstverantwortung aufrecht zu erhalten. Beispielsweise t r i t t i m Grundsatz der objektiven Auslegung das Prinzip der Selbstverantwortung hervor, soweit es darum geht, daß der Erklärende sich die objektive Bedeutung (zumindest vorläufig) zurechnen lassen muß, und das Vertrauensprinzip, insofern es darauf ankommt, wie der andere Teil die Erklärung vernünftigerweise verstehen durfte.. Ähnlich liegt eine Verbindung aller drei Prinzipien z. B. § 123 I I BGB zugrunde, während die ausnahmslose Beachtlichkeit einer Drohung nach § 123 I auf einer Zurücksetzung des Vertrauensschutzprinzips gegenüber dem der Selbstbestimmung beruht, das hier wegen der besonderen Schwere des Mangels — nach der Wertung des BGB — nicht durch den Gedanken der Selbstverantwortung modifiziert wird. Selbstverantwortung und Verkehrsschutz (nicht Vertrauensschutz) stehen auch hinter dem Grundsatz der vorläufigen Gültigkeit eines — unter an sich beachtlichem I r r t u m vorgenommenen — Rechtsgeschäfts, Selbstverantwortung und Vertrauensschutz geben § 122 BGB seinen Sinn. Der Verkehrsschutzgedanke spielt weiter bei der Regelung der Geschäfts152 Vgl. dazu vor allem Hübner, Zurechnung statt F i k t i o n einer Willenserklärung, i n Nipperdey-Festschrift, 1965, S. 373 ff. 153 Grundlegend die Arbeiten von Wilburg, vgl. dazu eingehend unten §4. 154 Vgl. dazu statt aller Larenz, Die Methode der Auslegung des Rechtsgeschäfts, 1930: Flume, a.a.O., § 4, 8 u n d 21, 1.
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fähigkeit eine bedeutsame Holle, wo er, zusammen m i t dem eng verwandten Gedanken der Rechtsklarheit, zur Aufstellung starrer Altersgrenzen geführt hat; er modifiziert so sowohl das Prinzip der Selbstbestimmung wie das der Selbstverantwortung: das Rechtsgeschäft eines 20jährigen ist unwirksam, auch wenn es i n voller Urteilsfähigkeit vorgenommen war, also eine in fehlerloser selbstverantwortlicher Selbstbestimmung gesetze Regelung darstellt, und umgekehrt ist die Regelung eines geistig Zurückgebliebenen 21jährigen auch dann wirksam, wenn von einer selbstverantwortlichen Selbstbestimmung eigentlich noch nicht die Rede sein kann. Neben einer solchen Ergänzung steht die wechselseitige Beschränkung. Dies ist schon oben bei der Erörterung des ersten Kriteriums angedeutet worden. So läßt sich die Bedeutung des Prinzips der Selbstbestimmung i n unserer Rechtsordnung erst dann voll beurteilen, wenn man die entgegenwirkenden und einschränkenden Prinzipien und den ihnen jeweils zugewiesenen Anwendungsbereich i n die Betrachtung einbezieht, also z. B. die Tatbestände des Kontrahierungszwangs, den K ü n d i gungsschutz oder das Pflichtteilsrecht als systemtragende Elemente für das Verständnis der Privatautonomie fruchtbar macht. Anders gesprochen: das Verständnis eines Prinzips ist stets zugleich das seiner Schranken 155 . Das wechselseitige Zusammenspiel der Prinzipien führt allerdings zu gewissen Schwierigkeiten bei der Formulierung des Systems. Es kommen nämlich unterschiedliche Aspekte in den Blick je nachdem, ob man beschreibt, wo ein Rechtsprinzip an verschiedenen Stellen der Rechtsordnung Bedeutung hat, oder ob man herausarbeitet, wie es an einer bestimmten Stelle w i r k t . Daß z. B. die Prinzipien der Risikozurechnung und des Verkehrsschutzes nicht nur im Rahmen der Rechtsgeschäftslehre, sondern etwa auch i m Bereicherungs- und Schadensersatzrecht eine Rolle spielen, ist gewiß ein systemprägendes Charakteristikum des geltenden Rechts. Ebenso systemprägend ist aber auch, daß sie i m rechtsgeschäftlichen Bereich zum Grundsatz der objektiven Auslegung, i m Bereicherungsrecht zu den bekannten Durchgriffsverboten bei Dreiecksverhältnissen und i m Schadensersatzrecht zur Objektivierung des Fahrlässigkeitsmaßstabs geführt haben. Erst beide Aspekte zusammen bringen das System einigermaßen vollständig zur Darstellung, ohne daß man sie doch stets beide gleichzeitig reflektieren oder gar formulieren kann. Sie verhalten sich also komplementär zueinander, um einen Terminus aufzugreifen, der auch i m Bereich naturwissenschaftlicher Theoriebildung verwendet w i r d 1 5 6 . iss U n d zwar seiner immanenten wie seiner „externen", d. h. durch den Gegensatz zu anderen Prinzipien bedingten. Vgl. dazu etwa Weisskopf in Rückblick in die Zukunft, 1981, S. 203 f. (im Anschluß an Niels Bohr).
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Die Prinzipien bedürfen schließlich zu ihrer Verwirklichung der Konkretisierung durch Vnterprinzipien und Einzelwertungen mit selbständigem Sachgehalt. Sie sind nämlich keine Normen und daher der unmittelbaren Anwendung nicht fähig 1 5 7 , sondern müssen dazu erst noch tatbestandlich verfestigt, „normativiert" werden. Dabei ist die Einschaltung neuer selbständiger Wertungen unerläßlich. Das sei wieder an Beispielen veranschaulicht. Wenn man etwa weiß, daß die Auferlegung einer bestimmten Verpflichtung auf dem Prinzip der Selbstverantwortung beruht, so ist man von einer subsumtionsfähigen Norm noch weit entfernt. Denn Selbstverantwortung bedeutet nicht mehr als Zurechnung, Zurechnung aber setzt ein bestimmtes Zurechnungsprinzip voraus. Als solches kennt das geltende Zivilrecht nun das Verschuldensprinzip, das Risikoprinzip und — jedenfalls nach einer verbreiteten, allerdings unrichtigen 1 5 8 Ansicht — das Veranlassungsprinzip, und es gilt daher zunächst, unter diesen eine Auswahl zu treffen. Auch damit ist der Konkretisierungsprozeß jedoch noch nicht beendet. Fällt nämlich z. B. die Entscheidung zugunsten des Verschuldensprinzips, so ergibt sich die weitere Frage nach den Verschuldensformen; sind diese als Vorsatz und Fahrlässigkeit näher bestimmt, so ist zu klären, was darunter zu verstehen ist, und wieder sind dabei selbständige Wertungen erforderlich, z. B. hinsichtlich der Behandlung von Verbotsirrtümern, hinsichtlich der Frage, ob der Fahrlässigkeitsbegriff objektiv oder subjektiv zu verstehen ist und hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung dessen, was die „ i m Verkehr erforderliche Sorgfalt" in einer bestimmten Lage ist; auch treten neue Wertungen bei der Festlegung des Haftungsmaßstabes hinzu, also bei der Frage, für welchen Grad des Verschuldens gehaftet werden soll: nur für Vorsatz, nur bis zur Grenze der groben Fahrlässigkeit oder nur für diligentia quam i n suis usw. Ähnliches gilt, wenn die Frage nach dem Zurechnungsprinzip zugunsten des Risikoprinzips entschieden ist. Auch hier stellen sich eigenständige Wertungsprobleme, wenn es darum geht, welches Risiko zugerechnet werden soll und bis zu welcher Grenze die Einstandspflicht reicht; man denke nur an die Skala der Möglichkeiten von einer Haftung unter Einschluß der höheren Gewalt über verschiedene Zwischenformen bis hin zur Haftungsbefreiung bei Vorliegen eines „unabwendbaren Ereignisses" i. S. d. § 7 I I StVG! Das Gleiche läßt sich auch am Beispiel der Vertrauenshaftung zeigen. So erhebt sich bei einer grundsätzlichen Bejahung eines Vertrauensschutzes sofort die Frage, i n welcher Form dieser erfolgen soll: durch die Ge157 Grundlegend zum Unterschied von Prinzip u n d N o r m Esser, Grundsatz u n d N o r m i n der richterlichen F o r t b i l d u n g des Privatrechts, 2. Aufl. 1964. 158
Vgl. Canaris, Die Vertrauenshaftung, a.a.O., S. 474 ff.
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§ 2 Der Begriff des Systems
Währung eines Schadens- und Aufwendungsersatzanspruchs wie z. B. in den §§ 122, 179 II, 307 BGB oder durch die Gewährung eines Erfüllungsanspruchs wie z.B. i n den Fällen der Rechtsscheinhaftung? Das ist aus dem Vertrauensgedanken allein ersichtlich nicht mehr zu lösen, so daß wiederum neue materiale Gesichtspunkte gefunden werden müssen, nach deren Heranziehung sich dann u.U. weitere ähnliche Unterprobleme ergeben können. N i m m t man hinzu, daß die Vertrauenshaftung regelmäßig auf einer Verbindung zwischen den Prinzipien des Vertrauensschutzes und der Selbstverantwortung beruht und daß das letztere seinerseits, wie eben gezeigt, eine ganze Skala verschiedener Konkretisierungsmöglichkeiten aufweist, so w i r d deutlich, welche Vielfalt tatbestandlicher Ausformungen durch die Kombination der einzelnen Varianten und Untervarianten denkbar ist, — was die Betrachtung des geltenden Rechts mit seiner großen Zahl verschiedener Typen der Vertrauenshaftung i n der Tat bestätigt. So zeigt sich allenthalben, daß sich aus der bloßen Kombination der verschiedenen systemtragenden Prinzipien fast nie unmittelbar die Rechtsfolge ermitteln läßt, sondern daß auf den einzelnen Stufen der Konkretisierung immer wieder neue eigenständige Wertungsgesichtspunkte hinzutreten. Diesen selbst den Rang systemtragender Elemente zuzuerkennen, geht wegen ihrer geringen Allgemeinheit und ihres meist verhältnismäßig schwachen rechtsethischen Gewichts i. d. R. nicht an: sie sind nicht konstitutiv für die Sinneinheit des betreffenden Rechtsgebiets, bei den erwähnten Beispielen also des Privatrechts 159 . c) Die Unterschiede der „allgemeinen Rechtsprinzipien" gegenüber den Axiomen Kommt man nun abschließend noch einmal auf die Problematik des axiomatisch-deduktiven Systems zurück 1 6 0 , so ist nach dem soeben Ausgeführten ohne weiteres klar, daß allgemeine Rechtsprinzipien als Grundlage eines solchen jedenfalls ungeeignet sind. Allerdings passen das zweite und, mindestens teilweise, das dritte der herausgearbeiteten Charakteristika auch auf Axiome. Denn auch diese müssen nicht wesensgemäß nach der Formel „ N u r w e n n . . . , d a n n . . . " aufgebaut sein, sondern lassen die Möglichkeit offen, daß dasselbe Ergebnis auch 159 Sie können aber natürlich konstitutiv für die Sinneinheit eines — oft nahezu beliebig kleinen — Teilgebietes sein. So mag man z. B. einen Rechtsgedanken für ein „System der Vertrauenshaftung" durchaus als konstitutiv ansehen, der für das System des Schuldrechts oder gar des Privatrechts diesen Rang nicht besitzt. E i n Prinzip als „systemtragend" zu bezeichnen, ist daher eine relative Aussage, vgl. näher oben S. 47 f. 100
Z u diesem vgl. i m übrigen eingehend oben § 2 I 3 b.
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aus einem anderen A x i o m abgeleitet werden k a n n 1 6 1 ; mag einem axiomatischen System auch eine gewisse Tendenz zur Reduzierung auf verhältnismäßig wenige Prämissen innewohnen — eine Tendenz, die übrigens wegen des Elements der Einheit jedes System aufweist und die auch bei einem System allgemeiner Rechtsprinzipien unverkennbar ist —, so erhebt ein A x i o m deswegen doch keineswegs notwendig den Anspruch der Ausschließlichkeit. Und auch was das dritte Charakteristikum betrifft, die wechselseitige Ergänzung der Prinzipien, so ergibt sich eine Parallele zu den Axiomen; denn auch diese entfalten ihre eigentliche Bedeutung erst, wenn man sie miteinander verbindet, u m aus mehreren axiomatischen Obersätzen die Vielzahl der „Theoreme" zu gewinnen. Schon bei dem Element wechselseitiger Beschränkung und erst recht bei dem Charakteristikum der Durchbrechung durch Ausnahmen und der Prinzipienwidersprüche hört die Übereinstimmung jedoch auf. Denn Axiome fordern ausnahmslose Geltung, und alle in Betracht kommenden Ausnahmen m i t i n die Formulierung des Axioms aufzunehmen, wäre eine Scheinaxiomatisierung 162 . Während Prinzipien also das für den Juristen so charakteristische Wörtchen „grundsätzlich" i n ihrer Fassung enthalten, müssen Axiome nach dem Schema „ i m m e r w e n n . . . , d a n n . . . " formuliert werden können. Dies ist auch durchaus kein Zufall, sondern i m Gegenteil für die Besonderheiten des teleologischen Denkens gegenüber dem formal-logischen Denken charakteristisch; denn, wie Esser sagt 1 6 3 , „Prinzipien können nur dann funktionieren, wenn man sie sachgerecht durchbrechen darf". Vollends unvereinbar mit einem axiomatischen System ist die Möglichkeit der Prinzipienwidersprüche. Daß es solche geben kann, ist allgemein anerkannt 1 6 4 und i n der Tat nicht zu leugnen 1 6 5 . Sie lassen sich auch keineswegs immer beseitigen 165 , so daß ein System allgemeiner Rechtsprinzipien dem Postulat völliger Widerspruchsfreiheit nicht genügen kann. Deshalb sind die Prinzipien als Grundlage eines axiomatischlogischen Systems unbrauchbar, da die Widerspruchslosigkeit der Axiome unverzichtbar ist 1 6 6 . Der Ausbildung eines teleologischen 161 Eine durchaus andere Frage ist, ob ein A x i o m aus einem anderen oder aus der Verbindung mehrerer anderer ableitbar sein darf; das ist zu verneinen, w e i l das A x i o m dann überflüssig wäre. Eine Prämisse ist aber keineswegs deshalb überflüssig, w e i l sich aus ihr dieselben Ergebnisse herleiten lassen wie aus einer anderen, inhaltlich verschiedenen Prämisse. 162 v g l . auch oben S. 27 f. 163
Vgl. Grundsatz und Norm, S. 7. Vgl. statt aller Engisch, Einführung i n das juristische Denken, S. 162 ff. m i t ausführlichen Nachweisen i n Fn. 206 a. 165 Vgl. eingehend unten § 6 13—5. 166 Vgl. oben bei und m i t Fn. 35. 164
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§ 2 Der Begriff des Systems
Systems steht die Möglichkeit von Prinzipien wider Sprüchen dagegen keineswegs entgegen; sie hindert allenfalls eine völlig befriedigende Durchformung dieses Systems 167 . Schließlich unterscheidet auch das vierte Charakteristikum die allgemeinen Hechtsprinzipien von Axiomen; denn aus diesen müssen sich die „Theoreme" unter ausschließlicher Verwendung der Gesetze der formalen Logik und ohne Einschaltung neuer materialer Gesichtspunkte ableiten lassen 168 , während bei der Konkretisierung und Normativierung allgemeiner Rechtsprinzipien, wie gezeigt, auf den einzelnen Stufen immer wieder selbständige Teilwertungen notwendig werden.
167 v g l . näher unten § 6 I 5. 168 Vgl. die Zitate oben Fn. 31.
§
Die
e h e i t des Systems
M i t der Definition des Systems als einer teleologischen Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien ist der Systembegriff zwar i n seinen wichtigsten Merkmalen festgelegt, doch bedarf er gleichwohl noch i n einigen Punkten der Präzisierung. I n der modernen juristischen Systemdiskussion spielen nämlich i n zunehmendem Maße zwei Eigenschaften des Systems eine Rolle, die i m bisherigen Verlauf der Erörterungen noch nicht berührt worden sind und die es daher i m folgenden näher zu untersuchen gilt: die „Offenheit" und die „Beweglichkeit" des Systems. Was ist damit gemeint? Was zunächst die „Offenheit" betrifft, so finden sich i m Schrifttum zwei verschiedene A r t e n des Sprachgebrauchs. Z u m einen w i r d der Gegensatz von offenem und geschlossenem System mit dem Unterschied zwischen einer kasuistisch gebildeten, auf dem Richterrecht aufbauenden und einer vom Kodifikationsgedanken beherrschten Rechtsordnung identifiziert 1 ; i n diesem Sinne ist das System des heutigen deutschen Rechts seiner Grundstruktur nach 2 zweifellos als geschlossenes anzusehen. Zum anderen w i r d unter Offenheit die Unabgeschlossenheit, die Entwicklungsfähigkeit, die Modifizierbarkeit des Systems verstanden 3 , und i n diesem Sinne kann i n der Tat auch das System unserer derzeitigen Rechtsordnung als offen bezeichnet werden. Denn es ist eine allgemein bekannte und anerkannte Tatsache, daß dieses i n einer ständigen Veränderung begriffen ist und daß beispielsweise unser Privatrechtssystem heute wesentlich anders aussieht als unmittelbar nach Erlaß der BGB oder auch noch vor 30 Jahren. 1 Vgl. Esser, Grundsatz und Norm, S. 44, 218 f. und öfter i m Anschluß an Fritz Schulz, History of Roman Legal Science, 1946, S. 69, dessen Sprachgebrauch jedoch nicht eindeutig in diesem Sinne festgelegt ist; vgl. ferner
Lerche, DVB1.1961, S. 692.
2 Daß der Gegensatz kein ausschließender, sondern lediglich ein typologischer ist, daß also beide Systemarten konvergieren, dürfte nach den Ausführungen von Esser, a.a.O. passim, heute allgemein anerkannt sein; vgl. auch Zajtay, AcP 165, S. 97 ff. (106). 3 Vgl. Sauer, Juristische Methodenlehre, 1940, S. 172; Engisch, Stud. Gen.
Bd. 10 (1957), S. 187 f.; Larenz, Methodenlehre, S. 134 und S. 367; Emge,
Philosophie der Rechtswissenschaft, 1961, S. 290; Raiser, NJW 1964, S. 1204; Flume, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, Bd. 2, 1965, S. 295 f.; Mayer-Maly, The Irish Jurist, vol. I I part 2, 1967, p. 375; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 122, 145, 150. Dieser Sprachgebrauch stimmt m i t dem allgemein-wissenschaftstheoretischen überein, vgl. die Zitate unten Fn. 8.
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Die Offenheit des Systems
Diese Wandlung, i n deren Verlauf eine Reihe „neuer" Prinzipien Anerkennung gefunden hat, ist oft beschrieben worden 4 und braucht hier nur angedeutet zu werden. So hat sich i n der Gefährdungshaftung das Risikoprinzip, i n der Rechtsscheinhaftung und i n der Lehre von der culpa i n contrahendo das Vertrauensprinzip, i m Institut der Geschäftsgrundlage das materielle Äquivalenzprinzip als systemtragender oder -modifizierender Faktor durchgesetzt, und ähnlich hat das Prinzip von Treu und Glauben i n der Arglisteinrede, i n der Lehre von der V e r w i r k u n g oder i n der Fülle der aus ihm entwickelten Verhaltenspflichten eine ungeahnte systemverändernde K r a f t entfaltet. W o r i n haben nun diese Systemwandlungen ihren Grund, i n welcher Hinsicht ist also das System offen? Die A n t w o r t läßt sich nur geben, wenn man die beiden Seiten des Systembegriffs, d. h. das wissenschaftliche und das objektive System 5 , k l a r auseinanderhält. I. Die Offenheit des „wissenschaftlichen Systems" als Unabgeschlossenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis Was zunächst das erstere, also das System der Lehrsätze der Jurisprudenz betrifft, so bedeutet Offenheit des Systems hier die Unabgeschlossenheit und Vorläufigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis. I n der Tat muß der Jurist wie jeder Wissenschaftler stets bereit sein, das bisher erarbeitete System i n Frage zu stellen und auf Grund besserer Einsicht zu erweitern oder zu verändern. Jedes wissenschaftliche System ist somit immer nur ein Systementwurf 5a, der lediglich den derzeitigen Stand des Wissens zum Ausdruck bringt und daher notwendig so lange nicht endgültig und „geschlossen" ist, als i n dem betreffenden Gebiet überhaupt noch eine sinnvolle wissenschaftliche Weiterarbeit und ein Fortschritt möglich ist. Aufgabe des Systems kann es dementsprechend nie sein, die Wissenschaft oder gar die Rechtsentwicklung auf einem bestimmten Stand zu fixieren, sondern immer nur, den Gesamtzusammenhang aller derzeitigen Erkenntnisse offenzulegen, ihre Abstimmung aufeinander zu gewährleisten und so insbesondere die Feststellung zu erleichtern, welche Rückwirkungen eine Veränderung (der Erkenntnis oder des Gegenstandes) i n einem bestimmten Punkt auf Grund des Gebots der inneren Konsequenz an anderen Stellen hat. 4 Vgl. dazu statt aller Wieacker, Das Sozialmodell der klassischen P r i v a t rechtsgesetzbücher u n d die E n t w i c k l u n g der modernen Gesellschaft, 1953, Das Bürgerliche Recht i m Wandel der Gesellschaftsordnungen, JT-Festschrift Bd. 2, 1960, S. 1 ff. u n d Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 1967, S. 514 ff., 543 ff.; F v.Hippel, Z u m A u f b a u u n d Sinnwandel unseres P r i v a t rechts, 1957. 5 Vgl. zu diesem Unterschied oben S. 13. 5a Vgl. auch Popper, L o g i k der Forschung, S. 223 ff.
I I . Die Offenheit des „objektiven Systems"
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Indessen w i r d wohl niemand behaupten wollen, das Phänomen der „Offenheit" des Systems sei i n der Jurisprudenz allein aus der Vorläufigkeit der wissenschaftlichen Erkenntnis zu erklären. Anzunehmen, daß die erwähnten Wandlungen des Systems ausschließlich auf Fortschritten i n der wissenschaftlichen Durchdringung des Rechtsstoffes beruhten, wäre vielmehr bare Utopie. Das aber führt folgerichtig zu dem Schluß, daß auch das objektive System, d. h. die Sinneinheit der Rechtsordnung selbst, Wandlungen unterliegen und demnach „offen" sein muß. I L D i e Offenheit des „objektiven Systems" als Wandelbarkeit der G r u n d w e r t u n g e n der Rechtsordnung
Dies ist n u n i n der Tat nicht zu bestreiten und ergibt sich ohne weiteres daraus, daß das positive Recht auch i n einer auf dem Kodifikationsgedanken aufbauenden Rechtsordnung anerkanntermaßen in verschiedener Hinsicht fortbildungsfähig ist. Davon aber können auch die tragenden Grundwertungen grundsätzlich keine Ausnahme machen, und so muß sich naturgemäß zugleich das System, das deren Einheit und Folgerichtigkeit verkörpert, wandeln. Es können also heute neue und andere Prinzipien Geltung haben und systemtragend sein als noch vor wenigen Jahrzehnten. Letztlich folgt dies daraus, daß das System als die Sinneinheit einer konkreten Rechtsordnung an deren Seinsweise teilhat, d. h. daß es ebenso wie diese nicht statisch, sondern dynamisch ist, also die Struktur der Geschichtlichkeit aufweist 6 . Man sollte diese Tatsache nicht dadurch verschleiern, daß man statt von einem sich wandelnden und daher offenen System von einer Aufeinanderfolge verschiedener statischer und daher geschlossener Systeme ausgeht. Zwar könnte man theoretisch immer dann, wenn ein neues systemtragendes Prinzip Geltung erlangt, auch die Entstehung eines neuen Systems, das das bisherige ablöst, annehmen, doch würde man damit dem hier in Frage stehenden Phänomen nicht gerecht. Denn diese Veränderung des Rechts vollzieht sich nicht in scharfen Einschnitten, sondern erfolgt i n einer allmählichen und kontinuierlichen Entwicklung, und das gilt selbst dann, wenn sie nicht auf einer richterlichen Rechtsfortbildung, sondern auf dem Eingreifen des Gesetzgebers beruht: dadurch, daß dieser beispielsweise immer mehr Tatbestände der Gefährdungshaftung geschaffen und so ein neues Rechtsprinzip i n den Rang eines systemtragenden Elementes erhoben hat, ist die 6 Z u r Geschichtlichkeit des Rechts vgl. z.B. G. Husserl, Recht u n d Zeit, 1955; A r t h u r Kaufmann, Naturrecht u n d Geschichtlichkeit, 1957, u n d Das
Schuldprinzip,
1961, S. 86 ff.;
Larenz, Methodenlehre, S. 189 ff.; Henkel,
E i n f ü h r u n g i n die Rechtsphilosophie, 1964, S. 36 ff.
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Die Offenheit des Systems
Identität unseres Privatrechtssystems nicht aufgehoben worden, sondern dieses hat sich lediglich gewandelt, — nicht anders, als auch sonst durch Veränderungen i n der Zeit die Identität einer Individualität, wenn dieser Vergleich gestattet ist 7 , nicht beseitigt wird. Daß der Gesetzgeber mitunter allerdings auch ein gänzlich neues System an die Stelle des alten setzen kann, soll damit selbstverständlich nicht bestritten werden, doch ist das nicht das Problem, um das es hier geht. I I I . D i e Bedeutung der Offenheit des Systems für die Möglichkeiten von Systemdenken und Systembildung i n der Jurisprudenz
Z u der Offenheit als Unabgeschlossenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis kommt somit die Offenheit als Wandlungsfähigkeit der Rechtsordnung selbst. Beide Formen der Offenheit sind dem j u r i s t i schen System wesenseigentümlich, und nichts wäre verfehlter, als etwa die Offenheit des Systems als Einwand gegen die Bedeutung der Systembildung i n der Jurisprudenz anzuführen oder gar ein offenes System als einen Widerspruch i n sich zu bezeichnen. Die Offenheit des wissenschaftlichen Systems folgt vielmehr aus den Grundbedingungen wissenschaftlichen Arbeitens überhaupt, das stets nur vorläufige Entwürfe hervorbringen kann, solange i n dem fraglichen Bereich noch ein Fortschritt möglich, also wissenschaftliche Arbeit sinnv o l l ist, und diese Offenheit teilt das juristische System daher m i t den Systemen aller anderen Disziplinen 8 . Die Offenheit des objektiven Systems aber ergibt sich aus dem Wesen des Gegenstandes der Jurisprudenz, nämlich aus dem Wesen des positiven Hechts als einer i m Prozeß der Geschichte stehenden und sich daher wandelnden Erscheinung. Diese Form der Offenheit braucht nicht unbedingt auch auf alle anderen Wissenschaften zuzutreffen 9 , da deren Gegenstand möglicherweise unveränderlich ist, ja, es mag hierin sogar geradezu ein Spezifikum der Jurisprudenz liegen; doch rechtfertigt das i n keiner 7 Vgl. dazu z. B. Henkel, a.a.O., S. 40, der der Rechtsordnung ausdrücklich „eigene I n d i v i d u a l i t ä t " zuspricht. 8 Der Gedanke der Offenheit des System ist der neueren Wissenschaftstheorie denn auch durchaus geläufig, vgl. z. B. Rickert f System der Philosophie I, 1921, S. 350; Plessner , Z u r Soziologie der modernen Forschung u n d ihrer Organisation i n der deutschen Universität, i n : Versuche zu einer Soziologie des Wissens, herausgegeben von M a x Scheler, 1924, S. 407 ff. (413); Jaspers (und Rossmann), Die Idee der Universität, für die gegenwärtige Situation entworfen, 1961, S. 44; Frey er, Die Wissenschaften des 20. J a h r hunderts und die Idee des Humanismus, M e r k u r 156 (1961), S. 101 ff. (113); Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, Idee u n d Gestalt der deutschen Universität u n d ihrer Reformen, 1963, S. 287 f. 9 Vgl. z. B. hinsichtlich der Physik i n diesem Zusammenhang C. F. von Weizsäcker, Abschluß u n d Vollendung der Physik, abgedruckt i n : Süddeutsche Zeitung vom 25.10.1966, Nr. 255.
I V . Die Voraussetzungen von Systemwandlungen
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Weise, die Tragfähigkeit des Systemgedankens für die Rechtswissenschaft in Zweifel zu ziehen: den Besonderheiten unseres Gegenstandes müssen die Besonderheiten unseres Systembegriffs entsprechen, und ein i n ständiger Veränderung befindliches System (im objektiven Sinne) ist ebenso denkmöglich wie eine sich dauernd wandelnde Sinneinheit 1 0 . Allerdings ergibt sich daraus, daß die juristische Systembildung — möglicherweise i m Gegensatz zu der anderer Wissenschaften — niemals an ein Ende gelangen kann, sondern wesensmäßig ein nicht zu vollendender Prozeß ist 1 1 , und darin liegt auch eine gewisse praktische Bedeutung der Einsicht, daß das juristische System offen ist. Alles i n allem aber stellt diese eher eine Selbstverständlichkeit dar, der keineswegs so grundlegende Bedeutung zukommt, wie es i n der modernen Systemdiskussion mitunter den Anschein hat; insbesondere ist die Offenheit des Systems ohne jede Bedeutung für die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung: diese ist nicht zulässig, weil jenes offen ist, sondern jenes ist offen, weil diese — aus außerhalb der Systemproblematik liegenden Gründen — zulässig ist. I V . D i e Voraussetzungen von Systemwandlungen und das Verhältnis zwischen Wandlungen des objektiven und Wandlungen des wissenschaftlichen Systems
Nun ist freilich der Fragenkreis der Offenheit des Systems mit der bloßen Nebeneinanderstellung der Unabgeschlossenheit des wissenschaftlichen und der Wandlungsfähigkeit des objektiven Systems durchaus nicht erschöpft, so richtig diese Trennung i m Grundsatz auch ist. Vielmehr ist das praktisch höchst bedeutsame Problem, unter welchen Voraussetzungen Veränderungen in einem der beiden Systeme 10 Die Frage findet i m übrigen ihre Parallele i n der Auseinandersetzung u m den Wissenschaftscharakter der Jurisprudenz, insofern dieser m i t der Begründung geleugnet w i r d , der Jurist befasse sich m i t einem „vergänglichen" Gegenstand. Letztlich dürfte es sich insoweit i n beiden Fällen u m eine wenig bedeutsame Definitionsfrage handeln. 11 Solange eine Rechtsordnung i n Geltung ist, wandelt sie sich, u n d sobald sie außer K r a f t getreten ist, ist sie nicht mehr Gegenstand der Rechtsdogmatik als der Wissenschaft v o m geltenden Recht, sondern Gegenstand der Rechtsgeschichte. Die Arbeitsweise des Historikers aber ist entgegen der Ansicht Gadamers (Wahrheit u n d Methode, 2. Aufl. 1965, S. 307 ff.) nicht dieselbe wie die des Dogmatikers, da i h m gerade nicht die f ü r den Dogmatiker so wesentliche Anwendung des Rechts auf einen aktuellen F a l l u n d schon gar nicht seine Fortbildung obliegt; daß Gadamer dies verkennt, beruht vor allem auf der Mehrdeutigkeit seines Begriffs der „ A p p l i k a t i o n " , vgl. Wagner, AcP 165, S. 535 f., der Gadamer m i t Recht i n diesem Zusammenhang eine Begriffs vertauschung v o r w i r f t ; gegen Gadamer ferner überzeugend Betti, Die Hermeneutik als allgemeine Methodik der Geisteswissenschaften, 1962, S. 44 ff. und Wieacker, Notizen zur rechtshistorischen Hermeneutik, 1962, S. 21 (vgl. auch S. 8 ff., 19 f.).
5 Canaris
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Die Offenheit des Systems
zulässig sind, bisher ebenso ungeklärt geblieben w i e die eng damit zusammenhängende Frage, in welchem Verhältnis eigentlich die beiden Systeme (bzw. die beiden Seiten des Systems) zueinander stehen und welchen Einfluß dementsprechend Veränderungen innerhalb des einen auf das andere haben. A u f den ersten Blick mag es nun allerdings scheinen, als sei die A n t w o r t nicht schwer zu geben: das wissenschaftliche System ist zu verändern, wenn entweder neue und richtigere Erkenntnisse des geltenden Rechts gewonnen worden sind, oder wenn sich das objektive System, dem das wissenschaftliche j a zu entsprechen hat, gewandelt hat; das objektive System aber ändert sich, wenn die das geltende Recht tragenden Grundwertungen sich wandeln. Dementsprechend steht das wissenschaftliche System zu dem objektiven i m Verhältnis strenger Abhängigkeit und ist stets m i t diesem zu ändern, während das objektive System seinerseits durch Wandlungen innerhalb des wissenschaftlichen nicht beeinflußt wird. Indessen erweist sich bei näherer Prüfung, daß die Problematik nicht ganz so einfach ist, führt sie doch unmittelbar i n zwei höchst komplexe Vorfragen: i n das Geltungs- und Rechtsquellenproblem 12 sowie, damit i n einem gewissen Zusammenhang, i n das Problem des Verhältnisses zwischen dem „objektiv" geltenden Recht und seiner Erkenntnis und Anwendung; denn die Frage nach den Voraussetzungen und Faktoren einer Veränderung des objektiven Systems ist identisch m i t der nach der Zulässigkeit einer Änderung des geltenden Rechts überhaupt, also m i t dem Rechtsquellenproblem, und die Frage nach dem Verhältnis von objektivem und wissenschaftlichem System ist nur ein Unterproblem der allgemeinen Frage nach dem Verhältnis von „ o b j e k t i v " geltendem Recht und seiner Erkenntnis. Da beides somit keine spezifischen Fragen der Systemproblematik sind, versteht es sich von selbst, daß sie i m Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht umfassend diskutiert werden können; vielmehr soll i m folgenden nur kurz der eigene Standpunkt skizziert werden 1 3 , soweit das erforderlich ist, u m die Problematik der Offenheit des Systems i n vollem Umfang sichtbar zu machen. 13 Geltung u n d Rechtsquelle sind hier selbstverständlich i m normativen u n d nicht i m faktischen Sinne zu verstehen, d.h. als Aussage darüber, welche Rechtssätze richtigerweise angewandt werden sollten, u n d nicht als Feststellung dessen, welche Rechtssätze üblicherweise de facto angewandt werden. Diese Unterscheidung ist — der Sache nach, die Terminologie wechselt — m. E. grundlegend für die Rechtsquellen- u n d Geltungslehre u n d sollte trotz immer wieder aufkommender K r i t i k nicht aufgegeben oder auch n u r verwischt werden (vgl. aber auch unten Fn. 36). — Z u den v e r schiedenen A r t e n des Geltungsbegriffes vgl. statt aller Henkel, Einführung i n die Rechtsphilosophie, S. 438 ff. m. Nachw. 13 Der Verzicht auf eine eingehende Auseinandersetzung m i t abweichenden Ansichten w i r d dabei bewußt ebenso i n K a u f genommen w i e gewisse u n vermeidliche Problemverkürzungen.
IV. Die Voraussetzungen v o n Systemwandlungen
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1. Wandlungen des „objektiven" Systems
Wenden w i r uns zunächst den Wandlungen des objektiven Systems zu. I n Ubereinstimmung m i t der traditionellen Hechtsquellenlehre ist hier davon auszugehen, daß i n erster Linie der Gesetzgeber zu einer Änderung berufen ist. Als Beispiel sei noch einmal an die allmähliche Erweiterung der Gefährdungshaftung und die dadurch bewirkte Veränderung unseres Privatrechtssystems erinnert. Es braucht jedoch durchaus nicht immer ein solch unmittelbarer Eingriff vorzuliegen. Vielmehr können sich Systemveränderungen auch aus gesetzgeberischen Akten ergeben, die primär ganz andere Rechtsteile betreffen, und hier macht sich das Postulat der Wertungseinheit und damit die K r a f t des Systemgedankens sogar i n ganz besonderem Maße bemerkbar. Eines der anschaulichsten Beispiele, das i n diesen Zusammenhang gehört, ist die Lehre von der D r i t t w i r k u n g der Grundrechte, die nur vor dem Hintergrund des Gedankens der Einheit der Rechtsordnung voll verständlich w i r d und die, ob nun i n der Form der unmittelbaren oder der mittelbaren Drittwirkung, unser Privatrechtssystem wesentlich verändert hat; das Stichwort des allgemeinen Persönlichkeitsrechts macht das hinreichend deutlich. — Weiterhin kommt zweifellos dem Gewohnheitsrecht systemverändernde Kraft zu. So ist das System unseres Sachenrechts durch die Anerkennung der Sicherungsübereignung, die trotz aller Rechtfertigungsversuche wohl doch als Rechtsfortbildung contra legem angesehen werden muß und daher nur auf die derogierende Kraft des Gewohnheitsrechts gestützt werden kann, geändert worden. Sind Gesetzgebung und Gewohnheitsrecht nun aber die einzigen Faktoren, die für die Wandlungen des objektiven Systems von Bedeutung sind? Die traditionelle Rechtsquellenlehre müßte das folgerichtig bejahen, und es erhebt sich daher die Frage, wie dann alle jene Systemwandlungen zu erklären sind, die auf richterliche Rechtsfortbildung zurückgehen. Wie steht es also i n dieser Hinsicht z. B. m i t der culpa i n contrahendo und der Rechtsscheinhaftung, der positiven Forderungsverletzung und dem Vertrag m i t Schutzwirkung für Dritte, der Arglisteinrede und der Verwirkung, dem Kontrahierungszwang und der Lehre von der Geschäftsgrundlage, der Entwicklung der Fürsorge- und der Treuepflicht i m Arbeits- und Gesellschaftsrecht oder der Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft und vom fehlerhaften Arbeitsverhältnis? Diese Institute sind durchweg unabhängig von einem Eingreifen des Gesetzgebers entstanden, und ihre Geltung nur auf das Gewohnheitsrecht zu stützen, ist schon allein deshalb sehr unbefriedigend, w e i l dessen Voraussetzungen — mögen sie heute auch vorliegen — i m Zeitpunkt ihrer erstmaligen Anerkennung keinesfalls 5·
68
Die Offenheit des Systems
schon gegeben waren, so daß man sie als ursprünglich nicht „geltend" und erst nachträglich durch derogierendes Gewohnheitsrecht legitimiert ansehen müßte. Es bliebe daher nur ein Ausweg: man müßte i n diesen Fällen jede Änderung des objektiven Systems leugnen und behaupten, die Entwicklung der genannten Institute habe lediglich zu einer Wandlung des wissenschaftlichen Systems geführt. Da das objektive System nach der hier vertretenen Ansicht aus Grundwertungen oder allgemeinen Rechtsprinzipien besteht, würde das voraussetzen, daß jene neuen Rechtsfiguren auf Wertungen beruhen, die unserem Privatrecht von vornherein immanent waren, und so mündet die Problematik i n die Frage nach dem Geltungsgrund allgemeiner Rechtsprinzipien 14 . Als solcher ist zunächst das gesetzte Recht zu nennen, aus dem sich häufig allgemeine Rechtsprinzipien i m Wege der „Rechtsanalogie", richtiger der Induktion, gewinnen lassen. So sind denn i n der Tat einige der genannten Neubildungen ohne weiteres aus den Wertungen des Gesetzes herzuleiten. Das t r i f f t z. B. auf die Rechtsscheinhaftung zu, da deren weitverzweigtes Gebäude sich nahezu 15 vollständig aus den verhältnismäßig geringfügigen Ansatzpunkten der §§ 171, 172, 405, 794 BGB auf Grund von Einzel- und Gesamtanalogien entwickeln läßt 1 6 ; es gilt weiterhin ohne Einschränkung für die positive Forderungsverletzung und wohl auch für die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft 17 . I n derartigen Fällen bedeutet die Anerkennung eines neuen Instituts folgerichtig i n der Tat keine Änderung des objektiven, sondern nur eine Änderung des wissenschaftlichen Systems, eben w e i l die maßgeblichen Wertungen ja von vornherein i m Gesetz enthalten waren und lediglich nicht in ihrer vollen Tragweite bzw. überhaupt nicht erkannt wurden. 14 Diese ist verhältnismäßig wenig geklärt; einen Versuch, i n dieser Richtung etwas weiterzukommen, habe ich a.a.O., S. 95 ff. (97 ff., 106 ff., 118 ff.) gemacht, worauf die folgenden Ausführungen aufbauen. 15 Eine Ausnahme gilt w o h l n u r f ü r die sogenannte „Anscheinsvollmacht", die denn aber auch wegen des Wertungswiderspruchs zur gesetzlichen Regelung des Fehlens des Erklärungsbewußtseins höchst problematisch ist; vgl. näher unten S. 98. 16 Vgl. Canaris, Die Vertrauenshaftung i m deutschen Privatrecht, 1971, S. 106 f., 107 ff. und 133 ff. 17 Hinsichtlich der positiven Forderungsverletzung folgt das ohne weiteres aus der Analogie zu den gesetzlich geregelten Fällen der Leistungsstörungen. Hinsichtlich der fehlerhaften Gesellschaft ergibt es sich f ü r das Außenverhältnis aus dem unserer Rechtsordnung immanenten (vgl. soeben i m Text) Rechtsscheinprinzip u n d f ü r das Innenverhältnis aus der Tatsache, daß die §§ 812 ff. B G B typologisch nicht auf die Gesellschaft passen, daher auf G r u n d einer teleologischen Reduktion außer Anwendung bleiben u n d durch die analoge Anwendung der Liquidationsvorschriften als sachgerechterer Ausgleichsregelung zu ersetzen sind; zu diesem Verständnis der P r o b l e m a t i k der fehlerhaften Gesellschaft vgl. harenz, Methodenlehre, S. 298 f. u n d Schuldrecht, B.T. §56 V I I .
I V . Die Voraussetzungen v o n Systemwandlungen
69
Nicht alle genannten Institute lassen sich indessen in dieser Weise auf die Wertungen des Gesetzes stützen; manche von ihnen werden vielmehr durch die immanente Teleologie des Gesetzes nicht „verlangt", sondern allenfalls „angeregt" 1 8 , und bei anderen kann man nicht einmal das sagen. Es gibt daher, wie Wieacker es treffend formuliert hat, eine „außergesetzliche Rechtsordnung" 19 , und auch von dieser können Systemwandlungen ausgehen. Beispiele hierfür bilden die meisten der oben erwähnten Neubildungen, für die sich i. d. R. allenfalls ein positiv-rechtlicher „Aufhänger" finden (etwa für die culpa i n contrahendo § 307 BGB und verwandte Vorschriften oder für die Arglisteinrede und die Verwirkung § 242 BGB), nicht aber eine w i r k liche Legitimation aus dem Gesetz geben läßt. Kann man nun auch in solchen Fällen sagen, die zugrunde liegenden Wertungen seien unserer Rechtsordnung an sich schon immanent und würden lediglich „aufgefunden", handelt es sich also auch hier n u r um Änderungen des wissenschaftlichen, nicht aber des objektiven Systems? Die A n t wort läßt sich nur geben, wenn man fragt, warum denn jene Wertungen, obwohl nicht i m Gesetz enthalten, doch Bestandteil des Rechts sein sollen, wenn man also wieder die Frage nach ihrem Geltungsgrund stellt. Da als solcher Gesetz und Gewohnheitsrecht entsprechend der Besonderheit der Problemstellung von vornherein ausscheiden, ergibt sich hier zwangsläufig die Notwendigkeit einer Weiterbildung der traditionellen Rechtsquellenlehre 20 , und diese kann i m wesentlichen nur i n zwei Richtungen erfolgen: entweder man entschließt sich, das Richterrecht in den Rang einer eigenständigen Rechtsquelle 21 neben Gesetz und Gewohnheitsrecht zu erheben, oder man muß „außerpositive" Geltungskriterien anerkennen, als welche sich vor allem die .,Rechtsidee" und die „Natur der Sache" anbieten. Die erste Lösung ist nun aber mit der Stellung des Richters in unserer Rechtsordnung unvereinbar: der von einem Gericht einer Entscheidung zugrunde gelegte Rechtssatz gilt nicht deshalb, weil er vom Richter ausgesprochen wird, sondern deshalb, weil er überzeugend begründet, d. h. aus außerhalb des Richterspruches liegenden Geltungskriterien hinreichend abgeleitet ist. Diese Ansicht entspricht nicht nur 18
So die treffende Formulierung von Larenz, Nikisch-Festschrift, S. 276. Vgl. den U n t e r t i t e l seiner Schrift Gesetz und Richterkunst, 1958: „ Z u m Problem der außergesetzlichen Rechtsordnung". 19
20
Diese Folgerung zieht auch Wieacker, a.a.O., ausdrücklich aus der E n t deckung der „außergesetzlichen Rechtsordnung", vgl. S. 15 f. 21 I m normativen Sinne; daß der Richterspruch „Quelle" des faktisch geltenden, d. h. tatsächlich i n A n w e n d u n g befindlichen Rechts ist, ist nicht zu bestreiten (zur Unterscheidung vgl. oben Fn. 12).
70
Die Offenheit des Systems
der durchaus h. L. 2 2 , sondern deckt sich auch m i t dem Selbstverständnis der Rechtsprechung wie der Lehre: erstere geht bei ihren Entscheidungen auch dann, wenn sie bewußt das Recht „fortbildet", durchweg davon aus, daß die zugrunde gelegten Rechtssätze nicht erst durch den Richterspruch Geltung 2 1 erlangen, sondern diese bereits vorher besitzen und also lediglich „aufgefunden" werden; und letztere t r i t t , wenn sie ein neues, systemveränderndes Rechtsinstitut propagiert, ohne weiteres m i t dem Anspruch auf, die von i h r vertretene Lösung sei geltendes Recht und stelle nicht lediglich einen unverbindlichen Vorschlag an die Rechtsprechung dar, deren Übernahme durch diese eine Frage bloßer Zweckmäßigkeit oder gar freien Beliebens wäre. Es bleibt daher i n der Tat nur der zweite Weg, und dieser dürfte durchaus gàngbar sein, mag die Problematik einstweilen auch noch wenig durchdacht sein: allgemeine Rechtsprinzipien können ihren Geltungsgrund außer i m Gesetz auch noch i n der Rechtsidee, deren historische Konkretisierungen sie weitgehend darstellen, sowie i n der Natur der Sache haben 2 3 , und diese beiden Kriterien sind daher als — gegenüber Gesetz und Gewohnheitsrecht subsidiäre 24 — Rechtsquellen anzuerkennen; aus ihnen lassen sich i n einem freilich sehr komplizierten Prozeß der Konkretisierung durchaus materiale, inhaltlich k l a r umrissene Rechtssätze von hoher Uberzeugungskraft entwickeln 2 5 . Was bedeutet das nun für die eingangs gestellte Frage? Es bedeutet zunächst, daß außer Gesetz und Gewohnheitsrecht auch jene allgemeinen Rechtsprinzipien, die sich als Ausflüsse der Rechtsidee und der Natur der Sache darstellen 2 6 , zu Wandlungen des objektiven 22 Aus dem Schrifttum zum Richterrecht vgl. aus jüngerer Zeit v o r allem Hirsch, JR 1966, S. 334 ff. m i t eingehenden Nachw.; Esser, Festschrift f ü r F . V . H i p p e l , 1967, S. 95 ff.; H. P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht u n d Verfassungsrecht, 1969. 23 Es sei noch einmal betont, daß hier n u r eine Skizzierung des eigenen Standpunktes, der an anderer Stelle (vgl. die Verweisungen i n Fn. 14 u n d 25) näher dargelegt u n d begründet worden ist, beabsichtigt ist u n d daß daher auf eine eingehende Diskussion bewußt verzichtet w i r d . 24 Das bedeutet, daß die aus ihnen entwickelten Rechtsgedanken n u r insoweit Geltung beanspruchen können, als ihnen nicht die Wertungen des Gesetzes u n d des Gewohnheitsrechts entgegenstehen, vgl. näher Canaris, a.a.O., S. 95 f. 25 Hinsichtlich der Einzelheiten, insbesondere auch hinsichtlich der Beispiele muß ich mich wieder auf eine Verweisung auf meine Ausführungen, a.a.O., S. 93 ff. u n d S. 160 ff. (vgl. auch die Zusammenfassung S. 170 f.) beschränken. 26 Die dem Gesetz immanenten Prinzipien sind zwar, w i e oben dargelegt, grundsätzlich keine Einbruchstellen für Wandlungen des objektiven Systems, doch gibt es natürlich Übergänge; vor allem ist mitunter die Allgemeinheit eines i m Gesetz enthaltenen Prinzips n u r durch den zusätzlichen Rückgriff auf K r i t e r i e n wie die Rechtsidee oder die Natur der Sache überzeugend zu begründen, u n d mindestens i n diesen Fällen unterliegen auch sie einem gewissen Wandel ; vgl. i m übrigen auch unten Fn. 38.
IV. Die Voraussetzungen von Systemwandlungen
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Systems führen können. Denn man darf sich diese Kriterien nicht ahistorisch und gleichsam statisch vorstellen 2 7 ; vielmehr gewinnen die auf die Rechtsidee rückführbaren Prinzipien ihre konkrete Gestalt i n aller Regel nur durch den Bezug auf eine bestimmte historische Situation und in der Vermittlung durch das jeweilige „allgemeine Rechtsbewußtsein" 28 , und für die „Natur der Sache" gilt nichts anderes 29 . Durch die Wandelbarkeit dieser „Bezugspunkte" aber erhalten folgerichtig auch jene Kriterien einen relativen und das heißt veränderlichen Charakter. So mag man etwa das „Vertrauensprinzip", das wohl keine Rechtsordnung gänzlich unberücksichtigt lassen kann 3 0 , als Emanation der Rechtsidee ansehen, und doch ist gerade dieses Prinzip ein Musterbeispiel inhaltlicher Wandlungsfähigkeit: zu klaren Lösungen rechtlicher Probleme läßt es sich nicht a priori verfestigen, sondern immer nur i m Hinblick auf eine bestimmte geschichtliche Situation, die außer durch das gesetzte Recht wesentlich durch den Stand des „allgemeinen Rechtsbewußtseins" bestimmt wird, — und so w i r d man z. B. durchaus sagen können, daß etwa die Lehre von der culpa i n contrahendo oder von der Verwirkung nicht zu jeder Zeit aus dem Vertrauensprinzip zu begründen waren, also nicht notwendig von Anfang an „galten", sondern erst nach einer bestimmten Wandlung des allgemeinen Rechtsbewußtseins, die zu einer stärkeren Betonung rechtsethischer Werte führte, Anerkennung als legitime Rechtsfortbildungen beanspruchen konnten. — Ähnliches läßt sich für Beispiele einer Argumentation aus der Natur der Sache dartun. So sind z. B. die Auffassungen über die „Natur" des Arbeitsverhältnisses starken Veränderungen unterworfen, und dementsprechend dürften etwa die aus jener abzuleitende 31 Fürsorgepflicht und vollends viele heute aus dieser gezogene Einzelfolgerungen nicht notwendig von Anfang an (objektiv und nur noch unerkannt) Bestandteil unseres Privatrechts gewesen sein, sondern erst i n einem allmählichen Prozeß Geltung erlangt haben 32 . — Dasselbe t r i f f t schließlich im wesentlichen auch 27 Vgl. dazu vor allem Esser, Grundsatz und N o r m i n der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, passim; Larenz, Nikisch-Festschrift, S. 299 ff., insbesondere S. 301 u n d 305 sowie Methodenlehre, S. 314 ff. 28 Der Begriff w i r d hier i m Sinne von Larenz, Methodenlehre, S. 192 f. verstanden. 29 Diese ist von Radbruch geradezu als G r u n d für die „Mannigfaltigkeit historischer und nationaler Rechtsbildungen" bezeichnet worden, vgl. Festschrift für R. Laun, 1948, S. 158. — Aus dem umfangreichen Schrifttum zur N a t u r der Sache vgl. aus den letzten Jahren vor allem Schambeck, Der Begriff der Natur der Sache, 1964, m i t ausführlichen Nachw.; A r t h u r Kaufmann, Analogie und N a t u r der Sache, 1965; Dreier, Z u m Begriff der N a t u r der Sache, 1965. 30 Jedenfalls, nachdem es einmal ins Bewußtsein getreten ist. 31 So m i t Recht Larenz, Nikisch-Festschrift, S. 284 f. 32 Diesen beeinflussen neben dem Wandel des allgemeinen Rechtsbewußt-
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Die Offenheit des Systems
für die „wertausfüllungsbediirftigeri" Generalklauseln wie die Verweisungen auf die guten Sitten oder auf Treu und Glauben zu, i n denen das Gesetz selbst dem Einbruch außergesetzlicher und notwendigerweise wandelbarer Wertungen Raum gibt: auch darin liegt ein Ansatzpunkt für eine Änderung des objektiven Systems, die hier ganz ähnlich verläuft wie bei der Konkretisierung allgemeiner Rechtsprinzipien (auf die die Generalklauseln ja häufig geradezu verweisen). 2. Wandlungen des „wissenschaftlichen" Systems
W i r d der Wechsel des Inhalts derartiger nicht aus dem Gesetz zu entnehmender Rechtsprinzipien somit stark durch die Wandlungen des „allgemeinen Rechtsbewußtseins" bestimmt, so schließt das andererseits doch nicht aus, daß sie grundsätzlich nicht „gesetzt" oder „postuliert", sondern „entdeckt" oder „gefunden" werden 3 3 . Das aber bedeutet für das Verhältnis von objektivem und wissenschaftlichem System, daß auch hier die Wandlung des ersteren der Änderung des letzteren vorauszugehen hat 3 4 ; denn auch i n derartigen Fällen sprechen Rechtsprechung und Lehre, jedenfalls der Idee nach, nur aus, was „an sich" schon gilt. Freilich w i r d hier i n ganz besonderem Maße deutlich, daß man das Verhältnis zwischen dem objektiven Recht und seiner Erkenntnis und Anwendung — zumindest dort, wo es u m wertungsmäßige Konkretisierung und nicht um bloße Subsumtion geht — nur als dialektisches verstehen kann 3 5 : zwar ist bei der Argumentation aus einem allgemeinen Rechtsprinzip dessen Geltung stets bereits vorausgesetzt, doch w i r d dieses andererseits auch erst i m Prozeß seiner Anwendung näher konkretisiert 3 6 , — wie denn z. B. die Anerkennung seins — u n d von diesem z. T. wiederum hervorgerufen w i e auch auf es zurückwirkend — natürlich noch andere Faktoren wie etwa das Fortschreiten des gesetzgeberischen Arbeitnehmerschutzes u. dgl. 33 So m i t Recht Latenz, Methodenlehre, S. 315. 34 Anders liegt es natürlich hinsichtlich des faktisch geltenden Rechts, des „ l a w i n action", bei dem regelmäßig die neue Einsicht m i t der gewandelten Anwendung zusammenfällt oder dieser sogar vorausgeht (zum Unterschied von normativer u n d faktischer Geltung vgl. oben Fn. 12). 3 « Grundlegend Latenz, Methodenlehre, S. 189 ff. (193 f.). 36 I n dieser D i a l e k t i k ist auch der Gegensatz zwischen dem normativ geltenden u n d dem faktisch geltenden Recht (vgl. oben Fn. 12) teilweise überwunden, indem die beiden Geltungsformen sich i m Prozeß der Rechtsanwendung wechselseitig beeinflussen. I m übrigen w i r d ihre Verbindung v o r allem durch das Gewohnheitsrecht gewährleistet: eine Regelung, die zwar i n faktischer, nicht aber i n normativer Geltung steht, k a n n durch das Gewohnheitsrecht auch letztere erlangen, u n d umgekehrt k a n n eine Regelung, die zwar normative Geltung besitzt, aber mangels A n w e n d u n g der faktischen Geltung entbehrt, durch gewohnheitsrechtliche desuetudo auch die normative Geltung verlieren, so daß das Gewohnheitsrecht auf die Dauer meist ein Auseinanderfallen der beiden Geltungsarten verhindern wird.
IV. Die Voraussetzungen von Systemwandlungen
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der Lehre von der Verwirkung oder ähnlicher neuer Institute eine Wandlung des allgemeinen Rechtsbewußtseins nicht nur voraussetzt, sondern auch selbst zum Ausdruck bringt und vorantreibt 3 7 . Zusammenfassend ist somit folgendes zu sagen: Die Wandlungen des objektiven Systems gehen i m wesentlichen 88 zurück auf Änderungen der Gesetzgebung, auf gewohnheitsrechtliche Neubildungen, auf die Konkretisierung wert ausfüllungsbedürftiger Normen und auf den Durchbruch außergesetzlicher allgemeiner Rechtsprinzipien, die ihren Geltungsgrund i n der Rechtsidee und i n der Natur der Sache finden. Die Änderungen des wissenschaftlichen Systems ergeben sich zum einen aus den Fortschritten der Einsicht i n die Grundwertungen des geltenden Rechts und stellen zum anderen den Nachvollzug von Wandlungen des objektiven Systems dar. Die Änderungen des ersteren folgen daher den Wandlungen des letzteren grundsätzlich nach, doch sind auch das objektive und das wissenschaftliche System i n der allgemeinen Dialektik zwischen dem objektiv geltenden Recht und seiner Anwendung verbunden.
37 Aus dieser D i a l e k t i k dürfte es sich w o h l v o r allem erklären, daß allgemeine Rechtsprinzipien häufig erst verhältnismäßig lange nach ihrer erstmaligen „ A n w e n d u n g " zutreffend formuliert werden und besonders oft viele Jahre hinter Scheinbegründungen verborgen bleiben. 38 Auch durch die gewöhnliche Auslegung können sich natürlich m i t unter Systemwandlungen ergeben, w e i l u n d soweit auch diese durch die V e r m i t t l u n g des „allgemeinen Rechtsbewußtseins" hindurchgeht u n d daher Veränderungen unterliegt.
§ 4 Die Beweglichkeit des Systems M i t der „Offenheit" des Systems w i r d häufig seine „Beweglichkeit" identifiziert. Ein derartiger Sprachgebrauch wäre an sich durchaus möglich, da auch das Wort „Beweglichkeit" die Vorläufigkeit und Veränderlichkeit des Systems anschaulich zum Ausdruck bringt 1 , doch empfiehlt er sich nicht; denn der Terminus ist durch Wilbur g i n einem anderen Sinne festgelegt 2 , und man sollte ihn daher zur Vermeidung von Mißverständnissen auch nur so gebrauchen, wie er bei Wilburg gemeint ist. I m folgenden w i r d „Beweglichkeit" deshalb von „Offenheit" unterschieden und von einem „beweglichen System" nur dort gesprochen, wo die für Wilburgs Systembegriff wesentlichen Merkmale gegeben sind. I . Die M e r k m a l e des „beweglichen Systems" i. S. Wilburgs
Welche dies sind, w i r d am besten an einem der Beispiele klar, an denen Wilburg seine Konzeption entwickelt hat: an seiner Theorie des Schadensersatzrechts. Wilburg lehnt es ab, nach einem einheitlichen Rechtsprinzip, das alle Fragen der Schadensersatzhaftung löst, zu suchen, und setzt an dessen Stelle eine Mehrzahl von Gesichtspunkten, die er als „Elemente" oder als „bewegende Kräfte" bezeichnet; diese sind: „1. Ein für das Schadensereignis kausaler Mangel, der auf Seiten des Haftenden liegt. Dieser Mangel hat verschiedene Schwere, je nachdem ob er vom Haftenden oder von dessen Gehilfen verschuldet oder überhaupt ohne Verschulden, so z. B. ein unerkennbarer Materialfehler einer Maschine, entstanden ist. 2. Eine Gefährdung, die der Schädiger durch ein Unternehmen oder durch den Besitz einer Sache geschaffen hat und die zum E i n t r i t t des Schadens führte. 3. Die Nähe des Kausalzusammenhangs, der zwischen den haftungsbegründenden Ursachen und dem eingetretenen Schaden besteht. 4. Die soziale Abwägung der Vermögenslage des Beschädigten und des Beschädigers 3 ." Die Rechtsfolge ergibt sich nun — und das ist ι I n diesem Sinne braucht i h n z.B. Zippelius, N J W 1967, S. 2231, Sp. 2; w o h l auch Zimmerl, A u f b a u des Strafrechtssystems, 1930, V o r w o r t S. V ; vgl. ferner die Zitate unten Fn. 9. 2 Grundlegend: E n t w i c k l u n g eines beweglichen Systems i m Bürgerlichen Recht, Grazer Rektoratsrede 1950. 3 Vgl. a.a.O., S. 12 f. i m Anschluß an Die Elemente des Schadensrechts, 1941, insbesondere S. 26 ff. u n d 283 ff.; vgl. ferner Zusammenspiel der K r ä f t e i m Aufbau des Schuldrechts, AcP 163, S. 346.
I. Die Merkmale des „beweglichen Systems" i. S. Wilburgs
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das Entscheidende — „aus dem Zusammenwirken dieser Elemente je nach Zahl und Stärke" 4 und ist vom Richter „nach gelenktem Ermessen" festzulegen 5 . Die „Kräfte" sind also nicht „absolute, starre Größen, sondern es entscheidet die Gesamtwirkung ihres variablen Spiels" 6 , und es kann dabei u. U. auch ausreichen, wenn nur eines der Elemente vorliegt, sofern dieses „ i n besonderer Stärke" auftritt 7 . Charakteristisch für die Beweglichkeit des Systems ist demnach zum einen, daß Wilburg die Festlegung eines bestimmten Rangverhältnisses zwischen den „Elementen" ablehnt, diese also grundsätzlich auf dieselbe Stufe stellt, und zum anderen, daß sie keineswegs immer alle gegeben sein müssen, sondern einander ersetzen können. Grundsätzliche Ranggleichheit und wechselseitige Austauschbarkeit der maßgeblichen Prinzipien oder Gerechtigkeitskriterien — denn u m solche handelt es sich der Sache nach, wo Wilburg von „Elementen" oder „bewegenden Kräften" spricht 8 — bei gleichzeitigem Verzicht auf eine abschließende Tatbestandsbildung sind also die Wesensmerkmale des „beweglichen Systems". — Das hat, wie man unschwer sieht, mit der Offenheit des Systems so gut wie nichts zu tun 9 : die für diese charakteristische Veränderlichkeit der Wertungen und Prinzipien braucht bei einem beweglichen System nicht notwendig gegeben zu sein, da die maßgeblichen „Elemente" durchaus ein für allemal feststehen können, und umgekehrt hat die Offenheit des Systems keineswegs unbedingt die Ranggleichheit und die Austauschbarkeit seiner Prin4 Vgl. AcP 163, S. 347. Vgl. Entwicklung eines beweglichen Systems, S. 22. 6 Vgl. a.a.O., S. 13. 7 Vgl. a.a.O., S. 13. 8 Diese Terminologie dürfte wenig glücklich sein. Denn beide Ausdrücke erinnern sehr stark an naturwissenschaftliche Kategorien (chemische Elemente, physikalische K r ä f t e ! vgl. auch a.a.O., S. 17, w o von der „ W i r k u n g s energie" der Vertragstreue die Rede ist), u n d m i t diesen sind juristische Probleme nicht sachgerecht zu lösen, — was Wilburg übrigens keineswegs verkennt (vgl. z.B. seine K r i t i k an der „naturhistorischen" Methode Jherings, a.a.O., S. 4 f.). Besser wäre daher w o h l der Terminus „Bewertungsprinzipien" oder „Gerechtigkeitskriterien", w e i l dadurch das Gemeinte u n m i t t e l b a r beim Namen genannt würde u n d zugleich auch Wilburgs methodengeschichtliche Stellung deutlich zum Ausdruck käme: der Sache nach ist er den Vorstellungen der älteren lnteressenjurisprudenz u n d des „kausalen Rechtsdenkens", zu denen er eine gewisse Verwandtschaft konstatiert (vgl. a.a.O., S. 5) u n d die i n der Tat seine Terminologie beeinflußt haben mögen, w e i t überlegen u n d dürfte zu den frühesten u n d wegweisenden Vertretern der modernen „Wertungsjurisprudenz" (zu dieser vgl. Larenz , Methodenlehre, S. 123 ff.) zu rechnen sein. 9 Es ist daher nicht zutreffend, wenn des öfteren Wilburgs „bewegliches" System m i t einem offenen System einfach gleichgesetzt w i r d ; vgl. aber Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 187 f. (188); Wieacker , Juristentags-Festschrift, Bd. I I , 1960, S. 7; Larenz , JuS 65, S. 379, Sp. 2; Mayer-Maly, The I r i s h Jurist, vol. I I part 2, 1967, p. 375 m i t Fußn. 2. 5
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§ 4 Die Beweglichkeit des Systems
zipien und den Verzicht auf feste Tatbestandsbildung zur Folge; ein bewegliches System kann also offen oder geschlossen10, ein offenes System beweglich oder unbeweglich sein. I I . Bewegliches System und allgemeiner Systembegriff
Wilburg w i l l mit seiner Konzeption keineswegs den Gedanken eines Systems gänzlich aufgeben, sondern dieses nur anders — eben „beweglich" — gestalten; er hält daher auch unmißverständlich an dem Terminus „System" fest. Gleichwohl hat Viehweg i h n ohne weiteres unter die Vertreter topischen — und das heißt doch wohl: nichtsystematischen — Denkens eingereiht 11 , und es fragt sich i n der Tat, ob und inwiefern hier der Sache nach 12 wirklich noch von einem „System" die Rede sein kann oder ob nicht vielmehr ein „bewegliches" System einen Widerspruch i n sich darstellt. Charakteristisch für den Systembegriff sind nun, wie eingangs herausgestellt 13 , die Merkmale der Einheit und Ordnung. Das erstere ist bei Wilburg zweifellos erfüllt. Denn sein ganzes Denken ist, das muß gegenüber manchem Mißverständnis nachdrücklich betont werden, darauf gerichtet, einige wenige tragende Grundgedanken herauszuarbeiten, aus deren Zusammenspiel sich dann die Fülle der Einzelentscheidungen ergibt; das bewegliche System soll also durchaus die Einheit in der Vielheit sichtbar machen. Das kommt z. B. i n Wilburgs Forderung an den Gesetzgeber, durch eine „klare Führung der Ideen" die Flut unzusammenhängender Einzelnormen einzudämmen 14 , ebenso deutlich zum Ausdruck wie i n seiner Polemik gegen die Orientierung des Richters an bloßer B i l l i g k e i t 1 5 , der „die Grundsätzlichkeit" fehle 16 . Daß Wilburg sich weigert, alle Rechtsnormen auf einen einzigen Rechtsgedanken zurückzuführen, ist demgegenüber unerheblich, da ein System durchaus aus mehreren Grundprinzipien bestehen kann und i n aller Regel auch besteht. 10 Wilburg selbst dürfte sein bewegliches System zugleich als offenes meinen, da er ausdrücklich hervorhebt, es könnten auch „neue Gesichtspunkte und K r ä f t e " hinzutreten, vgl. a.a.O., S. 14. n Vgl. Topik u n d Jurisprudenz, S. 72 ff.; zustimmend Wieacker, P r i v a t rechtsgeschichte der Neuzeit, 2. A u f l . 1967, S. 597, Fn.48; vgl. dazu auch unten Fn. 28. Die Terminologie ist letztlich' natürlich nicht entscheidend, wenngleich Viehweg das i n i h r zum Ausdruck kommende Selbstverständnis Wilburgs nicht einfach m i t Stillschweigen hätte übergehen dürfen, vgl. auch Diederichsen, N J W 66, S. 699. ι» Vgl. oben § 11. « Vgl. a.a.O., S. 4. is Vgl. a.a.O., S.22. 16 Vgl. a.a.O., S. 6.
I I . Bewegliches System und allgemeiner Systembegriff
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M i t dem Merkmal der Einheit muß folgerichtig aber auch das der Ordnung bejaht werden, da es jene nicht ohne diese geben kann 1 7 , und so betont denn auch Wilburg immer wieder die Notwendigkeit einer „inneren Ordnung" oder eines „inneren Halts" des Rechts 18 . Dazu steht es durchaus nicht in Widerspruch, daß er die maßgeblichen Kriterien, wie gezeigt, grundsätzlich als wechselseitig austauschbar ansieht; denn es kann ja keineswegs jeder beliebige Gesichtspunkt jeden anderen ersetzen — das wäre i n der Tat nicht Ordnung, sondern Chaos —, sondern es kann immer nur ein Element aus einer bestimmten Zahl für eine konkrete Regelungsmaterie an die Stelle eines anderen treten, also z. B. für die Lösung des Problems des außervertraglichen Schadensersatzanspruchs einer der oben genannten vier Faktoren an die Stelle eines anderen von ihnen. Und ebensowenig steht die grundsätzliche Gleichrangigkeit der maßgeblichen Gerechtigkeitskriterien mit dem Merkmal der Ordnung i n Widerspruch, da die Gleichordnung auch eine Form der Ordnung ist. Allerdings ist mit dem Begriff des Systems herkömmlich die Vorstellung einer gewissen Hierarchie verbunden, doch erscheint dieses Merkmal nicht als unverzichtbar, soweit sein Fehlen nicht das Bestehen einer inneren Einheit unmöglich macht. Letzteres aber ist bei Wilburg gerade nicht der Fall, und man würde ihn denn wohl auch mißverstehen, wollte man annehmen, er sähe schlechthin alle innerhalb der Rechtsordnung irgendwie relevanten Gesichtspunkte grundsätzlich als gleichgewichtig an; im Gegenteil: der Gedanke einer gewissen hierarchie dürfte Wilburgs Konzeption keineswegs fremd sein, da zu den von i h m herausgearbeiteten „Elementen" bei manchem Sonderproblem zweifellos noch zusätzliche Lösungsgesichtspunkte treten müssen, auf die gerade ein so differenzierendes Denken wie das seine nicht verzichten kann, und da diese dann gegenüber jenen jedenfalls geringeres Gewicht besitzen. Nur innerhalb der — einheitsstiftenden — Grundprinzipien besteht also Ranggleichheit — und selbst hier schließt Wilburg ersichtlich die Möglichkeit einer Rangstufung nicht völlig aus 19 —, wohingegen i m Verhältnis zwischen diesen und den übrigen für ein Einzelproblem maßgeblichen Kriterien durchaus von einer 17 W o h l aber ist umgekehrt Ordnung ohne Einheit möglich; vgl. auch oben S. 12 f. ι» Vgl. a.a.O., S. 12 bzw. S. 22. 19 Vgl. z. B. a.a.O., S. 15, w o Wilburg (bei einem bereicherungsrechtliclien Problem) die Vermögenslage der Beteiligten „ i n zweifelhaften Fällen" berücksichtigen w i l l , also offenbar n u r dort, w o die übrigen K r i t e r i e n eine gerechte Lösung nicht ermöglichen, d. h. aber subsidär, was eindeutig ein Rangverhältnis impliziert. Auch i m Schadensersatzrecht hat Wilburg späterh i n gewisse Zweifel an der Zulässigkeit einer gleichrangigen Berücksichtigung der Vermögenslage geäußert, vgl. AcP 163, S. 346, Fn. 2.
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§ 4 Die Beweglichkeit des Systems
gewissen Hierarchie gesprochen werden könnte 2 0 . Alles i n allem trägt Wilburgs Konzeption den Namen „System" daher zu Recht 21 , wenngleich nicht zu verkennen ist, daß es sich um einen Grenzfall handelt. I I I . Bewegliches System und geltendes Recht 1. Der grundsätzliche Vorrang unbeweglicher Systemteile
Die vorliegende Arbeit befaßt sich m i t der Systemproblematik i m Hinblick auf das geltende deutsche Recht, insbesondere auf das deutsche Privatrecht, und es erhebt sich daher die Frage nach dessen Verhältnis zu Wilburgs Gedanken. Ein Blick auf unsere Rechtsordnung läßt die A n t w o r t nicht zweifelhaft erscheinen: das System des geltenden deutschen Rechts ist grundsätzlich nicht beweglich, sondern unbeweglich. Denn es weist den einzelnen Prinzipien i. d. R. klar umgrenzte Anwendungsbereiche zu, innerhalb deren sie nicht durch andere „Elemente" ersetzbar sind, und es bevorzugt die feste Tatbestandsbildung, die eine variable Bestimmung der Rechtsfolge auf Grund — wenn auch „gebundenen" — richterlichen Ermessens ausschließt. So ist i m deutschen Recht, um beim Beispiel des Schadensersatzrechts zu bleiben, deutlich bestimmt, wo das Verschuldensprinzip und wo der Gedanke der Gefährdung maßgeblich sind, unter welchen Voraussetzungen ausnahmsweise auch einmal die Vermögenslage der Beteiligten zu berücksichtigen ist (vgl. § 829 BGB) usw. Für eine Abwägung der Kriterien „nach Zahl und Stärke" bleibt hier kein Raum, und das gilt i m Grundsatz auch für alle anderen Teile unseres Privatrechts und unserer Rechtsordnung überhaupt. 2. Die Existenz beweglicher Systemteile
Jedoch nur i m Grundsatz! Das geltende deutsche Schadensersatzrecht enthält nämlich zugleich auch ein Gegenbeispiel, das die notwendige Einschränkung deutlich macht: die Durchbrechung des Alles-oderNichts-Prinzips in § 254 BGB. Nach dieser Vorschrift hängt die Höhe des Ersatzanspruchs „von den Umständen" ab, sofern auf Seiten des Geschädigten ein Verschulden oder — das ist heute allgemein anerkannt — ein anderer Zurechnungsgrund, vor allem also eine zurechenbare Betriebsgefahr m i t g e w i r k t hat. Hier ergibt sich nun genau das Bild, das für Wilburgs bewegliches System charakteristisch ist: es sind verschiedene Faktoren gegeneinander abzuwägen, wobei der 20 Ob das Wilburgs Ansicht w i r k l i c h ist, w i r d man mangels einer eindeutigen Stellungnahme zu dieser Frage allerdings w o h l k a u m abschließend entscheiden können,
si Vgl. auch Bydlinski, ÖJB1.1965, S. 360; Diederichsen,
NJW 66, S. 699.
I I I . Bewegliches System u n d geltendes Recht
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eine den anderen ersetzen kann und unter ihnen kein festes Rangverhältnis besteht. So kann z. B. statt Mitverschulden auch eine m i t wirkende Betriebsgefahr eingewandt werden, ein leichtes Mitverschulden kann durch das Hinzutreten von gefahrerhöhenden Umständen i n der Sphäre des Geschädigten möglicherweise zu einer ebenso großen Minderung seines Ersatzanspruchs führen wie ein grobes Mitverschulden 2 2 , eine „besondere" oder „erhöhte" Betriebsgefahr kann auch ein schweres Verschulden teilweise aufwiegen usw.; eine mitwirkende Betriebsgefahr kann grundsätzlich auch gegenüber der Verschuldenshaftung 23 , leichtes Mitverschulden auch gegenüber grober Fahrlässigkeit und u. U. sogar gegenüber Vorsatz anspruchsmindernd wirken, und auch umgekehrt w i r d die Gefährdungshaftung nicht notwendig durch Mitverschulden, die Haftung auf Grund einer „culpa levissima" nicht ohne weiteres durch grobes Mitverschulden ausgeschlossen. Eine feste Tatbestandsbildung ist also nicht möglich, sondern es sind ganz i m Sinne Wilburgs bestimmte Kriterien „nach Zahl und Stärke" gegeneinander abzuwägen, ohne daß ein Rangverhältnis, etwa zwischen Verschulden und Gefährdung, ein für allemal festläge; andererseits sind aber auch nicht beliebige Gesichtspunkte von Bedeutung — der Richter darf zweifelsohne nicht den Familienstand oder die Staatsangehörigkeit der Beteiligten berücksichtigen und die Vermögensverhältnisse nur i m Ausnahmefall der analogen Anwendung des § 829 BGB —, sondern nur spezifische, generell feststehende Zurechnungskriterien wie die Höhe des Verschuldens, die Gefährlichkeit eines Betriebes oder einer Sache, der Grad der Adäquanz oder die „Nähe" des Kausalzusammenhangs 24 , — also jene Prinzipien, die auch sonst unser Schadensersatzrecht beherrschen. Dessen System enthält somit bei grundsätzlicher „Unbeweglichkeit" einen Teilbereich, i n dem die maßgeblichen Bewertungsgesichtspunkte „beweglich" sind. Ähnliches läßt sich auch für andere Gebiete zeigen. Insbesondere dort, wo die festen Tatbestände durch Generalklauseln ergänzt und aufgelockert sind, finden sich häufig Beispiele für die Beweglichkeit 22 Denn das Verschulden u n d sein Grad sind bei der E r m i t t l u n g der Höhe des Ersatzanspruchs nur einer unter mehreren abzuwägenden Umständen; zur Frage, welche Faktoren maßgeblich sind, vgl. statt aller Larenz, Schuldrecht A. T., 9. Aufl. 1968, § 15 I e; Esser, Schuldrecht, 3. Aufl. 1968, § 47 I V u n d V I I ; Soer gel-Schmidt, 10. Aufl. 1968, §254 Rdzn. 7 ff. 23 Das ist heute ganz h. L., vgl. z. B. Larenz, a.a.O., unter b u n d Esser, a.a.O., unter 5, jeweils m. Nachw. 24 Welche Faktoren zu berücksichtigen sind, ist i m einzelnen noch nicht v ö l l i g geklärt; daß es dabei aber i m m e r u m Zurechnungsgesichtspunkte geht und daß nicht jeder beliebige „topos" Verwendung finden kann, dürfte außer Streit stehen. Vgl. zur Problematik die oben Fn. 22 angegebene Literatur.
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§ 4 Die Beweglichkeit des Systems
des Systems: bei der Feststellung, ob eine Kündigung sozialwidrig ist, ein wichtiger Grund vorliegt, ein Rechtsgeschäft oder ein Verhalten gegen die guten Sitten verstößt usw. sind regelmäßig bestimmte Gesichtspunkte ohne festes Rangverhältnis „nach Zahl und Stärke" gegeneinander abzuwägen 25 . Die feste Tatbestandsbildung stellt dabei allerdings, das w i r d man ohne weiteres sagen können, die Regel dar, die „Beweglichkeit" bildet die Ausnahme 26 . Das geltende Recht kennt also ein Nebeneinander von unbeweglichen und beweglichen Systemteilen bei grundsätzlichem Überwiegen der ersteren. IV. Die legislatorische und methodologische Bedeutung des beweglichen Systems Methodologisch und rechtsphilosophisch kann man nun freilich bei diesem Ergebnis nicht stehen bleiben. Vielmehr ist weiter zu fragen, wie denn Willburgs Konzeption unabhängig von ihrer mehr oder weniger weitgehenden Verwirklichung in einer konkreten Rechtsordnung zu beurteilen ist und welche Bedeutung sie dementsprechend de lege ferenda, also für den Gesetzgeber hat. 1. Das bewegliche System und die Forderung nach stärkerer Differenzierung
Für die A n t w o r t muß zunächst ein Merkmal ausgeklammert werden, das zwar auch kennzeichnend für Wilburgs „bewegliches System" ist, das aber nicht ein Spezifikum desselben darstellt, sondern ebenso bei einem „unbeweglichen" System denkbar ist. Gemeint ist Wilburgs Forderung nach stärkerer Differenzierung und seine K r i t i k an jeder Verabsolutierung eines bestimmten Prinzips. Insoweit ist i h m zweifellos zuzustimmen, und oben 27 wurde es denn auch geradezu als ein wesentliches Charakteristikum der systembildenden Funktion der Prinzipien bezeichnet, daß diese nicht den Anspruch ausschließlicher Geltung erheben, sondern vielmehr auf wechselseitige Ergänzung, also auf ein „Zusammenspiel" angewiesen sind und für die rechtssatz^ mäßige Ausformung darüber hinaus der differenzierenden Konkretisierung durch neue und selbständige Bewertungskriterien bedürfen. So richtig diese Haltung nun ist und so allgemeine Anerkennung sie — nicht zuletzt unter dem Eindruck von Wilburgs eigenen Arbeiten zum Bereicherungsrecht und zum Schadensersatzrecht — in der heutigen zivilistischen Dogmatik findet, so wenig ist eine solche stärkere Diffe25 Das „bewegliche System" ist jedoch nicht m i t den Generalklauseln zu identifizieren, vgl. näher unten S. 82 u n d 85. Nicht n u r zahlenmäßig, sondern vor allem auch gewichtsmäßig! 27 Vgl. S. 53 ff. und 55 ff.
IV. Die legislatorische u n d methodologische Bedeutung
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renzierung doch gerade an ein bewegliches System gebunden 28 . Wenn Wilburg z. B. fordert, i m Konkursrecht das starre Prinzip der Gleichheit aller nicht dinglich gesicherten Gläubiger durch ein „elastischeres" Zusammenwirken verschiedener Rechtsgedanken zu ersetzen und als solche etwa den Gesichtspunkt der „WertVerfolgung", der unvorsichtigen Kreditgewährung und des Sozialschutzes bei „kleinen" Gläubigern nennt 2 9 , so kann man dieses Ziel mindestens ebensogut durch ein unbewegliches wie durch ein bewegliches System erreichen: man kann durchaus entsprechende feste Tatbestände bilden (wie das i m deutschen Konkursrecht hinsichtlich der Ersatzaussonderung i n § 46 K O 3 0 oder hinsichtlich bestimmter besonders schutzwürdiger Gläubiger i n § 61 K O ja auch geschehen ist) und so den Grundsatz der Gleichheit aller Konkursgläubiger durch klar umrissene Ausnahmen einschränken; ja, man w i r d sogar sagen müssen, daß eine solche zwar differenzierende, aber unbewegliche Gestaltung i m Konkursrecht wesentlich sachgerechter ist und daß man insbesondere auf ein festes Rangverhältnis zwischen den verschiedenen A r t e n von Konkursforderungen, damit aber auch zwischen den verschiedenen Bewertungsgesichtspunkten kaum w i r d verzichten können. Differenzierung und Kampf gegen falsche Verabsolutierung einzelner Prinzipien setzen daher nicht notwendig Beweglichkeit voraus 3 1 , und so besagt die große Differenziertheit von Wilburgs Denkweise als solche noch nichts Wesentliches über den Wert eines beweglichen Systems. 2. Bewegliches System und Generalklausel
A l l e i n entscheidend sind vielmehr auch insoweit nur dessen Spezifika, also das Fehlen einer festen Tatbestandsbildung sowie die wech28 Vollends unverständlich ist es, w e n n Viehweg, a.a.O., S. 72 ff., insbesondere S. 74, i n Wilburgs K a m p f gegen die Verabsolutierung bestimmter Prinzipien einen „Beleg für die topische S t r u k t u r i n der gegenwärtigen Z i v i l i s t i k " sieht. Daß ein Prinzip stets nach Alleinherrschaft streben muß, gilt nicht einmal für das von Viehweg i n bezug genommene axiomatischlogische System, mag auch eine gewisse Tendenz zur Rückführung auf einige wenige Grundgedanken diesem (wie jedem) System innewohnen und seinem Ideal entsprechen. Die Herausarbeitung einiger weniger tragender Grundgedanken aber ist, w i e i m Text gezeigt, genau die Absicht Wilburgs, so daß diese A n k n ü p f u n g Viehwegs an i h n als besonders unglücklich erscheint; eher hätte sich dafür noch Wilburgs Verzicht auf die Bildung fester T a t bestände angeboten, doch hätte Viehweg damit freilich nicht seine These, daß die Jurisprudenz in ihrer Gesamtheit eine topische S t r u k t u r aufweise, belegen können, sondern sie auf Generalklauseln u n d ähnliche Erscheinungen beschränken müssen (womit er dem Richtigen auch durchaus nahe gekommen wäre, vgl. näher unten § 7 I I 2). 29 Vgl. a.a.O., S. 6 ff. i m Anschluß an ÖJB1.1949, S.29ff. 30 Ob dessen Ausgestaltung i m einzelnen Wilburgs Forderungen entspricht — sie t u t es sicher nicht! —, ist f ü r die hier erörterte grundsätzliche Fragestellung ohne Bedeutung. Eher schon „Offenheit", soweit sich die Forderung nach stärkerer
6 Canaris
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§ 4 Die Beweglichkeit des Systems
selseitige Austauschbarkeit und grundsätzliche Gleichrangigkeit der Bewertungsprinzipien. Insbesondere das erste Merkmal legt es nun nahe, die Frage ohne weiteres mit der nach dem Verhältnis von festem Tatbestand und Generalklausel zu identifizieren. Damit würde man Wilburg jedoch mißverstehen 32 . Denn für die Generalklausel ist charakteristisch, daß sie wertausfüllungsbedürftig ist, d. h., daß sie die zu ihrer Konkretisierung erforderlichen Kriterien nicht angibt und daß diese sich grundsätzlich nur im Hinblick auf den jeweiligen konkreten Fall festlegen lassen; Wilburgs Bestreben ist demgegenüber darauf gerichtet, die maßgeblichen „Elemente" nach Inhalt und Zahl generell zu bestimmen und nur ihr „Mischungsverhältnis" variabel zu gestalten und von den Umständen des Falles abhängen zu lassen 33 . So wehrt sich Wilburg denn auch nachdrücklich gegen Entscheidungen nach bloßer Billigkeit, weil — ein für seine Grundhaltung höchst aufschlußreiches Argument — dieser die „Grundsätzlichkeit" fehle 3 4 ; die Generalklauseln werden dagegen immer wieder, und mindestens teilweise mit Hecht, als „Einbruchsstellen der Billigkeit" bezeichnet. 3. Die Zwischenstellung des beweglichen Systems zwischen Generalklausel und festem Tatbestand und die Notwendigkeit einer Verbindung dieser drei Gestaltungsmöglichkeiten
Weist somit das bewegliche System auch nicht dieselbe Struktur wie die wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln auf, so ist andererseits doch auch eine gewisse Verwandtschaft m i t diesen nicht zu leugnen 3 5 : das bewegliche System nimmt eine Zwischenstellung zwischen festem Tatbestand und Generalklausel ein. Daraus ergeben sich seine Vorzüge wie seine Schwächen. Was zunächst die letzteren betrifft, so liegt es auf der Hand, daß ein bewegliches System in geringerem Maße die Rechtssicherheit gewährleistet als ein unbewegliches, streng hierarchisches System mit festen Tatbeständen. I n Gebieten, i n denen ein erhöhtes Rechtssicherheitsbedürfnis besteht, ist daher unbedingt letzterem der Vorzug zu geben, und so würde denn auch Wilburg selbst gewiß nicht dafür eintreten, etwa die festen Ordnungen des WertDifferenzierung nicht n u r an den Gesetzgeber, sondern auch an den Rechtsanwender richtet. 32 Die K r i t i k von Esser, AcP 151, S. 555 f. u n d RabelsZ 18 (1953), S. 165 ff. w i r d daher m. E. Wilburg nicht v o l l gerecht. 33 Wilburg stellt daher auch grundsätzlich nicht schlechthin auf die Lage des Einzelfalls ab, sondern „auf die Lage des Einzelfalls i m Hinblick auf die dargelegten, zusammenwirkenden Gesichtspunkte", w i e seine charakteristische Formulierung lautet; vgl. a.a.O., S. 17, 13, 18 u n d öfter. 34 Vgl. a.a.O., S. 6; vgl. auch S. 22. 35 Z u r Bedeutung des beweglichen Systems für die Konkretisierung von Generalklauseln vgl. auch unten S. 85 m i t Fn. 45 und vor allem S. 152 f.
I V . Die legislatorische u n d methodologische Bedeutung
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papierrechts und des Sachenrechts 36 oder auch nur des Erbrechts und des Gesellschaftsrechts in bewegliche Systeme aufzulösen. Weiter ist zu bedenken, daß der Richter einfach überfordert wäre, wenn er sich ausnahmslos einem beweglichen System gegenübersähe und damit i n jedem Fall vor den Schwierigkeiten der Abwägung zwischen der oft verhältnismäßig großen Zahl von „Elementen" stünde 37 . Und schließlich sollte man auch nicht verkennen, daß neben dem Wert der Rechtssicherheit außerdem noch der der Gerechtigkeit i n Widerspruch zu einem beweglichen System geraten kann; denn die „generalisierende" Tendenz des Gerechtigkeitsgebotes, die sich aus dem Gleichheitssatz ergibt, w i r k t jedem Abstellen auf die Umstände des Einzelfalles und damit auch einem Abwägen von — wenn auch generell festliegenden — „Elementen" entgegen. Die Gerechtigkeit weist allerdings nicht nur eine generalisierende, sondern auch eine individualisierende Tendenz auf 3 8 , und es liegt daher nahe, sich zur Rechtfertigung des „beweglichen" Systems auf diese zu berufen. Indessen ist dabei doch Vorsicht geboten. Denn zum einen ist eine gewisse Individualisierung auch durch starke Differenzierung eines unbeweglichen, streng hierarchischen Systems möglich, und zum anderen erlaubt auch das bewegliche System keine unbegrenzte Individualisierung 3 8 3 , da es ja auf einer beschränkten Zahl von „Elementen" aufbaut. I n Wahrheit kann man das bewegliche System daher keiner der beiden Tendenzen der Gerechtigkeit gänzlich zuordnen: es berücksichtigt die generalisierende Tendenz, indem es die maßgeblichen Gerechtigkeitskriterien allgemein festlegt, und es trägt der individualisierenden Tendenz Rechnung, indem es die konkrete Rechtsfolge vom Zusammenwirken dieser Gesichtspunkte im Einzelfall abhängig macht. Darin t r i t t sein großer Vorzug i n Erscheinung: das 36
Z u diesem vgl. ausdrücklich a.a.O., S. 4. 37 Wilburg sieht diesen E i n w a n d durchaus (vgl. a.a.O., S. 23) u n d entgegnet, die Stellung des Richters sei noch viel schwieriger, „wenn er Grundsätze anwenden soll, die zu unannehmbaren Konsequenzen führen". Das ist n u r zum Teil überzeugend; denn erstens sind w i r k l i c h „unannehmbare Konsequenzen" bei einigermaßen durchdachten Gesetzen doch w o h l ein Ausnahmefall, zweitens k a n n der Richter ihnen häufig durchaus legitim m i t Hilfe der das „strenge" Recht relativierenden Generalklauseln begegnen, drittens kann die Hinnahme auch einer groben Unbilligkeit m i t Rücksicht auf andere Rechtswerte, insbesondere auf die Rechtssicherheit u. U. sehr w o h l das kleinere Übel sein u n d viertens und vor allem ergibt sich aus Wilburgs Besorgnis nicht notwendig die Konsequenz, daß nun das gesamte System beweglich sein müsse, sondern n u r die, daß es bewegliche Teilbereiche (und auch echte Generalklauseln) als „ V e n t i l " enthalten muß (vgl. auch sogleich i m Text). sa Z u diesen beiden Tendenzen der Gerechtigkeit u n d zu ihrer wechselseitigen Bezogenheit vgl. vor allem Henkel, Recht u n d Individualität, 1958, S. 16 ff. und Einführung i n die Rechtsphilosophie, S. 320, 323 ff. (325), 351 ff. 38a Dann wäre es kein System mehr! 6*
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§ 4 Die Beweglichkeit des Systems
bewegliche System stellt einen besonders glücklichen Kompromiß zwischen den verschiedenen Postulaten der Rechtsidee dar — auch die Rechtssicherheit ist ja immerhin noch i n w e i t stärkerem Maß gewahrt als bei einer bloßen Billigkeitsklausel — und bringt deren „Polarität" 39 i n einer abgewogenen, „mittleren u Lösung zum Ausgleich; von den Rigorismen starrer Normen hält es sich gleichermaßen fern w i e von der Konturlosigkeit reiner Billigkeitsklauseln. I h m fehlen aber auch, w i e schon gesagt, mindestens teilweise die Vorzüge jener anderen Möglichkeiten, und so kann die Folgerung n u r sein, das Recht aus einem Zusammenwirken aller dieser Gestaltungsarten aufzubauen: zwischen die feste Tatbestandsbildung auf der einen und die bloße Billigkeitsklausel auf der anderen Seite t r i t t das bewegliche System. Die erstere ist zumindest i n bestimmten Gebieten, wie soeben dargelegt, keinesfalls zu missen, und insbesondere dann, wenn das „unbewegliche" System starke Differenzierungen aufweist, kann es die sachgerechteste Lösung darstellen. Erinnert sei an das oben 4 0 erörterte Beispiel aus dem Konkursrecht oder auch an Wilburgs Beispiel aus dem Bereich der Gefährdungshaftung: bei besonders hoher Gefährlichkeit einer Sache, etwa eines Flugzeuges, entlastet den Inhaber nicht einmal der Einwand höherer Gewalt, bei einem weniger gefährlichen Gegenstand w i e bei einem Kraftfahrzeug w i r k t dagegen schon das Vorliegen eines von außen kommenden „unabwendbaren" Ereignisses haftungsausschließend 41 ; soll eine solche Differenzierung der Entlastungsgründe nach dem Grade der Gefährlichkeit der Anlage — die sinnvoll erscheint und dem deutschen Recht ja auch durchaus „systemimmanent" ist — w i r k l i c h dem Richter von F a l l zu F a l l überlassen bleiben oder erscheint es i m Interesse der Rechtssicherheit wie der Beachtung des Gleichheitsgebotes hier nicht wesentlich sachgerechter, daß der Gesetzgeber sie nach klaren Tatbestandsmerkmalen (Flugzeug, Eisenbahn, Kraftfahrzeug usw.) generalisierend vornimmt?! U n d wie steht es vollends m i t der für die Gefährdungshaftung unerläßlichen, w e i l f ü r die Kalkulierbarkeit und Versicherbarkeit des Risikos erforderlichen Begrenzung der Haftung durch zahlenmäßig fixierte Höchstbeträge 42 ? Es ist schwer zu bestreiten, daß 39 Daß es u m „Polarität" und nicht u m echte Antinomien geht, hat Henkei, a.a.O., S. 345 ff., insbesondere S. 349 ff., überzeugend dargetan. 40 Vgl. S. 81. 41 Vgl. a.a.O., S. 13. 42 i n diesem Problem dürfte auch eines der Hauptbedenken gegen eine Generalklausel der Gefährdungshaftung liegen; mindestens müßte diese durch eine Reihe von Spezialtatbeständen ergänzt werden, die die Haftungshöchstgrenze und andere Sonderfragen differenzierend festlegen und so gleichzeitig auch Maßstäbe für die Konkretisierung der Generalklausel selbst bieten könnten.
I V . Die legislatorische und methodologische Bedeutung
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hier die „starre" gesetzliche Regelung das kleinere Übel ist. — Aber auch umgekehrt darf man nicht verkennen, daß die vollständige Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls möglicherweise ebenfalls sinnvoll sein kann und daher vom Gesetzgeber nicht gänzlich ausgeschlossen werden sollte; denn auch die „ B i l l i g k e i t " ist ein spezifisch rechtlicher Wert 4 3 , und ihr tragen eben nur gänzlich offene Bestimmungen wie z. B. Zumutbarkeitsklauseln in vollem Umfang Rechnung. Die Verschiedenheit der einzelnen Postulate der Rechtsidee nötigt den Gesetzgeber daher, von allen genannten Gestaltungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, und nur i n einer abgewogenen Auswahl unter ihnen bewährt er sich gegenüber dem Problem der „Polarität" 3 9 der obersten Rechtswerte. Welche Lösung jeweils zu bevorzugen ist, läßt sich allerdings nicht generell sagen, sondern hängt von der besonderen Struktur der betreffenden Regelungsmaterie und dem für sie im Vordergrund stehenden Wert ab 4 4 . Dem beweglichen System kommt dabei insofern eine besonders wichtige Aufgabe zu, als es, wie gesagt, i n sehr glücklicher Weise die M i t t e zwischen festem Tatbestand und Generalklausel hält und der generalisierenden wie der individualisierenden Tendenz der Gerechtigkeit Raum gibt. Es ist aber eben doch nur eine unter mehreren in Betracht kommenden Gestaltungsmöglichkeiten und darf daher in seiner Leistungsfähigkeit andererseits auch nicht überschätzt werden. M i t dieser Einschränkung jedoch ist zu sagen, daß der Gedanke eines beweglichen Systems, wie er von W i l burg entwickelt worden ist, eine entscheidende Bereicherung des gesetzgeberischen wie des methodologischen 45 Instrumentariums darstellt und daher zweifelsohne zu den bedeutenden juristischen „Entdeckungen" 46 zu zählen ist.
43 So nachdrücklich u n d m i t Recht Henkel, a.a.O., S. 324. I n eine nähere Diskussion über W e r t u n d U n w e r t der Generalklauseln u n d über den Umfang des ihnen sinnvollerweise einzuräumenden A n w e n dungsbereichs k a n n hier nicht eingetreten werden; vgl. dazu statt aller Hedemann, Die Flucht i n die Generalklauseln, 1933; F. v. Hippel, Richtlinie u n d Kasuistik i m Aufbau v o n Rechtsordnungen, 1942; aus neuerer Zeit vor allem Henkel, a.a.O., S. 357 ff., 360 ff. 45 Methodologisch ist zum einen von Bedeutung, die beweglichen Systemteile von den Generalklauseln zu unterscheiden u n d entsprechend enger zu interpretieren, also z.B. i n §254 B G B n u r spezifische Zurechnungsgesichtspunkte zuzulassen; zum anderen dürfte dem Gedanken des beweglichen Systems aber auch eine maßgebliche Rolle bei der Konkretisierung der Generalklauseln selbst zukommen, vgl. dazu unten S. 152 f. 4β Der Begriff der „juristischen Entdeckung" stammt von Dölle, der i h n allerdings ausschließlich an dogmatischen Einsichten exemplifiziert hat; vgl. den Festvortrag vor dem 42. deutschen Juristentag, Bd. I I der „Verhandlungen", Tübingen 1959.
§ 5 System u n d Rechtsgewinnung Begriff und Eigenart des juristischen Systems sind nunmehr hinreichend geklärt, um zur Erörterung jener Frage übergehen zu können, die für die Bedeutung des Systemgedankens i n der Jurisprudenz letztlich entscheidend ist: die Frage nach der „praktischen" Relevanz des Systems. I n der Tat wäre eine eingehende Untersuchung der Problematik von „Systemdenken und Systembegriff" wenig sinnvoll, wäre die Stellungnahme hierzu nicht auch von „praktischer" Wichtigkeit; denn die Jurisprudenz ist wie wenige andere Wissenschaften unmittelbar auf „praktische" Bewährung ausgerichtet und angewiesen, und so hat die Frage nach dem „Lebenswert" des Systems, um i n der Sprache der Interessenjurisprudenz zu sprechen, denn auch seit je i m Mittelpunkt der Systemdiskussion gestanden. „Praxis" in diesem Sinne ist nun die Anwendung des Rechts auf den konkreten Sachverhalt, und das Problem ist daher dahin zu präzisieren, ob dem System irgendeine Bedeutung für die Gewinnung der jeweils einschlägigen Rechtssätze zukommt. Diese Frage w i r d von einer weit verbreiteten Ansicht mit Entschiedenheit verneint. Nach i h r besitzt das System keinen „Lebenswert", insbesondere keinen „Erkenntniswert" 1 , und keinen Wert für die Rechtsgewinnung, sondern nur „Darstellungs- und Ordnungswert". Dieses Systemverständnis geht auf die ältere Inter essen jurisprudenz zurück 2 , kann jedoch auch heute noch überwiegend auf Zustimmung rechnen. Als repräsentativ sei aus jüngster Zeit die Stellungnahme von Kriele z i t i e r t Er meint, heute spielten „die Versuche zur Rechts1 i m Sinne der Erkenntnis dessen, was geltendes Recht ist; dagegen w i r d dem System ein didaktischer Wert i. S. einer Erleichterung des Verständnisses des Gesetzes regelmäßig nicht abgesprochen. 2 Vgl. vor allem M. v. Rümelin, Bernhard Windscheid u n d sein Einfluß auf Privatrecht u n d Privatrechtswissenschaft, 1907, S. 40 ff. u n d Z u r Lehre von der Juristischen K o n s t r u k t i o n ArchRWirtschPh. X V I (1922/23), S. 343 ff. (349 ff.); Heck, Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912, 2. Aufl. 1932, S. 9 ff. und Begriffsbildung u n d lnteressenjurisprudenz, 1932, S. 66 ff., 84 ff., 91 ff., 188ff.; Stoll, Begriff und K o n s t r u k t i o n i n der Lehre von der lnteressenjurisprudenz, Festgabe f ü r Heck, Rümelin u n d Schmidt, 1931, S. 60 ff. (S. 68 f, 76 ff., 112 ff.). Die vorzügliche Rechtfertigung des Systemdenkens gegenüber den Angriffen der lnteressenjurisprudenz durch Kretschmar, Über die Methode der Privatrechtswissenschaft, 1914, S. 42 ff. und Jher. Jb. 67, 264 ff., 273 ff., 285 ff. hat leider niemals genügend Beachtung gefunden. Vgl. ferner auch Baumgarten, Juristische K o n s t r u k t i o n u n d K o n s t r u k t i o n jurisprudenz, i n : Festgabe für Speiser, 1926, S. 105 ff.
§ 5 System und Rechtsgewinnung
gewinnung mittels der Deduktion aus einem System praktisch nur noch eine verhältnismäßig geringe Rolle" 3 , und in der Tat könne „die Rechtsgewinnung in der Annahme eines vorgegebenen Systems keinen Halt gewinnen" 4 ; denn: „Der Sinn eines solchen Systems kann vielfältig sein: es dient didaktischen Zwecken, dient der äußeren Einteilung und damit der Orientierung über die Rechtsordnung, dient rechtspolitisch dem vereinfachten Aufbau der Gesetze... oder dergl. Nur der Interpretation dient es nicht 5." Auch in diesem Punkte w i r d die Diskussion indessen durch die Unklarheiten über den jeweils zugrunde gelegten Systembegriff verwirrt. Alles, was von den Gegnern des Systemdenkens insoweit vorgebracht wird, paßt nämlich nur auf zwei ganz bestimmte Arten von Systemen: auf das „äußere" System und auf ein logisches oder axiomatisch-deduktives System. So hängt Hecks Polemik gegen die „systematische Konstruktion" 6 unmittelbar mit dem Kampf der Interessenjurisprudenz gegen die von den Anhängern der Begriffsjurisprudenz geübte „Inversionsmethode" zusammen und kann dementsprechend auch nur das von jenen zugrunde gelegte logisch-deduktive System treffen 7 . Und auch Kriele dürfte einen ganz ähnlichen Systembegriff vor Augen haben, da er ausdrücklich von „Deduktion" aus einem System spricht 8 und auf das „axiomatische" System Bezug nimmt 9 . Vollends unkritisch w i r d schließlich heute i m dogmatischen Schrifttum Systemdenken meist ohne weiteres mit „Begriffsjurisprudenz" gleichgesetzt, ist es hier doch einer der beliebtesten Einwände, ein systematisches Argument ohne nähere Auseinandersetzung als „begriffsjuristisch" und daher „überholt" abzutun, — ein Verfahren, das sich gern als „modern" aus3
Vgl. Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 97. a.a.O., S. 97. δ a.a.O., S. 98 (Hervorhebung hinzugefügt); ein weiterführender Ansatz allerdings S. 121, der jedoch i m folgenden (vgl. vor allem S. 124) leider nicht fruchtbar gemacht w i r d . 6 Vgl. vor allem Begriffsbildung, S. 66 ff. (69 f.), 188 ff. 7 M i t u n t e r setzt Heck dieses zudem auch noch m i t dem „äußeren" System einfach gleich, was seine Polemik noch ungenauer macht; vgl. ζ. B. a.a.O., S. 196 (gemeint ist hier übrigens das äußere System der Wissenschaft, nicht das des Gesetzes). » Vgl. a.a.O., S. 97. 9 Vgl. a.a.O., Fn. 1. Allerdings weisen die Beispiele, die Kriele i n Fn. 2 bringt, i n die entgegengesetzte Richtung, da die Anhänger der dort erwähnten Ansichten durchweg nicht von einem axiomatisch-deduktiven System ausgehen dürften. Leider hat sich Kriele jedoch m i t den von i h m hier erwähnten Theorien nicht i m einzelnen auseinandergesetzt, und so ist nicht k l a r erkennbar, w o r i n er deren Schwächen genau sieht. Da die von i h m i m T e x t vorgebrachten Einwände aber n u r gegenüber einem axiomatischdeduktiven System zutreffen, liegt i n der Tat der Verdacht nahe, daß auch Kriele dem Mißverständnis erlegen ist, es könne immer nur jenes gemeint sein, wo von einem juristischen System die Rede ist. 4
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§ 5 System u n d
echtsgewinnung
gibt, beim derzeitigen Stande der Methodenlehre aber nachgerade antiquiert ist. Denn wie i m zweiten Paragraphen eingehend dargestellt, gibt es eine Vielzahl verschiedener Systembegriffe, und es steht keineswegs von vornherein fest, daß die K r i t i k , die an der Möglichkeit einer Rechtsgewinnung aus einem logischen oder axiomatisch-deduktiven System mit Recht geübt worden ist, ohne weiteres auch auf alle übrigen Systemarten zutreffen müßte. I m Gegenteil! Faßt man nämlich m i t der hier vertretenen Ansicht das „innere" System einer Rechtsordnung als axiologisches oder teleologisches 10 , so liegt die Bedeutung des Systems für die Rechtsgewinnung geradezu auf der Hand; denn das Systemargument ist dann nur eine besondere Form einer teleologischen Begründung, und als solche muß es ohne weiteres zulässig und relevant sein. Man kann daher durchaus von einer „teleologischen oder wertungsmäßigen Ableitungseignung" des Systems sprechen, sofern man nur beachtet, daß „ A b leitung" nicht i. S. logischer Deduktion, sondern i. S. wertungsmäßiger Zuordnung zu verstehen ist. Diese ist nicht nur für das oben vorgeschlagene System allgemeiner Rechtsprinzipien, sondern für jedes teleologische System, insbesondere für ein solches aus entsprechenden Begriffen oder Werten anzuerkennen, wobei die praktischen Ergebnisse bei korrekter Systembildung entsprechend der Umformbarkeit der verschiedenen teleologischen Systeme ineinander 1 1 stets dieselben sein müssen 12 . Damit ist indessen lediglich die grundsätzliche Möglichkeit, das System für die Rechtsgewinnung fruchtbar zu machen, dargetan, und es gilt daher nunmehr, seine Bedeutung hierfür i m einzelnen und insbesondere auch die Besonderheiten systematischen Denkens gegenüber anderen Formen teleologischer Argumentation herauszuarbeiten. Dabei kann wieder auf den beiden Elementen des Systembegriffs aufgebaut werden: dem der teleologischen Ordnung und dem der Wahrung der wertungsmäßigen Einheit und Folgerichtigkeit des Rechts. I. Systematische Einordnung und Aufdeckung des teleologischen Gehalts Wenn man eine rechtliche Erscheinung i n einer bestimmten Weise „systematisch einordnet", so macht man damit regelmäßig zugleich eine Aussage über ihren teleologischen Gehalt. Beispielsweise dient es 10 Vgl. oben § 2 I I 1. 11 Vgl. dazu oben §2 I I 12 Es ist evident, daß teleologisch verstandenen w i e aus dem Prinzip der
2 a. sich das gleiche Systemargument z.B. aus dem Begriff des Rechtsgeschäfts gewinnen lassen muß Privatautonomie.
I. Einordnung und Aufdeckung des teleologischen Gehalts
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keineswegs nur „Darstellungs- und Ordnungszwecken", wenn man eine Vorschrift als Tatbestand der Gefährdungshaftung, der Rechtsscheinhaftung oder der Aufopferungshaftung qualifiziert oder wenn man einen Anspruch als Surrogationsanspruch bezeichnet 13 . Vielmehr werden damit die hinter den fraglichen Normen stehenden Wertungen, insbesondere die allgemeinen Prinzipien der Rechtsordnung unmittelbar angesprochen. Ein Streit um eine systematische Einordnung ist daher regelmäßig zugleich ein Streit um das „Wesen" eines Rechtsphänomens 14 , d. h. aber vorwiegend u m seinen wertungsmäßigen Gehalt innerhalb des geltenden Rechts 15 . So wäre nichts verfehlter, als etwa die Auseinandersetzung um die Qualifikation eines bestimmten Parteiaktes als Rechtsgeschäft für Begriffsjurisprudenz ohne praktische Bedeutung zu halten; vielmehr fragt man i n der Tat z. B. nach dem „Wesen" des Verlöbnisses, wenn man darüber diskutiert, ob dieses als Vertrag, als rein tatsächliches Verhältnis oder als „gesetzliche" Sonderbeziehung auf Grund der Inanspruchnahme von Vertrauen anzusehen ist und ob demnach der Verlöbnisbruch einen Vertragsbruch, ein Del i k t oder einen Vertrauensbruch darstellt 1 6 . Ähnlich geht es bei dem berühmten Streit zwischen der Kreationstheorie und der Vertragstheorie (u. a. 17 ) um das „Wesen" des Entstehungsaktes eines Wertpapiers. Allerdings ist der Vorgang dieser „Wesenserhellung" nicht etwa ein sozusagen einbahniger Prozeß, bei dem das Objekt zunächst noch völl i g unbekannt ist und dann m i t einem Schlag allein durch die systematische Einordnung verstanden würde. Vielmehr besteht eine Wechselw i r k u n g zwischen der Erkenntnis des fraglichen Gegenstandes und seiner systematischen Qualifikation 1 8 . So muß man z. B. zunächst die ratio legis des § 833 S. 1 BGB erkannt haben, bevor man diese Vorschrift der Gefährdungshaftung zuordnen kann. Andererseits wäre aber die Aufdeckung dieser ratio ungleich schwieriger, stünde nicht die systematische Kategorie der Gefährdungshaftung bereits zur Ver13 Vgl. die i m folgenden verwendeten Beispiele. " So m i t Recht Engisch, Stud. Gen. 10 (1957), S. 188 f. 15 Es geht also i. d. R. nicht u m irgendeine a-priorische Betrachtung! ie Vgl. auch Beitzke, Festschrift f ü r Ficker, 1967, S. 84, der m i t Recht fragt, welche der Theorien „eine bessere E r k l ä r u n g des Wesens des V e r löbnisses u n d seiner Rechtsfolgen geben" kann. Dabei ist „ E r k l ä r u n g " nicht als kausale Ableitung aus der Theorie zu verstehen, — ein Mißverständnis, dem insbesondere die ältere lnteressenjurisprudenz verfallen w a r —, sondern als Aufdeckung des inneren Sinngehalts des Instituts u n d der (wertungsmäßigen) Folgerichtigkeit der einzelnen Rechtsfolgen. 17 Es geht ferner u m die Wahrung der Einheit unseres Rechts (vgl. schon oben S. 39 f.), doch kann das von der Wesenserhellung nicht scharf getrennt werden (vgl. näher unten I I vor 1). iß Vgl. Engisch, a.a.O., S. 189; zustimmend auch Diederichsen, N J W 66,701.
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§ 5 System u n d Rechtsgewinnung
fügung. Auch — und das ist wohl noch wichtiger — ermöglicht erst die systematische Einordnung, die fragliche Norm völlig, nämlich nicht nur als Einzelerscheinung, sondern als Teil eines Ganzen zu verstehen. Wenn man z. B. § 833 S. 1 als einen unter vielen Tatbeständen der Gefährdungshaftung sieht, so hat man ihn vollständiger und richtiger verstanden, als wenn man nur seine ratio legis allein — die Einstandspflicht für die von einem Tier ausgehenden Risiken — erkannt hat. Umgekehrt erfährt auch das System durch die Zuordnung eines neuen Tatbestandes u. U. eine inhaltliche Bereicherung oder Modifizierung, da das Besondere hier nicht bloßer Unterfall, sondern konstitutives Element des Allgemeinen ist 1 9 . Es liegt also ein dialektischer Prozeß wechselseitiger Sinnerhellung vor. Daß dabei stets die Gefahr des Zirkelschlusses droht, ist nicht zu leugnen, doch handelt es sich hier lediglich um einen Sonderfall des in der Hermeneutik auch sonst wohlbekannten Zirkels zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen 20 ; dieser ist allem geisteswissenschaftlichen Verstehen eigentümlich und läßt sich daher nie von vornherein ausschließen. Ist somit der „Erkenntniswert" systematischer Einordnungen nicht zu bezweifeln, so ergibt sich daraus ohne weiteres auch deren Bedeutung für die Rechtsgewinnung; denn wenn es hier um die Aufhellung des teleologischen Gehalts geht, dann kann dies für die heutige vorwiegend teleologisch argumentierende Jurisprudenz nicht ohne Einfluß auf die Auslegung und Fortbildung des Rechts sein. Systematische Einordnungen spielen denn auch in der Tat auf allen Stufen der Rechtsgewinnung eine erhebliche Rolle. 1. Die „systematische Auslegung"
So nimmt die „systematische Auslegung" seit je einen festen Platz unter den juristischen „Auslegungskanones" ein 2 1 . Freilich denkt man 19 Das Allgemeine ist hier also nicht als „Abstrakt-Allgemeines", sondern als „Konkret-Allgemeines" i. S. Hegels zu begreifen. 20 Z u r Problematik vgl. vor allem Schleiermacher, Werke I 7, 1838, S. 37, 143 ff.; Dilthey , Gesammelte Schriften V I I , 1927, S. 212 f.; Coing, Die j u r i s t i schen Auslegungsmethoden u n d die Lehren der allgemeinen Hermeneutik, 1959, S. 14; Betti , Z u r Grundlegung einer allgemeinen Auslegungslehre, Festschrift f ü r Rabel, 1954, Bd. I I , S. 102 ff. u n d Allgemeine Auslegungslehre als Methodik der Geisteswissenschaften, 1967, S. 219 ff. Der i m T e x t gemeinte Z i r k e l ist nicht identisch m i t dem „hermeneutischen Z i r k e l " i. S. Heideggers und Gadamers (anders offenbar dieser selbst a.a.O., S. 275 ff.), der das Verhältnis von „Vorverständnis" des Auslegenden u n d Auslegungsergebnis betrifft. 21 Vgl. statt aller Baumgarten, Die Wissenschaft v o m Recht u n d ihre Methode, 1920—22, Bd. I, S. 295 ff. u n d Bd. I I , S. 617 ff. u n d Grundzüge der juristischen Methodenlehre, 1939, S. 35 ff.; Engisch, Einführung, a.a.O., S. 77 ff.; Larenz, Methodenlehre, a.a.O., S. 244 ff.
I. Einordnung u n d Aufdeckung des teleologischen Gehalts
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i n diesem Zusammenhang meist vornehmlich an die Auslegung aus dem äußeren System des Gesetzes, also um Rückschlüsse aus der Stellung einer Vorschrift in einem bestimmten Buch, Abschnitt, Paragraphenzusammenhang, aus ihrer Fassung als selbständiger Absatz oder als bloßer Satz eines Absatzes usw. usw. Darin liegt nun allerdings nur ein verhältnismäßig geringfügiger Anhaltspunkt, ist doch die Stellung einer Vorschrift nicht selten sachlich verfehlt; man denke, um nur zwei Beispiele zu nennen, etwa an die Einfügung des § 833 S. 1 BGB i n den Zusammenhang des Deliktsrechts oder an die Verweisung auf § 278 BGB in § 254 Abs. I I S. 2 BGB (statt i n Abs. III). Immerhin ist nicht zu leugnen, daß auch die Argumentation aus dem äußeren System einen gewissen Wert hat. So ist es z. B. durchaus nicht unzulässig, aus der Stellung einer Vorschrift i m Allgemeinen oder Besonderen Teil eines Gesetzes Rückschlüsse auf ihren Anwendungsbereich zu ziehen; auch darf man nicht vergessen, daß die Einteilung der Gesetze oft maßgeblich von der „Natur der Sache" beeinflußt ist und daß daher der Charakter einer Bestimmung z. B. als einer familien- oder handelsrechtlichen Norm für i h r Verständnis fruchtbar gemacht werden kann. Wirklich durchschlagend sind aber auch solche Argumente erst dann, wenn zugleich die i n der systematischen Stellung zum Ausdruck kommenden Wertungen herausgearbeitet werden, und dann handelt es sich in Wahrheit bereits um eine Argumentation aus dem inneren System. Diese aber ist nun i n der Tat von größter Bedeutung. Während nämlich die Auslegung aus dem äußeren System lediglich gewissermaßen die Fortsetzung der grammatischen Auslegung ist, so ist die Auslegung aus dem inneren System die Fortsetzung der teleologischen 22 Auslegung oder besser nur eine höhere Stufe innerhalb dieser, — eine Stufe, auf der von der „ratio legis" zur „ratio iuris" fortgeschritten w i r d ; und wie der teleologischen 22 Auslegung ganz allgemein so kommt somit der Argumentation aus dem inneren System des Gesetzes der höchste Rang unter den Auslegungsmitteln zu 2 3 . 22 Teleologisch i m weitesten Sinn verstanden, vgl. oben S. 41. 23 Die oft vertretene Ansicht, es lasse sich zwischen den einzelnen Auslegungsmitteln kein festes Rangverhältnis aufstellen, verdient keine Zustimmung. Vielmehr gebührt letztlich stets der teleologischen Auslegung der Vorrang, u n d das w i r d i m praktischen Ergebnis heute auch nahezu allgemein berücksichtigt. Was zunächst das Verhältnis von teleologischer u n d grammatischer Auslegung angeht, so ist der Satz „Höher als der W o r t l a u t des Gesetzes steht sein Sinn u n d Zweck" w o h l allgemein anerkannt; daß der „mögliche Wortsinn" nach h. L. die Grenze der Auslegung bildet u n d insofern dem Gesetzeszweck vorgeht, ist — abgesehen von Analogieverboten und dgl. — ein rein terminologisches Problem, da bei einer Überschreitung des Wortsinnes n u r von der Auslegung i. e. S. zur nächsten Stufe, der von Analogie und Restriktion, übergegangen und somit i m Ergebnis jedenfalls dem Gesetzeszweck zum Vorrang gegenüber dem — zu engen oder zu weiten — Wortlaut verholfen wird. Was sodann das Verhältnis von teleologischer und systematischer Auslegung betrifft, so hat die Auslegung
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§ 5 System u n d Rechtsgewinnung
E i n i g e praktische Beispiele m ö g e n die B e d e u t u n g der systematischen A u s l e g u n g f ü r die R e c h t s g e w i n n u n g veranschaulichen. So w i r d e t w a d i e A u s l e g u n g des § 833 S. 1 B G B d u r c h seine Q u a l i f i k a t i o n als T a t b e s t a n d der Gefährdungshaftung erheblich gefördert. A u s i h r ergibt sich u. a., daß, w i e stets b e i d e r G e f ä h r d u n g s h a f t u n g , n u r f ü r d i e V e r w i r k l i c h u n g d e r „spezifischen" Gefahr, also f ü r die F o l g e n eines „ w i l l k ü r l i c h e n t y p i s c h t i e r i s c h e n V e r h a l t e n s " g e h a f t e t w i r d , n i c h t aber z. B . f ü r e i n e n B e i n b r u c h , d e n j e m a n d e r l e i d e t , w e i l er ü b e r e i n e schlafende K a t z e s t o l p e r t , oder f ü r d e n Schaden, d e n e i n auf e i n e n Menschen g e h e t z t e r H u n d a n r i c h t e t . A u c h f ü r die A b g r e n z u n g des H a l t e r b e g r i f f s g e w i n n t m a n wesentliche Anhaltspunkte, w e n n m a n i h n i n A n l e h n u n g a n andere T a t b e s t ä n d e d e r G e f ä h r d u n g s h a f t u n g , also s y s t e m k o n f o r m z u k o n k r e t i s i e r e n versucht. G e w i ß lassen sich dieselben Ergebnisse auch m i t e i n e r teleologischen A u s l e g u n g des § 833 S. 1 a l l e i n erzielen, doch i s t n i c h t z u b e z w e i f e l n , daß sie d u r c h die A r g u m e n t a t i o n aus d e n a l l g e m e i n e n G r u n d s ä t z e n d e r G e f ä h r d u n g s h a f t u n g n i c h t n u r einfacher, s o n d e r n auch ü b e r z e u g e n d e r zu b e g r ü n d e n s i n d 2 4 . A u c h g i b t es F r a g e n . aus dem äußeren System wegen ihrer großen Unsicherheit (vgl. soeben i m Text) jedenfalls hinter der teleologischen Auslegung zurückzustehen, w ä h rend die Auslegung aus dem inneren System, wie i m T e x t dargelegt, selbst n u r eine F o r m der teleologischen Auslegung ist. Was schließlich das V e r hältnis von teleologischer u n d historischer Auslegung angeht, so ist auch hier der teleologischen der Vorrang einzuräumen. Dies bedarf f ü r die obj e k t i v e Theorie keiner Begründung, ist aber auch für die subjektive Theorie nicht zu bezweifeln, da auch diese nicht die Vorstellungen des historischen Gesetzgebers i n allen Einzelheiten verwirklichen, sondern dessen Zwecken zur Durchsetzung verhelfen w i l l ; die Auslegung verfährt hier also s u b j e k t i v teleologisch u n d setzt sich dabei u. U. durchaus über die feststellbaren V o r stellungen des Gesetzgebers hinweg, wenn diese zur Erreichung der von i h m angestrebten Zwecke ungeeignet sind, — ein Verfahren, das ein so entschiedener Anhänger der subjektiven Auslegungstheorie w i e Heck i n die bekannte M a x i m e v o m „denkenden Gehorsam" gekleidet hat. 24 Es ist auch kein Einwand, daß die Regeln über die Tiergefahr u n d den Halterbegriff nach h. L. offenbar auch auf S. 2 A n w e n d u n g finden sollen, obwohl dieser kein Tatbestand der Gefährdungshaftung, sondern ein solcher der Haftung für vermutetes Verschulden ist. Denn zum einen ist das keineswegs zwangsläufig, sondern bedürfte trotz des engen äußeren Zusammenhangs der beiden Vorschriften schon wegen des Grundsatzes der Relativität der Rechtsbegriffe einer eigenständigen , a m besonderen Zweck des S. 2 ausgerichteten Begründung. Z u m anderen spielen auch f ü r S. 2 Risikogesichtspunkte eine wesentliche Rolle; schon die U m k e h r der Beweislast enthält ein Risikoelement, woraus sidh i n der Tat eine w e i t gehende Ubereinstimmung des Halterbegriffs herleiten läßt, u n d vollends die Aufstellung der besonderen Verhaltenspflichten, w i e sie dem § 833 S. 2 zugrunde liegt, k n ü p f t an die besondere Gefährlichkeit des Tieres an: richtet das Tier einen Schaden nicht durch „willkürliches typisch tierisches Verhalten" an, so liegt der Schadenseintritt jedenfalls außerhalb des Schutzzwecks der Norm, u n d es k o m m t daher auf das Gelingen des Exkulpationsbeweises nicht mehr an. I m übrigen macht Esser m i t Recht darauf aufmerksam, daß die Vorschrift des S. 2 heute sachlich weitgehend verfehlt ist u n d i n der Praxis dementsprechend nahezu wie ein Tatbestand der Gefährdungshaftung gehandhabt w i r d (vgl. Schuldrecht, 2. Aufl. 1960, § 203, 4 a).
I. Einordnung und Aufdeckung des teleologischen Gehalts
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für deren Lösung nur noch der Rückgriff auf das übergreifende Institut der Gefährdungshaftung bleibt. So sollte man z. B. i n Fällen wie der leihweisen Überlassung eines Tieres oder der Übergabe an einen Trainer oder Tierarzt die Problematik nicht mit Fiktionen wie der Konstruktion eines vertraglichen Haftungsausschlusses oder der Annahme eines Mitverschuldens zu lösen versuchen 25 , sondern den Ausschluß der Haftung vielmehr auf den i n den allgemeinen Lehren der Gefährdungshaftung entwickelten systemimmanenten Gesichtspunkt der „freiwilligen Interessenexponierung" 26 stützen 27 . Ähnlich läßt sich die Bedeutung systematischer Einordnungen an der umstrittenen Frage veranschaulichen, ob § 281 BGB auch auf den A n spruch aus § 985 BGB Anwendung findet. Freilich ist die Argumentation aus dem äußeren System, nämlich aus der Stellung des § 281 i m Schuldrecht, hier wieder einmal denkbar unüberzeugend. Dagegen führt die Auslegung aus dem inneren System unmittelbar zum Ziel. § 281 enthält nämlich anerkanntermaßen einen Surrogationsanspruch, und folglich kann er nur eingreifen, sofern die Voraussetzungen des Surrogationsprinzips vorliegen, sofern also der Anspruch aus § 985 untergegangen ist. Dieser geht n u n aber wegen seiner dinglichen Natur häufig nicht unter, sondern richtet sich nur gegen den neuen Besitzer, und folglich ist jedenfalls i n diesem Falle eine Anwendung des § 281 ausgeschlossen. Geht der Anspruch aus § 985 dagegen durch Besitzverlust unter, so bestehen keine Bedenken gegen eine Anwendung des § 281. Wenn der Untergang darauf beruht, daß ein Dritter gutgläubig Eigentum erworben hat, w i r d man allerdings wohl § 816 I 1 BGB als lex specialis den Vorrang einräumen müssen (obwohl auch die Annahme von Anspruchskonkurrenz vertretbar erscheint). Wenn der Untergang dagegen auf andere Gründe zurückgeht — d. h. wohl i m wesentlichen auf den Untergang der Sache selbst —, dann erweist sich eine Anwendung des § 281 als durchaus gerechtfertigt; warum sollte 25 zur § 253 V.
Problematik vgl. statt aller Enneccerus - Lehmann,
26 Grundlegend Müller-Erzbach,
15. Aufl. 1958,
AcP 106, S. 351 ff., 396 ff., 409 ff.; der
Sache nach ebenso z. B. Esser, Grundlagen u n d Entwicklung der Gefährdungshaftung, 1941, S. 109 f.; Latenz, Schuldrecht A. T. §15 I b . 27 Die Ablehnung einer Gefährdungshaftung nach § 833 S. 1 B G B bedeutet nicht notwendig, daß der Tierhalter nicht gleichwohl unabhängig von V e r schulden haften könnte. N u r ist das kein Problem der Gefährdungshaftung, sondern einer davon dogmatisch w i e praktisch scharf zu trennenden vertraglichen Risikoordnung (grundlegend zum Unterschied Wilburg, Die Elemente des Schadensrechts, 1941, S. 157 ff.); diese weist z.B. bei der Leihe das Risiko m i t Recht dem Entleiher zu, so daß eine Haftung des verleihenden Tierhalters n u r bei Verschulden i n Betracht kommt, während beim A u f t r a g u n d bei der G. o. A. umgekehrt der Tierhalter auf G r u n d der von der h. L. i n Analogie zu §670 B G B entwickelten Grundsätzen das Risiko trägt.
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§ 5 System u n d Rechtsgewinnung
denn der Eigentümer z. B. nicht den Anspruch auf die Versicherungssumme oder auf einen eventuellen Schadensersatzanspruch 28 haben, wo § 281 diesen schon dann gewährt, wenn lediglich ein obligatorischer Anspruch auf die Sache und nicht die viel stärkere dingliche Zuordnung besteht?! Geht man somit von der Einordnung des § 281 i n das innere System unserer Rechtsordnung aus, so kommt man auf schnellem Wege zu einer überzeugenden Lösung: nur dann, aber auch immer dann, wenn für eine Surrogation, d. h. die Ersetzung eines erloschenen Rechts durch ein statt dessen entstandenes neues Recht, Raum ist, wenn also der Anspruch aus § 985 untergegangen ist, greift § 281 ein. Dabei werden die von der h. L. befürchteten Schwierigkeiten, die durch das Nebeneinander von Ansprüchen des Eigentümers gegen den neuen Besitzer aus § 985 und gegen den alten Besitzer aus § 281 entstehen können, ebenso vermieden 2 9 wie die Unbilligkeiten, zu denen die h. L . 3 0 ihrerseits mit ihrer generellen Ablehnung der Anwendbarkeit des § 281 führt 3 1 . Noch ein drittes Beispiel sei erwähnt. Ordnet man die §§ 1711, 172 I BGB der Rechtsscheinhaftung zu, so folgt daraus u. a., daß nur der gutgläubige Dritte geschützt w i r d und daß dieser Kenntnis von dem Scheintatbestand, also der fraglichen Erklärung gehabt haben muß, — Ergebnisse, die sich aus den Vorschriften allein wegen der wenig glücklichen Fassung der §§ 1711 und 173 nicht überzeugend ableiten lassen (und die dementsprechend auch umstritten sind). Erst die Einordnung der §§ 171, 172 i n den allgemeinen systematischen Zusammen28 z.B. aus Vertrag i. V. m. §278 B G B ; insoweit spielt zusätzlich die Problematik der Drittschadensliquidation hinein. — Bei Erbringung der Schadensersatzleistung an den Besitzer (statt an den wahren Eigentümer) greift u. U. § 816 I I B G B i. V. m. § 851 B G B ein. 29 Dagegen läßt sich auch nicht vorbringen, die Anwendung des § 281 B G B könne u. U. den gutgläubigen Besitzer u n b i l l i g treffen, w e i l er vielleicht das Surrogat i n dem Glauben, es stehe i h m zu, bereits für seine eigenen Zwecke verwendet habe. Er w i r d dann nämlich regelmäßig nach §275 B G B frei; allerdings w i r d man für ein Vertretenmüssen i. S. des § 280 i n analoger A n w e n d u n g des § 990 B G B stets grobe Fahrlässigkeit hinsichtlich des Glaubens an die eigene Berechtigung verlangen müssen, u m die Wertungseinheit m i t den übrigen Rechtssätzen des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses zu wahren. 30
F ü r diese vgl. statt aller Westermann , Sachenrecht, 5. A u f l . 1966, § 3 1 I V 4. Über § 818 I HS. 2 läßt sich auch dann nicht immer ein befriedigendes Ergebnis erzielen, w e n n m a n die Bereicherungsvorschriften neben den §§ 987 ff. B G B anwendet (was hinsichtlich des Surrogats i n der T a t u n p r o blematisch sein dürfte). Denn neben dem Anspruch aus §985 braucht nicht notwendig der aus §812 gegeben zu sein; auch schadet nach §8191 n u r positive Kenntnis (allerdings könnte man daran denken, § 819 zur Wahrung der Wertungseinheit m i t den übrigen Tatbeständen des Eigentümer-BesitzerVerhältnisses insoweit entsprechend zu erweitern; vgl. auch das analoge Problem bei § 281 und dazu die vorvorige Fn.). 31
I. Einordnung und Aufdeckung des teleologischen Gehalts
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hang 3 2 ermöglicht somit, ihren teleologischen Gehalt voll zu erfassen und die Rechtsfolgen i m einzelnen festzulegen; dabei spielt hier, i m Gegensatz zum letzten Beispiel und i n weit stärkerem Maße als i m ersten Beispiel, noch ein zweites Element hinein, auf das alsbald näher zurückzukommen ist: das der Wahrung der Wertungseinheit mit den übrigen Tatbeständen der Rechtsscheinhaftung 33 . 2. Die Ausfüllung von Lücken aus dem System
Was für die Auslegung i m engeren Sinn, d. h. für die Interpretation der Normen i m Rahmen ihres möglichen Wortsinnes soeben ausgeführt wurde, das gilt mutatis mutandis auch für die Lückenergänzung. Die Behauptung der Interessenjurisprudenz, die Lückenfüllung sei i m Wege der Argumentation aus dem System nicht möglich, ist daher für ein teleologisches System unzutreffend 3 4 , und dementsprechend ist für dieses auch die beliebte Gegenüberstellung von „verstehender" und „lückenergänzender Konstruktion" unsinnig 3 5 . Denn wenn es bei der Entwicklung des inneren Systems einer Rechtsordnung um die Aufdeckung der tragenden Grundwertungen geht, dann werden damit eben jene Elemente freigelegt, m i t deren Hilfe sowohl die Feststell u n g 3 5 a als auch die Ausfüllung von Lücken in einer Reihe von Fällen erst möglich ist: die allgemeinen Rechtsprinzipien. Wieder bestätigen die Beispiele das Gesagte. Wenn man z. B. § 904 S. 2 BGB (mit der wohl immer noch h. L. 3 6 ) als Tatbestand einer Eingriff shaftung* 7 qualifiziert, so folgt daraus für die Ausfüllung der in dieser Vorschrift enthaltenen Lücke, nämlich für die Frage nach dem Anspruchsverpflichteten, ohne weiteres die Lösung: es haftet der Eingreifende. Sieht man dagegen (mit der überzeugenden Ansicht 38 ) i n § 904 S. 2 einen Fall der Aufopferungshaftung, so ist die Lücke 32 Bei dieser erhebt sich freilich wieder das Zirkelproblem. U m es zu vermeiden, bedarf es eines K r i t e r i u m s , das m i t der Frage nach der Relevanz des bösen Glaubens i n keinem Zusammenhang steht; ist jenes aber gefunden, so ist auch diese ohne weiteres gelöst. 33 Als Beispiel vgl. i n diesem Zusammenhang ferner die systemkonforme Auslegung der §§ 370 und 405 B G B unten S. 117 f. 34 Das heißt natürlich keineswegs, daß die Lückenergänzung aus dem System i m m e r möglich wäre. I n der Zurückweisung der These, aus dem System lasse sich die Geschlossenheit der Rechtsordnung begründen, hatte die Interessenjurisprudenz also durchaus recht, vgl. näher unten I V 4 und § 6 I I I 1. 35 Diese Terminologie dürfte auf Triepel zurückgehen, vgl. Staatsrecht u n d Politik, Berliner Rektoratsrede, 1927, S. 22 f. 35a Z u dieser vgl. näher alsbald i m T e x t unter I I 2. 3 6 Darstellung und Nachweise vgl. bei Horn, JZ 1960, S. 350 ff. 37 Dieser Begriff ist allerdings einstweilen dogmatisch noch ziemlich diffus. 3 ® Vgl. vor allem Latenz, Schuldrecht B. T., 8. Aufl. 1967, § 72, 1.
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§ 5 System und Rechtsgewinnung
entsprechend den allgemeinen Regeln und der inneren Konsequenz des Aufopferungsprinzips i n dem Sinne zu schließen, daß der Begünstigte verpflichtet ist. Ähnliches gilt hinsichtlich des Erfordernisses der Zurechnungsfähigkeit des Haftenden: geht es um Eingriffshaftung, ist diese analog §§ 827 f. BGB zu fordern, geht es u m Aufopferungshaftung, ist sie irrelevant 3 9 . So w i r d am Beispiel des § 904 S. 2 nicht nur deutlich, wie sich aus der dogmatischen Einordnung unmittelbar die entscheidenden Gesichtspunkte für eine Lückenfüllung ergeben, sondern auch, wie sich mit der systematischen Qualifikation zugleich das Ergebnis ändert, — was nicht zu verwundern ist, wenn man bedenkt, daß i n der unterschiedlichen Einordnung des § 904 S. 2 eben gegensätzliche Meinungen über dessen sachlichen Gehalt zum Ausdruck kommen. Ähnlich ergeben sich aus der Kreationstheorie bzw. aus der Vertragstheorie und der Rechtsscheintheorie i m Wertpapierrecht praktische Folgen hinsichtlich einer Reihe von Einzelproblemen 40 . Es ist daher nicht zutreffend, wenn Heck behauptet, die Entscheidung für die eine oder andere dieser Theorien enthalte „überhaupt kein Werturteil" und dürfe „nicht vor der Lückenergänzung, sondern erst nachher" getroffen werden 4 1 . Vielmehr liegt hier genau jene komplexe Wechselwirkung vor, die oben 4 1 a beschrieben wurde: man sucht zunächst die Bestimmungen des Gesetzes m i t Hilfe einer der Theorien zu verstehen und i n die Grundwertungen unseres Privatrechts einzuordnen, zieht dann die Folgerungen aus der Theorie für die gesetzlich nicht geregelten Fälle, prüft die Uberzeugungskraft der so gewonnenen Ergebnisse 42 , modifiziert daraufhin gegebenenfalls die Theorie in der einen oder anderen Richtung, überprüft erneut ihre Konsequenzen usw. Es w i r d also nicht erst die Lücke ausgefüllt und dann die Theorie gebildet, sondern es w i r d die Lücke ausgefüllt, indem die Theorie gebildet wird, und es w i r d die Theorie gebildet, indem die Lücke ausgefüllt wird. Dieser Vorgang w i r d nicht nur durch die phänomenologische 43 Untersuchung juristischer Theorienbildung 3
9 Vgl. näher Canaris, NJW 64, 1993.
40
Vgl. zu diesen i m einzelnen z. B. Jacobi, Ehrenbergs Handbuch I V 1, 1917, S. 304 ff.; Enneccerus-Lehmann, a.a.O., §20811 = S. 844. 41 Vgl. Begriffsbildung, a.a.O., S. 103; richtig Lehmann, a.a.O., a. E. " a Vgl. S. 89 f. 42 Woran man diese prüft, ist eine noch wenig geklärte Frage. Sicher spielt hier das Rechtsgefühl eine wesentliche Rolle, doch sollte m a n v e r suchen, die „Sachgerechtigkeit" eines Ergebnisses darüber hinaus auf objektive K r i t e r i e n zu stützen w i e die „ N a t u r der Sache", die P r a k t i k a b i l i t ä t , die Übereinstimmung m i t anderweitig i m Gesetz zum Ausdruck kommenden Wertungen, die Vereinbarkeit m i t allgemeinen Rechtsprinzipien u n d - w e r t e n w i e dem Verkehrsschutz oder dgl. usw. 43 Psychologisch k a n n der Vorgang selbstverständlich anders liegen.
I I . Bedeutung des Systems f ü r die Wahrung der wertungsmäßigen Einheit
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bestätigt, sondern kann auch von vornherein richtigerweise gar nicht anders aussehen, weil sonst die Folgerichtigkeit und Einheit der Rechtsordnung nicht gewährleistet bliebe: nur ein stetiges „ H i n - und Herwandern des Blickes" kann der Gefahr entgegenwirken, daß die Vielzahl der Einzelfragen, um die es bei einer so komplexen Problematik wie der der „Wertpapierrechtstheorien" geht, nach widersprüchlichen Gesichtspunkten entschieden wird, nur die Bildung einer i n sich geschlossenen, wenn auch stets nur vorläufigen und modifizierbaren Theorie wahrt die innere Einheit. Dabei besteht die erwähnte Wechselwirkung nur hinsichtlich der wichtigsten Probleme, während auf weniger bedeutende Einzelfragen bei der Theorienbildung keine Rücksicht genommen werden kann; insoweit sind die Lücken des Gesetzes vielmehr ohne weiteres, also ohne daß den gewonnenen Ergebnissen noch Einfluß für eine Modifizierung der Theorie eingeräumt werden könnte, aus dieser, d. h. aus dem oder den als tragend erkannten Grundgedanken auszufüllen; für diese Fälle gilt also geradezu das Gegenteil des zitierten Satzes von Heck, und wiederum ist zur Rechtfertigung auf den Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit zu verweisen. Damit aber ist bereits das zweite wesentliche Element, das dem System seine Bedeutung für die Rechtsgewinnung verleiht, angesprochen. I I . Die Bedeutung des Systems für die Wahrung der wertungsmäßigen Einheit und Folgerichtigkeit bei der Rechtsfortbildung Diese ergibt sich bei der in dieser Arbeit entwickelten Ansicht schon aus der oben 44 dem Systembegriff zugewiesenen Aufgabe und der daraus hergeleiteten Definition 4 5 . Diese Funktion des Systems ist dabei von der soeben erörterten — der Aufdeckung des wertungsmäßigen Gehalts einer Vorschrift oder eines Instituts — grundsätzlich zu unterscheiden, mag sie auch in enger Beziehung zu ihr stehen. Denn während dort das Schwergewicht darauf liegt, das Besondere — wenngleich als Teil des Allgemeinen — zu verstehen, so geht es hier umgekehrt vorwiegend darum, das Allgemeine — wenngleich i m Besonderen — zu wahren. Beide Funktionen des Systems bei der Rechtsgewinnung sind also in der dialektischen Wechselwirkung zwischen dem A l l gemeinen und dem Besonderen miteinander verknüpft und aufeinander angewiesen, aber eben auch voneinander unterschieden. Was nun die Wirkungsweise des Systems bei der Wahrung der Einheit und Folgerichtigkeit i m Prozeß der Rechtsgewinnung angeht, so 44 Vgl. vor allem §§ 1 II, 2 I I 2. 45 Sie ist bereits sehr k l a r erkannt bei Kretschmar, Methode der P r i v a t rechtswissenschaft, a.a.O., S. 42 u n d Jher. Jb. 67, S. 273. 7 Canaris
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§ 5 System u n d
echtsgewinnung
kann sie sowohl konservativ als auch dynamisierend sein, kann also die Fortbildung des Rechts sowohl hemmen als auch vorantreiben. I m ersten Fall w i r d eine bestimmte Lösung als „systemwidrig" verworfen, i m zweiten als vom System geboten neu entwickelt; i m ersten F a l l geht es i m wesentlichen u m die Vermeidung von Wertungswidersprüchen, i m zweiten um die Feststellung von Lücken. 1. Die Vermeidung von Wertungswidersprüchen
Vor allem die erste Funktion des Systems w i r d nicht selten betont 4 5 a . So sieht es Larenz m i t Recht als ein „Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen" an, daß der neue Rechtssatz nicht i n Widerspruch zu dem gesetzlichen System tritt, sondern sich vielmehr „bruchlos i n das gegebene Ganze der Rechtsordnung einfügen" läßt 4 6 . Als Beispiel für eine systemwidrige und daher mißglückte Rechtsfortbildung nennt Larenz die Sicherungsübereignung 47. E i n weiteres Beispiel, das i n diesen Zusammenhang gehört, dürfte die „Anscheinsvollmacht" sein, wenn man sie so faßt, wie das heute Rechtsprechung und h. L. tun, wenn man sie also über das Handelsrecht hinaus auf das bürgerliche Recht ausdehnt und verschuldete Unkenntnis des Geschäftsherrn vom Auftreten des falsus procurator genügen läßt; denn nach der Irrtumsregelung des BGB besteht nun einmal bei fehlendem Erklärungsbewußtsein allenfalls eine Haftung auf das negative Interesse gemäß § 122 BGB, nicht aber eine Erfüllungshaftung wie bei der Rechtsscheinhaftung, und daran ändert sich auch nichts, wenn der I r r t u m bzw. die Unkenntnis verschuldet ist. Die Irrtumsregelung des BGB setzt daher einer Rechtsfortbildung i n dieser Richtung unübersteigbare Schranken, und Erscheinungen wie die Anscheinsvollmacht oder die Regeln über das kaufmännische Bestätigungsschreiben müssen deshalb i n einer Weise gefaßt werden, daß sie als eng umgrenzte, sachlich begründbare Ausnahmen von dieser grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzgebers, nicht aber als willkürliche Systembrüche erscheinen 48 . Anderenfalls ist die entscheidende Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen man i n ähnlichen Fällen zu einer Rechtsfortbildung schreiten darf, nicht zu lösen, und eine Fülle unzusammenhängender und widersprüchlicher Einzelentscheidungen, also Ungerechtigkeit und Rechtsunsicherheit sind die unausweichliche Folge. 45a v g l . zuletzt v o r allem Esser, Wertung, K o n s t r u k t i o n u n d Argument i m Z i v i l u r t e i l , 1965, S. 14 ff., der nachdrücklich auf die „ K o n t r o l l f u n k t i o n " systematischer Einordnungen hinweist. 46 Vgl. Kennzeichen geglückter richterlicher Rechtsfortbildungen, 1965, S. 6 ff., 13. 4 7 Vgl. a.a.O., S. 6 ff. 48 Vgl. Canaris, Die Vertrauenshaftung i m deutschen Privatrecht, 1971, S. 217 ff.
I I . Bedeutung des Systems f ü r die Wahrung der wertungsmäßigen Einheit
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Die praktische Bedeutung des Systems für die Vermeidung von Wertungswidersprüchen zeigt sich indessen nicht nur bei der Frage, ob das Recht überhaupt fortgebildet werden soll, sondern auch bei dem Problem, wie diese Fortbildung zu geschehen hat (nachdem ihre Zulässigkeit bereits anderweit festgestellt ist). Denn auch bei der Konkretisierung i m Gesetz nicht hinreichend ausgestalteter Rechtsprinzipien bedarf es zur Wahrung der inneren Einheit einer dogmatischen Einordnung 4 9 . So führt z. B. das Güterabwägungsprinzip erst durch seine dogmatische Verfestigung in dem Rechtfertigungsgrund des „übergesetzlichen" Notstands zu subsumtionsfähigen Normen, — wobei diese systematische Einordnung wieder von unmittelbarer praktischer Relevanz ist, etwa hinsichtlich der Möglichkeit von Notwehr gegen eine Notstandshandlung oder für die Frage eines Deliktanspruchs gegen den Notstandstäter. Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört die Konkretisierung des Prinzips des Persönlichkeitsschutzes. Hier hätte, wie oft genug betont worden ist, das System des BGB, genauer das Prinzip der Beschränkung des Deliktschutzes auf absolute Rechte, gefordert, daß nicht ein generalklauselartiges „allgemeines" Persönlichkeitsrecht, sondern statt dessen tatbestandlich fest umrissene einzelne Persönlichkeitsrechte gebildet würden. 2. Die Feststellung von Lücken
A u f der anderen Seite sollte man auch die Impulse zur Weiterbildung des Rechts, die vom Systemdenken ausgehen, nicht unterschätzen. Der Gedanke der Folgerichtigkeit und Einheit des Rechts beweist nämlich eine außerordentliche dynamisierende Kraft, sofern man i h n nur ernst nimmt und das Recht nicht resignierend als ein zufälliges Konglomerat historisch gewachsener Einzelentscheidungen versteht. Denn das Problem, ob ein bestimmtes Rechtsprinzip „systemtragend" ist, schließt die Frage ein, ob es „sinnkonstitutiv" für das fragliche Rechtsgebiet ist, und diese wiederum ist mit der Frage nach der „Allgemeinheit" eines Prinzips identisch. Hat man aber ein Prinzip erst einmal als „allgemein" erkannt, insbesondere sein rechtsethisches Gewicht und seine positiv-rechtliche Ranghöhe erfaßt, so kann es in Verbindung m i t dem Gebote wertungsmäßiger Folgerichtigkeit zu einer ungeahnten Fortbildung des Rechts führen: es geht um nichts anderes als um die Lücken} e st Stellung an Hand eines allgemeinen Prinzips 5 0 . Dementsprechend ist die folgerichtige Durchbildung des Systems auch insoweit 5 0 3 von Einfluß auf die Er4
9 Vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken, a.a.O., S. 162 f., 164 ff. Vgl. dazu eingehend Canaris, a.a.O., S. 93 ff. 50a Vgl. i m übrigen auch oben unter 12.
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gänzung der Rechtsordnung. Denn wenn ein „allgemeines" Prinzip herausgearbeitet wird, gebietet der Gleichheitssatz i n vielen Fällen die Anerkennung ungeschriebener Normen, und so ist es nicht verwunderlich, daß sich nicht selten aus scheinbar eng umgrenzten Einzeltatbeständen wie z. B. den §§ 122, 179, 307 BGB oder den §§ 171, 172, 405 BGB oder § 242 BGB neue systemtragende Institute gebildet haben: ihrem inneren Gewicht nach sind die in jenen Vorschriften verkörperten Wertungen „allgemein", und es konnte daher nicht ausbleiben, daß sie über kurz oder Ising System und Inhalt des geltenden Rechts maßgeblich beeinflußten. Es ist deshalb auch höchst anfechtbar, wenn der Rechtsprechung immer wieder zum Vorwurf gemacht wird, daß sie für die Fortbildung des Rechts „Aufhänger" i m Gesetz sucht. Man sollte das nicht als „positivistisches Relikt" abtun und das darin zutage tretende Streben nach Gesetzestreue nicht als Scheinbegründung kritisieren, sondern anerkennen, daß dahinter eine richtige methodologische und rechtsphilosophische Erkenntnis steht: es ist ungleich leichter, lediglich die „formale" Folgerichtigkeit einer Wertung darzutun, als ihre „materiale" Gerechtigkeit und Verbindlichkeit (de lege lata!) zu beweisen; und dementsprechend ist schon viel gewonnen, wenn man einen bestimmten Rechtsgedanken i n einer Vorschrift aufgedeckt hat und nun nur noch zu fragen braucht, warum er nicht „allgemein" gilt. Gewiß schließt auch diese Frage oft noch heikle Wertungsprobleme ein 5 1 , und gewiß ist man hier immer in Gefahr, sich in dem Zirkel zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zu verfangen, aber diese Schwierigkeiten sind i. d. R. doch weit geringer als die, die Verbindlichkeit eines Rechtsgedankens allein aus seiner materialen Gerechtigkeit abzuleiten 52 . 50 t r i t t neben die erste, gewissermaßen negative Funktion des Systems, das Entstehen von Wertungswidersprüchen zu verhindern, die zweite, gewissermaßen positive Funktion, das Recht entsprechend dem inneren Gewicht der i n i h m enthaltenen systemtragenden oder „allgemeinen" Prinzipien fortzuentwickeln; i n beiden Fällen geht es u m die Wahrung der Wertungseinheit, denn auch eine entgegen dem Gleichheitsgebot nicht ausgefüllte Lücke stellt einen Wertungswiderspruch (i. w. S.) dar. I I I . Der Wertungsgehalt gesetzlicher Konstruktionen Systematische Einordnungen schließen Wertungen i n sich. Das gilt nicht nur für die Systembildung durch Wissenschaft und Recht51
die über die Probleme einer bloßen Einzelanalogie w e i t hinausreichen! Z u m Verhältnis von System u n d materialer Gerechtigkeit vgl. i m übrigen auch unten I V 3. 52
I I I . Der Wertungsgehalt gesetzlicher Konstruktionen
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sprechung, sondern folgerichtig auch für die „Konstruktionen" des Gesetzgebers 53. Dies verkannt zu haben, war einer der schwerwiegendsten Fehler Hecks und der lnteressenjurisprudenz bei ihrer Systemk r i t i k ; denn die Annahme, der Richter sei an die Konstruktionen des Gesetzgebers nicht gebunden und dürfe diese berichtigen wie ein Redaktionsversehen (!) 54 , durchbricht i n einer wichtigen Frage den sonst auch von der Interessenjurisprudenz beachteten Grundsatz der Gesetzestreue. Dies hat denn auch, wie nicht anders zu erwarten, in praktischen Fragen zu Fehlentscheidungen geführt. Eines der bekanntesten Beispiele, das Heck bezeichnenderweise selbst als charakteristisch für seine methodische Konzeption ansieht 55 , ist seine Lehre von der „Zweckgemeinschaft" zwischen Forderung und dinglicher Sicherung. Er polemisiert gegen das „Anlehnungsdogma", nach dem das Sicherungsrecht gegenüber der Forderung akzessorisch ist, und setzt an dessen Stelle die Theorie der Zweckgemeinschaft, nach der Forderung und Sicherheit, weil sie wirtschaftlich in gleicher Weise auf Befriedigung des Gläubigerinteresses gerichtet sind, auch rechtlich i n einer „paritätischen" Gemeinschaft stehen; entgegen der gesetzlichen Konstruktion sei das Verhältnis von Forderung und dinglicher Sicherheit dementsprechend nicht wie das von Forderung und Bürgschaft, sondern wie das mehrerer Gesamtschuldforderungen zueinander anzusehen 56 . Diese Ansicht hat sich m i t Recht nicht durchzusetzen ver53 Höchst anfechtbar ist dementsprechend die verbreitete Behauptung, der Gesetzgeber könne „nicht dogmatische Einsichten, sondern n u r Rechtsfolgen vorschreiben". Zutreffend ist zwar, daß der Gesetzgeber nicht die Richtigkeit einer bestimmten Theorie als solcher statuieren kann, doch kann er sich durch die Rechtsfolgen f ü r sie entscheiden. Daher sind zwar dogmatische Formulierungen, die der Gesetzgeber gebraucht hat, u n d auch seine erkennbare Stellungnahme zugunsten bzw. zuungunsten einer bestimmten Theorie nicht ohne weiteres f ü r die Wissenschaft maßgeblich, doch ist diese dann gebunden, w e n n sich die angeordneten Rechtsfolgen n u r m i t Hilfe der fraglichen Theorie erklären lassen bzw. wenn sie zu i h r i n Widerspruch stehen. — Ähnlich problematisch ist auch die Warnung an den Gesetzgeber, er solle sich einer Stellungnahme zu wissenschaftlichen Theorienstreiten enthalten. Zwar sollte sich dieser i n der T a t vor „doktrinärer Konsequenzmacherei" hüten u n d vor sachlich angemessenen Differenzierungen auch dort nicht zurückschrecken, wo sich diese (noch) nicht theoretisch oder systematisch „erklären" lassen, doch ist andererseits nichts so gefährlich wie ein „fauler" Kompromiß zwischen mehreren Theorien; denn dieser muß notwendig zu Wertungswidersprüchen u n d zu Störungen der inneren Einheit der Rechtsordnung, damit aber zu Ungerechtigkeiten führen, und so ist auch i n diesem Zusammenhang nachdrücklich zu betonen, daß auch der Gesetzgeber an den Systemgedanken gebunden ist (sogar i m verfassungsrechtlichen Sinne!), vgl. näher unten § 6 1 4 . 54 Vgl. Heck, a.a.O., S. 86 f. u n d für das i m folgenden behandelte Beispiel Sachenrecht, § 7 8 I V 2; ferner Stoll Jher. Jb. 75, S. 171, Fn. 2 m i t Nachw.; anders u n d richtig aber Rümelin, a.a.O., S. 351 f. ss Vgl. Sachenrecht, Vorwort, S. I I I , Fn. 1. 36 Vgl. Sachenrecht, § 78; vgl. auch § 82 u n d § 101, 6.
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mocht. Denn es handelt sich hier keineswegs um eine „wertungsfreie Begriffskonstruktion" 5 7 , sondern um eine Wertung im Gewände der Konstruktion. M i t Recht sagt Westermann, „Wortlaut und System des Gesetzes" hätten „die Forderung und die Hypothek eindeutig i n das Verhältnis von zuständigkeitsbestimmendem und -bestimmtem Recht gesetzt" und daran sei die Rechtsanwendung gebunden; und mit Recht fügt er hinzu, dieses Verhältnis entspreche auch „der wirtschaftlichen Vorstellung, die sich nicht, wie Heck annimmt, nur durch die Sicherheit bestimmen läßt, sondern für den Regelfall an den gewöhnlichen Ablauf der Dinge denkt, d. h. an die Bezahlung der Forderimg" 5 8 . Die Konstruktion ist hier also nicht einmal „lebenswidrig", sie wäre aber selbst i n diesem Falle bindend, da das Gesetz die Lebensphänomene auch sachwidrig, d. h. der Natur der Sache widersprechend bewerten kann, ohne — von Fällen barer W i l l k ü r i. S. d. Art. 3 GG abgesehen — darum allein schon seine Verbindlichkeit einzubüßen 69 . Gänzlich verfehlt ist es daher, wenn Heck seine Theorie sogar auf die Grundschuld überträgt und hier aus der wirtschaftlichen Zweckgemeinschaft eine rechtliche Schicksalsgemeinschaft mit der gesicherten Forderung herleitet 6 0 mit der Folge, daß Veränderungen i m Bestand des einen Rechts ohne weiteres i n gleicher Weise auch das andere ergreifen. Das Gesetz hat vielmehr in Hypothek und Grundschuld zwei verschiedene Typen zur Verfügung gestellt, und wenn sich die Parteien für die Grundschuld, also für den Typus, der dem Gläubiger eine stärkere Stellung gewährt, entscheiden, so wählen sie damit gleichzeitig eben auch eine verschiedene, den Gläubiger bevorzugende Interessenbewertung. Ein zweites ähnlich anschauliches Beispiel bietet die Frage, ob der gutgläubige Erwerb eines in Wahrheit nicht bestehenden Pfandrechts, also der Zweit-, D r i t t - oder Vierterwerb vom scheinbar Pfandberechtigten möglich ist. Die h. L . 6 1 verneint das unter Hinweis auf die Konstruktion der Pfandrechtsübertragung in § 12501 1 BGB: das Pfandrecht geht unabhängig von der Übergabe der Sache ipso iure mit Abtretung der Forderung auf den neuen Gläubiger über, und daher fehlt es an einer der typischen Voraussetzungen des gutgläubigen Erwerbs i m Mobiliarsachenrecht, nämlich an der Erfüllung des Traditionsprinzips. Heck vertritt unter Berufung auf die Bedürfnisse 57 So Heck, a.a.O., § 7 8 I V 2 a. 5 ® Vgl. Sachenrecht, 5. Aufl. 1966, §93 I I 4 c; vgl. auch § 114111c (für die Grundschuld) u n d § 126 13 (für das Pfandrecht). 59 Vgl. auch unten § 6 14 b. 60 Vgl. a.a.O., § 100, 5 a ; dagegen m i t Recht z.B. Wolff-Raiser, Sachenrecht, 10. A u f l . 1957, §13212 m i t Fn. 7; Westermann, a.a.O., §116 I I l a . ei Vgl. statt aller Wolff-Raiser, a.a.O., §170111 m i t Fn. 4; Baur, Sachenrecht, 4. Aufl. 1968, § 55 Β V 3.
I I I . Der Wertungsgehalt gesetzlicher Konstruktionen
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des Lebens d i e Gegenansicht u n d m e i n t , „ d i e S c h u t z w ü r d i g k e i t des Erwerbers" dürfe nicht „ a n der unrichtigen juristischen K o n s t r u k t i o n des V o r g a n g s s c h e i t e r n " 6 2 . Westermann schließt sich d e m an, w e i l n i c h t ersichtlich sei, daß das Gesetz das P f a n d r e c h t n i c h t als V e r k e h r s g e g e n s t a n d b e h a n d e l n w o l l e 6 3 . Z u f o l g e n ist d e r h. L . W e s t e r m a n n h a t z w a r durchaus d e n r i c h t i g e n G e s i c h t s p u n k t herausgearbeitet, n u r m u ß die A n t w o r t g e n a u u m g e k e h r t l a u t e n : indem das Gesetz das P f a n d r e c h t h i n s i c h t l i c h d e r Ü b e r t r a g u n g als unselbständiges Annex (!) d e r F o r d e r u n g b e h a n d e l t 6 4 , d i e i h r e r s e i t s eben n i c h t als V e r k e h r s g e g e n s t a n d ausgestaltet ist, g i b t es gerade zu e r k e n n e n 6 5 , daß es auch dieses n i c h t als V e r k e h r s g e g e n s t a n d a n s i e h t ; d e n n n u r so l ä ß t sich § 1250 ü b e r h a u p t s i n n v o l l u n d u n t e r V e r m e i d u n g eines W e r t u n g s w i d e r s p r u c h s v e r s t e h e n : d i e U n t e r s t e l l u n g u n t e r d i e R e g e l n des Zessionsrechts m u ß f ü r e i n bloßes „ A n n e x " f o l g e r i c h t i g auch h i n s i c h t l i c h des g r u n d s ä t z l i c h e n Ausschlusses g u t g l ä u b i g e n E r w e r b s , w i e e r diesem Rechtsgebiet n u n e i n m a l e i g e n t ü m l i c h ist, gelten 6 6 » * 7 . W i e d e r e n t h ä l t also die K o n s t r u k t i o n die W e r t u n g 6 8 , u n d die K o n s t r u k t i o n f ü r irrelevant z u e r k l ä r e n , b e d e u t e t d a h e r zugleich, d i e W e r t u n g z u m i ß a c h t e n . 62
Vgl. a.a.O., § 105 V. Vgl. a.a.O., § 132 1 1 b. 64 Der Annexcharakter, also der Verzicht auf eine konstitutive W i r k u n g der Übergabe ist entscheidend, nicht die Tatsache, daß es sich u m Erwerb k r a f t Gesetzes handelt; denn letzteren Gesichtspunkt könnte man m i t dem E i n w a n d begegnen, § 12501 trage lediglich dem mutmaßlichen Parteiwillen Rechnung und es liege daher eine A r t gesetzlich vertypten rechtsgeschäftlichen Übergangs vor, so daß ein Verkehrsschutzbedürfnis i m Gegensatz zum Normalfall gesetzlichen Erwerbs durchaus zu bejahen sei. w Das gilt jedenfalls v o m Standpunkt der objektiven Theorie aus! I m übrigen ist der Ausschluß des gutgläubigen Erwerbs aber sogar von den Gesetzesverfassern beabsichtigt (vgl. Mot. I I I , S. 837 unter 2), so daß auch die Anhänger der subjektiven Theorie die Entscheidung als bindend anerkennen müssen. 66 Bei der Hypothek hat das B G B folgerichtig die A b t r e t u n g der Forderung den Regeln des Liegenschaftsrechts unterstellt! 67 Selbst wenn die Übergabe konstitutiv wäre, die Pfandrechtsübertragung also den Regeln des Mobiliarsachenrechts folgte, wäre die Zulassung gutgläubigen Erwerbs übrigens äußerst bedenklich. Denn der Besitz verlautbart nach dem B G B zwar das Eigentum, keineswegs aber ohne weiteres auch ein Pfandrecht; es ist nämlich zwar sehr wahrscheinlich, daß der Besitzer zugleich Eigentümer ist, doch spricht keine annähernd vergleichbare Wahrscheinlichkeit dafür, daß der besitzende Nichteigentümer — der D r i t t e kennt hier ja das mangelnde Eigentum! — Pfandgläubiger ist: er k a n n ebensogut Leiher, Mieter, Kommisionär usw. sein. I n richtiger E r k e n n t nis dieser Lage hat das Gesetz den Schutz des guten Glaubens an die Verfügungsmacht grundsätzlich abgelehnt, u n d es wäre ein Wertungswiderspruch hierzu, den guten Glauben an das Bestehen eines Pfandrechts, h i n sichtlich dessen der bloße Besitz keine sicherere Grundlage bietet als hinsichtlich der Verfügungsbefugnis, zu schützen. Aus diesen Erwägungen w i r d man übrigens auch § 1006 nicht über § 1227 zur Anwendung bringen können. 68 Daß Westermann, a.a.O., dies hier leugnet u n d sich Heck anschließt, orscheint angesichts seiner entgegengesetzten Stellungnahme (vgl. allgemein 63
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§ 5 System u n d Rechtsgewinnung
Daß gesetzliche Konstruktionen Wertungen i n sich schließen, ist i m übrigen auch bei der Rechtsfortbildung zu beachten. Praktische Bedeutung gewinnt dieser Gesichtspunkt z. B. hinsichtlich der Übertragung einer Vormerkung. Diese ist gesetzlich nicht ausdrücklich geregelt, und die ganz h. L. löst das Problem daher durch eine analoge Anwendung des § 401 BGB, so daß die Vormerkung ipso iure m i t Abtretung der gesicherten Forderung übergeht 69 . Damit ist nun aber, was oft nicht hinreichend beachtet wird, zugleich die Entscheidung über die Frage gefällt, ob der gutgläubige Zweit-, Dritt-, Vierterwerb einer Vormerkung vom eingetragenen Nicht-Vormerkungsberechtigten möglich ist. Es gilt dann nämlich genau das gleiche, was soeben zu dem entsprechenden Problem beim Pfandrecht ausgeführt wurde: da es sich um einen Erwerb außerhalb des Grundbuchs (!), also nach den Regeln des Zessionsrechts und nicht nach denen des Liegenschaftsrechts handelt 7 0 , ist ein gutgläubiger Erwerb ausgeschlossen71. Die Unterstellung der Vormerkungsübertragung unter § 401 statt unter § 873 BGB kann nämlich nur den Sinn haben, daß man i n dieser nicht ein liegenschaftsrechtliches Verkehrsrecht, sondern lediglich ein unselbständiges Sicherungsmittel für die Forderung, ein Annex derselben sieht, und so wenig wie hinsichtlich dieser kann es folgerichtig hinsichtlich jener einen gutgläubigen Erwerb geben 72 . M i t der ersten Frage ist also auch die zweite entschieden; über die Lösung der ersten läßt sich streiten, die Lösung der zweiten dagegen ist vorgezeichnet, und jede Abweichung muß zu einem Widerspruch gegenüber der i n der ersten Frage getroffenen Wertung führen, — w o r i n sich wieder zeigt, welch hohe Bedeutung dem System für die Gewährleistung der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit zukommt. IV. Die Schranken der Rechtsgewinnung aus dem System Wenn i n den bisherigen Ausführungen die Bedeutung des Systems für die Rechtsgewinnung stärker betont wurde, als das heute meist § 93 I I 4 c u n d für das Pfandrecht § 12613) zu Hecks Polemik gegen das „Akzessorietätsdogma" nicht folgerichtig; denn auch f ü r die Fassung des § 12501 1 hat die grundsätzliche Entscheidung des Gesetzgebers für die Akzessorietät der dinglichen Sicherheiten unstreitig eine maßgebliche Rolle gespielt, u n d so bezieht sich Heck, a.a.O., denn auch ausdrücklich auf seine allgemeine Ablehnung des „Akzessorietätsdogmas". es Vgl. statt aller RGZ 142, 331 (333); Baur t a.a.O., § 2 0 V i a ; Westermann, a.a.O., § 8 4 V I . 7° Unerheblich ist dagegen, daß es sich u m Erwerb k r a f t Gesetzes handelt; Fn. 64 gilt entsprechend. Sehr s t r i t t i g ; zur Problematik vgl. vor allem Β G H Z 25, 16 (23); Medicus, A c P 163, I f f . (8 ff.); Reinicke, N J W 64, S. 2373 ff. (2376 ff.); Baur, a.a.O., § 2 0 V i a ; Westermann, a.a.O., § 8 5 I V 4 , w o a.E. auch zur methodo-
I V . Die Schranken der Rechts gewinnung aus dem System
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üblich ist, so darf man diese doch andererseits auch nicht überschätzen und insbesondere die Grenzen nicht übersehen, die der systematischen Rechtsfindung gesetzt sind 7 3 . Insoweit lassen sich mehrere Aspekte unterscheiden. 1. Die Notwendigkeit teleologischer Kontrolle
Eine erste Schranke ergibt sich aus dem teleologischen Charakter aller richtig verstandenen Systemargumente. Es ist nämlich zu beachten, daß das System die i n Frage stehende Wertung mitunter nicht adäquat formuliert und daß daher stets eine — zumindest implizite — teleologische Kontrolle dahingehend erforderlich ist, ob der dem System entnommene Obersatz oder Oberbegriff usw. den gemeinten wertungsmäßigen Gehalt auch zutreffend und vollständig wiedergibt. So ist z. B. der nicht selten als Systemargument verwendete Satz, bei Erwerb kraft Gesetzes komme ein Gutglaubensschutz nicht i n Betracht, nur sehr bedingt brauchbar. Zwar beruht er auf der richtigen Einsicht, daß sich der ex-lege-Erwerb unabhängig vom Parteiwillen vollzieht und daß es daher regelmäßig an dem für den gutgläubigen Erwerb unerläßlichen Verkehrsschutzbedürfnis fehlt, doch geht er in seiner Formulierung über diese seine „ratio" hinaus. Das aber ist deshalb gefährlich, weil er i n dieser Form nicht auf alle Tatbestände gesetzlichen Erwerbs zutrifft 7 4 , da ein ex-legeUbergang u. U. auch nur die rechtstechnische Einkleidung einer (mittelbar) rechtsgeschäftlichen Übertragung sein kann 7 5 . So dürfte z. B. das „gesetzliche" Werkunternehmerpfandrecht nach § 647 BGB i n Wahrheit ein lediglich gesetzlich typisiertes „rechtsgeschäftliches" Pfandrecht sein, so daß die Möglichkeit gutgläubigen Erwerbs zu bejahen ist 7 6 : § 647 ordnet nur an, was die Parteien typischer- und vernünftigerlogischen Problematik ausdrücklich Stellung genommen und entgegen den Ausführungen des Textes der Wertungsgehalt der Konstruktion verneint wird dazu aberi noben 72 Z(vgl. u m Einwand, §401Fn. sei68). auch die Hypothek genannt u n d auf diese
träfen die Ausführungen des Textes nicht zu, vgl. oben Fn. 66. 73 Vgl. dazu auch Berschel, B B 66, S. 791 ff., der jedoch vorwiegend die Argumentation aus dem „äußeren" System i m Auge hat. 74 So geht die Hypothek gemäß §11531 B G B k r a f t Gesetzes (!) m i t der Übertragung der Forderung über, und gleichwohl ist nicht zu bezweifeln, daß sie nach § 892 B G B gutgläubig erworben werden kann. Auch m i t §366111 H G B ist der kritisierte Satz i n seiner Allgemeinheit nicht zu vereinbaren. 75 Das ist sicher bei §11531 B G B der Fall, dürfte aber z.B. auch auf §401 u n d § 1250 B G B zutreffen; i n den beiden letzteren Fällen ist allerdings gleichwohl kein gutgläubiger E r w e r b möglich, vgl. oben I I I a. E. 76 Z u der umstrittenen Frage vgl. statt aller einerseits B G H Z 34, 122 u n d 153 u n d andererseits Westermann a.a.O., § 1331 m i t ausführlichen Nachweisen.
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§ 5 System u n d Rechtsgewinnung
weise selbst vereinbaren würden 7 7 . Der zum Systemargument verfestigte Satz über die Versagung des Gutglaubensschutzes bei Erwerb kraft Gesetzes ist daher nur verwertbar, wenn man ihn vor dem Hintergrund des ihn — i m Grundsatz — tragenden Rechtsgedankens sieht und gegebenenfalls (im Wege einer A r t „teleologischer Reduktion") entsprechend einschränkt. 2. Die Möglichkeit einer Fortbildung des Systems
Eine zweite wesentliche Schranke der Rechtsgewinnung aus dem System ergibt sich aus der (im vorletzten Paragraphen eingehend erörterten) Offenheit des Systems. Aus dieser folgt nämlich, daß man die Feststellung, das (bisherige) System fordere oder widerlege eine bestimmte Lösung, nicht ohne weiteres als endgültiges Ergebnis hinnehmen darf, sondern vielmehr zusätzlich noch die Möglichkeit einer Fortbildung des Systems zu prüfen hat; was einmal systemrichtig schien oder es sogar war, kann sich also u. U. schon wenig später als überholt erweisen. Dementsprechend muß man sich bei der Rechtsgewinnung aus dem System vor dem Mißverständnis hüten, daß das System stets fertig vorgegeben sei und ohne weiteres die jeweiligen Problemlösungen bereithielte. Vielmehr gilt auch f ü r das System, was Engisch 78 für den — diesem ja zugrunde liegenden — Gedanken der „Einheit der Rechtsordnung" ausgeführt hat: es ist nicht nur Axiom, sondern auch Postulat, nicht n u r vorgegeben, sondern auch aufgegeben, und das bedeutet für das Verhältnis von Systembildung und Rechtsgewinnung, daß zwischen diesen nicht eine einseitige A b hängigkeit, sondern eine Wechselbeziehung 79 besteht: wie das System die Rechtsgewinnung beeinflußt, so erfolgt auch umgekehrt die volle Ausbildung des Systems erst i m Prozeß der Rechtsgewinnung. Außer unter dem Vorbehalt „teleologischer Kontrolle " steht somit jedes Systemargument auch noch unter dem der Möglichkeit einer Fort - oder Umbildung des Systems 60. 3. Systemrichtigkeit und materiale Gerechtigkeit
Vorsicht ist dagegen geboten, wenn eine „systemrichtige" Lösung unter Berufung auf die „materiale Gerechtigkeit " bekämpft w i r d 8 1 . 77 Gäbe es § 647 B G B nicht, so hätte die Kautelarjurisprudenz die stellung eines Pfandrechts längst i n die A G B der Werkunternehmer genommen, u n d § 1207 B G B wäre dann u n m i t t e l b a r anwendbar! 78 Vgl. Die Einheit der Rechtsordnung, S. 69 f. (vgl. auch S. 83 f.); stimmend Larenz, Methodenlehre, S. 135 f. 79 Diese w i r d man w o h l nur als dialektische verstehen können. so Hinsichtlich der Einzelheiten k a n n auf die Ausführungen oben § 3 wiegen werden; vgl. dort insbesondere I V .
Beaufzuver-
I V . Die Schranken der Rechtsgewinnung aus dem System
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Denn der Gegensatz, der bei einer solchen Argumentation unterstellt wird, besteht grundsätzlich keineswegs; i m Gegenteil: das System als der Inbegriff aller eine Rechtsordnung tragenden Grundwertungen bringt geradezu die materiale Gerechtigkeit, wie diese sich i n der jeweiligen positiven Rechtsordnung verwirklicht hat, zur Darstellung, und mit Recht hat daher Coing das System als den Versuch bezeichnet, „das Ganze der Gerechtigkeit i m Hinblick auf eine bestimmte Form des gesellschaftlichen Lebens i n einer Summe rationaler Prinzipien zu erfassen" 82 , und hat Latenz es sogar mit der „geschichtlich konkretisierten Rechtsidee" gleichgesetzt 83 . Es ist deshalb i n diesem Zusammenhang einmal mehr nachdrücklich zu betonen, daß Systemargumente ex definitione nichts anderes darstellen als das am Gleichheitssatz ausgerichtete „Zuendedenken" der Grundwertungen des Gesetzes und daß sie ihre Legitimität und Durchschlagskraft daher gleichermaßen aus der Autorität des positiven Rechts und der Dignität des Gerechtigkeitsgebotes gewinnen. Wie fragwürdig der Versuch ist, unter Berufung auf die materiale Gerechtigkeit systematisch gebotene Lösungen hintanzusetzen, sei an einem besonders charakteristischen Beispiel aus dem Arbeitsrecht veranschaulicht. Bekanntlich entspricht es ständiger Rechtsprechung und herrschender Lehre, daß ein Arbeitnehmer dem Arbeitgeber bei „schadensgeneigter Tätigkeit" unter bestimmten Voraussetzungen nicht oder wenigstens nicht i n vollem Umfang schadensersatzpflichtig ist, obwohl an sich die Voraussetzungen einer „positiven Forderungsverletzung" oder einer unerlaubten Handlung vorliegen. So unumstritten dies nun i m Grundsatz ist, so ungeklärt sind die Einzelheiten, und dabei besteht vor allem Streit über die Frage, welche Umstände für die Bejahung eines Schadensersatzanspruchs und für seine Höhe in concreto maßgeblich sind; insbesondere ist zweifelhaft, ob i n diesem Zusammenhang auch „soziale" Gesichtspunkte wie Alter, Familienstand und Vermögensverhältnisse des Arbeitnehmers heranzuziehen sind. Letzteres widerspricht nun aber eindeutig dem System des Bürgerlichen Rechts, das sowohl hinsichtlich des Grundes der Ersatzpflicht als auch hinsichtlich ihrer Höhe (§ 254 BGB!) grundsätzlich nur Zurechnungskriterien, nicht aber auch soziale Gesichtspunkte der erwähnten A r t berücksichtigt. Systemkonform ist daher allenfalls eine Lösung, die ausschließlich auf Zurechnungselementen aufbaut und etwa gegenüber dem schuldhaften Unrecht auf Seiten des Arbeit81 Typisch ist die — regelmäßig v ö l l i g unreflektiert gebrauchte — Formel, die Systemrichtigkeit oder Systemeinheit dürfe nicht „auf Kosten der materialen Gerechtigkeit gehen". 82 Vgl. zur Geschichte des Privatrechtssystems, S. 28. S3 Vgl. Festschrift für Nikisch, S. 304.
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§ 5 System und Rechtsgewinnung
nehmers den Gedanken der Risikozurechnung auf Seiten des Arbeitgebers anspruchsmindernd oder -ausschließend ins Spiel bringt 8 4 . Die Gegenansicht n i m m t denn auch nicht für sich i n Anspruch, sie sei „systemrichtig", sondern versucht ihre Systemwidrigkeit — ausdrücklich oder der Sache nach — durch die Berufung auf angebliche Forderungen der materialen Gerechtigkeit zu rechtfertigen 85 , die hier auf Grund der besonderen Natur des Arbeitsverhältnisses eine Abweichung von den allgemeinen Prinzipien unseres Schadensersatzrechts nötig machen sollen. Läßt sich nun aber w i r k l i c h behaupten, i m Arbeitsverhältnis entspreche bei der Festlegung einer Schadenersatzpflicht n u r 8 6 die Berücksichtigung der Vermögensverhältnisse, des Familienstandes usw. der materialen Gerechtigkeit? Die Frage stellen heißt sie verneinen. Man kann es i m Gegenteil sogar als ausgesprochene Ungerechtigkeit ansehen, wenn z. B. ein Arbeitnehmer, der zufällig eine Erbschaft gemacht hat oder der noch ledig ist, bei sonst gleichen Umständen dem Arbeitgeber eine größere Schadensersatzsumme zahlen muß als sein ärmerer bzw. verheirateter Kollege! Was hier der materialen Gerechtigkeit entspricht, läßt sich daher i n Wahrheit nicht a priori feststellen, sondern ist nur vor dem Hintergrund des jeweiligen positiven Rechts, in dem die Gerechtigkeit ihre konkrete V e r w i r k 84 Z u dieser Ansicht vgl. vor allem Gamillscheg-Hanau, Die Haftung des Arbeitnehmers, 1965, S. 34 ff.; Larenz, Schuldrecht B. T., § 4 8 I I d ; Canaris, R d A 66, S. 45 ff. 85 Charakteristisch zuletzt Wiedemann , Das Arbeitsverhältnis als Austausch- u n d Gemeinschaftsverhältnis, 1966, S. 20. Den V o r w u r f , die A n f o r derungen der materialen Gerechtigkeit w ü r d e n u m der Systemeinheit w i l l e n zurückgesetzt, kann m a n übrigens leicht umkehren u n d gegen Wiedemann selbst erheben; denn die von i h m seinerseits vorgenommene andersartige systematische Einordnung zwingt i h n dazu, die Regeln über die schadensgeneigte A r b e i t auf Arbeitsverhältnisse zu beschränken, u n d das kann, w i e vor allem der vom B G H entschiedene „Autoüberführungsfall" (AP Nr. 28 zu § 611 B G B Haftung des Arbeitnehmer m. A n m . A. Hueck) deutlich gemacht hat, zu erheblichen Unbilligkeiten führen. Letzteres scheint auch Wiedemann selbst zu spüren, doch k a n n er von seinem Ausgangspunkt aus n u r von F a l l zu F a l l m i t einer „stillschweigenden Verabredung" einer abweichenden Risikoverteilung helfen (vgl. S. 19); die Annahme „ s t i l l schweigender" Parteiabreden aber ist wegen ihres f i k t i v e n Charakters bekanntlich nahezu immer ein untrügliches Indiz dafür, daß eine Scheinbegründung vorliegt u n d daß dementsprechend die Prämissen der K o r r e k t u r bedürfen. I m übrigen spielt auch bei Wiedemann der Risikogedanke eine so maßgebliche Rolle (vgl. vor allem die Ausführungen S. 18 f., die i m Grundsatz vollen Beifall verdienen, w e n n auch der Autoüberführungsfall m. E. anders zu entscheiden gewesen wäre, vgl. RdA 66, S. 48), daß nicht recht verständlich ist, w a r u m er i h n dann doch nicht als tragenden Rechtsg r u n d der Haftungseinschränkung anerkennen u n d so die Wiedereingliederung dieses Instituts i n das System unseres Schadensersatzrechts ermöglichen will. 80 Wenn auch die systemkonforme Gegenansicht als material gerecht anerkannt werden muß, ist der Forderung nach Berücksichtigung sozialer Umstände ohne weiteres der Boden entzogen.
I V . Die Schranken der Rechtsgewinnung aus dem System
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lichung gefunden hat, zu entscheiden, und dieses steht hier, wie gesagt, der Berücksichtigung derartiger sozialer Gesichtspunkte eindeutig entgegen. Das Beispiel der schadensgeneigten Arbeit ist in diesem Zusammenhang indessen noch i n anderer Hinsicht lehrreich. Denn auch wenn man die Lösung mit der hier befürworteten Ansicht lediglich aus dem Zusammenspiel spezifischer Zurechnungselemente auf beiden Seiten herleitet, so handelt es sich doch nicht geradezu u m ein Musterbeispiel von Systemtreue, da das geschriebene Recht schließlich nicht den geringsten Anhaltspunkt für eine Einschränkung der Haftung des Arbeitnehmers gegenüber dem Arbeitgeber enthält. I n Wahrheit ist vielmehr nicht zu leugnen, daß sich hier i n der Tat Anforderungen der materialen Gerechtigkeit gegen das (ursprüngliche) System unseres Schadensersatzrechts durchgesetzt und zur Herausbildung eines neuen, ungeschriebenen Zurechnungsgrundes geführt haben. Es soll denn auch keineswegs geleugnet werden, daß i n besonderen Fällen einmal ein Konflikt zwischen Systemrichtigkeit und materialer Gerechtigkeit entstehen und daß dieser u. U. auch zugunsten der letzteren entschieden werden kann; denn, wie i n § 3 eingehend dargelegt, ist das System „offen", also einer Wandlung zugänglich, und eine solche Fortbildung desselben kann durchaus auch auf Anforderungen der materialen Gerechtigkeit zurückgehen 87 . Unter welchen Voraussetzungen diesen dabei der Vorrang gebührt, ist allerdings keine spezifische Frage der Systemproblematik, sondern gehört i n den Zusammenhang der Zulässigkeit richterlicher Rechtsfortbildung, insbesondere der Rechtsfindung m i t Hilfe der „außergesetzlichen Rechtsordnung", und kann daher hier nicht näher erörtert werden 8 8 . Immerhin folgt aus dem Gesagten ohne weiteres — und das ist an dieser Stelle allein entscheidend —, daß Gesichtspunkte der materialen Gerechtigkeit nicht ohne weiteres den Systemargumenten entgegengesetzt werden können, sondern daß hierzu vielmehr die besondere (und meist sehr schwierige) Rechtfertigung erforderlich ist, deren jede Rechtsfortbildung und insbesondere eine solche, die sich auf außergesetzliche Kriterien stützt, bedarf 89 . Was das Institut der schadensgeneigten 87 Vgl. i n diesem Zusammenhang vor allem § 3 I I und I V 1, insbesondere S.70f. 88 M. E. ist eine derartige Rechtsfortbildung — von den krassen Fällen „gesetzlichen Unrechts" abgesehen — unter der doppelten Voraussetzung zulässig, daß einerseits die Wertungen des positiven Rechts nicht entgegenstehen und daß andererseits ein „allgemeines Rechtsprinzip" sie fordert, das seinen Geltungsgrund entweder i n der „Rechtsidee" oder i n der „ N a t u r der Sache" findet; vgl. näher Canaris, Die Feststellung von Lücken, a.a.O., S. 95f., 106 ff., 118 ff. und oben S. 69 f. 89 Vgl. dazu näher die vorige Fn.
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§ 5 System und Rechtsgewinnung
Arbeit betrifft, so leuchtet es unmittelbar ein, daß diese Rechtfertigung sich weit eher dafür geben lassen wird, daß die Haftung des Arbeitnehmers überhaupt eingeschränkt w i r d 9 0 , als zusätzlich noch dafür, daß dabei entgegen dem System unseres Schadensersatzrechts soziale Umstände wie die Vermögensverhältnisse, der Familienstand usw. zu berücksichtigen sind, — ganz abgesehen davon, daß jede Fortbildung und Modifizierung des Systems nicht weitergehen darf, als es der Anlaß erfordert 9 1 . Zusammenfassend ist demnach zu sagen: Die systemrichtige Lösung ist i m Zweifel die de lege lata verbindliche, und sie ist grundsätzlich auch als die unter der Herrschaft einer bestimmten positiven Rechtsordnung gerechte anzuerkennen; systemfremde Gesichtspunkte materialer Gerechtigkeit können gegenüber Systemargumenten nur dann den Vorrang beanspruchen, wenn die besonderen Voraussetzungen vorliegen, unter denen eine Fortbildung des gesetzten Rechts auf Grund außer-positivrechtlicher Kriterien zulässig ist. 4. Die Grenzen der Systembildung als Grenzen der Rechtsgewinnung aus dem System
Die bisher gemachten Vorbehalte gegenüber der Rechtsgewinnung aus dem System stellten nicht eigentliche Beeinträchtigungen derselben dar, sondern bildeten nur sozusagen immanente Schranken; denn sowohl die Notwendigkeit teleologischer Kontrolle als auch die Möglichkeit einer Fortbildung des Systems — und letzterer sind ja auch die wenigen Fälle zuzurechnen, i n denen sich die materiale Gerechtigkeit gegenüber der Systemrichtigkeit durchzusetzen vermag — bedeuten i m Grunde nur die selbstverständliche Konsequenz aus bestimmten Eigenschaften des Systems, die ganz unabhängig von der Problematik der Rechtsgewinnung feststehen: aus seinem teleologischen Charakter und aus seiner „Offenheit". Demgegenüber gibt es jedoch auch Fälle, in denen echte — und höchst störende! — Beeinträchtigungen der Rechtsgewinnung aus dem System vorliegen. Es wäre nämlich nicht nur naiv, zu glauben, daß sich aus dem System jede Rechtsfrage lösen ließe, sondern es kommt darüber hinaus auch vor, daß die so W o r i n sie genau liegt, ist eine arbeitsrechtliche Frage, der i n diesem Zusammenhang nicht i m einzelnen nachzugehen ist. Letztlich entscheidend dürfte i n der Tat die besondere N a t u r des Arbeitsverhältnisses (und v e r wandter Verträge) u n d die gegenüber anderen Verträgen atypische Risikolage sein (zur eigenen Ansicht vgl. näher R d A 66, S. 45 ff.) ; methodologisch gesehen geht es also u m eine Argumentation m i t H i l f e eines aus der „ N a t u r der Sache" legitimierten allgemeinen Rechtsprinzips (des Risikoprinzips). 91 Daß das hinsichtlich der Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte hier nicht der F a l l ist, wurde oben schon dargelegt.
IV. Die Schranken der Rechtsgewinnung aus dem System
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systemrichtige Entscheidung mit dem geltenden Recht unvereinbar ist: Systemlücken und Systembrüche sind dem Juristen eine vertraute Erscheinung. Hier sieht sich die Rechtsgewinnung aus dem System naturgemäß vor unüberwindliche Schranken gestellt, und es sind das dieselben, die der Systembildung überhaupt gezogen sind. Diese letzteren aber stellen einen eigenständigen Problemkreis dar, dem für die Rolle des Systemgedankens i n der Jurisprudenz naturgemäß höchste Bedeutung zukommt und der daher i m folgenden näher erörtert werden soll 9 2 .
92
Vgl. i n diesem Zusammenhang vor allem § 6 13 c, I I 2 und I I I 2.
§ 6 D i e Grenzen der Systembildung Der Hinweis auf die Schranken einer Rechtsgewinnung aus dem System, der den Abschluß des letzten Paragraphen bildete, hat schon die Grenzen angedeutet, die dem Systemdenken i n der Jurisprudenz ganz allgemein gezogen sind. I n der Tat muß die Ausbildung eines vollkommenen Systems einer bestimmten Rechtsordnung stets ein nie ganz zu erreichendes Ziel bleiben. Denn dem steht das Wesen des Rechts unüberwindlich entgegen, und zwar i n doppelter Hinsicht. Zum einen ist nämlich eine bestimmte positive Rechtsordnung keine „ratio scripta", sondern ein historisch gewachsenes, von Menschen geschaffenes Gebilde und weist als solches notwendigerweise Widersprüche und Unzulänglichkeiten auf, die mit dem Ideal innerer Einheit und Folgerichtigkeit und damit m i t dem Systemgedanken unvereinbar sind. Zum anderen aber ist auch der Rechtsidee selbst ein systemfeindliches Element immanent, und zwar die sogenannte „ i n dividualisierende Tendenz" 1 der Gerechtigkeit, die dem — auf der „generalisierenden Tendenz" beruhenden 2 ! — Systemgedanken entgegenwirkt und die Entstehung von Normen zur Folge hat, die sich systematischer Festlegung a priori entziehen. „Systembrüche" und „Systemlücken" sind deshalb unvermeidbar. I . Systembrüche 1. Systembrüche als Wertungs- und Prinzipienwidersprüche
Was zunächst die Systembrüche betrifft, so stellen sich diese bei Zugrundelegung des oben 3 vertretenen Systembegriffs als Wertungsund Prinzipienwidersprüche 4 dar; denn wenn das System nichts an1 Z u m Gegensatz von individualisierender u n d generalisierender Tendenz der Gerechtigkeit vgl. die Zitate oben §1, Fn. 32; vgl. ferner oben § 4 I V = S. 83 f. u n d unten § 7 I I 2 u n d 3. 2 Vgl. § 1 I I 2. 3 Vgl. § 2 I I . 4 Die Prinzipienwidersprüche stellen dabei n u r eine besondere F o r m der Wertungswidersprüche, nämlich Widersprüche i n den Grundwertungen der Rechtsordnung dar; anders Engisch, Einheit, S. 64 m i t Fn. 2 u n d Einführung, S. 160 u n d 162, der die Prinzipienwidersprüche den Wertungswidersprüchen nicht unter-, sondern nebenordnet (vgl. aber auch Einheit, S. 64, Fn. 2 letzter Satz u n d Einführung, S. 164); das ist von seinem Standpunkt aus folgerichtig,
I. S y s t e m ü c e
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deres ist als die äußere Form der wertungsmäßigen Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung, so muß ein Systembruch auf einer Störung dieser Einheit und Folgerichtigkeit und mithin auf einer wertungsmäßigen Inkonsequenz beruhen. Die Frage nach der Möglichkeit und der Bedeutung von Systembrüchen mündet daher i n die Frage nach der Möglichkeit und der Bedeutung von Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen 5 . 2. Abgrenzung der Wertungs- und Prinzipienwidersprüche gegenüber verwandten Erscheinungen
U m diese zu klären, ist es zunächst erforderlich, den Begriff der Wertungs- und Prinzipienwidersprüche näher zu umreißen. Dazu müssen diese gegenüber verwandten Erscheinungen abgegrenzt werden. a) Gegenüber den Wertungsdifferenzierungen Auszuscheiden sind i n diesem Zusammenhang als erstes die bloßen Wertungsdifferenzierungen; damit sind solche Wertungsunterschiede gemeint, die sachlich gerechtfertigt sind, mögen sie auch ein allgemeineres Prinzip für einen — wertungsmäßig atypisch liegenden — Sondertatbestand scheinbar durchbrechen, und die daher keine echten „Widersprüche" darstellen. b) Gegenüber den immanenten Schranken eines Prinzips Auszugrenzen sind außerdem die immanenten Schranken eines Prinzips, da diese nicht eigentlich dem Prinzip entgegenwirken, sondern nur dessen wahren Sinngehalt deutlich machen. So wäre es z. B. verfehlt, von einem „Widerspruch" zwischen dem Prinzip der Privatautonomie und dem Gebot der Wahrung der guten Sitten i. S. d. § 138 BGB zu sprechen. Denn wie jede Freiheit, die echte Freiheit und nicht W i l l k ü r ist, die ethische Bindung einschließt, so wohnt auch der Privatautonomie die Schranke der guten Sitten von vornherein inne; hier von einem „Widerspruch" zu reden, liefe auf eine Verabsolutierung des Gedankens der Privatautonomie hinaus, die deren rechtsethischen Gehalt mißverstehen und daher das Prinzip denaturieren würde. da er i m Gegensatz zur hier vertretenen Ansicht den Prinzipienwidersprüchen auch Fälle zurechnet, i n denen keine echten Wertungswidersprüche, sondern bloße Prinzipiengegensätze vorliegen, vgl. sogleich i m Text unter 2 d. 5 Z u diesen vgl. allgemein Engisch, Einheit, S. 59 ff. u n d Einführung, S. 160 ff.; Larenz, Methodenlehre, S. 254 f., jeweils m i t weiteren Nachweisen, sowie die Beiträge i n : Perelman (Herausgeber), Les Antinomies en Droit, Traveaux d u Centre National de Recherches de Logique, Bruxelles 1965. 8 Canaris
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§ 6 Die Grenzen der Systembildung
c) Gegenüber der Prinzipienkombination Zu Unrecht ist weiterhin nicht selten dort von Prinzipienwidersprüchen die Rede, wo es in Wahrheit nur um eine Verbindung zweier Prinzipien geht. Ein Beispiel hierfür bildet das Problem, ob der Verkehrs- und Vertrauensschutz dem Schutz mangelnder Geschäftsfähigkeit „vorgeht" oder umgekehrt. Einen „Widerspruch" zwischen den beiden Prinzipien könnte man allenfalls 6 dann annehmen 7 , wenn das Vertrauensprinzip seinem Wesen oder seiner positivrechtlichen Ausgestaltung nach bereits für sich allein den Schutz des Vertrauenden fordern würde. Das ist aber nicht der Fall. Denn das Vertrauensprinzip besagt nur etwas über die eine Seite, die des Vertrauenden, nicht auch über die andere Seite, die des Haftenden, und eine Aussage über die Rechtsfolge kann man immer erst dann machen, wenn die Gerechtigkeitskriterien für beide Seiten ermittelt sind; daher müssen zum Gedanken des Vertrauensschutzes stets noch andere Elemente hinzukommen, die die Haftung des anderen Teils rechtfertigen, und diese hegen regelmäßig i m Prinzip der Selbstverantwortung, also in einer Zurechnung des Vertrauenstatbestandes an den i n Anspruch Genommenen 8 . Ist dieser nun nicht voll geschäftsfähig, so fehlt i h m insoweit die Zurechnungsfähigkeit 9 , und deshalb t r i t t seine Haftung nicht ein. Es handelt sich also in Wahrheit nicht darum, daß hier die Prinzipien des Vertrauensschutzes und des Schutzes mangelnder Geschäftsfähigkeit miteinander in Konflikt geraten und daß nun dieser „Widerspruch" zugunsten des letzteren entschieden wird, sondern darum, daß das Vertrauensprinzip grundsätzlich nur im Zusammenwirken mit dem Prinzip der Selbstverantwortung relevant ist und daß daher folgerichtig bei Fehlen der Verantwortungsfähigkeit auch der Vertrauensschutz versagt. Vom Widerspruch zweier Prinzipien ist also das NichtVorliegen der Voraussetzungen eines von zwei erst in ihrem Zusammenwirken relevanten Prinzipien zu unterscheiden. 6
I n Wahrheit nicht einmal dann, vgl. sogleich i m Text unter d. Das t u t z. B. Larenz, Festschrift für Nikisch, S. 302. Auch die übrigen von Larenz hier genannten Beispiele sind i n Wahrheit keine echten P r i n zipienwidersprüche, sondern gehören entweder ebenfalls zu der Gruppe der notwendigen Verbindung zweier Prinzipien oder (überwiegend) zu der (sogleich näher zu erörternden) Gruppe der bloßen Prinzipien^ e gensätze. 8 Wo darauf verzichtet w i r d , w i e z. B. i n den Fällen des Registerschutzes, müssen andere Elemente zur Rechtfertigung des Rechtsverlustes oder der H a f t u n g hinzutreten, z. B. ein gegenüber dem bloßen Vertrauensschutz erhöhtes Verkehrsschutzbedürfnis, die Steigerung des Vertrauenstatbestandes bei gleichzeitiger Reduzierung der Fehlerquellen durch die M i t w i r k u n g eines staatlichen Organs i. V. m. der Regreßmöglichkeit nach § 839 B G B usw. 9 Allerdings könnte diese sich grundsätzlich auch nach Analogie der §§ 827 ff. B G B beurteilen, doch passen die §§ 104 ff. B G B besser, da es u m die Folgen eines Handelns i m rechtsgeschäftlichen Bereich geht und da auch die Rechtsfolgen typischerweise solche sind, w i e sie sonst nur an Rechtsgeschäfte geknüpft werden. 7
I. Systembrüche
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d) Gegenüber den Prinzipiengegensätzen Auch wenn man diesem Verständnis des Vertrauensprinzips nicht beipflichtet, sondern ihm die Tendenz zuspricht, für sich allein den Schutz des Vertrauenden zu fordern, sollte man hier indessen gleichwohl nicht von einem „Widerspruch" reden. Die Problematik fiele dann vielmehr i n die vierte — und wichtigste — Gruppe, die von den Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen unterschieden werden muß: die der Wertungs- und Prinzipien^egensätze. Es gehört, wie schon in anderem Zusammenhang dargelegt 10 , geradezu zum Wesen der allgemeinen Rechtsprinzipien, daß sie häufig miteinander i n Konflikt geraten und, jeweils für sich genommen, zu entgegengesetzten Lösungen drängen. Dann muß ein Kompromiß gefunden werden, wobei jedem Prinzip ein bestimmter Anwendungsbereich zugewiesen wird. Es geht hier also um das oben 10 herausgearbeitete Charakteristikum der wechselseitigen Beschränkung der Prinzipien. Als Beispiel sei etwa an die gegenläufige Tendenz zwischen dem Prinzip der Testierfreiheit und dem des Familienschutzes erinnert, die i m Pflichtteilsrecht ihren Ausgleich gefunden hat. Einen solchen „Kompromiß zwischen verschiedenen Grundgedanken" der Rechtsordnung sollte man entgegen der Meinung Engischs 11 nicht als einen Widerspruch, sondern als einen Gegensatz bezeichnen. Denn ein Widerspruch ist immer etwas, was eigentlich nicht sein sollte und daher nach Möglichkeit beseitigt werden muß, ist, wie Engisch selbst sagt, eine „Disharmonie" 1 2 , während die hier i n Frage stehenden Prinzipiengegensätze notwendig zum Wesen einer Rechtsordnung gehören und dieser erst ihre ganze Sinnfülle geben 13 ; sie müssen daher keineswegs beseitigt 14, sondern durch eine „mittlerere" Lösung „ausgeglichen" werden, wobei Vgl. S. 53. Einführung, S. 162 bei Fn. 206 b; v g l auch Larenz, Festschrift für Nikisch, S. 301 u n d Methodenlehre, S. 314, wo auch Larenz i n diesem Zusammenhang von Widersprüchen spricht, obwohl er der Sache nach bloße Prinzipiengegensätze i m Auge hat (vgl. auch Fn. 7) ; Larenz ersetzt denn auch sogleich den Terminus „Widerspruch" durch den — wesentlich besser passenden — Terminus „Widerstreit", — allerdings vermutlich, ohne damit einen sachlichen Unterschied zum Ausdruck bringen zu wollen. 12 a.a.O., S. 162. 13 Treffend Esser, Grundsatz u n d Norm, S. 81 u n d S. 159, w o es heißt, durch das eine Prinzip werde dem anderen „ v e r n ü n f t i g Widerpart gehalten"; vgl. ferner Larenz, Festschrift für Nikisch, S. 301 f. 14 Das w i l l Engisch auch nicht, vgl. a.a.O., S. 164, doch beschränkt er diese Zurückhaltung nicht auf die Prinzipiengegensätze, sondern bezieht i n sie (teilweise) auch die echten Widersprüche (im Sinne der i m Text gebrauchten Terminologie) ein; i m letzteren Falle aber kann i h m hierbei gerade nicht gefolgt werden (vgl. sogleich i m Text unter 3), u n d da somit auch die rechtliche Behandlung der beiden Erscheinungen verschieden ist, empfiehlt sich auch aus diesem Grunde eine klare terminologische Abgrenzung. 11
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ihre innere Gegenläufigkeit in dem Kompromiß im doppelten Sinne des Wortes „aufgehoben" ist 1 5 . Der Ausdruck Prinzipienwidersprüche sollte demnach den echten Widersprüchen vorbehalten werden, d. h. Wertungswidersprüchen, die die innere Folgerichtigkeit und Einheit der Rechtsordnung, ihre „Harmonie", stören und die daher grundsätzlich vermieden bzw. beseitigt werden müssen. 3. Die Möglichkeiten zur Vermeidung von Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen i m Wege der Rechtsfortbildung
Damit ist bereits der nächste Problemkreis angesprochen: die Frage, wie sich der Jurist bei der Anwendung des Rechts gegenüber solchen Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen zu verhalten hat und i n welchem Umfang dementsprechend u. U. Systembrüche bestehen bleiben. Engisch ist der Meinung, daß die Wertungs- und Prinzipienwidersprüche „ i m allgemeinen hingenommen werden müssen" 16 . Dem ist nicht zu folgen. Denn derartige Widersprüche stellen eine Verletzung des Gleichheitsgebotes dar 1 7 , und an dieses sind der Gesetzgeber wie der Richter gebunden 18 . Der Jurist hat daher sein gesamtes methodologisches Arsenal einzusetzen, u m der Gefahr von Wertungsund Prinzipienwidersprüchen entgegenzuwirken, und es kann sich allenfalls fragen, wie weit i h m dabei Erfolg beschieden ist 1 9 . a) Die Möglichkeiten der systematischen Auslegung Als methodologisches Hilfsmittel bietet sich hier zunächst die systematische Auslegung an, und innerhalb dieser wiederum vor allem 15 Der Gegensatz ist also i n dem Kompromiß überwunden u n d gleichzeitig noch enthalten. 16 Vgl. Einführung, S. 161 u n d für die Prinzipienwidersprüche (allerdings stärker differenzierend) S. 164; vgl. auch schon Einheit, S. 63 f. u n d S. 84 ff., wo Engisch zwar anerkennt, daß auch die Beseitigung von Wertungswidersprüchen — ebenso w i e die von Normwidersprüchen — u . U . „unbedingt erforderlich" sein kann, jedoch meint, i n anderen Fällen sei sie nicht „unbedingt notwendig" (vgl. S. 84); es fragt sich indessen, woran die „ N o t wendigkeit" einer Beseitigung gemessen werden soll, u n d bei der Beantw o r t u n g dieser Frage w i r d man w o h l letztlich u m die Heranziehung des Gleichheitssatzes nicht herumkommen, so daß sich das i m T e x t befürwortete grundsätzliche Gebot einer Beseitigung ergibt. — Allerdings ist i n diesem Zusammenhang die z. T. abweichende Terminologie Engischs zu berücksichtigen, vgl. dazu Fn. 11 u n d 14. 17 So auch Larenz, Methodenlehre, S. 254; zurückhaltend Engisch, Einheit, S. 62 f. („vielleicht"). 18 Vgl. näher alsbald i m Text unter 4. 19 Ä h n l i c h Larenz, a.a.O., m i t Fn. 1.
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die Grundsätze über die lex specialis, die lex posterior und die lex superior 1 9 3 . Allerdings sind diese ursprünglich nur i m Hinblick auf Normwidersprüche — also auf Fälle, i n denen die Rechtsordnung an den Tatbestand Τ in einer Norm die Rechtsfolge R und i n einer anderen Norm die Rechtsfolge non-R knüpft — entwickelt worden, doch w i r d man sie, zumindest teilweise, auch auf Wertungs- und Prinzipienwidersprüche übertragen können 2 0 , also auf Fälle, i n denen die Rechtsordnung i n einer Norm an den Tatbestand T i die Rechtsfolge R, i n einer anderen Norm an den wertungsmäßig i m wesentlichen gleich liegenden Tatbestand T2 die Rechtsfolge non-R geknüpft hat. Weiterhin kann man m i t Hilfe der systematischen Auslegung Wertungswidersprüche dadurch vermeiden, daß man den Wortlaut verschiedener Vorschriften systemkonform, und das heißt einheitlich, interpretiert. So t r i t t ζ. B. eine Rechtsscheinhaftung für die Ausstellung einer Vollmachtsurkunde nach § 1721 BGB nur dann ein, wenn der Aussteller die Urkunde dem Bevollmächtigten „ausgehändigt" hat, also nicht, wenn sie i h m gestohlen worden ist, wohingegen zwei andere und eng verwandte Vorschriften der Rechtsscheinhaftung, nämlich die §§ 370 und 405 BGB diese Einschränkung zumindest nicht ausdrücklich machen. Sie ist jedoch zur Vermeidung eines Wertungswiderspruchs i n diese auf Grund systemkonformer Auslegung (bzw. Lückenfüllung) hineinzuinterpretieren 2 1 , da ein vernünftiger Grund 19a „ L e x " k a n n dabei auch eine N o r m des Gewohnheitsrechts sein. So ist w o h l der Wertungswiderspruch zwischen § 307 12 B G B u n d den allgemeinen Regeln über die „culpa i n contrahendo" i. V. m. § 254 B G B (zur Problematik vgl. einerseits Larenz, Schuldrecht Α. T. S. 83 Fn. 1, andererseits Esser, Schuldrecht Α. T. S. 206 bei Fn. 16) durch die — allerdings nicht unproblematische — Annahme zu beseitigen, daß die heute gewohnheitsrechtlich anerkannte Rechtssätze über die „culpa i n contrahendo" als lex posterior (generalis) vorgehen und § 30712 daher derogiert ist. Folgt man dem nicht, so k o m m t man gleichwohl auf G r u n d der i m T e x t unter Ziff. 4 b entwickelten Regeln zur Nichtigkeit des §30712, da die dieser Vorschrift zugrunde liegende Wertung i m Vergleich zu § 254 und den Rechtssätzen über die „culpa contrahendo" heute n u r als „offenbare W i l l k ü r " angesehen werden kann. 20 Die Frage ist wenig geklärt und bedürfte einer eigenständigen Untersuchung. Häufig w i r d man die Problematik dadurch lösen können, daß man die fragliche Wertung zu einer N o r m konkretisiert u n d dann die Regeln über die lex superior, posterior oder specialis unmittelbar anwendet, doch w i r d dieser Weg w o h l k a u m i m m e r gangbar sein. I m übrigen dürfte die Übertragung des Grundsatzes v o m Vorrang der lex superior am ehesten zu rechtfertigen sein, während das Verhältnis zwischen früheren u n d späteren einander widersprechenden Wertungen u n d Prinzipien, also der Problemkreis der lex posterior, weitaus größere Schwierigkeiten aufweist, vgl. zu letzterem z. B. Engisch, Einheit, S. 84 u n d Einführung, S. 164 f. jeweils m i t ausführlichen Nachweisen; Larenz, Methodenlehre, S. 266 ff. m i t dem interessanten Beispiel des Verhältnisses von § 254 B G B zu § 1 RHaftPflG; Betti, Allgemeine Auslegungslehre, a.a.O., S. 638. Vgl. i n diesem Zusammenhang auch das Beispiel i n Fn. 19 a. 21 a. A. h. L., vgl. für § 370 statt aller Palandt-Danckelmann, § 370, Anm. 1 und für § 405 Stoll, AcP 135, S. 107.
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für die Differenzierung nicht erkennbar ist 2 2 und da zudem auch § 935 I BGB in dieselbe Richtung weist. Dabei dürfte i m Falle des § 370 noch eine (restriktive) Auslegung i. e. S. vorliegen, da man durchaus sagen kann, als „Überbringer" einer Quittung sei schon rein sprachlich nicht unbedingt auch der Dieb anzusehen 23 ; im Falle des § 405 handelt es sich dagegen wohl schon um Lückenergänzung, weil das Gesetz nur die „Ausstellung" der Urkunde verlangt und die Einfügung des Merkmals der „Aushändigung" daher nicht mehr i m Rahmen des möglichen Wortsinnes liegt 2 4 . b) Die Möglichkeiten der systematischen Lückenergänzung Damit ist bereits eine zweite Stufe der Beseitigung von Wertungsund Prinzipienwidersprüchen und von Systemwidrigkeiten erreicht: neben die systemkonforme Auslegung tritt die systemkonforme Lückenergänzung. Auch hier sind alle herkömmlichen Verfahren heranzuziehen, insbesondere also Analogie, argumentum a fortiori und teleologische Reduktion, die ja ohnehin nur die methodologischen Ausformungen des Gleichheitsgebotes darstellen. So dürfte z. B. der von Engisch 25 im Anschluß an eine Entscheidung des RG 2 6 erörterte Wertungswiderspruch zwischen der Mindeststrafe bei Kindestötung und bei der Aussetzung eines Kindes mit Todesfolge durch die Mutter unmittelbar nach der Geburt entgegen der Meinung Engischs und des RG durch ein argumentum a fortiori zu beseitigen sein: wenn schon bei der Tötung des Kindes mildernde Umstände berücksichtigt werden können, dann erst recht bei der vom Gesetz grundsätzlich milder bewerteten Aussetzung; denn es liegt keineswegs eine klar entgegenstehende Entscheidung des Gesetzgebers vor, sondern dieser hat den Sondertatbestand i m Rahmen des § 221 StGB ersichtlich übersehen, 22 Daß bei Umlaufpapieren auch ein Abhandenkommen der Verpflichtung des Ausstellers nicht entgegensteht, rechtfertigt sich ohne weiteres aus dem U m l a u f zweck und dem damit verbundenen gesteigerten (!) Verkehrsschutzbedürfnis, so daß insoweit kein zu beseitigender Wertungswiderspruch, sondern eine sinnvolle Wertungsdifferenzierung vorliegt. 23 Vgl. schon Protokolle zum A D H G B , 1858, S. 1323 f.; Keyssner, Festgabe f ü r R. Koch, 1903, S. 142; Goldberger, Der Schutz gutgläubiger D r i t t e r i m Verkehr m i t Nichtbevollmächtigten nach Bürgerlichem Gesetzbuch, 1908, S. 82. Auch die hier Zitierten vertreten jedoch i. E. m i t der h. L. die Ansicht, daß § 370 auch i m Falle des Abhandenkommens eingreift. 24 Sie ist deshalb aber nicht etwa unzulässig. Vielmehr liegt ein besonderer — i n seiner Eigenart bisher wenig gewürdigter — Typus einer Lücke vor: eine „verdeckte Normlücke", bei der die Feststellung der Lücke m i t H i l f e des positiven Gleichheitssatzes erfolgt; vgl. dazu allgemein Canaris, Die Feststellung von Lücken, S. 81 und S. 137 f. 2 5 Einführung, S. 160. 2 ® RGSt. 68, S. 407 (410).
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so daß es sich nicht einmal vom Standpunkt der subjektiven Auslegungstheorie aus um eine unzulässige Korrektur des Gesetzes handelt. c) Die Grenzen der Beseitigung von Wertungs- und Prinzipienwidersprüchen im Wege der Hechtsfortbildung Damit ist nun aber zugleich schon die Grenze angedeutet, die auch der systemkonformen Lückenergänzung gezogen ist: sie liegt dort, wo die Grenzen der Lückenergänzung ganz allgemein liegen 27 . Jene scheidet deshalb vor allem dann aus, wenn Wortlaut und Sinn des Gesetzes der Annahme einer Lücke eindeutig im Wege stehen oder wenn ein Rechtsfortbildungsverbot 28 gegeben ist. Enthielten z. B. § 370 und § 405 BGB den ausdrücklichen Zusatz „auch wenn die Urkunde dem Aussteller abhanden gekommen ist", so wäre der Wertungswiderspruch zu dem — nach Wortlaut und Sinn ebenso unmißverständlichen — § 172 I BGB m i t den M i t t e l n von Auslegung und Lückenergänzung (vorbehaltlich der sogleich noch näher zu erörternden Annahme einer Kollisionslücke) nicht zu beseitigen. Ein Beispiel aus dem geltenden Recht für einen derartigen Wertungswiderspruch dürften die §§ 28 und 130, 173 HGB bieten: während beim Eintritt in das Geschäft eines Einzelkaufmannes die Haftung für die Altschulden gemäß § 28 I I mit Wirkung gegenüber den Gläubigern abbedungen werden kann, ist sie beim Eintritt in eine OHG oder K G nach §§ 130 II, 173 I I zwingend vorgeschrieben, — ein Unterschied, für den sich wohl kaum ein vernünftiger Grund finden lassen dürfte 2 9 . Der darin liegende Wertungswiderspruch ist nun aber weder mit den Mitteln der Auslegung noch mit denen der Lückenergänzung zu beseitigen: § 28 I I einerseits und §§ 130 II, 173 I I andererseits sind nach Wortlaut und Sinn gleichermaßen eindeutig, und es handelt sich daher nicht um eine Lücke, sondern um einen „rechtspolitischen Fehler". — Ähnliche Schwierigkeiten können sich auch dadurch ergeben, daß eine systemwidrige Regelung in den Rang von Gewohnheitsrecht erwächst; es sei nur an die Sicherungsübereignung und den dadurch entstandenen Widerspruch zum Verbot eines besitzlosen Pfandrechts erinnert. 27 A u f diese Problematik u n d insbesondere auf die Abgrenzung zwischen Lücke u n d rechtspolitischem Fehler k a n n i n diesem Zusammenhang nicht näher eingegangen werden, vgl. dazu eingehend Canaris, Die Feststellung von Lücken, S. 31 ff. m i t ausführlichen Nachw. u n d S. 55 ff. 28 Dazu gehören neben dem meist allein i n diesem Zusammenhang erwähnten Analogie verbot auch das Restriktions- und das Induktions verbot; zu den letzteren vgl. Canaris, a.a.O., S. 193 bzw. S. 184 ff. und 194 ff. 29 Das mag i n diesem Zusammenhang jedenfalls einmal unterstellt werden, u m die methodologische (und verfassungsrechtliche, vgl. unten 4 b) Problem a t i k zu veranschaulichen.
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Als Beispiel für die Grenzen, die durch ein Rechtsfortbildungsverbot der Beseitigung von Wertungswidersprüchen gesetzt sind, ist die unterschiedliche Regelung der Strafbarkeit des Versuchs bei der Sachbeschädigung einerseits und der einfachen Körperverletzung andererseits zu erwähnen; während der Versuch bei ersterer ausdrücklich unter Strafe gestellt ist, fehlt eine entsprechende Regelung bei letzterer, und darin liegt ein unerfreulicher Wertungswiderspruch 30 , da unser Recht die Unversehrtheit des Körpers grundsätzlich höher bewertet und dementsprechend stärker schützt als das Eigentum und da sich die Strafbarkeit des Versuchs nach der Systematik des StGB (u. a.) wesentlich nach Ranghöhe und Schutzwürdigkeit und -bedürftigkeit des fraglichen Rechtsguts richtet. Gleichwohl ist es nicht zulässig, nun auch die versuchte Körperverletzung unter Strafe zu stellen m i t dem Argument: wenn schon der Versuch der Sachbeschädigung strafbar ist, dann erst recht der der Körperverletzung. Denn in einem derartigen argumentum a fortiori läge eine Lückenergänzung i n malam partem, und diese ist zumindest i m Besonderen Teil des StGB nach Art. 103 I I GG verboten. Der Wertungswiderspruch läßt sich daher nicht beheben. Schließlich können auch die Schranken der richterlichen Rechtsfortbildung, wie sie i n dem Phänomen der unaväfüllbaren Lücken 3 1 i n Erscheinung treten, der Beseitigung eines Wertungswiderspruchs entgegenstehen. So ist es z. B. ein schwerer Systembruch, daß die Haftung nach § 22 WHG nicht der Höhe nach begrenzt ist 3 2 ; denn eine Höchstsumme ist bei allen übrigen Tatbeständen der Gefährdungshaftung (mit Ausnahme des § 833 S. 1 BGB 3 3 ) vorgesehen, und sie w i r d auch durch die tragenden Grundgedanken dieses Instituts gefordert, da nur so der Gefahr einer „ruinösen Schadenszurechnung" vorgebeugt werden kann und da nur so die — für die Gefährdungshaftung unerläßliche — volle Versicherbarkeit des Risikos gewährleistet ist. Das Fehlen einer Höchstsumme in § 22 W H G w i r d man daher als Lücke ansehen müssen, da die immanenten Prinzipien der Gefährdungshaftung eine entsprechende Regelung fordern und da andererseits weder die Fassung der Vorschrift noch ihre Entstehungsgeschichte erkennen lassen, daß der Gesetzgeber hier bewußt eine entgegengesetzte Ent30 A l s Beispiel eines solchen w i r d er von Engisch, Einführung, S. 160 m i t Recht angeführt. Die Polemik von Schreiber, Logik des Rechts, S. 60 gegen Engisch ist abwegig (vgl. die durchschlagende Entgegnung v o n Engisch, a.a.O., Fn. 198 a) u n d beweist ähnlich w i e andere Äußerungen Schreibers (vgl. dazu unten Fn. 44 und 67) ein weitgehendes Unverständnis f ü r axiologische u n d teleologische Problemstellungen. 31 Vgl. dazu allgemein Canaris, a.a.O., S. 172 ff. m. Nachw. 32 Vgl. vor allem die K r i t i k von Larenz, VersR 63, S. 591 ff. (603) u n d Schuldrecht B. T., § 71 V I I I . 33 Bei diesem k a n n m a n jedoch w o h l nicht von einem Systembruch sprechen, vgl. unten S. 128.
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Scheidung hat treffen wollen. Diese Lücke kann jedoch durch den Richter nicht ausgefüllt werden, weil für die dazu erforderliche Festsetzung einer bestimmten Summe keine spezifisch rechtlichen Kriterien zur Verfügung stehen und w e i l daher eine solche Entscheidung wegen des in ihr enthaltenen Elements von W i l l k ü r dem Gesetzgeber vorbehalten bleiben muß 3 4 . Auch hier versagen somit die M i t t e l richterlicher Rechtsfortbildung gegenüber dem Wertungswiderspruch 35 . Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß es Wertungswidersprüche gibt, die mit Hilfe der legitimen Methoden der Auslegung und Rechtsfortbildung nicht zu überwinden sind. Dies ist der Fall, wo der Wertungs Widerspruch sich nicht als Lücke, sondern als „rechtspolitischer Fehler" darstellt oder wo zwar eine Lücke vorliegt, aber deren Ausfüllung verboten oder unmöglich ist. 4. Die Problematik der Verbindlichkeit systemwidriger Normen und der Bindung des Gesetzgebers an den Systemgedanken
Damit ist indessen nicht gesagt, daß derartige Wertungswidersprüche und die aus ihnen folgenden Systembrüche ohne Ausnahme hingenommen werden müssen. Vergegenwärtigt man sich nämlich, daß Wertungswidersprüche Verstöße gegen den Gleichheitssatz darstellen und daß dieser anerkanntermaßen sowohl Ausfluß der Rechtsidee als auch Bestandteil des Grundgesetzes ist, so drängt sich die Frage doch geradezu auf, ob nicht i m Falle eines Wertungswiderspruchs den fraglichen Normen zumindest unter bestimmten Voraussetzungen die Gefolgschaft zu versagen sei. Damit t r i t t eine neue Seite der Systemproblematik in das Blickfeld: die Frage nach der Verbindlichkeit systemwidriger Normen und dementsprechend die Frage nach der Bindung des Gesetzgebers an den Systemgedanken 36. Bei ihrer Beantwortung ergeben sich sowohl methodologische als auch, wie bei der Gültigkeitsproblematik nicht anders zu erwarten ist, verfassungsrechtliche Aspekte. a) Die Lösung mit Hilfe der Annahme einer „Kollisionslücke" Was zunächst die ersteren anbetrifft, so ist in der traditionellen Methodenlehre schon seit langem eine Figur anerkannt, die u. U. auch 34
Z u m Grundsätzlichen vgl. näher Canaris, a.a.O., S. 175 f. 35 Z u r Frage der Gültigkeit des § 22 W H G vgl. unten S. 128 f. m i t Fn. 60. 36 Diese ist bisher verhältnismäßig wenig durchdacht. Hinzuweisen ist jedoch auf die Arbeiten v o n Zimmerl (Der Aufbau des Straf rech tssystems, 1930, Strafrechtliche Arbeitsmethode de lege ferenda, 1931, insbesondere S. 14 ff., 54 ff., 146 ff.), i n denen allerdings der Schwerpunkt nicht auf der methodologischen, sondern auf der materiell-strafrechtlichen Problematik liegt; auch argumentiert Z i m m e r l überwiegend de lege ferenda, so daß die
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i m vorliegenden Zusammenhang fruchtbar gemacht werden könnte: die der sogenannten Kollisionslücke 37. Von einer solchen spricht man herkömmlicherweise vor allem in den Fällen eines Normwiderspruchs: wenn das Gesetz an den Tatbestand Τ zugleich die Rechtsfolgen R und non-R knüpft und dieser Widerspruch sich mit den Mitteln von Auslegung und Rechtsfortbildung nicht beseitigen läßt, dann heben sich die beiden Rechtsfolgeanordnungen gegenseitig auf, und es entsteht eine Lücke. Damit ist aber, was bisher i m Schrifttum nicht genügend betont worden ist, der Bereich der Lückenergänzung bereits überschritten und der der Derogierung betreten; denn der entscheidende Schritt liegt schon vor der Bejahung einer Lücke, nämlich in der Annahme, daß sich die widersprechenden Normen aufheben und daher beide nichtig sind. Es liegt nun nahe, ebenso bei Vorliegen eines Wertungswiderspruchs zu verfahren und dementsprechend auch hier davon auszugehen, daß sich die einander widersprechenden Normen aufheben und daß folglich Kollisionslücken entstehen 38 . Dagegen drängt sich indessen sofort der Einwand auf, für die Beseitigung eines Normwiderspruchs bestehe ein weit stärkeres Bedürfnis als für die Beseitigung eines Wertungswiderspruchs 39 . Die Relevanz dieses Bedenkens läßt sich nur überprüfen, wenn man nach dem Grund fragt, der zur Ausräumung des Widerspruchs zwingt und diesen i n Beziehung zum Unterschied der beiden Arten von Widersprüchen setzt. Dabei scheint nun auf den ersten Blick der Gedanke eine Rolle zu spielen, i m Falle eines Normwiderspruchs liege ein logischer Widerspruch vor 4 0 , i m Falle eines Wertungswiderspruchs dagegen nur ein axiologischer oder teleologischer, ersterer aber könne unter keinen Umständen hingenommen werden, weil auch Frage nach der Verbindlichkeit systemwidriger Normen de lege lata bei i h m gänzlich i n den H i n t e r g r u n d t r i t t . Vgl. auch schon Beling, Methodik der Gesetzgebung, insbesondere der Strafgesetzgebung, 1922, S. 20 f. 37 Vgl. dazu statt aller Engisch, Einheit, S. 50 u n d S. 84 sowie Einführung, S. 159; Canaris, a.a.O., S. 65 ff. m i t ausf. Nachw. i n Fn. 28. 38 Diese Möglichkeit w i r d schon von Engisch, Einheit, S. 84, gesehen, jedoch nicht allgemein, sondern n u r für einzelne (allerdings leider nicht näher umrissene) Fälle bejaht. Ablehnend dagegen Canaris, a.a.O., S. 66 Fn. 32, wo die (teleologischen) Kollisionslücken k l a r von den Wertungswidersprüchen abgegrenzt werden; die darin zum Ausdruck kommende Ansicht gebe ich hiermit auf, vgl. alsbald i m Text. 39 Dies ist ersichtlich die Grundhaltung von Engisch, vgl. Einheit, S. 63 und Einführung, S. 161; vgl. ferner Betti , Allgemeine Auslegungslehre, a.a.O., S. 638 (für das Verhältnis von lex prior u n d lex posterior). 40 So Schreiber, a.a.O., S. 60; Canaris, a.a.O., S. 66; vgl. auch Engisch, E i n führung, S. 234, Fn. 198 a, der i n ähnlichem Zusammenhang jedenfalls bei „echter Identität der Rechtsfrage", — die bei Normwidersprüchen stets gegeben ist! — einen logischen Widerspruch bejaht; vgl. aber auch Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 209 f.
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das Recht d e n Gesetzen der L o g i k u n t e r w o r f e n sei 4 1 , letzterer dagegen sei eher e r t r ä g l i c h , w e i l die R e c h t s o r d n u n g i h r e W e r t u n g e n selbst b e s t i m m e 4 2 u n d w e i l daher i n s o w e i t auch eine w i d e r s p r ü c h l i c h e E n t scheidung des Gesetzgebers z u r e s p e k t i e r e n sei. Indessen ist es schon sehr z w e i f e l h a f t u n d m u ß als z u m i n d e s t u n g e k l ä r t angesehen w e r d e n , ob u n d i n w i e w e i t die R e c h t s o r d n u n g w i r k l i c h den Gesetzen der L o g i k u n t e r l i e g t 4 3 ; d e n n diese g e l t e n — j e d e n f a l l s i n i h r e r bisher ü b l i c h e n Fassung — n u r f ü r Aussagesätze, die als solche d e m K r i t e r i u m v o n w a h r u n d falsch unterstehen, n i c h t dagegen f ü r Sollenssätze, die n i c h t a n diesem Maßstab, sondern a n d e m v o n g e l t e n d u n d n i c h t - g e l t e n d z u messen s i n d 4 4 . A b e r auch w e n n m a n e i n m a l a n n i m m t , e i n N o r m w i d e r s p r u c h sei w i r k l i c h als Verstoß gegen die Gesetze der L o g i k zu behandeln, so f o l g t daraus doch noch n i c h t , daß es auch G r ü n d e der L o g i k sind, die z u der h i e r interessierenden L ö s u n g des Problems, 41 Vgl. vor allem Schreiber, a.a.O., S. 60, der die Notwendigkeit der Beseitigung von Normwidersprüchen als „Beispiel für die Tatsache, daß Gesetze der Logik augenscheinlich Bestandteil des Rechts werden" anführt. 42 I n dieser Richtung w o h l Schreiber, a.a.O., S. 60. 4 ® Einen Versuch zu begründen, daß die Gesetze der Logik „Bestandteil des Rechts" seien, macht Schreiber, a.a.O., S. 90 ff. Seine Ausführungen sind jedoch heillos verworren. Insbesondere verwechselt er offenbar die „ B i n d u n g " an die Gesetze der L o g i k m i t der „ B i n d u n g " des Richters an Gesetz u n d Recht (vgl. S. 93 f.) u n d macht sich damit einer p r i m i t i v e n Begriffsvertauschung schuldig, da die Verpflichtungskraft eines Aussagesatzes u n d eines Sollenssatzes n u n einmal qualitativ verschieden ist. Außerdem legen das K l u g - Z i t a t S. 93 u n d die Berufung auf die revisions-rechtlichen Entscheidungen S. 94 den Verdacht nahe, daß Schreiber sogar die Frage nach dem Rechtscharakter logischer Gesetze m i t der der Bindung des Rechtsanwenders an diese verwechselt (vgl. dazu sehr klar Klug, J u r i s t i sche Logik, S. 142; hinsichtlich spezifisch juristischer „Kunstregeln" mag es anders liegen, w e i l u n d soweit diese Ausdruck echter Gerechtigkeitsmaximen sind, vgl. dazu Esser, Grundsatz u n d Norm, S. 110 ff.). 44 Z u r Problematik vgl. etwa Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 76 f. und ARSP 52 (1966), S. 545 ff. (548); Philipps, ARSP 52 (1966), 195 ff. — Der Versuch von Schreiber, a.a.O., S. 63 ff., einen gemeinsamen Oberbegriff zu finden, geht gänzlich i n die Irre. Denn wenn er als solchen „ g ü l t i g " w ä h l t , so beruht das wieder (vgl. die vorige Fn.) auf einer leicht durchschaubaren Begriffsvertauschung: gültig k a n n zwar sowohl als Synonym von w a h r („eine gültige Aussage") als auch als Synonym von geltend („eine gültige Verordnung") gebraucht werden, hat jedoch i n beiden Fällen eine ganz verschiedene Bedeutung u n d ist daher als sinnvoller Oberbegriff untauglich. Schreiber f ü h r t denn auch die uneingeschränkte Übertragung logischer Gesetze auf Rechtsnormen u n d seine eigene Theorie schließlich selbst ad absurdum, wenn er das Bestehen einer Rechtsnorm des Inhalts behauptet: „Es ist rechtens: Die Verfasser von Dissertationen über die L o g i k des Rechts werden relegiert oder sie werden nicht relegiert" (vgl. S. 65 f.) u n d diesen angeblichen Rechtssatz, der jedem juristischen Geltungsbegriff Hohn spricht, nicht als den baren Unsinn bezeichnet, der er ist, sondern lediglich als Beispiel einer „gewissen Härte, die die I n t e r pretation der logisch rechtens Sätze m i t sich b r i n g t " (S. 66). M a n kann i n diesen Ausführungen w o h l n u r eine — freilich sehr mißverständliche — Selbstpersiflage sehen.
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nämlich zur Annahme einer Kollisionslücke führen. Denn ebenso wie aus dem Widerspruch zweier Aussagesätze nur geschlossen werden kann, daß einer von ihnen falsch sein muß, so könnte aus dem Widerspruch zweier Normen rein logisch allenfalls geschlossen werden, daß eine von ihnen ungültig sein muß; es geht aber gerade darum zu begründen, warum beide ungültig sind — denn durch diese Annahme soll ja der Norm Widerspruch beseitigt werden —, und die Problematik läßt sich somit mit den Mitteln der Logik allein keinesfalls lösen. Man kommt der wirklichen Begründung für die Annahme einer Kollisionslücke nur näher, wenn man fragt, welche der beiden Normen denn gültig bzw. ungültig sein soll, und sich zugleich klar macht, daß eine juristisch begründbare A n t w o r t hierauf nicht möglich ist, weil es auf Grund der besonderen Problematik der unauflösbaren Normwidersprtiche an entsprechenden Geltungskriterien fehlt 4 5 . Es bliebe daher nichts anderes übrig, als sich durch bloße Dezision beliebig für die eine oder die andere Norm zu entscheiden. Das aber wäre W i l l k ü r und damit eine Lösung, die ihrem Wesen nach keine rechtliche wäre. Folglich ist es letzten Endes das Willkürverbot, das zur Annahme der Ungültigkeit beider Normen führt 4 6 . Dieses K r i t e r i u m spielt nun aber auch bei den Wertungswidersprüchen eine entscheidende Rolle, stellen diese doch Verstöße gegen den m i t dem Willkürverbot zumindest eng zusammenhängenden Gleichheitsssatz dar, und so drängt sich in der Tat die Schlußfolgerung auf, auch bei Vorliegen eines Wertungswiderspruchs könne m i t der Annahme einer Kollisionslücke geholfen werden. Indessen darf dabei doch ein wesentlicher Unterschied zu den Normwidersprüchen nicht übersehen werden: während bei dieser der Richter wenigstens einer Norm auf jeden Fall den Gehorsam versagen muß, kann er bei jenen an sich beide Normen befolgen; während der Richter i m ersten Fall also keine Möglichkeit hat, den Verstoß gegen das W i l l kürverbot mit seiner Bindung an das Gesetz zu rechtfertigen, kann 45 Läßt sich der Vorrang einer der beiden Normen irgendwie begründen, so liegt weder ein unauflöslicher Normwiderspruch noch eine Kollisionslücke vor. Eine solche Begründung k a n n sich nicht n u r aus den Regeln über die lex specialis usw. ergeben, sondern auch aus anderen Gesichtspunkten, z. B. daraus, daß eine der beiden Normen dem inneren System, der N a t u r der Sache, der Rechtsidee oder den i n der Rechtsgemeinschaft anerkannten sittlichen Werten widerspricht, während die andere m i t diesen K r i t e r i e n i n Einklang steht; dann gilt allein letztere, u n d es liegt nicht etwa eine Kollisionslücke vor. 4 6 Daß dadurch eine Lücke entsteht, läßt sich allerdings erst feststellen, w e n n man auch noch das Rechtsverweigerungsverbot h i n z u n i m m t ; denn erst dieses versperrt den an sich noch verbliebenen Ausweg, die Rechtsfrage wegen des Widerspruchs f ü r unlösbar zu erklären; vgl. näher Canaris, a.a.O., S. 65 ff.
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er sich i m zweiten Fall immerhin auf die Autorität des Gesetzgebers berufen, auf dessen Anordnung der Verstoß gegen den Gleichheitssatz beruhe und dessen Willen er nicht mißachten dürfe. I n diesem Unterschied dürfte wohl letztlich die Ansicht ihren Grund haben, Wertungswidersprüche seien eher erträglich als Normwidersprüche. Es fragt sich freilich, ob dem wirklich entscheidende Bedeutung beigemessen werden kann, drängt sich doch sofort der Einwand auf, die verschiedene Behandlung von Norm- und Wertungswidersprüchen und die darin zum Ausdruck kommende Zurücksetzung des Gleichheitssatzes gegenüber dem Gebot der Gesetzestreue sei als positivistisches Relikt zu verwerfen. Ob dem wirklich so ist, mag jedoch h i e r 4 6 a dahingestellt bleiben; denn auch vom Standpunkt eines extremen Positivismus aus ist der Richter ja keineswegs ausnahmslos an unterverfassungsmäßige Normen gebunden, sondern kann diesen gegebenenfalls mit der Begründung, sie seien verfassungswidrig, den Gehorsam versagen. Da Wertungswidersprüche aber Verstöße gegen den Gleichheitssatz sind, drängt sich eine Prüfung am Maßstab des Art. 3 I GG geradezu auf. Die Problematik mündet somit in eine verfassungsrechtliche Fragestellung. b) Die Lösung mit Hilfe des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes Daß Art. 3 I GG auch den Gesetzgeber bindet, ergibt sich ohne weiteres aus Art. 1 I I I GG. Ebenso steht außer Zweifel, daß er für alle Rechtsgebiete und insbesondere auch für das gesamte Privatrecht gilt 4 7 , da Gesetzgebung stets Ausübung hoheitlicher Gewalt ist und es daher nicht etwa um die Problematik der „ D r i t t w i r k u n g " der Grundrechte geht. Folglich sind Wertungswidersprüche nicht anders als sonstige Verstöße gegen den Gleichheitssatz am GG zu messen, zumal dieser nicht nur i n Art. 3 I verankert ist, sondern „darüber hinaus als selbstverständlicher ungeschriebener Verfassungsgrundsatz in allen Bereichen gilt .. ." 4 8 . Vor diesem Hintergrund gewinnt daher der Systemgedanke unter einem neuen Aspekt höchste praktische Bedeutung: systemwidrige Normen können wegen des in ihnen enthaltenen Wertungswiderspruchs gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz: verstoßen und daher nichtig sein. I n der Tat hat sich das BVerfG denn auch verschiedentlich i n dieser Richtung geäußert und z. B. eine Norm m i t der Begründung für nichtig erklärt, der Gesetzgeber sei „von seinem eigenen Prinzip . . . abgegangen ohne daß es „für diese ,Systemwidrigkeit' . . . hinreichende, sachlich vertretbare Gründe" gäbe 49 . A n anderer Stelle heißt es, es stünde dem Gesetzgeber zwar 46a Vgl. aber unten bei u n d i n Fn. 58 a. 47 Vgl. z.B. BVerfGE 11, 277 (280 f.); 14, 263 (285); 18, 121 (124 ff.). « Vgl. BVerfGE 6, 84 (91). 49 BVerfGE 13, 31 (38).
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grundsätzlich frei, „von den einen Rechtskreis bestimmenden Grundregeln, die er selbst gesetzt hat, abzuweichen", doch könne eine solche Abweichung „ein Indiz für W i l l k ü r sein, . . . , wenn damit das System des Gesetzes ohne zureichende sachliche Gründe verlassen w i r d " 5 0 , und wieder an anderer Stelle sagt das BVerfG, ein Verstoß gegen Art. 3 GG könne i n einer „neuartigen, aus System, Sinn und Zweck des bisherigen Gesetzes herausfallenden abweichenden Regelung" liegen 51 . Das heißt nun allerdings nicht, daß jede systemwidrige Norm ohne weiteres nichtig sein müßte. Das BVerfG spricht vielmehr zurückhaltend nur von einem „Indiz" für einen Verstoß gegen Art. 3 und fügt verschiedentlich auch vorsichtig das Wörtchen „allenfalls" ein 5 2 , — wobei der Zusammenhang allerdings erkennen läßt, daß es einen weiteren Systembegriff als den hier vertretenen zugrunde legt und möglicherweise nicht nur an das „innere" System denkt. Vor allem aber ist zu beachten, daß nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG A r t . 3 I i. S. eines Willkürverbotes zu verstehen ist: „Der Gleichheitssatz ist verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden läßt, kurzum, wenn die Bestimmung als willkürlich bezeichnet werden muß 5 3 ." Nun w i r d auf Wertungswidersprüche und daher auf Systembrüche zwar i n aller Regel i n der Tat zutreffen, daß sich „ein vernünftiger . . . Grund für die Differenzierung . . . nicht finden läßt", da sie ja ex definitione auf sachlich nicht berechtigten Abweichungen von den grundsätzlichen Wertungen des Gesetzes beruhen, doch braucht darum gleichwohl nicht immer auch ein Verstoß gegen das W i l l k ü r verbot vorzuliegen. Vielmehr kann ein solcher trotz eines Wertungswiderspruchs aus verschiedenen Gründen zu verneinen sein. Zunächst ist denkbar, daß zwar eine gewisse Disharmonie der Wertung nicht zu leugnen ist, daß diese aber doch nicht den Grad erreicht hat, der zur Bejahung wirklicher W i l l k ü r erforderlich ist, daß also „die Unsachlichkeit der getroffenen Regelung" nicht „evident" ist 5 4 » 5 5 . Sodann ist zu bedenken, daß der Gesetzgeber neben dem Ziel einer sachgerechten, sich i n das Ganze der Rechtsordnung harmonisch einfügenden Regelung auch noch andere Werte und Zwecke zu verfolgen so BVerfGE 18, 315 (334). si BVerfGE 7, 129 (153); 12, 264 (273). 52 Vgl. z. B. BVerfGE 9, 20 (28); 12, 264 (273); 18, 315 (334). 53 BVerfGE 1, 14 (52). 54 Diese Formulierung entspricht der ständigen Rechtsprechung BVerfG, vgl. z. B. BVerfGE 18, 121 (124) m i t ausf. Nachw. 55 Vgl. auch das Beispiel des § 25 11 H G B unten I I 1 a. E.
des
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hat und daß auch deshalb nicht jeder Wertungswiderspruch einen Verstoß gegen das Willkürverbot darstellen muß. Hierbei ist vor allem an den Wert der Rechtssicherheit zu denken. Diese kann z. B. ein Analogieverbot rechtfertigen 56 und damit der Beseitigung von Wertungswidersprüchen entgegenstehen; es sei nur an das oben erörterte Beispiel der mangelnden Strafbarkeit der versuchten einfachen Körperverletzung erinnert. Von W i l l k ü r kann in einem solchen Fall keine Rede sein, w e i l die Rechtssicherheit hier die Gleichstellung an sich gleichwertiger, aber nicht ausdrücklich erfaßter Fälle verbietet. Aber auch andere Zwecke kommen i n Betracht. So ist z. B. daran zu denken, daß der Gesetzgeber zur Erreichung einer internationalen Rechtsvereinheitlichung — etwa innerhalb der EWG — auf bestimmten Gebieten Regelungen i n Kauf n i m m t und gesetzlich sanktioniert, die zu Brüchen m i t tragenden Grundprinzipien unseres Rechts führen, sich aber andererseits nicht entschließen kann, diese bewährten und i n das Rechtsbewußtsein eingegangenen Grundsätze allgemein außer K r a f t zu setzen und nun alle vergleichbaren Vorschriften entsprechend den die neue Regelung tragenden Wertungen abzuändern. Auch dann w i r d man trotz des Systembruchs nicht von einem Verstoß gegen das Willkürverbot sprechen können. Schließlich kann mitunter auch die Tatsache, daß die Rechtsordnung i n verschiedenen Zeiten entstanden ist, zu i m Wege von Auslegung und Rechtsfortbildung nicht zu beseitigenden Systembrüchen führen, ohne daß darum ohne weiteres schon „ W i l l k ü r " vorliegen muß. Z w a r kann man den bloßen Hinweis auf die „historische Gewachsenheit" einer Regelung grundsätzlich nicht als hinreichende Rechtfertigung für einen Wertungswiderspruch anerkennen, doch mag manchmal durchaus ein sachlicher Grund dafür gegeben sein, daß der Gesetzgeber die älteren Rechtsteile nicht sofort an die neueren angleicht. Dieser könnte etwa darin liegen, daß „die Zeit noch nicht reif" ist für die Neuregelung auch des anderen Rechtsgebiets (die ja u. U. noch die Lösung einer Fülle weiterer Probleme voraussetzen kann!), oder auch ganz einfach darin, daß der Gesetzgeber auf Grund der Schwerfälligkeit des Gesetzgebungsverfahrens eben eine gewisse Zeit braucht 5 7 . So w i r d man z.B. Vorschriften des GmbHG, die wertungsmäßig mit den vergleichbaren Bestimmungen des neuen AktienG nicht harmonieren, angesichts der geplanten Reform des GmbH-Rechts auch dann nicht (heute schon 58 ) als nichtig ansehen dür56
Vgl. dazu näher Canaris, a.a.O., S. 183 ff. Die Problematik dürfte hier i n die des „gesetzgeberischen Unterlassens" übergehen. 58 Ob v o n einem späteren Zeitpunkt an, dürfte wieder von der Stellungnahme zum Problem des gesetzgeberischen Unterlassens abhängen; daß aus dem Gleichheitssatz ein Verfassungsauftrag zur Beseitigung von Wertungswidersprüchen folgen kann, ist w o h l nicht zu bezweifeln. 57
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fen, wenn sich „ein vernünftiger Grund für die Differenzierung nicht finden läßt". Somit gibt es durchaus Fälle, i n denen ein Systembruch keinen Verstoß gegen das Willkürverbot darstellt. A n der Verbindlichkeit der systemwidrigen Norm ist dann nicht zu zweifeln, da auch der zuerst erörterte Nichtigkeitsgrund, die Annahme einer Kollisionslücke, wie gezeigt, letztlich auf das Willkürverbot zurückgeht und daher ausscheidet 583 . I n der Regel w i r d jedoch bei einem Systembruch ein Verstoß gegen den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz gegeben sein, wobei allerdings noch einmal daran zu erinnern ist, daß hier nur die echten Systembrüche und nicht die bloßen Systemmodifikationen gemeint sind, also nur die Fälle, i n denen wirklich ein Wertungs Widerspruch, und nicht nur eine — wenn auch vielleicht rechtspolitisch wenig überzeugende, aber doch immerhin noch vertretbare — Wertungsdifferenzierung vorliegt. Als Beispiel mag noch einmal auf die oben 59 erörterte Problematik des Fehlens von Höchstsummen bei bestimmten Tatbeständen der Gefährdungshaftung zurückgegriffen werden. Bei § 833 S. 1 BGB w i r d man darin keinen Systembruch, sondern nur eine Modifikation sehen dürfen, weil die von Tieren angerichteten Schäden typischerweise nicht so hoch sind, daß die Gefahr ruinöser Schadenszurechnung droht und daß das Risiko nicht auch ohne gesetzliche Höchstgrenze in vollem Umfang versicherungstechnisch kalkulierbar wäre; jedenfalls aber ist aus diesem Grund, auch wenn man einen echten Systembruch annehmen wollte, doch keine evidente Sachwidrigkeit gegeben, so daß der für die Anwendung des Art. 3 I GG erforderliche Grad einer ungerechtfertigten Wertungsverschiedenheit nicht erreicht wäre. Anders liegt es dagegen i m Falle des §22 WHG. Hier können Schäden i n völlig unübersehbarer Höhe entstehen, so daß die Gefahr des w i r t schaftlichen Ruins des Ersatzpflichtigen ohne weiteres zu bejahen ist und die Möglichkeit einer vollen Deckung des Risikos durch eine Ver58a Freilich wäre es an sich denkbar, insoweit einen anderen W i l l k ü r begriff als i n A r t . 3 G G zugrunde zu legen u n d so doch zur Nichtigkeit der widersprüchlichen Vorschriften zu kommen. Das w ü r d e jedoch dazu führen, daß der Richter einer nicht gegen das G G verstoßenden N o r m den Gehorsam verweigern könnte, u n d das erscheint m i t seiner verfassungsrechtlichen Bindung an das Gesetz u n d m i t dem Grundsatz der Gewaltenteilung allenfalls i n jenen extremen Fällen „gesetzlichen Unrechts" vereinbar, die von der bekannten „Radbruchschen Formel" erfaßt werden; die Anerkennung eines derartigen Extremfalls aber ist selbstverständlich nicht schon bei leichten Wertungswidersprüchen möglich, sondern setzt ebenfalls „offensichtliche W i l l k ü r " oder ein ähnliches „äußerstes" K r i t e r i u m voraus, so daß man insoweit zu demselben Ergebnis w i e über A r t . 3 GG kommt. I m übrigen handelt es sich hier, insbesondere hinsichtlich der Frage rechtmäßigen Ungehorsams gegenüber nicht-verfassungswidrigen Normen, u m einen eigenständigen u n d höchst komplizierten Problemkreis, der i m Rahmen dieser A r b e i t nicht näher erörtert werden kann. » Vgl. S. 120 f.
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Sicherung zumindest stark i n Frage gestellt erscheint. Das Fehlen einer Höchstsumme ist daher hier i m Vergleich m i t den anderen Tatbeständen der Gefährdungshaftung durch nichts zu rechtfertigen und verstößt deshalb gegen Art. 3 I GG G 0 . — Als verfassungsrechtlich zumindest höchst bedenklich muß auch der ebenfalls schon oben erwähnte Widerspruch zwischen § 28 I I und §§ 130 II, 173 I I HGB angesehen werden 6 1 , — wie überhaupt die gesamte Regelung der Haftung für Altschulden bei Übernahme eines Handelsgeschäfts und bei E i n t r i t t in ein solches oder i n eine Handelsgesellschaft wertungsmäßig widersprüchlich und gänzlich undurchsichtig ist: nach § 25 und § 27 HGB kommt es auf die Fortführung der Firma an, nach §§ 28, 130 und 173 dagegen nicht, nach § 25 I I und § 28 I I ist die Haftung dispositiv, nach §§ 130 II, 173 I I zwingend usw.; ja, es ist nicht einmal eine klare ratio legis der Bestimmungen erkennbar 6 2 ! Es ist daher höchst fraglich, ob die gesamte Regelung der Haftung für Altschulden — zumindest, soweit sie nicht nur eine Haftung m i t dem übernommenen bzw. dem gemeinsamen Vermögen, sondern auch m i t dem persönlichen Vermögen anordnet — überhaupt vor dem verfassungsrechtlichen Willkürverbot Bestand haben kann 6 1 . Dabei wären hier dann wohl alle Bestimmungen (jedenfalls i n ihren widersprüchlichen Teilen) als nichtig anzusehen 63 und nicht nur eine einzelne Vorschrift, da nicht ersichtlich ist, welche der Normen sach- oder systemgerechter oder „vernünftiger" ist, — während i n anderen Fällen durchaus eine von mehreren untereinander widersprüchlichen Normen bestehen bleiben kann 6 4 . co Ob deswegen § 22 W H G nichtig ist oder ob aus Art. 3 GG lediglich ein Verfassungsauftrag zu einer entsprechenden Ergänzung der Regelung folgt (dessen Mißachtung dann nach den Grundsätzen über das gesetzgeberische Unterlassen zu behandeln ist), ist eine über den vorliegenden Zusammenhang hinausführende allgemein-verfassungsrechtliche Frage; i m Ergebnis dürfte hier der zweiten Alternative der Vorzug zu geben sein. 61 Ob w i r k l i c h ein Verfassungsverstoß vorliegt oder nicht, soll hier nicht abschließend entschieden werden. Es hängt davon ab, ob die Widersprüchlichkeit der Regelung ein solches Maß erreicht, daß die Unsachlichkeit „evident" ist, ob sich also überhaupt kein vertretbarer Gesichtspunkt für die Unterschiede anführen läßt; die Problematik ist insoweit letztlich weder verfassungsrechtlicher noch methodologischer, sondern handelsrechtlicher Art. 62 Vgl. zur K r i t i k des § 25 H G B Pisko, Ehrenbergs Handbuch des gesamten Handelsrechts, Bd. I I , 1914, S. 243 f., 245 f., 255; zur K r i t i k des §28 HGB Fischer, Anmerkung zu B G H L M Nr. 3 zu § 28 HGB. 63 ob der „Rest" noch als gültig anzusehen wäre und ob gegebenenfalls eine vom Richter auszufüllende Lücke entstände, ist ein anderes Problem, das nicht i n diesen Zusammenhang gehört und das sich ganz allgemein bei teilweise verfassungswidrigen Normen stellt; vgl. i n diesem Zusammenhang auch Knittel, JZ 67, S. 79 ff. 64 Es gilt i. E. dasselbe, was oben hinsichtlich der Kollisionslücken ausgeführt wurde (vgl. Fn. 45). So sind in dem i m Text behandelten Beispiel des § 22 W H G natürlich nicht etwa die — systemkonformen und prinzipgemäßen! — Bestimmungen über die Höchstsummen bei den übrigen Tatbeständen der 9 Canaris
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5. Die Bedeutung der verbleibenden Systembrüche für die Möglichkeiten von Systemdenken und Systembildung in der Jurisprudenz
Alles in allem zeigt sich somit, daß das Systemdenken zwar grundsätzlich m i t der Möglichkeit von Systembrüchen konfrontiert bleibt, daß diese jedoch von weit geringerer praktischer Bedeutung sind, als man gemeinhin annimmt. Denn zu den Möglichkeiten der systemkonformen Auslegung und Rechtsfortbildung 65 t r i t t als weiterer Ausweg die Annahme der Verfassungswidrigkeit und damit der Nichtigkeit systemwidriger Normen. Diese können zwar u . U . durchaus vor dem Grundgesetz Bestand haben, doch dürften die oben i n diesem Zusammenhang angeführten Beispiele deutlich gemacht haben, wie selten derartige Fälle, in denen zwar ein echter Systembruch, aber doch kein Verstoß gegen das Willkürverbot vorliegt, sein werden. Daß sie gleichwohl immerhin denkbar sind, ist zwar für die „Reinheit" des Systems „störend", macht ein solches aber nicht unmöglich. Denn während ein axiomatisch-logisches System schon durch einen einzigen Widerspruch zwischen seinen Axiomen unbrauchbar wird, w e i l aus ihm dann jeder beliebige Satz ableitbar ist 6 6 , läßt sich i n dem axiologischen oder teleologischen System der Rechtswissenschaft der Widerspruch „isolieren" : die Systembildung ist i n diesem Punkte dann zwar unmöglich — und dementsprechend auch die Rechtsgewinnung aus dem System —, alle übrigen Bereiche dagegen werden davon nicht berührt 6 7 . Mag eine Gefährdungshaftung als nichtig anzusehen, u m den Wertungswiderspruch zu beheben, sondern § 22 W H G ist durch eine entsprechende Regelung zu ergänzen. 65 Diese könnte m a n geradezu als U n t e r f a l l der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung ansehen, wenn man das Problem der Systembrüche m i t der hier vertretenen Ansicht unter dem Aspekt des v e r fassungsrechtlichen W i l l k ü r v e r b o t s sieht. Jedoch erschöpfen sich systematische Auslegung u n d Rechtsfortbildung nicht i n der Beseitigung von W i d e r sprüchen, die ein solches Ausmaß erreicht haben, daß ein Verstoß gegen A r t . 3 I GG i n Betracht kommt. I n Wahrheit dürfte umgekehrt die verfassungskonforme Auslegung (auch soweit sie nicht gerade i m Blick auf A r t . 3 erfolgt) ein Unterfall der Auslegung aus dem (inneren!) System sein, da sie die Einzelnorm v o r dem H i n t e r g r u n d des Ganzen der Rechtsordnung sieht und ihre Legitimation letztlich i m Gedanken der Einheit und Widerspruchsfreiheit des Rechts finden dürfte. 66 Vgl. z. B. Leinf ellner, S t r u k t u r u n d A u f b a u wissenschaftlicher Theorien,
1965, S. 208; Bochenski, Die zeitgenössischen Denkmethoden, S. 80; Popper,
L o g i k der Forschung, S. 59. 67 Schon aus diesem Grunde geht daher die anmaßende K r i t i k von Schreiber, Die Geltung von Rechtsnormen, S. 199, an Larenz, Festschrift für Nikisch, S. 301, an der Sache vorbei u n d zeigt nur, w i e w e n i g Schreiber die Besonderheiten juristischen, d. h. vorwiegend teleologischen Denkens begriffen hat (vgl. dazu auch Fn. 30 und 44) : was für ein logisches System und für logische Sätze gilt, braucht deshalb noch längst nicht auch auf ein teleologisches System u n d auf allgemeine Rechtsprinzipien zu passen, deren Eigengesetzlichkeit es i m Gegenteil unbefangen zu ermitteln gilt (vgl. dazu auch oben § 2 bei Fn. 124). Außerdem hätte Schreiber bei unvoreingenommener Lektüre unschwer erkannt, daß Larenz, w i e seine Beispiele k l a r
I I . Systemfremde Normen
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vollständige Systembildung somit auch unerreichbar bleiben, so besagt diese Diskrepanz zwischen dem Ideal eines Systems und seiner Realisierbarkeit doch nichts Entscheidendes gegen die Bedeutung des Systems für die Jurisprudenz. I m Gegenteil hat sich i m Verlauf der vorstehenden Untersuchungen ein neuer Aspekt gezeigt, unter dem die Systembildung von praktischer Relevanz ist: durch die Möglichkeit der Nichtigkeit systemwidriger Normen. I I . Systemfremde N o r m e n 1. Systemfremde Normen als Verstoß gegen den Gedanken der Einheit der Rechtsordnung
Eng verwandt mit der Problematik der Systembrüche ist die der system fremden Normen. Während aber bei jenen und insbesondere bei den systeimuidrigen Normen das Gebot der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit verletzt ist, liegt bei diesen ein Verstoß gegen das Postulat der inneren Einheit vor: es handelt sich um Rechtssätze, die zwar nicht i n einem Wertungswiderspruch zu anderen Bestimmungen oder zu den Grundprinzipien der Rechtsordnung stehen, die sich aber andererseits auch nicht auf einen allgemeinen Rechtsgedanken zurückführen lassen und die daher innerhalb des Ganzen der Rechtsordnung wertungsmäßig isoliert bleiben; auch bilden sie nicht etwa lediglich eine Systemmodifikation, w e i l (und sofern) ihre ratio nicht genügend Uberzeugungskraft besitzt, um als sinnvolle Bereicherung der Grundwertungen des fraglichen Rechtsgebiets gelten zu können. Ein Beispiel aus dem geltenden Privatrecht dürfte wiederum § 25 HGB bilden. A u f den ersten Blick könnte es zwar scheinen, als sei dieser entweder (ähnlich wie z. B. § 419 BGB) eine Ausprägung des Prinzips der Zusammengehörigkeit von A k t i v a und Passiva oder aber ein Unterfall der Rechtsscheinhaftung 68 , doch halten beide Hypothesen näherer Prüfung nicht stand; die erste nicht, weil es dann nicht auf zeigen, der Sache nach trotz seiner zugegebenermaßen mißverständlichen Formulierungen i n Wahrheit keine echten Widersprüche (und schon gar nicht solche i m Sinne der Logik) i m Auge hat, sondern bloße Prinzipiengegensätze u n d ähnliche Erscheinungen (vgl. näher oben Fn. 7 und 11), die selbst von Schreibers Standpunkt aus die Möglichkeit sinnvoller Ableitungen gänzlich unberührt lassen. I m übrigen erledigt sich ein Satz wie „Die Grundsätze u n d Prinzipien des historischen Rechtsganzen sind schon aus logischen Gründen ungeeignet, dem Richter zu zeigen, welche Rechtsnormen er i m Wege der Rechtsschöpfung der Lösung eines Interessenkonfliktes zugrunde legen soll" (vgl. Schreiber, a.a.O., S. 198 f.) doch w o h l w i r k l i c h von selbst. 68 Dafür die w o h l h. L., vgl. z. B. RGZ 149, 25 (28); 169, 133 (138); Β GHZ 18, 248 (250); 22, 234 (239); 29, 1 (3); A. Hueck, ZHR 108, S. 8; Schlegelberg erHildebrandt, 4. Aufl. 1960, § 25 Rdzn. 2 u n d 6 a. A. 9"
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§6 Die Grenzen der Systembildung
die Fortführung der Firma ankommen könnte, die Haftung auf das übernommene Vermögen beschränkt sein müßte und die Bestimmung auch nicht dispositiv sein dürfte; die zweite nicht, weil der gute Glaube des Altgläubigers keine Rolle spielt, eine „Disposition" auf seiner Seite nicht erforderlich ist und auch kein objektiver Scheintatbestand vorliegt 6 9 . Nach Ansicht der Gesetzesverfasser ist der Sinn des § 2511HGB denn auch nicht i n einem dieser beiden Rechtsgedanken, sondern vielmehr darin zu sehen, daß man der Verkehrsanschauung „entgegenkommen" wollte, nach der „der jeweilige Inhaber der Firma als Berechtigter und Verpflichteter angesehen w i r d " 7 0 . Geschützt w i r d also das Vertrauen auf eine falsche Rechtsauffassung (und noch dazu unabhängig davon, ob der Altgläubiger nicht i n concreto durchaus zutreffende rechtliche Vorstellungen hatte!). Eine solche ratio legis stellt in unserer Rechtsordnung eine einmalige Absonderlichkeit dar und besitzt auch i n sich selbst nicht die geringste Uberzeugungskraft. § 25 HGB ist deshalb i n der Tat systematisch i n keiner Weise einzuordnen. 2. Auslegung und Gültigkeit systemfremder Normen
Hinsichtlich der praktischen Handhabung derartiger systemfremder Normen gilt ganz ähnliches wie hinsichtlich der der systemwidrigen Vorschriften. Insbesondere scheiden selbstverständlich die Möglichkeiten systematischer Auslegung und Lückenergänzung aus, und das führt — wie übrigens auch i m Falle des § 25 H G B 7 1 — häufig dazu, daß eine sinnvolle Interpretation überhaupt nicht möglich ist. Jedenfalls aber w i r d man derartige „Fremdkörper" innerhalb der Rechtsordnung auf einen möglichst engen Raum zu begrenzen haben, so daß man als grundsätzliche Auslegungsmaxime ein Gebot einschränkender oder wenigstens ein Verbot ausdehnender Auslegung aufstellen kann. I m übrigen ergibt sich auch hier die Gültigkeitsproblematik, und wieder ist sie aus Art. 3 GG zu lösen: auch systemfremde Vorschriften sind am verfassungsrechtlichen Willkürverbot zu messen. Dabei bietet § 25 HGB ein gutes Beispiel dafür, daß nicht jede Störung des Systems zur Nichtigkeit der entsprechenden Norm führen muß; denn die vom Gesetzgeber dem § 25 HGB zugrunde gelegte ratio ist zwar alles andere als überzeugend, aber doch nicht so unsinnig, daß man die Vorschrift als evident sachwidrig und daher geradezu willkürlich bezeichnen müßte 7 2 . «o Vgl. näher Canaris, Die Vertrauenshaftung i m deutschen Privatrecht, 1971, S. 184 f. 70 Vgl. E n t w u r f eines Handelsgesetzbuchs m i t Ausschluß des Seehandelsrechts nebst Denkschrift, Amtliche Ausgabe, B e r l i n 1896, S. 38. 71 Vgl. Fn. 69 und Fischer, A n m e r k u n g zu B G H L M Nr. 3 zu §28 HGB. 72 Ob sie wegen des Wertungswiderspruchs zu anderen Vorschriften (vgl. oben S. 129) nichtig ist, muß von der Frage nach der W i l l k ü r l i c h k e i t ihrer — für sich allein betrachteten — ratio getrennt werden!
I I I . Systemlücken
133
I I I . Systemlücken 1. Systemlücken als Wertungslücken
Weit schwerere Gefahren als von den verhältnismäßig seltenen unbehebbaren Systembrüchen und den ebenfalls nicht sehr häufigen systemfremden Normen drohen der Systembildung von den „Systemlücken". Wie jene auf die Widersprüchlichkeit oder die Singularität bestimmter gesetzlicher Wertungen zurückgehen, so beruhen diese auf deren gänzlichem Fehlen. Denn da das System ex definitione nur die äußere Form der wertungsmäßigen Einheit des Rechts darstellt, ist alle Systembildung notwendigerweise darauf angewiesen, daß überhaupt Wertungen vorhanden sind; Wertungslücken haben daher folgerichtig stets Systemlücken zur Folge. Daß aber derartige Wertungslücken vorkommen können, ist nicht zu bezweifeln, da es nicht nur keine „logische", sondern auch keine „teleologische Geschlossenheit" des Rechts gibt 7 3 . Das beweist schon allein die Existenz solcher Gesetzeslücken, für deren Ausfüllung das positive Recht keine hinreichenden Wertungen zur Verfügung stellt; man denke nur an ein so klassisches Lückenbeispiel wie das Fehlen einer Regelung des Obligationsstatuts i m deutschen EGBGB. Das beweisen aber darüber hinaus auch die zahlreichen „wertausfüllungsbedürftigen" Normen 7 4 , die sich durchaus nicht immer m i t Hilfe der Wertungen des geltenden Rechts konkretisieren lassen und sich häufig sogar einer vom jeweiligen Einzelfall unabhängigen wertungsmäßigen Festlegung überhaupt entziehen. Dabei muß man sich darüber i m klaren sein, daß das Vorhandensein einer solchen Wertungslücke gesetzgeberisch keineswegs immer negativ zu beurteilen ist. Zwar sind natürlich die zuerst erwähnten Gesetzeslücken ein schwerer Mangel, und auch viele Blankettnormen stellen nicht mehr dar als eine unerfreuliche Verlegenheitslösung; andererseits aber haben konkretisierungsbedürftige" Generalklauseln häufig auch eine völlig legitime Funktion und w i r k e n einer allzu starren Generalisierung entgegen, indem sie der „ B i l l i g k e i t " i. S. der Gerechtigkeit des Einzelfalles zum Durchbruch verhelfen 7 5 . A n dieser Stelle macht sich also bemerkbar, daß der Systembildung, wie eingangs 76 schon hervorgehoben, nicht nur die historische Gewachsenheit des Rechts und die Begrenztheit menschlichen Erkenntnis- und Sprach Vermögens entgegensteht, sondern auch — als gewissermaßen immanente Schranke — die „ i n d i v i dualisierende Tendenz" der Gerechtigkeit. 73
Vgl. näher Canaris, Die Feststellung v o n Lücken, a.a.O., S. 173. Diese werden von der i n Deutschland h. L. von den Gesetzeslücken auch f ü r die Fälle getrennt, i n denen sie Wertungslücken enthalten; vgl. eingehend Canaris, a.a.O., S. 26 ff. m i t ausführlichen Nachw. 75 Vgl. auch oben § 4 I V 3, S. 85 u n d unten § 7 I I 2. ™ Vgl. S. 112. 74
134
§6 Die Grenzen der Systembildung
2. Systemlücken als Einbruchstellen nicht-systemorientierter Denkweisen
Was die methodologische Behandlung derartiger Wertungslücken angeht, so müssen hier die Möglichkeiten systematischen Denkens naturgemäß versagen; denn dieses ist seiner Struktur nach an ein Arbeiten mit Hilfe des Gleichheitssatzes gebunden und kann entsprechend dessen rein „formalem" Charakter immer nur (wenigstens ansatzweise) schon vorhandene Wertungen „zu Ende denken", niemals aber gänzlich neue Wertungen schaffen. Zwar müssen die fraglichen Teile der Rechtsordnung nicht notwendig ein für allemal außerhalb des Systems bleiben, sondern können nach und nach wertungsmäßig hinreichend konkretisiert und verfestigt werden, u m einer Systematisierung und einer Eingliederung in das — stets offene! — System zugänglich zu werden 7 7 , doch kann dies bestenfalls teilweise gelingen und ist vor allem auch keineswegs immer wünschenswert; zumindest bei jenen Wertungslücken, die auf dem Durchbruch der „individualisierenden Tendenz" der Gerechtigkeit beruhen, wäre eine restlose systematische Verfestigung vielmehr geradezu funktionswidrig. So eröffnet sich hier ein legitimes Feld für nicht-systemorientierte Denkweisen. Als eine solche ist in erster Linie die „Topik" zu nennen, deren Bedeutung für die Jurisprudenz daher i m folgenden Paragraphen näher untersucht werden soll.
77 Vgl. näher unten § 7 I I 3.
§ 7 Systemdenken und T o p i k I n seiner Schrift „ T o p i k u n d J u r i s p r u d e n z " 1 h a t Theodor Viehweg d i e These aufgestellt, die S t r u k t u r der J u r i s p r u d e n z sei nicht m i t H i l f e des Systemgedankens l a , sondern n u r auf G r u n d der L e h r e v o n der T o p i k z u t r e f f e n d zu erfassen. D i e D i s k u s s i o n u m diese B e h a u p t u n g ist seither n i c h t m e h r z u r R u h e gekommen, u n d auch die vorliegende A r b e i t v e r d a n k t i h r e E n t s t e h u n g n i c h t zuletzt d e n provozierenden A n r e g u n g e n , d i e die Gedanken V i e h w e g s f ü r j e d e n A n h ä n g e r systematischen D e n kens i n sich schließen. D i e A n e r k e n n u n g 2 w i e die L e b h a f t i g k e i t des Widerspruchs 8 , die diese gefunden haben, läßt dabei v o n v o r n h e r e i n 1 1953, 3. Aufl. 1965; vgl. auch Stud. Gen. 11 (1958), S. 334 ff. (338 f.). Aus der Fülle der Rezensionen vogl. vor allem Schilling, Philos. Literaturanzeiger V I I I , S. 27 ff.; Coing, ARSP 41 (1954/55), S. 436 ff.; Würtenberger, AcP 153, S. 560 ff.; Wesenberg, JZ 1955, S.462; Engisch, ZStrW69, S. 596 ff. l a Neuerdings verwahrt sich Viehweg gegen die Interpretation, seine Angriffe richteten sich gegen jede A r t des Systemdenkens i n der Jurisprudenz, und beschränkt seine K r i t i k ausdrücklich auf die Verwendung eines „Deduktivsystems", vgl. Systemprobleme i n Rechtsdogmatik und Rechtsforschung, i n : System und Klassifikation in Wissenschaft und Dokumentation, 1968, S. 96 ff. (S. 102 bei und i n Fn. 13). Dementsprechend sieht er zwischen topischem und systematischem Denken keinen grundsätzlichen Gegensatz, sondern verbindet beide sogar ausdrücklich zu einem „topischen System", vgl. a.a.O., S. 104. E i n solches ist jedoch ein Widerspruch i n sich; denn ein Verfahren, das „bindungsscheu" ist (vgl. Viehweg, Topik, a.a.O., S. 23), das lediglich „Winke geben w i l l " (vgl. Viehweg, Topik, a.a.O., S. 15) und das wesensgemäß am möglichst eng formulierten Einzelproblem, ja am Einzelfall orientiert ist (vgl. dazu unten bei und m i t Fn. 67), vermag niemals dem Gedanken der Einheit und inneren Ordnung und damit den Grundvoraussetzungen des Systembegriffs gerecht zu werden, und so geht es Viehweg ja denn auch nicht u m jene wenigen allgemeinen Prinzipien, die die Einheit eines Gebietes konstituieren, sondern i m Gegenteil u m die Mannigfaltigkeit mehr oder weniger beliebiger Gesichtspunkte (vgl. etwa die Umschreibungen von „Topos" bei Viehweg, Topik, a.a.O., S. 10 und 18). Wenn er jetzt von einem „topischen System" spricht, so trägt das daher nicht nur nichts zur Klärung der Problematik bei, sondern muß i m Gegenteil den ohnehin schon reichlich verschwommenen Begriff des „Topos" auch noch seiner letzten Konturen berauben. 2 Vgl. z.B. Coing, a.a.O.; Würtenberger, a.a.O.; Esser, Grundsatz und Norm, S. 6 f., 44 ff., 218 ff.; Bäumlin, Staat, Recht und Geschichte, 1961, S. 27 ff.; Arndt, NJW 63, S. 1277 f.; Peter Schneider, W d D S t R L 20, S. 35 ff.; Ehmke, VVdDStRL 20, S. 53 ff.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 596 f. m i t Fn. 48; Egon Schneider, MDR67, S. 6 ff. (8 ff.); N. Horn, NJW 67, S. 601 ff. » Vgl. z. B. Flume, Steuerberater-Jahrbuch 1964/65, S. 67, Allg. Teil des Bürg. Rechts, Bd. I I 1965, S. 296, Fn. 9 und Richter und Recht, Vortrag vor ('em 4G. Deutschen Juristentag, Bd. I I , Teil K , 1967, S. 34, Fn. 85; Diederichsen,
136
§ 7 Systemdenken und Topik
vermuten, daß Viehweg jedenfalls m i t seiner zentralen Behauptung, die Jurisprudenz sei ihrer Struktur nach topisch, einen wesentlichen Punkt des juristischen Selbstverständnisses getroffen haben muß. Zumindest dieser Grundgedanke verdient daher, immer erneut diskutiert zu werden, und gegen seine Richtigkeit besagen auch die vielen Schwächen und Unklarheiten i n Einzelheiten, die Viehweg von seinen K r i tikern — m. E. überwiegend mit Recht — entgegengehalten worden sind, nichts Entscheidendes. Wie steht es also mit der „Topik-These"? Die Antwort hierauf setzt eine kurze Klärung des Wesens der Topik voraus, die durch eine Reihe neuerer Arbeiten zu diesem Thema, insbesondere durch die Untersuchungen von Diederichsen 4, Horn 5, Kriele 6 und Zippelius 7 wesentlich erleichtert wird. I . Z u r Charakterisierung der Topik 1. Topik und Problemdenken
Nach Ansicht Viehwegs ist „der wichtigste Punkt bei der Betrachtung der Topik die Feststellung, daß es sich um diejenige denkerische Techne handelt, die sich am Problem orientiert", und dementsprechend definiert er die Topik kurz als „die Techne des Problemdenkens" 6. Dam i t ist indessen so gut wie nichts gewonnen; denn m i t Recht sagt ein so entschiedener Anhänger des Systemdenkens und Gegner der Topik wie Flume: „Alles rechtliche Denken ist Problemdenken, und jede rechtliche Regelung ist eine solche eines Problems" 9 , und man w i r d hinzufügen dürfen: alles wissenschaftliche Denken überhaupt ist Problemdenken — ist doch ein „Problem" nichts weiter als eine Frage, deren Beantwortung nicht von vornherein klar ist 1 0 . Viehweg muß daher offenbar einen engeren Begriff des „Problems" zugrunde legen 11 , und das tut er in der Tat, indem er an Nicolai HartN J W 1966, S. 697 ff.; grundsätzlich kritisch, w e n n auch weniger scharf i m Ton, ferner z.B. Engisch, a.a.O.; Wesenberg, a.a.O.; Enn.-Nipperdey, Allg. T e i l des Bürg. Rechts, 15. Aufl. 1959, §2311 u n d §58 A n m . 35; Larenz, Methodenlehre, S. 133 f. 4 Topisches u n d systematisches Denken i n der Jurisprudenz, N J W 1966, S. 697 ff. s Z u r Bedeutung der Topiklehre Theodor Viehwegs f ü r eine einheitliche Theorie des juristischen Denkens, N J W 1967, S. 601 ff. β Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 114 ff. 7 Problemjurisprudenz u n d Topik, N J W 1967, S. 2227 ff.; vgl. auch schon Wertungsprobleme i m System der Grundrechte, 1962, S. 79 ff. u n d Das Wesen des Rechts, 1965, S. 64 ff. β Vgl. a.a.O., S. 15; Hervorhebungen i m Original. » Vgl. Allg. Teil, a.a.O., S. 296. i° Ä h n l i c h definiert Viehweg selbst das „Problem" als „jede Frage, die anscheinend mehr als eine A n t w o r t zuläßt" (vgl. a.a.O., S. 16). I i Vgl. hierzu und zum folgenden auch Kriele, a.a.O., S. 119 ff.
I. Zur Charakterisierung der Topik
137
manns Unterscheidung zwischen „aporetischer" und „systematischer" Denkweise anknüpft 1 2 . Diese kennzeichnet Hartmann folgendermaßen: „Systematische Denkweise geht vom Ganzen aus. Die Konzeption ist hier das Erste und bleibt das Beherrschende. Nach dem Standpunkt w i r d hier nicht gesucht, er w i r d zu allererst eingenommen. U n d von i h m aus werden die Probleme ausgelesen. Problemgehalte, die sich m i t dem Standpunkt nicht vertragen, werden abgewiesen. Sie gelten als falsch gestellte Fragen." . . . „Aporetische Denkweise verfährt i n allem umgekehrt." . . . „Sie zweifelt nicht daran, daß es das System gibt, und daß es vielleicht i n ihrem eigenen Denken latent das Bestimmende ist. Darum ist sie seiner gewiß, auch wenn sie es nicht erfaßt 1 3 ." Aus diesen Sätzen w i r d einwandfrei deutlich, daß Nicolai Hartmann nicht eine Frontstellung gegen den Systemgedanken überhaupt einnimmt — auch die „aporetische" Denkweise geht ja von der Existenz des Systems aus! —, sondern n u r gegen eine bestimmte A r t systematischen Denkens polemisiert, die i n das System nicht einzuordnende Fragen als Scheinprobleme abtut. Er wendet sich daher lediglich gegen eine A u f fassung, die i m System etwas Endgültiges und nicht nur einen vorläufigen, jederzeit modifizierbaren E n t w u r f sieht, also gegen ein „geschlossenes" System. Dieses aber ist nicht das der Jurisprudenz und auch nicht das irgendeiner anderen Wissenschaft, solange noch ein Fortschritt i n deren grundlegenden Erkenntnissen möglich ist 1 4 , und so ist auch durch Viehwegs Identifizierung von Topik und aporetischem Denken keineswegs eine hinreichende Definition der Topik gegeben. I m Gegenteil: diese ist i n höchstem Maße irreführend 1 5 , ist doch auch die Denkweise i n einwandfrei nicht-topischen Wissenschaften „aporetisch" i m Sinne Hartmanns, da die Abweisung von i n das (bisherige) System nicht einzuordnenden Problemen für jede Disziplin als Sünde wider den Geist der Wissenschaft angesehen werden muß; gewiß würde doch kein Physiker oder Chemiker ein den bisherigen Lehrsätzen widersprechendes Phänomen ignorieren, aber niemand w i r d auf den Gedanken kommen, Physik und Chemie deshalb der Topik zuzuord12 Vgl. Hartmann, Diesseits von Idealismus und Realismus, Kantstudien, Bd. X X I X (1924), 160 ff. Es verdient hervorgehoben zu werden, daß Max Salomon bereits mehrere Jahrzehnte vor dem Erscheinen der Arbeit Viehwegs nicht nur die Rechtswissenschaft als „Problemwissenschaft" gekennzeichnet, sondern sich dabei auch ausdrücklich auf N. Hartmann und Aristoteles berufen hat, vgl. Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1925, S. 54 ff. (58); zur Auffassung Salomons vgl. i m übrigen näher oben § 2 14 a. 13 Vgl. a.a.O., S. 163 f. 14 15
Vgl. näher oben § 3 I und I I I .
Sie fehlt denn auch bei Hartmann, S. 2227 bei Fn. 1 m i t Recht hinweist.
a.a.O., worauf Zippelius,
a.a.O.,
138
§ 7 Systemdenken und Topik
nen. Aporetisches Denken führt daher keineswegs notwendig zur Topik, sondern nur zur „Offenheit" des Systems 16 . Vollends zweifelhaft w i r d der Zusammenhang zwischen Problemdenken und Topik, wenn man die Folgerungen betrachtet, die Viehweg daraus für die „Struktur der Jurisprudenz" zieht. Außer dem nichtssagenden Satz „Die Gesamtstruktur der Jurisprudenz kann nur vom Problem bestimmt werden", stellt er zwei weitere „Erfordernisse" auf: „Die Bestandteile der Jurisprudenz, ihre Begriffe und Sätze, müssen i n spezifischer Weise an das Problem gebunden bleiben und können daher nur vom Problem her verstanden werden" und „Die Begriffe und Sätze der Jurisprudenz können deshalb auch nur i n eine Implikation gebracht werden, die an das Problem gebunden bleibt. Eine andersartige ist zu meiden" 1 7 . Das ist entweder falsch oder trivial. Falsch ist es, wenn Viehweg die „Begriffe und Sätze der Jurisprudenz" damit an das konkrete Problem binden w i l l , anläßlich dessen sie (mehr oder weniger zufällig) einmal entdeckt und entwickelt worden sind; daß z. B. der „Vertrag m i t Schutzwirkung für Dritte" ursprünglich nahezu ausschließlich bei Mietverträgen Anwendung fand, besagt für sich allein nicht das geringste dagegen, diese Konstruktion auch bei anderen Vertragstypen zu gebrauchen. Insoweit kommt vielmehr alles darauf an, ob das „neue" Problem sachlich i m wesentlichen mit dem bisher gelösten übereinstimmt. Meint Viehweg dagegen m i t der zitierten Äußerung nur, daß jeder juristische Begriff oder Satz die Lösung eines bestimmten rechtlichen Problems darstellt und daher vor dessen Hintergrund zu sehen ist, so ist i h m zweifellos zuzustimmen; damit ist dann aber nicht mehr gesagt, als daß jede Antwort sich auf eine Frage bezieht und dementsprechend i n ihrem Sinn wesentlich von dieser bestimmt wird. Es ist sicher nützlich, sich dies immer wieder vor Augen zu führen und deshalb z. B. stets sehr genau den teleologischen Gehalt juristischer Begriffe oder Sätze herauszuarbeiten 18 , doch liegt darin kein Spezifikum der Topik und insbesondere kein Gegensatz zum systematischen Denken, sondern eine Selbstverständlichkeit, die mutatis mutandis für jedes wissenschaftliche Denken gilt. Die „Orientierung am Problem" ist also offensichtlich nicht das Entscheidende, und sie dürfte darüber hinaus wissenschaftstheoretisch überhaupt kein brauchbares Unterscheidungskriterium darstellen 19 . Daß psychologisch ein Gegensatz zwischen Problemdenken und Systemdenken besteht, daß also das Denken des einen Wissenschaftlers sich ie Richtig Kriele, a.a.O., S. 121 f. i7 Vgl. a.a.O., S.66. ι» Vgl. auch oben § 5 I V 1. ι» Vgl. oben bei Fn. 10.
I. Zur Charakterisierung der Topik
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leichter am konkreten Problem entzündet und stärker an dessen Lösung interessiert ist, während das eines anderen seine Anregungen eher von der Seite des Systems her empfängt und i n dessen Ausbau seine Befriedigung findet, soll damit natürlich nicht geleugnet werden; allerdings kann auch dieser Gegensatz allenfalls als ein ideal-typischer angesehen werden 2 0 , da auch der Problemdenker das System, vor dessen Hintergrund sich das Problem i. d. R. erst klar formulieren und abschließend lösen läßt, nicht gänzlich außer acht lassen w i r d und umgekehrt der Systemdenker sich kaum je völlig den vom Problem ausgehenden Anregungen für eine Bereicherung oder Modifizierung des Systems verschließen dürfte. Wie dem aber auch sei, der Gegensatz von Problemdenken und Systemdenken ist, insofern er sich auf einen rein psychologischen Unterschied reduziert, jedenfalls nicht geeignet, irgendwelche Aufschlüsse über die „ S t r u k t u r der Jurisprudenz", um die es bei der Topik-Diskussion ja geht, zu geben. Das ist nachdrücklich festzuhalten, dürfte doch die Faszination, die die Topik vielfach ausübt, nicht zuletzt auf dem Mißverständnis beruhen, allein sie gewährleiste wirkliches Problemdenken. I n Wahrheit nehmen aber die Anhänger der Topik m i t dieser Behauptung ein Verdienst für sich i n Anspruch, das ihnen nicht oder jedenfalls nicht allein gebührt. 2. Topik und Prämissenlegitimation durch „ένδοξα" oder „common sense"
Nicht die von Viehweg i n den Vordergrund gestellte Verbindung von Topik und Problemdenken kann somit den entscheidenden Aufschluß geben, sondern nur der Rückgriff auf das, was „Topik" darüber hinaus i n einer jahrtausendealten philosophischen Tradition bedeutet hat. Der Begriff stammt nun bekanntlich von Aristoteles, und Viehweg knüpft auch ausdrücklich an ihn an 2 1 . Bei Aristoteles aber ist die Topik den sogenannten „dialektischen" Schlüssen zugeordnet (Top. 1.1. 2.) 22 und diese wiederum sind dadurch gekennzeichnet, daß sie εξ ένδοξων, also „aus Meinungsmäßigem", wie Viehweg wohl zutreffend übersetzt 23 , gezogen werden (Top. 1.1.4.). I m Gegensatz zu den „apodeiktischen" Schlüssen, die aus Vordersätzen gewonnen werden, deren Wahrheit beweisbar ist. bauen die „dialektischen" Schlüsse auf Prämissen auf. 20 Vgl. auch Diedenchsen, a.a.O., Fn. 64 (S. 702) i m Hinblick auf Nicolai Hartmanns Unterscheidung von „systematischem" und „aporetischem" Denken. 21 Vgl. a.a.O., S. 6 ff.; zur Frage, inwieweit Aristoteles i n der modernen Topikdiskussion mißverstanden und umgedeutet wurde, vgl. eingehend Kuhn, Zeitschr. für Politik, 1965, S. 101 ff., insbesondere S. 112 ff. 22 I n der Zitierweise w i r d hier Viehweg gefolgt, vgl. a.a.O., S. 7, Fn. 8. 23 Vgl. a.a.O., S. 7 mit Fn. 9; vgl. i n diesem Zusammenhang auch Lerches Konzeption eines „Ansichtendenkens" (DVB1.61, S. 695 ff.), das er allerdings — m i t Recht — klar gegenüber der Topik absetzt (vgl. S. 697 f.).
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§ 7 Systemdenken u n d Topik
die nicht stringent bewiesen, sondern nur erwiesen, aufgewiesen, einsichtig gemacht werden können. Das Verfahren zur Beschaffung derartiger Prämissen ist nun die Topik 2 4 , die sonach nicht etwa durch irgendwelche Besonderheiten der von ihr angewandten Schlußverfahren, sondern allein durch die Besonderheiten der von i h r zugrunde gelegten Obersätze gekennzeichnet ist 2 5 , genauer gesagt: durch die besondere Art, wie diese Prämissen begründet werden. "Ενδοξα sind nämlich nach Aristoteles solche Sätze, „die allen oder den meisten oder den Weisen wahr scheinen, und auch von den Weisen wieder entweder allen oder den meisten oder den Bekanntesten und Angesehensten" (Top. 1.1.5. 3.). Dem entspricht es, daß die Anhänger der Topik als das entscheidende K r i t e r i u m für die Richtigkeit einer Problemlösung regelmäßig den „sensus communis" 2 6 oder den „common sense" 27 ansehen und daß, Viehweg als „einzige Kontrollinstanz die Diskussion" nennt 2 8 . Dabei werden allerdings durchaus wirkliche Einsichten angestrebt", und es handelt sich nicht etwa um „bloßes, beliebiges Meinen" 2 9 , sondern eben um Sätze, die ihre Probe vor dem Forum „aller" oder der „Besten und Angesehensten" bestanden haben oder doch bestehen könnten. Damit ist nun freilich die Topik noch nicht vollständig gekennzeichnet; vielmehr ist bisher m i t Absicht ein wesentliches Merkmal außer Betracht geblieben: der Bezug der Topik auf die Rhetorik. Dieser ist ihr historisch gesehen von vornherein immanent und spielt von Aristoteles über Cicero bis Vico eine maßgebliche Rolle 3 0 . Dabei geht es teils um nach bestimmten Spielregeln durchgeführte Diskussionen, wobei 24 M i t der Problematik der A u f f i n d u n g der Prämissen (im Gegensatz zur Schlußfolgerung aus ihnen) hat sich i n umfassender Weise Perelman befaßt, der dabei der „Rhetorik" u n d der Topik entscheidende Bedeutung zuerkennt; vgl. vor allem Rhétorique et Philosophie, 1952, u n d (zusammen m i t L. Olbrechts-Tyteca) Traité de Targumentation, 1958 m i t dem bezeichnenden Obertitel „ L a nouvelle rhétorique" (zur Topik vgl. p. 112 sqq.); zur juristischen Seite der Problematik vgl. vor allem Justice et raison, 1963, jetzt teilweise deutsch i n : Über die Gerechtigkeit, 1967. 2 5 Darauf w i r d m i t Recht i m m e r wieder hingewiesen, vgl. Viehweg, a.a.O., S. 8; Kriele, a.a.O., S. 134; Horn, a.a.O., S. 602 f. 26 So sind bei Vico (De nostri temporis studiorum ratione, 1708, deutschlateinische Ausgabe i n der Übersetzung von Walter F. Otto, 1947) Topik und sensus communis unlöslich verbunden; vgl. dazu vor allem Gadamer , Wahrheit u n d Methode, 2. A u f l 1965, S. 16 ff. 2 7 Charakteristisch z.B. die Verbindung v o n Topik und common sense bei Esser, a.a.O., vgl. z.B. S. 44, 46, 47 u n d öfter. 28 Vgl. a.a.O., S. 24. 29 So Viehweg, a.a.O., S.25; vgl. auch Kriele, a.a.O., S. 135 und Gadamer, a.a.O., S. 16. 30 Vgl. die Schilderungen bei Viehweg, a.a.O., S. 6 ff., 10 ff., 2 ff. und Kriele, a.a.O., S. 136 ff., 141 ff., 144, 125 ff.
II. Die Bedeutung der Topik für die Jurisprudenz
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offenbar ein einmal zugestandener Satz nicht wieder zurückgenommen werden durfte 3 1 , teils auch einfach u m die Vorbereitung von Reden, die durch die Verwendung von Topoi-Katalogen erleichtert wurde. Es liegt auf der Hand, daß es hierbei häufig nicht auf die Suche nach der Wahrheit ankommt, sondern auf den rein äußerlichen „rhetorischen Erfolg", also auf den nicht selten ziemlich billigen 3 2 Triumph über den Diskussionspartner oder auch nur u m den „Beifall der Menge". Dieser Verbindung mit der Rhetorik dürfte die Topik daher auch ihre weitgehende Geringschätzung verdanken, wie sie etwa i n dem Satz Kants zum Ausdruck kommt, daß der Topik „sich Schullehrer und Redner bedienen konnten, um unter gewissen Titeln des Denkens nachzusehen, was sich am besten für seine vorliegende Materie schickte, und darüber, m i t einem Schein von Gründlichkeit, zu vernünfteln oder wortreich zu schwatzen" 33 . I I . Die Bedeutung der Topik für die Jurisprudenz 1. Grundsätzliche Kritik der Topik
a) Die Unbrauchbarkeit des „rhetorischen" Zweiges der Topik Fragt man nun, was die Topik innerhalb der Jurisprudenz zu leisten vermag, so ist von vornherein klar, daß sie jedenfalls insoweit unbrauchbar ist, als sie sich m i t der Rhetorik verbindet; denn die Frage nach dem Gerechten ist kein Problem bloßer Rhetorik, wie weit man diesen Begriff auch immer fassen mag 3 4 . Daß Viehweg hiergegen nicht eindeutig Stellung bezogen hat, sondern i m Gegenteil offenbar auch diese Komponente der Topik für seine Analyse der Jurisprudenz nutzen w i l l , ist ein schwerer Mißgriff und hat die Auseinandersetzung um seine Thesen stark belastet; eine Behauptung w i e die, „daß die grundlegenden Prämissen durch die Annahme des Gesprächspartners legitimiert werden" 3 5 , mag zwar für bestimmte Formen eines Streit31
Vgl. die anschauliche Schilderung bei Kriele, a.a.O., S. 136 f. Vgl. die bei Kriele, a.a.O., S. 137 geschilderten Tricks, die Aristoteles vorschlägt. 33 Vgl. K r i t i k der reinen Vernunft, 1. Aufl. 1781, S. 269 f. 34 Vgl. auch Flume, Richter und Recht, a.a.O., S. 34 und Käser, a.a.O., S. 67 : „Die Gemeinsamkeit zwischen Jurisprudenz und Rhetorik findet jedoch schon sehr bald ihr Ende . . . Die Redekunst zielt vielmehr auf recht äußerliche und, an ethischen Maßstäben gemessen, oft bedenkliche Erfolge ab. Sie läßt sich dabei, ihren griechischen Vorbildern folgend, von Topoi aus allen Lebensbereichen leiten, zu deren Verwertung sie sich einer ausgefeilten Dialektik bedient. So kunstvoll sich diese Technik auch darstellt, steht sie doch tief unter der von hoher Rechtsethik getragenen Jurisprudenz." 35 Vgl. Viehweg, a.a.O., S. 24. 32
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§ 7 Systemdenken u n d Topik
gesprächs passen 36 , ist aber innerhalb der Jurisprudenz schlechterdings indiskutabel: die Prämissen werden für den Juristen grundsätzlich durch das objektive Recht, insbesondere durch das Gesetz festgelegt und sind einer „Legitimation" durch den „Gesprächspartner" (welchen?!) weder fähig noch bedürftig. b) Das Versagen der Topik gegenüber dem juristischen Geltungsund Verbindlichkeitsproblem Die Topik geht nun aber i n ihrem Bezug auf die Rhetorik nicht auf. Wie jede echte Diskussion und jeder echte Dialog ein Prozeß der Wahrheitsfindung sein kann — man denke nur an den Sokratischen Dialog —, so kann vielmehr auch topische Argumentationsweise „zum Wahren hinführen" 3 7 , und dieses Ziel verfolgen die „dialektischen" Schlüsse i. S. des Aristoteles ja in der Tat. Daß das auch auf (gute) Rhetorik zutreffen kann, soll nicht bestritten werden, nur zum Wesen der Rhetorik (ob i m antiken oder i m modernen Sinne) gehört dieses Ziel nicht notwendig 3 4 , und es dürfte sich daher empfehlen, die „rhetorische" Topik von der „dialektischen" terminologisch und sachlich klar zu trennen 3 8 . Ist nun wenigstens letztere für die Jurisprudenz fruchtbar zu machen? Topoi sind, so definiert Viehweg (in Interpretation des Aristoteles), „vielseitig verwendbare, überall annehmbare Gesichtspunkte, die i m Für und Wider des Meinungsmäßigen gebraucht werden und zum Wahren hinführen können" 3 9 . Topisches Denken kann sich dabei nach seiner Darstellung auf zwei Stufen vollziehen 40 . Auf der ersten werden „mehr oder weniger zufällige Gesichtspunkte in beliebiger Auswahl versuchsweise" aufgegriffen, während man auf der zweiten ein „Repertoire von Gesichtspunkten" heranziehen kann, das i n sogenannten Topoikatalogeil unter einer bestimmten äußeren Ordnung, insbeson36 Insbesondere natürlich dort, wo die Zurücknahme bestimmter einmal zugestandener Prämissen unzulässig ist (vgl. bei u n d m i t Fn. 31); aber auch sonst baut jede Diskussion, soll nicht von vornherein eine Einigung ausgeschlossen sein, auf den den Partnern gemeinsamen, von ihnen ausdrücklich oder stillschweigend anerkannten Prämissen auf. 37 Vgl. die Definition des Topos durch Viehweg, a.a.O., S. 10 oben; vgl. ferner Gadamer, a.a.O., S. 16: „Das ,gut-Reden' . . . ist von jeher eine i n sich doppeldeutige Formel und keineswegs n u r ein rhetorisches Ideal. Es meint auch das Sagen des Richtigen, das heißt des Wahren, nicht n u r : die K u n s t der Rede, die Kunst, etwas zu sagen." Vgl. aber auch Kuhn, Zeitschr. f ü r P o l i t i k 1965, S. 111. ss Wobei die Möglichkeit von Überschneidungen j a soeben zugestanden wurde. 39 Vgl. a.a.O., S. 10.
40 Vgl. Viehweg, a.a.O., S. 18.
I I . Die Bedeutung der Topik f ü r die Jurisprudenz
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dere alphabetisch, gesammelt ist, aber keinen inneren Zusammenhang, also kein System aufweist 4 0 3 . N u n kann sich natürlich auch der Jurist gegenüber einem bestimmten Problem so verhalten, und es mag durchaus richtig sein, daß Beratungen von Kollegialgerichten regelmäßig i n diesem Stil verlaufen 4 1 , doch ist damit noch nicht das Geringste über die Verwendbarkeit der Topik für die Jurisprudenz ausgesagt. Denn nunmehr erhebt sich erst die entscheidende Frage, warum die „zufällig aufgegriffenen Gesichtspunkte" für die Problemlösung überhaupt maßgeblich sein sollen und welchem von diesen sich oft widerstreitenden Topoi gegebenenfalls der Vorrang vor den übrigen zukommt. Wenn jemand z. B. von einem anderen Schadensersatz verlangt, w e i l dieser ihn m i t seinem Auto überfahren hat, so kann man prima vista die verschiedensten „Gesichtspunkte" heranziehen: man kann etwa darauf abstellen, ob der Autofahrer schuldhaft gehandelt hat; man kann aber auch sagen, wer eine so gefährliche Sache w i e ein Auto benutze, müsse auch unabhängig von Verschulden für die bei dessen Betrieb angerichteten Schäden einstehen; man kann die Vermögenslage beider Teile i n Betracht ziehen, aber auch behaupten, diese habe m i t einem gerechten Schadensausgleich nichts zu tun; man kann fragen, inwieweit ein eigenes Verhalten des Verletzten m i t zu dem Unfall beigetragen hat, ob höhere Gewalt i m Spiel war, ob nicht irgendein Dritter den Schaden allein verschuldet hat und i h n daher unabhängig von der Betriebsgefahr des Autos tragen soll; man kann darauf abstellen, ob einer der Beteiligten versichert ist, man kann sagen, der Staat müsse für den Schaden aufkommen, wenn er eine solche Gefährdung wie die durch den Betrieb eines Autos zulasse usw. usw. A l l e diese Gesichtspunkte könnten gewiß für die Lösung unseres Problems (für sich allein oder zusammen m i t anderen) irgendwie relevant sein, aber darum sind sie doch noch keineswegs verbindlich i n dem Sinne, daß sie geltendes 40a
Vgl. jetzt aber Fn. 1 a. Das f ü h r t Schneider, M D R 63, S. 653 u n d 67, S. 8 ff. m i t v i e l Emphase zugunsten der Topik an. Dabei verkennt er vor allem zweierlei: erstens geht es bei der Topikdiskussion nicht u m eine faktische, sondern u m eine methodologische Frage, also nicht darum, w i e die Gerichte üblicherweise vorgehen, sondern darum, wie sie richtigerweise vorgehen sollten (vgl. dazu auch unten Fn. 58), so daß Schneiders Argument schon aus diesem Grunde allenfalls mittelbar relevant sein könnte; u n d zweitens und vor allem ist i n diesem Zusammenhang keinesfalls der S t i l der richterlichen Beratung, 41
sondern nur der der Entscheidung und Begründung von Bedeutung, und
insoweit w i r d w o h l niemand behaupten wollen, daß unsere Gerichte ausschließlich topisch verführen und nicht z. B. u. U. einen i n der Beratung vorgebrachten Gesichtspunkt als „systemwidrig" verwürfen (wobei der Terminus „systemwidrig" natürlich nicht ausdrücklich gebraucht werden muß). — I m übrigen stehen die Angriffe von Schneider, a.a.O., gegen Diederichsen, a.a.O., auf einem Niveau, das eine Auseinandersetzung m i t ihnen ausschließt.
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§ 7 Systemdenken und Topik
Recht sind 4 2 . Ein Topos ist also immer nur ein als solcher unverbindlicher Entscheidungst; or schlag 43, und es bedarf daher eines zusätzlichen Kriteriums, um seine Verbindlichkeit nachzuweisen und die Auswahl unter den verschiedenen, für die Lösung eines bestimmten Problems u. U. in Betracht kommenden Gesichtspunkten zu ermöglichen. Als solches bietet die Topik n u n — scheidet man die „Annahme durch den Gesprächspartner", wie oben geschehen, als f ü r den Juristen völlig unbrauchbar aus — nur die ένδοξα oder den common sense an, also die Meinung „aller oder der meisten oder der Weisesten" über das, was w a h r bzw. mutatis mutandis über das, was gerecht ist; „die Diskussion bleibt die einzige Kontrollinstanz", u m dieses Zitat noch einmal zu wiederholen 4 4 , wobei durchaus zugestanden sein mag, daß das Wissen der „Besten und Angesehensten" i n sie eingegangen ist. Damit aber w i r d deutlich, daß die Topik das Wesen der Jurisprudenz grundsätzlich verfehlt. Denn was geltendes Recht ist, welcher Gesichtsp u n k t also jeweils verbindlich ist, bestimmt sich i. d. R. eben nicht nach dem „common sense" oder der „Meinung aller oder der meisten oder der Weisesten", sondern nach objektivem Recht. Es t r i f f t daher den K e r n der Problematik, wenn Diederichsen Viehweg v o r w i r f t , nirgends fände sich i n seiner Schrift „ein Bekenntnis zur geltenden Rechtsordnung und zu dem sonst jedem Juristen selbstverständlichen Satz, bei der Rechtsanwendung an Gesetz und Recht gebunden zu sein" 4 6 . Und es ist ebenso konsequent w i e verfehlt, wenn Horn i n Fortführung der Gedanken Viehwegs dem Gesetz (!) „topische S t r u k t u r " zuspricht 4 6 und seine „Geltung" und die „Geltung" anerkannter Rechtsgrundsätze und Prinzipien auf die ένδοξα stützt 4 7 . Daß das jeder juristischen 42
Vgl. auch Diederichsen, a.a.O., S. 703 Sp. 2 (ähnlich S. 702 Sp. 2). « Vgl. auch Zippelius, a.a.O., S. 2233 Sp. 2 und Das Wesen des Rechts, a.a.O., S. 67 sowie vor allem Kriele, a.a.O., S. 146 ff., 151, 153. Krieles eigene Lösung des Rechtsgewinnungsproblems verfällt allerdings m. E. i n dieselben Fehler, die er den Anhängern der Topik — m i t Recht — vorhält; denn die von Kriele für maßgeblich gehaltene „RechtsVernunft" (vgl. S. 157 ff.) ist doch wohl kaum etwas anderes als eine spezielle Form der ένδοξα. 44 Vgl. Viehweg, a.a.O., S. 24. 45 Vgl. a.a.O., S. 702 Sp. 1; ähnlich m i t Recht auch Flume, a.a.O. (wie Fn. 2). Vgl. i n diesem Zusammenhang Viehweg, a.a.O., S. 63, wo es von der Topik heißt: „Sie versteht diese (sc.: die juristische Techne) als eine Erscheinungsform jenes unablässigen Suchens nach dem jeweilig Gerechten, . . . das sich an Hand des positiven Rechts fortsetzt." Das ist bezeichnend für die Gefahren der Topik: der dem positiven Recht verpflichtete Jurist sucht nicht „an Hand" (!) dessen nach dem „jeweilig Gerechten", sondern er hat die positiv-rechtliche Entscheidung grundsätzlich (d. h. vorbehaltlich der — extremen — Möglichkeit „gesetzlichen Unrechts") als rechtens hinzunehmen und die Frage nach einem davon unabhängigen „jeweils Gerechten" i. d. R. gar nicht zu stellen; vgl. dazu auch oben § 5 I V 3. 46 Treffend F. Müller, Normstruktur und Normativität, 1966, S. 59, „Die Norm w i r d . . . für die Topik zum Topos unter anderen". 47 Vgl. a.a.O., S. 606 f.
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Geltungslehre Hohn spricht, liegt auf der Hand: ein Gesetz „ g i l t " auch dann, wenn es nicht von der Meinung „aller oder der meisten oder der Weisesten" getragen ist, und umgekehrt kann die Meinung „aller oder der meisten oder der Weisesten" durchaus falsch sein, d. h. etwas verkünden, was keineswegs geltendes Recht ist 4 8 . So unterscheiden denn auch weder Viehweg noch Horn erkennbar zwischen der Tätigkeit des Gesetzgebers und der des Richters, ja man gewinnt den Eindruck, als seien ihre Ausführungen primär auf die erstere bezogen. c) Die Topik als Lehre vom richtigen Handeln und die Jurisprudenz als Wissenschaft vom richtigen Verstehen Das dürfte nun kein Zufall sein, hat doch die Topik i n Wahrheit dem Gesetzgeber — und dementsprechend einer Disziplin wie einer sich normativ verstehenden 49 Politologie 5 0 — wesentlich mehr zu bieten als dem Richter. M i t Recht hat nämlich Horn darauf aufmerksam gemacht, daß die Beispiele der Aristotelischen Topik zum größten Teil der Ethik entnommen sind und daß Aristoteles dementsprechend hier „offenbar an die Wissensgebiete denkt, die sich mit dem menschlichen Handeln selbst befassen, an die praktische Philosophie im weiten Sinn: Ethik, Ökonomie und ,Politik', d. h. Jurisprudenz und politische Wissenschaft" 51 . Horn bezeichnet die Topik daher als „Methode der Handlungswissenschaften" 52 , und ähnlich hat ihr schon vorher Hennis den Rang einer „Logik der praktischen Wissenschaften" zuerkannt 5 3 . Darin dürfte in der Tat eine wesentliche Präzisierung des Wesens der Topik liegen. Denn wo es um die Frage nach dem „richtigen Handeln" geht und insbesondere dort, wo hierüber Aussagen oder 48 So t r i t t denn auch jemand, der die h. L. oder die st. Rspr. angreift, m i t Selbstverständlichkeit m i t der Behauptung auf, allein die von i h m verkündete „Mindermeinung" sei „richtig" i n dem Sinn, daß sie geltendes Recht sei, u n d macht nicht lediglich einen als solchen gänzlich unverbindlichen Vorschlag zur Änderung der bisherigen Rechtslage, wie das allein folgerichtig wäre, wenn diese lediglich auf ένδοξα gegründet wäre; vgl. i n diesem Zusammenhang auch oben S. 69 f. 49 Z u r Frage, inwieweit dies der F a l l ist, vgl. den informativen Aufsatz von Grimm, JZ 65, S. 434 ff. 50 Z u r Bedeutung der Topik für die politische Wissenschaft vgl. einerseits Hennis, P o l i t i k u n d praktische Philosophie, 1963, S. 89 ff., andererseits H e l m u t Kuhn, Aristoteles u n d die Methode der politischen Wissenschaft, Zeitschr. f ü r Politik, 1965, S. 101 ff. 51 Vgl. a.a.O., S. 603 Sp. 2; vgl. auch Gadamer, a.a.O., S. 18 f. („praktisches Wissen"); Wieacker, Privatrechtsgeschichte, a.a.O., S. 596 („praktische Richtigkeit"). 52 Vgl. a.a.O., S. 603 f. 53 a.a.O., S. 109; ablehnend Kuhn, a.a.O., S. 110, 112, 119.
10 Canaris
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Vorschriften gemacht werden, die Verbindlichkeit für Dritte beanspruchen, erscheint eine Legitimation dieser Sätze durch den Konsens „aller oder der meisten oder der Weisesten" zumal i n einer Demokratie immer noch als der relativ beste Ausweg angesichts der Tatsache, daß völlig stringente Beweise nach A r t der Naturwissenschaften in dieser Hinsicht nun einmal nicht möglich sind; oder, um noch einmal Horn zu zitieren: „Wer nicht eine alles durchschauende Vernunft für sich i n Anspruch nimmt, m i t der er die auftretenden Tatsachen- und Wertungsfragen nach A r t einer Rechenaufgabe lösen kann, muß auf Sätze zurückgreifen, über die i n der sozialen Gemeinschaft, in der die Frage nach der .Richtigkeit' auftritt, Verständigung besteht 54 ." Das ist für den Gesetzgeber gewiß eine für den Regelfall 5 5 beherzigenswerte Maxime, und so mag man die Prämissen, an denen er sich orientiert, i n der Tat als Topoi bezeichnen 56 und das Verfahren, in dem sie gefunden werden, topisch nennen, — nur ist die Gesetzgebungskunst eben nicht Jurisprudenz im herkömmlichen Sinne des Wortes; und man kann sie mit dieser auch nicht einfach auf eine Stufe stellen, da anderenfalls der fundamentale Unterschied zwischen Rechtspolitik und Rechtsanwendung, zwischen Argumentation de lege ferenda und de lege lata aufgegeben würde 5 7 , — ein Ergebnis, das m i t der Gewaltenteilung und der i n Art. 20 I I I GG statuierten Bindung der Rechtsprechung an „Gesetz und Recht" unvereinbar wäre 5 8 . 54 Vgl. a.a.O., S. 607 Sp. 1. 55 I n Ausnahmefällen muß natürlich auch er den M u t haben, gegen die Meinung „aller" oder der „meisten" zu entscheiden, u n d zwar dann, wenn diese m i t der Meinung der „Weisesten" nicht übereinstimmt; daß die Möglichkeit einer derartigen Diskrepanz schon i n der Formel des Aristoteles angelegt ist, ohne daß K r i t e r i e n für ihre Lösung ersichtlich sind, macht eine wesentliche Schwäche der Topik aus. 56 Vgl. Henkel, a.a.O., S. 418 ff., der i n diesem Zusammenhang von „Topoi des zu findenden richtigen Rechts" spricht (S. 418). 57 Daß es Ubergänge und Grenzfälle gibt, soll natürlich nicht geleugnet werden, doch hindert das nicht, die Unterscheidung als im Kern richtig anzusehen (vgl. auch die folgende Fn.). A u f die hiermit zusammenhängenden höchst komplexen Vorfragen kann i m Rahmen dieser A r b e i t nicht näher eingegangen werden, doch entspricht das Festhalten an der Unterscheidung trotz immer wieder aufkommender K r i t i k zweifellos der ganz überwiegenden Ansicht; wenn man diese nicht teilt, w i r d man natürlich auch die Topik anders beurteilen, doch sollte man dann auch die extreme Position i n dieser Vorfrage nicht i m D u n k e l n lassen. 58 Daß eine Unterscheidung von Rechtspolitik u n d Rechtsanwendung überhaupt nicht möglich sei u n d daß demnach A r t . 20 I I I G G ein u n e r f ü l l bares u n d daher leerlaufendes Postulat beinhalte, w i r d w o h l niemand i m Ernst behaupten wollen. Es ist deshalb entgegen der Ansicht von Kriele, a.a.O., S. 149 keineswegs ein sinnloser Einwand, daß juristisches Denken nicht „topisch sein solle oder sein dürfe". Die „Topikthese" kann vielmehr i m Gegenteil vernünftigerweise n u r methodologisch u n d normativ, nicht
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D e m e n t s p r e c h e n d ist die J u r i s p r u d e n z g r u n d s ä t z l i c h 5 9 auch k e i n e „ H a n d l u n g s w i s s e n s c h a f t " i n d e m Sinne, i n d e m H o r n d e n B e g r i f f gebraucht, sondern eine hermeneutische Wissenschaft: sie ist w e i t g e h e n d 5 9 eine L e h r e v o m r i c h t i g e n Verstehen, nicht v o m richtigen Handeln 60. D e n n d i e V o r s c h r i f t e n ü b e r letzteres s t e l l t g r u n d s ä t z l i c h das o b j e k t i v e Recht auf, u n d der R i c h t e r h a t i. d. R. l e d i g l i c h dessen W e r t u n g e n verstehend n a c h z u v o l l z i e h e n 6 1 , n i c h t aber d i e A n s c h a u u n g e n anderer, u n d seien es auch die „ a l l e r oder der m e i s t e n oder d e r W e i s e n " , an deren Stelle z u setzen. Daß dieses „ V e r s t e h e n " n i c h t selten e i n E l e m e n t d e r E i g e n w e r t u n g e n t h ä l t — dessen B e d e u t u n g m a n f r e i l i c h n i c h t überschätzen sollte — u n d daß es sich n i c h t m i t d e n M i t t e l n der f o r m a l e n L o g i k v o l l z i e h e n läßt, besagt d a b e i n i c h t das geringste z u g u n s t e n d e r T o p i k ; d e n n diese ist keineswegs die faktisch oder phänomenologisch begriffen werden; denn daß der Jurist „unentrinnbar" (vgl. Kriele, a.a.O.) topisch denke, also notwendigerweise (!) seine Argumente ausschließlich auf ένδοξα und common sense, nicht aber auf die davon unabhängigen u n d oft genug damit i n Widerspruch stehenden Anordnungen des Gesetzes stützen könne, wäre eine abwegige Behauptung, u n d es kann daher nur u m die Frage gehen, wie er richtigerweise zu argumentieren hat. Freilich zeigt Kriele allenthalben, daß er von der Möglichkeit des Gesetzgebers, k l a r faßbare Wertungen zu setzen, wenig hält, so etwa i n seiner Polemik gegen das „Subsumtionsideal" (S. 47 ff.) oder i n seiner maßlos übertriebenen Behauptung, „das Vorhandensein eines Rechtssatzes, der durch bloßes »Verstehen' subsumtionsgeeignet w i r d " , sei „ein Grenzfall", die Gesetzeslücke sei nicht die Ausnahme, sondern die Regel, und der Lückenbegriff w i r k e daher „eher verwirrend als klärend" (S. 196, vgl. auch S. 205 f.). Krieles Blick ist dabei nicht nur ersichtlich viel zu stark am Verfassungsrecht m i t seiner Fülle „wertausfüllungsbedürftiger" Generalklauseln orientiert, sondern auch zu einseitig auf die Tätigkeit der höchsten Gerichte u n d der Wissenschaft gerichtet; daß diese sich nahezu ausschließlich m i t v o m Gesetzgeber nicht eindeutig entschiedenen Wertungsproblemen befassen, liegt i n der N a t u r der Sache, besagt aber nichts dagegen, daß es eine Unzahl v ö l l i g unmißverständlich geregelter Fragen gibt (die deshalb meist gar nicht erst streitig werden!). Daß „das B G B mehr Probleme offenläßt als löst" (so Kriele, a.a.O., S. 209), ist jedenfalls eine Behauptung, die durch nichts belegt ist und m. E. als geradezu abenteuerlich zurückgewiesen werden muß (Heck w i r d von Kriele zu Unrecht als Zeuge aufgerufen: er sagt an der zitierten Stelle nur, daß bei einer bestimmten Terminologie „vielleicht der weitaus größte T e i l der zweifelhaften Rechtsfragen auf dem Vorhandensein von Gesetzeslücken b e r u h t " ; Kriele übersieht hier [ebenso wie S. 196] ersichtlich die Beschränkung auf die „zweifelhaften" Fragen, über deren zahlenmäßiges Verhältnis zu den unzweifelhaften Heck nicht das geringste sagt, und die rein terminologische Bedeutung der Stelle, bei der es u m die sprachliche Abgrenzung zwischen „Subsumtion" und „Lückenergänzung" geht und u m sonst nichts.). se Vgl. aber auch unten Ziff. 2. 60 a. A. offenbar Wieacker, JZ 57, S. 704, 706; vgl. auch Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, 1956, S. 19 und Festschrift für E r i k Wolf, 1962, S. 451. 61 Der Begriff „Wertungsjurisprudenz" ist daher nicht unmißverständlich, weswegen er ζ. B. von Heck abgelehnt wurde, vgl. Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, S. 50 f. 10*
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§ 7 Systemdenken u n d Topik
einzige Alternative zur formalen Logik und keineswegs das einzige Verfahren für die Auffindung von Prämissen 62 , und deshalb sind Viehwegs ständige Hinweise auf die begrenzten Erfolge formallogischen Denkens i n der Jurisprudenz 6 3 ebensowenig beweiskräftig für seine „Topikthese" wie seine Polemik gegen ein „axiomatischdeduktives" System 63 , das kaum noch vertreten w i r d 6 4 . Vielmehr dürfte nicht die Topik, sondern grundsätzlich nur ein teleologisch-systematisches Denken, wie es oben 65 näher dargestellt worden ist und wie es dem heute wohl vorherrschenden Methodenverständnis entspricht 6 5 a , für die Jurisprudenz die notwendige Ergänzung der Sätze der formalen Logik bilden. Von der Topik unterscheidet dieses sich vor allem i n zweierlei Hinsicht: es ist hermeneutisch ausgerichtet 66 , d. h. auf den Nachvollzug objektiv vorgegebener geistiger Gebilde angelegt und lehnt es daher ab, seine Prämissen lediglich auf ένδοξα oder common sense zu stützen; und es betrachtet alle auftauchenden Fragen nicht als isolierte Einzelprobleme, wie das für die Topik charakteristisch ist 6 7 , sondern sucht sie, der „generalisierenden" Tendenz 68 der Gerech62 Die Naturwissenschaften bedienen sich ζ. B. zur F i n d u n g ihrer P r ä missen zweifellos nicht der Topik. β» Vgl. vor allem S. 53 ff. 64 Das ist Viehweg oft entgegengehalten worden, vgl. ζ. B. Engisch, Z S t r W 69, S. 600; Diederichsen, a.a.O., S. 699 f.; Kriele, a.a.O., S. 120 ff., insbesondere S. 124 m i t Fn. 42; vgl. jetzt aber das Z i t a t i n Fn. 1 a. 6 * Vgl. § 2 I I . 65a Vgl. die Nachw. § 2 Fn. 117 u n d 133. 66 Angesichts der Vieldeutigkeit des Ausdrucks „topos" ist freilich zu befürchten, daß manche Anhänger der T o p i k h i e r i n keinen Gegensatz sehen werden (vgl. Viehweg, a.a.O., S. 24 u n d vor allem, w e i t über die i n Bezug genommene Stelle S. 24 hinausgehend u n d durch das dort Gesagte nicht gerechtfertigt, S. 59. Vgl. ferner Coing, Auslegungsmethoden, S. 22 f. u n d F. Müller, a.a.O., S. 45 ff., der geradezu von „topischer Hermeneutik" spricht, diese allerdings i n Gegensatz zur „ T o p i k " bringt). Das w ü r d e jedoch n u r terminologische V e r w i r r u n g stiften u n d die sachlichen Gegensätze, — die i m wesentlichen die zwischen einer Lehre v o m „richtigen Verstehen" u n d einer Lehre v o m „richtigen Handeln" sind — verschleiern. Daß auch insoweit gewisse Zusammenhänge bestehen — etwa zwischen dem „hermeneutischen
Vorverständnis" i. S. Heideggers und Gadamers und der ένδοξα, die ζ. B. Ehmke (VVdDStRL 20, S. 53 ff.) i n origineller Weise i n Verbindung b r i n g t (vgl. dazu auch F. Müller, a.a.O., S. 45 ff.) —, steht der Notwendigkeit einer grundsätzlichen Unterscheidung ebensowenig entgegen wie die Tatsache, daß speziell i n der Jurisprudenz beide Denkweisen einander sinnvoll ergänzen u n d sich ζ. T. gegenseitig durchdringen (vgl. dazu sogleich i m T e x t unter 2 u n d 3). Vgl. ferner auch Apel, Die Idee der Sprache i n der T r a d i t i o n des Humanismus von Dante bis Vico, 1963, der die Topik einer „transzendentalen (existentialen) Hermeneutik" eingliedern w i l l (S. 143), dabei jedoch i m Anschluß an Heidegger einen sehr viel umfassenderen Sinn des Wortes Hermeneutik zugrunde legt.
67 Bezeichnend ist auch i n diesem Zusammenhang, daß Viehweg als A u f gabe der Jurisprudenz immer wieder die Suche nach dem „ j e w e i l i g Gerechten", nach dem, „was denn hier u n d jetzt jeweils gerecht" ist (vgl. S. 63
I I . Die Bedeutung der T o p i k f ü r die Jurisprudenz
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tigkeit folgend und damit „systematisch" verfahrend, möglichst weitgehend i n allgemeinere Probleme aufzulösen 6 8 0 und vor dem Hintergrund des „Ganzen der Rechtsordnung", d.h. dem teleologisch verstandenen System zu lösen. Als Zwischenergebnis ist daher festzuhalten, daß die Topik die Struktur der Jurisprudenz grundsätzlich nicht zutreffend zu erfassen vermag. Das beruht hauptsächlich darauf, daß ein Topos als solcher nur ein Lösungsvorschlag, nicht jedoch ohne weiteres geltendes Recht ist, mag er sich auch „ v o m Problem her" noch so sehr als „sachgerecht" aufdrängen. Die sich damit stellende Frage nach der Verbindlichkeit der jeweils aufgegriffenen Gesichtspunkte und nach der Auswahl unter ihnen kann die Topik aber nur durch den Hinweis auf die „Meinung aller oder der meisten oder der Weisen" oder auf den common sense lösen, womit sie i n einen scharfen Gegensatz zur juristischen Geltungsund Rechtsquellenlehre gerät. Dementsprechend unterscheiden ihre Anhänger nicht hinreichend zwischen den Aufgaben der Gesetzgebung und denen der Rechtsprechung und verkennen, daß es die Jurisprudenz primär mit dem verstehenden Nachvollzug bereits gesetzter Wertungen, nicht aber m i t „topischer" Prämissenwahl zu tun hat, also eine Lehre vom „richtigen Verstehen", nicht vom „richtigen Handeln" ist. 2. Verbleibende Möglichkeiten für die Topik
Damit w i r d nun allerdings auch schon deutlich, daß und unter welchen Voraussetzungen topisches Denken innerhalb der Jurisprudenz gleichwohl eine bedeutsame Funktion zu erfüllen hat: immer dann, wenn es an hinreichend konkretisierten positiv-rechtlichen Wertungen fehlt. Denn i n diesem Falle stoßen nicht nur die Möglichkeiten des systematischen Denkens an unübersteigbare Grenzen 69 , sondern es liegen auch regelmäßig die Charakteristika der Topik vor: bzw. S. 65 u n d öfter), ansieht (vgl. dazu auch oben Fn. 45). Vgl. ferner Gadamer , a.a.O., S. 18 f., der die T o p i k i n Zusammenhang m i t der Aristotelischen Phronesis bringt, diese als das „praktische" Wissen kennzeichnet u n d als Charakteristikum herausarbeitet: „ . . . es ist auf die konkrete Situation gerichtet. Es muß also die »Umstände 1 i n ihrer unendlichen Varietät erfassen." Vgl. weiter Ehmke, W d D S t R L 20, S. 55: „Die Problemlösung muß unter Abwägung aller für den konketen F a l l relevanten Gesichtspunkte gefunden werden . . . " 68 Z u m Gegensatz von generalisierender u n d individualisierender Tendenz des Gerechtigkeitsgebotes vgl. näher oben § 1 I I 2 m i t Nachw. i n Fn. 32 u n d § 4 I V 3. 68a v g l , i n diesem Zusammenhang auch Engisch, Wahrheit u n d Richtigkeit i m juristischen Denken, 1963, S. 20 f. 69
Z u diesen vgl. genauer oben §6, insbesondere unter I I I .
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§ 7 Systemdenken und Topik
die Normen werden hier i m wesentlichen erst durch den Richter mit Inhalt erfüllt, so daß dieser insoweit weitgehend ähnlich wie der Gesetzgeber vorgehen muß und in der Tat über die Maximen „richtigen Handelns" zu entscheiden hat; er ist dabei anerkanntermaßen gehalten, i m Rahmen seiner „Eigenwertung" die i n der betreffenden Rechtsgemeinschaft vorherrschenden rechtlichen, kulturellen und sozialen Wertungen und Anschauungen maßgeblich zu berücksichtigen, das heißt aber doch wohl: sich an der ένδοξα auszurichten. Um welche Problemkreise geht es dabei i m einzelnen? a) Die Topik als Notbehelf bei Fehlen hinreichender gesetzlicher Wertungen, insbesondere i n Lückenfällen Zunächst sind hier natürlich bestimmte Fälle von Lücken im Gesetz zu nennen, für deren Ausfüllung das positive Recht keine Wertungen enthält. Ein klassisches Beispiel, das i n diesen Zusammenhang gehört, ist etwa das Fehlen einer Regelung über das Obligationsstatut i m deutschen IPR. Hier bleibt i n der Tat nichts anderes übrig, als zunächst einmal mehr oder weniger tastend verschiedene Gesichtspunkte aufzugreifen, am Problem zu erproben und gegeneinander abzuwägen, d. h. topisch zu verfahren, wobei das für die Topik charakteristische Streben, sich stark am Einzelproblem, ja sogar am Einzelfall zu orientieren, in dem — lange Zeit vorherrschenden — Abstellen auf den „hypothetischen Parteiwillen" deutlich i n Erscheinung t r i t t 7 0 . b) Die Topik als funktionsgerechtes Verfahren bei gesetzlicher Bezugnahme auf den „common sense" und bei Billigkeitsentscheidungen Die zweite Gruppe, die hier zu erwähnen ist, sind die wertausfüllungsbedürftigen Generalklauseln. Auch bei diesen lassen sich die Charakteristika topischen Denkens ohne weiteres nachweisen. So ist ζ. B. die zur Konkretisierung des § 138 BGB von der Rechtsprechung geprägte Formel von der Anschauung „aller recht und billig Denkenden" nahezu eine Definition der ένδοξα71, und ähnlich ist die Inhaltsbestimmung der „ i m Verkehr erforderlichen Sorgfalt" i. S. des § 276 BGB nur möglich durch ein am jeweiligen Einzelfall orientiertes 70 Z u m heutigen Stand der Diskussion vgl. statt aller Soergel-Kegel, Bürg. Gesetzbuch, Bd. V, 9. Aufl. 1961, vor A r t . 7 EGBGB Rdzn. 167 ff.; Sandrock, Zur ergänzenden Vertragsauslegung i m materiellen und internationalen Schuldvertragsrecht, 1966, S. 132 ff. 71 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Ehmke, W d D S t R L 20, S. 71, wo die Uberzeugungskraft topischer Argumente auf den „Konsens aller ,Vernünftigu n d Gerecht-Denkenden' " gestützt wird.
I I . Die Bedeutung der Topik f ü r die Jurisprudenz
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Abstellen darauf, was hier der „ordentliche Kaufmann", der „vernünftige Kraftfahrer" usw. tun würde, also durch die Ermittlung der Regeln „richtigen Handelns" — genau darum geht es! — mit Hilfe des Rückgriffs auf die Ansicht „aller oder der meisten oder der Weisen" 72 . Die Topik hat hier daher eine völlig legitime Ergänzungsfunktion gegenüber dem Systemdenken zu erfüllen, ja, man w i r d sogar sagen können, daß auch in dieser Frage wieder die „Polarität" der obersten Rechtswerte 73 zum Ausdruck kommt: die Topik ist der Billigkeit, also der individualisierenden Tendenz 68 des Gerechtigkeits73a gebotes zugeordnet' ; sie stellt das adäquate Verfahren für eine am möglichst eng formulierten Einzelproblem, ja am Einzelfall orientierte Billigkeitsargumentation dar, bei der grundsätzlich kein irgendwie diskutabler Gesichtspunkt von vornherein als unzulässig zurückgewiesen werden kann, wie das für das abstrahierende, auf der generalisierenden 68 Tendenz des Gerechtigkeitsgebotes aufbauende Systemdenken typisch ist 7 4 . 3. Die wechselseitige Ergänzung und Durchdringung systematischen und topischen Denkens
Damit ist bereits gesagt, daß topisches und systematisches Denken keine einander ausschließenden Gegensätze sind, sondern sich wechselseitig sinnvoll ergänzen 75 . Sie stehen dabei nicht, wie es nach den bisherigen Ausführungen vielleicht den Anschein haben könnte, isoliert nebeneinander, sondern durchdringen sich gegenseitig. So ist auch dort, wo der Topik soeben der Primat eingeräumt wurde, die Systematik darum doch keineswegs gänzlich bedeutungslos. Dies ist ganz offensichtlich bei dem zuerst genannten Problemkreis, also jenen Fällen von Lücken, i n denen das positive Recht keine Wertungen für die Ausfüllung enthält: hier ist die Topik nicht mehr als ein Notbehelf, 72 Wobei hier freilich i m Gegensatz zu der Aristotelischen Formel außer Zweifel steht, daß nicht ein statistischer, sondern ein normativer Maßstab anzulegen ist. 73 Vgl. auch oben § 4 I V 3 m. Fn. 39. 73a Z u r Billigkeit als Ausdruck der individualisierenden Tendenz der Gerechtigkeit vgl. Henkel, Einführung i n die Rechtsphilosophie, S. 327 m. Nachw. i n Fn. 2. 74 Darin liegt nicht etwa ein Widerspruch zur „Offenheit" des Systems i. S. des „aporetischen" Denkens; denn das System scheidet nicht bestimmte Probleme als Scheinfragen aus, sondern n u r bestimmte Problemlösungen als Verstöße gegen die das geltende Recht tragenden Grundgedanken. 75 F ü r eine Verbindung von Topik und Systemdenken, bei mancherlei Unterschieden i m einzelnen, i. E. auch Esser, a.a.O., S. 6 f., 44 ff. u n d öfter und Stur. Gen. 12 (1959), S. 104 u n d 105, Sp. 2; Käser, a.a.O., S. 53; Peter Schneider, V V d D S t R L 20, S. 37 u n d 51; Henkel, a.a.O., S. 426; Raiser, N J W 64, S. 1203 f.; Diederichsen, a.a.O., S. 7041; F. Müller, a.a.O., S. 57 u n d S. 67; Ζippelius, a.a.O., S. 2233 unter d.
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§ 7 Systemdenken u n d Topik
und es gilt daher, möglichst bald die unsicheren topoi durch klare Wertungen zu ersetzen, die Lösung also systematisch zu verfestigen. Aber auch bei der Konkretisierung wertausfüllungsbedürftiger Generalklauseln, bei der die Topik weit mehr als ein bloßer Notbehelf ist, zeigt sich eine deutliche Tendenz zur Systematisierung 76 . Nicht nur, daß auch die Generalklauseln stets i m Lichte der Gesamtrechtsordnung, also vor dem Hintergrund des Systems zu interpretieren sind — so ist z. B. § 138 BGB großenteils aus i n unserer Rechtsordnung anderweit zum Ausdruck gekommenen Wertungen, m i t h i n systemgebunden und nicht aus der ένδοξα auszulegen 77 —, sondern vor allem geschieht die Konkretisierung auch weitgehend durch Typenbildung, ja ζ. T. durch klare Tatbestandsbildung 78 und drängt dadurch zur systematischen Verfestigung. Man denke etwa an § 242 BGB und die Systematisierungsarbeit, die bei dessen „rechtstheoretischer Präzisierung" von Rechtsprechung und Lehre geleistet worden ist 7 9 . So hat sich, um nur ein Beispiel zu nennen, hier die „Arglisteinrede" verselbständigt, und innerhalb dieser, die ja noch immer eine wertausfüllungsbedürftige „Untergeneralklausel" bleibt, hat sich ein Zusammenspiel von festem Tatbestand, beweglichem Tatbestand i. S. Wilburgs 8 0 und gänzlich offenem, nur topisch zu erfassendem Restbereich ergeben: Der Einwand des „dolus praeteritus" dürfte bereits ein fester, wertungsgemäß weitgehend ausgefüllter Tatbestand sein (wenn auch natürlich m i t dem „normativen" Tatbestandsmerkmal 8 1 der „Arglist"); der Einwand der Verwirkung stellt demgegenüber einen beweglichen Tatbestand dar, bei dem zwar die „Elemente" feststehen 82 , die Rechtsfolge sich aber erst aus ihrem von Fall zu Fall variablen ..Mischungsverhältnis" ergibt 8 3 , und der Einwand des „venire 76 Richtig Diederichsen, a.a.O., S. 704; noch verkannt bei Canaris, a.a.O., S. 107, Fn. 172. 77 Vgl. dazu vor allem Pawlowski, ARSP 1964, S. 503 ff.; Larenz, Jur. Jb. Bd. V I I (1966), S. 98 ff. u n d Allg. Teil, 1967, § 28 I I I a. 78 Vgl. i n diesem Zusammenhang auch Paulus, Probleme richterlicher Regelbildung am Beispiel des Kreditsicherungsrechts, Jur. Jb. Bd. V I (1965/6), S. 134 ff. ™ Hingewiesen sei n u r auf die Kommentierung des §242 durch Siebert, bei Soergel-Siebert, 9. Aufl. 1959, u n d auf Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des §242 BGB, 1956. 8° Vgl. die Darstellung oben § 41. 81 „ N o r m a t i v " u n d „wertausfüllungsbedürftig" ist nicht dasselbe, w e n n auch der Unterschied n u r gradueller A r t sein dürfte. 82 Es sind: Vertrauen darauf, daß der Anspruch nicht mehr geltend gemacht w i r d ; ein „Sich-einrichten" hierauf; ein gewisser Zeitablauf; u n d die Zurechenbarkeit der Unterlassung der Anspruchserhebung. 83 So kann ζ. B. eine besonders lange Zeitdauer die Geringfügigkeit der f ü r das „Sicheinrichten" erforderlichen Maßnahmen aufwiegen u n d umgekehrt.
I I . Die Bedeutung der T o p i k f ü r die Jurisprudenz
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contra factum proprium" schließlich dürfte heute noch auf der Grenze zwischen „beweglichem" Tatbestand und topisch-offener Generalklausel stehen 84 ; jenseits dieser drei Typen aber bleibt der große, noch weitgehend unkonkretisierte Bereich, i n dem nahezu jeder topos zulässig ist. So ist auch die Generalklausel keineswegs gänzlich der Billigkeit und damit dem topischen Denken überlassen. Vielmehr macht sich auch i n ihr die Gegenläufigkeit der individualisierenden und der generalisierenden Tendenz der Gerechtigkeit bemerkbar 8 4 a , und letztere drängt wie immer zur Systematisierung. Umgekehrt bleibt auch das primär dem systematischen Denken zugewiesene Gebiet nicht völlig von Einflüssen der Topik frei. Zunächst ergibt sich das schon daraus, daß der Bereich, i n dem noch klar erfaßbare positiv-rechtliche Wertungen vorhanden sind, nur fließende Ubergänge zu dem Bereich hat, wo jene fehlen, und daß es daher eine Grenzzone gibt, in der sich u. U. systematisch legitimierte und lediglich auf ένδοξα beruhende Gesichtspunkte mischen können. Sodann spielen auch bei einer systemorientierten Rechtsfortbildung praeter legem und insbesondere bei der Konkretisierung außergesetzlicher „allgemeiner" Rechtsprinzipien — m i t h i n aber auch bei den durch diese bewirkten Systemänderungen 85 — bloße topoi zumindest i n den Anfangsstadien der Entwicklung eine maßgebliche Rolle 8 8 ; ja, man kann dem Entstehen „neuer" Rechtsprinzipien sogar i n gewisser Hinsicht durchaus topische Struktur zusprechen 87 , weil sich die ihr zugrunde liegende Wandlung des allgemeinen Rechtsbewußtseins i n der Tat wohl i n einem Prozeß der „Diskussion" (im umfassensten Sinn) zwischen „allen oder den meisten oder den Weisen" vollzieht — aber freilich doch nur „ i n gewisser Hinsicht", weil die Berufung auf das „allgemeine Rechtsbewußtsein" oder die ένδοξα nicht genügt, sondern der Ergänzung durch objektive Kriterien wie die Rechtsidee oder die Natur der Sache88 bedarf 8 9 . 84 Vgl. näher Canaris, Die Vertrauenshaftung i m deutschen Privatrecht, 1971, S. 266 ff., insbesondere S. 301 -305. 84a 85
Vgl. auch Henkel, a.a.O., S. 359 f. Z u diesem vgl. oben § 3 I V 1.
8
6 Vgl. dazu vor allem Esser, a.a.O., S. 5 ff., 44 ff., 218 ff., 238 ff. und öfter. Vgl. Horn, a.a.O., S. 607, der jedoch nicht n u r aus dem i m Text genannten G r u n d v i e l zu weit geht, sondern auch deshalb, w e i l er insoweit nicht zwischen gesetzesimmanenten u n d außergesetzlichen Prinzipien unterscheidet. 87
88
Vgl. näher oben S. 70 f. Freilich werden auch diese ihrerseits durch das allgemeine Rechtsbewußtsein beeinflußt, und es ergibt sich daher wieder das Problem der Dial e k t i k zwischen dem objektiven u n d dem subjektiven Geist. 89
154
§ 7 Systemdenken u n d Topik
So gibt es keine starre Alternative zwischen topischem und systematischem Denken, sondern nur eine wechselseitige Ergänzung. Wie weit das eine und wie weit das andere reicht, bestimmt sich dabei entscheidend nach dem Maß der jeweils vorhandenen positiv-rechtlichen Wertungen, — woraus sich auch ohne weiteres erklärt, daß die Topik i n stark m i t Generalklauseln durchsetzten Bereichen wie dem Verfassungsrecht 90 oder i n sehr lückenhaft geregelten Gebieten wie dem Internationalen Privatrecht eine weit größere 91 Rolle spielt als z. B. i m Liegenschafts- oder i m Wertpapierrecht.
90
Z u r Bedeutung der Topik für das Verfassungsrecht vgl. vor allem Peter
Schneider und Ehmke in VVdDStRL 20, S. 1 ff. (35 ff.) bzw. 53 ff. sowie mit
berechtigten Vorbehalten F. Müller, a.a.O., S. 47 ff. (57 ff.). 91 Aber durchaus nicht die allein entscheidende, vgl. auch F. Müller,
a.a.O.
§ 8 Thesen Zu § ι
1. Voraussetzung für die Brauchbarkeit des Systemgedankens i n der Rechtswissenschaft und für die Entwicklung eines spezifisch juristischen Systembegriffs ist, daß das System in der Jurisprudenz eine sinnvolle Funktion zu erfüllen vermag. Das hängt davon ab, ob den Merkmalen des allgemeinen Systembegriffs entsprechende rechtliche Erscheinungen zugeordnet werden können. 2. Die Merkmale des allgemeinen Systembegriffs sind Ordnung und Einheit. Sie finden ihre juristische Entsprechung i m Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit der Rechtsordnung; diese sind nicht nur unerläßliche Voraussetzungen einer sich als Wissenschaft verstehenden Jurisprudenz und selbstverständliche Prämissen der herkömmlichen juristischen Auslegungsmethoden, sondern vor allem auch Folgerungen aus dem Gleichheitssatz und der „generalisierenden Tendenz" der Gerechtigkeit, also mittelbar aus der „Rechtsidee" selbst. 3. Die Funktion des Systems i n der Jurisprudenz besteht dementsprechend darin, die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung darzustellen und zu verwirklichen. Hieraus gewinnt zugleich das juristische Systemdenken seine Rechtfertigung, die sich somit mittelbar aus den „obersten Rechtswerten" herleiten läßt. Zu § 2
4. Aus der Funktion des Systemgedankens ist der juristische Systembegriff zu entwickeln. Unbrauchbar oder allenfalls beschränkt brauchbar sind deshalb alle die Systembegriffe, die nicht geeignet sind, die wertungsmäßige Folgerichtigkeit und innere Einheit der Rechtsordnung zum Ausdruck zu bringen; das gilt insbesondere für das „äußere System", für die Systeme „reiner Grundbegriffe", für das logische System der „Begriffsjurisprudenz", für das axiomatisch-deduktive System i. S. der Logistik, für das „System der Problemzusammenhänge" Salomons und für das „System von Konfliktsentscheidungen" i. S. Hecks und der Interessenjurisprudenz.
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§ 8 Thesen
5. Bestimmt man den Systembegriff i m Hinblick auf den Gedanken der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit des Hechts, so läßt sich das juristische System als „axiologische oder teleologische Ordnung allgemeiner Rechtsprinzipien" definieren. Denkbar ist auch eine entsprechende Ordnung von Werten, teleologischen Begriffen oder Rechtsinstituten. Z u S3
6. Dieses System ist nicht geschlossen, sondern offen. Das gilt sowohl für das System der juristischen Lehrsätze, das wissenschaftliche System", als auch für das System der Rechtsordnung selbst, das „objektive System". Hinsichtlich des ersteren bedeutet Offenheit die Unabgeschlossenheit der wissenschaftlichen Erkenntnis, hinsichtlich des letzteren die Wandelbarkeit der rechtlichen Grundwertungen. 7. Die Offenheit des juristischen Systems steht der Verwendbarkeit des Systemgedankens in der Jurisprudenz nicht entgegen. Die Offenheit des „wissenschaftlichen Systems" teilt diese vielmehr mit allen anderen Wissenschaften, da kein derartiges System mehr als ein vorläufiger E n t w u r f sein kann, solange i n dem betreffenden Gebiet überhaupt noch ein Fortschritt der Erkenntnis möglich, also wissenschaftliches Arbeiten sinnvoll ist. Die Offenheit des „objektiven Systems" ist demgegenüber zwar möglicherweise eine Besonderheit der Jurisprudenz, doch ergibt sie sich zwingend aus deren Gegenstand, nämlich aus dem Wesen des Rechts als einer i m Prozeß der Geschichte stehenden und sich daher verändernden Erscheinung.
Zu §4
8. Von der Problematik der „Offenheit" des Systems ist die seiner „Beweglichkeit " zu unterscheiden. Beweglichkeit in dem Sinne, den dieser Terminus durch Wilburg erhalten hat, bedeutet die grundsätzliche Ranggleichheit und wechselseitige Austauschbarkeit der maßgeblichen Gerechtigkeitskriterien bei gleichzeitigem Verzicht auf abschließende Tatbestandsbildung. 9. Auch ein „bewegliches System" verdient noch den Namen System, da auch in ihm die Merkmale der Ordnung und Einheit erfüllbar sind. Es handelt sich jedoch um einen Grenzfall der Verwendbarkeit des Systembegriffs. 10. Das geltende Recht w i r d grundsätzlich nicht von einem beweglichen, sondern von einem unbeweglichen System beherrscht. Es enthält jedoch bewegliche Teilbereiche.
§ 8 Thesen
157
11. Legislatorisch steht das „bewegliche System" zwischen fester Tatbestandsbildung einerseits und Generalklausel anderseits. Es bringt i n besonders glücklicher Weise die Polarität zwischen den „obersten Rechtswerten", insbesondere zwischen der „generalisierenden" und der „individualisierenden Tendenz" der Gerechtigkeit zum Ausgleich und bildet deshalb eine wertvolle Bereicherung des gesetzgeberischen Instrumentariums. Es darf jedoch nicht ausschließlich verwandt werden, sondern stellt nur eine unter mehreren miteinander zu verbindenden legislatorischen Möglichkeiten dar. Z u S5
12. Die Besinnung auf Begriff und Eigenart des juristischen Systems führt auch ohne weiteres zu einer A n t w o r t auf die Frage nach der Bedeutung des Systems für die Rechtsgewinnung. Versteht man nämlich das System als eine (offene und grundsätzlich unbewegliche) teleologische Ordnung, so folgt daraus unmittelbar, daß das Systemargument nur eine besondere Form einer teleologischen Begründung darstellt und daher wie diese den höchsten Rang unter den Rechtsfindungskriterien beanspruchen kann. Das System besitzt mithin „teleologische Ableitungseignung". 13. I m einzelnen erfüllt das System vor allem zwei Aufgaben bei der Rechtsgewinnung: es trägt zur vollständigen Erfassung des teleologischen Gehalts einer Norm oder eines Rechtsinstituts bei, indem es dazu führt, diese als Teil des Ganzen der Rechtsordnung und vor dem Hintergrund übergreifender Zusammenhänge zu interpretieren; und es dient der Wahrung und Verwirklichung der wertungsmäßigen Folgerichtigkeit und inneren Einheit des Rechts, indem es wertungsmäßige Inkonsequenzen aufzeigt und damit die Rechtsfortbildung sowohl durch die Aufdeckung von drohenden Wertungswidersprüchen i n Schranken hält als auch durch die Feststellung von Lücken vorantreibt. Dementsprechend ist die Bedeutung des Systems auf allen Stufen der Rechtsgewinnung anzuerkennen: für die „systematische Lückenergänzung und Rechtsfortbildung" nicht weniger als für die „systematische Auslegung". 14. Der Grundsatz der „teleologischen Ableitungseignung" des Systems gilt auch für die „Konstruktionen" des Gesetzgebers. Diese sind daher entgegen der Ansicht Hecks nicht „wertungsfreie Begriffskunstruktionen", die „wie ein Redaktionsversehen" berichtigt werden dürfen, sondern Wertungen i m Gewände der Konstruktion, die ebenso verbindlich sind wie jede andere gesetzliche Wertung.
158
§8 Thesen
15. Uber die Betonung der Bedeutung des Systems für die Rechtsgewinnung darf man die Schranken nicht übersehen, die dieser gezogen sind. Vor allem steht sie stets unter dem doppelten Vorbehalt einer „teleologischen Kontrolle" des Systemarguments und der Möglichkeit einer Fortbildung des Systems entsprechend dem Grundsatz seiner Offenheit. Äußerste Vorsicht ist dagegen gegenüber dem Versuch geboten, (angebliche) Forderungen der „materialen Gerechtigkeit" gegen Systemargumente auszuspielen: letztere stellen ex definitione nur das am Gleichheitssatz ausgerichtete Zuendedenken der Wertungen des Gesetzes dar und gewinnen ihre Überzeugungskraft daher gleichermaßen aus der Autorität des positiven Rechts und der Dignität des (formalen) Gerechtigkeitsgebotes. Die systemrichtige Lösung ist deshalb nicht nur i m Zweifel die de lege lata verbindliche, sondern sie ist grundsätzlich auch als die unter der Herrschaft einer bestimmten Rechtsordnung gerechte hinzunehmen. I m übrigen ergeben sich die Schranken der Rechtsgewinnung aus dem System daraus, daß der Systembildung selbst erhebliche Grenzen gesetzt sind. Z u §6
16. Diese Grenzen der Systembildung haben ihren Grund einerseits in der historischen Gewachsenheit der Rechtsordnung und den auf der Unvollkommenheit menschlichen Erkenntnis- und Sprachvermögens beruhenden Mängeln der Gesetzgebung, andererseits in der sogenannten „individualisierenden Tendenz" der Gerechtigkeit, die sich i n jeder Rechtsordnung i n Teilbereichen durchsetzt und dem — auf der „generalisierenden Tendenz" beruhenden! — Systemgedanken entgegenwirkt. 17. I m einzelnen sind Systembrüche, systemfremde Normen und Systemlücken zu unterscheiden. Systembrüche beruhen auf Wertungsund Prinzipienwidersprüchen, systemfremde Normen entstehen aus Wertungen, die innerhalb des Ganzen der Rechtsordnung isoliert bleiben und auch aus sich selbst heraus keine Überzeugungskraft besitzen, und Systemlücken sind die Folge von Wertungslücken. 18. Systembrüche sind mit den Mitteln der „systematischen Auslegung" und der „systematischen Lückenergänzung" weitgehend zu beseitigen. Wo dies nicht gelingt, weil Wortlaut und Sinn des Gesetzes, das Gewohnheitsrecht oder ein Rechtsfortbildungsverbot entgegenstehen, bleibt der Ausweg, die systemwidrigen Normen wegen Verstoßes gegen
§ 8 Thesen
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den verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz als nichtig anzusehen; denn Systembrüche stellen ex definitione Wertungswidersprüche und damit Verletzungen des Gleichheitssatzes dar. Das Bundesverfassungsgericht hat sich in der Tat bereits mehrfach in dieser Richtung geäußert. M i t dieser Erkenntnis gewinnt das System im übrigen zugleich unter einem neuen Aspekt praktische Bedeutung. Gleichwohl bleibt ein, wenn auch verhältnismäßig kleiner Restbestand von Systembrüchen, da ein Wertungswiderspruch nicht notwendig immer „ W i l l k ü r " i. S. der herrschenden Interpretation des A r t . 3 I GG zu bedeuten braucht. 19. Die unbehebbaren Systembrüche verhindern zwar eine vollständige Ausformung des Systems, lassen dieses aber in den übrigen, von dem Bruch nicht unmittelbar betroffenen Gebieten unberührt und besagen somit nichts Entscheidendes gegen die Verwendbarkeit des Systemgedankens i n der Jurisprudenz. Dasselbe gilt grundsätzlich für die Systemlücken, die wesentlich häufiger sind als die Systembrüche. Sie lassen sich zwar teilweise durch wertungsmäßige Verfestigung i n das System integrieren, entziehen sich aber andererseits auch über weite Strecken jeder Systematisierung, und zwar insbesondere dort, wo die zugrunde liegende Wertungslücke auf dem Durchbruch der „individualisierenden Tendenz" der Gerechtigkeit beruht. Hier eröffnet sich ein legitimes Feld für nicht-systemorientierte Denkweisen, insbesondere für die Topik. Z u §7
20. Das Spezifikum „topischen Denkens " ist entgegen der Ansicht Viehwegs nicht in dem Bezug auf das „Problemdenken" zu sehen; insbesondere führt das „aporetische Denken" i. S. Nicolai Hartmanns keineswegs notwendig zur Topik, sondern lediglich zur Offenheit des Systems. Das Charakteristikum der Topik liegt vielmehr darin, daß die Legitimation der jeweils zugrunde zu legenden Prämissen allein auf ένδοξα, also auf „die Meinung aller oder der meisten oder der Weisen", d. h. i m wesentlichen auf den „common sense" gestützt wird. 21. Die Topik ist deshalb mit der juristischen Geltungs- und Rechtsquellenlehre grundsätzlich unvereinbar; denn bei der Rechtsanwendung sind die Prämissen nicht aus der „Meinung aller oder der meisten oder der Weisen", sondern aus dem geltenden Recht zu legitimieren, und zwar auch und gerade dann, wenn dieses mit jener nicht übereinstimmt. Insbesondere vermag die Topik deshalb kein zutreffendes K r i t e r i u m für die Beantwortung der entscheidenden Frage zu bieten,
160
§ 8 Thesen
welchem unter mehreren „topoi", die ihrer Natur nach immer nur Lösungsvorschläge sein können, der Vorrang zuzuerkennen ist; diese Auswahlfunktion kann vielmehr i. d. R. nur das System erfüllen. Diesem Versagen der Topik gegenüber dem Prinzip der Bindung der Rechtsanwendung an das Gesetz entspricht es, daß ihre Anhänger nicht hinreichend zwischen den Aufgaben der Gesetzgebung und denen der Rechtsprechung unterscheiden; sie verkennen vor allem, daß es die Jurisprudenz primär m i t dem verstehenden Nachvollzug bereits gesetzter Wertungen, nicht aber mit „topischer" Prämissenwahl zu t u n hat und daß sie demgemäß grundsätzlich eine Lehre vom „richtigen Verstehen" und nicht eine Lehre vom „richtigen Handeln" ist. Außerdem ist topisches Denken zu stark am möglichst eng gefaßten Einzelproblem orientiert und läuft dadurch immer Gefahr, das Gebot der inneren Einheit und Folgerichtigkeit der Rechtsordnung zu mißachten. 22. Vermag somit die Topik die Struktur der Jurisprudenz grundsätzlich nicht zutreffend zu erfassen, so gibt es doch Bereiche, i n denen sie gleichwohl eine legitime Funktion zu erfüllen hat. Diese liegen überall dort, wo es an hinreichenden gesetzlichen Wertungen fehlt und wo daher für das Systemdenken kein Raum ist. I n diesen ist die Topik teilweise ein bloßer Notbehelf und eine Vorstufe systematischer Verfestigung, teilweise stellt sie aber auch das allein sachgerechte Verfahren dar. Letzteres gilt vor allem dort, wo das Gesetz selbst blankettartig auf den „common sense" verweist und dem Richter die Festlegung der Maximen „richtigen Handelns" überläßt, und dort, wo das Gesetz Einbruchsstellen der systemfeindlichen „individualisierenden Tendenz" der Gerechtigkeit, also der „ B i l l i g k e i t " aufweist und deshalb die — der Topik gemäße — Orientierung am Einzelfall fordert. 23. Der Gegensatz zwischen Systemdenken und Topik ist somit kein ausschließender. Vielmehr ergänzen sich beide Denkweisen gegenseitig und durchdringen sich sogar teilweise.
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Sachregister (Die Zahlen verweisen auf die Seiten. Hauptfundstellen sind fett gedruckt.) Ableitungseignung des Systems 88 Allgemeinbegriffe, abstrakte 49 f. — konkrete 49 f. m i t Fn. 141 allgemeine Rechtsprinzipien 25, 46 ff., 52 ff., 68 ff., 99 f., 112 ff., 153 allgemeines Rechtsbewußtsein 71, 73 Fn. 38, 153, 153 Fn. 89 Altschulden, Haftung für — i m H a n delsrecht 119, 129, 131 f. Analogie 24 f. Analogieverbot 120, 127 Anscheinsvollmacht 98 aporetisches Denken 137 f. A p p l i k a t i o n (i. S. Gadamers) 65 Fn. 11 argumentum ad absurdum 24 Fn. 26 argumentum e contrario 24 f. argumentum a fortiori 24 f. Aufopferungshaftung 95 f. Auslegung, systematische 14, 90 ff., 116 ff. — verfassungskonforme 130 Fn. 65 außergesetzliche Rechtsordnung 69 ff. Aussetzung (eines Kindes) 118 f. Ausschließlichkeitsanspruch (von Rechtsprinzipien) 53 ff., 80 Axiologie 22 ff., 41 ff. A x i o m a t i k 25 ff., 58 ff. Begriffsjurisprudenz 9, 20 ff., 41, 87 Beschränkung, wechselseitige (von Rechtsprinzipien) 56 Beweglichkeit des Systems 74 ff. B i l l i g k e i t 85, 133, 151 B i n d u n g (des Gesetzgebers an den Systemgedanken) 121 ff. — des Rechts an die Gesetze der L o g i k 22 Fn. 17, 123 Fn. 43 — des Richters an das Gesetz (und Topik) 142 ff. common sense 139 ff., 150 f. Deduktion, formal-logische 26 D r i t t w i r k u n g der Grundrechte 125
67,
Einheit (der Rechtsordnung) 13 ff., 35 ff., 47, 97 ff., 131 — und Systembegriff 11 ff. Einordnung, systematische 88 ff. Erkenntnis (des Rechts) 72 f. F e r n w i r k u n g (der gesetzgeberischen Werturteile) 37 Folgerichtigkeit 12, 13 ff., 16, 22, 43, 45, 47, 97 ff. Fortbildung des Systems 65 ff., 106 Geltungsproblem 66 ff. m i t Fn. 12 u n d Fn. 36, 142 ff. generalisierende Tendenz (der Gerechtigkeit) 17, 83, 148 f. Generalklauseln 29, 72, 79 f., 81 ff., 133, 152 f. Gerechtigkeit, generalisierende Tendenz 17, 83, 148 f. — individualisierende Tendenz 83 f., 112, 133, 134, 151 — materiale 100, 106 ff. Geschichtlichkeit des Rechts 63 Geschlossenheit, logische 29, 133 — teleologische 29, 133 Gesetzgebung (Bindung an Systemgedanken) 121 ff. — u n d Topik 146 Gesetzmäßigkeit juristischer Systembildung 32 ff. Gewohnheitsrecht 67, 72 Fn. 36, 117 Fn. 19a, 119 Gleichheitssatz, allgemeiner 16, 22, 24, 45 f., 83, 100, 116, 121, 134 — verfassungsrechtlicher 125 ff. Grenzen der Systembildung 112 ff. Handlungs wissenschaf ten 145, 147 Hermeneutik 14, 23, 44, 90, 147 f. — topische 148 Fn. 66 Hierarchie 77
168
Sachregister
immanente Schranken (eines P r i n zips) 113 individualisierende Tendenz (der Gerechtigkeit) 83 f., 112, 133, 134, 151 lnteressenjurisprudenz 9, 35 ff., 101 ff. I n t u i t i o n 42 Fn. 119 Inversionsmethode 87 Körperverletzung (Strafbarkeit des Versuchs) 120 Kollisionslücke 27, 121 ff., 128 m i t Fn. 58a Konkretisierung 29, 57 f., 150, 152 Konstruktionen, gesetzliche 100 ff. — lückenergänzende 95 Kontrolle, teleologische 105 f. Lebensverhältnisse, System der 34 f. Lebenswert des Systems 86 ff. Lebenszusammenhänge 47 Fn. 133 Logik 20 ff., 22 ff. logischer Widerspruch 122 ff. Logistik 25 ff. Lücke 28 f., 95 ff., 133, 150 — unausfüllbare 120 f. Lückenausfüllung, systematische 95 ff., 118 f. Lückenfeststellung, systematische 99 f., 118 f. N a t u r der Sache 25, 34, 70 f., 96 Fn. 42, 109 Fn. 88, 153 Normlogik 123 Fn. 44 Normwiderspruch 27, 117, 122 Notstand, übergesetzlicher 99 Offenheit des Systems 61 ff., 75 f., 106, 138 Ordnung, axiologische 41 ff., 47 — u n d Systembegriff 11 ff. — teleologische 41 ff., 47 Persönlichkeitsschutz 99 Pfandrecht (gutgläubiger Zweiterwerb) 102 f. Phänomenologie des Verstehens 15 Polarität (der obersten Rechtswerte) 84, 85 Prinzipiengegensatz 53, 115 f. Prinzipienkombination 114 Prinzipienwiderspruch 27, 53, 59, 112 ff.
Problemdenken 136 ff. Problemzusammenhang 29 ff., 32 ff. Rangverhältnis (zwischen den A u s legungskriterien) 91 Fn. 23 Rechtsanalogie 14, 68 Rechtsbewußtsein, allgemeines 71, 73 Fn. 38, 153 m i t Fn. 89 Rechtsfortbildung, richterliche (und Systemwandlungen) 67 ff. Rechtsfortbildungsverbot 119 f. m i t Fn. 28 Rechtsgewinnung 86 ff. Rechtsidee 16, 70 f., 109 Fn. 88, 121, 153 Rechtsinstitut, System von -en 50 f. Rechtsprinzipien, allgemeine 25, 46 ff., 52 ff., 68 ff., 99 f., 112 ff., 153 Rechtsquellenproblem 66 ff. m i t Fn. 12 u n d Fn. 36 Rechtsscheinhaftung 94 f., 117 f. Rechtssicherheit 17 f., 19, 82 f., 127 Rechtswerte, oberste 10, 17, 84 f. Reduktion, teleologische 24 f. reine Grundbegriffe, System 20 Rhetorik 140 f., 140 Fn. 24, 141 f., 142 Richterrecht (als Rechtsquelle) 69 f. schadensgeneigte Tätigkeit 107 ff. sensus communis 139 ff. Subsumtion 23 f. Surrogationsprinzip 93 f. System, äußeres 19, 34, 87, 91 — von allgemeinen Rechtsbegriffen 49 f. — axiologisches 42 ff. — axiomatisch-deduktives 25 ff., 87 — der Begriffsjurisprudenz 20 ff. — bewegliches 74 ff. — formal-logisches 20 ff. — inneres 35, 40, 91 — der lnteressenjurisprudenz 35 ff. — von Konfliktsentscheidungen 35 ff. — der Lebensverhältnisse 34 f. — logisches 87 — von Normen 48 f. — objektives 13, 63 ff., 64 f., 65 ff. — offenes 61 ff. — als Problemzusammenhang 29 ff. — von Rechtsinstituten 50 f. — reiner Grundbegriffe 20 — teleologisches 42 ff. — topisches 135 Fn. l a — von Werten 51 f.
Sachregister — wissenschaftliches 13, 62 f., 64, 65 ff. systematische Auslegung 14, 90 ff., 116 ff. systematische Einordnung 88 ff. systematische Lückenausfüllung 95 ff., 118 f. systematische Lückenfeststellung 99 f., 118 f. Systembegriff, allgemeiner 11 ff. — der Interessenjurisprudenz 35 ff. Systembildung 32 ff., 65, 112 ff., 130 Systembrüche 112 ff. systemfremde Normen 131 Systemlücken 133 f. Systemrichtigkeit (und materiale Gerechtigkeit) 106 ff. Systemwandlungen 65 ff. Teleologie 22 ff., 41 ff. Theorienbildung 96 f. Tierhalterhaftung 89 f., 92 f., 128 T o p i k 135 ff. topisches System 135 Fn. l a Typenbildung 152 unausfüllbare Lücken 120 f. verfassungskonforme Auslegung 130 Fn. 65 Verfassungswidrigkeit systemwidriger Normen 125 ff. Vollständigkeit (der Axiome) 26 ff. — als M e r k m a l des Systembegriffs 12 Fn. 12 V o r m e r k u n g (gutgläubiger Zweiterwerb) 104
Wandlungen des Systems 65 ff. Wasserhaushaltsgesetz (Gefährdungshaftung) 120 f., 128 f. Werkunternehmerpfandrecht (gutgläubiger Erwerb) 105 f. Werte, System von 51 f. Wertpapiertheorien 39 f., 89, 96 f. Wertung 22, 23, 41 ff., 46, 50 Wertungsdifferenzierung 113 Wertungsjurisprudenz 41 Wertungslücke 133, 150 Wertungswiderspruch 27, 98 f., 112 ff. Widerspruch (zwischen Axiomen) 130 — (und juristische Systembildung) 130 f. — logischer 122 ff. Widerspruchsfreiheit (eines axiomatischen Systems) 26 f., 59 f. — (der Rechtsordnung) 16 f., 22, 98 f., 112 ff., 130 f. W i l l k ü r v e r b o t (und Kollisionslücke) 124 — verfassungsrechtliches 125 ff., 132 Wissenschaftsbegriff, positivistischer 21 Wissenschaftscharakter (der Jurisprudenz) 13 Fn. 16, 14 f., 29 f., 31 m i t Fn. 63, 43, 65 Fn. 10 Zirkel, hermeneutischer 90, 100 Zusammenspiel (von Rechtsprinzipien) 55 f., 80 Zweckgemeinschaft (zwischen Forderung u n d dinglicher Sicherung) 101 f.