Bestellung und Abberufung der Regierungschefs und ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem: Entwickelt am Beispiel des deutschen Bundeskanzlers und des britischen Premierministers [1 ed.] 9783428429974, 9783428029976


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Bestellung und Abberufung der Regierungschefs und ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem: Entwickelt am Beispiel des deutschen Bundeskanzlers und des britischen Premierministers [1 ed.]
 9783428429974, 9783428029976

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 225

Bestellung und Abberufung der Regierungschefs und ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem Entwickelt am Beispiel des deutschen Bundeskanzlers und des britischen Premierministers

Von

Michael R. Lippert

Duncker & Humblot · Berlin

MICHAEL

R. L I P P E R T

Bestellung und Abberufung der Regierungschefs und ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungesystem

Schriften zum ö f f e n t l i c h e n Recht Band 225

Bestellung und Abberufung der Regierungschefs und ihre funktionale Bedeutung für das parlamentarische Regierungssystem Entwickelt am Beispiel dee deutschen Bundeskanzlers und des britischen Premierministers

Von

Dr. Michael R. Lippert

D U N C K E R

&

H U M B L O T

/

B E R L I N

Alle Redite vorbehalten (0 1973 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1973 bei Feese & Schulz, Berlin 41 Printed in Germany ISBN 5 428 02997 6

Meinem verehrten Lehrer Herrn Unl-Prof. Dr. jur. Günther Küchenhoff in Dankbarkeit gewidmet

Vorwort Diese Arbeit ist aus der Dissertation hervorgegangen, die der Jurist. Fakultät der Universität Würzburg i m Februar 1972 vorgelegt wurde. Auf Grund der rechtsvergleichenden Fragestellung und der Besonderheiten des britischen Verfassungswesens galt es, den zu interpretierenden Bestimmungen des Grundgesetzes die entsprechenden britischen Regeln gegenüberzustellen. Die vor allem für den kontinentaleuropäischen Juristen auftretenden Schwierigkeiten bestanden darin, die tatsächlich für Bestellung und Amtsbeendigung der Regierungschefs sowie die Auflösung des Parlaments geltenden, das Gewohnheitsrecht auskleidenden konventionalen Normen herauszuarbeiten. Der Verfasser ist aus diesem Grunde dankbar, daß er, zum Teil m i t freundlicher Hilfe der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland, Kontakt zu englischen Gesprächspartnern fand, m i t denen er manche Fragen der konventionalen Entwicklung des Verfassungssystems zu erörtern Gelegenheit hatte. A n dieser Stelle sind Mr. Nevil Johnson, Nuffield College, Oxford und Robert Elmore, Cambridge hervorgehoben. Die m i t der Amtseinsetzung eines konservativen Premierministers bis zur innerparteilichen Wahlordnungsreform des Jahres 1965 auftauchenden, speziellen Verfassungsprobleme konnten erfreulicherweise m i t Mr. R. D. Milne vom Conservative Centre besprochen werden. A u f deutscher Seite war es Herr Ministerialrat Werner Blischke von der Verwaltung des deutschen Bundestags i n Bonn, der wertvolle H i n weise zu der vom Parlament geübten Praxis der Geschäftsordnung beigesteuert hat. Für die freundliche Anteilnahme an verschiedenen Einzelfragen sei auch den Herren Universitätsprofessoren Dr. Theodor Maunz und Dr. Heinz Laufer, München, herzlich gedankt. Die Arbeit wurde i m Herbst 1971 abgeschlossen. Die seit diesem Zeitpunkt erschienene Literatur mußte unberücksichtigt bleiben. Aus demselben Grunde haben die für das deutsche Verfassungsleben so bedeutsamen Vorgänge des Jahres 1972, der von der Opposition eingebrachte Mißtrauensantrag sowie die Auflösung des Bundestages, noch Eingang i n die Anmerkungen gefunden.

8

Vorwort

Vorzüglicher Dank gebührt Herrn Universitätsprofessor Dr. Günther Küchenhoff, Würzburg, für die Wahl des Themas, für die souveräne Beratung und anregenden Impulse. Schließlich sei Herrn Ministerialrat a. D. Dr. J. Broermann, Berlin, für die Aufnahme der Arbeit i n sein Verlagsprogramm herzlich gedankt. Michael

Lippert

Inhaltsverzeichnis Einleitung Problemstellung

und Methode

I. Fragestellung

19 19

I I . Methode der Untersuchung

29

I I I . Gang der Untersuchung

34

B. Begriffsbestimmung des parlamentarischen Regierungssystems

35

C. Systemtheoretische Konzeption der Organbeteiligung an den Kreationsvorgängen

39

I. Regeln der parlamentarischen Regierungsweise I I . Die Rolle des Staatsoberhauptes i m parlamentarischen System I I I . Programmierung: Beteiligung des Staatsoberhauptes an den Bestellungen u n d AmtsbeendigungsVorgängen

39 54 68

1. Die Amtseinsetzung des Regierungschefs a) I m funktionierenden parlamentarischen System b) I m nichtfunktionierenden parlamentarischen System

68 68 69

2. Die Amtsbeendigung des Regierungschefs a) I m funktionierenden System b) I m nichtfunktionierenden System

70 70 70

3. Die Auflösung des Parlaments a) I m N o r m a l f a l l b) Die Auflösung i m Falle einer Verletzung der Systemnormativität

70 70

Erster

74

Hauptteil

Berufung der Regierungschefs

77

Erstes K a p i t e l Amtseinsetzung des britischen Premierministers Erster Abschnitt: Die „Royal Prerogative" als Grundlage der A u s w a h l des Premierministers durch den Monarchen I. Geschichte u n d Wesen der Royal Prerogative 1. Die A r t e n der Prärogativbefugnisse 2. Einschränkungen der Prärogative

77 78 78 81 82

10

Inhaltsverzeichnis

Zweiter

Abschnitt:

Die Funktionalisierung der königlichen Prärogative

durch die Constitutional Conventions I. Wesen, Begriff u n d Bedeutung der Conventions I I . Die Entstehung von Conventions 1. Bedeutung

85 85 87 89

2. Verpflichtungsgründe 3. Begriff des Conventions I I I . V o n den Constitutional Conventions entwickelte Voraussetzungen f ü r die Ausübung der Royal Prerogative durch den Monarchen 1. Politische Voraussetzungen

91 92 93 94

a) Formale Erfordernisse aa) Sitz i m Parlament

94 94

b) Materielle politische Voraussetzungen aa) Berücksichtigung der stärksten Partei bb) Die unumstrittene Führerstellung des Premierkandidaten i n der regierungsberechtigten Partei cc) Die formalisierte W a h l des Leaders — A u t o r i t ä t k r a f t Majorität α) Die W a h l des Leaders der Labour-Party ß) Die W a h l des konservativen Parteiführers nach der Reform von 1965

98 98

c) Persönliche Voraussetzungen Dritter Abschnitt: rogative

Die plebiszitäre Determinierung der königlichen Prä-

I. Die Theorie von der Souveränität des Parlaments 1. Wesen u n d Begriff der Souveränität i m Rechtssinne

103 109 109 111 115

117 118 118

2. Entstehung u n d Bedeutung der konventionalen Souveränität des Unterhauses 120 a) Entwicklung der rechtlich-legislativen Souveränität

120

b) Die politisch-konventionale Suprematie aa) Die Herausbildung der politischen Suprematie bis zur ersten Wahlreform (1688—1832) bb) Die V e r w i r k l i c h u n g der politischen Suprematie des U n t e r hauses nach der großen Wahlreform v o n 1832 α) Ursachen u n d M o t i v e der Reformbewegung ß) Durchführung u n d I n h a l t der großen Reform αα) Der Weg zur Reform

123

ßß) Der I n h a l t der Reform I I . Staatsrechtliche Ergebnisse

124 131 131 133 133 135 136

I I I . Die plebiszitäre Überlagerung der parlamentarischen Suprematie . . 143 1. Die soziologische Kausalität 145 2. Konventionale Folgen der soziologischen Kausalität 153

Inhaltsverzeichnis Vierter Abschnitt: Wahlrechts

Möglichkeiten eines Wiederauflebens des königlichen

I. Die Ernennung eines Koalitionspremiers

164 167

1. Sachverhalt

168

2. Rechtliche Würdigung

172

I I . Die Berufung eines Minderheitenpremiers I I I . Die Nachfolge ministers

eines

ausscheidenden

178 konservativen

Premier-

1. Beispiele der Verfassungspraxis — Fallstudien a) b) c) d)

Die Die Die Der

Ernennung Bonar Laws zum Premierminister (1922) Berufung Churchills (1940) Nachfolge Edens (1957) Übergang des Premieramtes auf L o r d Home (1963)

184 186 187 189 191 193

2. Die Verfassungsrelevanz der Reform des Verfahrens zur Bestellung des konservativen Parteiführers (1965) 204 I V . Schranken der Reservemacht

209

Zweites K a p i t e l Bestellung der Regierungschefs in Deutschland A. Bericht über die Amtseinsetzung unter der Reichsverfassung Erster Abschnitt: Zweiter

Abschnitt:

des Reichskanzlers von 1871

I n der konstitutionellen Monarchie Der Übergang zur parlamentarischen Monarchie

B. Bericht über die Bestellung des Reichskanzlers während der Weimarer Verfassung Erster

Abschnitt:

Verfassungsrechtliche Grundlagen

I. Die Weimarer Verfassungskonzeption I I . Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung I I I . Die Lehrmeinungen Zweiter Dritter

Abschnitt: Abschnitt:

Die politische Praxis u n d ihre Ergebnisse Reformbestrebungen C. Unter dem Bonner Grundgesetz

Erster Abschnitt:

Entstehung des A r t . 63 GG

215

215 215 217 220 220 220 222 225 228 232 236 236

12

Inhaltsverzeichnis I. Die i n den Verfassungen der westdeutschen Länder v e r w i r k l i c h t e n Lösungen 236

I I . Vorschläge i n Parteien u n d Lehre

237

1. Konzeption der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

238

a) Vorschläge des Nürnberger Parteitages von 1947 b) Westdeutsche Satzung = E n t w u r f Menzel I c) E n t w u r f Menzel I I

238 239 240

2. Vorschläge der Unionsparteien

241

I I I . Endgültige Ausarbeitung des A r t . 63 i m Verfassungskonvent Herrenchiemsee u n d dem Parlamentarischen Rat

von

243

1. I m Konvent von Herrenchiemsee

243

2. I m Parlamentarischen Rat

244

Zweiter Abschnitt: Berufung des Bundeskanzlers auf Vorschlag des B u n despräsidenten 252 I. Der Vorschlag des Bundespräsidenten

254

1. Die Ausübung des Vorschlagsrechts

276

2. W i r k u n g des Vorschlags gegenüber dem Bundestag

283

3. A b s t i m m u n g über den Vorschlag

286

I I . Die Ernennung durch den Bundespräsidenten

292

1. Rechtliche Bedeutung der Ernennung

292

2. Das Ernennungsrecht als Ernennungspflicht

294

Dritter Abschnitt: destages

Berufung des Bundeskanzlers auf I n i t i a t i v e des B u n -

I. Das Verfahren Abs. 3 GG

zur W a h l eines Mehrheitskanzlers

gem. A r t . 63

301 301

1. Die W a h l a) Das Vorschlagsrecht b) Die A b s t i m m u n g i m Bundestag

302 302 304

2. Die Ernennung

306

I I . Die W a h l eines Minderheitenkanzlers nach A r t . 63 Abs. 4 GG

307

1. Das Wahlverfahren

309

2. Die Ernennung gem. A r t . 63 Abs. 4 Satz 2 GG

309

3. Die Reservemacht des Bundespräsidenten gem. A r t . 63 Abs. 4 Satz 3 GG 309 a) Problematische Fallgestaltungen 310 b) Verfahren 317

Inhaltsverzeichnis Zweiter

Hauptteil

Beendigung der Rechtsstellung der Regierungschefs

321

Erstes K a p i t e l Das Amtsende des britischen Premierministers

324

Erster Abschnitt: Die königliche Prärogative als Grundlage der A m t s beendigung u n d ihre konventionale Funktionalisierung 324 I. Das monarchische Entsetzungsrecht

324

I I . Die funktionalisierte Prärogative als Entlassungsfunktion Zweiter Abschnitt: haus

326

Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim U n t e r -

I. Die D o k t r i n der „ i n d i v i d u a l ministerial responsibility"

332

1. Wesen u n d Begriff 2. Gegeneinflüsse der Counterconventions i n der Verfassungspraxis 3. Die Counterconventions a) Removal and Reappointment b) The Personal Factors c) Reshuffle d) Collective solidarity e) Das Prinzip der Volkssouveränität (als Counterconvention) . . I I . Die Absorption der ministeriellen Einzelverantwortlichkeit die collective responsibility 1. Wesen u n d Grundlagen der collective responsibility 2. Heutige Bedeutung

329

durch

332 334 337 337 338 338 339 340 342 343 345

I I I . Das Premierprinzip u n d die Konzentration der Verantwortung beim Premierminister 348 1. Die Theorie v o m „ P r i m e Ministerial Government" als Reaktion auf die tatsächlichen Veränderungen i m Regierungsgefüge 348 a) Die Erweiterung der verfassungspolitischen Machtstellung des Regierungschefs 348 b) Entwicklung der Theorie 349 2. Die Verkürzung der collective responsibility auf die i n d i v i d u a l responsibility des Prime Ministers als Folge des Prime Ministerial Government 352 Dritter Abschnitt: Die Stillegung der parlamentarischen Entsetzungsbefugnis durch die Aktualisierung der plebiszitären Abberufung i n der Verfassungspraxis 355 I. Das parlamentarisch-plebiszitäre Verfassungselement

356

1. Die soziologisch-tatsächlichen Grundlagen 357 2. Die Verfassungspraxis der Amtsbeendigung nach der Zweiten Reformakte 1867 362

14

Inhaltsverzeichnis 3. Konventionelle Resultate 366 a) Die K o m b i n a t i o n von repräsentativer u n d plebiszitärer K o m ponente i m britischen Regierungssystem 368 b) Die Parlamentsauflösung als plebiszitäres Instrument i m b r i tischen Verfassungsgefüge 369 4. Die plebiszitäre F u n k t i o n der Parlamentsauflösung i m britischen Regierungssystem 371 a) Allgemeines 371 b) Die A r t e n der Parlamentsauflösung 373 5. Die Auflösung des britischen Unterhauses a) Die Auflösungsarten b) Die Positionen von Monarch u n d Premierminister i m A u f lösungsverfahren aa) Das Recht der I n i t i a t i v e bb) Die Entscheidung über die Auflösung u n d der Einsatz von prärogativer Reservemacht c) Ergebnis: Das königliche Auflösungsrecht als konventionale Verfassungpflicht aa) Die königliche Reservemacht als Verhinderungsermessen

377 377 381 382 385 386 392

Vierter Abschnitt: Möglichkeiten einer Wiederbelebung des monarchischen Entsetzungsrechts 395

Zweites K a p i t e l Das Amtsende der deutschen Regierungschefs A . Unter Erster Abschnitt: Zweiter

Abschnitt:

der Reichsverfassung

Während der konstitutionellen Monarchie Wechsel zur parlamentarischen Monarchie B. In der Zeit der Weimarer

Erster Abschnitt: Zweiter

Abschnitt:

1871

Verfassung

Die einschlägigen Verfassungsnormen Der i n der Verfassung angelegte Dualismus

398 398 398 399 400 400 401

Dritter Abschnitt: Die A k t i v i e r u n g des konstitutionellen Verfassungselements i n Reformvorschlägen u n d Verfassungspraxis 404 I. Reform des A r t . 54 W V

405

1. Vorschläge, die eine Erschwerung des Regierungssturzes zu erreichen suchen 405 2. Vorschläge zur Stärkung der „konstitutionellen Stellung" des Reichspräsidenten 408 I I . Die Verfassungspraxis

410

Inhaltsverzeichnis C. Beendigung der Rechtsstellung des Bundeskanzlers unter dem Bonner Grundgesetz Erster Abschnitt:

413

Die Entstehung des A r t . 67

413

I. Gestaltungen i n den westdeutschen Länderverfassungen

413

I I . Vorschläge i n Parteien u n d Lehre

415

1. Konzeption der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands 415 a) Vorschläge des Nürnberger Parteitags von 1947 415 b) E n t w u r f f ü r eine Westdeutsche Satzung = E n t w u r f Menzel I v o m 16. 8.1948 416 c) E n t w u r f f ü r ein Grundgesetz = E n t w u r f Menzel I I 416 2. Vorschläge der Unionsparteien

416

I I I . Die endgültige Ausarbeitung des A r t . 67 i m Konvent von Herrenchiemsee u n d i m Parlamentarischen Rat 418 1. I m Herrenchiemseer Konvent 2. I m Parlamentarischen Rat Zweiter

Abschnitt:

Die heutige verfassungsrechtliche Situation

I. Beendigungsgründe der Amtszeit des Bundeskanzlers 1. 2. 3. 4.

Zusammentritt eines neuen Bundestages Der R ü c k t r i t t des Bundeskanzlers Tod des Bundeskanzlers Das Mißtrauensvotum

I I . Das Verfahren nach A r t . 67 1. 2. 3. 4. 5.

418 419 421 421 421 422 424 424 424

Der Bundeskanzler als Adressat des Verfahrens 424 Der Mißtrauensantrag 428 Das Mißtrauensvotum als W a h l eines Nachfolgers 430 Die Entlassung 432 Ernennung des neuen Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten 433

I I I . K r i t i k der Lehre an A r t . 67 u n d seine Bedeutung f ü r das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland 435 I V . Verfassungspraxis V. Ergebnis

443 446

Dritter Abschnitt: Minderheitenkanzler u n d Auflösung des Bundestages gemäß A r t . 68 GG 448 I. Der Vertrauensantrag als I n i t i a t i v e des Bundeskanzlers

450

1. Bedeutung des Antrags 2. Formale Fragen

450 453

I I . Reaktion des Bundestages

455

1. Die A b s t i m m u n g 2. Entwicklungsmöglichkeiten nach der A b s t i m m u n g

455 456

16

Inhaltsverzeichnis a) Die Annahme b) Die Ablehnung

456 457

I I I . Die Entscheidung über die Auflösung — Positionen von Bundespräsident u n d Bundeskanzler 464 1. Problemstellung 2. Lösungsvorschläge a) Der Lehre b) Vorschlag des Verfassers aa) Sinnermittlung α) Die sprachliche Interpretation ß) Die historische Interpretation γ) Die rechtssoziologische Interpretation Ô) Die systematische Interpretation ε) Die rechtsvergleichende Interpretation bb) Konkretisierung α) Konfliktanalyse ß) Lösungsentwurf γ) Lösungsbewertung αα) Faktische A u s w i r k u n g e n der Lösungsalternativen auf die beteiligten Interessen ßß) Rechtliche Bewertung der Lösungsalternativen . . c) Ergebnis d) Vorschlag f ü r eine Neufassung des A r t . 68 GG

464 468 468 469 470 470 471 473 476 477 480 480 482 482 482 484 487 487

Sehluß

489

Literaturverzeichnis

493

Abkürzungsverzeichnis Abg.

Abgeordneter

AcP

A r c h i v f ü r civilistische Praxis

a. M.

anderer Meinung

AöH

A r c h i v f ü r öffentliches Recht

Arch. f. Rechts- A r c h i v f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie u n d Sozialphilosophie Bay.

Bayerischer, e, es

BGBl.

Bundesgesetzblatt

BGH

Bundesgerichtshof

BGHSt.

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Strafsachen (amtl. Sammlung)

B GH Z

Entscheidungen des Bundesgerichtshofs i n Zivilsachen (amtl. Sammlung)

BK

Bonner Kommentar

BRD

Bundesrepublik Deutschland

BVerfG

Bundesverfassungsgericht

BVerfGE

Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (amtl. Sammlung)

BVerfGG

Gesetz über das Bundesverfassungsgericht v o m 12. März 1951 (BGBl. I 243)

BVerwG

Bundesverwaltungsgericht

BVerwGE

Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts (amtl. Sammlung)

DJZ

Deutsche Juristenzeitung

DÖV

Die öffentliche V e r w a l t u n g

DV

Deutsche V e r w a l t u n g

DVB1.

Deutsches Verwaltungsblatt

GG

Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland v o m 23. M a i 1949

GVG

Gerichtsverfassungsgesetz v o m 27. Januar 1877 (RGBl. 41) i n der Fassung v o m 12. September 1950 (BGBl. 513)

HChE

E n t w u r f des sogenannten Verfassungskonvents, der v o m 10. bis 23. August 1948 auf der Insel Herrenchiemsee getagt hat

HChK

Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee

2 Lippert

18

Abkürzungs Verzeichnis

HdbDStR

Handbuch des Deutschen Staatsrechts, herausgegeben von Gerhard Anschütz u n d Richard Thoma HdbDStR I = Band I, Tübingen 1930 HdbDStR I I = Band I I , Tübingen 1932

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart

JR

Juristische Rundschau

JuS

Juristische Schulung

JW

Juristische Wochenschrift

JZ

Juristenzeitung

MDR

Monatsschrift f ü r Deutsches Recht

N.F.

neue Folge

NJW

Neue Juristische Wochenschrift

Prot.

Protokoll

PVS

Politische Vierteljahresschrift, Zeitschrift der Deutschen V e r einigung f ü r Politische Wissenschaften

Rdz.

Randziffer

RdA

Recht der A r b e i t

RG

Reichsgericht

RGBl.

Reichsgesetzblatt

SJZ

Süddeutsche Juristenzeitung

Sten. Ber.

Stenographische Berichte

Sten. Prot.

Stenographische Protokolle

WDStRL

Veröffentlichungen rechtslehrer

WV

Verfassung des Deutschen Reiches v o m 11. August 1919 (Weimarer Reichsverfassung)

der Vereinigung der Deutschen Staats-

Einleitung Α. Problemstellung

und Methode

I. Fragestellung Die Organisation der Exekutive und die Frage nach ihren Trägern rückt i n dem Maße i n den Vordergrund des öffentlichen Interesses, i n dem sich die Tätigkeit des modernen Staates ausgedehnt hat und sich anschickt, alle Lebensbereiche zu durchdringen 1 . Das Ringen u m einen Ausgleich zwischen den jeder Regierungsweise immanenten Polen der Effizienz und der Legitimation einer Regierung, das insbesondere i n den dem parlamentarischen System anhängenden Ländern seine Schauplätze aufgeschlagen hat, mag als Symbol für die zunehmende Uberzeugung gelten, daß, ungeachtet der m i t der Republik von Weimar und der französischen 3. und 4. Republik gemachten Erfahrungen, die Instabilität von Regierungen und die parlamentarische Diskontinuität zum parlamentarischen Regierungssystem nicht i m Verhältnis des Junktims zu stehen brauchen 2 ; andererseits der Umschlag i n die diktatoriale Machtausübung vermieden werden kann. Hinsichtlich der Konstruktion der Regierungsgewalt i m Staatswesen stehen sich zunächst zwei Hauptorganisationsformen gegenüber, zwischen denen wiederum zahlreiche Mischformen bestehen. I m präsidentiellen System bildet das volksgewählte Staatsoberhaupt die Regierungs- und die Administrationsspitze, leitet und koordiniert die politische Staatstätigkeit und repräsentiert zugleich das Staatsganze3. Der präsidentiellen, monistischen Regierungsweise steht das parlamentarische System gegenüber, i n dem ein vom Vertrauen des Parla1

Friedrich, K a r l J., Der Verfassungsstaat der Neuzeit, B e r l i n 1953, S. 772. Derartige apokalyptische Vorhersagen sind zu finden bei Lippmann, W a l ter, Crépuscule des démocraties, Paris 1956. 3 Küchenhoff, Günther u n d Erich, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart, 6. Auflage 1967, S. 129 f., dazu die v o n Smend entwickelte Theorie der Integration, i n : Smend, Rudolf, Integrationslehre i m Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 12 Bde., hrsg. v o n Horst Jecht, Andreas Predöhl, Werner Weber, Leopold v. Wiese u. a., Stuttgart—Göttingen 1956 - 1965; Smend, Rudolf, V e r fassung u n d Verfassungsrecht, München, Leipzig 1928, Neudruck i n : Staatsrechtliche Abhandlungen u n d andere Aufsätze, München, B e r l i n 1955, S. 119. 2



20

Einleitung

ments abhängiges Kabinett und ein (monarchisches oder republikanisches) Staatsoberhaupt die Staatsspitze bilden. Die nähere Ausgestaltung dieses Dualismus w i r d zum Maßstab einer begrifflichen Einteilung der Spielarten parlamentarischer Regierungsweisen 4 . Von i h m und seiner teilweisen Uberwindung hängen gleichzeitig die Stabilität, ja der Bestand des parlamentarischen Systems ab 5 . Tatsächlich weist die Verfassungsentwicklung der jüngsten Zeit — seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges — eine monistische Tendenz i n dem Sinne auf, daß nicht nur die lähmenden und zerstörerischen Möglichkeiten des „rein negativen" Mißtrauensvotums durch rationalisierte Verfahren des „positiven parlamentarischen Systems"® gebändigt werden, sondern auch i n verschiedenen Verfassungsneuschöpfungen unterschiedlich starke Bestrebungen feststellbar sind, die politische Führung i n einem einzigen Organ der Exekutive zu konzentrieren. Es war gerade die Ablösung des liberalen, bürgerlichen Rechtsstaates durch die i m neunzehnten Jahrhundert i n England einsetzende Entwicklung zur Massendemokratie sowie die zunehmende Komplexität und Unüberschaubarkeit staatlichen Handelns und die Schwierigkeiten der geistigen Selbstdarstellung des Staates i m Gefolge der „technischen Realisation" 7 , welche nach einer Personalisierung der Macht verlangten 8 . Und dies aus zwei Gründen: einmal, u m des Monismus der Machtausübung willen, d. h., der Konzentration der Führungs- und Entscheidungsbefugnisse i n einem Organ; des weiteren vor allem, u m die Verantwortung zu konkretisieren und damit die (demokratische) Kontrollierbarkeit herzustellen 9 . Bestrebungen, das Gebot der monokratischen Lenkung sowie der stabilen, dabei kontrollierten und parlamentarisch beziehungsweise demokratisch legitimierten Regierung zu erfüllen, finden sich i n unterschiedlicher Ausprägung i n mehreren Nachkriegsverfassungen 10 ; die 4 Kaltefleiter, Werner, Die F u n k t i o n des Staatsoberhauptes i n der parlamentarischen Demokratie, Köln—Opladen 1970, unterscheidet demnach das klassisch-parlamentarische Regierungssystem (26 ff.), das quasi-parlamentarische u n d das System bipolarer Executive. 5 s. dazu 1. H a u p t t e i l 1. Kap. 2. Abschn. I I 1 b) aa) am Ende. 6 Küchenhoff, Günther u n d Erich, S. 158. 7 Z u den Problemen einer veränderten Staatlichkeit i n der technischen Welt, s. Forsthoff, Ernst, Der Staat der Industriegesellschaft, München 1971. 8 Amphoux, Jean, Le chancelier fédéral, dans le régime constitutionnel de la République Fédérale d'Allemagne, Paris 1962, S. 4. 9 s. dazu die Möglichkeiten demokratischer Regierungskontrolle; Mannheim, K a r l , Freedom, Power and Democratic Planning, London 1951, S. 145 f. 10 So überträgt A r t . 95 I der italienischen Verfassung v o n 1947 dem Präsidenten des Ministerrats (Reg.chef) die Kompetenz zur Bestimmung der Richtlinien der Politik, ähnliche Tendenzen sind i n der französischen Verfassung v o n 1946 enthalten, insbesondere i n A r t . 45,47 u n d 49.

Α. Problemstellung und Methode

21

Hauptausnahme bildet die französische Verfassung von 1958, die i m Rahmen eines beschränkt-parlamentarischen Systems die Stellung des Staatspräsidenten i n einer Weise stärkt, die zum System der „bipolaren Exekutive" führt 1 1 . Den größten Schritt auf dem Wege zur monistischen, personalisierten Macht, dabei gleichzeitig Legitimation und Kontrolle, hatte das Grundgesetz der Bundesrepublik von 1949 gewagt. Dem Bundeskanzler als dem deutschen Regierungschef wurde damit nicht nur die Richtlinienbestimmung der Politik übertragen, sondern er wurde auch zum einzigen, parlamentarisch legitimierten und dem Parlament verantwortlichen Minister erhoben. Diese Ausgestaltung der verfassungsrechtlichen Position des Bundeskanzlers i m restaurierten parlamentarischen Regierungssystem sowie ihre i n den Anfangs jähren der Bundesrepublik vom ersten Amtsinhaber Adenauer geprägte verfassungspraktische Verwirklichung gaben den Anlaß nicht nur zur Wortprägung vom Kanzlerprinzip oder Kanzlersystem, sondern auch zu ersten Ansätzen einer „Theorie der Kanzlerregierung" 1 2 . Die deutsche Nachkriegsverfassungsschöpfung hatte den Bundeskanzler i n mehrfacher Hinsicht der i n einer langen politischen Praxis entwickelten, zum Idealbeispiel erhobenen Figur des britischen Premierministers angenähert. Auch i n Großbritannien gebar die „Not des Augenblicks" i m Ersten und Zweiten Weltkrieg die verfassungspolitische Machtstellung des Prime Ministers. Der konventionalen Entwicklung folgte die theoretische Verarbeitung: Z u Beginn der sechziger Jahre entstand die Theorie vom „Prime Ministerial Government" 1 3 . I n ihr wurde die neue Suprematie des Premierministers, die Ablösung durch das „Prime Ministerial Government" beschrieben: politische Führungsbefugnisse würden durch den Premierminister ausgeübt, die Kabinettsmitglieder stünden i h m dabei als bloße Verrichtungsgehilfen zur Seite. Der Premierminister ist als Führer seiner Parteiphalanx 1 4 zum Bindeglied zwischen Kabinett und Unterhaus geworden; i n i h m konzentrierte sich die parlamentarische Verantwortung. Der deutsche Bundeskanzler 11 Vgl. dazu Haungs, Peter, Überparteiliches Staatsoberhaupt u n d parlamentarische Kabinettsregierung, i n : Festschrift f ü r Dolf Sternberger zum 60. Geb., Heidelberg 1968, S. 162 ff. 12 s. dazu insbes. Ridley , F. F. Chancellor Government as a Political System and the German Constitution, i n : Parliamentary Affairs, London 1966, Bd. 19, Nr. 4, S. 446 - 461. 13 So v o r allem Mackintosh , John P., The B r i t i s h Cabinet, Appendix I I , London 1962; Heasman, D. J., The Prime Minister and the Cabinet, i n : Parliamentary Affairs Bd. X V (1962) S. 481 ff.; Brasher , Ν. Η., Studies i n B r i t i s h Government, London 1965; Hinton, R. W. K., The Prime Minister as an Elected Monarch, i n : Parliamentary Affairs, Bd. I I I (1960) S. 297 ff.; Benemy , Frank, W., The Elected Monarch, London, Toronto, Wellington, Sydney 1965. 14 Crossmann t Richard, Introduction to Walter Bagehot, The English Constitution, London 1963, S. 40 ff.

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Einleitung

wie der britische Premierminister sind hinsichtlich ihrer Befugnisse wie ihrer Verantwortung aus dem Kreise der übrigen Regierungschefs parlamentarischer Verfassungen herausgehoben. Sie versuchen, allerdings in unterschiedlicher Weise, verschiedene an den Machtträger gerichtete Forderungen 15 zu verwirklichen 1 6 . Gerade die Ähnlichkeiten i n der Ausgestaltung der Stellung des deutschen und britischen Kabinettschefs verleiten dazu, den Ämterzugang und den Ämterabgang der Staatsorganträger vergleichend zu betrachten. Dabei stellt die gegenseitige Ämterbesetzung ein bedeutsames M i t t e l dar, die entsprechende Abhängigkeit der Staatsorgane herzustellen und zu sichern 17 . Diesem Ziele dient es, wenn „die Organträger der einen Staatsorgangruppe durch die Staatsorgane einer anderen Staatsorgangruppe berufen werden". Ebenso kann „die Amtsdauer der Organträger der einen Staatsorgangruppe durch Entscheidungen der Staatsorgane einer anderen Staatsorgangruppe beendet werden" 1 8 . Bei der Einsetzung und Entsetzung des deutschen Bundeskanzlers und des britischen Premierministers sind, da Be- und Entsetzung nicht i m Wege der Kooptation vorgenommen werden, gleichfalls Staatsorgane einer anderen Organgruppe beteiligt. Für die Beantwortung sowohl der Frage nach der Regierungsform als der konkreten Ausgestaltung des Systems ist entscheidend, welche Staatsorgangruppen daran partizipieren sowie die A r t dieser Beteiligung. Das „parlamentarische Regierungssystem" setzt — i m Unterschied zum bloßen „Parlamentarismus" 1 9 die mittelbare oder unmittelbare Abhängigkeit der Amtsdauer der Regierungsorgane vom Parlament voraus 20 . Diese Prämisse schließt bestimmte Regierungsformen von vornherein aus und schränkt andere i n bestimmter Weise ein 21 . Werden die das Zusammenwirken der verschiedenen Staatsorgane und Organgruppen normierenden und aus den Erfordernissen des Systems abzuleitenden Regeln 22 durch Verfassungsnormen oder Verfassungspraxis 15 Dieses Problem erörtert: Schmitt, Carl, Gespräche über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Pfullingen 1954. 16 Ridley, F. F., S. 461. 17 s. dazu näher bei Küchenhoff, G. u n d E., Allgemeine Staatslehre, S t u t t gart, Berlin, Köln, Mainz, 6. Auflage 1967 S. 156 ff.; dort auch die Schaubilder 8 a - b S. 261. 18 Küchenhoff, G. u. E., S. 157, Beispiele ebenda. 19 Der n u r das Bestehen eines Parlaments m i t bestimmten verfassungsrechtlichen Befugnissen, so z . B . Gesetzgebung, Budgetrecht usw. verlangt, vgl. Küchenhoff, G. u. E., S. 157. 20 Küchenhoff, G. u n d E., S. 157. 21 Küchenhoff, G. u n d E., S. 157. 22 Kalte fletter, Werner (I), S. 15 bezeichnet die Gesamtheit seiner Regeln als „Systemnormativität".

Α. Problemstellung und Methode

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verletzt, so hat dies Störungen der Arbeitsfähigkeit und letztlich eine Instabilität des Systems zur Folge. I n der zu untersuchenden Verfassungsordnung kann daher die dort getroffene Regelung von Bestellung und Amtsbeendigung als Indikator für die Intensität des parlamentarischen Systems dienen. Zugleich sind hier die Einbruchstellen anderer, außerhalb des parlamentarischen Systems liegender Regierungsprinzipien angesiedelt. Die Unternehmung der Verfassungsschöpfer von Weimar, den abgewogenen, „echten" Parlamentarismus entstehen zu lassen 23 , war der erste Versuch, das „klassische" parlamentarische System i n Deutschland einzuführen. Auch 1949 steckte sich der Parlamentarische Rat das Ziel, die von der englischen Verfassungspraxis konventional formierte und vorgelebte Verfassung i n rational konstruierten Verfassungsbestimmungen bannen zu können. Die Beantwortung der Frage des Gelingens — sie ist für die Ausgestaltung von Einsetzung und Amtsende des deutschen Bundeskanzlers von besonderer Relevanz — w i r d ein wesentliches Anliegen der Arbeit darstellen. I m Zusammenhang damit stößt man zwangsläufig auf die Figur des Staatsoberhaupts und seine Beteiligung an der Berufung und Entsetzung der Regierungschefs. Sie ist entscheidend für die Klassifizierung des Systems sowie seiner näheren Ausgestaltung. Denn die parlamentarische Regierungsweise beruht, wie jedes Regierungssystem, auf einem bestimmten Zusammenwirken der Verfassungsorgane, das ohne Gefahr für den Bestand oder die Arbeitsfähigkeit nicht unbegrenzt variabel ist 2 4 . Die verfassungsmäßige Entscheidung für das parlamentarische Regierungssystem beinhaltet demzufolge eine bestimmte, an das Staatsoberhaupt gerichtete Rollenerwartung 2 5 . Uber diese vom Staatsoberhaupt i m parlamentarischen Regierungssystem wahrzunehmenden Funktionen besteht jedoch weder i n der Lehre noch i n der Verfassungspraxis Einhelligkeit 2 8 . Dies beweisen die verfassungspolitischen Erfahrungen einer Reihe von Staaten 27 . Dié Gefahren, die aus solchen Mißverständnissen der Stel28 Dieser Begriff wurde geprägt v o n Robert Redslob, Die parlamentarische Regierung i n i h r e r wahren u n d i n ihrer unechten Form, Tübingen 1918. 24 Glum, Friedrich, Staatsoberhaupt u n d Regierungschef, i n : Zeitschrift f ü r Politik, Jg. 6, Neue Folge, Heft 4,1959, S. 293. 25 Wobei hinsichtlich der Funktionen innerhalb des Systems keine U n t e r schiede erkennbar sind; vgl. dazu die näheren Ausführungen v o n Kaltefleiter, Werner (I), S. 23; Ralph Dahrendorf gibt dazu folgende Definition: „Soziale Rollen sind Bündel v o n Erwartungen, die sich i n einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger v o n Positionen knüpfen." Vgl. dazu „Homo Sociologicus" i n : Pfade aus Utopia, München 1967, S. 144; zit. nach Kaltefleiter (I),2 S. 10, A n m . 4. 6 Beispielgebend hierfür ist die Aussprache auf der Tagung der V e r einigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, 1966 i n Graz, i n V V D S t R L , Bd. 25, B e r l i n 1967, S. 209 ff. 27 Beispiele hierfür sind das Frankreich der II., I V . u n d V. Republik, i n denen das A m t des Staatspräsidenten eine verfassungsrechtliche Wandlung

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lung des Staatsoberhaupts für den Bestand des Regierungssystems und seine Funktionstüchtigkeit erwachsen können, wurden an Hand der Weimarer Verfassungsentwicklung deutlich. Doch war bereits i n der Weimarer Verfassung selbst — insbesondere i n den die Bestellung und Entsetzung des Reichskanzlers betreffenden A r t i k e l n 53 und 54 W V sowie i n der Auflösungsbestimmung des A r t . 25 — der Spielraum für die tatsächlich die parlamentarisch-demokratische Verfassungskomponente aufhebenden autoritär-konstitutionellen Befugnisse des Reichspräsidenten angelegt. Fundiert durch die These vom „Hüter der Verfassung" 28 wurden diese Befugnisse von beiden Reichspräsidenten, vor allem von Hindenburg, zur Bewältigung neuer, durch die Handlungsunfähigkeit der eigentlich zuständigen Verfassungsorgane entstandener Aufgaben eingesetzt. Der bereits verfassungsrechtlich verankerte Ansatz läßt jedoch eine tatbestandsmäßige Beschreibung der eine Aktualisierung der vollen präsidentiellen Befugnisse erfordernden Situation vermissen; man ist eher geneigt, auch hierfür die Erklärung i n dem von Otto Kimminich gegebenen Hinweis auf die „monarchistische und romantische Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre" 29 zu suchen. Die allgemeine Unsicherheit über die vom Staatsoberhaupt i m parlamentarischen System einzunehmende Position bleibt jedoch weder örtlich noch zeitlich auf die Weimarer Republik beschränkt 30 . Ungeachtet der — als Reaktion auf die Vergangenheit — besonders intensiven Bemühungen des Parlamentarischen Rates u m eine rationale, „positive" und konstruktive Gestaltung des neuen deutschen parlamentarischen Systems, ungeachtet seiner gerade der Ausgestaltung des Bundespräsidentenamtes gewidmeten ausführlichen Beratungen, war es anscheinend nicht gelungen, der verfassungstheoretischen Stellung des Staatsoberhaupts eine eindeutige Gestalt zu verleihen. Die weiterbestehende Unsicherheit w i r d teilweise auch i n den die Amtseinsetzung sowie das Amtsende regelnden und die présidentielle Beteiligung daran gestaltenden Bestimmungen des Grundgesetzes verkörpert. „Die positivrechtlichen Bestimmungen über die durchgemacht hatte, aber auch die Bundesrepublik Deutschland, w o die v e r fassungspolitische Diskussion u m das A m t des Bundespräsidenten nie abgerissen ist, vgl. dazu näher Kaltefleiter, W. (I), S. 12 f. 28 Vgl. Schmitt, Carl, Der H ü t e r der Verfassung, i n : Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart, Heft 1, Tübingen 1929. 29 Kimminich, Otto, Das Staatsoberhaupt i n der parlamentarischen Demokratie, i n : W D S t R L , Heft 25, B e r l i n 1967, S. 97 = Leitsatz 1,1. 80 So führte m a n während der Zeit der I I I . französischen Republik deren Instabilität auf die befugnisarme Stellung des Staatsoberhaupts zurück; die Gleichgewichtstheoretiker (Duguit) versuchten, i h n zu einem dem Parlament gleichgewichtigen Gegenpol aufzubauen; s. dazu Scheuner, Ulrich, — Über die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems — zugleich eine K r i t i k der Lehre v o m echten Parlamentarismus, i n : A r c h i v des Öffentlichen Rechts, Neue Folge, Bd. 13,1927, S. 352.

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Macht des Bundespräsidenten . . . sind so zweideutig, daß man nur m i t rechtstheoretischen Überlegungen ihnen einen konkreten Sinn schenken kann 3 1 ." Der Mangel an eindeutiger Formulierung schuf die Voraussetzung für zahlreiche Interpretationsstreitfragen und war mitursächlich für die i m Laufe der bisherigen Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland ausgelösten Auseinandersetzung u m A m t und Befugnisse des Bundespräsidenten. Für die Bestellung und die Amtsbeendigung sowie das Hecht der Parlamentsauflösung von Bedeutung sind hier die Regierungsbildungen von 1961 und 1965, gleichzeitig auch „das besondere Bemühen Heinrich Lübkes, sein A m t »politischer* als Heuss auszuüben" 82 . A n dieser Stelle knüpft die zweite, von der Arbeit verfolgte Zielsetzung an. Es w i r d zunächst durch Interpretation versucht, den auslegbaren Inhalt der fraglichen Normen möglichst eindeutig zu klären oder jedenfalls i n alternativen Lösungsmodellen aufzubereiten. Anschließend w i r d geprüft, ob und inwieweit das Prüfungsergebnis der Rollenerwartung entspricht, die an ein parlamentarisches Staatsoberhaupt zu richten ist. Ziel dieser Fragestellung ist es, diejenigen Normen, welche die Rollenerwartung enttäuschen und damit eine mögliche Gefahrenquelle für die Arbeitsfähigkeit und den Bestand des parlamentarischen Regierungssystems bilden, festzustellen. Hierzu war es notwendig, einen Vergleichsmaßstab zu Hilfe zu nehmen. Eine Gegenüberstellung der vom Grundgesetz getroffenen Regelung und einer anderen „parlamentarischen", geschriebenen Verfassung erschien nicht sinnvoll, da damit die Verfassungswirklichkeit, d.h. der tatsächlich i n der betrachteten Epoche herrschende Zustand i m Zusammenwirken der Organe, noch nicht erklärt ist 3 3 ; eine bloße Beschreibung der Verfassungswirklichkeit aber das Verfassungsrecht als Rahmen und konstitutiven Faktor der Verfassungswirklichkeit vernachlässigen würde 3 4 . Insofern galt es, eine Verfassungsordnung zum Vergleich her31 So Seidl-Hohenveldern, Ignaz, i n W D S t R L , Heft 25, S. 212 f., auch w i r d aus diesem Grunde eine „Politisierung" des Präsidentenamtes befürchtet; vgl. Allemann, F. R., „Zwischen Stabilität u n d Krise, Etappen der deutschen P o l i t i k v o n 1955 - 1963", München 1963, S. 45. 82 Kalteileiter, W. (I), S. 13. 83 Bei ausschließlich auf die Normen des Verfassungsrechts beschränkter, vergleichender Betrachtung w ü r d e m a n gemäß der schwedischen Verfassung v o n 1809 den schwedischen K ö n i g als Inhaber sämtlicher Exekutivbefugnisse angesehen haben; bei der Berufung der Kabinettsmitglieder stünde dem Monarchen unbeschränktes Ermessen zur Verfügung, (Kalte fletter, W. (I), S. 14). Auch hier füllen sich diese Normen erst dann m i t Leben, w e n n m a n die Existenz eines parlamentarischen Regierungssystems als Prämisse voranstellt. 34 E i n Beispiel f ü r einen ausschließlich normenmäßigen Vergleich einer Vielzahl von Verfassungen liefert Kehlenbeck, Paul, Der Staatspräsident, i n : Die Gestaltung des Präsidialamts i n den Verfassungen seit 1945, hektogra-

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anzuziehen, die auf gewohnheitsmäßiger Entfaltung beruhend, das parlamentarische Regierungssystem, d. h. die diesem zugrundeliegenden Regelhaftigkeiten, Schritt für Schritt i n kontinuierlichem Ablauf verwirklicht hatte. I n Großbritannien erscheint die heute herrschende parlamentarische Demokratie als gegenwärtiges Endprodukt einer allmählichen Transformation von der Monarchie m i t absolutistischen Bestrebungen über die konstitutionelle Monarchie zur parlamentarischen Regierungsweise unter Beibehaltung der monarchischen Staatsspitze 35 . Die von der englischen Verfassungsentwicklung gefundene Form hat inzwischen den Charakter eines „klassischen" Musters der parlamentarischen Regierungsweise angenommen 36 . Zumindest seit Robert Redslobs einflußreichem Werk „Die parlamentarische Regierung i n ihrer wahren und unechten Form" 3 7 waren Verfassungsschöpfungen, die sich grundsätzlich zum Parlamentarischen System bekannten, bestrebt, die Errungenschaften der englischen Verfassung möglichst vollständig aufzunehmen. Dies gilt auch für die Verfassungswerke von Weimar und Bonn, die beide darnach trachteten, die Voraussetzungen des echten oder konstruktiven und rationalen parlamentarischen Systems zu erfüllen. Daß der erste Anlauf, das gesteckte Ziel zu erreichen, i m Versuchsstadium steckengeblieben war und der zweite, wie zu zeigen sein wird, einen Strukturfehler beibehalten hat, findet seine Ursache weniger i m „Zurückbleiben" der Verfassungskonstruktion hinter der sich fortentwickelnden, ständig Teile des herrschenden verfassungsideologischen Bewußtseins der Zeit i n sich aufnehmenden englischen Verfassungsordnung, sondern i n einer sogar i n der Bonner Verfassungsschöpfung rudimentär fühlbaren „monarchistisch-romantischen Befangenheit" bezüglich der vom Staatsoberhaupt einzunehmenden Position 38 . Die vorangestellte Darstellung der englischen Bestellungs- und Entsetzungsabläufe soll dann den Hintergrund bilden für das „Kontrastprogramm" der Einsetzung und A b berufung des Bundeskanzlers. Dies eröffnet die Möglichkeit, die teilweise Diskrepanz zwischen Systemforderung gegenüber dem Staatsoberhaupt i m parlamentarischen System und ihrer i m Grundgesetz versuchten Verwirklichung aufzuzeigen. Das m i t der Amtsbeendigung des Bundesflerte Veröffentlichung der Forschungsstelle f ü r Völkerrecht u n d ausländisches öffentliches Recht der Universität Hamburg, Nr. 21,1950. 35 Morrison, Herbert, Parlament u n d Regierung i n England, München 1956, S. 121; Kalte fletter, W. (I), S. 21 u n d dortige Beispiele. 36 Kaltefleiter, W. (I), S. 26 ff. 37 Redslob, Robert, Die Parlamentarische Regierung i n i h r e r wahren u n d i n ihrer unechten Form, Tübingen 1818, stellte der wahren englischen F o r m des parlamentarischen Systems die Abweichung, die unechte Form, gegenüber. 38 Kimminich, Otto, Die Gestaltung des Präsidentenamtes i n den Verfassungen seit 1945, W d S t R L , Nr. 25, S. 91 = Leitsatz 11.

Α. Problemstellung und Methode

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kanzlers i n engem Zusammenhang stehende Auflösungsrecht gemäß A r t . 68 GG rückt dabei i n den Mittelpunkt des Interesses. Das Grundgesetz hat hier keine eindeutige Formulierung gefunden, was die genannte Verfassungsbestimmung zur Einbruchsteile von dem parlamentarischen System fremden Ordnungsprinzipien werden läßt, ähnlich, wie es bereits für A r t . 53 und 54 WV, konstatiert werden mußte. Die i m Wege des A r t . 68 GG realisierbare Wiederbelebung des konstitutionell-präsidentiellen Verfassungselements und die aus ihr erwachsende Gefahr für die Einhaltung systemgemäßer Regeln und die Arbeitsfähigkeit des Systems beinhalten zunächst nur eine das institutionelle Zusammenwirken der Verfassungsorgane betreffende Problematik. Eine sich zur Aktualisierung des konstitutionell-präsidentiellen Elements entschließende Entscheidung der i n A r t . 68 GG angelegten Zweifelsfrage hätte tiefgreifendere, die Legitimität staatlichen Handelns tangierende Folgen, auf die hinzuweisen aus einer Haltung der Sorge u m die W i r k kraft des i m Regierungssystem seinen höchsten und sichtbarsten Ausdruck findenden staatlichen Handelns und der Treue zur Verfassung geboten ist 39 . Carl Schmitt hatte bereits 193240 von der „plebiszitären Legitimität" als der „einzigen A r t staatlicher Rechtfertigung" gesprochen, die heute, das heißt i m Zeitalter der Demokratie, „allgemein als gültig anerkannt sein dürfte". Er hatte dann i m Zusammenhang damit eine Regierung gefordert 41 , welche „die Autorität hat, die plebiszitären Fragestellungen i m richtigen Augenblick richtig vorzunehmen". Dank der konventionalen Anpassungsmöglichkeiten der britischen Verfassung war es dort gelungen, Teile von eigentlich der repräsentativ orientierten Verfassung entgegenlaufenden, „plebiszitären" 4 2 Kräften der Gegenwart aufzunehmen, teilweise umzugestalten, die Achtung vor der Verfassung zu erhalten u m diese zu befähigen, „normative Kraft zu entfalten" 4 3 . Auch das Postulat der fragebefugten Regierung scheint dort erfüllt zu sein 44 . Anders die vom Grundgesetz vorgegebene Situation: die Bonner Verfassungsväter waren von Anfang an bestrebt, die der Weimarer Verfassung bekannten, plebiszitären Kräfte 4 5 auszu39 F ü r die Forschung m i t Wertmaßstäben s. die Aussage bei v. d. Heydte— Sacherl, Soziologie der deutschen Parteien, München 1955, S. X V . 40 Schmitt, Carl, Verfassungsrechtliche Aufsätze, B e r l i n 1958, S. 340. 41 Schmitt, Carl (VI), S. 340. 42 Fraenkel, E., Die repräsentative u n d plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958, S. 7. 43 Hesse, Konrad, Die normative K r a f t der Verfassung, Tübingen 1959, S. 9. 44 Schmitt, Carl (VI), S. 340 f. 45 Die plebiszitären Entscheidungen des Volkes entfalteten insbesondere bei der W a h l des Reichspräsidenten ihre Wirksamkeit gemäß A r t . 41 W V .

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Einleitung

schalten 46 . Das Ergebnis war ein stark parlamentarisch-repräsentativ orientiertes Regierungssystem 47 . Das herrschende verfassungstheoretische Bewußtsein unserer Zeit w i r d jedoch erfüllt durch die Postulate der Volkssouveränität 48 , konkreter der Demokratie und, als deren Fortsatz i m wirtschaftlich-sozialen Bereich, der Mitbestimmung 4 9 . Gleichzeitig wurde i n jüngster Zeit wieder der Ruf nach dem Rätesystem, dem angeblichen Überwinder des parlamentarischen Regierungssystems als des Unterdrückungsmittels des Bürgertums, laut 5 0 . Zwar bildet — was i n A r t . 20 I I und 38 I GG sichtbar w i r d — auch das Repräsentationssystem neben den Formen der Demokratie eine Ausdrucksform des Prinzips der Volkssouveränität 5 1 . Doch entscheidet das Volk i n der Repräsentativverfassung nicht selbst, sondern durch von i h m auf Zeit gewählte und unabhängige Repräsentanten 52 . Beide Prinzipien begegnen sich i n der Bestellung und teilweise der Entsetzung der Repräsentativorgane durch das Volk 5 3 . Die (Parlaments)wahlen werden daher zum demokratischen Legitimationsfundament aller demokratischen, repräsentativ orientierter Verfassungen. I n i h r werden die Volkssouveränität aktualisiert und die Repräsentanzverhältnisse begründet. Rechtsnatur und Inhalt dieser Beziehung zwischen Staatsvolk und Repräsentativorganen wurden bereits von Jellinek 5 4 erläutert, der dabei auch auf die Tatsache des Weiterbestehens dieser Rechtsbeziehungen i n der Zeit zwischen den Wahlen besonders hinwies 5 5 . 48

Weber, Werner, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, Stuttgart 1958, S. 19 f. 47 Fraenkel, Ernst, Die repräsentative u n d plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958, S. 5: Repräsentation ist die rechtlich autorisierte Ausübung v o n Herrschaftsfunktionen durch verfassungsmäßig bestellte, i m Namen des Volkes, jedoch ohne dessen bindenden A u f t r a g handelnde Organe eines Staates oder sonstiger Träger öffentlicher Gewalt, die ihre A u t o r i t ä t mittelbar oder u n m i t t e l b a r v o m Volke ableiten u n d m i t dem Anspruch legitimieren, dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen u n d dergestalt dessen w a h r e n W i l l e n zu vollziehen. 48 Schmitt, Carl (VI), S. 317,339 f. 49 Fraenkel, E. (I), S. 5. 50 Gottschalch, Wilfried, Parlamentarismus u n d Rätedemokratie, B e r l i n 1968, S. 7 ff. 51 s. dazu Fell, K a r l , Plebiszitäre Einrichtungen i m gegenwärtigen deutschen Staatsrecht, j u r . Diss., Bonn 1964, S. 5. 52 s. dazu Leibholz, Gerhard, Das Wesen der Repräsentation, 3. Auflage 1966, S. 32 f. 58 Z u m Verhältnis der beiden Systeme s. auch Kägi, Werner, Rechtsstaat u n d Demokratie, i n : Demokratie u n d Rechtsstaat, Festgabe Z. Giacometti, Zürich 1953, S. 107 ff. 54 Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage, 7. Neudruck, 1960, S. 581 ff. 55 Stein bezeichnet diese Rechtsbeziehung als Repräsentanzverhältnis, s. Stein, Ekkehart, Lehrbuch des Staatsrechts, Tübingen 1968, S. 71 f., S. 3 ff.

Α. Problemstellung und Methode

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Das Repräsentativprinzip kennt einige Instrumente zur plebiszitären Intensivierung der genannten Rechtsbeziehungen 56 . Eines unter ihnen ist die Auflösung des Parlaments. Wie an dem von der englischen Verfassungsentwicklung beschrittenen Weg verfolgbar, war dort die Auflösung des Unterhauses der Hebel zur Ausbildung eines den Herausforderungen der Gegenwart gewachsenen Mischsystems aus Elementen der repräsentativen und plebiszitären Ordnung. Demgegenüber sind nach dem Grundgesetz die an ein Plebiszit appellierenden Parlamentsauflösungen auf ein unwesentliches M i n i m u m reduziert 57 . Wie noch zu zeigen sein wird, ist angesichts der i n A r t . 68 GG angelegten Auflösungsmöglichkeit die resignierende Aussage Webers: „es gäbe nach dem Grundgesetz keine institutionelle Möglichkeit mehr, die öffentliche Meinung als Ganzes, unmittelbar und etwa i n ihrem Bezug auf einen Staatsmann oder auf ein bestimmtes verfassungspolitisches Faktum zur Sprache zu bringen", nicht stichhaltig. Die Wirksamkeit des A r t . 68 als einem plebiszitären, das repräsentative System stärker m i t dem überwiegenden verfassungstheoretischen Bewußtsein unserer Zeit versöhnenden Rückkoppelungsinstrument hängt jedoch davon ab, welches Organ über seinen Einsatz gebietet. Die Beantwortung dieser Frage ist eine Funktion der Interpretation des nicht eindeutig formulierten A r t . 68 GG.

I I . Methode der Untersuchung Der Erfolg des Versuchs, die i m Zusammenhang m i t der Amtseinsetzung und -entsetzung des Regierungschefs i m parlamentarischen System des Vereinigten Königreiches und der Bundesrepublik Deutschland entstehenden Fragen, insbesondere das Problem der Geltungskraft der Verfassung, der Arbeitsfähigkeit sowie den Bestand des Regierungssystems, zu erörtern, ist bedingt durch die Methode der Untersuchung. Mehrere Wege sind hierbei denkbar. Die Beschränkung auf die Gegenüberstellung von Normen, die bloße Deskription von fremden Institutionen, hat i n der Gegenwart ihren Anspruch als ernstzunehmende, methodische Position verloren 1 . Sie würde an vielen Fragen vorbeigehen. Unabhängig davon, w i r d diese Methode 58 Vgl. die verschiedenen M i t t e l bei Fell, K a r l , Plebiszitäre Einrichtungen i m gegenwärtigen deutschen Staatsrecht, j u r . Diss., Bonn 1964. 57 Weber, Werner (II), S. 20. 1 Bey me, Klaus von, Möglichkeiten u n d Grenzen der vergleichenden Regierungslehre, i n PVS, 1966, V I I . Jg., S. 63 - 96. E i n Beispiel f ü r die A n e i n anderreihung v o n verfassungsrechtlichen Bestimmungen unter Verzicht auf die Untersuchung des Funktionszusammenhangs zwischen den Elementen stellt die A r b e i t von Kehlenbeck, Paul, „ D e r Staatspräsident", i n : die Gestalt u n g des Präsidentenamtes i n den Verfassungen seit 1945, hektografìerte V e r -

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Einleitung

bereits durch die Eigenarten der englischen Verfassung ausgeschlossen. Der englische Verfassungsbegriff ist weiter als der Begriff der „Verfassung i m formellen Sinne" 2 . Er umfaßt neben den „constitutional documents" 3 , den grundlegenden Gesetzesbestimmungen, „das für diesen Bereich relevante, latente und manifeste Normensystem sowie die Verhaltenserwartungen der verschiedenen politischen Gruppen" 4 . Die Verfassungsinterpretation durch die englische Theorie vollzieht sich demzufolge i n einer Analyse der Arbeitsweise von Verfassungsorganen i m Verfassungsleben 5 . Während dies auch für die Darstellung der i m Thema angekündigten Vorgänge i m Rahmen der englischen Verfassung gilt, hat die Verfassungsnorm Grundlage und Ausgangspunkt einer Betrachtung der entsprechenden verfassungsrechtlichen Vorgänge i n Deutschland zu bilden. Zur Auslegung werden zunächst m i t geringer Abweichung die i n allen Rechtsgebieten üblichen Mittel angewandt 6 . Der Arbeitsgang a stellt dabei die Sinnermittlung der Norm dar. Ausgehend von der sprachlichgrammatikalischen Interpretation gelangt man über die historische zur rechtssoziologischen, rechtsvergleichenden und schließlich zur systematischen Interpretation 7 . Die aufgezählten 4 Interpretationsarten verstehen sich nicht als einander ausschließende Methoden, sondern als zusammenhängende Auslegungsstufen. Die nächsthöhere Stufe ist nur dann zu betreten, wenn sie mit dem Ergebnis der vorangegangenen Stufe kollidiert. A u f diese Weise ist der objektive und subjektive Sinn 8 der Norm zu erfassen®. Läßt sich das zu wertende Sachverhaltselement nicht ohne weiteres unter den festgestellten Sinn der Norm subsumieren, so ist i m Arbeitsgang b die Konkretisierung des Sinnes vorzunehmen 10 . Beginnend m i t der ersten Stufe — Konfliktsanalyse — werden hier die Interessen oder Sachgesichtspunkte isoliert, die i n der gegebenen öffentlichung der Forschungsstelle f ü r Völkerrecht u n d ausländisches öffentliches Recht der Universität Hamburg, Nr. 25, 1950, S. 77, dar. E r nennt diesen Formalismus „Lehre von den Staatsverfassungsurkunden". 2 Maunz, Theodor, Deutsches Staatsrecht, München, 17. Aufl., 1969, S. 35 ff. 3 James, P h i l i p S., Introduction to English L a w , 6. Aufl., London 1966, S. 126 f. 4 Kaltefleiter, W. (I), S. 15. 5 Ritter, „ z u m Werk v o n Sir I v o r Jennings" i n : I.Jennings u n d G . A . R i t ter, Das britische Regierungssystem, Köln—Opladen 1968, S. 9. β s. etwa Leisner, Walter, Betrachtungen zur Verfassungsauslegung i n DöV 1961, S. 641; Stein, Ekkehart, S. 244 ff. 7 Diese soll über die Fortentwicklung eines Rechtsgedankens i m Rechtsleben u n d seine allgemeine Motivationskraft A u s k u n f t geben; so Stein, E., S. 245. 8 Damit letztlich der W i l l e des Gesetzes u n d des Gesetzgebers. 0 Sax, Walter, Das strafrechtliche Analogieverbot, eine methodische U n t e r suchung über die Grenze der Auslegung i m geltenden deutschen Strafrecht, Göttingen 1953, S. 65; B V e r f G i n BVerfGE 1, S. 299 ff., 312. 10 Z u m folgenden s. Stein, E., S. 246 f.

Α. Problemstellung und Methode

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Situation kollidieren. Weiterschreitend zum Lösungsentwurf sind die möglichen Konfliktlösungen zu entwickeln und i n Modellen darzustellen. Zum Abschluß findet die verfassungsrechtliche „Lösungsbewertung" statt. I n ihr werden diejenigen Lösungsmodelle als verfassungswidrig ausgeschieden, die den Interessenwertungen der Normen schlechter entsprechen als andere. Die isolierende Herausarbeitung der den beteiligten Verfassungsorganen zugeordneten Interessensphären kann m i t den traditionellen Erkenntnismethoden i m Arbeitsgang a nicht gelingen. Die erläuterte Stufe b dient daher der verfassungstheoretischen Besinnung, ähnlich Seidl-Hohenfeldern 11 , der nur i n rechtstheoretischen Überlegungen eine Möglichkeit erblickt, u m den positivrechtlichen, zweideutigen Bestimmungen über die Macht des Bundespräsidenten einen konkreten Sinn schenken zu können. Aus der Notwendigkeit, i m Rahmen der Lösungsbewertung die faktischen Auswirkungen der verschiedenen Lösungsmodelle auf die beteiligten Interessensphären zu prüfen 12 , folgt die Einführung metajuristischer Entscheidungshilfen. Die Suche nach solchen zusätzlichen Entscheidungsmaßstäben darf jedoch erst dann einsetzen, wenn die auszulegenden Normen „die Bedingungen bestimmter Entscheidungen nicht eindeutig definieren" 13 . Die Anlage der Arbeit als rechts vergleichende Untersuchung legte es nahe, die geforderten Maßstäbe aus der Heranziehung der von der englischen Verfassung entwickelten A n t w o r ten auf die grundlegend gleichen Fragestellungen zu gewinnen. Methodisch bewußtes Vorgehen erforderte daher die Einbeziehung von i m Rahmen der vergleichenden Regierungslehre 14 entwickelten Methoden. Die Ergebnisse der bisherigen Methodendiskussion lassen sich i n vier Hauptgruppen anführen 15 : 1. Die kausale

Methode

Sie beruht auf der Erforschung des die vorher isolierten Faktoren miteinander verbindenden kausalen Zusammenhangs. 2. Die geographische

Methode

Sie beinhaltet die Zugrundelegung des geographischen Faktors. 3. Die Methode

der differenzierenden

Klassifikation

Sie setzt Typen als Unterscheidungsmerkmal ein. 4. Die funktionale

Systemtheorie

Sie forscht nach dem funktionalen Zusammenhang. 11

W d S t R L 25, S. 212. Stein, E., S. 246. 13 So Luhmann, Niklas, Funktionale Methode u n d j u r . Entscheidung, i n : AöR, 94 Bd. 1969, S. 1 if., 5. 14 Gebräuchlichste Übersetzung des i n der angelsächsischen L i t e r a t u r v e r wendeten Begriffs des „comparative government". 15 Dazu Beyme, Klaus v., Möglichkeiten u n d Grenzen der vergleichenden Regierungslehre, i n PVS 1966, S. 63 - 96 u. 70. 12

32

Einleitung

Ausgehend von einer Haltung der Treue zur Verfassung und der Sorge u m ihre Bestandskraft sollte geklärt werden, ob und inwieweit das Bestellungs- und Abberufungsverfahren und die Stellung der daran beteiligten Verfassungsorgane m i t den Systemanforderungen der Parlamentarischen Regierungsweise übereinstimmen 16 . Sowohl der Ausgangspunkt als das Untersuchungsanliegen als solches lassen die funktionale Methode als die zweckmäßigste A r t des Vorgehens erscheinen 17 . Das von der funktionalen Methode erstrebte Ziel ist die „Theorie des Systems" 18 . I n Verfolgung dieses Zwecks hat man nicht nur versucht, Modelle politischer Systeme m i t dem Anspruch der Gültigkeit für sämtliche Länder zu schaffen, sondern die Konstruktion solcher Systeme auch auf die internationale Politik ausgedehnt 19 . Die Konstruktion von auf abstrakter Höhe stehenden, allgemeinen politischen oder sogar sozialen Systemen (in denen das politische System wiederum nur ein Subsystem ist) kann für unsere Fragestellung nicht fruchtbar gemacht werden. Doch verdichten sich bei der Betrachtung von Regierungsystemen sachlich verwandte Elemente zu hypothetischen Zusammenhängen, vergleichbar den erwähnten Subsystemen 20 . I n diesem Sinne soll hier vom „parlamentarischen Regierungssystem" gesprochen werden. Die Entscheidung des Parlamentarischen Rates für die parlamentarische Regierungsweise und überdies der Wille, „es besser zu machen" als i n Weimar, hat bestimmte Konsequenzen: die innere Konsistenz des Systems verlangt eine gewisse wechselseitige Zuordnung der einzelnen Institutionen, ohne die die Regierungsform nicht funktionsfähig ist 2 1 . Diese Zuordnungsregeln werden i m folgenden als „Systemnormativit ä t " 2 2 bezeichnet. Die Untersuchung verfolgt insoweit ein funktionales Anliegen, als die Grundregeln des parlamentarischen Systems zunächst 16 Beyme, Klaus v. (I), S. 65, vermutet sogar, daß „die Vorherrschaft bestimmter Methoden m i t außerwissenschaftlichen Impulsen" zusammenhinge, die wissenschaftliche Methode als „response" (Antwort) auf eine außerwissenschaftliche „challenge" (Reaktion) zu verstehen sei. 17 s. Pocock, J. G. Α., The origins of the study of the past: a comparative approach, i n : Comparative studies, Bd. 4,1961/62 S. 209 - 246, S. 232 f. 18 Beyme, Klaus v. (I), S. 87. 19 Vgl. etwa f ü r erstere Zielsetzung Spiro, Herbert, Comparative Politics, a comprehensive approach, i n : American Political Science Review, Bd. 1959/ 1962, S. 577 - 595, der ein umfassendes politisches System m i t Subsystemen zu konstruieren u n d grafisch darzustellen unternahm. E i n Beispiel f ü r die E r richtung internationaler Gleichgewichtsmodelle i m Weltmaßstab bildet Masters, Roger D., W o r l d Politics as a p r i m i t i v e political system i n : W o r l d Politics, Bd. 16,1963, S. 595 - 619. 20 So Beyme, Klaus v. (I), S. 88, unter Berufung auf Easton, David, The Political System, New Y o r k 1953, S. 97. 21 Kaltefleiter, W. (I), S. 18. 22 Ebenda, S. 18.

Α. Problemstellung und Methode

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theoretisch entwickelt, und aus ihnen die idealtypische Stellung des Staatsoberhauptes i m politischen System abgeleitet wird. I n einer weiteren Stufe — hier als „Programmierung" eingeführt 2 3 — w i r d versucht, den Rahmen zu zeichnen, der systemnormativ der Beteiligung des Staatsoberhaupts an der Bestellung und der Entsetzung des Regierungschefs sowie der Auflösung des Parlaments gesetzt ist. Insbesondere soll dabei die systematische Klärung der Frage unternommen werden, unter welchen Bedingungen der i m Normalfall enge, durch funktionale Normen begrenzte Ermessensspielraum des Staatsoberhaupts i n weite, „konstitutionelle" Ermessensräume umzuschlagen vermag. Dabei w i r d die Bedeutung des Parteisystems sichtbar. Das gefundene Modell der Parlamentarischen Regierungsweise, i n dem die systemnormativen Regeln, die idealtypische Stellung des Staatsoberhaupts sowie dessen Beteiligung an bestimmten Kreationsvorgängen enthalten sind, dient als Prämisse und Maßstab 24 . Die i n Großbritannien i m Laufe einer langen Entwicklung hervorgebrachten, konventionalen Regelhaftigkeiten hinsichtlich der Ein- und Entsetzung des Premierministers bestätigen das obige systemnormative Ergebnis. Damit sind die theoretisch reduzierten Voraussetzungen des parlamentarischen Regierungssystem empirisch bestätigt. A u f diese Weise w i r d eine Grundlage für die Betrachtung des Prüfungsgegenstandes — Bestellung und Amtsbeendigung des Bundeskanzlers nach dem Grundgesetz — hergestellt und ein Vergleich m i t der Frage nach Ubereinstimmung und Differenz eröffnet. Neben diesem verfassungstheoretischen Anwendungsfall der funktionalen Methode wurde bereits 2 5 auf ihre Einsatzmöglichkeit als Entscheidungshilfe i n der Rechtsanwendung hingewiesen. Zur Sinnermittlung jener „zweideutigen" Verfassungsnormen, deren Inhalt m i t bloßer Stufenauslegung nicht eindeutig festzulegen ist, werden die Ergebnisse der aus der Systemnormativität abgeleiteten „Programmierung" eingeführt. E i n solches Vorgehen ermöglicht auf der Ebene der Konkretisierung, d.h. der Dezision bei nicht eindeutigem Interpretationsergebnis, die Berücksichtigung der systemnormativen Forderungen an die Ausgestaltung des parlamentarischen Regierungssystems. Verfassungsnormen werden hier i n ihrer Eigenschaft als Funktionen politischer Probleme untersucht 26 und damit einem verfassungstheoretischen Maßstab unterworfen 2 7 . Der 23

Vgl. dazu Luhmann, N., S. 23. Obwohl die von der W i r k l i c h k e i t abstrahierten Systeme nicht die empirische Realität sind, sondern nach dieser konstruiert werden, so Linton , Ralph, Social Systems, i n The Study of Man, New Y o r k 1936, S. 253, zit. nach Beyme, Klaus v. (I), S. 87. 25 Vergleiche oben, A I I am Anfang. 24

26

Beyme, Klaus v . (I), S. 86. Vgl. Kimminich, O., V V d S t R L , H. 25, S. 80: „ . . . w i r d . . . die prinzipielle theoretische F i x i e r u n g des Staatsoberhauptes i n der parlamentarischen Demo27

3 Lippert

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Einleitung

von der Staatsrechtswissenschaft an die funktionale Methode gerichteten Erwartung, daß diese den unvermeidlich hohen Abstraktionsgrad vieler Rechtsnormen, der zu viele Entscheidungsmöglichkeiten offen läßt, reduziert, indem sie die Funktion angibt, die bestimmte Normen oder bestimmte Entscheidungen i n der Wirklichkeit erfüllen, und es so ermöglicht, die Wirkung der Norm und der Entscheidungen i m Rahmen des Gesamtsystems bei ihrer Auslegung als Entscheidungsmotiv zu berücksichtigen 28 , w i r d auf diese Weise entsprochen. Voraussetzung für eine systemnormative Entscheidung von bis dahin zweifelbeladenen Verfassungsrechtsfragen ist also zunächst die Klärung von Systemproblemen, der i n einem weiteren Schritt ihre Nutzbarmachung für die zu treffende Entscheidung folgt. Die bereits erwähnte Programmierung bedeutet dabei die „Transformation von Systemproblemen i n Entscheidungsprobleme" 29 . Erst diese reduziert die Komplexität der von den Systemtheorien angebotenen Fragestellungen auf wenige Alternativen und macht dadurch die Beseitigung eines konkreten Problems durch eine „richtige" Entscheidung möglich 30 . I n diesem Sinne stellt sich die Arbeit zur Aufgabe, die möglicherweise i m Zusammenhang m i t der Thematik auftretenden Systemprobleme i n Entscheidungsalternativen aufzulösen und möglichst zu beseitigen.

I I I . Gang der Untersuchung A m Anfang der Arbeit steht die theoretische Analyse der Parlamentarischen Regierungsweise und ihrer systemnormativen Voraussetzungen. Daraus werden i n einem weiteren Arbeitsgang Folgerungen für die dem Staatsoberhaupt i m parlamentarischen System zugedachte Rolle gezogen. I n der anschließenden Programmierung erfolgt die Umsetzung von Systemproblemen i n Entscheidungsalternativen i n dem Sinne, daß die Beteiligungsspielräume und -formen der i n Frage kommenden Verkratie vielleicht manche Zweifel erhellen, die durch unklare, positvrechtliche Bestimmungen entstanden sind." 28 Luhmann, Niklas, S. 63, unter Berufung auf Mestmäcker, das Verhältnis der Wirtschaftswissenschaft zur Rechtswissenschaft, i n : Aktienrecht, Schriften des Vereins f ü r Socialpolitik Nr. 33 (1964), S. 103 - 119. 29 Luhmann, Niklas, S. 23. 30 Nach Luhmann, S. 23, liegt der Unterschied zwischen System- u n d E n t scheidungsproblemen darin, daß Systemprobleme permanent i n einer k o m plexen U m w e l t gegeben sind. Sie können nicht problemlos beseitigt werden, sondern n u r durch „Primärlösungen" u n d Folgeprobleme abgeschwächt w e r den. Demgegenüber sind Entscheidungsprobleme i n dem Sinne lösbar, daß sie die Bedingungen einer richtigen Entscheidung definieren u n d dann durch die richtige Entscheidung beseitigt werden.

Β. Begriffsbestimmung des parlamentarischen Regierungssystems

35

fassungsorgane an den zu prüfenden Vorgängen festgelegt werden. Die dabei gewonnenen Ergebnisse werden i m 1. Hauptteil i m 1. Kapitel an Hand der britischen Verfassungsentwicklung nachvollzogen. Das sich daran anschließende 2. Kapitel behandelt als Prüfungsgegenstand die vom Grundgesetz getroffene Regelung der Amtseinsetzung des Bundeskanzlers. I n einem kurzen Zwischenbericht sollen dann Übereinstimmung und mögliche Unterschiede zwischen den Systemnormen und den Regelungen des Grundgesetzes konstatiert werden. Ebenso w i r d i m 2. Hauptteil verfahren, wo die Amtsbeendigungen beider Regierungschefs untersucht werden. Dabei w i r d der Art. 68 GG wegen seiner großen Bedeutung für die Ausgestaltung und die Bestandskraft des deutschen Regierungssystems i m Vordergrund stehen. Unter Einführung funktionaler Maßstäbe sollen hierbei die Inkonsequenz der herrschenden Lehre bei der Interpretation dieser Bestimmung sowie die darin angelegten, gefährlichen Entwicklungsmöglichkeiten aufgezeigt werden. Der Schlußgedanke der Arbeit gewährt diesen Überlegungen weiteren Raum.

B. Begriffsbestimmung des parlamentarischen

Regierungssystems

U m begriffliche Unklarheiten und Mißverständnisse i m täglichen Sprachgebrauch zu vermeiden, gilt es, die als „Parlamentarisches System" bekannte Regierungsweise begrifflich zu erfassen. Zunächst soll einer verbreiteten Verwechslung vorgebeugt werden: i m 19. Jahrhundert fand der Ausdruck „Parlamentarismus" i n dreifacher Weise Verwendung: einmal i m Sinne von „Bestehen eines Parlaments m i t mehr oder weniger großen Befugnissen" 1 ; weiterhin hatten Verfassungsrechtler „von Gierke bis Hintze und Mitteis" häufig von „Parlamentarismus" für die Zeit ständischer Vorherrschaft i m späten Mittelalter und danach gesprochen 2. Schließlich wurde „Parlamentarismus" auch synonym m i t der parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit gebraucht. I m folgenden soll der Ausdruck Parlamentarismus als der weitere Begriff zur Kennzeichnung der parlamentarischen Regierungsweise m i t parlamentarischer Ministerverantwortung vermieden werden und dafür der konkrete Begriff „parlamentarisches Regierungssystem" Verwendung finden. Dieser ist allerdings ungeeignet, das gesamte Spektrum der i n Systemen m i t verantwortlicher Regierung waltenden politischen Realität 1

Küchenhoff, Günther u. Erich, S. 157. Beyme, Klaus v., Die parlamentarischen Regierungssysteme i n Europa, München 1970, S. 40. 2

·

36

Einleitung

w i e d e r z u g e b e n , da er sich ausschließlich a u f das V e r h ä l t n i s v o n L e g i s l a t i v e u n d E x e k u t i v e beschränkt. A n d e r e w i c h t i g e F a k t o r e n , v o r a l l e m die s y s t e m n o r m a t i v e n , f ü r A r b e i t s f ä h i g k e i t u n d B e s t a n d s k r a f t der p a r l a m e n t a r i s c h e n Regierungsweise höchst b e d e u t s a m e n u n d aus der E n t s c h e i d u n g f ü r oder gegen die k o n v e n t i o n a l - v e r f a s s u n g s p o l i t i s c h e E n t w i c k l u n g zum parlamentarischen System folgenden institutionellen u n d sozialstrukturellen K r i t e r i e n sind zwar zu behandeln3, jedoch k a u m i n e i n e m e i n h e i t l i c h e n B e g r i f f zu erfassen 4 . Bescheidet m a n sich m i t der b e g r i f f l i c h e n E r f a s s u n g des V e r h ä l t n i s s e s z w i s c h e n E x e k u t i v e u n d L e g i s l a t i v e als G r u n d u n t e r s c h e i d u n g s m i t t e l des p a r l a m e n t a r i s c h e n Regierungssystems gegenüber der p r ä s i d e n t i e l l e n R e g i e r u n g s f o r m , so w e r d e n i m a l l g e m e i n e n folgende i n s t i t u t i o n e l l e M e r k m a l e a u f g e f ü h r t , w o b e i ü b e r die d e m j e w e i l i g e n K r i t e r i u m z u k o m m e n d e B e d e u t u n g a l l e r d i n g s M e i n u n g s v e r s c h i e d e n h e i t e n bestehen : 1. D i e g r u n d s ä t z l i c h e B e s e t z u n g der M i n i s t e r ä m t e r m i t A b g e o r d n e t e n 5 . Reine F a c h m i n i s t e r finden sich m e i s t i n der Übergangsphase z w i schen d e m k o n s t i t u t i o n e l l e n u n d d e m p a r l a m e n t a r i s c h e n S y s t e m , oder — u n d dies g i l t besonders f ü r d e n a u ß e r p a r l a m e n t a r i s c h e n P r e m i e r m i n i s t e r — w e n n das p a r l a m e n t a r i s c h e S y s t e m sich i n e i n e r K r i s e befindet 6. 3 Beyme, Klaus v. (II), S. 43 f ü h r t als solche a n : . . . die Existenz organisierter Parteien, einen hohen Grad von Homogenität u n d solidarischem Verhalten i m Kabinett, die herausgehobene Stellung des Premierministers, v o r allem verkörpert i n der Richtlinienkompetenz des Regierungschefs u n d der obligatorischen Demission des Kabinetts auf den R ü c k t r i t t des Premiers hin. Weiter zählt v. Beyme die Existenz einer loyalen Opposition sowie eine dem parlamentarischen System günstige politische K u l t u r zu den K r i t e r i e n der sozialstrukturellen Voraussetzungen. U n t e r letzterem versteht er die V e r wurzelung parlamentarischer Verhaltensweisen auf Ebenen unterhalb des Parlaments i m V o l k u n d seinen politischen Eliten. 4 Anderer Ansicht ist hier Küchenhoff, Erich, Möglichkeiten u n d Grenzen begrifflicher K l a r h e i t i n der Staatsformlehre, B e r l i n 1967, S. 22 ff. Küchenhoff bemängelt die begriffliche Unzulänglichkeit v o n Ausdrücken wie „parlamentarisches System" u n d fordert den Ersatz der „ T r i v i a l n o m e n k l a t u r " durch die „systematische Nomenklatur". Wie die v o n Erich Küchenhoff, ebenda, entwickelten Begriffe, z.B. Parlaments-Mißtrauensstaat, Parlaments-Kontrollstaat, zeigen, können auch derartige Versuche nicht die begriffliche Einheit des parlamentarischen Systems unter Erweiterung erhalten. 5 So insbesondere Hasbach, Wilhelm, Die parlamentarische Kabinettsregierung, B e r l i n 1919, S. 19. Es besteht eine enge personelle Verbindung zwischen Legislative u n d Exek u t i v e i n der Weise, daß die Abgeordneten nicht v o m Ministeramt ausgeschlossen sind (sog. K o m p a t i b i l i t ä t v o n Abgeordnetenmandat u n d Ministeramt); das gegenwärtig w o h l bekannteste Beispiel f ü r eine Inkompatibilitätsregelung bietet die französische 5. Republik; vgl. A r t . 23 der Verfassung von 1958. β Glum, Friedrich, Parlamentarisches Regierungssystem u n d Bemerkungen zum organisatorischen T e i l der künftigen Verfassung, SJZ 1948, S. 48; Hasbach, Wilhelm, Die Parlamentarische Kabinettsregierung, B e r l i n 1919, S. 9; Beyme, Klaus v. (II), S. 41 u n d 57 ff.

Β . Begriffsbestimmung des parlamentarischen Regierungssystems

37

2. Die Parlamentarische Ministerverantwortlichkeit. Sie bedeutet die persönliche Abhängigkeit sämtlicher Regierungsmitglieder oder des Regierungschefs vom Vertrauen des Parlaments. Die Bestandsabhängigkeit der Regierung vom Parlament w i r d durch die m i t Verlust des parlamentarischen Vertrauens grundsätzlich erzeugte Pflicht zum Rückt r i t t gesichert 7 . Der Verlust des parlamentarischen Vertrauens kann sich dabei i n verschiedener Weise ausdrücken 8 . Das bei v. Beyme 9 zusätzlich aufgeführte K r i t e r i u m des parlamentarischen Interpellationsund Kontrollrechts bildet eigentlich als M i t t e l zur Sicherung des parlamentarischen Prinzips einen Bestandteil des Kriteriums „Parlamentarische Ministerverantwortlichkeit" und stellt kein eigenständiges Element dar. 3. Darüber hinaus w i r d teilweise noch die einmalige persönliche Abhängigkeit des Regierungschefs oder des Gesamtkabinetts vom Parlament i n der Gestalt eines Rechts der Volksvertretung, die Regierung durch förmliche Vertrauensbestimmung zu investieren, angeführt — 1 0 oder wenigstens die Berufung der Kabinettsmitglieder m i t Zustimmung des Parlaments gefordert 11 . Es ist Beyme zugegeben, daß bereits die gesicherte Bestandsabhängigkeit der Regierung von der Volksvertretung diesen den Einfluß auf die Regierungsbildung garantiert. Wie die Geschichte der britischen Premierernennungen beweist, hätte ein formelles parlamentarisches Abstimmungsverfahren i m allgemeinen wohl nicht zu einem anderen Ergebnis als das auf dem Wege monarchischer Benennung gewonnene geführt. Der Amtseinsetzung des Regierungschefs oder des Gesamtkabinetts durch formelle Vertrauensabstimmung des Parlaments kommt daher 7 Obwohl sich hier angesichts der E n t w i c k l u n g zugunsten einer intensiver zu aktualisierenden Volkssouveränität zwischen Vertrauensentzug u n d Rückt r i t t die Befragung des Volkes i n Gestalt v o n Auflösung u n d Neuwahlen m i t sanktionshemmendem Suspensiveffekt eingeschlossen hatten. Siehe dazu Schmitt, C. (VI), S. 20 f. 8 s. dazu Schmitt, C. (V), der diese Situation i m Begriff Kabinettsfall zusammenfaßt, S. 339. A u f das M e r k m a l der Bestandsabhängigkeit der Regierung weisen alle A u t o r e n hin, die sich m i t dem parlamentarischen Regierungssystem auseinandersetzen, vgl. f ü r viele: Beyme, Klaus v. (II), S. 41; Glum, Friedrich, Das parlamentarische Regierungssystem i n Deutschland, Frankreich u n d Großbritannien, München—Berlin 1950; Stahl, Friedrich, Das Monarchische Prinzip, 1845; Scheuner, Ulrich, Über die verschiedenen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems, AöR, Bd. 52, 1927, S. 209 ff., 337 ff. (S. 231); Redslob, Robert, Die Parlamentarische Regierung i n ihrer w a h ren u n d unechten Form, Tübingen 1918, S. 179. • Beyme, Klaus v. (II), S. 41,410 ff. 10 Glum, F. (I), S. 1, 9; Meuschel, Die Regierungsbildung i m deutschen Reich u n d seinen Ländern nach den Vorschriften der gegenwärtig gültigen V e r fassung, AöR Bd. 41,1921, S. 50 - 52 ff. 11 So Redslob, S. 179; Tatarin-Tarnheyden, Kopfzahldemokratie, organische Demokratie u n d Oberhausproblem, i n : Zeitschrift f ü r Politik, Bd. 15, 1926, S. 97 ff., 103; die Bayerische Verfassung v o n 1946 hat i n A r t . 45 B V diesen Weg gewählt»

38

Einleitung

w e n i g e r die B e d e u t u n g eines m a t e r i e l l e n W e s e n s m e r k m a l s p a r l a m e n tarischer Regierungsweise, als des s y m b o l h a f t e n A u s d r u c k s e i n e r P r ä p o n d e r a n z der L e g i s l a t i v e z u 1 2 . 4. Schließlich w i r d noch die A u f l ö s b a r k e i t des P a r l a m e n t s d u r c h S t a a t s o b e r h a u p t , Regierungschef oder G e s a m t k a b i n e t t als M e r k m a l des p a r l a m e n t a r i s c h e n Regierungssystems angesprochen 1 3 . U n a b h ä n g i g v o n der großen, s y s t e m n o r m a t i v e n B e d e u t u n g der P a r l a m e n t s a u f l ö s u n g n i c h t n u r f ü r die E r h a l t u n g eines gewissen G l e i c h gewichts i m S i n n e e i n e r „ g e w ü n s c h t e n gegenseitigen H e m m u n g v o n P a r l a m e n t u n d K a b i n e t t " 1 4 , s o n d e r n v o r a l l e m als s y s t e m s t a b i l i s i e r e n des M i t t e l i m Z e i t a l t e r der D e m o k r a t i s i e r u n g des S y s t e m s 1 5 z ä h l t sie z w a r zu d e n A u s g e s t a l t u n g s m i t t e l n i m m o d e r n e n „ p o s i t i v e n p a r l a m e n t a r i s c h e n S y s t e m " 1 6 , n i c h t aber zu d e n u n v e r z i c h t b a r e n W e s e n s m e r k m a l e n des p a r l a m e n t a r i s c h e n Systems i m a l l g e m e i n e n S i n n e 1 7 . B i l d e t m a n d u r c h Z u s a m m e n f a s s u n g dieser M e r k m a l e d e n g r ö ß t e n g e m e i n samen N e n n e r , so b e d e u t e t der B e g r i f f P a r l a m e n t a r i s c h e s R e g i e r u n g s s y s t e m : Das K a b i n e t t 1 8 b e d a r f des p a r l a m e n t a r i s c h e n V e r t r a u e n s d e r gestalt, daß d e r V e r l u s t des V e r t r a u e n s die R e g i e r u n g z u m R ü c k t r i t t verpflichtet 19. 12 So ist auch der die W a h l des deutschen Bundeskanzlers durch den B u n destag regelnde A r t . 63 GG zu verstehen, der gleichzeitig eine Reaktion gegenüber dem „konstitutionell" interpretierbaren A r t . 53 W V darstellt. 13 Darauf weist insbesondere Beyme, Klaus v. (II), S. 42, h i n ; u m die A u f lösung des Parlaments durch die Exekutive hatte sich nach dem 1. Weltkrieg die Theorie v o m Gleichgewicht entwickelt; s. dazu Redslob, R., S. 1 - 3 ; Barthélémy, Joseph, Le Gouvernement de la France, Paris 1924; S. 99, 100; Duguit, L., Traité de Droit Constitutionnel, Bd. I I , Paris 1923, S. 640; Laferrière, Manuel de D r o i t Constitutionnel, Paris 1941, S. 769. I n jüngster Zeit hat die Lehre v o m Gleichgewicht eine interessante Neuformulierung i n Gestalt v o n Loewensteins Theorie der Interorgan-Kontrolle zwischen Parlament u n d Regierung erfahren, s. dazu Loewenstein, K a r l , V e r fassungslehre, Tübingen, S. 189. 14 So Küchenhoff, G. u n d E., S. 158. 15 Beyme, Klaus v. (II), S. 42, zur F u n k t i o n der Auflösung als plebiszitäres V e n t i l i m repräsentativ-parlamentarischen System, siehe die Ausführungen, S. C I I . 16 Küchenhoff, G. u. E., S. 158. 17 Beispiele hierfür bieten die französische D r i t t e Republik, die faktisch kein Auflösungsrecht kannte u n d die Verfassung Israels 1948, die sich m i t einem Selbstauflösungsrecht des Parlaments begnügt. 18 Auch bei einer parlamentarischen Alleinverantwortlichkeit des Regierungschefs b e w i r k t dessen Amtsbeendigung das Amtsende der übrigen K a b i nettsmitglieder; vgl. z. B. A r t . 67, 68, 69 GG. 19 Ausnahmen hiervon können sich etwa dann ergeben, w e n n der Entzug des Vertrauens zunächst die Parlamentsauflösung u n d damit die faktische Entscheidung des Volkes über den Amtsverbleib der Regierung zur Folge hat, sog. unabwendbar- resolutives Mißtrauensvotum; Küchenhoff, G. u. E., S. 158; vgl. dazu die Ausführungen zur Auflösung des britischen Unterhauses, s. T e i l B, Begriffbestimmungen des parlamentarischen Regierungssystems.

C. Organbeteiligung an den Kreationsvorgängen

C. Systemtheoretische der Organbeteiligung

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Konzeption

an den Kreationsvorgängen

I. Regeln der parlamentarischen Regierungsweise Das Grundgesetz hält zwar nicht ausdrücklich, so doch i n der von i h m vorgenommenen Ausgestaltung des Verhältnisses von Bundestag und Bundesregierung am parlamentarischen Regierungssystem fest 1 . Seine Institutionalisierung ist bereits i n der Abberufbarkeit des Bundeskanzlers bzw. seiner Regierung durch den Bundestag (Art. 67 GG) vollzogen; die parlamentarische Wahl des Bundeskanzlers (Art. 63 GG) i n der Kombination von Vertrauensfrage und Auflösung des Parlaments (Art. 68 GG) stellt darüber hinaus eine „Rationalisierung" des Systems dar. Neben diesen „Basisnormen" regeln weitere Bestimmungen die Frage der Untersuchungsausschüsse (Art. 44 Abs. 1) und das Auskunftsund Informationsrecht des Parlaments (Art. 43 Abs. 1). Wie bereits ausgeführt, muß die bewußt vom Verfassungsgeber getroffene Entscheidung zugunsten des parlamentarischen Regierungssystems Auswirkungen auf die anzuwendende Methode zeitigen 2 . Einen Überblick über die strukturabhängigen Problemzusammenhänge und ihre Aufbereitung für die juristische Entscheidungshilfe gewinnen w i r nur dadurch, daß die vom Verfassungsgeber vorgegebene Systemstruktur (parlamentarisches System) als Prämisse vorausgesetzt und die i m Wege funktionaler Analyse gewonnenen Ergebnisse i n die Normexegese eingeführt werden 3 . A u f die oben versuchte Begriffsbestimmung bezugnehmend, muß als Kernsatz des parlamentarischen Systems die Abhängigkeit der Regierung i n Bestand und Amtsführung vom Vertrauen der Parlamentsmehrheit betrachtet werden 4 ; das Erfordernis des parlamentarischen Vertrauens gegenüber der Regierung w i r d damit zum „unverzichtbaren Bestandteil des Systems" 5 . Die dauernde Abhängigkeit des Kabinetts 1 Hamann, Andreas, Das Grundgesetz f ü r die Bundesrepublik Deutschland v o m 23.5.1949, Berlin, 3. Auflage 1969, S.313; Mangoldt, Hermann v. u n d F. Klein, Das Bonner Grundgesetz, Handkommentar, Bd. I I , 1952, S. 1194, 1290; Maunz, Th., S. 70. 2 Luhmann, Niklas, Funktionale Methode u n d juristische Entscheidung, i n : AöR 94. Bd., Tübingen 1969, S. 1- 31, hier S. 17. 3 Luhmann, S. 15. 4 Anschütz, Gerhard, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. Auflage 1933, Neudruck 1960, S. 310 ff.; Scheuner, U l r i c h (III), S. 228, ders.: Die Parteien u n d die A u s w a h l der politischen L e i t u n g i m demokratischen Staat, i n : Die öffentliche Verwaltung, Bd. 57, Stuttgart 1958, S. 633; Glum, Fr. (IV), S. 1; Friesenhahn, Ernst, Parlament u n d Regierung i m modernen Staat, V V D S t R L , Bd. 16, B e r l i n 1958, S. 55; Herzog, Roman, Das parlamentarische System i n : Evangelisches Staatslexikon, 1966, Sp. 1479 ff. 5 Maunz—Dürig—Herzog, Grundgesetz, Kommentar, 1958/69, München— Berlin, Rd. Ziff. 5 zu A r t . 62.

40

Einleitung

vom parlamentarischen Vertrauen führt zur „rechtlichen oder politischen Verpflichtung der Regierung, jederzeit auf Votum des auf allgemeinem Wahlrecht beruhenden Hauses des Parlaments aus dem Amte zu scheiden"®. Dem parlamentarischen System wohnt somit die Tendenz inne, dem Parlament ein Übergewicht gegenüber der Regierung zuzugestehen 7 . Das Gebot parlamentarischer Verantwortung führt dann zum politisch tatsächlich wirkenden oder auch rechtlich i n den Verfassungsformeln verankerten Einfluß des Parlaments bei der Regierungsbildung. Scheuner 8 nimmt an, daß m i t der rechtlichen Absetzungsbefugnis auch der politische Einfluß des Parlaments bei der Regierungsbestellung gesichert sei; er hält eine formale Wahl der Regierung durch das Parlament für überflüssig. Hierbei kann Scheuner insoweit gefolgt werden, als die Begriffsbestimmung des parlamentarischen Systems nur die Sanktion der Absetzung der Regierung durch das Parlament verlangt. Dieses Merkmal ist allerdings nur ein Mindesterfordernis des Systems; zur arbeitsfähigen Ausgestaltung kann ein über den tatsächlichen Bereich hinausgehender formalisierter Einfluß des Parlaments i n verschiedener Hinsicht vorteilhaft sein: Die formelle Wahl des Regierungschefs legt dem Parlament die Verantwortung für die Regierungsbildung auf, was beschleunigende Wirkung zu entfalten vermag. Die parlamentarische Wahl bewirkt den Verlauf der Willensbildung von unten nach oben und verwirklicht damit ein Anliegen des demokratischen Prinzips 9 . Nicht zu übersehen ist auch die Stabilisierung der Regierung durch den sozialpsychologischen Faktor, daß ein Parlament gegenüber der von i h m selbst eingesetzten Regierung größere Hemmungen zum Einsatz des Mißtrauensvotums verspüren wird. Hinzu kommt, daß die durch Wahl i n ihr A m t gebrachte Regierung auch gegenüber den weiteren, an der Bestellung beteiligten Staatsorganen — wenigstens der Autorität nach — größere faktische Unabhängigkeit besitzt, w e i l eine autoritäre Berufung von „oben" immer zur Voraussetzung hat, daß ein wenigstens formal übergeordnetes Verfassungsorgan existiert 1 0 . Sollte ein solchermaßen formalisiertes Wahlverfahren i n der konkreten Verfassung nicht vorgesehen sein, so w i r d das an der Regierungsbildung beteiligte weitere Staatsorgan den erkennbaren Mehrheitsw i l l e n des Parlaments antizipieren und dessen Kandidaten ernennen. Entscheidungsträger ist also bei der Amtseinsetzung des Regierungschefs 6

Scheuner, U. (III), S. 228. Thoma, Richard, I n der Rezension v o n Hasbach, Die Parlamentarische Kabinettsregierung, i n : AöR Bd. 1 n. F. 235. 8 Scheuner, S. 229-230. 9 Vogel, Bernhard, W a h l der Parlamente u n d anderer Staatsorgane, B e r l i n 1969, S. 16. 10 Vogel, Bernhard, S. 10, unter Berufung auf Kelsen, 7

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oder der Gesamtregierung i m klassischen parlamentarischen System stets das Parlament, Entscheidungsvollzieher mag ein anderes Staatsorgan sein 11 . Das Volk ist mittelbares Kreationsorgan, als die Regierungsbildung stets von den Mehrheitsverhältnissen — gemessen an der Zahl der i n den Wahlen errungenen Parlamentssitze — abhängt 12 . Als zweite Grundregel der Ausgestaltung des klassischen parlamentarischen Systems läßt sich also der bestimmende Einfiuß des volksgewählten Parlaments bei der Bestellung der Regierung festhalten. Das Kernstück der politischen und juristischen Problematik i m parlamentarischen System offenbart sich i m Verhältnis zwischen Legislative und Exekutive 1 3 . I n der älteren Lehre sprach man von einem „Dualismus" zwischen Parlament und Regierung 14 und stellte auf das „Gleichgewicht zwischen den Machtträgern" ab 15 . Der Schwede Pontus Fahlbeck1® entwickelte als Erster die auf die französische Wirtschaftstheorie zurückzuführenden Gedanken vom Equilibrium. Er unterscheidet bereits den dualistischen Parlamentarismus, i n dem sich Staatsoberhaupt und Parlament gleichberechtigt gegenüberstehen und den monistischen Typus, wo das Staatsoberhaupt zugunsten der Vorherrschaft des Parlaments weichen muß. Eigentlicher Schöpfer der Lehre aber ist der Franzose Léon Duguit 1 7 . I h m folgte Barthélémy 1 8 i m Jahre 1926 m i t der Hauptforderung der Gleichgewichtslehre an das parlamentarische System, daß nämlich dort „une collaboration équilibrée entre le Parlement et le Chef de l'Etat qui va s'exercer par l'intermédiaire du Cabinet responsable et de la cheville ouvriere du régime" 1 9 notwendig sei. Die verfassungspolitischen Konsequenzen dieser Theorie sind, daß sich ein meist plebiszitär bestelltes Staatsoberhaupt und ein gleichberechtigtes Parlament gegenüberstehen. Die Minister sind parlamentarisch ver11

Vogel, B., S. 10. Wildenmann, R , W. Kaltefleiter u n d U. Schleth, A u s w i r k u n g e n v e r schiedener Wahlsysteme auf das Parteien- u n d Regierungssystem i n der Bundesrepublik, i n : Sonderheft 9 der K ö l n e r Zeitschrift f ü r Soziologie u n d Sozialpsychologie, Köln—Opladen 1965. 13 Kimminich, O., S. 14. 14 Lukas, Josef, Die organisatorischen Grundlagen der neuen Reichsverfassung, Tübingen 1920, S. 26. 15 Redslob, R., S. 1. 16 Vgl. hierzu: Scheuner, U. (III), S. 340. 17 Duguit, L., Traité de D r o i t constitutionnel, L a Théorie générale de l'Etat, Bd. 2, 2. Auflage, Paris 1923. 18 Barthélémy, J., Traité élémentaire de droit constitutionnel, Paris 1926. 19 Duguit, L., S. 162, „ . . . daß nämlich dort eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwischen Parlament u n d Staatsoberhaupt, der sich des verantwortlichen Kabinetts bedient, u m als Eckpfeiler der Exekutive fungieren zu können, notwendig sei". 12

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antwortlich, während das Staatsoberhaupt i n seiner Hand das Auflösungsrecht behält. Uber Robert Redslob 20 fand jenes Schema der Balance den Weg i n das deutsche staatsrechtliche Denken. Redslob hatte, auf den Gedanken Duguits fußend, den französischen Parlamentarismus als „unechten" charakterisiert, w e i l dort das für das englische System typische Gleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative fehle 21 . Die von Redslob beeinflußten Abgeordneten der Weimarer Nationalversammlung 22 , unter ihnen insbesondere Hugo Preuß, gössen das theoretische Modell des Gleichgewichts einschließlich dessen Konsequenzen für die Stellung des Staatsoberhaupts i n die Formeln der W V und schufen so einen Verfassungstyp, der, am parlamentarischen Regierungssystem grundsätzlich festhaltend, die für dieses System charakteristische Zweiteilung der Exekutive zur „Bipolarität" steigert 23 und zum „semiparlamentarischen" 24 bzw. „semipräsidentiellen" Regierungssystem wird. Eine Reihe ausländischer Verfassungen, i n denen sich ebenfalls eigentlich entgegengesetzte Tendenzen zu Gunsten der Institution eines starken Staatsoberhaupts auswirken, haben ihr Vorbild i n der Weimarer Verfassung gefunden 25 . Der Kreis der Autoren, welche die parlamentarische Regierung als auf dem Gleichgewicht zwischen Parlament und Exekutive beruhend ansehen, schließt sich erst i n der Gegenwart m i t K a r l Loewenstein und seiner Lehre von den Interorgan-Kontrollen 2 6 . Nach i h m zeichnet sich das echte parlamentarische System dadurch aus, daß zwischen Parlament und Regierung wenigstens ein politisches Gleichgewicht besteht 27 . Zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts bemüht Löwenstein den von ihm i n die Diskussion eingeführten Begriff der „Interorgankontrollen" 2 8 . Als solche versteht er wirksame, den Staatsorganen i n ihrem Verhältnis zueinander eigenrechtlich zustehende Einflußmöglichkeiten i m politischen Prozeß 29 . Das Recht der Parla20 Redslob, R., Die Parlamentarische Regierung i n i h r e r wahren u n d i n ihrer unechten Form, Tübingen 1918. 21 Redslob, R., S. 4. 22 Kaltefleiter, W., Funktionen des Staatsoberhauptes i n der Parlamentarischen Demokratie, Köln—Opladen 1970, S. 138/139; Scheuner, U. (III), S. 345. 23 Kaltefleiter, W. (I), S. 22. 24 Haungs, Peter (II), S. 344. 25 Das bekannteste moderne Beispiel ist die enge Strukturverwandtschaft zwischen dem Regierungssystem der französischen 5. Republik u n d demjenigen der Weimarer Verfassung, insbesondere weist die Stellung der Staatsoberhäupter seit der französischen Verfassungsreform v o n 1962 — Einführung der V o l k s w a h l — große Ähnlichkeiten auf. Vergleiche hierzu: Duverger, M a u rice, Institutions politiques et droit constitutionnel, Paris 1966, S. 492; Goguel, Francois und A l f r e d Grosser, Politique a la Française, Gütersloh 1966, S. 232 f. 28 Loewenstein, Κ . , Verfassungslehre, Tübingen 1959, S. 83. 27 Loewenstein, Κ . , der britische Parlamentarismus, H a m b u r g 1964, S. 145. 28 Vgl. Loewenstein, K . (VII), S. 88 ff., 232 ff. 29 Loewenstein, Κ . (II), S. 144.

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mentsauflösung und das Mißtrauensvotum gehören nach Löwenstein zusammen „wie Kolben und Zylinder einer Maschine" 30 . Für das moderne parlamentarische System und seine Lebensfähigkeit bedeutsam ist die Verankerung des demokratischen Prinzips 31 . Das demokratische Prinzip verlangt die Verantwortlichkeit staatlicher Machtausübung gegenüber dem Volk als dem eigentlichen Träger der Staatsgewalt 3 2 . Das M i t t e l zur Verwirklichung dieser Verantwortung bildet i m parlamentarischen Regierungssystem der Grundsatz der Repräsentation 3 3 . Repräsentation bedeutet hier „die rechtlich-autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen durch verfassungsmäßig bestellte, i m Namen des Volkes, jedoch ohne dessen bindenden Auftrag handelnde Organe eines Staates oder sonstigen Trägers öffentlicher Gewalt, die ihre Autorität mittelbar oder unmittelbar vom V o l k ableiten und m i t dem A n spruch legitimieren, dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen und dergestalt dessen wahren Willen zu vollziehen" 3 4 . Grundlegend für das Verständnis der Repräsentation ist die Erkenntnis, daß der Repräsentant auf Grund eines eigenen Willensentschlusses handelt, der lediglich durch Gesetz, nicht aber durch den Willen der Repräsentierten begrenzt werden kann. Gleichzeitig ist der Repräsentant für eine bestimmte Amtsperiode gewählt und grundsätzlich vor deren Ablauf nicht abberufbar. Repräsentation i m strengen Sinne bedeutet weiterhin, daß die Repräsentierten außerstande sind, einen rechtlich relevanten Willen zu äußern 35 . Der Institution des Repräsentanten stehen insbesondere der Vertreter (Deputierter), der Bote und der Rat gegenüber. Der Bote übermittelt ohne eigene Entschließung nur fremde Erklärung; seine Funktion ist die eines bloßen Werkzeugs 36 . Der Vertreter handelt auf Grund eines eigenen Willensentschlusses, der aber nicht nur durch das Gesetz, sondern auch durch den Willen des Vollmachtgebers sachlich begrenzbar ist 3 7 . Der Rat ist m i t einem mehr oder weniger engen Spielraum der eigenen Willensentscheidung ausgestattet, der durch Gesetz begrenzt 30

Loewenstein, K . (VII), S. 85. Glum, F. (I), S. 157 f. 32 BVerfGE 9, 281; Kaufmann, E., Die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, V V D S t R L , Heft 9,1952, S. 7; Maunz—Dürig—Herzog, A r t . 20, Rdn. 46. 33 Friedrich, K.-J., Der Verfassungsstaat der Neuzeit. B e r l i n 1953, S. 345; Leibholz, G. (I), S. 25 ff., 44 ff.; Schmitt, Carl (V), S. 209; Krüger, Herbert, A l l gemeine Staatslehre, Stuttgart 1964, S. 234 ff. 34 Fraenkel, Ernst, Die repräsentative u n d die plebiszitäre Komponente i m demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958, S. 5. 35 Jellinek, Georg, Allgemeine Staatslehre, 7. Neudruck, B e r l i n 1960, S.581 ff. 30 Danckelmann, Bernhard, i m Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, M ü n chen und Berlin, 30. Auflage 1970, A n m e r k u n g 2 v o r § 164 BGB. 37 Jellinek, Georg (I), S. 581 ff. 31

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und an den Auftrag der Wähler gebunden ist. Als entscheidendes Merkmal kommt bei i h m hinzu, daß die Mitglieder der Räte jederzeit von der Wahlkörperschaft abberufen werden können 38 . Es ist aber zu betonen, daß die Zubilligung der notwendigen repräsentativen Freiheit nur auf Zeit und gegen politische Verantwortung gegenüber dem Wähler erfolgt. Diese Verantwortung verpflichtet den Abgeordneten, auch während der Legislaturperiode den Konsens der Wählerschaft, deren Weisungen er nicht unterworfen ist, dennoch zu suchen 39 . Ein solches Rechtsverhältnis w i r d als Rückkoppelungsverhältnis bezeichnet. Doch auch das eigentlich i m Ständewesen seinen historischen Ursprung findende Repräsentativprinzip hat eine faktische Reduzierung erfahren. Diese findet ihren Grund i n der zur Entfaltung normativer K r a f t der Verfassung notwendigen Einbeziehung eines Stückes der Gegenstruktur, hier also des plebiszitären Elementes, i n die eigene Ordnung 4 0 . Für das Verhältnis zwischen Wähler und Gewähltem hat die angelsächsische Theorie die Lehre vom „trust" entwickelt. Dieser Vorstellung von den Abgeordneten und der Regierung als eines „trust", also als eines Systems treuhänderisch übereigneter Macht, schließt zwar die A n nahme der Identität zwischen Regierenden und Regierten i m Sinne Rousseaus aus, folgt aber auch nicht der kontinental-europäischen Herrschaftstheorie. Die englische „trust-Theorie" steht i n der Mitte zwischen beiden Anschauungen. Eine Aussage Ernst Friesenhahns 41 enthält eine gelungene Beschreibung der „trust-Idee". Die Abgeordneten geben als freigewählte Repräsentanten des Volkes den Willen des Volkes kund und w i r k e n wieder zurück auf die Meinungsbildung i m Volk. Sie stehen als Mittler zwischen Volk und Regierung, stützen und kritisieren die Regierung und sorgen dafür, daß sie i n der demokratischen Verantwortung gehalten w i r d " . I m Verhältnis von Parlament und Regierung beruht die Minderung des repräsentativen Prinzips auf einer neuartigen, dem parlamentarischen System tatsächlich anhaftenden Form der Gewaltenteilung. Jede Diskussion der Gewaltenteilung beginnt bei Montesquieu 42 . Grundlage einer Theorie war die Analyse des englischen Systems i n der Mitte des 18. Jahrhunderts und die von John Locke angestellten Betrachtungen. 88 Gottschalch, Wilfried, Parlamentarismus u n d Rätedemokratie, B e r l i n 1968, S. 38. 89 Hierzu schon Adhémar , Esmein, Eléments de D r o i t Constitutionnel, 8. Auflage, 2 Bde., Paris 1927/28 ( l . A u f l . 1896), zit. nach Kimminich, S. 54; s. Näheres bei Stein, S. 71 ff. u n d die Ausführungen i m 2. Hauptteil, 2. Kapitel, 3. Abschnitt: Minderheitenkanzler u n d Auflösung des Bundestages. 40 Hesse, Konrad, S. 14. 41 Friesenhahn, E., S. 31. 42 Montesquieu, V o m Geist der Gesetze, insbes. das 11. Buch; f ü r eine eingehende Erörterung der Lehre Montesquieus vgl. Imboden, M a x , Montesquieu u n d die Lehre der Gewaltentrennung, B e r l i n 1959.

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Seine Lehre hat das verfassungspolitische Denken und die verfassungsrechtliche Verwirklichung bis i n unsere Gegenwart hinein beherrscht 48 . Die amerikanische Bundesverfassung von 1787 hatte bereits versucht, die Abstraktion Montesquieus verfassungsrechtlich zu realisieren, indem sie eine strikte Trennung von Legislative und Exekutive festlegte 44 . Ihr folgten die französische Verfassung von 1791, die erstmals eine „ j u r i stische Kodifikation der konstitutionellen Monarchie" 45 unter Gegenüberstellung von Legislative, Exekutive und Judikative enthält. Das gleiche gilt für die Verfassungen der meisten europäischen Staaten i m vorigen Jahrhundert 4 ® und die Vorstellungen von konstitutioneller Gewaltenteilung beeinflussen auch die deutschen Verfassungsdiskussionen bis zur Reichsverfassung von 1871. Sie überleben i n Gestalt der verschiedenen Gleichgewichtstheorien den Zusammenbruch des deutschen monarchisch-konstitutionellen Reiches und spielen eine überragende Rolle bei der Konstruktion der Weimarer Verfassung und der dieser folgenden, den Aufbau der bipolaren Exekutive ebenfalls verwirklichenden, ausländischen Verfassungen. M i t der Einführung der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung, m i t der Bestandsabhängigkeit der Exekutive vom Parlament, welches wiederum durch die exekutivische Waffe der Auflösung bedroht war, hatte das strenge System der Gewaltentrennung seine Glaubwürdigkeit eingebüßt. Dennoch hielten große Teile der Staatsrechtswissenschaft an begrifflichen Prägungen aus der Epoche des konstitutionellen Staates fest 47 . Aber nicht nur das Begriffschema wurde übernommen, sondern auch i n der Rechtstheorie Regierung und Parlament als zwei eigenständige und unabhängige Träger staatlicher Macht einander gegenübergestellt. Ihre einzige Gemeinsamkeit sollte i n ihrer Legitimation durch die Volkssouveränität bestehen 48 . So ist es verständlich, daß die Annahme eines monistischen Verhältnisses zwischen Regierung und Mehrheitsfraktion von der herrschenden Lehre m i t der Begründung abgelehnt w i r d 4 9 , daß die Anschauung von Regierung und Parlament als einer Einheit 43

Glum, F. (VI), S. 294; Finer , Herman, Der moderne Staat, Bd. 1, S t u t t gart—Düsseldorf 1957, S. 183. 44 Madison, S. D., J. Hamilton, u n d J. Jay , The Federalist or the New Constitution, ed. by Beioff, M., Oxford 1948, insbes. Paper Nr. 47. 45 Kaltefleiter, W. (I), S. 68. 46 Nachweise bei Kaltefleiter (I), S. 68. 47 Scheuner, U., Das A m t des Bundespräsidenten, I n Smend-Festschrift 1952, S. 254. 48 Maunz—Dürig—Herzog, Grundgesetz, Kommentar, Rd. Ziff. 12 zu A r t . 62. 49 Pokorni, Norbert, die Auflösung des Parlaments, Bedeutungswandel u n d Zurücktreten eines Verfassungsinstituts, j u r . Diss. Bonn 1967, S. 158.

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bei den kontinental-europäischen Parlamentssystemen auf Schwierigkeiten stoße, da hier Staat und Gesellschaft als überlieferte Gegensätze genommen werden, wobei die Regierung als das eigentliche Staatsorgan gegenüber dem Parlament erscheint. Der überlieferte Dualismus w i r d von dieser Staatslehre i n das Verhältnis von Regierung und Parlament hineininterpretiert 5 0 . Das Bundesverfassungsgericht 51 t r i t t diesem Standpunkt insofern bei, als es die Regierung nicht als bloßen Exponenten der Parlamentsmehrheit betrachtet, sondern ein Spannungsverhältnis zwischen dem Parlament als dem Gesetzgebungs- und oberstem Kontrollorgan und der Regierung als der Spitze der Exekutive trotz vorhandener politischer Harmonie zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit als bestehend voraussetzt 52 . Da das Bundesverfassungsgericht der politischen Harmonie zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung immerhin eine gewichtige Rolle i m Wirken des parlamentarischen Regierungssystems einräumt, nähert es sich bereits dem Standort der modernen deutschen Staatsrechtslehre. Diese versucht unter Einbeziehung der Verfassungswirklichkeit die Lösung von einer rein formalen Betrachtungsweise zu vollziehen und betont dabei, daß der traditionelle Dualismus von Parlament und Regierung i m parlamentarischen Regierungssystem seine Bedeutung verloren habe. Heute würden durch Parlament und Regierung keine gegensätzlichen Positionen mehr verkörpert 5 3 , sondern das Spannungsverhältnis herrsche nun zwischen Regierung und ihrer parlamentarischen Mehrheit einer- und der Opposition andererseits. Die Ursache für die Verlagerung des Spannungsfeldes vom Verhältnis Parlament-Regierung i n das Parlament hinein sehen die meisten Autoren i m Aufstieg der modernen Parteiendemokratie 54 . Regierung und Regierungsfraktion stünden i m Parlament der parlamentarischen Opposition gegenüber. Zwischen der Regierung und der Mehrheitsfraktion bestehe nicht mehr der „interorgane" Dualismus, sondern eine weitgehende Harmonisierung. Das Vorbild des englischen Cabinet Systems vor Augen, wo sich tatsächlich i m Kabinett unter Führung der Premiers eine „Verschmelzung der Machtträger Legislative und Exekutive zu einem einzigen Machtmechanismus" 55 vollzogen hat, spricht man von einem Monismus, der sich zwischen Regierung und ihrer parlamentarischen Anhängerschaft gebildet habe 56 und unterscheidet zwischen monistisch und dualistisch konzipierten Systemen. 50

Kluxen, K u r t , Parlamentarismus, K ö l n — B e r l i n 1967, S. 304. BVerfGE 10, S. 4 ff. 52 BVerfGE 10, S. 17 f. 53 Weber, Werner, Das Richtertum i n der deutschen Verfassungsordnung, i n : Festschrift f ü r Niedermeyer, H., 1953, S. 267. 54 Pokorni, N., S. 156. 55 Loewenstein (VII), S. 108. 58 Leibholz, G., Macht u n d Ohnmacht der Parlamente, Stuttgart 1965, S. 63. 51

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Tatsächlich sind i n der deutschen Verfassungswirklichkeit Vorgänge zu beobachten, die zur Annäherung von Regierung und parlamentarischer Mehrheit geführt haben. Als solche Entwicklungen werden zum Beispiel die Herausstellung von Regierungsmannschaften und Kanzlerkandidaten bei der Wahl und die Bestellung von parlamentarischen Staatssekretären genannt 57 . Die Etablierung des parlamentarischen Regierungssystems erforderte also eine Überprüfung der überkommenen Lehre von der Gewaltenteilung 58 , was sich i n der deutschen Situation wegen der Belastung der Montesquieuschen Theorie mit „dogmatischen Zügen" 5 9 als risikoreich erwiesen hatte. Denn ihr stand die herkömmliche Auffassung gegenüber, daß die Aufteilung der Gewalten hemmende und damit freiheitsfordernde Wirkungen zeitige®0. I n neuester Zeit hat man diese Begründung, der sich auch das Bundesverfassungsgericht angeschlossen hatte 61 , einer sorgfältigen K r i t i k unterzogen 62 . Die Verteilung der Staatsgewalten i n der Weise der gegenseitigen Hemmung ihrer Träger führe zwangsläufig zu einer Schwächung der Staatsgewalt und zu einer Minderung ihrer Leistungsfähigkeit® 3 : „wenn es für die herkömmliche Auffassung vor allem darauf ankommt, die Staatstätigkeit zu hemmen, dann war es überflüssig sie überhaupt erst beginnen zu lassen"®4. Indem Krüger die herkömmliche Begründung ad absurdum führt, zeigt er, daß das Wesen der Gewaltenteilung nicht i n einer lähmenden Hemmungsfunktion, sondern i n einer Mißbrauchskontrolle liegen muß. Hier leitet die Problematik über i n die Frage der traditionellen Kontrollmittel des Parlaments und der Gegenmittel der Regierung: des Mißtrauensvotums und der Auflösungsbefugnis. Da i m parlamentarischen System zwischen Exekutive und Mehrheit grundsätzlich eine personelle Konkurrenz i n der Weise herrscht, daß die Regierungsmitglieder sich aus den Abgeordneten rekrutieren, die unmittelbar Machtausübende, dann gleichzeitig Mitglieder des kontrollierenden Organs 57

Vgl. Pokorni, N., S. 160 ff. Vgl. zum Thema Gewaltenteilung Laforet, W., Die Scheidung der Gew a l t e n nach dem Bonner Grundgesetz, Festschrift f. Ebers; W D S t R L , Heft 8, S. 53; Peters, Hans, Die Gewaltentrennung i n moderner Sicht, Köln—Opladen 1954; Schneider, Peter, Die Problematik der Gewaltenteilung i m Rechtsstaat der Gegenwart, AöR 82, 1957, S. I f f . ; Hahn, J., Über die Gewaltenteilung i n der W e r t w e l t des Grundgesetzes, Jahrb. f ü r öffentliches Recht, n. F., Bd. 14, S. 15 f. 59 Pokorni, N., S. 168. 60 Maunz—Dürig—Herzog, Rd. Ziff. 78 zu A r t . 20; v.Mangoldt—Klein, Das Bonner Grundgesetz, Bd. I I , A n m . V, 5 b zu A r t . 20 GG. 61 BVerfGE 3, 247. 62 Kimminich, O., S. 37. C3 Nawiasky, Hans, Allgemeine Staatslehre, Bd. 4, Einsiedeln, Zürich, K ö l n 1958, S. 61 f.; Imboden, M., Die Staatsformen, Basel, Stuttgart 1959, S. 53. 64 Krüger, Herbert (I), S. 868, S. 945. 58

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sind, entsteht die Frage, wer nun die Machtausübenden kontrolliere 0 5 . Die Lösung lautet, daß das Parlament seine eigene Mehrheit mittels einer sich ihrer Kontrollfunktion ständig bewußten Opposition beaufsichtigt 86 . Daß die Opposition dabei auch i n der Lage sein muß, diese Funktion wahrzunehmen, insbesondere des adäquaten, geschäftsordnungsmäßigen Instrumentariums bedarf, ist eine unverzichtbare Forderung des parlamentarischen Regierungssystems 67 . Die dem Gesamtparlament nach der konstitutionellen Staatstheorie zustehenden Funktionen sind i m parlamentarischen Regierungssystem i n Wirklichkeit also von der Opposition übernommen worden 8 8 . Der Opposition steht als Sanktion ihrer Kontrollfunktion die Möglichkeit des Regierungssturzes zu. Tatsächlich jedoch hat das M i t t e l des Mißtrauensvotums nur eine — vom Parteiensystem abhängige — mehr oder minder seltene Chance der Realisierung. Die zahlenmäßig unterlegene Opposition kann ihr Ziel, den Regierungssturz, nur über eine zerfallende Mehrheitspartei oder Koalition erreichen, was sich grundsätzlich infolge des Zusammenhalts der Mehrheit schwierig gestaltet. Daher w i r d es die vornehmste Aufgabe der Opposition, die Politik der Regierung, gemeinsam m i t eigenen Alternativvorschlägen, der öffentlichen Diskussion zugänglich zu machen und auf diese Weise die kommenden Parlamentswahlen und m i t ihnen den etwaigen Machtwechsel vorzubereiten 89 . Die rechtliche Sanktionskontrolle w i r d also überlagert durch die m i t den Parlamentswahlen gegebene Chance eines Regierungswechsels 70 , die dadurch das Prinzip demokratischer Verantwortlichkeit und letztlich die als Grundlage der Repräsentativverfassung erkannte „ultimate sovereignty of the nation" 7 1 verwirklichen. Das klassische Mißtrauensvotum t r i t t damit grundsätzlich i n seiner Bedeutung i m parlamentarischen System zurück. M i t seinem Schwinden infolge der tatsächlichen politischen „Homogenität" 65 Seidel, Hans, Die F u n k t i o n der Opposition i m parlamentarischen System, politische Studien, 1955, S. 24 f.; Landshut, Siegfried, Formen u n d Funktionen der parlamentarischen Opposition, i n : Wirtschafts- u n d K u l t u r system, Stuttgart, Zürich 1955. ββ Sternberger, Dolf, Über parlamentarische Opposition, i n : Wirtschaftsu n d Kultursystem, Zürich, Stuttgart 1955, S. 301 ff. 67 Hereth, Michael, Parlamentarische Opposition i n Deutschland am Beispiel des Verhaltens de sozialdemokratischen Bundestagsfraktion v o n 1949 bis 1969, Phil. Diss., Erlangen—Nürnberg 1968. 68 Huber, E. R., Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, Stuttgart 1957, S. 777; Lauf er, H., Die demokratische Ordnung, Stuttgart 1966, S. 122 f. 69 Vgl. hierzu Wildenmann, R., W. Kaltefleiter u n d U: Schleth, „Die A u s w i r k u n g e n verschiedener Wahlsysteme auf das Parteien- u n d Regierungssystem der Bundesrepublik", Sonderheft 9 der Kölner Zeitschrift f ü r Soziologie u n d Sozialpsychologie, 1965. 70 Wildenmann, Rudolf, Macht u n d Konsens als Problem der Innen- u n d Außenpolitik, F r a n k f u r t / M a i n , Bonn 1963, S. 53 f. 71 Dicey, Α . V., Introduction to the study of the L a w of the Constitution, 3. Aufl., London 1923, S. 425 f.

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von Regierung und Regierungsmehrheit sowie der Erkenntnis der Notwendigkeit einer „plebiszitären Legitimation" muß die Frage nach der Funktion des „Schlußsteins des demokratischen Machtgebäudes" 72 , des Auflösungsrechts, neu gestellt werden. Das Recht der Exekutive zur Auflösung des Parlaments w i r d als ein bedeutungsvolles Merkmal des parlamentarischen Regierungssystems genannt 7 8 ; es sei der Angelpunkt des Systems 74 und diesem eigentümlich 75 . Seine Bedeutung wird, analog derjenigen des Mißtrauensvotums, von den Vertretern der Gleichgewichtslehren vor dem Hintergrund eines Equilibriums zwischen Regierung und Legislative gesehen; das Kontrollsystem eines parlamentarischen Systems beruhe auf dem Gleichgewicht von Mißtrauensvotum und Auflösungsrecht als den beiden entscheidenden Druckmitteln der Kontrahenten 7 6 . Nach Loewenstein 77 „gehören innerhalb des Rahmens des echten Parlamentarismus beide M i t t e l zusammen wie Hand und Handschuh". U m diese beiden Einrichtungen kreise die „Dynamik der politischen Macht". Die Gleichgewichtslehre geht davon aus, daß das Mißtrauensvotum als Sanktion die Bestandsabhängigkeit der Regierung vom Vertrauen des Parlaments sichert 78 . Bei ungezügelter Handhabung dieses Instruments würde die Regierung i n die Knechtschaft des Pariamens herabgewürdigt und ihre eigenständige Funktion aufgehoben — die Stunde des Parlamentsabsolutismus wäre gekommen. Aus diesem Grund bedarf es verfassungsrechtlicher Instrumente, u m das Merkmal des „echten Parlamentarismus" — ein Gleichgewichts- und Spannungsverhältnis — aufrechtzuerhalten. Diesem Zweck dient das Auflösungsrecht der Exekutive, dessen bloße Existenz genügt, u m eine Parlamentsalleinherrschaft zu vereiteln 7 9 . Walter Bagehot, der klassische englische Verfassungstheoretiker, steht insoweit bereits i n der Nähe des Gleichgewichtsgedankens, wenn er noch, neben einer anderen, modernen Rolle, die Stabilisierungsfunktion der Parlamentsauflösung zur Aufrechterhaltung eines „Gleichgewichts des Schreckens" hervorhebt: „the whole life of politics is the action and reaction between the Ministry and the Parliament" 8 0 . Das Kabinett 72

Loewenstein , K . (VII), S. 221. Koellreutter, Otto, Jahrbuch des öffentlichen Rechts, Bd. Χ (1921), S. 413. 74 Schmitt, Carl (V), S. 353. 75 Loewenstein , Κ . (VII), S. 217. 71 Bracher, -Dietrich, Demokratie u n d D i k t a t u r , Bern—München—Wien 1964, S. 40. 77 Loewenstein, Κ . (VII). 78 Kimminich, Otto, Leitsatz 14. 19 Krüger, H., A r t . „Parlamentarismus" i m Handbuch der Staatswissenschaften, Bd. 8,1961, S. 212. 80 Bagehot, W., S. 151. „Das ganze politische Leben konzentriert sich i m Verhältnis v o n A k t i o n u n d Reaktion zwischen K a b i n e t t u n d Parlament." 7S

4 Lippert

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w i r d dann beschrieben als „a committee which can dissolve the assembly which appointed i t " 8 1 . Damit konstruiert Bagehot eine potentielle Machtbalance zwischen dem Schöpfer Parlament und dem Geschöpf Kabinett 8 2 . Demgegenüber kann auch die Funktion des Auflösungsrechts infolge der oben als „Zusammenrücken bzw. Harmonisierung" bezeichneten Aufhebung des konstitutionellen Antagonismus nicht ohne Folgen bleiben. Bagehot erkannte zwar, daß das dualistische Organisationsprinzip m i t der parlamentarischen Entwicklung von einem neuen interparlamentarischen Dualismus zwischen Regierungsmehrheit und Opposition abgelöst worden war: „This critical opposition is the consequence of Cabinet Government" 8 3 . A n der Konstellation der Interorgan-Balance, Aufrechterhalten durch Mißtrauensvotum und Auflösung, hielt er dennoch fest; er hatte das historische B i l d des souveränen Parlaments vor Augen: „but our House of Commons is a real choosing body; i t elects the people i t likes. A n d i t dismisses whom i t likes, too" 8 4 . Die Exponenten der modernen englischen Theorie der Kabinettsbzw. Premierministerregierung, so etwa Sir J. Jennings, Herman Finer, Keith, HRG, Greaves, W i l f r i d Harrison, Quintin Hogg, Lord Campion, F. Moodie, K . C., Wheare, D. N. Chester 85 stehen teilweise bereits i m Gegensatz zu Bagehot: Vor dem Hintergrund der Integration von Regierung und Regierungsmehrheit und der dadurch dem Kabinett zugewachsenen, auch legislativen Führungsrolle, stellen sie als die primäre Aufgabe der Regierungspartei heraus, die i m Kabinett personell verkörperte Parteiführung i m Amte zu halten und durch parlamentarische Unterstützung die politischen Zielvorstellungen der Regierung i n Form gesetzlicher Sanktionierung zu verwirklichen 8 6 . Nach ihnen muß auch die Funktion der Auflösung eine Wandlung erfahren; sie diene nicht mehr der Bekämpfung des Parlaments durch den Monarchen und nicht ausschließlich der Lösung von Konflikten zwischen Legislative und 81 Bagehot, W., S. 69 . . . „ e i n Ausschuß, der die i h n ernennende Versammlung auflösen kann". 82 Nuscheier, Franz, W a l t e r Bagehot u n d die Englische Verfassungstheorie, Meisenheim am Glan, 1969, S. 59. 88 Bagehot, W., S. 72. „Diese kritische Opposition ist die Konsequenz des Kabinettsystems." 84 Bagehot, W., S. 150. 85 Jennings, I v o r (I), S. 2 f.; Finer, The Theory and Practice of Modern Government, London 1954; ders. The M a j o r Governments of Modern Europe, London 1960; Harrison, The Government of Britain, 9. Auflage, London 1964; Hogg, The Purpose of Parliament, London 1946; Lord Campion, Development i n the Parliamentary System since 1918; i n : B r i t i s h Government since 1918, London 1950, S. U f f . ; Moodie, The Government of Great Britain, London 1964; Wheare, Government by Committee: A n Essay on the B r i t i s h Constitution, London 1955; Chester, Development of the Cabinet 1914 - 1949, S. 31 ff. 86 Nuscheier, S. 134.

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Exekutive, sondern werde zum M i t t e l der Regierung, dem Mehrheitszerfall i n den eigenen Reihen entgegenzuwirken, u m Stabilität und Entscheidungsfähigkeit der Mehrheit zu halten. Damit sei es möglich, Meinungsverschiedenheiten und Gruppenbildungen, die natürlich auch innerhalb einer parlamentarischen Mehrheit entstehen können, unter dem Vorbehalt, daß die Politik der Regierung eine ausreichende Zustimmung i n der Bevölkerung findet, zu überwinden 8 7 . Kabinett und Mehrheitsabgeordnete wären durch das Interesse verbunden, die Risiken einer Auflösung und der folgenden Neuwahlen — nämlich den Verlust der Mehrheit für die Partei und den Verlust ihrer Sitze für die rebellierenden Abgeordneten — 8 8 zu vermeiden. I n Erkenntnis der überragenden Bedeutung des Instituts der Auflösung für Ausgestaltung und Stabilität der verschiedenen Regierungssysteme hat Carl Schmitt 8 9 ein Gattungsschema der verschiedenen Auflösungsarten gebildet: Er unterscheidet darin 1. das monarchische, 2. das présidentielle, 3. das ministerielle Auflösungsrecht sowie die 4. Selbstauflösung des Parlaments und die 5. Auflösung auf Grund eines Volksbegehrens. Wesentlich für die Einordnung der Auflösung i n das parlamentarische Regierungssystem sind vor allem die Arten 1 - 3. A d 1: I n der nicht-parlamentarischen Monarchie soll das Auflösungsrecht, als gegen das Parlament gerichtete Waffe des Monarchen, der monarchischen Regierung gegenüber der Volksvertretung die Suprematie erhalten. Carl Schmitt führt als berühmtestes Beispiel einer auf diese Weise gehandhabten Auflösung den preußischen Konflikt zwischen Regierung und Landtag von 1862 -1866 an. Die Erinnerungen an i h n hätten noch nachhaltig die Debatten der Weimarer Nationalversammlung beeinflußt; auch sei die Einfügung des Wiederholungsverbotes i n den A r t . 25 W V ein K i n d jener Erinnerung. A d 2.: I m präsidentiellen A u f lösungsverfahr en kommt deutlich der Balancierungsgedanke der konstitutionellen Theorie zum Tragen. Tatbestandsvoraussetzung der Auflösung ist der Konflikt zwischen Regierung, zu der auch der Staatspräsident rechnet, einerseits und dem Parlament auf der anderen Seite. Die klare Gegensätzlichkeit w i r d durch das Volk entschieden, das sich einem der Standpunkte anschließt. Die 87 Wobei die Auflösung i m Falle ihrer K o m b i n a t i o n m i t der Mehrheitsw a h l ihre höchste, homogenitätsfördernde Effektivität erreicht, vergleiche hierzu Kaltefleiter, W. (I), S. 30 u n d Kaltefleiter, W., R. Wildenmann und U. Schleth, S. 80. 88 Die revoltierende „back-Benchers" werden m i t größter Wahrscheinlichkeit nicht mehr v o n i h r e r Partei nominiert werden. 89 Vgl. hierzu ausführlich Schmitt, Carl (V), S. 353 - 355.



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Entscheidung ist endgültig; wegen der gleichen Meinungsverschiedenheit „(Anlaß)" ist eine erneuter Appell nicht möglich. A d 3.: Das Wesen der ministeriellen Auflösung besteht nach Carl Schmitt i n der Chance der Regierung, ihre Mehrheit zu vergrößern. Bei E i n t r i t t des „Kabinettsfalles"· 0 w i r d die Regierung das Parlament auflösen und durch einen plebiszitären Appell an das Volk versuchen, ihre Mehrheit zu verstärken. Dabei w i r d ein Konflikt zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung vorausgesetzt, der i n den Wahlen entschieden wird. Auch hier besteht deshalb nur die Möglichkeit der einmaligen Auflösung aus gleichem Anlaß. Der Typus der ministeriellen Auflösung hat sich i n England deutlich herausgebildet, wo der formale Vollzug auch heute noch durch den Monarchen — i m Wege königlicher Verordnung — geschieht". Von nicht zu überschätzender Bedeutung für die Erhaltung und die Arbeitsfähigkeit des parlamentarischen Systems ist die von Schmitt erkannte Funktionsverschiedenheit von präsidentiellem, monarchistischem und ministeriellem Auflösungsrecht. Die moderne politische Theorie" hat zu den Ergebnissen Schmitts noch die Erkenntnis hinzugefügt, daß die potentielle Möglichkeit eines Einsatzes der Sanktionsmittel Mißtrauensvotum und Auflösung von den beteiligten Gruppen „antizipiert", d. h. durch eigenes vorheriges Verhalten abgewendet wird, wobei man sich wiederum möglichst an der Stimmung innerhalb der Wählerschaft ausrichtet 98 . Sollte die Mehrheit des Parlaments der A n sicht sein, daß die Regierungspolitik von der Zustimmung der Bevölkerung nicht mehr begleitet wird, werden die Abgeordneten die Regierung auf „stillem Wege" ablösen und eine neue Führungsgruppe einsetzen. I n einem solchen Falle würde die Auflösung des Parlaments ihr Ziel, der Regierung zu einer „Bestätigungsmehrheit" zu verhelfen, verfehlen, w e i l die „backbench-revolution" meistens ein sicheres Indiz für eine tatsächlich i m Lande vorhandene, regierungsfeindliche Stimmung darstellen wird. Die i m Gefolge des Antizipationseffekts zusätzlich verdichtete Homogenität von Regierung und Mehrheit hat i n England zunächst zur „Herrschaft des Kabinetts über das Unterhaus" 9 4 und schließlich zur „Suprematie" des Premierministers geführt. 90 Schmitt, Carl, betrachtet als Kabinettsfall sämtliche A r t e n der M i ß billigungskundgebung v o n der direkten Abberufung durch Parlamentsbeschluß bis zu anderen Beschlüssen des Parlaments, die auf Mißtrauen oder M i ß b i l l i g u n g schließen lassen, s. (V), S. 339 f. 91 Kaltefleiter, W. (I), S. 31. « Kaltefleiter, W. (I), S. 31. 93 Beispiele f ü r die oben bezeichnete Ablösung einer Führungspersönlichkeit oder -gruppe finden sich i n der deutschen als auch i n der englischen Verfassungspraxis. So w a r der Wechsel v o n K o n r a d Adenauer zu L u d w i g Erhard, derjenige von E r h a r d zu Kiesinger sowie die Ablösung A n t h o n y Edens u n d H a r o l d MacMillans an den Wahlchancen orientiert.

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Das britische Unterhaus ist deshalb während der letzten 50 Jahre audi i n Situationen aufgelöst worden, i n denen ein „Anlaß" i m obigen Sinne, also eine Konfliktsituation zwischen der Regierung und der eigenen Mehrheit, nicht gegeben war. Ganz i m Gegenteil wurde das Parlament während der Legislaturperiode i n einer Zeit aufgelöst, i n der die öffentliche Meinung gegenüber der Regierungspolitik günstig eingestellt zu sein schien. A u f Grund dieser Beobachtung ist Scheuner 95 schon i m Jahre 1927 zum Ergebnis gelangt, daß es sich bei der Auflösung des britischen Unterhauses u m eine „majoritäre Selbstauflösung" handele. Die Auflösung werde materiell mit Willen der Parlamentsmehrheit vollzogen, wobei die formale Einkleidung unerheblich sei. Es ist an dieser Stelle zum Verständnis der Funktion des Auflösungsrechts i m parlamentarischen System nicht notwendig, den interessanten Gedankengang Scheuners kritisch zu würdigen 9 6 . Als Grundlage des parlamentarischen Regierungssystems sind also rekapitulierend festzuhalten: Die zentrale politische und juristische „institutionelle" Problematik dieses Regierungstyps ergibt sich aus dem Verhältnis von Legislative und Exekutive. Der hieraus zu destillierende Kernsatz legt die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament fest. Die Verantwortlichkeit w i r d durch die Bestandsabhängigkeit sanktioniert, was wiederum einen maßgeblichen, zumindest i m tatsächlichen Bereich wirkenden Einfluß des Parlaments auf die Bestellung des Regierungschefs bzw. die Regierungsbildung zur Folge hat. Dem Mißtrauensvotum des Parlaments w i r k t das Auflösungsrecht der Regierung entgegen. I n der parlamentarischen Demokratie ist das Volk souverän, d. h. Träger der Staatsgewalt. Die parlamentarische Repräsentation ist das M i t t e l zur Verwirklichung der Volkssouveränität. Wegen der unmittelbaren Herkunft aus dem Volkswillen ist das Parlament m i t der überlegenen Legitimierung ausgestattet. Die konstitutionelle Theorie — und ihr folgen sogar Vertreter der modernen Staatsrechtslehre — sehen jedoch die Beziehungen zwischen Regierung und Parlament i m Sinne eines Gleichgewichtsverhältnisses ausgestaltet, dessen Aufrechterhaltung durch die komplementären Institutionen der Auflösung und des Mißtrauensvotums garantiert ist. Schon durch die Zulassung dieser beiden Einflußmöglichkeiten (Interorgankontrollen) wurde die strikte Gewaltenteilung durchbrochen. Eine starke tatsächliche Veränderung des Schemas bedeutet das A u f kommen der modernen Parteiendemokratie. Die Gewaltenteilung w i r d durch die Homogenisierung von Regierung und Regierungsmehrheit •4

Loewenstein, R. (VIÏ), S. 218. Scheuner, U. (III), S. 360. ·· Dies geschieht i m 2. Hauptteil, 2. Kapitel, 3. Abschnitt; dabei w i r d festgestellt, daß die b r i t . Verfassung der Gegenwart zwei A r t e n der Auflösung kennt. n

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formalisiert und der konstitutionelle Dualismus durch die Verlegung i n das Parlament zu einem parlamentarischen umgeformt. Bei dessen Realisierung w i r d das Mißtrauensvotum durch die an den Wahlchancen orientierte, stille Auswechslung der Führungsgruppe durch die eigene Partei und ohne Beteiligung der Opposition überlagert.

I I . Die Rolle des Staatsoberhauptes im parlamentarischen System Aus der oben versuchten, grundrißartigen Darstellung der tragenden Fundamente des parlamentarischen Regierungssystems stellt sich die Frage nach der Funktion des Staatsoberhaupts i n der konkreten Ordnung „parlamentarischer Regierungsweise". Nach dem Versuch einer Beantwortung der Frage nach der Funktion soll dann die Programmierung, d. h. die Umsetzung der Systemprobleme i n juristisch faßbare Entscheidungsprobleme, gewagt werden 1 . Die Suche nach der Funktion w i r d gerechtfertigt durch die sich gerade i n der parlamentarischen Demokratie ergebenden Einordnungsprobleme für ein oberstes Staatsorgan, das gegenüber der parlamentsabhängigen Regierung und der Volksvertretung verschiedenste Funktionen wahrzunehmen hat, ohne unbedingt von diesen eingesetzt oder legitimiert zu sein 2 . Kaltefleiter 3 konstatiert i n seiner inhaltsreichen Kölner Habilitationsschrift sogar eine weitgehende Verwirrung bezüglich der Funktion des Staatsoberhaupts i n der parlamentarischen Demokratie und belegt seine Aussagen m i t Beispielen aus dem Verfassungsleben verschiedener Staaten. Er sieht das Staatsoberhaupt i n einen Rollenkonflikt verstrickt, der, insbesondere, wenn demokratische Institutionen ihre Aufgabe nicht optimal erfüllen sollten, leicht zu einer Ausdehnung der tatsächlichen Einflußsphäre des Staatsoberhaupts und zur Ausschaltung der parlamentarischen Spielregeln führen kann. Georges Burdeau 4 spricht von der „Komplexität" der präsidialen Funktion: der Staatschef sei vor allem ein Teil der Exekutive, aber auch bei Gefahr für das Staatsinteresse ein unerläßliches Koordinativorgan 5 . I n dieser Funktion erhebe sich der Staatspräsident über die anderen Staatsorgane und sorge von dieser Sonderstellung aus für die Erhaltung der Verfassungsordnung und für die Kontinuität staatlichen Wirkens. Tat1

Luhmann, N., S. 23. Pernthaler, P., i n W D S t R L , Heft 25, B e r l i n 1967, S. 95. 3 Kaltefleiter, W. (I), S. 12 - 13. 4 Burdeau, Georges, L a régime parlementaire dans les constitutions européennes d'après guerre, Paris 1932, S. 82. 5 Haungs, P. (I), S. 341. 2

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sächlich ist, wie Kimminich 6 nachweist, bereits der sprachliche Begriff des Staatsoberhaupts, und dies vor allem i n der deutschen Staatsrechtslehre, m i t Assoziationen der konstitutionellen Monarchie belastet. Das Constantsche Modell vom Staatsoberhaupt als einer „neutralen Gewalt" w i r k t also bis i n das verfassungsrechtliche Bemühen der Gegenwart hinein 7 . Auch die gegenwärtige deutsche Staatsrechtslehre schreibt dem Staatsoberhaupt des parlamentarischen Systems „noch fast einhellig" 8 unter Berufung auf Constant die Funktion eines „Pouvoir Neutre" zu®. Eine wachsende Zahl von Stimmen allerdings wendet sich zweifelnd oder klar ablehnend gegen die noch überwiegende Meinung 10 . Otto Kimminich 1 1 verweist i n seinem — auch methodisch Neuland beschreitenden Bericht auf der deutschen Staatsrechtslehrertagung in Graz — auf die monarchisch-konstitutionelle Entstehungsgeschichte der Lehre von der neutralen Gewalt des Staatsoberhaupts. Benjamin Constant, der Schöpfer der Lehre vom „Pouvoir Neutre", sei ein Verteidiger der konstitutionellen Monarchie gewesen, deren Erhaltung sein Hauptinteresse gegolten habe 12 . Das Schema der Gewaltenteilung wurde von Constant insofern verschoben, als er nicht drei, sondern fünf Gewalten unterschied, die bei i h m durch die Teilung der gesetzgebenden Gewalt i n eine erbliche und eine gewählte Körperschaft und eines an die Spitze gestellten „Pouvoir Royal" entstanden 18 . Der Monarch als Inhaber des Pouvoir Royal habe dann als Pouvoir Neutre zu fungieren, er sei Träger der obersten Gewalt, die sich gleichzeitig als eine vermittelnde darstelle 14 . Der Pouvoir Neutre werde durch die „somme totale de l'autorité" gekennzeichnet 15 , welche i m monarchischen Prinzip begründet sei 16 . Constant sieht i m • Kimminich, O., Leitsatz 1,1, S. 91. Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee, darstellender Teil, S. 41: „ M i t dem E n t w u r f w i r d vielmehr der Vorschlag unterbreitet, den Bundespräsidenten als einen echten »Pouvoir Neutre' i n die Lage zu v e r setzen, eine ausgleichende W i r k u n g zwischen verschiedenen Organen des V e r fassungsaufbaus auszuüben." 8 Kimminich, O., S. 81. 9 Maunz, Theodor, Deutsches Staatsrecht, 15. Aufl. 1966, S. 331; Mangoldt, H. v., Das Verhältnis v o n Staatschef u n d Regierung; Deutsche Landesreferate zum Ι Π . Internationalen Kongreß f ü r Rechtsvergleichung, London 1950, S. 838 f.; Maunz—Dürig—Herzog, Grundgesetz, Rd. Ziff. 4 zu A r t . 54. 10 K r i t i s c h bereits Weber, Werner, Spannungen u n d Kräfte, 2. Aufl., S t u t t gart 1958, S. 32. 11 12. - 15. Okt. 1966, W D S t R L , Heft 25, B e r l i n 1967, S. 2 - 94. 12 Kimminich, O., S. 18. 13 Kimminich, O., S. 17. 14 Kimminich, O., S. 40. 15 Constant, B., Cours de Politique Constitutionnelle, Bd. 1, S. 20 u n d 179, vgl. auch S. 425 ff. 18 Constant, Β., S. 296. 7

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Monarchen weiterhin den Pouvoir Suprême, der eine absolute Machtergreifung durch andere Gewalten verhindern müsse: „ I I faut une force qui les remène à leur place 17 ." Diese Stellung solle aber nur i n Ausnahmesituationen eingenommen und grundsätzlich i m Bereich des „Pouvoir intermédiaire" des ehrlichen Maklers und Schlichters verharrt werden. Zur Wahrnehmung dieser Funktionen verfügt der Monarch über Befugnisse, deren Ausübung keinen Schranken unterworfen ist 1 8 . Als solche kommen hier i n Frage das Recht des Monarchen, die Mitglieder der Exekutive nach eigenem Ermessen selbständig einzusetzen und zu entlassen1®. Die Exekutive war i n Bildung, Amtsführung und Bestand ausschließlich vom Vertrauen des Monarchen abhängig. Neben anderen mannigfaltigen Befugnissen stand dem Pouvoir Neutre das unbeschränkte Recht zu, das Parlament aufzulösen — nach Auffassung Constants geradezu ein M i t t e l gegen die Tyrannei, w e i l es die absolute Suprematie des Parlaments verhinderte 20 . Zwar ist auch hier der Bezug Constants auf die Gewaltenteilung spürbar, jedoch geht er über Montesquieu hinaus, als er die Aufrechterhaltung des Gleichgewichts nicht dem freien Spiel der übrigen Gewalten überlassen wollte, sondern die oberste Entscheidungsgewalt i m Monarchen als dem „Pouvoir Suprême" gipfelte 21 . Der „Pouvoir Royal" w i r d von Constant wegen des als Legitimation dienenden Gottesgnadentums als geheiligte Macht und daher als keiner Verantwortung unterworfen angesehen21. Das Problem der Zuordnung von Macht und Verantwortung bildet dann auch den Ansatzpunkt für die K r i t i k Kimminichs an der herrschenden Lehre, welche die Figur des Pouvoir Neutre unbesehen für das parlamentarische System übernimmt. Er betont dabei das i n einem auf dem Prinzip der Volkssouveränität gegründeten Regierungssystem notwendig bestehende J u n k t i m zwischen Macht und Verantwortung und w i l l die Institution des Pouvoir Royal nur auf die Monarchie beschränkt sehen. A m Beispiel der historischen Transformation Englands von einer konstitutionellen i n eine parlamentarische Monarchie sieht Kimminich die Brauchbarkeit des Constantschen Modells solange als nicht beeinträchtigt, „als auch i n der parlamentarischen Monarchie ein Monarch als Träger des Pouvoir Royal vorhanden ist" 2 3 . Die Konstruktion Constants passe aber dann nicht mehr i n die politische Dynamik, „wenn 17

Constant, S. 19. Kaltefleiter, W. (I), S. 189. " Lehne, Helmut, Der Bundespräsident als neutrale Gewalt, j u r . Diss., Bonn 1969, S. 96. 20 Lehne, S. 13. " Kaltefleiter, W. (I), S. 189. 22 Constant, B., S. 1084, zit. nach Kimminich, O., S. 41. M Kimminich, O., S. 44, 18

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sich das System von der Monarchie zur Republik bewegt". Das republikanische Staatsoberhaupt könne nicht als Träger jenes neutralen Pouvoir Royal fungieren 14 . Da Kimminich die Stellung des monarchischen Staatsoberhaupts i n der parlamentarisch-demokratischen Monarchie m i t der Ausgestaltung als Pouvoir Neutre für vereinbar hält, versäumt er es, nach den letzten auch für die parlamentarische Monarchie wirksamen Konsequenzen des parlamentarischen Systems zu fragen. Zwar schildert auch er noch die hinsichtlich der Legitimation der königlichen Gewalt zwischen der parlamentarischen und konstitutionellen Ordnung bestehenden Unterschiede 15 : i n der konstitutionellen Monarchie beruhe sie auf dem durch die Verfassung beschränkten dynastischen Recht von Gottesgnaden, während sie i n der parlamentarischen Monarchie aus der vom Volke getragenen Verfassung fließe. Die Volkssouveränität bilde audi Grundlage der m i t einer monarchischen Spitze ausgestatteten parlamentarischdemokratischen Ordnung. Aus ihr folgt die Notwendigkeit der verantwortlichen Machtausübung, welche durch die Repräsentation ermöglicht werde. Folglich ist die auch von Kimminich selbst 2 · als untrennbar angesehene Verbindung von Macht und Verantwortung wesensnotwendig für das behandelte System. Die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung ermöglicht dank des als Trennungsstrich wirkenden Gegenzeichnungsrechts die neutrale Stellung gerade des monarchischen Staatsoberhaupts i m parlamentarischen System, welche aber wiederum nur durch den „Preis politischer Machtlosigkeit" 1 7 zu sichern ist. Die u m die Erhaltung der Monarchie besorgte englische Verfassungstheorie hat diese Folge der Verbindung von Volkssouveränität und parlamentarischer Verantwortlichkeit klar erkannt und 'betrachtet die Funktionen sowohl des monarchischen als auch des republikanischen Staatsoberhauptes als „ancillary"". Hérisset" hebt die 'neutrale Stellung und Haltung des britischen Monarchen als eines der drei Grundelemente der parlamentarischen Monarchie hervor. Der Grundsatz der Neutralität, der wiederum aus der Volkssouveränität geboren sei, verlange, daß der Monarch den Mehrheitswillen des Parlaments, der vom Premierminister repräsentiert werde und i m Volkswillen seinen U r sprung habe, zum Vollzug bringe. Damit w i r d deutlich, daß Constants Vorstellungen von der Figur des „Pouvoir neutre" entgegen der Meinung Kimminichs auch nicht auf die 84

Kimminich, O., S. 45. « Helfritz, Hans, Allgemeines Staatsrecht, 5. Aufl., Berlin 1949, S. 148 f. 2 · Kimminich, O., Leitsatz I I I , 12, S. 92. 27 Kaltefleiter, W. (I), S. 189. » Jennings , Sir Ivor (I), S. 303. " Hérisset , Yves, La Monarchie Britannique au X X * Siècle, Paris 1961, S. 52.

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Funktion des monarchischen Staatsoberhaupts i n der parlamentarischen Demokratie anwendbar sind. Der Haupthinderungsgrund liegt i n den aus dem Grundsatz der Volkssouveränität zuziehenden Konsequenzen. Während i n dem ein kompliziertes Gewaltenteilungsschema aufrechterhaltenden System Constants der Monarch zwar die ausgleichende, aber auch die oberste Gewalt — „Pouvoir suprême" — und damit die entscheidende Suprematie i n sich vereint, werden sämtliche i m parlamentarischen System auftauchenden Organkonflikte, wie am Beispiel der Parlamentsauflösung demonstriert, der endgültigen Entscheidung «der über die „final authority" verfügenden Wählerschaft unterworfen. Der Monarch ist an den Willen des Volkes gebunden; i h m obliegt es dessen Spruch als·von nun an geltenden Staatswillen zu verkünden bzw. zu vollziehen 80 . Eine besondere Schöpfung der deutschen Staatsrechtslehre war die Ausstattung des Staatsoberhauptes m i t den Funktionen eines „Hüters der Verfassung" 31 . Das Modell eines „Hüters der Verfassung" enthielt insoweit starke Anklänge an den „Pouvoir neutre" Constants, als die Autorität des monarchischen Prinzips i n der plebiszitären Legitimierung des Staatsoberhauptes fortlebte; dem Hüter der Verfassung, ähnlich dem „Pouvoir neutre", auf Grund der i h m zugedachten Funktionen eine über den anderen Gewalten stehende Macht zuwachsen sollte. Der Hüter wurde als ausgleichender und leitender Wahrer von Einheit, Verfassung und Tradition gegen die pluralistischen Kräfte der Parteien*und der hinter ihnen stehenden Interessen gedacht 82 . Er sei eine „auf die Vermittlung sozialer Gruppenorganisationen nicht angewiesene, unmittelbare Handlungseinheit" 33 . Die Exponenten dieser Lehre sprachen dem parlamentarischen·Regierungssystem infolge der fortschreitenden Aufsplitterung der staatlichen Macht und des Absolutheitsanspruchs der Parteien die Fähigkeit ab, den Pluralismus der Bestrebungen i n die Einheit des 1 politischen Willens zu verwandeln 84 . Die Hüteridee ging somit zunächst von der Steigerung der Autorität des Staatsoberhauptes aus m i t dem Ziel, die Stabilisierung der parlamentarischen 1 Regierungsform zu bewirken 8 5 . 80

Küchenhoff, Günther (I), S. 72. Schmitt, Carl, Der H ü t e r der Verfassung i n : Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart, Heft 1, Tübingen 1929, S. 137. 32 Pernthaler, P., Leitsatz A 4, S. 203. 33 Schmitt, C. (I), bezüglich des Reichspräsidenten i n der Weimarer V e r fassung, S.149 -157. 34 Schmitt, C. (I), S. 83. 35 Pernthaler, P., S. 203. 31

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Die plebiszitäre Wahl sollte das m i t der Volkssouveränität ausgestattete Staatsoberhaupt unmittelbar ebenbürtig neben das Parlament stellen 86 ; beide Organe sollten zusammen die Verkörperung der Volkssouveränität bilden 8 7 . 'Es ist uns Deutschen zur geschichtlichen Erfahrung geworden, daß der plebiszitäre Ansatz dazu tendieren wird, die parlamentarische Repräsentation zu überspielen 88 . Die i n den Gedanken vom Hüter der Verfassung zum Ausdruck kommende · Neigung zur Unterordnung des pluralistischen Parlaments unter das die Aktionseinheit bildende Staatsoberhaupt beruht laut Pernthaler 8 9 auf einem „politischen Erziehungsmodell" des parlamentarischen 'Systems. Dieses sei als Durchgangsstadium geplant, die Entwicklung könne den „Weg des reifen" Parlamentarismus beschreiten oder zur Ausschaltung des Parlaments vom politischen Prozeß führen. Unter der Entwicklungsstufe des reifen Parlamentarismus versteht Pernthaler anscheinend die Ausformung des 40 englischen parlamentarischen Systems, für das die oben entwickelte Systemnormativität gilt.«An diesem gemessen, können die Funktionen eines Hüters der Verfassung nicht dem Staatsoberhaupt aufgebürdet werden. Das Endstadium des reifen parlamentarischen Systems beruht ja gerade auf der vollständigen, «grundsätzlich selbsttragenden Funktionseinheit des Parlaments, dem die Regierung, institutionell selbständig und funktionell i n enger Wechselbeziehung stehend, zugeordnet ist 4 1 . I n diesem 'Modell kann für ein Hüteramt wie für eine sonstige „komplexe Funktion" 4 2 des Staatschefs kein Raum bleiben. Die als solche i n Frage kommende Funktion des „Pouvoir neutre" ist wegen ihrer Unvereinbarkeit mit'dem Gebot der Vereinigung von Macht und politischer Verantwortlichkeit nicht zu akzeptieren; sie ist für „die Figur des konstitutionellen Monarchen geschneidert" 48 . Das republikanische Staatsoberhaupt an die parlamentarisch-politische Verantwortlichkeit zu binden, ist undurchführbar, w e i l „die Verantwortung innerhalb des Systems zu hoch läge" 4 4 . I n der modernen parlamentarischen Demokratie herrschen i n neue Formen drängende, politische Kräfte; der „mechanistischen" Konstruktion abstrakter Gewalten 45 , auf der sowohl das Modell vom „Pouvoir 86

Kimminich, O., S. 49. Pohl, Heinrich, Die Zuständigkeiten des Reichspräsidenten, i n : Anschütz, Thomas, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. I, Tübingen 1930, S. 31; Haungs, Peter (II), S. 356. 88 Pernthaler, P., S. 156. 89 Pernthaler, P., Leitsatz A 9, S. 205. 40 Kaltefleiter, W. (I), S. 26 ff. 41 Pernthaler , P., S. 205. 42 Burdeau , G. (III), S. 82. 48 Haungs , Peter (II), S. 343. 44 Kimminich, O., S. 41 f. 45 Haungs , P. (II), S. 341. 87

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neutre" als auch der Hütergedanke beruhen, entsprechen sie nicht mehr. Schließlich läßt sich aus der allgemeinen Verpflichtung des Staatspräsidenten, · verfassungswidriges Handeln zu vermeiden und die Verfassung zu wahren, keine Hüterfunktion i m engeren, obenbezeichneten Sinne ableiten 45 . Angesichts dieses negativen Ergebnisses ist noch die Kontinuitätsfunktion des Staatschefs i m parlamentarischen System zu untersuchen. Kimminich 4 7 sieht* i n ihr eine Funktion, die „weit über das Mechanische" hinaus gehe und i n der „Dynamik unserer Zeit wichtiger denn je" sei. A u d i die Verfassung der 5. französischen Republik von 1958· erwähnt i n ihrem, den präsidialen Funktionen gewidmeten A r t i kel 5 die Kontinuitätsfunktion, wenn sie sagt: „ M i t seinem Schiedsspruch gewährleistet er (der Staatspräsident, der Verf;) das ordnungsmäßige Funktionieren der öffentlichen Gewalten sowie die'Kontinuität des Staates." Dabei wird, da aus der zitierten Verfassungsbestimmung die übergeordnete „final autorithy" des Staatschefs gefolgert werden kann, die „stillere"· Kontinuitätsfunktion zugunsten des Hüters und pouvoir neutre allzusehr i n den Hintergrund gedrängt, was angesichts des auf der Grundlage des Dualismus errichteten, neuen französischen Regierungssystems von 1958 nicht verwundern mag. «Isoliert man aber die Kontinuitätsfunktion von dem sie umgebenden Inbegriff der Normen irgendeiner bestimmten Verfassung, so w i r d ihr Inhalt deutlicher. Hermens 48 sieht die·Reservefunktion 4 · sowohl nützlich als auch wenig kontrovers dort an, „ w o sie das Vakuum ausfüllt, das jede Parteiregierung auf dem Gebiete des Symbolischen kennzeichnet". Die Erwähnung des Symbols erinnert an die berühmte Aussage Walter Bagehots5® von den „dignified and efficient parts of the constitution", wobei er das monarchische Staatsoberhaupt den „würdigen" Verfassungsteilen zurechnete. Dem Staatsoberhaupt fällt dabei die «Aufgabe zu, gesetzgeberische und sonstige Willensentscheidungen der „efficient parts" zu verkünden und zum staatlichen Willen zu transformieren. Der Pluralismus der willensbildenden Auseinandersetzungen· mündet i n eine Resultante, er steigt zur „Einheit der Entschließung" 51 auf und gelangt durch das Staatsoberhaupt zur Äußerung 5 8 . Diese bewirkt die Maßgeblichkeit der Entscheidung für die 'Rechtsgemeinschaft. Ausgehend von der Symbolwirkung ist nur ein kurzer Weg zu der auf ihr beruhenden, für die 46

Kimminich, O., Leitsatz V , 21, S.93, unter Bezug auf die Situation des Bundespräsidenten. 47 Kimminich, O., S. 87/88. 48 Hermens, Ferdinand, Α., Verfassungslehre, Frankfurt/Main—Bonn 1964, S. 262. 49 Entspricht hier der Kontinuitätsfunktion. w Bagehot, W., The English Constitution, London 1963, S. 4. « Küchenhoff, Günther (I), S. 71. " Küchenhoff, Günther (II, S. 71.

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Existenz eines modernen, großflächigen Massenstaates unverzichtbaren Integrationsfunktion 5 8 . Dabei w i r d deutlich, «daß zur Ausfüllung der Symbolfunktion nur ein institutionell der Neutralität verpflichtetes Staatsoberhaupt i n der Lage ist. N u r eine der Transformation der Verfassungsordnung durch die „Constitutional Conventions"· treu bleibende, neutrale Haltung hat auch die heute unangefochtene Stellung der englischen Krone ermöglicht. Die Verkündung oder der Vollzug der Mehrheitsentscheidung durch das Staatsoberhaupt 'bewirkt ihre Akzeptierung durch die Minderheit und symbolisiert damit die Einheit des Staates 54 . Neben dem Symbolisierungsauftrag innerhalb der Kontinuitätsfunktion besteht noch eine Gruppe von Zuständigkeiten, welche die Wahrung der politischen Kontinuität sichern sollen 55 . Diese sind i n der »englischen Verfassungstheorie als „reserve power" 5 · bekannt und werden i m folgenden m i t „Reservefunktion" bezeichnet. Der Begriff war einer der·Hauptgegenstände der Aussprache auf der Tagung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer zu Graz i m Jahre 1966. Dabei gebraucht Dürig 5 7 bei der Verdeutlichung der Reservezuständigkeit Vergleiche wie „Reservetank" 'oder „Reserverad", das bei Eintritt von temporären Störungen i m Arbeiten des parlamentarischen Systems „den Karren noch i n Gang" halten soll. Bettermann 5 8 sprach von „Entstörungsfunktionen" — '„Ausfälle i m normalen Funktionieren der Verfassungsorgane" sollten durch den Staatspräsidenten „überbrückt" werden. Salzwedel 5 · betont den mäßigenden Einfluß, den der Staatspräsident auf die politischen Kräfte auszuüben habe; »gleichzeitig spricht er diesem aber die·Legitimität ab, als vierte oder fünfte K r a f t rivalisierend i n Erscheinung zu treten. Die Teilnehmer der Aussprache waren sich insoweit einig, als es hauptsächlich die Lückenausfüllung, die Überbrückung und Stützung des Mechanismus waren, die dem Staatspräsidenten als Funktion verblieben wäre. Dieser etwas mechanistischen, den Staatschef als „Oel i m Getriebe" deutenden A n ω Probleme der Integration und der Symbolfunktion behandeln z.B. Loewenstein, Karl, Beiträge zur Staatssoziologie, Tübingen 1961, S. 289; Leibholz, Gerhard, Das Wesen der Repräsentation, Berlin und Leipzig 1929, S. 36 f.; Hippel, Ernst v., Allgemeine Staatslehre, Berlin—Frankfurt 1963, S. 222 und vor allem: Smend, Rudolf, Verfassung und Verfassungsrecht, München und Leipzig 1928, S. 18 ff. M Kaltefleiter, W. (I), S. 32. 58 Insoweit wird in Abweichung von Kaltefleiter, W. (I), S. 33 Anm. Nr. 44, die Kontinuitätsfunktion als Oberbegriff für Symbol- und Reservefunktion gebraucht. M Vgl. Kaltefleiter, W. (I), S. 33. 57 VVDStRL, Friesenhahn, E., Heft 25, S. 224. 58 VVDStRL, Friesenhahn, E., Heft 25, S. 224. M VVDStRL, Friesenhahn, E., Heft 25, S. 232.

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Einleitung

schauung schließt sich sachlich die Meinung Krügers 6 0 an, der »im Staatspräsidenten die „Hebamme" sieht, welche ihre Dienste anbietet, u m die „Vitalität des Organismus" zu erhalten. Umstritten bleibt «jedoch der Inhalt der Reservezuständigkeit, wenn von Dürig* 1 i m deutschen Bundespräsidenten der echte Machtfaktor gesehen wird, der dem Parlament als „Antipode" gegenüberstehe, daß bei Nichtfunktionieren des Parlaments (z.B. i m Fall des A r t . 81) der Bundespräsident „echte Macht" ausübe. U m zu einer möglichst weitgehenden Konkretisierung des Inhalts der Reservezuständigkeit des Staatsoberhaupts i n der · parlamentarischen Demokratie zu gelangen, ist — und soweit kann Dürig wieder gefolgt werden — eine Trennung, eine Stufenbildung der staatspräsidialen Befugnisse i m a) funktionierenden und b) i n seinem Mechanismus gestörten parlamentarischen System vorzunehmen. A d a): I m funktionierenden parlamentarischen System: Initial- und Vollzugsbefugnisse i n der Reservefunktion. I m klassischen parlamentarischen System ist alle politische Entscheidungsgewalt zwischen Parlament und Regierung i n der Weise «verteilt, daß infolge der parlamentarischen Regierungsverantwortlichkeit das Parlament, d. h. seine Mehrheit, eine Neigung zur Erringung der „Suprematie" 6 2 entwickelt, welche « allerdings durch das moderne Parteiensystem sowie den Führungsanspruch der Regierung gemindert wird. Aus dem Verständnis des auf «Seiten des Parlaments i n Gestalt der Parlamentsmehrheit ruhenden Schwergewichts des Systems folgt als Hauptsatz, daß die präsidialen Funktionen kein Gegengewicht zum Parlamentswillen herstellen dürfen 63 . Die Volksvertretung bildet nach 'der repräsentativen Lehre i n Vertretung des Volkes die „volonté générale", der das Staatsoberhaupt verpflichtet ist. Als Ausfluß dieser Bindung erscheint die oben so bezeichnete „Vollzugszuständigkeit". Sie «greift stets dort ein, wo ein unter obigen Voraussetzungen entstandener, mehrheitlicher Willensentschluß den ganzen Staat als Einheit i n seiner Rechtssphäre betrifft und dies nur von der Höhe des Staatsoberhauptes aus versinnbildlicht werden kann 6 4 . Ohne Zweifel spielt hier die Kontinuitätswahrung als Teil der Symbolfunktion herein, welche aber auch viele nicht unter a) fallende 60

V V D S t R L , Friesenhahn, E., Heft 25, S. 237. V V D S t R L , Friesenhann, E., Heft 25, S. 224. 62 Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 5, zu A r t . 62. 63 Pernthaler, Leitsatz 7 b, S. 204. 64 Henke, Wilhelm, Die Bundesrepublik ohne Staatsoberhaupt, i n : DVB1. 1966, S. 723 - 729, 725. 61

C. Organbeteiligung an den Kreationsvorgängen

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Tätigkeiten des Staatschefs umfaßt. Eine m i t dem „Symboleffekt" verbundene W i r k u n g der Vollzugsbefugnis liegt i n der'mit dem präsidialen Ausspruch zur Garantie erhobenen Versicherung, daß hiermit der authentische Staatswille zum Ausdruck kommt. Die Nachprüfung der internen Willensabläufe t r i t t gegenüber »der dadurch bewirkten Sicherheit des Rechtsverkehrs zurück®5. Die Rechtssicherheit gewinnt höchste Bedeutung: nach außen gegenüber 'den Gliedern der Rechtsgemeinschaft — sie w i r k t dort als j u r i stisches Werkzeug zur Erzielung der Integrationswirkung — n a c h innen als ein auf antizipierendem Wege klare Fronten schaffender und reinigender Filter. Die dabei unerläßliche Bestimmbarkeit der Handlungen'des Staatsoberhaupts erfordert dessen spezifische, verfassungsrechtliche Loyalitätspflicht® 7 . Die Voraussehbarkeit einer Erfüllung der Vollzugsfunktion durch das Staatsoberhaupt, d.h. die Gewißheit der Erfüllung für den Fall des Vorliegens der verfassungsmäßigen Voraussetzungen mag die beteiligten'Kräfte zwingen, einen Konflikt nicht mehr bis zur Unmöglichkeit der Steuerung aufleben zu lassen oder i h n — eingedenk der berechenbaren Akte des Staatsoberhaupts — zur konsequenten Austragung zu bringen. Die Initialfunktion setzt an der Stelle 'ein, von der Krüger® 8 sagt, daß es „jemanden geben muß, der anstößt", jemanden, der „die Vitalität dieses Organismus erhält". Jene Stelle liegt i m parlamentarischen System zunächst dort, wo zwischen den Amtszeiten der Regierung und den Legislaturperioden des Parlaments Maßnahmen erforderlich sind, um die Staatsorgane mit neuen Organträgern zu besetzen®9. Aber nicht nur die „globale" Schau des Systems, sondern·auch der „mikrokosmische" Ansatz, der Blick i n das „Innenleben" der Staatsorgane, zeigt die Berechtigung der Existenz eines Initiators. Es sei der exemplarische Hinweis auf die Vorteile einer effektiven Einschaltung eines Katalysators bei Bestellungsabläufen gestattet: je größer ein Wahlkörper ist, desto weniger w i r d er i n der Lage sein, auf eigene Initiative, aus sich heraus, Kandidaturen zu entwickeln 70 . Den großen Wahlkörpern w i r d es stets schwerfallen, sich zu organisieren: sie haben ihre Bestellungs85

Küchenhoff, Günther (I), S. 70. Z u r Frage der staatl. Integration vgl. die oben bereits auf S. 57 i n A n merkung 27 angeführte Literatur. 67 Pernthaler, P., S. 204, Leitsatz 70. 68 Krüger, H. (III), Heft 25, S. 237. 69 Vgl. Kimminich, O., S. 88, der das Staatsoberhaupt bei dieser Tätigkeit als Funktionär bezeichnet. Küchenhoff, Erich, Heft 25, S. 212. 70 Sternberger, Dolf, Über Vorschlag u n d Wahl, i n : Kandidaturen zum B u n destag. Die A u s w a h l der Bundestags-Kandidaten 1957 i n zwei Bundesländern, K ö l n — B e r l i n 1961, S. 11. ββ

64

Einleitung

versuche so lange zu wiederholen, bis eine Entscheidung gefallen ist 7 1 . Die Einführung der«sogenannten „geteilten Wahl" verfolgt das Ziel, die besonders i m Falle der Verbindung von großen Wahlkörpern und ungeteilter Wahl auftretenden Schwierigkeiten der Willensbildung zu überwinden. Hier kooperieren Vorschlags- und Wahlkörper. «Die Nominierung von Kandidaten durch eine außerhalb des Wahlkörpers stehende Gruppe zeitigt einen Drang zur Kristallisation von Parteien und damit zum rascher «gefundenen Ergebnis 71 . Das Staatsoberhaupt, dem die Erfüllung der Initialfunktion obliegt, ist der optimale Träger dieser Vorschlags- bzw. Aussonderungszuständigkeit, die einen bestimmten Verfahrensablauf durch Anstoß i n Gang setzt und dem · Entscheidungskörper die Willensbildung erleichtert. Gerade i m parlamentarischen System, das auf einer gewissen, wechselseitigen Zuordnung der einzelnen Institutionen 7 3 , auf einer Vielzahl jeweils i n sich geschlossener Balanceverhältnisse 74 aufbaut, kommt dem Staatschef als i m Rahmen der Initialzuständigkeiten wirkendes Vitalitätsaggregat erhebliche Bedeutung zu. A d b ) : Bei Nichtfunktionieren des parlamentarischen Systems: Das Staatsoberhaupt als Entscheidungsträger. Die oben als Kernsatz des parlamentarischen Systems bezeichnete „Prädominanz" 7 5 des demokratisch gewählten Parlaments, die zur Folge hat, daß sich das Staatsoberhaupt dem politischen Votum· des Parlaments beugt, bleibt grundsätzlich bestehen. Die Schwelle für die Erhebung des Staatsoberhauptes vom Entscheidungsinitiator bzw. -Vollstrecker zum Entscheidungsträger bildet das „Nichtfunktionieren" des parlamentarischen Systems, d. h. der irgendwie geartete Ausfall der „Funktionseinheit" 7 · von Parlament (Parlamentmehrheit) und Regierung, meistens bewirkt durch pluralistische Auflösung des Parteiensystems und vor «allem bedeutsam i n der Kreations- aber auch unter Umständen i n der Legislativfunktion 7 7 . M i t der wiedereinsetzenden Funktionsfähigkeit des Parlaments t r i t t audi hier das Staatsoberhaupt aus ' dem Raum der Entscheidungsmacht zurück; seine Reservemacht ist „auflösend bedingt durch die Entscheidungsfähigkeit des Parlaments" 78 . Neben der Unfähigkeit der Mehrheitsbildung liegt ein weiterer Ansatzpunkt zur Aktivierung zur Reservemacht i m schwer zu erschöpfenden 71

Sternberger, Dolf, Über Vorschlag u n d Wahl, i n : Kandidaturen zum Bundestag, K ö l n — B e r l i n 1961, S. 48. 7Î Sternberger, Dolf (III), S. 22. 73 Kaltefleiter, W. (I), S. 18. 74 Pernthaler, P., S. 204 = Leitsatz 6 b. 75 Knöpfle, Franz, i n : V V D S t R L , Heft 25, S. 244. 78 Pernthaler, P., S. 205 = Leitsatz Α . 9. 77 A l s typischstes Beispiel sei hier auf A r t . 81 G G verwiesen. 78 Maunz—Düng—Herzog, S. 224.

C. Organbeteiligung an den Kreationsvorgängen

65

Inhalt des· Begriffs „Nationaler Notstand". Seine Definition 1st nicht möglich. Kaltefleiter 7 9 sieht die nationale Krise dann als eingetreten, „wenn das Eingreifen des Staatsoberhauptes i m Gegensatz zu sämtlichen Verfassungsregeln sinnvoll sein kann, u m das demokratische •Regierungssystem zu erhalten". Der Gedanke der Machtvollkommenheit aus „staatlicher Not" w i r d auch von Loewenstein 80 vertreten, wenn er sagt: . . . „bei denen der Krone Machtvollkommenheiten nach A r t der Diktatur i m republikanischen Rom (constitutionis conservandae causa) zuwachsen, von denen sich die Schulweisheit staatlicher Normalität nichts träumen läßt". Was den grundsätzlichen Ansatz anbelangt, kann Kaltefleiter · gefolgt werden. Bei Vorliegen einer kraft geschriebener Verfassung normierten staatliche Ordnung ist aber wenigstens der Versuch einer weiteren Konkretisierung innerhalb des Normensystems notwendig, u m die Reservemacht des Staatspräsidenten zu hindern, als Werkzeug zur· allgemeinen Uberwindung des parlamentarischen Systems benutzt zu werden 81 . Das Staatsoberhaupt ist i n der Wahl seiner M i t t e l durch das Ziel der konkreten Störungsbeseitigung begrenzt. Die Grenzen der Reservemacht würden auch'bei einem prophylaktischen Eingreifen zur Abwehr abstrakter Gefährdungen des reibungslosen systemnormativen Funktionierens überschritten werden. Man könnte daher bereits allgemein formulieren, daß sich die Reservemacht·im Falle einer allgemeinen Verfassungskrise i m Sinne der oben versuchten Umschreibung, unter Einbeziehung des Verfassungsmißbrauchs, i n der Verhinderungsmacht erschöpft. Auch kann i m Rahmen einer positivrechtlich niedergelegten Verfassungsordnung eine äußerste Grenze der präsidialen Reservemacht i n dem Bereiche gezogen werden, wo i n den Normen selbst kraft Befugniszuweisung und Kompetenzabgrenzung »das Zuordnungsschema für die Tätigkeit der obersten Staatsorgane errichtet ist. Die weitere Untersuchung dient durch den Rückgriff auf die i n der englischen Verfassungstheorie gebräuchliche Unterscheidung zwischen „legal, constitutional und l i v i n g constitution" einer Konkretisierung 8 2 . Dabei hat der Begriff „living-constitution" etwa die Bedeutung von tatsächlichem Zustand des Verfassungslebens i n einem »bestimmten Zeitraum, ist also etwa m i t „Verfassungswirklichkeit" zu übersetzen. „Legal" beinhaltet die rechtlichen Grundlagen der Verfassung, die aus den verschiedensten Quellen fließen; »so etwa geschriebenes Recht „statute l a w " aus der Gesetzgebung, sowie Recht, das durch richterliche Spruchtätigkeit entsteht und weiter entwickelt w i r d (judicial precedent). 79

Kaltefleiter, W. (I), S. 49. Loewenstein, K , Staatsrecht u n d Staatspraxis i n Großbritannien, Berlin—Heidelberg, 1967, S. 523. 81 Pernthaler, P., S. 206 = Leitsatz A 12. 82 Kaltefleiter, W. (I), S. 18, meint demgegenüber, daß f ü r diese U n t e r scheidung i m „deutschen verfassungsrechtlichen Denken k e i n R a u m sei". 80

5 Lippert

66

Einleitung

Neben den beiden Hauptrechtsquellen „legislation" »und „judicial precedent" existieren als Nebenrechtsquellen Gewohnheit und wissenschaftliche Literatur 8 3 . Die Gewohnheit kann sich heute grundsätzlich nur mehr durch Transformation i n gesetztes Recht'entwickeln. Der Begriff „Constitutional" schließlich umfaßt „die Regelungen, die sich aus dem Gesamtzusammenhang des Regierungssystems ergeben, sie verdeutlichen den systemnormativen Aspekt" 8 4 . Das M i t t e l aber, · das für den angelsächsischen Rechtskreis die i m kontinental-europäischen, staatsrechtlichen Denken verwurzelte Auffassung von der Spannung zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit i n ihrer Bedeutung stark reduziert, sind die „conventions" 85 . Sie erwachsen aus 'Gewohnheit, ausdrücklichem oder stillschweigendem Konsens der Beteiligten und, sobald sie ins Leben getreten sind, zollt man ihnen aus Gründen der politischen Einsicht und der von der Tradition ausgeübten Autorität Beachtung 86 . Sie bewirken, daß sich die Verfassung ständig den Erfordernissen der Zeit anpaßt („slowly moving w i t h the time"). Sie sind es, welche an das Gerippe des m i t „Legal" gekennzeichneten Teils der'Verfassung erst das Fleisch der tatsächlich lebenden Verfassung ansetzen. „Constitutional" bedeutet demzufolge die Verfassung, wie sie sich i n ihrer Ausgestaltung durch die „Conventions" darstellt. Die Kombination der Begriffe „Legal", „Constitutional" und «„Living Constitution" kann für deutsche Verfassungsrechtsdenken dann fruchtbar gemacht werden, wenn man, u m auch bei widersprüchlich formulierten Verfassungsbestimmungen zu vertretbaren systemadäquaten Lösungen »zu gelangen, beim von der Verfassung normierten „Funktionszusammenhang" ansetzt 87 und nach den Konsequenzen der Entscheidung des Verfassungsgebers fragt. Die aus der verfassungsrechtlich normierten Ordnung abzuleitenden Forderungen, bei deren Nichterfüllung das Regierungssystem nicht störungsfrei arbeiten könnte, werden als „systemnormativ" bezeichnet 88 . Die Erfüllung der besprochenen systemnormativen Forderungen w i r d i n der britischen Verfassungsordnung durch die Conventions bewerkstelligt. I n geschriebenen Verfassungen haben ·systemnormative Forderungen ihren Sitz oft i n den Kompetenznormen. Soviel sei hier schon angedeutet, daß die Zuständigkeitsnormen komplexen Inhalts sind, und der Gebrauch zivilrechtlicher 'Denkkategorien von „Rechten 83 Vgl. hierzu James, Philip, S., Introduction to English L a w , 6th edition, London 1966, S. 8 - 18. 84 Kaltefleiter, W. (I), S. 19. 85 F ü r die Darstellung ihrer Entstehung, Hintergründe u n d W i r k u n g , s. die Darstellung i m 1. Hauptteil, 2. Kapitel, 2. Abschnitt. 88 James, S. Philip, S. 127. 87 Krüger, H. (I), S. 236. 88 Kaltefleiter, W. (I), S. 18.

C. Organbeteiligung an den Kreationsvorgängen

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und Ansprüchen" nicht zum Ziele führen kann 8 9 . Vielmehr regeln die Kompetenznormen auf fast mechanistisch anmutende Weise den sich wiederum eigentlich automatisch vollziehenden'Beziehungsablauf zwischen den Trägern obiger ZuordnungsVerhältnisse. Hier, i n den Zuständigkeitsnormen, wo sich Verpflichtung und Berechtigung treffen, liegen die Einbruchsstellen der systemnormativen Forderungen. Diese 'müssen m i t über die Gewichtsverteilung zwischen Verpflichtung und Berechtigung i n der praktischen Anwendung 'der Normen bestimmen, also i n der Interpretation i n bestimmten Fällen zum Tragen kommen. A u f der höchsten, abstraktesten Stufe stehen sich der „Legal"-Bereich und die Verfassung i m Sinne des geschriebenen Textes gegenüber, während auf unterster Stufe die „ L i v i n g Constitution" der Verfassungswirklichkeit entspricht. A n Hand der Kompetenznormen kann nun — bezüglich der durch eine positivierte Verfassung bestimmten Ordnung — zum Abstecken der äußersten Grenzen der Reservemacht des Staatsoberhauptes geschritten werden. Den K e r n der Kompetenznorm bildet der „Verpflichtungshof", der die-vom Staatsoberhaupt i m funktionierten System regelmäßig ausgeübten Funktionen darstellen soll. Bei „Ausfall" des Systems schlägt die Vollzugsfunktion i n Reservemacht um, und die Grenze zur Berechtigung w i r d überschritten. Das Staatsoberhaupt befindet · sich hier i m Felde der Verhinderungsmacht, wobei es bei der äußeren Linie an die verfassungsrechtlich,·„legal", gezogenen Schranken der Reservemacht stößt. Unter die obige Scheidung von „Legal" und „Constitutional" subsumiert, bedeutet die Verpflichtung systemnormative Forderung bzw. „Convention" die Berechtigung »„Legal", also von der Verfassung i m juristischen Sinne gerechtfertigtes Verhalten 9 0 . Schaubild 1 = Berechtigung = Reservemacht = Legal = Verpflichtungshof = Vollzugsfunktion = Konventional 1. = Grenze der F u n k t i o n Überschreiten n u r i m F a l l der verletzten N o r mativität 2. = Grenze d. Berechtigung bei Überschreiten: Verfassungswidrigkeit wegen Überschreitung der Reservemacht 89 Ausführliches zum Problem der Kompetenznorm: Barfuß, Walter, Ressortzuständigkeit u n d Vollzugsklausel, i n : Forschungen aus Staat u n d Recht, Bd. 7,1968; zum komplexen Inhalt, insbesondere Barfuß, W., S. 9. ·< 9 9 Vgl. Schema i m Schaubild 1. 5*

Einleitung

68

Π Ι . Programmierung: Beteiligung des Staatsoberhaupts an den Bestellungen und Amtsbeendigungsvorgängen

Die i m Wege der funktionalen Fragestellung gewonnenen Ergebnisse über die idealtypischen Gestaltungen des parlamentarischen Regierungssystems, einschließlich der an das Staatsoberhaupt zu richtenden Rollenerwartung, müssen nun wenigstens ansatzweise i n Entscheidungsergebnisse solcher A r t überführt werden, daß sie für die juristische Interpretation als Entscheidungshilfen dann aktualisiert werden können, wenn die fraglichen Verfassungsnormen die Bedingungen bestimmter Entscheidungen nicht eindeutig formulieren. Eine Reduzierung der systemabhängigen Problemzusammenhänge erreichen w i r gemäß der gestellten Aufgabe, indem w i r nur die Bestellung und Amtsbeendigung der Regierungschefs sowie die Parlamentsauflösung einer Betrachtung unterziehen. Dabei steht die Frage nach der Beteiligung des i m parlamentarischen System hierzu durch die Kontinuitätsfunktion legitimierten Staatsoberhauptes i m Vordergrund, w e i l er i n den meisten Fällen an den genannten drei Vorgängen beteiligt ist 1 . Dabei ist wiederum zwischen dem arbeitsfähigen und dem nichtfunktionierenden System zu unterscheiden. 1. Die Amtseinsetzung des Regierungschefs

a) Im funktionierenden

parlamentarischen

System

Das Staatsoberhaupt handelt hier i n Ausübung der Initiativ- bzw. Vollzugsbefugnis i m Rahmen der Reservefunktion. Formeller oder materieller Entscheidungsträger· ist das Parlament. Das Staatsoberhaupt handelt insoweit „unselbständig" 2 , „ancillary" 3 , als es nicht Träger der Entscheidungsgewalt ist. Von der konkreten verfassungsrechtlichen Ausgestaltung des jeweiligen Staates hängt es dann ab, auf welcher Funktion der* Schwerpunkt beruht. Er liegt auf der Initialfunktion, wenn der Staatschef den Anstoß zur Entscheidung durch einen an den Entscheidungsträger gerichteten Vorschlag oder durch Ernennung des Kandidaten· gibt. Dabei handelt es sich nicht u m eine ermessensfreie Benennung, sondern u m eine gebundene Ernennung, weil der Wille der parlamentarischen Mehrheit wegen des Gebotes des parlamentarischen Vertrauens antizipiert werden muß. Die endgültige Entscheidung liegt dabei beim Parlament. Die Vollzugsfunk1

Vgl. hierzu das ausführliche rechtsvergleichende Material bei beck, P., S. 28 ff. 2 Kehlenbeck, P., S. 29. 8 Jennings, W. I. (I), S. 303.

Kehlen-

C. Organbeteiligung an den Kreationsvorgängen

69

tion schließt sich oft insoweit an, als das Staatsoberhaupt die Ernennung des vom Parlament materiell bestellten «Amtsträgers formell zu vollziehen hat. Der Fall der „reinen" präsidialen Vollzugsfunktion liegt dann vor, wenn die Initiative beim Parlament liegt. Dann hat das Staatsoberhaupt den ohne seine Katalysatorenfunktion gebildeten Parlamentswillen zu vollziehen. Beiden Spielarten ist gemeinsam, daß das Staatsoberhaupt ohne eigenen Ermessungsspielraum vollzieht, wobei er i m Falle der eigenen Initiativmöglichkeit immerhin· den Parlamentswillen auszuloten, zu antizipieren und i n der formalen Ernennung zu verwirklichen hat — was seiner «Aktivität und seinen staatsmännischen Eigenschaften großen Kaum gewähren mag. b) Im nichtfunktionierenden

parlamentarischen

System

Von einem nichtfunktionierenden parlamentarischen System i m Stadium der Regierungsbildung kann dann gesprochen werden, wenn das Parlament nicht i n der «Lage ist, seine materielle oder formelle Wahlfunktion wahrzunehmen. Dies vermag i m Mehrparteiensystem am Unvermögen zur Koalitionsbildung liegen, während i m Zweiparteiensystem das Fehlen eines anerkannten „leaders" der Grund »für den Ausfall sein kann. Die politische Kontinuitätsfunktion verpflichtet den Staatschef durch seine Mithilfe zu einer möglichst schnellen Regierungsbildung beizutragen 4 .'Sollte jedoch eine Initiative nicht zur endgültigen Berufung eines Regierungschefs oder zur Bildung einer Mehrheitsregierung führen oder — je nach der konkreten verfassungsrechtlichen Ausgestaltung — er seine Vollzugsfunktion i n Form der Ernennung des vom Parlament gewählten Kandidaten nicht ausüben können, so schlägt seine Reservefunktion u m i n Reservemacht. Dann können dem Staatschef Entscheidungsalternativen zuwachsen, die freilich i m Rahmen des von der Verfassung determinierten Ermessensspielraums bleiben. Dies bedeutet, daß die politische Neutralität insoweit gewahrt werden muß, als persönliche Ziele nicht zu verfolgen sind, sondern der Zweck ausschließlich i n der möglichst raschen Bildung einer arbeitsfähigen Regierung liegt 5 . Dabei sind zwei Wege möglich: Ist das Staatsoberhaupt m i t der Initialfunktion ausgestattet, so ernennt es den Führer der realtiv stärksten «Gruppe zum Regierungschef und m i t Hilfe der i m Hintergrund bereitstehenden Parlamentsauflösung w i r d versucht, eine Tolerierungsmehrheit zu finden®. E i n bedeutsames Beispiel 4 Das betont auch Jennings , W. J.: The kings task is only to secure a government." (Die Aufgabe des Königs besteht n u r darin, die Regierung zu unterstützen.) Jennings , W. J. (I), S. 30. 5 Kaltefleiter, W. (I), S. 48. 6 Kaltefleiter, W. (I), S. 53.

70

Einleitung

infolge -seiner stufenweisen Herabsetzung der zu fordernden parlamentarischen Legitimierung bildet Art. 63 GG. Diese Bestimmung unternimmt es, die präsidiale Reservemacht des Bundespräsidenten i n ihrem Abs. I V i n verfassungsrechtliche Formeln zu gießen und den Bundespräsidenten als Legitimitätsbrücke einzusetzen7. Obliegt dem Staatspräsidenten die Vollzugsfunktion, so w i r d er ebenfalls den Kandidaten der relativ stärksten Gruppe ernennen und die Minderheitenregierung w i r d sich m i t dem M i t t e l der Auflösung einen Tolerierungsrückhalt i m Parlament suchen. Die Ermessensausdehnung i m Rahmen der Reservemacht liegt also bei der Bestellung im'nichtfunktionierenden, zur absoluten Mehrheitsbildung unfähigen, parlamentarischen System i n der Befugnis des Staatspräsidenten, mittels der Auflösung und Neuwahlen das Volk anzurufen, u m die'Wahlentscheidung zu korrigieren als auch i n der Benennungsbefugnis eines Regierungschefs. 2. Die Amtsbeendigung des Regierungschefs

a) Im funktionierenden

System

Der Hauptgrundsatz des parlamentarischen Systems: die 'ausschließliche Regierungsverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament, schließt die Möglichkeit einer „autoritären Entlassung" des Regierungschefs durch das Staatsoberhaupt von vorneherein aus. Diesem obliegt regelmäßig, die Entlassung des Regierungschefs nach dessen Demission oder nach einem entsprechenden parlamentarischen Willensakt bzw. einem bestimmten Wahlergebnis, zu · vollziehen. Er bewegt sich dabei i m Bereich der bloßen Vollzugsfunktion. b) Im nichtfunktionierenden

System

Eine ein präsidiales Eingreifen unnötig machende, positiv-rechtliche Sicherung liegt vor, wenn Amtsende der Regierung und Ende der Legislaturperiode zusammenfallen. 3. Die Auflösung des Parlaments

a) Im Normalf all Die aus der Entscheidung für das parlamentarische Regierungssystem folgende, allgemeine Systemnormativität sowie die vom Staatsoberhaupt wahrzunehmende Rolle schließen einige der'bereits genannten Auflösungsarten, als i m Widerspruch zu den Anforderungen des Systems stehend, aus. Dies hindert freilich den jeweiligen Verfassungsgeber nicht daran, sich beliebig zu entscheiden: wie die Verfassungspraxis verschie7 Vgl. hierzu die näheren Ausführungen i m 2. Hauptteil, 2. Kapitel, 3. A b schnitt.

C. Organbeteiligung an den Kreationsvorgängen

71

dener Länder nachzuweisen vermag, lieferte gerade eine systemfremde Normierung der Auflösung den Drehpunkt für den Hebel der zur Uberwindung des parlamentarischen Systems »tendierenden Kräfte. I m folgenden soll daher die idealtypische Gestaltung der Auflösung, d.h. insbesondere die Beteiligungsform der Verfassungsorgane, dargestellt werden. Die Unterscheidung von funktionierendem und nichtfunktionierendem System »muß bei der Betrachtung des Auflösungsrechts überprüft werden: da eine Disharmonie zwischen der Regierung und ihrer parlamentarischen Anhängerschaft als „Anlaß" der ministeriellen Auflösung bezeichnet wird 8 , ist fraglich, ob nicht sämtliche Auflösungsfälle als Geburten des nichtfunktionierenden Systems anzusehen sind. Zwar weist Scheuner 0 auf den von der britischen Unterhausauflösung durchmessenen Bedeutungswandel hin. »Doch auch bei Akzeptierung von Scheuners Prämisse bleibt als weitere mögliche Anwendungsalternative der „Kabinettsfall" Carl Schmitts bestehen. T r i t t dieser ein, so kann von einem funktionierendem System eigentlich nicht mehr gesprochen werden, da eine „Krise der Mehrheit" die parlamentarische Funktionsfähigkeit bedroht. Gerade durch die Auflösung soll eine Klärung der Situation erreicht und ein neu legitimiertes Weiterarbeiten von Parlament und Regierung gesichert werden 10 . Es ist deshalb angemessen, diesen zwar gestörten, aber zu den Spielregeln des Systems gehörenden und insbesondere von seiner modernen, demokratischen Ausgestaltung als notwendig erachteten Ablauf als „Normalfall" zu bezeichnen 11 . U m den Standort der Schwelle zu markieren, bei deren Uberschreiten die Reservefunktion des Staatspräsidenten i n die Reservemacht umschlägt, ist der Rückgriff auf die systemnormativen Regelhaftigkeiten notwendig 1 2 . Verstößt ζ. B. ein am A u f lösungsverfahren beteiligtes Staatsorgan, etwa die Regierung, gegen diese Gruppe von Regeln, so würde mit'Uberschreiten der Schwelle eine das Eingreifen des Staatsoberhauptes legalisierende Krisensituation geschaffen: die Grenzen des präsidialen Ermessensbereiches würden jetzt den von der Verfassung gewährten äußersten Spielraum umfassen und sich m i t den Schranken der als „legal" bezeichneten Sphäre decken 13 . Daher sollen i n diesem Abschnitt das Begriffspaar „Normalfall" und 8

Schmitt, Carl (V), S. 354. Kehlenbeck, P., Aussprache zu Friesenhahn, S. 125. 10 Schmitt, C. (V), S. 354. 11 Kehlenbeck, P., Aussprache zu Friesenhahn, S. 125. 12 Kaltefleiter, W. (I), S. 18. 13 Vgl. dazu: Moodie, G. C., The C r o w n and Parliament, i n Parliamentary Affairs, Voex 1956/57, S. 261, „The Monarch i n this case has a d u t y to defend, against ministerial pressure, the political system". (Übersetzung: Der Monarch hat i n diesem F a l l die Pflicht, die Verfassungsordnung gegen den Druck der Minister zu verteidigen.) 9

72

Einleitung

„Verletzung der Systemnormativität" ' Verwendung finden, wobei letzterer Tatbestand unter Einbeziehung des Verfassungsbruchs verstanden wird. Es wurde bereits festgestellt 14 , daß sich i m Normalfall das Staatsoberhaupt bei Wahrnehmung der Reservezuständigkeit innerhalb der systemnormativen Grenzen bewegt, d. h. vom Entscheidungsträger zum Entscheidungsvorbereiter, -anreger oder -Vollstrecker geworden ist. Die „ministerielle Auflösung" beruht i n ihren Wirksamkeitsvoraussetzungen 15 darauf, daß sie „ i n den Händen" ' der Regierung, also des Regierungschefs bzw. Kabinetts, liegt 1 *. „ I n den Händen liegen" bedeutet dabei die materielle Verfügungsbefugnis über den Einsatz der Auflösung. 'Gegenüber der Bedeutung dieser materiellen Zuordnung des Auflösungsrechts t r i t t die Frage der formalen Zuständigkeit i n den Hintergrund 1 7 . Sollte i n einer Verfassung das Recht der Parlamentsauflösung formal dem Staatsoberhaupt zustehen, so knüpft sich'daran allerdings die Frage, ob i h m damit gleichzeitig ein gewisser Ermessensbereich eingeräumt wird. Gegen eine Entscheidungsträgerschaft des Staatsoberhauptes spricht schon seine Verpflichtung zum parteipolitisch-neutralen Wirken, welche erst die Voraussetzung für eine optimale Erfüllung der Kontinuitätsfunktion schafft. Würde die Entscheidung über den Einsatz der Waffe der Auflösung i n seiner Diskretion liegen, so könnte er einen Regierungschef von i h m genehmer politischer Richtung durch Gewährung der Auflösung i m Amte halten, einem von einer anderen Partei getragenen Regierungschef aber die Auflösung verweigern und i h n dadurch zum Rücktritt zwingen. Die Folge bestünde i n jedem Falle i n der Auslieferung des Präsidenten an den Streit der Parteien m i t allen darin begriffenen Konsequenzen für die faktische Stellung der Staatsspitze i m Verfassungsleben. Ein weiteres Argument gegen ein präsidiales Ermessen i m Auflösungsverfahren fließt aus den systemnormativen Zusammenhängen. Es wurde gezeigt, daß jene Ordnung i m wirklichen Verfassungsleben bestimmt w i r d durch die „engen personellen Beziehungen zwischen der Regierung und den Mehrheitsparteien" 18 . Das Zusammenspiel zwischen Regierung und ihrer parlamentarischen Mehrheit w i r d dabei vom „Zwang zu Kooperation und Koalition" beherrscht 19 . 14

Schmitt, Carl (V), S. 354/55. Schmitt, Carl (V), S. 354/355. 1β Schmitt, Carl, ebenda; Nuscheier, F., S. 77 ff. 17 Scheuner, U. (III), S. 354, u n d Schmitt, C. (V), S. 355, unter Hinweis auf das englische Beispiel. 18 Fraenkel, E. u n d K . - D . Bracher (Hrsg.), Stichwort „Parlamentarisches Regierungssystem", i n : Staat u n d Politik, Fischer-Lexikon, Band 2, F r a n k f u r t / M a i n 1957, S. 239. 19 Bracher, K.-D., Deutschland zwischen Demokratie u n d D i k t a t u r , Bern— München 1964, S. 38, 15

C. Organbeteiligung an den Kreationsvorgängen

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Darin liegt auch eine kompromißfördernde und Verantwortung auferlegende Macht. Die Effektivität des Systems beruht nicht auf einem schroffen, isolierten Gegeneinander der Funktionsträger, sondern auf ihrer Zuordnung, ja Zusammenarbeit i n einem Vertrauensverhältnis 20 . Dabei spielt sich das Ringen u m Annäherung und Kompromiß ständig unter der i m demokratischen Staat notwendigen Antizipation des Wählerwillens 2 1 ab, d. h. das eigene Verhalten w i r d von der vermuteten Zustimmung der Wählerschaft geleitet. Sollten Regierung und Regierungsmehrheit anläßlich einer bestimmten, politisch erheblichen Frage zu einer differierenden Einschätzung des Wählerwillens gelangen, kann dies zum E i n t r i t t jenes von Carl Schmitt 2 2 besprochenen „Kabinettsfalls" führen. Dabei müssen Regierung und Parlament das Aktionszentrum sein, i n dem verantwortete Politik betrieben wird. Der Zwang zu Kompromiß und Verantwortung verliert an verpflichtender Kraft, wenn die materielle Ermessensentscheidung über die Parlamentsauflösung dem Staatspräsidenten zugestanden wird, da sich die Parteien von einem außerhalb des Kristallisationszentrums stehenden Staatsorgan stets die befreiende Hilfe aus der „Blockade" erhoffen werden. Eine eindeutige Entscheidung gegen den Staatspräsidenten als Ermessensträger der Parlamentsauflösung w i r d durch die Besinnung auf die Grundnorm der parlamentarischen Regierungsweise, nämlich der parlamentarischen Bestandabhängigkeit der Exekutive erzwungen: Würde dem Staatspräsidenten das Auflösungsermessen übertragen, so verfügte dieser bei E i n t r i t t des Kabinettfalles über erhebliche Einflußmöglichkeiten, ja letztlich könnte er sogar über den Amtsverbleib des u m Stabilisierung oder Vergrößerung seiner Mehrheit ringenden Regierungschefs entscheiden. Indem er die Auflösung von zu erfüllenden Bedingungen abhängig macht, würde er seine persönliche Politik betreiben und zum eigentlichen Richtlinienbestimmer erwachsen. Das „präsidiale" Auflösungsrecht würde zu einer doppelten Abhängigkeit der parlamentarischen Regierung von Parlament und Staatspräsidenten führen. Die Regierung müßte i m Interesse ihres Amtsverbleibs einen Konflikt m i t dem Staatsoberhaupt u m jeden Preis zu vermeiden suchen 23 . Für den „Normalfall" ist somit daran festzuhalten, daß ausschließlich der Regierung bzw. dem Regierungschef die materielle Verfügungsbe20 Bäumlin, Richard, Die Kontrolle des Parlaments über Regierung u n d Verwaltung, i n : Referate u n d Mitteilungen des Schweizer Juristenvereins, Bd. 85, Basel 1966, S. 186 f. 21 Kaltefleiter, W. (I), S. 31. 22 Schmitt, Carl (V), S. 354. 23 So auch Scheuner, U. (III), S. 354; dabei w i r d nicht ganz deutlich, ob Scheuner damit die Unvereinbarkeit des präsidialen Ermessens meint. Sicher ist aber, daß er ein materiales Entscheidungsermessen des Staatspräsidenten als m i t dem parlamentarischen System unvereinbar ablehnt.

Einleitung

74

fugnis über den Einsatz der Auflösung zustehen muß. Das Auflösungsrecht als plebiszitäres M i t t e l zur Stabilisierung, Homogenisierung und Vergrößerung der Mehrheit gelangt nur dann zu voller Wirksamkeit, wenn es dem Regierungschef m i t Sicherheit zur Verfügung steht, die Auflösung also vom Staatsoberhaupt nur formal zu vollziehen ist und die Entscheidung über das Ob der Auflösung — das Vorliegen ihrer sonstigen verfassungsrechtlichen Voraussetzungen vorausgesetzt — i m ausschließlichen Ermessen des Regierungschefs oder der Regierung liegt. Das Staatsoberhaupt handelt, indem er das Parlament auflöst, i n Erfüllung seiner Vollzugsfunktion, wobei durch die formale Vornahme auf höchster staatlicher Ebene auch ein der Rechtsgemeinschaft sichtbarer „Symboleffekt" angestrebt wird. b) Die Auf lösung im Falle einer Verletzung der Systemnormativität Die Beschränkung des Staatspräsidenten auf den m i t dem Ausdruck „constitutional" gekennzeichneten Bereich der vollziehenden Reservezuständigkeit kann dann nicht mehr Geltung haben, wenn etwa der Regierungschef m i t der Auflösung die systemnormativen Regeln verletzen oder einen Verfassungsbruch anstreben würde. Zwar ist es auch hier nicht möglich, den Tatbestand der Verfassungskrise zu definieren, doch mögen die beiden vorangegangenen Beispiele als Unterfälle dienen. Bei deren E i n t r i t t ist wiederum die Grenze zwischen „constitutional" und „legal" überschritten, dem Staatspräsidenten wächst mit der Reservemacht innerhalb des „legal"-bereiches Ermessen und die Entscheidungsträgerschaft zu. Er w i r d unter vollem Gebrauch des von der Reservemacht gelieferten Instrumentariums zum Verteidiger der Verfassungsordnung und der i n ihr zum Tragen kommenden Systemnormativität, indem er selbst deren Grenzen überschreitet 24 . Dabei handelt es sich u m „vollzugsverhindernde" Reservemacht — der Staatspräsident kann es ablehnen, die Auflösung zu verfügen. Als Ergebnis einer Programmierung der Beteiligung von Verfassungsorganen i m Auflösungsverfahren läßt sich festhalten, daß 1. i m Normalfall der Staatspräsident i m Rahmen der Vollzugsfunktion verpflichtet ist, das Parlament bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen auf Antrag der Regierung aufzulösen. Der Regierungschef bzw. das Kabinett sind Inhaber der Entscheidungsmacht, der Staatspräsident deren Vollstrecker. Diese Grundsätze beanspruchen u m so mehr Geltung für den Fall, daß sich ein verdecktes oder offenes Selbstauflösungsrecht der Parlamentsmehrheit entwickelt haben sollte. 24

Vgl. Moodie, G. C. (II), S. 261.

C. Organbeteiligung an den Kreationsvorgängen

75

2. I m Falle verletzter Systemnormativität einschließlich des Verfassungsbruchs wächst dem Staatsoberhaupt dagegen Reservemacht zu. I n seiner dann wiederauflebenden Eigenschaft als Verteidiger von Verfassung und damit Regierungssystem hat er das Recht und die Pflicht, die Auflösung zu verhindern.

ERSTER H A U P T T E I L

Berufung des Regierungschefs

Erstes Kapitel

Amteeineetzung des britischen Premierministers „The Cabinet and the Prime Minister are of all English political institutions the most characteristic. Taken together, they are the pivot round which the whole political machine practically revolves 1 ." Diese Aussage eines wissenschaftlichen Autors ist dem Beobachter der Tagespolitik bereits ohne nähere Betrachtung bewußt geworden. Er weiß, daß der Prime Minister den Mittelpunkt der Regierung und des politischen Lebens bildet, die Politik Großbritanniens bestimmt und gleichzeitig eine i m Vergleich zu entsprechenden Stellungen i n anderen Staaten äußerst stabile Position bekleidet. I m eklatanten Gegensatz dazu steht die rechtliche Nichtexistenz des Amtes. Wohl hat der Prime M i n i ster i n jüngster Zeit auch gesetzliche Erwähnung gefunden, und er bezieht als gleichzeitiger Inhaber des Amtes eines First Lord of the Treasury ein Jahresgehalt von 14 000 Pfund. Doch sowohl A m t als Zuständigkeit ermangeln der statutarischen Grundlage 2 . Das Kabinett sowie das A m t des Premierministers sind, ebenso wie die von beiden wahrgenommenen Zuständigkeiten, Ausformungen der politischen Praxis. Demzufolge können auch die Amtseinsetzung und das Amtsende des Regierungschefs nicht statutarisch geregelt sein. Bei der Suche nach den rechtlichen Grundlagen der Premierbestellung stößt man auf eine weitere Eigentümlichkeit der britischen Verfassungs1 Marriott, John A r t h u r Ransom, English political Institutions, 3rd E d i tion, Oxford 1925, S. 69. Übersetzung: „Das K a b i n e t t u n d der Premierminister sind v o n allen englischen Institutionen die charakteristischsten. Ganz allgemein gesprochen sind sie der Drehpunkt, u m den sich praktisch das ganze Regierungssystem dreht." 2 Die erste statutarische Grundlage w a r der Chequers Estate A c t v o n 1917, 6 u n d 7 Geo. r, c 55. Der Prime Minister fand noch Aufnahme i n the Ministers of the Crown Act, 1937. Jennings , W. I., The l a w and the constitution 4th edition reprinted, London 1948, S. 70.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Ordnung: Großbritannien erweist sich hinsichtlich seiner Staatsform noch heute als konstitutionelle Monarchie, während die Regierungsform dem parlamentarischen System folgt 3 . Aus der britischen Staatsform folgt die allgemein anerkannte verfassungsrechtliche Tatsache, daß die Amtseinsetzung des Prime Ministers dem Monarchen als dem Oberhaupt des Staates i m Rahmen der „Royal Prerogative" zusteht 4 .

Erster Abschnitt

Die „Royal Prerogative" als Grundlage der Auswahl des Premierministers durch den Monarchen I . Geschichte und Wesen der R o y a l Prerogative

Die königliche Prärogative findet bei Dicey 1 folgende Begriffsbestimmung: „The Prerogative applies to be . . . the residue of discretionary or arbitrary authority, which at any given time is legally left i n the hands of the Crown" . . . M i t Hilfe einer skizzenhaften Darstellung der geschichtlichen Entwicklung soll versucht werden, sich ihrem „schwer zugänglichen Wesen" zu nähern 2 . Der englische Monarch des Mittelalters stand vor allem an der Spitze der Lehenspyramide, er war oberster Feudalherr i m lehensrechtlichen Sinne und Eigentümer des Territoriums, gleichzeitig aber Staatsoberhaupt m i t allumfassender Zuständigkeit 3 . Doch bereits i m 13. Jahrhundert war der noch heute den Rang eines obersten Verfassungsprinzips einnehmende Grundsatz des „Rule of L a w " entwickelt worden, der den König dem allgemeinen Recht 3 So Loewenstein, K a r l , L'Investiture du Premier Ministre en Angleterre, i n : L i b r a i r i e Générale de D r o i t et de jurisprudence, Paris 1967, S. 1063 ff., S. 1065; ebenso: ders., i n : Staatsrecht u n d Staatspraxis i n Großbritannien, Berlin—Heidelberg—New Y o r k 1967, S. 54. 4 Jennings , W. I. (VI), S. 424. 1 Dicey, A l b e r t V., Introduction to the Study of the L a w of the Constitution, 3. Auflage, London 1923. Übersetzung: „Die Prärogative g i l t als der Sitz der ermessensfreien Macht, die jederzeit rechtlich der Krone zusteht." 2 Loewenstein, K . (VI), S. 500. 3 Loewenstein, K . (VI), zur entsprechenden Rechtslage i m Österreich des Mittelalters, der Verbindung v o n Grundherrschaft u n d Landeshoheit, vgl. Brunner, Otto, L a n d u n d Herrschaft, Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Süddeutschlands i m Mittelalter, 4. Auflage, Baden bei Wien, Brünn, Leipzig, Prag 1959, Veröffentlichungen des österreichischen Instituts f ü r Geschichtsforschung, S. 165 ff. u n d 337.

1. Abschn.: „Royal Prerogative" und A u s w a h l des Premierministers

79

unterstellte 4 . I m 15. Jahrhundert schließlich hatte das Parlament das Steuerbewilligungsrecht an sich gezogen. Unbeschadet durch diese Vorgänge hatte der König seine grundsätzlich vermutete, alleinige Zuständigkeit mit Ausnahme weniger i h m streitig gemachter Berechtigungen zu wahren gewußt: „There remained i n the Monarch an unexhausted residue of authority 5 ." Dem König mußte schon damals nach allgemeiner Auffassung ein gewisses Potential an Reservemacht („reserve of power") zugestanden werden, dessen Einsatz aber auf Notstandssituationen, „emergency cases", beschränkt bleiben mußte. Der moderne Gedanke einer Reservemacht des Staatsoberhauptes läßt sich demnach bis i n die Zeit des ausgehenden Mittelalters verfolgen und steht i n Großbritannien noch heute in engstem Zusammenhang m i t der königlichen Prärogative. Obwohl der König als oberster Gerichtsherr galt, war er doch dem Recht unterworfen; hier zeigt sich die Gebundenheit der Royal Prerogative an das common law. Common law bedeutet hier die i m Wege der Rechtsprechung der frühesten königlichen Gerichtshöfe entwickelten Rechtsgrundsätze, die das lokale, angelsächsische Gewohnheitsrecht allmählich verdrängten. Die Errichtung von königlichen Gerichtshöfen setzte unmittelbar nach der normannischen Invasion vom Jahre 1066 ein; bereits i m 13. Jahrhundert war eine Funktionsteilung zwischen königlichen Verwaltungsbehörden und common law courts festzustellen 6 . I n späteren Jahrhunderten wurden — von Seiten der Tudors — starke Versuche unternommen, die königliche Prärogative, soweit sie jedenfalls politisches Ermessen umfaßte, aus dem vom common law gesetzten Rahmen zu lösen 7 . I m 17. Jahrhundert wurde unter dem Begriff der Prärogative ausschließlich die absolute, allzuständige und unbegrenzte Königsmacht verstanden. I m Gegensatz zum kontinentalen Absolutismus war es jedoch dem „Tudor-Despotismus" weder gelungen, die absolute Macht dauernd durchzusetzen, noch wenigstens theoretisch zu legalisieren. Dies verhinderten letztlich das Parlament i n gemeinsamer A k t i o n m i t den common law-Gerichtshöfen unter Entwicklung der Theorie von der Prärogative unter „normalen" Umständen und der „absoluten" Prärogative i n Notstandssituationen. Das Ende dieser langen Auseinandersetzungen sah die Dynastie der „von Gottes Gnaden" regierenden Stuarts besiegelt. Die Petition of Rights vom Jahre 1628 hatte die willkürliche Verhaftung be4 Wade, Emlyn, C. S. and Godfrey Phillips, Constitutional L a w , 4. Auflage, London 1952, S. 48. 5 Lawson, F. H. and D. J. Bentley, Constitutional and A d m i n i s t r a t i v e L a w , London 1961, S. 28. 6 Z u m Begriff des Common l a w siehe insbesondere Philip, S. James, S. 13/14; ders. f ü r die E n t w i c k l u n g der englischen Rechtspflegeeinrichtungen, ebenda, S. 20 - 40. 7 Lawson, F. H. and D. J. Bentley, S. 20 - 40.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

seitigt; von 1688 an konnte die Royal Prerogative nicht mehr als Rechtsgrundlage für die Erhebung vom Parlament nicht genehmigter Steuern dienen. Gleichzeitig wurde das Recht des Monarchen, vom Parlament beschlossene Gesetze zu annullieren, beseitigt 8 . Vorher waren aber vor den Gerichtshöfen berühmte Präzedenzfälle zur Entscheidung gekommen, die jene Entwicklung eingeleitet, wenn auch wegen der oft schwankenden Rechtsprechung nicht entschieden hatten. Erst der Act of Settlement des Jahres 1700 hatte die Unabhängigkeit der Gerichte von der Krone gesichert. I m Jahre 1607 hatte der Case of Prohibitions del Roy 9 gezeigt, daß die königliche Prärogative nur i m Rahmen des common law ausgeübt werden konnte. Die Differenzierung wurde durch den i m Jahre 1911 entschiedenen „Case of Proclamations" 10 erreicht. Dabei wurde festgestellt, daß die bloße Behauptung der Existenz einer Prärogative nicht zu ihrer Annahme führen kann und weiter, daß es i n der ausschließlichen Zuständigkeit der Gerichtshöfe liegt, das Vorhandensein und den Umfang einer Prärogative festzustellen. Gleichzeitig wurde jedoch betont, daß es dem Gericht verwehrt ist, bei vorhandener Prärogative die A r t und Weise ihrer Ausübung zu überprüfen. Die Rechtsmäßigkeit der Ausübung wurde zugunsten des Monarchen vermutet 1 1 . I m Bates-Fall von 160612 taucht dann die Formulierung auf: „The King's power is double, ordinary and absolute, the making of war and peace are arcani imperii." Die bereits erwähnte Unterscheidung von absoluter und normaler Prärogative geht zurück auf die von Bracton vorgenommene Funktionsteilung von „jurisdictio" und „gubernaculum", von „rule" und „discretion", also letztlich von Regel- oder Gesetzes- und Entscheidungsdenken 1 3 . Die Auseinandersetzungen des 17. Jahrhunderts betrafen also vor allem die dem freien Ermessen des Monarchen unterliegende und hinsichtlich ihrer Ausübungsweise von den Gerichten nicht nachprüfbare, absolute Reservemacht. Es erwies sich i m Laufe der geschichtlichen Entwicklung, daß eine derartige Auseinandersetzung der legalen Austragung unzugänglich war 1 4 . I m Jahre 1641 wurde vom „Langen Parlament" ein weiterer Schritt getan, u m die Rechtsprechung auf die bereits errungenen Entwicklungsergebnisse festzulegen. Als Königsgerichts8

Lawson, F. H. and D. J. Bentley , S. 29/30. 12 Co. Rep. 63. 10 12 Co. Rep. 74. 11 Case of the Five Knights, 1627, 3 St. Tr. 1. 12 2 St. T r . 371. 13 Z u dieser Unterscheidung u n d zur Lehre des Dezisionismus siehe Schmitt, Carl, über die drei A r t e n des rechtswissenschaftlichen Denkens, H a m burg 1934, S. 11 ff. 14 Loewenstein, K . (VI), S. 501. 9

1. Abschn.: „Royal Prerogative" und A u s w a h l des Premierministers

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höfe 15 tagten noch die Star-Chamber und das Privy-Council. Das StarChamber wurde durch Parlamentsbeschluß aufgelöst und die Spruchtätigkeit des Privy-Council auf außerhalb des Reiches gelegene Besitztümer der Krone beschränkt 1®. Doch wurde erst m i t der Glory Revolution die eigentliche Begrenzung der Royal Prerogative und ihre Bindung an das Common L a w erreicht. Dicey versäumt es, die Prärogative als Teil des Common Law zu verdeutlichen. Der Zusammenhang zwischen Prärogative und Common L a w kommt i n der von Blackstone 17 gegebenen Beschreibung zum Ausdruck die zunächst als Grundlage dienen mag: „ B y the word prerogative, we usually understand that special preeminence, which the K i n g has over and above all persons, and put of the ordinary course of the Common Law i n right of his regal dignity." M i t dieser Umschreibung betont Blackstone die Abhängigkeit und Begrenzung der Prärogative vom Common L a w sowie vor allem die alleinige Rechtsinhaberschaft des Königs an der unteilbaren Prärogative. Damit erfaßt Blackstone nur die i m Normalfall auszuübende Prärogative, noch nicht aber die erweiterte „Krisen-Prärogative". Der Prärogative kommt heute — de jure — noch zentrale Bedeutung innerhalb der britischen Verfassungsordnung zu. Sie bildet noch immer den rechtlichen Rahmen für den verfassungsrechtlichen Wirkungskreis des Monarchen. Der König ist die Verkörperung des Staates. Das Parlament w i r d vom König einberufen und aufgelöst. Die Exekutivbefugnisse des Kabinetts werden i m Namen und i m Auftrag des Monarchen ausgeübt. Die Rechtsprechung handelt i m Namen des Königs. Die Prärogative kann daher heute als ein Bündel von Befugnissen bezeichnet werden, die der Krone von alters her kraft Common L a w zustehen und die von ihr unmittelbar — durch den Monarchen — oder mittelbar — durch die Träger der verschiedenen derivativen Staatsfunktionen — ausgeübt werden 18 . 1. Die Arten der Prärogativbefugnisse

Bei der Ordnung nach Arten 1 9 ergeben sich verschiedene Einteilungsmöglichkeiten 20 . Das i n der modernen Lehre am weitesten verbreitete Schema 21 ist die auf der formalen Gewaltenteilung basierende Unter15 Siehe die nähere Schilderung der Gerichtsorganisation u n d deren E n t w i c k l u n g bei Philip, S. James, S. 20 ff. 16 Lawson, F. H. and D. J. Bentley, S. 30. 17 Z i t i e r t nach Heuston, Robert, F. v., Essays i n Constitutional L a w , L o n don 1961, S. 55. 18 Wade, E. and G. Phillips, S. 132. 19 Siehe zu dieser Einteilung Leisegang, H., Einführung i n die Philosophie, B e r l i n 1951. 20 Vgl. dazu insbesondere die Ausführungen Loewensteins, Κ . (VI), S. 508. 21 Heuston, R., S. 63 ff.

6 Lippert

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Scheidung von legislativ — „the powers of the monarch i n legislation" —, judikativ — „powers of the monarch i n relation to justice" und Exekutivprärogative — „executive powers of the monarch". Letztere Prärogativbefugnisse fließen aus der Stellung des Königs als Staatsoberhaupt und Haupt der anglikanischen Staatskirche 22 . Sie umfassen eine große Zahl von Amtshandlungen auf dem Gebiete der Innen-, Außen- und Kirchenpolitik. Hier erscheint die Einteilung i n innen- und außenpolitische Prärogativakte 2 3 sachlich gerechtfertigt. Die innenpolitischen Prärogativbefugnisse w i r k e n auf der Ebene von Regierung und Verwaltung. I n diesem Bereich hat allerdings die positivrechtliche Parlamentsgesetzgebung die königliche Prärogative als Teil des Common Law ständig zurückgedrängt 24 . Zu den von der königlichen Prärogative noch gehaltenen Befugnissen zählen nationale Verteidigung und militärischer Oberbefehl, Verwaltung unselbständiger Territorien, gewisse noch bestehende Kron-Regalien 25 , vor allem aber die Ernennung sämtlicher Staatsdiener 2®, wie Minister, Richter, hoher Beamter und Bischöfe. Auch der Premierminister ist rechtlich Diener des Monarchen und w i r d daher noch heute nach geltendem Common L a w von diesem ernannt und entlassen. Der König ist dabei — wiederum juristisch — befugt, i n freier Ermessensausübung eine Persönlichkeit seines Vertrauens m i t diesem A m t zu bekleiden 27 . 2. Einschränkungen der Prärogative

Die königliche Prärogative ist i n den vergangenen drei Jahrhunderten britischer Verfassungsgeschichte einem von verschiedenen Seiten ausgehenden, ständig fortschreitenen Prozeß der Beschränkung, Formalisierung und Umformung auf verschiedenen Ebenen ausgesetzt gewesen. Aus der Eigenschaft der Prärogative als Teil des Common Law folgte ihre Begrenzung durch das Recht sowie die Kontrollierbarkeit ihrer Ausübung durch die Gerichte. Infolge der Befugnis des Parlaments das Common L a w aufzuheben, zu ergänzen oder zu ändern 28 , ist auch die 22

Wade, E. and G. Phillips, S. 132. So Lawson, F. H. and D. J. Bentley , S. 37; anders: Wade, E. and G. Phillips, die jene außenpolitische Acts of State als nicht zur Prärogative gehörend betrachten, S. 133. 24 Das Problem der zunehmenden Durchnormierung des Verwaltungsrechts u n d i m Zusammenhang damit der Notwendigkeit einer Verwaltungsgerichtsbarkeit, s. Gardiner, Gerald u n d A n d r e w Martin, L a w Reform Now, London 1963, S. 24 - 56. 25 Siehe hierzu die nähere Darstellung bei Wade and Phillips, S. 134 f. 26 Dem Rechte nach sind sämtliche Staatsdiener Diener des Monarchen. 27 Siehe f ü r alle Jennings , W. I. (I), S. 20 f., Phillips, O. Hood, Constitutional and Administrative L a w , 3rd edition, London 1962, S. 244. 28 Diese Befugnis ist Ausfluß der sog. Theorie von Souveränität des Parlaments; vgl. hierzu die Ausführungen i m 1. Hauptteil des 2. Kapitels, S . A b schnitt. 23

1. Abschn.: „Royal Prerogative" und A u s w a h l des Premierministers

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Prärogative der Disposition des Parlamentsgesetzes unterworfen 2 9 , was zu einer allmählich fortschreitenden, i n jüngster Zeit beschleunigten Ablösung der Prärogative durch die parlamentsgesetzliche Regelung geführt hat. Dabei handelt es sich u m eine rechtliche Einschränkung der Prärogative. Theoretisch hatte diese seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert 3 0 keine Veränderung erfahren. Bis i n die jüngste Vergangenheit mußten Streitfälle, betreffend die Ermächtigungskonkurrenz von Prärogative und Parlamentsgesetz, entschieden werden. M i t der Entscheidung des Schlüsselfalles Attorney-General ν . De Keysets Royal Hotel, Ltd. (1920) A. C. 508 wurde klargestellt, daß der positivrechtlichen Ermächtigung der Vorrang vor der Prärogativen Grundlage gebührt. I m Falle einer Konkurrenz kann sich der Monarch nicht mehr auf die Prärogative berufen, sondern w i r d i n ihrem Gebrauch durch das entsprechende Parlamentsgesetz beschränkt 31 . Die Möglichkeit einer Ablösung der Prärogative durch parlamentsgesetzliche Regelung besteht auch für den Bereich der Ernennung und Entlassung von Staatsbediensteten, also letztlich auch des Premierministers. Ein Parlamentsgesetz wäre daher i n der Lage, die Bestellung und Abberufung des Regierungschefs positivrechtlich zu gestalten. Für die Stellung der Verfahrensbeteiligten sowie das Verständnis der britischen Verfassung wesentlich bedeutsamer ist eine andere A r t der Beschränkung oder besser „Stillegung" von Teilen des monarchischen Prärogativrechts. Gewisse, von der Systemnormativität des parlamentarischen Regierungssystems geprägte Regeln haben zu einer entsprechenden, faktisch wirksamen, auf die Prärogative materiell einwirkenden Ausübungsgestaltung geführt. Wie bereits i n den systemtheoretischen Erörterungen ausgeführt, lebt i n sämtlichen Verfassungsordnungen ein Spannungsverhältnis zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit 32 . Neben diesen beiden Bereichen existiert ein Kreis von — sozialwissenschaftlich feststellbaren — Normen, welche sich aus dem Gesamtzusammenhang des Regierungssystems ergeben 33 und als „Systemnormativität" bezeichnet werden. Von ihrer, wenigstens teilweisen, Verwirklichung hängt die Eigen29

Lawson and Bentley, S. 33. Revolution Settlement v o n 1689. 31 Der F a l l Keyser's Hotel hat insofern rechtspolitische Bedeutung erlangt, als er gleichzeitig die bis zu seiner Entscheidung währende Rechtsunsicherheit auf dem Gebiete der Enteignungsentschädigung beseitigte, indem er der Krone selbst i m Notstandsfall die Prärogativbefugnis zur entschädigungslosen Enteignung absprach u n d damit den Anschluß an die moderne Verfassungsentwicklung, wie sie etwa i n A r t . 153 W V u n d A r t . 14 GG zum Ausdruck kommt. 32 Legal and l i v i n g constitution. 33 Kaltefleiter, W. (I), S. 19. 30

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

schaft als parlamentarisches System ab, und darüber hinaus kann bei ihrer Mißachtung sogar der Bestand des Systems und der Verfassung gefährdet werden. Der englische Begriff „constitutional" umfaßt jene Normativität; seine Ubersetzung m i t „verfassungsgemäß" w i r d aber dem Inhalt nicht gerecht. Inhaltlich entspricht er etwa der deutschen Bezeichnung „systemgemäß". Aus diesen Gesamtanforderungen des Systems fließt eine bestimmte, an das Staatsoberhaupt gerichtete Rollenerwartung 3 4 . Auch hier haben die auf einer Verfassungsurkunde beruhenden Verfassungsordnungen m i t wechselndem Erfolg versucht, diesen A n forderungen zu genügen. I n der britischen Verfasssung stellen die Constitutional Conventions das Instrumentarium zur Herstellung und Wahrung der Systemnormativität zur Verfügung. Die „Conventions" w i r k e n i n der Weise auf die königliche Prärogative ein, daß sie diese teilweise stillegen und teilweise reaktivieren. Insbesondere bei Bestellung und Abberufung des Premiers, aber auch bei der Parlamentsauflösung, kommt den Conventions große Bedeutung zu: sie stoßen an dieser Stelle auf die rechtlich ungeschwächte, „konstitutionelle", königliche Prärogative 35 . Angesichts dieser konventionalen Einflüsse auf die königliche Prärogative wurde bereits von Mediatisierung der Prärogativbefugnisse, und zwar durch die Regierung, gesprochen 36. Tatsächlich übt der Monarch seine aus der Prärogative fließenden Befugnisse auf den Rat der Regierung h i n aus: „The most obvious characteristic of the British Constitutional Monarchy today is that, constitutionally, the Monarch does not govern, but must subordinate itself i n its political activities, to those who do 37 ." Doch stellt auch diese Entwicklung nur einen Teil der von den Conventions verwirklichten parlamentarischen Gesetzmäßigkeit, konkret der parlamentarischen Verantwortung der Exekutive dar, von der aber der Monarch befreit ist. „Ministerial responsibility is the safeguard of the Monarchy 38 ." Die Mediatisierung der Prärogative ist also nur eine Erscheinungsform der Funktionalisierung der monarchischen Prärogative. Insoweit trifft Loewensteins Einteilung nur einen Spezialgesichtspunkt, wohl aber nicht den allgemeinen Zusammenhang. 84

Kaltefleiter, W. (I), S. 9 ff. Moodie, G. C.: The C r o w n and Parliament i n : Parliamentary Affairs, über Begriff u n d E n t w i c k l u n g der Conventions, Vol. X 1956/57, S. 256 ff. 86 Loewenstein , Κ . (VI), S. 504 ff. 87 Moodie, G. C., The C r o w n and Parliament, Vol. X 1956/57, S. 257; ähnlich Marshall, G. u n d G. C. Moodie, „Some Problems of the Constitution", 4. A u f lage, London 1967, S. 42. Übersetzung: „Das augenfälligste Charakteristikum der heutigen britischen Monarchie ist, daß der Monarch, gemäß der Verfassung, nicht selbst regiert, sondern sich den Regierenden unterzuordnen hat." 38 So L o r d Esher, überliefert durch: Brett, M. V., „Journals and Letters of Reginald, Viscount Esher, Band I I I , London 1938, S. 129. 85

2. Abschn.: „Royal Prerogative" u n d Constitutional Conventions

85

Zweiter Abschnitt

Die Funktionalisierang der königlichen Prärogative durch die Constitutional Conventions I . Wesen, Begriff und Bedeutung der Conventions

M i t der Feststellung, daß der britische Monarch rechtlich befugt ist nach freiem Ermessen einen beliebigen Untertanen zum „First Lord of the Treasury" 1 zu ernennen, wäre die Aufgabe, die rechtlichen Grundlagen der Bestellung des Premierministers zu würdigen, eigentlich bereits beendet. Noch der große englische Verfassungsrechtler und Schöpfer der Lehre von den Conventions, Dicey 2 , meinte, daß diese Conventions den Juristen eigentlich gar nicht beträfen. Daß diese Auffassung nicht zutreffend sein kann, erweist sich gerade an der gegebenen Aufgabenstellung. Jedermann weiß, daß sich die Amtseinsetzung des Premierministers nach anderen Regeln richtet, als durch eine isoliert rechtliche Betrachtung erkennbar wird. Das Wesen jener Regeln, ihre Entstehung, ihren Inhalt und ihre Bedeutung für die Berufung des britischen Premiers aufzuhellen, ist das für den kontinentalen Juristen schwer zu erfüllende Anliegen dieses Abschnitts. Die Kenntnis der genannten Zusammenhänge ist notwendig, u m den tatsächlichen Vorgang der Amtseinsetzung, seine i h m von der britischen Verfassungsordnung aufgegebenen Voraussetzungen und Gesetzmäßigkeiten, erfassen zu können 3 . Die Grundlagen des Common Law werden bereits i m ausgehenden 17. Jahrhundert 4 gelegt. Da diese aber die heutige Verfassungssituation nicht zu erklären vermögen, kann nur die Betrachtung der Gesamtverfassung, der „working Constitution", den m i t einer geschriebenen Verfassung meßbaren Vergleichsgegenstand erbringen, w e i l die formalisierten Verfassungen systemnormative Voraussetzungen nicht auf konventionalem Wege, sondern durch positive Rechtsetzung einzubeziehen trachten 5 . Das Wort „conventions" beinhaltet bereits eine A r t der ausdrücklichen oder stillschweigenden Übereinstimmung, eine Form der freiwilligen Anpassung und Billigung: „Political institutions are the work of men, of their origin and their whole existence to human w i l l . 1

Offizieller T i t e l des Permierministers. Dicey, A l b e r t (II), S. 30 ff. 3 Loewenstein , Κ . (VI), S. 52. 4 Durch die Glorious Revolution v o n 1688. 5 Jennings, W. I., The L a w and the Constitution, 3. edition, reprinted University Press of London 1948, S. 71, b r i n g t das Beispiel des Kabinetts, das i n vielen Verfassungen als Regierung oder Exekutivausschuß oder K a b i nett bezeichnet, getreu dem englischen V o r b i l d Eingang gefunden hat. 2

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Men did not wake on a summer morning and find them sprung up. Neither do they resemble trees, which, once planted, are growing while men are sleeping. I n every stage of their existence they are made what they are by voluntary human agency 8 ." Auch i m Bereich des öffentlichen Lebens w i r d die Neigung des Menschen sichtbar, sich Regeln zu unterwerfen 7 . M i l l 8 nannte jene Regeln bereits „the unwritten maxims of the constitution". Zwanzig Jahre später wurde dann von Dicey der Begriff der „Conventions of the Constitutions" 9 entdeckt. Anson 10 meint dieselbe Normativität, wenn er von „the custom of the constitution" spricht. Der von Dicey geprägte Begriff hat sich durch langen Gebrauch legitimiert und soll auch hier Verwendung finden. Nach i h m sind »conventions' „rules for determining the mode i n which the discretionary powers of the Crown ought to be exercised" 11 . Inzwischen haben aber die Conventions ein wesentlich erweitertes Wirkungsfeld erobern können; so regelten sie insbesondere bis zum Westminster-Statut von 1931 die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten des British Commonwealth 12 . I n der unmittelbaren Gegenwart zählen noch die auf „Commonwealth-Conferences" gefaßten Beschlüsse zu den Conventions 13 , so daß die Definition Dicey's eigentlich zu eng geworden ist. Sie mag jedoch als vorläufige Arbeitshypothese dienen, weil die Berufung des Premiers ein Problem der Ausübung der königlichen Prärogative darstellt. Für die Kenntnis des Wesens von Konventionalregeln ist der Vergleich mit dem Gewohnheitsrecht nicht förderlich, weniger wegen der Voraussetzung einer kontinuierlichen Übung 1 4 , sondern vor allem hinsichtlich der Durchsetzbar kéit: Conventions entbehren i m Unterschied zum Gewohnheitsrecht des Instruments gerichtlicher Vollstreckung 15 . 6

Mill, John, Stuart: Representative Government, 1865, London, S. 4. Jennings, W. I. (VI), S. 79. 8 Mill, John, S. (II), S. 87. 9 Dicey, Α . (II), S. 22/23; Sir W i l l i a m Holdsworth, „The Conventions of the Eighteenth Century Constitutions". 17 I o w a L a w Review, p. 161, sagt, daß Dicey diese Idee von Freeman 1872 übernommen hätte. 10 Sir W i l l i a m Anson, The L a w and Custom of the Constitution, Oxford 1922, Vol. 1,4. Aufl., S. 23. 11 Dicey, Α . (II), S. 423 f. sowie Einleitung S . X C V - X C I I . Übersetzung: Regeln, welche die A r t des königlichen Ermessensgebrauchs festlegen. 12 Wade and Phillips, S. 59. 13 s. ζ. B. den Report of Conference on Operation of Dominion Legislation, 1930, S. 19, 20. 14 N u r i m Staatsrecht k o m m t es weniger auf die absolute Zahlenmäßigkeit der Akte, sondern bereits bei wenigen Fällen auf die tatsächliche W i e derholung eines bestimmten wiederholbaren Verhaltens an. Siehe Wagner, Christa, Bonner Grundgesetz u. Verfassungsgewohnheitsrecht, j u r . Diss., M ü n chen 1963, S. 27 f. 15 München 1963, U n u m s t r i t t e n s. f ü r alle Loewenstein, Κ . (VI), S. 53. 7

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Die Frage der gerichtlichen Erzwingung war es auch, die Dicey als Maßstab zur Unterscheidung von Law und Conventions diente 18 . Nach seiner Auffassung trugen die gerichtlich durchsetzbaren Regeln den Charakter des Rechts, während die übrigen Regeln i n die Kategorie der Conventions fielen — eine für das englische Rechtsdenken typische Argumentationsweise —, die auch noch heute von den meisten englischen Theoretikern akzeptiert wird 1 7 . Tatsächlich beruhen die Schwierigkeiten einer begrifflichen Abgrenzung von Recht und Convention auf dem Fehlen einer geschriebenen Verfassung, die einen Teil der heutigen Conventions aufzunehmen hätte. W i r gelangen daher zum Ergebnis, daß das Gebilde, das als die englische Verfassung bezeichnet wird, aus zwei gleichbedeutenden Teilen — dem Verfassungsrecht, the L a w of the Constitution und den Conventions of the Constitution — besteht. Savelkouls 18 ist sich dieses Zusammenhangs bewußt, wenn er i n einem bildhaften biologischen Vergleich den rechtlichen Teil der Verfassung als das Knochengerüst, die Conventions aber als das „blühende Fleisch" bezeichnet; vor allem aber erfüllen die Conventions die Aufgabe der Muskeln, u m jenes Knochengerüst zu bewegen. Überdies stehen sie i n einem zweifachen Spannungsverhältnis zum Recht. Einerseits ranken sich die Conventions u m die einzelne rechtliche Regelung und füllen die vom Recht offengelassenen Zwischenräume, andererseits neigen sie, wenn sie sich voll entwickelt haben, selbst dazu, Grundlage und Rahmen neuer Rechtsbildungen zu werden. So ist sich das Unterhaus, wenn es etwa der Krone kraft Gesetzes neue Befugnisse überträgt, darüber klar, daß infolge der von den Conventions bewirkten „Mediatisierung" diese Befugnisse vom Kabinett ausgeübt werden. Die britische Gesetzgebung produziert laufend Acts of Parliament, die auf den durch die Conventions errichteten Voraussetzungen stillschweigend aufbauen 19 .

I I . D i e Entstehung von Conventions

Den Zeitpunkt der Entstehung einer Convention zu bestimmen, ist äußerst schwierig. Doch ist es der englischen Verfassungstheorie gelun1β

Dicey, Α. (II), S. 23. Zustimmend Lawson u n d Bentley , Constitutional and administrative L a w , London 1961, S. 50; a. A . Jennings , W. I. (VI), S. 100 ff., die die Betonung der gerichtlichen Sanktion m i t der Begründung ablehnt, daß der größte T e i l des Rechts von den Legislativvorgängen erzeugt u n d v o n der Exekutive durchgesetzt werde. 18 Savelkouls, Hermann, Das englische Kabinettsystem, München u n d Berlin, 1934, S. 384. 19 Jennings , W. I. (VI), S. 114 ff., schildert die daraus f ü r den Richter entstehenden Schwierigkeiten der Unterscheidung zwischen L a w u n d Conven17

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

gen, die Hauptvoraussetzungen für die Bildung sowie die wichtigsten Anzeichen für deren Existenz zu formulieren. Z u allen Zeiten der britischen Verfassungsentwicklung hat es Conventions gegeben1. Jene, die heutige Verfassung Großbritanniens prägenden Conventions sind erst nach der zweiten britischen Zeitwende, der Glorious Revolution von 1688, entstanden; sie waren die Pfadfinder der englischen Verfassungsordnung auf deren Weg i n die Gegenwart. Die Entstehung einer Convention vollzieht sich i n der Verdichtung zu einer Norm, einer Regel, die eine Übung, ja, sogar eine einzelne Handlung erfahren kann. Der ursprüngliche Anstoß für die Entwicklung einer Convention geht von einem dringend einer Lösung harrenden praktischen Problem aus. Dabei werden sich die zuständigen Staatsorgane für eine konkrete, pragmatische Lösung entscheiden, um dem Erfordernis zu entsprechen. Der nächste Schritt besteht i n der Anwendung der gefundenen Lösung auf eine neuerliche, gleichartige Herausforderung seitens der Verfassungspraxis. Weitere Problemstellungen werden ebenso gelöst, wodurch sich bereits eine Übung gebildet hat. Der Präzedenzfall allein genügt aber noch nicht, u m eine Convention zu erzeugen 2, sonst würde etwa eine einmalige Übereinstimmung zwischen dem House of Lords und dem House of Commons eine ständige Verpflichtung zur immerwährenden Harmonie zur Folge haben. Das Vorliegen einer Kette von i n gleicher Weise entschiedener Fällen mag bereits ein stärkeres Anzeichen für eine Convention darstellen. Daß seit den Zeiten der Queen Anne kein britischer Monarch mehr offiziell sein Veto gegen eine Gesetzesvorlage eingelegt hat 3 , ist zwar sehr beachtenswert, aber damit ist noch nicht die Existenz einer Convention nachgewiesen. So meint auch der hervorragende Theoretiker der Präzedenzfälle, der Berater der Könige Edward V I I . und George V., Viscount Esher 4 : "Precedent, like analogy, is rarely conclusive." U m eine Contions. Wohl dürfen und sollen die Richter die von den Conventions normierten Voraussetzungen beachten; deren rechtliche Durchsetzung gegenüber den Be1 teiligten ist dennoch Siehe dazu Sir unmöglich. I v o r Jennings , U m w a n d l u n g von Geschichte i n Gesetz,

Köln—Opladen 1965. 2 ζ. B. ist allein aus der Tatsache, daß der Monarch seit über einem Jahrhundert keine von einem K a b i n e t t beantragte Parlamentsauflösung abgelehnt hat, noch nicht die Convention abzuleiten, daß der Monarch etwa verpflichtet wäre, dem Ratschlag zu folgen oder den Anträgen stattzugeben, denn es geht aus den Briefen der K ö n i g i n V i k t o r i a k l a r hervor, daß die K ö n i g i n auf ihrem Recht, eine Auflösung zu verweigern, i m m e r bestanden hatte, u n d daß die Premierminister ihrer Zeit i m Grunde der gleichen Auffassung waren. 8 I m Jahre 1707 verweigerte Queen Anne der Scotch M i l i t i a B i l l ihre Zustimmung. 4 Esher, Viscount, The Influence of K i n g Edward, London 1915, S. 67.

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vention zu erzeugen, muß sich zur objektiven Voraussetzung — dem Präzedenzfall — eine weitere subjektive Voraussetzung gesellen; die Beteiligten müssen der Uberzeugung sein, daß eine Verpflichtung zur Befolgung so stark ist, daß die Verbindung auch nur m i t einem Präzedenzfall genügt, u m eine Convention zu erzeugen 5. 1. Bedeutung

Eines der Hauptprobleme einer modernen Verfassung ist ihr Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit. I n seinem berühmten Vortrag vom 16.4.1862 hatte Ferdinand Lassalle® das Vermögen einer rechtlichen Verfassung, motivierend und regulierend zu wirken, von ihrer Übereinstimmung m i t der tatsächlichen Verfassung des Soziallebens abhängig gemacht: i m Falle einer Diskrepanz zwischen beiden würde die rechtliche der tatsächlichen Ordnung stets erliegen müssen. Das Unvermögen der rechtlichen Normen, die Gesetze des politischen Lebens umzugestalten, bringt auch Jellinek 7 zum Ausdruck. Ohne die von Lassalle unternommene, faktische Leugnung des regulierenden Vermögens einer rechtlichen Verfassung anzuerkennen 8 , ist bei einer geschriebenen Verfassung dennoch ein ständiger, konfliktsbehafteter Spannungszustand vorauszusetzen. Ob es der rechtlichen Verfassung dabei gelingt, eine das staatliche Leben gestaltende K r a f t zu entfalten, hängt dabei von verschiedenen Wirksamkeitsfaktoren ab. Vor allem muß jede Verfassung „einen materiellen K e i m ihrer Lebenskraft i n der Zeit, den Umständen, dem Nationalcharakter vorfinden" 9 . Hesse10 warnt auch vor dem Versuch, i n einer Verfassung eine bestimmte Grundstruktur „ i n voller Reinheit" zu verwirklichen. Die Verdrängung der Normativität durch die Wirklichkeit wäre das Ergebnis. Die normative Gestaltungskraft sei nur durch Einbeziehung „eines Stücks der Gegenstrukt u r " zu erzeugen. Die geschriebene Verfassung sieht sich dabei dem Ruf zweier Seelen i n der eigenen Brust ausgesetzt. Einmal die formale Verfassungsänderung zu erschweren, dabei aber gleichzeitig der Möglichkeit einer Anpassung die Türe nicht zu versperren — eine K l u f t zwischen der statischen Normativität und den dynamischen Kräften der politischen Wirklichkeit w i r d jedoch bei einer geschriebenen Verfassung 5

Jennings , W. I. (VI), S. 131. I n gesammelten Reden u n d Schriften, herausgegeben u n d eingeleitet von Eduard Bernstein (II), B e r l i n 1919, S. 25 ff. 7 Jellinek, Georg (III), S. 72. 8 Gleichzeitig würde damit auch der Charakter der Staatsrechtswissenschaft als einer Sollenswissenschaft geleugnet u n d zu einer Wirklichkeitswissenschaft i m Sinne der Soziologie oder Politologie gemacht; siehe dazu Hesse, Konrad, S. 5. 9 Hesse, Konrad, S. 11. 10 Hesse, Konrad, S. 14. β

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immer bestehen bleiben. Anders i n Großbritannien. Dort tragen die Conventions die Hauptlast der ständigen Weiterentwicklung der Verfassung. Ihnen verdankt das Land die ohne rechtliche Veränderung vorgenommene, allmähliche Umwandlung der quasi-absolutistischen Herrschaftsform i n den Zeiten der Stuarts i n die konstitutionell i n immer stärkerem Maße beschränkte Monarchie und schließlich i n das parlamentarische Regierungssystem, das aber gegenwärtig weiteren Veränderungen unterliegt 1 1 . Die Souveränität des Parlaments wurde ersetzt durch die immediatisierte Wählerschaft, der i n den zentralen Fragen des Staates bereits heute die letzte entscheidende Zuständigkeit überantwortet ist 1 2 . Damit lassen sich zwei Hauptfunktionen der Conventions herausdestillieren: einmal dienen sie dazu, die Arbeitsfähigkeit des Systems zu sichern (a), zweitens stellen sie den Kontakt zwischen dem gegenwärtigen System und der herrschenden zeitgenössischen Verfassungstheorie her (b). Ad. a): Die Arbeitsfähigkeit des Systems setzt angesichts der Befugnisverteilung auf verschiedene Organe deren verschiedene wechselseitige Zuordnung voraus. Diese w i r d von den Conventions bestimmt. "Conventions must grow up at all times and i n all places where the powers of government are vested i n different persons or bodies — where — . . . there is a mixed constitution 18 ." Aus den Aufgaben der Systemerhaltung leitet sich die erwähnte dritte Entstehungsvoraussetzung der praktischen, objektiven Notwendigkeit (Reason) ab. Eine Auffassung der Conventions als „Spielregeln" 1 4 würde diesen Funktionsanforderungen nicht voll gerecht. Die Conventions können nämlich — ohne Gefährdung des Systems — nicht i n freier Weise abgeändert werden. Sie verwirklichen und stabilisieren somit die systemnormativen, aus dem Gesamtzusammenhang des Regierungssystems abgeleiteten Regeln und beantworten die Frage nach den für die Erhaltung des Systems notwendigen inneren Gesetzmäßigkeiten 15 . Sie erfüllen daher zunächst eine systemkonservierende Aufgabe. 11 Beyme, Klaus von, Das parlamentarische Regierungssystem i n Europa, München 1970, S. 49; Wade and Phillips, London, S. 60; Loewenstein , Κ . (VI), S. 54. 12 Wade and Phillips bezeichnen das W a h l v o l k als „political Overlord", S. 60; dazu vgl. auch Jennings , W. I., Cabinet-Government, 3. Aufl. Cambridge, 1959, S. 13 ff. „The Democratic principle". 13 Holdsworth, W i l l i a m , The Conventions of the Eighteenth Century Constitutions, i n : 17 I o w a L a w Review, S. 162; Übersetzung: Conventions müssen stets dann u n d überall dort entstehen, w o die Regierungsgewalten auf verschiedene Organe oder auf Amtsträger verteilt sind — also eine „gemischte Verfassung" besteht. 14 Glum, F., Staatsoberhaupt u n d Regierungschef, i n : Zeitschrift f ü r Polit i k , Jg. 6, neue Folge, Heft 4,1959, S. 293. 15 Z u m Problem der funktionalen Methode i m Rahmen von systemerhaltenden Bemühungen siehe: Fogelmann, E. u n d W. Flanigan, „Functional A n a -

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Ad. b): Damit ist der Wirkungsbereich aber keineswegs ausgeschöpft: „They keep i n touch w i t h the growth of ideas", sagt Jennings 16 und deutet damit bereits das zweite Element ihres komplexen Wesens an. Die Conventions werden hier, indem sie laufend die „geistige Situation der Zeit" 1 7 i n die Verfassung 18 aufnehmen, zum eigentlichen Vehikel der Verfassungswandlung 19 . I m allgemeinen w i r d der Abstand zwischen der „vorauseilenden" VerfassungsWirklichkeit und der „conventional constitution" i n Großbritannien geringer sein als i n Ländern mit geschriebener Verfassung. 2. Verpflichtungsgründe

Dicey 2 0 sah den Geltungsgrund der Conventions i n ihrer hinsichtlich der Sanktionen bestehenden Untrennbarkeit vom Common Law: eine Verletzung der Conventions bedeute de facto unmittelbaren Rechtsverstoß und führe zur Ahndung durch die Gerichte. Er versuchte dies am Beispiel jener anerkannten Convention nachzuweisen, welche die jährliche Einberufung des Parlaments verlangt. Ihre Mißachtung hätte zur Folge, daß der A r m y und A i r Force Act nicht verabschiedet werden könnte und deshalb die Armee rechtswidrig unter Waffen gehalten würde. Doch lassen sich auch Beispiele von Conventions finden, aus deren Mißachtung keine gleichzeitige Rechtsverletzung fließt, die aber dennoch dieselbe Geltungskraft wie die eben erwähnte Kategorie von Conventions entwickeln 21 . Die den Conventions von den Beteiligten entgegengebrachte Befolgung beruht also nicht auf einer bestimmten Sanktionsdrohung. Dabei gelangt man zu dem — übrigens für einen an den Stufenbau des Rechts gewöhnten kontinentalen Juristen überraschenden — Ergebnis, daß ein bestimmtes Verhalten zwar als „uncon-

lysis" i n : Contemporary Political Analysis, ed. by Charlesworth, J. C., New York—London 1967, S. 72 ff. 16 Jennings , W. I. (VI), S. 81, Übersetzung: „Sie halten Schritt m i t den f o r t schreitenden Ideen der Zeit." 17 Hesse, K., S. 13. 18 Kaltefleiter, W. (I), S. 15; Der von der englischen Theorie gebrauchte Verfassungsbegriff ist dabei weiter als der des deutschen Verfassungsrechts; er entspricht i n etwa der von der politischen Wissenschaft gebrauchten Begriffsbestimmung: „Die aus dem Gesamtzusammenhang des Regierungssystems abgeleiteten Regelungen, die die Prozesse der politischen Meinungs-, Willens- u n d Machtbildung u n d Machtausübung u n d - k o n t r o l l e tatsächlich bestimmen." Er umfaßt also neben Teilen des Verfassungsrechts u n d bestimmter gesetzlicher Bestimmungen das durch die Conventions vorgegebene Normensystem u n d die Verhaltenserwartungen der verschiedenen politischen Gruppen. 19 Loewenstein , Κ . (VI), S. 54. 20 Dicey, Α., S. 445 f., Einleitung S. C X X X V I ff. 21 Siehe hierzu die v o n Jennings, W. I., S. 124 ff. entwickelten Beispiele.

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stitutional" 2 2 , nicht aber als rechtswidrig anzusehen ist. Loewenstein 28 führt die Geltungsgründe auf den gleichen Zwang zurück, der die Einhaltung der Spielregeln bei sportlichen Veranstaltungen gebietet. „Ohne sie wäre der Ablauf des politischen Prozesses unmöglich." Jedoch gilt diese Aussage nicht für alle Conventions: die englische Verfassungsordnung soll ja gerade m i t Hilfe der Conventions dem Verfassungswandel Raum geben und gestattet daher — vorbehaltlich einer zwingenden praktischen Notwendigkeit — die Abweichung von einer Konventionalregel 24 . Diese Möglichkeit gilt jedoch nur beschränkt für jene wichtigen, das Verhältnis von Regierung und Parlament bestimmenden und das parlamentarische System ausgestaltenden Konventionalregeln, da dieses Verhältnis an seinen Angelpunkten durch das Prinzip demokratischer Kontrolle überlagert ist 2 5 . Der Verstoß gegen eine solche i m Einzugsbereich des „democratic principle" liegende Convention zeitigte jene politischen Folgen, welche als die eigentlichen Geltungsgründe anzusehen sind und von Vinogradoff 26 wie folgt geschildert wurde: " . . . i t s reactions as to persons possessed of political power are extralegal; revolutions, active and passive resistance, the pressure of public opinion. The sanction is derived from the threat of these consequences27." 3. Begriff der Conventions 28

Die von Dicey vorgenommene Begriffsbestimmung ist schließlich zu eng geworden; sie müßte lauten: die Constitutional Conventions sind von den Beteiligten kraft Übung errichtete, zur Verfassungsordnung 22 Was m i t verfassungswidrig eine mißdeutbare Übersetzung finden würde. Dem Sinne nach bedeutet „unconstitutional" eher „nicht der Verfassung gemäß". Wegen der Schwierigkeit i n der deutschen Theorie, zwischen verfassungsrechtlich u n d verfassungsgemäß zu trennen, könnte m a n „unconstitutional" m i t „systemwidrig" übersetzen; gemeint ist damit der systemnormative Zusammenhang. 28 Loewenstein , Κ . (VI), S. 56. 24 Hermens, Ferdinand, Aloys, Verfassungslehre, Frankfurt—Bonn 1964, S. 255; Loewenstein , Κ . (VI), S. 55. 25 Vgl. dazu die Ausführungen zur plebiszitären Bestellung u n d A b b e r u fung des engl. Premiers i m 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 3. Abschnitt. 28 Vinogradoff , P., Outlines of Historical Jurisprudence, Oxford 1920 bis 1922, Vol. I, S. 120. 27 Eine Mißachtung der an die Ausübung der Prärogative gerichteten systemnormativen Anforderungen würde schließlich die I n s t i t u t i o n der Monarchie selbst i n Gefahr bringen, siehe dazu Benemy, Frank, The Elected Monarch, London—Toronto, Wellington, Sidney 1965, S. 22; Übersetzung: „ I h r e Reaktionen sind metarechtlich: Revolutionen, a k t i v e r u n d passsiver Widerstand. Die Sanktion resultiert aus der Drohung m i t den erwähnten Folgen. 28 Vgl. oben 2. Abschn. (I).

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gehörende, abänderbare Regeln, welche die Ausübung verfassungsrechtlicher Befugnisse durch Organträger systemnormativ regeln und damit der Verfassungsstabilisierung sowie dem Verfassungswandel dienen.

I I I . V o n den Constitutional Conventions entwickelte Voraussetzungen für die Ausübung der R o y a l Prerogative durch den Monarchen

Die Ernennung des Premierministers gestaltet sich nach englischem Verfassungsrecht noch i n der Gegenwart als Ausfluß der königlichen Prärogative 1 . Rechtlich ist die Bestimmung des Prime Ministers noch immer ausschließlich von der Gunst des Monarchen abhängig. I m schroffen Gegensatz zu dieser rechtlichen Position stehen die an das Staatsoberhaupt i m parlamentarischen System gestellten Rollenanforderungen 2 . Jene Erwartungen wurden als „Kontinuitätsfunktion" 3 umschrieben, die wiederum eine symbolische 4 und eine politische Funktion enthält. Zur Wahrung staatlicher Kontinuität w i r k t das Staatsoberhaupt „an den Prozessen der Willens- und Machtbildung" 5 i m funktionierenden System i n der Weise mit, daß er kraft seiner Initiative die Willensbildung des Entscheidungsorgans initiiert oder eine getroffene Entscheidung vollzieht. Dabei spielt ein Teil der Symbolfunktion herein, weil das Staatsoberhaupt eine parteipolitisch durchgesetzte Entscheidung m i t Verkündung oder Vollzug zu einer Entscheidung des Staatsganzen erhebt 8 . Die politische Reservefunktion schlägt dann i n Reservemacht um, wenn eine Ausdehnung des monarchischen Ermessensspielraums, teilweise bis zu den konstitutionellen Grenzen, notwendig ist, u m die Weiterarbeit des Systems zu sichern. Für die vom Staatsoberhaupt bei der Berufung des Regierungschefs wahrzunehmende Funktion hat die Programmierung ergeben: a) I m Normalfall besitzt das Staatsoberhaupt keinen Einfluß auf die Entscheidung. Entscheidungsträger ist ein anderes Staatsorgan. Das Staatsoberhaupt leitet die Willensbildung des entscheidenden Staats1

Benemy, F. W. G., The Elected Monarch, London 1965, S. 22. Ob es sich dabei u m ein monarchisches oder republikanisches Staatsoberhaupt handelt, macht f u n k t i o n a l keinen Unterschied; s. Jennings , W. I., S. 303. 3 Kimminich, Otto, S. 87. 4 Nach Hermens, F. Α . (II), S. 262, f ü l l t sie das V a k u u m aus, das alle Parteiregierungen auf dem Gebiet des Symbolischen kennzeichnet; s. dazu auch Küchenhoff, Günther, Staatsrecht, allg. Teil, Hannover 1951, S. 70 f. 5 Kaltefleiter, W. (I), S. 33. 6 Küchenhoff, G. (I), S. 70. 2

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organs ein oder vollzieht dessen Willen. Dabei ist i m tatsächlichen Bereich zu beobachten, daß, teilweise bedingt durch das jeweilige Parteiensystem, die rechtliche Bestellungsfunktion des Parlaments überlagert w i r d durch die vom Volk getroffene Wahlentscheidung, b) Versagt das entscheidende Staatsorgan, so lebt die Reservemacht des Staatsoberhauptes wieder auf, die bloße Ernennungsfunktion schlägt i n ein materielles Benennungsrecht um. Es war nun die Aufgabe der Conventions, das auch auf dem Gebiete der Berufung des Regierungschefs zwischen dem durch die Prärogative gewährten rechtlichen Rahmen und den funktionalen Systemanforderungen bestehende Spannungsverhältnis zu lösen. Dies geschah, indem i n jahrhundertelanger Auseinandersetzung und i n wechselndem Tempo eine Entwicklung i n Richtung der sich i n ihrem Ermessensspielraum ständig verjüngenden Ernennungsprärogative vorangetrieben wurde, was i n der Gegenwart schließlich zu ihrer „Funktionalisierung" geführt hat. Darunter soll die Reduzierung des materiellen Inhalts der Prärogativrechte auf eine bloße Vollzugsfunktion verstanden werden. Ohne daß eine rechtliche Verfügung über die Prärogative getroffen worden wäre, hat das Auswahlermessen des Monarchen seit 1688 durch verschiedene Conventions eine fortlaufende Einschränkung erfahren. I n dieser Zeit wurden insbesondere die Merkmale des parlamentarischen Regierungssystems verwirklicht. Die heute vom Monarchen zu beachtenden Ernennungserfordernisse bei der Berufung eines Prime Ministers sollen i m folgenden dargelegt werden. 1. Politische Voraussetzungen

a) Formale Erfordernisse aa) Sitz i m Parlament Der britische Monarch ist bei Ausübung seines Ernennungsrechts zunächst an eine fest verwurzelte, die Prärogative i n formeller Hinsicht einschränkende Konvention gebunden: er darf nur ein Mitglied des Parlaments zum Premierminister ernennen 7 . Diese Beschränkung findet ihren Grund i m Frage- und Informationsrecht des Parlaments 8 : das betreffende Regierungsmitglied muß jederzeit i m Parlament verfügbar sein, um dort Rede und A n t w o r t zu stehen 9 . Seit der Amtszeit des ersten 7 Als Beispiele einhelliger Auffassung v o n Lehre u n d Praxis: Carter, Β . E., The Office of Prime Minister, London 1955, S. 43; Wade and Phillips, S. 61; Benemy, F. W., S. 22; Jennings, W. I. (I), S. 21; Loewenstein, Κ . (VI), S. 382 ff., 386. 8 E i n solches Zitierungsrecht findet sich i n sämtlichen parlamentarischen Verfassungen, s. etwa A r t . 43 Abs. 1 GG. 9 Z u m Verhältnis v o n parlamentarischer Verantwortlichkeit u n d Z i t i e rungsrecht vgl. Finer, S. E., The I n d i v i d u a l Responsibility of Ministers, i n Public A d m i n i s t r a t i o n 1956, S. 378 f.

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„Premierministers", Sir Robert Walpole 10 , war jeder Premier zum Zeitpunkt seiner Ernennung bereits Mitglied eines der beiden Häuser des Parlaments. Eine weitere konventionale Einschränkung hat sich seit etwa einem halben Jahrhundert durchgesetzt: seit dem Ende der Regierungszeit von Lord Salisbury 1 1 gehörten sämtliche Premierminister dem Unterhaus an. A u f die Zweckmäßigkeit einer solchen Regel wurde bereits i m Jahre 1839 durch den Herzog von Wellington 1 2 i n einer Rede vor dem Oberhaus hingewiesen: "have long entertained the opinion, that the Prime M i n i s t e r . . . under existing circumstances, ought to have a seat i n the other House of Parliament." Tatsächlich hatte der Herzog von Wellington i m Jahre 1834 das i h m angebotene A m t des Premiers m i t der Begründung ausgeschlagen, daß die wirklichen Parteiauseinandersetzungen i m Unterhaus stattfänden 13 . Diese Ansicht wurde dann durch die Entwicklung bestätigt 14 . Insbesondere waren ständige Koordinationsprobleme zwischen dem Premier i m Oberhaus und dem Leader of the House 15 i m House of Commons an der Tagesordnung 16 . Zwar hielt Gladstone ein J u n k t i m zwischen Premierschaft und Unterhaussitz noch i m Jahre 1894 für nicht erforderlich 17 , doch Lord Rosebery betrachtete den Versuch, die Regierungsmaschinerie vom Oberhaus aus zu führen, als „Absurdität" 1 8 . Walter Bagehot 19 hatte damals bereits sein Modell der parlamentarischen Regierung entwickelt, und für i h n war die elective Function des Unterhauses die kennzeichnende und begriffsnotwendige Norm des parlamentarischen Systems 20 . Daher konnte Harcourt 2 1 den Anspruch 10

1722- 1742. 1902. 12 Pari. Deb. 3rd, series, Vol. 47, col. 1016. 13 Peel, Memoiren I I , London 1846, S. 19. Übersetzung: „ I c h b i n seit langem der Meinung, daß der Premier unter den gegenwärtigen Umständen einen Sitz i n der Zweiten K a m m e r des Parlaments haben sollte. 14 So waren Melbourne, Derby, Aberdeen, Beaconsfield, Salisbury, Rosebery i n ihrer Amtszeit als Premierminister großen Schwierigkeiten ausgesetzt. 15 Der Leader of the House erfüllt i n etwa die F u n k t i o n eines Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei. 16 Mackintosh, J., The B r i t i s h Cabinet, Appendix I I , London 1962, S. 310. 17 Letters of Queen Victoria, 3rd. series, I I , S. 369. 18 Gardinger, A . G., Life of Sir W i l l i a m Harcourt, London 1923, I I , S. 271. 19 Bagehot, Walter, The English Constitution, London 1963. 20 Parliamentary Government oder Cabinet Government w a r nach Bagehot, W., S. 66, n u r dann gegeben, w e n n das Parlament das doppelte Recht der Entsetzung u n d Besetzung der Regierung besitze : . . . i t (House of Commons) is the assembly w h i c h chooses our president — es, das Unterhaus, ist die Vereinigung, welche unseren Präsidenten wählt, S. 150. 21 Gardinger, A . G., Life of Sir W i l l i a m Harcourt, London 1923, I I , S. 127. 11

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des Unterhauses als des eigentlichen Kreationsorgans formulieren, den Prime Minister als den Vorsitzenden des parlamentarischen Geschöpfes „Regierung" aus den eigenen Reihen zu entsenden und ihn so i m Einflußbereich des Unterhauses zu halten. Hinzu kam, daß das gegenseitige Verhältnis der beiden Häuser des Parlaments eine Veränderung erfahren hatte. M i t den Wahlreformen von 1867 und 1884 und der i n ihnen verwirklichten Demokratisierung des Wahlrechts war das Pendel zugunsten einer eindeutigen Überlegenheit des Unterhauses ausgeschlagen. Die Position des Oberhauses hatte überdies durch den Parliament A c t 2 2 eine weitere Schwächung erfahren. Unabhängig davon geriet die Frage, ob ein Mitglied des House of Lords noch zum Premierminister berufen werden durfte, i m Mai 1923 zu höchster Aktualität, als Bonar L a w aus Gesundheitsgründen zurückgetreten war. Die Konservative Partei hatte bei den General wählen von 1922 344 Sitze errungen 28 und stellte daher den Premierminister. Für dieses A m t kam vor allem Lord Curzon of Kedleston i n Frage, früherer Vizekönig von Indien, Mitglied des Kriegskabinetts von L l o y d George und Bonar Laws bekanntester Minister und Vorsitzender der konservativen Fraktion i m Oberhaus. Er wurde jedoch übergangen und an seiner Stelle der Unterhausabgeordnete und Chancellor of the exchequer i m Kabinett Bonar Law, Stanley Baldwin, vom König ernannt. Bonar Law, der als aus dem Amte scheidender Premier verpflichtet gewesen wäre, den König i n der Nachfolgefrage zu beraten 24 , kam unter Hinweis auf seinen schlechten Gesundheitszustand der Aufforderung zuvor, einen solchen Rat zu erteilen 25 . Der König holte aber den Rat von Lord Salisbury, Earl Balfour, Mr. Bridgeman und Mr. Amery ein2®. Von diesen setzte sich nur Lord Salisbury, dessen Vater der letzte dem Oberhaus entnommene Prime Minister war, für Lord Curzon ein 2 7 . Zwei Fragen standen bei der Entscheidung gegen Lord Curzon i m Vordergrund: zunächst war es seine unbeliebte Persönlichkeit, die eine gedeihliche Zusammenarbeit i m Parlament und Kabinett nicht erwarten ließ 2 8 ; das entscheidende Argument wurde aber i n einem von Mr. J. C. C. Davidson, 22

1 et 2 Geo. 5, C. 13. Statistik. 24 Jennings , W. I . (I), S. 44. 25 Jennings , W. I . (I), S. 23, S. 45. 26 Blake, Robert, The u n k n o w n Prime Minister, London 1955, S. 516 - 527. 27 Sir H a r o l d Nicolson, S. 376; Blake, Robert, S. 527. 28 Die unsympathische Persönlichkeit w a r auch Gegenstand des bekannten satirischen Verses der Oxforder Studenten: „ M y name is George Nathaniel Curzon, I am a most superior person", zit. nach Dagtoglou, P., Der Staat, 1965, A n m . Nr. 9, S. 87. Loewenstein, Κ . (IV), S. 1072; Blake, R., S. 511, S. 521 f.; Amery, Leopold, Thoughts on the Constitution, 2. Aufl., London—New Y o r k — Toronto 1953, S. 21 f.; Keith, A . B., The B r i t i s h Cabinet System, 2. Aufl. v. Gibbs, Ν . H., London 1952, S. 28 f. 28

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dem Vorsitzenden der konservativen Landesparteiorganisation für Bonar L a w bestimmten Memorandum verwendet: "The t i m e . . . has passed, when the direction of domestic policy can be placed outside the House of Commons 29 ". Die Tatsache, daß die Labour-Party als Hauptoppositionspartei i m Unterhaus, i m Oberhaus nicht vertreten war, mache es erforderlich, daß der Premierminister Mitglied des House of Commons sei 30 . Dennoch stand die Entscheidung von 1923 nicht von Anfang an fest. Wie schon erwähnt, hatte der konsultierte Lord Salisbury die M i t gliedschaft i m House of Commons nicht als unbedingte Voraussetzung für das A m t des Premiers empfunden. U n d noch i m Jahre 1850 war eine Niederlage der Regierung i m House of Lords als so schwerwiegend empfunden worden, daß von ihr darauf hin — als Kompensation — ein ausdrückliches Vertrauensvotum i m Unterhaus verlangt wurde 3 1 . Doch hatte sich m i t dem Ausschluß Lord Curzons und der Ernennung Stanley Baldwins ein Präzedenzfall gebildet, an dem sich inzwischen, da die damalige Entscheidung verpflichtende W i r k u n g entfaltet, allgemeine Anerkennung gefunden hat 3 2 und überdies auch zwingende Gründe für sie sprachen, eine Convention entwickelt, die ein J u n k t i m von ständiger Amtsführung als Premier und gleichzeitiger Mitgliedschaft i m Unterhaus gebietet. Jennings 83 nennt die dafür maßgebenden zwingenden Gründe: eine Verantwortlichkeit der Regierung bestünde ausschließlich gegenüber dem Unterhaus, dessen Zusammensetzung für die A r t der Regierung maßgebend sei. Der Premierminister fungiere gleichzeitg als der wirkliche „Leader" seiner Partei i m Parlament, d. h. i m Unterhaus. Ganz allgemein gesprochen müsse der Premier seine Hand „am Puls" des Parlaments haben. Vor allem aber w i r d die Opposition stets darauf bestehen, den Premierminister zum Zwecke der K r i t i k und der Befragung i n ihrer Mitte zu haben. Der Premier seinerseits sei an der Zugehörigkeit zum Unterhaus schon deshalb interessiert, w e i l er dort Gelegenheit hätte, sich vor dem Forum zu verteidigen, wo er am heftigsten angegriffen werde. Die Auswirkungen jener Convention wurden insofern bedauert 34 , als durch sie möglicherweise der fähigste Parlamentarier von der Nachfolge i m Amte des Prime Ministers nur aus dem „Zufall" seiner Zugehörigkeit zum Oberhaus ausgeschlossen werde. Jennings 29 Blake, R., S. 520 f. Übersetzung: „Jene Zeiten, i n denen es möglich war, die L e i t u n g der I n n e n p o l i t i k außerhalb des Unterhauses anzusiedeln sind vorüber." 30 Carter , Β . E., Office of the Prime Minister, London 1955, S. 43; Keith , Α . Β., The Privileges and the rights of the Crown, London 1936, S. 40 f. Anfang Stepat L i p p e r t 11.5.73 Fußnoten B l a t t 121 31 Jennings , W. J. (I), S. 22. 32 Dagtoglou, P., S. 87. 33 Jennings , W. J. (I), S. 24; ähnlich Mackintosh, J., S. 19 f. 34 Jennings, W. J. (I), S. 24.

7 Lippert

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hatte daher bereits damals die später i m Peerage Act von 196335 tatsächlich verwirklichte Lösung vorgeschlagen, den Lords die Möglichkeit zu gewähren, auf ihre erbliche Mitgliedschaft 36 i m Oberhaus zu verzichten und dafür für das House of Commons zu kandidieren. Eine deutliche Bestätigung fand die Convention der Unvereinbarkeit zwischen der Ausübung des Premieramtes und der Mitgliedschaft i m House of Lords erst i m Oktober des Jahres 1963 mit der — allerdings umstrittenen — 3 7 Ernennung Sir Douglas Homes zum Premierminister. Sir Douglas war zwar noch als Lord Home und Mitglied des House of Lords zum Premierminister ernannt worden 3 8 , doch bereits am 24. Oktober 1963 machte er von seinem i h m nach dem Peerage Act zustehenden Recht Gebrauch, verzichtete auf seine Adelstitel 3 9 und bewarb sich m i t Erfolg u m einen Sitz i m Unterhaus 40 . Der 1963 entwickelte Präzedenzfall beweist zugleich, daß die Mitgliedschaft i m Oberhaus kein Ernennungshindernis, sondern eine bloße Inkompatibilität darstellt 41 . Demgegenüber ist der Erwerb eines Sitzes i m Unterhaus für die Amtsführung als Premierminister unverzichtbar. Wäre 1963 der — unwahrscheinliche — Fall einer Wahlniederlage Sir Douglas Homes eingetreten, so hätte sich sein Rücktritt vom Amte des Premiers wohl nicht vermeiden lassen. Die erfolgreiche Wahl des Premierkandidaten i n das Unterhaus könne daher unter Anwendung deutscher Rechtsterminologie als auflösende Bedingung der Ernennung zum Premierminister bezeichnet werden 42 . Heute erscheint es, vorbehaltlich einer grundsätzlichen Reform des Oberhauses hinsichtlich seiner inneren Struktur und seiner Stellung i m Verfassungsgefüge, ausgeschlossen, daß ein Mitglied des House of Lords zum Premierminister ernannt wird, ohne ins Unterhaus überzuwechseln. b) Materielle politische Voraussetzungen aa) Berücksichtigung der stärksten Partei Der Regierungschef sowie seine Regierung i m parlamentarischen System erhalten die Legitimierung ihrer Amtseinsetzung durch die hinter ihnen stehende Parlamentsmehrheit. Die Nichtbeachtung dieses 35

11 Eliz. 2 c 48. Die Peerage gilt als immaterielles Erbgut, als „incorporeal hereditament"; vgl. Loewenstein , Κ . (VI), S. 246 u n d James, Ph., S. 132. 37 Vgl. hierzu die näheren Ausführungen i m Abschnitt über die Amtsnachfolge eines ausscheidenden kons. Premierministers, 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 4. Abschnitt. 38 A m 19.10.1963. 89 Insgesamt sieben, davon fünf i n der Peerage v o n Schottland u n d je einen i n derjenigen v o n England u n d des Vereinigten Königreichs; er w a r der 14. E a r l of Home; vgl. dazu Loewenstein, Κ . (VI), S. 247. 40 W a h l a m 6.11.1963. 41 So Dagtoglou, P., Die königliche Prärogative, S. 87. 42 Z u r K r i t i k an der Ernennung eines nicht dem Unterhaus angehörenden Premierministers vgl. Bromhead, P., The Peerage A c t and the new Prime 36

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Grundsatzes führte — wie i m konstitutionell geprägten, dualistischen parlamentarischen System — zur Doppelabhängigkeit sowie zur Instabilität der Regierung. Zwei Grundformen der parlamentarischen Bestellung sind möglich 43 : einmal die formalisierte Wahl des Regierungschefs durch das Parlament und den anschließenden Vollzug der parlamentarischen Entscheidung durch den Staatspräsidenten als Pflichtaufgabe, andererseits die Ernennung des Kandidaten durch das Staatsoberhaupt, das dabei jedoch den Willen des Parlaments antizipiert. I n Großbritannien w i r d der Primeminister noch heute vom Monarchen kraft der diesem zustehenden Prärogative ernannt. Die das parlamentarische Regierungssystem verwirklichenden Conventions sichern jedoch den parlamentarisch legitimierten Primeminister. Bereits Bagehot 44 hat die Bestellung des Kabinetts als „einen notwendigen, konstitutiven Bestandteil der parlamentarischen Regierungsform" bezeichnet 45 . Dieses Ergebnis bedeutet die Funktionalisierung des monarchischen Prärogativrechts, da die Königin i m Sinne der Kontinuitätsfunktion für eine möglichst rasche und stabile Regierungsbildung zu sorgen hat. Es bedeutet gleichzeitig eine weitere Beschränkung des Kreises der i n Frage kommenden Kandidaten, da infolge der Notwendigkeit parlamentarischen Vertrauens und angesichts des Zweiparteiensystems nur mehr ein Kandidat der stärksten Partei — i m Mehrparteiensystem ein Exponent einer Koalition — das Vertrauen der Parlamentsmehrheit zu garantieren vermag. Die Königin ist bei der Ausübung ihres Ernennungsrechts bereits hinsichtlich der Partei, welcher der Kandidat entnommen werden soll, dann engsten Schranken unterworfen, wenn eine Partei die absolute Mehrheit der Unterhaussitze errungen hat oder eine sichere und stabile Mehrheit durch koalitionsmäßigen Zusammenschluß mehrerer Fraktionen gebildet wird. Letztere Konstellation stellt zwar ebenfalls einen Anwendungsfall der Kontinuität dar, soll aber aus systematischen Erwägungen erst später behandelt werden 46 . I n beiden Lagen handelt die Königin i n Ausübung der übertragenen Zuständigkeit zur Ernennung des Premiers und vollzieht damit eine Verfassungspflicht. Das Problem der regierungsberechtigten Partei stellt sich nach einer Niederlage der den Primeminister stellenden Partei i n den Generalwahlen oder i m Unterhaus. Behauptet die Regierungspartei i n den General Elections ihre absolute Mehrheit, so unterbleibt eine Entscheidung über Minister, i n : Parliamentary Ä f f airs, 1963/64, S. 57 ff. (63 f.); derselbe: The B r i t i s h Constitution i n 1963, i n : Parliamentary Ä f f airs, 1963/64, S. 142 ff., 149. 43 Kehlenbeck, Paul, Staatspräsident, hektografierte Veröffentlichung der Forschungsstelle f ü r Völkerkunde a. ausi. ö. R. d. Univers. H a m b u r g Nr. 25, Hamburg 1950, S. 28 ff. 44 Bagehot, W., S. 101. 45 Bagehot, W., Die „Elective Function" sei die „Most important Function of the House of Commons", S. 151. 46 Vgl. 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 4. Abschnitt I I . 7*

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die Berufung eines Primeministers, da der Zusammentritt des neugewählten Unterhauses — i m Gegensatz zum entsprechenden Vorgang i n Deutschland — 4 7 nicht die automatische Folge einer Amtsbeendigung des Regierungschefs hat. Der Premierminister kann i n Wahrung des i n Großbritannien eines der Schlüsselprinzipien der Verfassung bildenden Kontinuitätsgrundsatzes 48 ohne formelle Neubestätigung i m Amte verbleiben. Allerdings bedarf die Regierung des Vertrauens des neuen Parlaments, das inzidenter m i t Ablehnung des nach der Thronrede 49 von der Opposition stets eingebrachten Mißtrauensvotums ausgesprochen wird 5 0 . Bei tatsächlicher Annahme des Mißtrauensantrags — was gegenwärtig infolge der Parteienstruktur faktisch ausgeschlossen erscheint — 5 1 muß der Premier m i t seinem Kabinett zurücktreten, und der Monarch w i r d die Oppositionspartei zur Regierungsbildung heranziehen 52 . Dodi seit Disraeli i m Jahre 1868 zum erstenmal i n der englischen Verfassungsgeschichte unmittelbar nach der Wahlniederlage seiner Partei zurückgetreten war, ohne den Zusammentritt des neuen Parlaments abzuwarten, fällt dem Monarchen die Aufgabe zu, nach dem Rücktritt des bisherigen Regierungschefs den Exponenten der i n den General Elections siegreichen Partei zum Prime Minister zu ernennen. Zwar hatte der unmittelbare Nachfolger Disraelis, Gladstone, 1874 zunächst gezögert, diesen Schritt zu wiederholen, doch fügte er sich schließlich i n die Tatsache einer oppositionellen, konservativen Mehrheit 5 3 . Jenen Präzedenzfällen entsprang wieder eine Convention, welche den Ausgang der General Elections i m funktionierenden Zweiparteiensystem zur unmittelbar plebiszitären Entscheidung über den Bestand der Regierung werden ließ 54 . Aus diesem Grund stand etwa 1924 eine Regie47

A r t . 69 Abs. 3 GG. „The Queen's Government must be carried on", so der berühmte Ausspruch Wellingtons s. Duke of Wellington, Dispatches, new series, I V . S. 209. 49 Die „Speech f r o m Throne" oder „ H e r Majesty's most gracious Speech" stellt die Regierungserklärung des englischen Kabinetts dar. 50 Die Ablehnung des Mißtrauensvotums entwickelte sich aus dem u r sprünglich gefaßten Beschluß, dem Monarchen f ü r die Thronrede den D a n k des Hauses auszusprechen; so Loewenstein, K . (VI), S. 198, u n d Gespräche m i t N e v i l Johnson. 51 Z u r Frage der Parteidisziplin i m britischen Parlament s. Dowse, Robert E. u n d Trevor Smith, i n : Parliamentary Ä f f airs, Vol. X V I , N r . 2 1963, S. 159 ff.; Party Discipline i n the House of Commons a Comment. 52 Dieser F a l l t r a t 1841 ein, als die Whigs (Liberalen) die General Elections verloren, Viscount Melbourne sich aber weigerte, zurückzutreten: Das Unterhaus verabschiedete m i t den Stimmen der konservativen Mehrheit ein Mißtrauensvotum, worauf K ö n i g i n Victoria keine andere W a h l hatte, als den Führer der Konservativen, Sir Robert Peel, zum Prime Minister zu ernennen. M s. dazu Morley, John, The Life of W i l l i a m Gladstone, London 1903, Bd. I I , S. 493. 54 Campion, Gilbert, Parliament and Democracy, i n : L o r d Campion, Parliament, survey London 1963, S. 25: „The T r u t h is that Democracy has made Ministers the servant of the electors, not of the House." 48

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rungsbildung durch die Konservativen, 1945 durch Labour und 1951 wiederum durch die Konservativen von vorneherein fest 85 . Die Frage nach der Regierungsberechtigung einer Partei stellt sich nur dann, wenn die Regierungspartei während der Legislaturperiode das parlamentarische Vertrauen verliert. Dieser Fall i m MehrparteienUnterhaus kann eintreten, wenn keine Partei über die absolute Mehrheit der Sitze verfügt 5 6 , oder, — i m Zweiparteienparlament — wenn die Regierungspartei auseinanderfällt und die „Dissenters" m i t der Opposition stimmen 57 . Die erste Alternative steht aber ebenfalls i m Zusammenhang m i t dem nichtfunktionierenden Zweiparteiensystem und w i r d daher bei der Darstellung der Reservemacht des Staatsoberhauptes erörtert werden 58 . Die zweite Möglichkeit einer offenen Niederlage der Regierung i m Unterhaus ist heute fast ausgeschlossen59. Die vor allem aus den A n forderungen eines Zweiparteiensystems geborene, strenge Parteiloyalität veranlaßt die Abgeordneten, sich fast immer den Anordnungen der Parteiführung zu beugen und i n parlamentarischen Abstimmungen das geforderte Verhalten zu zeigen 60 . Die Regierungsmehrheit w i r d sich daher i m Ernstfall stets schützend u m das bedrohte Kabinett versammeln und eine drohende parlamentarische Niederlage zu verhindern wissen 61 . 55 Der Fall, daß eine Oppositionspartei i n den General Elections i m U n t e r haus n u r die relative Mehrheit erobert, soll wegen seiner Zugehörigkeit zur Konstellation des nichtfunktionierenden Parteisystems erst später behandelt werden, s. die Ausführungen zum Minderheitenpremier i m 1. H a u p t t e i l des 1. Kapitels, 4. Abschnitt. 56 So w a r es, als Whigs u n d Peelites i m Jahre 1852 der Regierung Derby eine Niederlage bereiteten. Der gleiche F a l l t r a t ein, als nach den Generalwahlen 1923 die Konservativen zwar die stärkste Partei i m Parlament blieben, aber v o n einer sich aus Liberalen u n d Labour zusammensetzenden M e h r heit i n der Frage des Mißtrauensvotums i m Anschluß an die Thronrede überstimmt w u r d e n u n d zurücktraten. 57 So etwa 1885, als Gladstone nach einer A b s t i m m u n g über den Haushaltsplan u n d 1895 die Regierung Rosebury nach einer Abstimmungsniederlage zurücktrat. 58 Vgl. die Ausführungen i m 1. H a u p t t e i l des 1. Kapitels, 4. Abschnitt. 59 Der letzte F a l l eines offenen parlamentarischen Sturzes ereignete sich 1895, als die Regierung Rosebury gestürzt wurde. 60 s. zum Zweiparteiensystem v o r allem die eingehende Darstellung v o n Oppermann, Thomas, Britisches Unterhauswahlrecht u n d Zweiparteiensystem, j u r . Diss. Freiburg 1960. I n jüngster Zeit mehren sich jedoch die Stimmen, die dem Chor derjenigen, die bereits eine totale Fraktionsdisziplin annehmen, entgegentreten u n d auf den tatsächlichen Einfluß der „back-benchers" hinweisen; so v o r allem Ronald, The Power of Parliament, London 1967, S. 425. β1 Davon ist die „stille", an den Wahlchancen orientierte Auswechslung der Führungsgruppe durch die eigene F r a k t i o n zu unterscheiden. Die M e h r heitsfraktion w i r d ihrer Regierung so lange folgen, als sie sich der Z u s t i m -

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Sollte sich aber dennoch der unwahrscheinliche Fall ereignen, und das Unterhaus ein Mißtrauensvotum beschließen, so geht der Verfassungsanspruch auf Regierungsbildung nicht unmittelbar auf die Oppositionspartei über 62 . Schon aus der praktischen Erwägung, daß i m Zweiparteiensystem die Oppositionspartei, auch wenn es ihr gelungen sein sollte, die Regierung i n einer wichtigen Frage m i t Hilfe von Überläufern zu überstimmen, an ihren sicheren Parlamentssitzen nicht zunehmen kann, erscheint ein solcher „Anspruch" unrealisierbar. Hinzu kommt, daß der Monarch, würde er die Oppositionspartei zur Regierungsbildung heranziehen, i n Gefahr geriete, seine von der Kontinuitätsfunktion vorgezeichnete neutrale Haltung und damit seine Unangefochtenheit und Autorität aufzugeben. Der bedeutsamste Grund liegt aber schließlich i n einer gewaltigen, i m Jahre 1832 mit der ersten Wahlrechtsreform eingeleiteten und erst 192863 m i t der Erfassung aller Bevölkerungsschichten zum Abschluß gekommenen Ausdehnung der Wahlbürgerschaft und der durch sie verursachten Veränderungen i m Dreiecksverhältnis von Wählerschaft, Parlament und Regierung. Vorläufig sei nur erwähnt, daß proportional der zunehmenden Deckungsgleichheit von wahlberechtigter Aktivbürgerschaft und Volk die repräsentative Bedeutung des Unterhauses zugunsten des plebiszitären Gewichts der allgemeinen Wahlen zurückgetreten ist. Schon vor der Wahlrechtsreform von 1885 zwang ein parlamentarisches Mißtrauensvotum die Regierung nicht mehr zum sofortigen Rücktritt, sondern führte zunächst zur Auflösung des Unterhauses durch den Monarchen 64 . Ganz i m Sinne der von Carl Schmitt 6 5 gebildeten Merkmale des „Kabinettsfalls" und der von i h m dargelegten Schiedsrichterrolle des Volkes bei dieser A r t der Auflösung, hatte dann die Wählerschaft Gelegenheit, sich die Argumente der Regierung oder der rebellierenden Mehrheit des Parlaments zu eigen zu machen. m u n g der Wähler zur Regierung sicher ist; w e n n die Regierung diese U n t e r stützung nicht zu finden vermag, werden die Regierungsparteien die Regierung zum R ü c k t r i t t zwingen, u m m i t Hilfe einer neuen Führungsgruppe ihre Aussichten f ü r einen Wahlerfolg zu verbessern. Der Wechsel von A n t h o n y Eden zu Harold M a c m i l l a n 1957 u n d der v o n M a c m i l l a n zu L o r d Home 1963 sind englische Beispiele f ü r den oben beschriebenen Regierungswechsel. I n Deutschland ereigneten sich gleiche Vorgänge b e i m Kanzlerwechsel von K o n r a d Adenauer zu L u d w i g E r h a r d 1963 u n d Erhard zu K u r t Georg Kiesinger 1966. 62 Dagtoglou, P., Prärogative, S. 89. 63 Representation of the people A c t 1928,18 & 19 Geo. 5, c 12, s. 1 (1, c.). 64 Greaves , S. 14, sieht diese Methode als seit 1967 befolgt an; ebenso Bagehot, W., S. 15; Hübner, S. 30; Schmitt, Carl, Der H ü t e r der Verfassung, Tübingen 1929, S. 321/324; Morrison, H., Regierung u n d Parlament i n England, München 1956, S. 124; Jennings -Ritter, Das britische Regierungssystem, K ö l n — Opladen 1958, S. 106. 65 Schmitt, Carl (V), S. 339 f.

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Billigten die Wähler der bisherigen Opposition eine größere Anzahl von Sitzen als der Regierung zu, so war der Streit entschieden, und das Kabinett hatte zurückzutreten 66 . Die Auflösung des Unterhauses wäre heute u m so mehr die „automatische Folge" 6 7 eines vom Parlament gebilligten Mißtrauensvotums, als die Souveränität des Volkes m i t Verwirklichung des demokratischen Prinzips die Parlamentssouveränität i n zunehmendem Maße überlagerte. Als Ergebnis ist damit festzuhalten, daß die Convention, die stärkste Partei zur Regierungsbildung heranzuziehen, i m Zweiparteiensystem stets gilt und durch die Erweiterung des Wahlrechts i m 19. Jahrhundert und die dadurch bedingten Veränderungen eine erneute Bestätigung erfahren hat. bb) Die unumstrittene Führerstellung des Premierkandidaten i n der regierungsberechtigten Partei Steht die regierungsberechtigte Partei fest, so ist i n ihr noch die zur Übernahme des Premieramtes legitimierte Persönlichkeit zu bestimmen. Auch hier hat i m Laufe der Entwicklung das monarchische Prärogativermessen eine Reduzierung i n der Weise erfahren, daß dem König die Ernennung des unumstrittenen „Leaders" der Mehrheitspartei zur Verfassungspflicht geworden ist 6 8 . I m Sinne des i n dem bekannten Satz "The Queen's Government must be carried on" ausgedrückten Leitgedankens, ist es die Aufgabe des Monarchen, für eine schleunige und sichere Regierungsbildung zu sorgen; dies, indem er entweder die Beschlüsse anderer, zuständiger Verfassungsorgane vollzieht oder bei deren Ausfall selbst unter Ausschöpfung seiner Reservemacht eingreift. Aus zwei Gründen ist nur die Besetzung des Premieramtes m i t dem — soweit vorhanden — unumstrittenen Parteiführer geeignet, eine reibungslose Regierungsbildung zu garantieren: Erstens w i r d es nur dem anerkannten Leader gelingen, sein politisches Programm durch das Unterhaus, d.h. letztlich durch seine Mehrheitspartei gesetzlich sanktionieren zu lassen; und überdies ist i m britischen Zweiparteiensystem jeweils ein Parteiführer von der Wählerschaft i n den grundsätzlich einem Führungswechsel vorausgegangenen Wahlen als Premierminister „determiniert" worden 6 9 , d.h. die Entscheidung des Wahlvolkes w i r d inzwischen gegenüber der Vertrauenskundgabe des Parlaments als die vorrangige Legitimierung angesehen70. Der Stellung des Premiers als ββ Scheuner, U., i n : Recht u n d Staat i n Geschichte u n d Gegenwart, Bd. I I , 1950, S. 17. e7 Küchenhof, G. u. E., S. 176. 68 Jennings, W. I. (I), S. 25; Dagtoglou, P., Prärogative, S. 90. ββ Wegen der automatischen Auflösung finden auch bei dem „offenen" parlamentarischen Sturz grundsätzlich Generalwahlen statt. 70 Oppermann, Thomas, Unterhauswahlrecht u n d Zweiparteiensystem, j u r . Diss., Freiburg 1960, S. 105.

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Parteiführer kommt insbesondere i n Großbritannien größte Bedeutung zu, w e i l die englischen Parteien eine von den meisten festlandseuropäischen erheblich abweichende Struktur auf weisen: Es handelt sich bei ihnen nicht u m uniforme Blöcke m i t geschlossener und verpflichtender Weltanschauung, die primär Partialinteressen vertreten, sondern es kommt i n ihnen ein weites Spektrum politischer Anschauungen zum Ausdruck. Vor allem die Konservative Partei trägt sämtliche Merkmale einer sämtliche Schichten des Volkes umfassenden Volkspartei an sich 71 . Die englischen Großparteien sind auch noch stärker als die kontinentalen lockere Kompromißgebäude von i n allgemeinster Hinsicht Gleichgesinnten 72 . Es ist besonders erstaunlich, daß die i n ihrer Zusammensetzung stark heterogene Konservative Partei, die i n ihrer Geschichte eine Unzahl von Ideen, wirtschaftlichen Interessen und Einflüssen zu verarbeiten hatte, dennoch immer wieder i n der Lage war, organisatorisch, personell und politisch den Angriffen der Liberalen und der mächtigen Labour Party 7 3 eine i m englischen Bewußtsein fest verankerte Alternative entgegenzustellen. Mitursache dieser Entwicklung war das zum Teil auf das britische Wahlrecht zurückzuführende Zweiparteiensystem 74 . I n den englischen Parteien ist man sich bewußt, daß eine Spaltung i n den eigenen Reihen den Regierungsverlust unvermeidlich werden ließe 75 . U m so notwendiger war aus diesem Grunde die Herstellung einer strengen parlamentarischen Disziplin, u m den Zusammenhalt der auseinanderstrebenden Gruppen zu sichern. Aber nur der tatsächliche Führer der Partei vermag diese Disziplin instrumental zur Durchsetzung seiner politischen Ziele zu gebrauchen und i m Unterhaus die entsprechenden Mehrheiten zu finden. Den eigentlichen Parteiführer der siegreichen Partei bei der Besetzung des Premierministeramtes zu übergehen, wäre fast gleichbedeutend m i t der Regierungsunfähigkeit dieser Partei. Schwere Spannungen zwischen den einzelnen Flügeln und Interessengruppen und

71 Dies gilt, w e n n auch i n beschränkterem Maße, ebenfalls f ü r die Labour Party, i n welcher der v o n A n f a n g an starke Einfluß der Gewerkschaftsbewegung f ü r eine nicht-marxistische u n d der Evolution verpflichtete A u s richtung sorgte. 79 Diese Eigenschaft w i r d bereits i n der v o n E d m u n d B u r k e vorgenommenen Definition der Partei: „ a body of men united, for promoting b y their j o i n t endeavours the national interest upon some particular principle i n which they a l l agreed" genannt; vgl. Burke , E., Thoughts on the Cause of the Present Discontents, Vol. I, S. 375, 378, London 1854, i n : The Works of the R. H. E d m u n d Burke, hrsg. v o n Henry Rogers, Bd. I , London 1854. 78 1951 zählte die Labour Party 15,5 M i l l i o n e n Wähler u n d 849 000 M i t glieder; aus: Mathiot, André, The B r i t i s h Political System, London 1958, S. 101. 74 Doch gibt es hier weitere bedeutungsvolle Ursachen, vgl. den 1. H a u p t teil, 1. Kapitel, 3. Abschnitt. 75 Oppermann, Th., S. HQ,

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schließlich das Unvermögen, i m Unterhaus ein einheitliches Abstimmungsverhalten zu erreichen, wären die Folgen. Daraus resultiert die Pflicht des Monarchen, den unumstrittenen Leader zum Premier zu ernennen. Freilich muß dabei gesichert sein, daß der Leader für den Monarchen und seine Mitarbeiter ohne weiteres feststellbar ist. Die beiden großen Parteien 7® verfügen daher heute über ein rationalisiertes Wahlverfahren, das dafür sorgt, daß ein Vakuum i m Amte des Party-Leaders, abgesehen von der Zeit der Neubestellung, nicht mehr entstehen kann. Diesem Ergebnis kommt übrigens unmittelbar verfassungserhebliche W i r k u n g zu. Dies war aber nicht immer so: infolge des spontanen organisatorischen Ursprungs der Massenparteien 77 kannten weder die Konservativen noch die Liberalen ein rationalisiertes Bestellungsverfahren. „Leadership" bedeutete eine tatsächliche Position, die nur auf dem Wege eines „natürlichen Ausleseverfahrens" 78 zuwachsen konnte. Man könnte diesen Zeitabschnitt, der bis i n die Mitte des 19. Jahrhunderts währte, m i t dem Etikett „Leadership kraft Autorität statt Majorität" versehen. Diese Phase wurde etwa zu Beginn der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts durch ein immerhin formalisiertes Bestellungsverfahren abgelöst: ab dieser Zeit 7 9 wurde der Parteiführer von einem als Party-meeting bezeichneten Parteikonvent gewählt, auf dem die konservativen A b geordneten von Ober- und Unterhaus, die i n den verschiedenen Wahlkreisen bereits vorgesehenen Kandidaten für die General Elections sowie einige Mitglieder des Executive Committee 80 stimmberechtigt waren. Dieses Gremium war für den Vollzug der Wahl des Leaders zuständig. Die Bezeichnung „Vollzug" erscheint insofern angebracht, als es sich tatsächlich mehr u m eine „ A k k l a m a t i o n " 8 1 einer vor der Abstimmung bereits von anderen Stellen getroffenen Entscheidung handelte. 78 Die Liberalen können hier unerwähnt bleiben, w e i l sie als Regierungspartei, die den Prime Minister stellen könnte, nicht mehr i n Frage kommen. 77 Z u r Geschichte der politischen Parteien Großbritanniens s. v o r allem McKenzie, R.T., Politische Parteien i n England, Köln—Opladen 1961; Loewenstein , Κ . (VI), S. 123 ff. 78 Loewenstein , Κ . (IV), S. 1073. 79 Diese reichte f ü r die Konservative Partei bis zur Reform des W a h l v e r fahrens zur Bestellung eines konservativen Parteiführers i m Jahre 1965; die Labour-Party hatte v o n A n f a n g an ihre Führer i n einem vollrationalisierten Wahlmodus gewählt. 80 Der Exekutivausschuß ist ein sich aus 150 Mitgliedern zusammensetzendes Organ der „ N a t i o n a l Union", der F ö d e r a t i w e r e i n i g u n g der konservativen Wahlkreisvereinigungen (gegr. 1876) u n d dient als Verbindungsglied zwischen Parteileitung u n d der Wahlkreisvereinigung der Formulierung v o n politischen Zielvorstellungen des Wahlkreisverbandes u n d deren Ü b e r m i t t l u n g an die Parteileitung; so Gespräch m i t M r . Milne. 81 Loewenstein , Κ . (VI), S. 169.

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Wer daran letztlich mitwirkte, w i r d nicht ganz klar, obwohl durchaus objektive Verfahrensweisen der Willensbildung feststellbar sind. Es erscheint allerdings übertrieben, wenn Loewenstein 82 von einem „bemerkenswerten Stil von Intrigen, Hinterhalten und Dolchstößen" spricht. Ein Vorgehen auf dieser Grundlage kann sich wohl kaum eine moderne Massenpartei gestatten. Moodie 83 kommt der Wahrheit schon wesentlich näher, wenn er meint, daß die eigentliche Entscheidung von den erfahrenen älteren Staatsmännern nach Konsultationen mit den „Whips" 8 4 getroffen wurde. Tatsächlich versuchten wohl die Whips i m Auftrag der „key people" 85 den Meinungsstand i n den repräsentativen Gruppen der Gesamtpartei, vor allem aber der Unterhausfraktion, zu ermitteln. Der Maßstab war dabei die Autorität der möglichen Kandidaten i n Partei und Wählerschaft, ihre Fähigkeit zur Integration der Gesamtpartei. Hatte sich dann als Ergebnis des beschriebenen Konsultationsprozesses eine Persönlichkeit als aussichtsreichster Kandidat für die „Leadership" herauskristallisiert, so bedeutete die anschließende Wahl i m „Partymeeting" i n den allermeisten Fällen tatsächlich eine bloße Akklamation. Aus diesem Grund könnte die zweite Phase der Bestellungsmodi der Parteiführer m i t „durch Akklamation bestätigte Autorität" überschrieben werden: die Legitimation schöpfte der Parteiführer aus der vorher innegehabten Autorität, die Wahlhandlung bedeutete deren formelle Bestätigung 88 . Dabei sind allerdings bei der Konservativen Partei 8 7 zwei Situationen zu unterscheiden: Verfügt die Partei über die Mehrheit und stellt sie den Regierungschef, so erfolgt — sollte durch Tod oder Rücktritt des bisherigen Premierministers und Parteiführers die Bestellung eines neuen Leaders notwendig werden — der parteiinterne A k t „der Leaderwahl" erst nach vollzogener Premierernennung durch den Monarchen. Die jüngste Zeit kennt Situationen, wo der Premierminister zurückgetreten war und sein Nachfolger i n Anerkennung des Kontinuitätsprinzips vom Monarchen ernannt werden mußte, ohne daß die konservative Regierungspartei vorher Gelegenheit gehabt hätte, ihren Leader 82

Loewenstein , Κ . (VI). Moodie, G. C., The Government of Great Britain, London 1964, S. 54. 84 Z u m Begriff der Whips, s. Loewenstein , Κ . (VI), S. 225 ff. 85 Bedeutet also soviel wie Zentralfiguren; so Gespräch m i t M r . Milne. 80 Es sind aber auch strittige Abstimmungen bekannt: 1922 brach das K o a litionskabinett L l o y d George zusammen u n d das berühmte Carlton-HouseMeeting k ü r t e an Stelle v o n Austen Chamberlain Bonar L a w zum Parteiführer, worauf dieser von K ö n i g Georg V. i n das A m t des Premierministers berufen wurde. 87 Die L a b o u r - P a r t y hatte ihren Leader v o n Anfang an i n einem streng formalisierten Wahlverfahren gewählt. Vgl. dazu McKenzie, R. T., B r i t i s h Political Parties, New York—London, 2. Auflage 1964, S. 297 ff. 83

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zu nominieren 88 . Wegen der Pflicht der Königin, den unumstrittenen Parteiführer der regierungsberechtigten Partei m i t dem Amte des Premiers zu betrauen, hatte gerade diese Fallgestaltung noch i n jüngster Vergangenheit Anlaß für verfassungsrechtliche Auseinandersetzungen geboten 89 . Eine Stellungnahme hierzu soll i m Abschnitt über die monarchische Reservemacht versucht werden 90 . Während die „Choice" des Leaders unter diesen Umständen nur mehr den innerparteilichen Vollzug der monarchischen Ernennung bedeutet, ist der umgekehrte Vorgang dann zu beobachten, wenn sich die Konservative Partei i m Unterhaus i n Opposition befindet: die Entscheidung der Partei gewinnt verfassungsmäßig Relevanz, da i m Falle eines konservativen Wahlsiegs bei den nächsten General Elections die Berufung des Parteiführers als des bisherigen „Leader of the Opposition" und damit des alternativen Regierungschefs zum Premier unumgänglich feststeht 91 . Dabei verfügt die Konservative Partei wiederum über zwei Möglichkeiten: entweder w i r d vom „Party-Meeting" ein neuer Parteiführer nominiert, oder die Partei beschränkt sich auf die Wahl eines Vorsitzenden der Unterhausfraktion, der dann nicht nur der sichere Premierkandidat für die laufende Legislaturperiode, sondern infolge des faktischen Gewichts der Unterhausfraktion i m Rahmen der Gesamtpartei und ihrer landesweiten Ausstrahlung auf die Wählerschaft der wahrscheinliche Premierminister i m Falle eines Wahlsieges seiner Partei sein wird. Edward Heath ist nach dem Rücktritt Sir Douglas Homes 1965 nicht nur zum „Fraktionsvorsitzenden", sondern auch zum Party-Leader gewählt worden. Weniger, weil es, wie Loewenstein 92 meint, „untunlich" sei, die Partei ohne offiziellen Parteiführer fungieren zu lassen, sondern w e i l sich aus der spätestens seit 1923 gefestigten, ein J u n k t i m zwischen Ausübung des Premieramtes und Unterhausmitgliedschaft fordernden Convention eine Personalunion zwischen der Leaderschaft der Unterhausfraktion und der Oppositionsführung bzw. Premierstellung herausgebildet hat. 88 So w a r es, als Mister Chamberlain 1940 zurücktrat. Nach Konsultationsgesprächen m i t L o r d H a l i f a x u n d Winston Churchill, den beiden H a u p t k a n didaten, aber auch m i t der Labour-Party, riet er dem K ö n i g Georg VI., Mister Churchill zu berufen. Während des Zweiten Weltkrieges fragte der K ö n i g zweimal den Premierminister Churchill, w e r i m Falle dessen Todes zu ernennen wäre. Churchill gab die schriftliche A n t w o r t , M r . Eden m i t dem A m t e zu betrauen; s. dazu Sir John Wheeler-Bennett , K i n g George VI., S. 544 - 546. Ebenso w a r es 1955, als der zurücktretende Churchill gegenüber der K ö n i g i n Sir A n t h o n y Eden als seinen Nachfolger vorschlug. 89 So insbesondere die Ernennung L o r d Homes zum Premierminister i m Oktober 1963. 90 Vgl. dazu den 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 4. Abschnitt. 91 s. zur Stellung des britischen Oppositionsführers i n Partei, Parlament, Öffentlichkeit u n d Außenpolitik: Beioff, M a x , The Leader of the Opposition i n : Parliamentary Affairs 1957/8, S. 155 - 162. 92 Loewenstein (VI), S. 170.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Die vor der Geltung jener Convention geübte Beschränkung auf die Wahl eines bloßen, parlamentarischen Führers ist sinnlos geworden, da sie die Berufung eines Leaders der Gesamtpartei determiniert 0 8 . A n dieser Stelle soll noch darauf hingewiesen werden, daß m i t dem „Leader of the Party" nicht der „President der National Union of Conservative und Unionist Associations" gemeint ist. Diese, sämtliche konservativen Wahlkreisorganisationen des Landes umfassende, auf föderativer Grundlage errichtete Vereinigung, bestellt nämlich i n jährlicher Wahl einen Präsidenten, einen Vorsitzenden und drei stellvertretende Vorsitzende. Wahlkörper ist das Central Council, das sich aus dem Leader of the Party, führenden Funktionären, Repräsentanten der Parteibezirke und vor allem sämtlichen konservativen Parlamentsmitgliedern zusammensetzt. Das führende Gremium der Nationalen Union ist ein Exekutivausschuß, dessen Mitgliederzahl jedoch so groß ist 9 4 , daß die eigentliche gestaltende Tätigkeit von einem kleineren Ausschuß von 50 Mitgliedern, dem „General Purposes Committee" 9 5 geleistet wird. Seine Mitglieder sind die Landes- und Bezirksführer der National Union9®. Das dritte Führungsglied i n der Organisation der Konservativen Partei, das Central Office, fungiert als Parteizentrale und Organisationszentrum. A n seiner Spitze stehen ein vom Party-Leader ernannter Chairman und ein Deputy-Chairman. Obwohl der Präsident der National Union gleichzeitig Vorsitzender der Konservativen Partei ist 9 7 , erfüllt er auch als Chairman des Central Office ausschließlich parteiadministrative Aufgaben, sein Einfluß auf die Formulierung der Parteipolitik ist denkbar gering. Dieser w i r d vom Party-Leader geprägt, wobei er allerdings durch einen Konsultativausschuß für Parteipolitik und die konservative Unterhausfraktion beschränkt w i r d 9 8 . Vor allem den Unterhausmitgliedern kommt dabei besonders Einfluß zu, w e i l der Party-Leader von ihrer Unterstützung i n der parlamentarischen Arbeit, aber auch i m Rahmen der Parteiorganisation — viele Gliederungen der Partei sind m i t Abgeordneten durchsetzt — zur Verwirklichung seiner politischen Ziele abhängig ist. Die überragende Bedeutung der „Parliamentary Party" sowie die konventionale Vorschrift, den Premierminister dem Unterhaus zu entnehmen, hatte also schon vor der Reform 1965 bewirkt, daß der Leader der Parliamentary Party m i t einer A n w a r t schaft auf die Leadership der Gesamtpartei ausgestattet war. 9S M i t dem Ziel, eine voreilige Präjudizierung auf den Premierkandidaten — w i e sie m i t W a h l eines Vorsitzenden der Gesamtpartei eintreten würde — zu vermeiden, s. Beioff, M a x (I), S. 157/158. 64 150 Mitglieder. 95 Ausschuß f ü r allgemeine Angelegenheiten. fle So Gespräch m i t M r . M i l n e u n d Informationspapier des Central Office. 97 Blondel, Jean, Demokratie i n England, F r a n k f u r t 1964, S. 126. 98 Blondel, Jean, S. 126.

. Abschn.: „Royal Prerogative" und

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cc) Die formalisierte Wahl des Leaders — Autorität kraft Majorität I n der Gegenwart verfügen beide großen Parteien über ein vollrationalisiertes Wahlverfahren zur Bestellung des Party-Leaders 09 . Die Beschlußfassung beruht i n beiden Parteien auf dem Prinzip des „Ein Mann = eine Stimme" 1 0 0 ; d.h. die zahlenmäßige Majorität gibt den Ausschlag und bildet die Legitimitätsgrundlage des Leaders. Das Verfahren besitzt den Vorteil der erhöhten Rechtssicherheit, da es stets sicherstellt, daß ein Leader vorhanden ist und damit gleichzeitig i n größtmöglicher Weise die neutrale Stellung des Monarchen schützt. M i t der eigentlich parteünternen Maßnahme wurde eine weitere Determinierung der königlichen Prärogative bei der Ernennung des Premiers erreicht. Dem Monarchen ist damit ein bisher, wenigstens bei der Konservativen Partei, vorhandener Spielraum bei der Suche nach dem unumstrittenen Leader entzogen worden. Dieser steht m i t dem Ergebnis der Wahl fest 101 . a) Die Wahl des Leaders der Labour-Party Die konventionale Verpflichtung des Monarchen, den unangefochtenen Leader der regierungsberechtigten Partei i n das A m t des Premierministers zu berufen, hatte die Labour-Party vom Beginn ihres parlamentarischen Auftretens an m i t der Einführung einer formalisierten Wahl des Leaders und eines „Deputy-Leaders" durch die Labour-Lords und die sozialistischen Abgeordneten des Unterhauses beantwortet 1 0 2 . Der zu Beginn jeder Parlaments-Session i n geheimer Wahl erwählte Leader hat sich, ebenso wie der Deputy-Leader, der jährlichen Wiederw a h l zu stellen 108 , eine Regelung, welche i n der Konservativen Partei unbekannt ist 1 0 4 . Wie die Schwierigkeiten, die Hugh Gaitskell 1960 zur Sicherung seiner Wiederwahl zu überwinden hatte, beweisen, handelt es sich dabei u m keine bloße Formalität 1 0 5 . Diese Feststellung gilt insbesondere für den Labour-Leader i n der Rolle des Oppositionsführers. Bekleidet er jedoch gleichzeitig das A m t des Primeministers, so dürfte seine jährliche Wiederwahl eine formale Bestätigung so lange bleiben, 99

Die Konservativen seit der Reform v o n 1965. Blondel, J., S. 123. 101 Hinsichtlich des konservativen Premiers g i l t insofern eine Ausnahme, als v o r der Reform v o n 1965 unter gewissen Umständen ein scheinbarer Spielr a u m des Monarchen erhalten geblieben w a r ; vgl. dazu die Darstellung i m 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 4. Abschnitt. 102 Z u r Rolle des Labour-Leaders i n der Gesamtpartei u n d seine Wahl, vgl. McKenzie, S. 335 - 365. 103 Benemy, F . W . . S . 3 1 . 104 Dort w i r d der Leader auf unbestimmte Zeit gewählt, s. Carter, Gwendolyn M., The Government of the United Kingdom, New Y o r k 1962, S. 56. 105 Loewenstein, Κ . (IV), S. 1075. 100

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

als die Fraktion der Ansicht ist, daß die von der Regierung betriebene Politik noch über eine ausreichende Zustimmungsgrundlage i n der Wählerschaft verfügt; i m anderen Falle w i r d es m i t größter Wahrscheinlichkeit aber auch nicht zu einer offenen Abwahl, sondern nur zu einer „stillen" Auswechselung des Führungspersonals kommen 1 0 8 . Die Stellung des Labour-Leaders erscheint trotz der notwendigen jährlichen Bestätigung, vergleicht man die Anzahl „verschlissener" Parteiführer seit dem Beginn der Zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts i n beiden Parteien, unangefochtener als die Position des auf unbestimmte Zeit gewählten konservativen Leaders 107 . M i t der obligatorischen Wahl eines Deputy-Leaders bezweckte die Labourparty, jede Unterbrechung der Kontinuität i n der Führungsspitze, auch bei plötzlichem Ausscheiden des Leaders infolge Tod, Krankheit oder Rücktritt, zu verhindern. Dem Monarchen sollte i n jeder Situation ein unumstrittener Führungskandidat zur Ernennung zur Verfügung stehen. Der Anspruch auf die Premierstellung sollte bei Wegfall des Leaders auf den Deputy-Leader übergehen. Nicht zuletzt hatte die Partei m i t Einführung der formalisierten Wahl des Vorsitzenden und seines Stellvertreters auch dem Prinzip innerparteilicher Demokratie Rechnung zu tragen versucht 108 . Hinsichtlich der Stellung des Leaders of the Party i m Rahmen der Gesamtpartei gilt bei Labour Ähnliches wie bei anderen großen Parteien. U m den Leader gruppieren sich noch die Vorsitzenden verschiedener Parteiorgane. Ranghöchstes Organ ist der Parteitag, politisch führendes Gremium der Exekutivausschuß 100 . Er besteht aus 28 Mitgliedern, von denen allein 20 auf dem jährlichen Parteitag von den Sektionen der Partei gewählt werden 1 1 0 . Von den restlichen 8 Angehörigen des Exekutivausschusses wählt der Gesamtparteitag 6 1 1 1 und die Parlamentsfraktion 2 Mitglieder 1 1 2 . Der Exekutivausschuß wählt auf der Grundlage des Seniorats jährlich einen Vorsitzenden und einen Stellvertreter. Der Vorsitzende ist dann gleichzeitig der Präsident, nicht aber 106

Kaltefleiter, W. (I), S. 30 u n d die dortigen Beispiele i n A n m . 31. So kennt die Konservative Partei seit 1923 7 Leaders; Stanley Baldwin, Neville Chamberlain, Winston Churchill, A n t h o n y Eden, Harold MacMillan, Sir A l e x Douglas-Home, E d w a r d Heath; die Labour-Party i m gleichen Z e i t r a u m n u r 5 Vorsitzende: Ramsay, MacDonald, George Lansbury, Clement Attlee, H u g h Gaitskell, H a r o l d Wilson. Die näheren Umstände der Wahlen von George Lansbury, MacDonald, Attlee, Gaitskell u n d Wilson schildert Loewenstein, Κ . (IV), A n m . 36, S. 1076. 108 Benemy, F. W., S. 31. 109 Blondel, J., S. 123. 110 Die Gewerkschaften stellen 12, die Wahlkreisvereinigungen 7 u n d die sozialistischen Gesellschaften 1 Mitglied. 111 5 Frauen u n d der Kassenwart. 112 Nämlich die beiden Führer, die k r a f t Amtes Mitglieder des genannten Ausschusses sind. 107

. Abschn.: „Royal Prerogative" u n d

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der Leader der Partei 1 1 3 . Infolge der stimmenmäßigen Überlegenheit der Parteifunktionäre und der Gewerkschaften i m Ausschuß erscheint die Position der 2 Fraktionssitze als sehr schwach. Blondel 1 1 4 führt dies auch auf das mangelnde Prestige der Fraktionsstimmen zurück, die keine Repräsentanten von Massen, sondern eben nur der Parlamentspartei seien. Dieses Argument verkehrt sich aber i n sein Gegenteil, wenn man die vom modernen Zweiparteiensystem erzeugte Situation des Duells zwischen den beiden Spitzenkandidaten betrachtet. Der Party-Leader ist heute zwar nicht zum Repräsentanten organisierter Massen, wohl aber von Millionen von Wählern geworden 115 . Demgemäß steigt auch der faktische Einfluß der Parlamentarier i m Ausschuß und den übrigen Parteigliederungen, obwohl der Labour-Leader auf Grund der Gesamtstruktur der Partei nicht über die gleiche Ermessensfreiheit wie sein konservativer Kollege verfügt 11®. Hinzu kommt noch ein weiteres, das Prestige des Parteiführers steigerndes Moment: während der parlamentarische Leader nur nach langer Laufbahn und vielseitigster Bewährung zur Spitze gelangen kann, werden die Gewerkschaftssitze i m Ausschuß nicht nach Qualifikation verteilt, sondern stehen nach einem bestimmten Schlüssel den Einzelgewerkschaften zu, die dann allein darüber entscheiden, von wem sie i m Ausschuß vertreten werden; persönliche oder politische Voraussetzungen des Vertreters spielen dabei keine Rolle 1 1 7 . ß) Die Wahl des konservativen Parteiführers nach der Reform von 1965 Der Wechsel i m Amte des Prime Ministers von Eden zu MacMillan 1 1 8 und vor allem von MacMillan zu Lord Home 1 1 9 hat innerhalb der Konservativen Partei und i n der Öffentlichkeit die Frage aufgeworfen, ob ein dem Publikum und selbst der Parteiöffentlichkeit so wenig zugängliches Verfahren, wie es i n der Konservativen Partei bis dahin üblich war, i m demokratischen Zeitalter nicht seine Daseinsberechtigung eingebüßt hätte. Benemy 1 2 0 verweist den Wähler bei seiner Besprechung der Bestellungsverfahren der beiden großen Parteien ausdrücklich auf die Waffe des Stimmzettels; damit könne bei den nächsten Generalwahlen der allgemeinen Ablehnung des konservativen Wahlverfahrens Ausdruck verliehen werden. 113

Blondel J., S. 124. Blondel, J., S. 125. 115 Beioff, M a x (I), S. 159/160. 116 McKenzie, R. T. (II), S. 63 ff., 65, 66. 117 Entscheidend sei nicht der Wettbewerb, sondern der „zufällig richtige Posten i n der richtigen Gewerkschaft"; so Blondel, J., S. 130. 118 1957. 119 1963. 120 Benemy, F. W., S. 31. 114

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. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Die genannten Präzedenzfälle und das durch sie geweckte Unbehagen i n der Öffentlichkeit mögen zwar als Anlaß der dann rasch zum Abschluß gebrachten Reformbemühungen i n Betracht kommen 1 2 1 . Ursache war aber w o h l die allmählich wachsende Uberzeugung innerhalb der führenden Kreise der Partei, daß i n der gegenwärtigen, vom Gedanken demokratischer Legitimation geprägten Zeit, die Vorteile 1 2 2 des bisherigen Verfahrens gegenüber seinen Nachteilen 123 zurückzutreten hätten. Aus diesen Gründen hatte Sir Douglas Home i m Februar 1965 die Verfahrensreform eingeleitet. Das Ergebnis war die von einer Kommission unter dem Parteivorsitzenden Lord Blakenham ausgearbeitete Wahlordnung zur Wahl des Leaders of the Party. Sie wurde — ihre amtliche Bezeichnung lautet "Procedure for the Selection of the Leader of the Conservative and Unionist Party" — vom "1922-Committee", dem Zusammenschluß derjenigen konservativen Unterhausabgeordneten, die kein Regierungsamt innehaben, verabschiedet. Dieses Gremium m i t der offiziellen Bezeichnung "Conservative and Unionist Private Member's Committee" wurde i m Jahre 1922 gegründet und erlangte bereits i m gleichen Jahr eine gewisse Berühmtheit, als es das Zentrum der backbenchrevolt gegen die weitere Beteiligung der Konservativen am Koalitionskabinett L l o y d George bildete 1 2 4 . Seit dieser Zeit hat das 1922-Committee eigentlich die Aufgabe wahrgenommen, die i n anderen parlamentarisch regierten Ländern einer Fraktion zufallen. Es tagt mindestens einmal pro Woche, wobei politische Fragen von grundsätzlicher Bedeutung diskutiert werden. Die Ergebnisse dieser Gespräche werden von der frontbench genau registriert, u m ähnlichen Entwicklungen wie 1922 vorzubeugen 125 . Nachdem die Reform von 1965 das 1922-Committee zum eigentlichen Wahlkörper er121 Die konservative Wahlniederlage i n den General Elections 1964 t r u g gleichfalls dazu bei, die Diskussion über das Bestellungsverfahren nicht mehr zur Ruhe kommen zu lassen; vgl. Loewenstein , Κ . (IV), S. 1105. 122 E i n V o r t e i l bestand darin, daß m a n sich der A u t o r i t ä t des Monarchen bedienen konnte. E i n v o m Monarchen ernannter Kandidat würde v o n dieser i n n e r - u n d außerparteilich w i r k e n d e n A u t o r i t ä t profitieren; vorteilhaft ist da die sehr rasch zu erzielende Lösung der Nachfolgefrage, die es gestattet, daß nach den stets am Donnerstag stattfindenden Unterhauswahlen bereits am Freitag ein Premierminister ernannt ist; so Gespräch m i t M r . M ü n e i m Central Office. 123 Angesichts der Forderung nach „Transparenz" der Verfahren muß die Unzugänglichkeit des früheren Bestellungsverfahrens f ü r W a h l v o l k u n d die Presse als schwerwiegender Nachteil empfunden werden, so Gespräch m i t M r . Milne. 124 Nähere Darstellungen der Aufgaben u n d Zusammensetzung des 1922Committee finden sich bei W i l d u n g u n d Laundy, opus zitiert bei Loewenstein, Κ . (IV), S. 376; v o r allem aber vgl. die Ausführungen i n McKenzie, Κ . T. (II), S. 55/63. 125 Campbell, George, Parliament, London 1960, S. 113; Dowse, R. u n d T. Smith, S. 160.

. Abschn.: „Royal Prerogative" u n d

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hoben hatte, ist dieses Gremium schon aus diesem Grunde zu einem Kraftzentrum geworden, das die seit 1965 parlamentarisierte Premierwahl der konservativen Partei beherrscht 126 . Die Wahlordnung des 1922-Committee stellt insgesamt 3 Wahlgänge für die Bestellung des Leaders zur Verfügung; es herrscht der Grundsatz der schriftlichen und geheimen Wahl 1 2 7 . Das Wahlverfahren beginnt damit, daß der als Wahlleiter fungierende Vorsitzende des 1922Committee 1 2 8 schriftliche Nominierungsvorschläge, die m i t einer Einverständniserklärung des Kandidaten versehen sein müssen 129 , entgegennimmt. Wirksame Vorschläge, die mindestens 24 Stunden vor Beginn des ersten oder zweiten Wahlganges vorliegen müssen, werden veröffentlicht 180 » 1S1 . I m ersten Wahlgang ist gewählt, wer die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erhalten hat und dessen Stimmenzahl zusätzlich u m mindestens 15 Prozent der Gesamtstimmenzahl über der Stimmenzahl des zweitstärksten Bewerbers liegt 1 3 2 . Sollte die erste Wahlphase nicht zum Ziele führen, so setzt nach Ablauf einer Mindestfrist von zwei Tagen 133 der zweite Wahlgang ein. Interessanterweise läßt § 8 i m Gegensatz zum Verfahren der Bestellung des Labour-Führers neue Kandidaturen zu. Dies kann dann von Bedeutung sein, wenn die beiden Kandidaten von zwei etwa gleichstarken extremen Flügeln ohne Kompromißbereitschaft aufeinandertreffen. Ein neuer, erst i m zweiten Wahlgang auftretender Bewerber der Mitte, auf den sich beide Flügelgruppen einigen könnten, hätte dann Aussicht, zum neuen Parteiführer gewählt zu werden, u m beide Gruppen zur Mitarbeit 128

Abgesehen von der notwendigen Bestätigung durch das Party-Meeting, der aber n u r formale Bedeutimg zukommt, entspricht das Wahlverfahren der Konservativen eindeutiger den parlamentarischen Grundsätzen, als das der Labour Party, als sich dort das W a h l g r e m i u m (Parliamentary Party) nicht n u r aus Unterhausabgeordneten, sondern auch aus Lords zusammensetzt. 127 § 5 Wahlordnung. 128 § 2 Wahlordnung. 129 § 3 Wahlordnung. 130 §§ 3 u n d 4 Wahlordnung. 131 Die konservative Partei hat m i t der E i n f ü h r u n g eines ausdrücklichen Vorschlagsverfahrens nicht n u r die Erkenntnisse der politischen Wissenschaft hinsichtlich der Zweiphasigkeit eines jeden Wahlvorganges — nämlich V o r schlags u n d W a h l —, sondern auch der Notwendigkeit des Vorschlages f ü r die Fähigkeit zur E n t w i c k l u n g v o n Kandidaturen i n großen Wahlkörpern v e r wertet; n u r sehr kleine u n d homogene Wahlgremien sind i n der Lage, V o r schlag u n d entscheidende A u s w a h l miteinander zu verknüpfen u n d i n einem einzigen Prozeß zu lösen; vgl. hierzu den interessanten Essay Dolf Sternbergers „über Vorschlag u n d W a h l " i n : Kandidaturen zum Bundestag — die A u s w a h l der Bundestagskandidaten 1957 i n zwei Bundesländern, K ö l n u n d B e r l i n 1961, S. 11 bis 49, insbesondere S. 11 f. 132 §6. 133 So § 8; diese Frist erfüllt augenscheinlich den Zweck, f ü r eine Entspannung der Atmosphäre i n ähnlicher Weise wie die Abkühlpause des A r t . 63 GG zu sorgen. 8 Lippert

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

zu gewinnen 134 . I n diesem Wahlgang genügt die absolute Mehrheit ohne das Erfordernis des qualifizierten Vorsprungs 135 . Führt auch die zweite Wahlphase nicht zur absoluten Mehrheit, so findet i m unmittelbaren Anschluß daran ein dritter und letzter Wahlgang statt, i n dem aber nur die drei Bewerber m i t den — i m vorausgegangenen zweiten Wahlgang — höchsten Stimmenzahl kandidieren können 138 . Die Wähler sind i m dritten Abstimmungsgang gehalten, zwei Präferenzen anzugeben 137 . Gemäß § 12 scheidet der Kandidat m i t der kleinsten Zahl Erstpräferenzen aus. Die auf ihn entfallenen Zweitpräferenzen werden den anderen beiden Kandidaten zugeschlagen. A u f diese Weise hat man sichergestellt, daß auf jeden Fall von einem Kandidaten schließlich die absolute Mehrheit erreicht wird. Darin ist die Erkenntnis verwertet, daß proportional dem Grade der qualifizierten Mehrheit die Zahl der Wahlgänge steigt oder — umgekehrt — bei von Anfang an beschränkter Zahl von Wahlgängen eine Lockerung der Mehrheitenqualifizierung eintreten muß 1 3 8 . M i t dem Kunstgriff, die Präferenzen aufzuteilen, war es gelungen, stets absolute Mehrheiten herzustellen und somit eine Annäherung an die Einmütigkeit der Wahl zu erreichen. U m Parteiführer zu werden, bedarf der Gewählte noch der Bestätigung durch das Party-Meeting, die ebenfalls i m Wege einer Wahl vollzogen wird, aber — schon wegen des Gewichts der Unterhausfraktion und der politischen Unerfahrenheit vieler Teilnehmer des Party-Meeting 1 3 9 — eine bloß formale Bedeutung haben kann. Die eben erläuterte Wahlordnung hat nach dem Rücktritt Sir Alee Douglas Homes vom 22. J u l i 1965 bereits einmal Anwendung gefunden: am 27. J u l i konnte Edward Heath i m 1. Wahlgang 150 Stimmen auf sich vereinigen 140 . Da die Voraussetzungen des Vorsprungs von 15 Prozent noch nicht erfüllt waren 1 4 1 , fand am 28. J u l i 1965 ein weiterer Wahlgang statt, i n dem Edward Heath einstimmig gewählt wurde 1 4 2 . Der neugewählte Leader schuf sogleich einen Präzedenzfall, indem er einen stellvertretenden Parteiführer ernannte 143 . Was m i t dieser Wahl bereits feststand, trat 1970 ein, als der konservative Wahlsieg i n den General Elections W i r k 134 135

136 137 138

Gespräch m i t M r . Milne. §9.

§10. §11.

Sternberger, Dolf (III) S. 18. E i n großer T e i l der Mitglieder nehmen als Delegierte der Wahlkreisorganisationen am Party-Meeting teil. 140 133 entfielen auf Reginald M a u d l i n g u n d 15 auf Enoch Powell. 141 Die Grundstimmenzahl betrug 298. 142 Eine eingehende Darstellung des Führungswechsels findet sich bei Butler, D. E. u n d A . King, „The B r i t i s h General Election ov 1966" L o n d o n Melbourne—Toronto—New Y o r k 1966, S. 44 f. 143 I n der L a b o u r - P a r t y dagegen w i r d der Deputy Leader ebenso wie der Party Leader formal gewählt. 139

2. Abschn.: „Royal Prerogative" und Constitutional Conventions

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lichkeit geworden war. Die Königin berief Edward Heath zum Prime Minister. Damit war das reformierte Bestellungsverfahren i n sämtlichen Stufen einmal durchgespielt worden. Es entfaltet i n vierfacher Weise Bedeutung: Einmal verwirklicht es konsequent das Prinzip der innerparteilichen Demokratie, da jeder Unterhausabgeordnete i n gleichberechtigter Weise an der Wahl des Leaders teilnimmt. Weiterhin ist die konservative Unterhausfraktion alleiniger Entscheidungsträger i n der Besetzung der Party-Leader-Stellung. Die Reform entfaltet zugleich erhebliche verfassungsrechtliche Wirkung, w e i l infolge eines stets vorhandenen gewählten Leaders die königliche Prärogative auch i n einer bis dahin noch offen scheinenden Situation eine Funktionalisierung erfahren hat. Schließlich aber ist — wie bereits an der Wahl von Edward Heath abzulesen war — die Position des konservativen Premierministers auch für Bevölkerungskreise zugänglich gemacht, die bis dahin von der höchsten politischen Stellung des Landes ausgeschlossen waren 1 4 4 . Diese Auswirkung könnte man als „sozialen Effekt" bezeichnen. c) Persönliche

Voraussetzungen

Der Prime Minister und das Kabinett i n ihrer heutigen Form sind Geschöpfe der Conventions. Daher bestehen keine formalen Vorschriften über die zur Amtserlangung notwendigen persönlichen Voraussetzungen eines Kandidaten. Die seit 1923 unumstrittene Convention, daß der Primeminister, u m zu dauernder Amtsführung befähigt zu sein, Mitglied des Unterhauses sein muß, gestattet den Schluß, daß die von einem Unterhauskandidaten zu erfüllenden Wählbarkeitsvoraussetzungen auch für den Premier gelten. So sind etwa folgende Personenkreise nicht zum Unterhaus wählbar 1 4 5 : Ausländer, ausgenommen sind davon die irischen Staatsangehörigen, soweit sie die übrigen Voraussetzungen erfüllen, sowie Geisteskranke. Ferner Personen, die wegen Hochverrats (treason) oder eines Verbrechens (felony) rechtskräftig zu einer Strafe von mehr als zwölf Monaten verurteilt sind, Geistliche der anglikanischen und der schottischen Staatskirche, des römisch-katholischen Klerus und insbesondere Minderjährige. Das Mindestalter zur Erlangung des aktiven Wahlrechts betrug bis 1969 21 Jahre und wurde durch den „Representation of the People A c t " 1969 auf 1 4 6 18 Jahre herabgesetzt. Ein Premierkandidat müßte also die eben aufgezählten Voraussetzungen unbedingt erfüllen. Würde der eigentlich unvorstellbare Fall eintreten und eine Partei dem 144 Interessante Hinweise über die soziale Zusammensetzung des K a b i netts M a c M i l l a n finden sich bei Sampson, Α., S. 138. 145 Eine vollständige Aufstellung der Wahlhinderungsgründe findet sich bei Wade and Phillips, S. 80 ff. 146 17 u n d 18 Eliz. 2 c 15.



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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Monarchen einen i n dieser Hinsicht ungeeigneten Leader zur Ernennung präsentieren, so wäre die Königin i n ihrer dann auflebenden Reservemacht 147 berechtigt und verpflichtet, den Vorgeschlagenen zu übergehen, u m eine rechtswidrige Ernennung zu verhindern. Die Reservemacht berechtigt das Staatsoberhaupt stets dann zum Eingreifen, wenn entweder das systemgerechte Zusammenwirken der Verfassungsorgane nicht funktioniert oder es von Seiten der Beteiligten unternommen wird, rechtswidrige Handlungen durch das Staatsoberhaupt vollziehen zu lassen 148 . Neben den genannten formellen persönlichen Voraussetzungen haben sich i m Laufe der geschichtlichen Entwicklung Bedingungen herausgebildet, deren Erfüllung eine „Conditio sine qua non" für die Erlangung des Prime Ministeramtes darstellt. Es handelt sich dabei nicht u m Voraussetzungen, deren Vorliegen der Monarch beim Vollzug der Ernennung aus rechtlichen Gründen zu beachten hätte, sondern u m Laufbahnstationen, politische Erfahrung, die ein Bewerber absolviert haben muß, u m die für die Party Leadership notwendige Befähigung nachzuweisen; man könnte sie als materielle persönliche Laufbahnerfordernisse bezeichnen. Diese beziehen sich auf die von Anfang an oder m i t der Zeit dem Prime Minister überantworteten drei Wirkungsbereiche Parlament, Kabinett und Öffentlichkeit, sowie den daraus resultierenden Anforderungen. Der erste Grundsatz besteht darin, daß der Zugang zur Leadership nur auf dem Wege der parlamentarischen Laufbahn zu erreichen ist 1 4 9 . Sie stellt — i m Unterschied zu den Vereinigten Staaten, wo infolge des strikt durchgeführten Gewaltenteilungsschemas die parlamentarische Laufbahn keineswegs das Ziel der Präsidentschaft haben muß — die unverzichtbare erste Stufe auf dem Wege zum Amte des Premierministers dar. Die parlamentarische Laufbahn nimmt ihren Anfang damit, daß der junge Kandidat 1 5 0 nach einem fast obligatorisch erfolglosen Versuch beim zweiten Anlauf ins Unterhaus gewählt w i r d und dort Gelegenheit bekommt, i n Parlamentsausschüssen und i n seiner Fraktion sachlich mitzuarbeiten. Bewährt er sich hier, so kann er nach den nächsten Wahlen, vorausgesetzt, seine Partei bildet weiterhin die Regierung, zum unbesoldeten Privatsekretär eines nicht dem Kabinett angehörenden Junior-Ministers aufsteigen, u m die Arbeit i m Ministerium kennen147 s. dazu die Ausführungen zur Rollenfunktion des Staatsoberhaupts i m parlamentarischen Regierungssystem, oben, Einleitung, Β I I . 148 Aus der Position des Staatsoberhaupts fließt auch ein Interesse an der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit u n d ganz allgemein des rechtlichen P r i n zips; vgl. dazu Menzel, Eberhard, Ermessensfreiheit des Bundespräsidenten bei der Ernennung der Bundesminister? i n D Ö V 1965, S. 581 fï. 149 Hearnshaw, S. 46; Jennings , W. I. u n d G. Ritter, S. 160. 150 Die englischen Premierminister haben ihre politische Laufbahn i m A l t e r von durchschnittlich 25 Jahren begonnen, so Bigham, Clive, „The Prime Ministers of B r i t a i n " , London 1924, S. 346.

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

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zulernen. Die nächste Stufe wäre dann die Stellung als Junior-Minister 1 5 1 und schließlich, nach weiteren Zeiten der Bewährung i n der Regierungsarbeit, nach vielen Wahlkämpfen und einer gründlichen Schulung i n der Öffentlichkeitsarbeit 152 , der Rang eines Kabinettsministers, der dann, je nach den Gaben des Politikers und der Gunst der Umstände, tatsächlich zum Sprungbrett für das höchste politische A m t des Landes werden kann. Allerdings findet auch auf der Kabinettsebene ein harter Ausleseprozeß statt, und i n den einzelnen Kabinetten von durchschnittlich 20 Mitgliedern können nur jeweils vier oder fünf als potentielle Anwärter auf die Premierswürde bezeichnet werden 1 5 3 .

Dritter Abschnitt

Die plebiszitäre Determinierung der königlichen Prärogative Die Betrachtung der i m zweiten Abschnitt dargelegten parlamentarischen Funktionalisierung der Royal Prerogative genügt noch nicht, um die britische Verfassungswirklichkeit der Gegenwart hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Amtseinsetzung des Premierministers voll zu erfassen. Hierzu bedarf es der Einbeziehung eines Vorgangs, der etwa m i t der zweiten Wahlrechtsreform i m Jahre 18671 einsetzt, unsere Gegenwart noch erfaßt und gemeinhin m i t der Entwicklung der Massendemokratie und der Massenparteien gleichgestellt wird. Er hat teilweise die rechtlich unangefochtene Souveränität des Parlaments überlagert. Dies w i r k t sich insbesondere i m Bereich der Bestellungs- und Abberufungssystematik des Premierministers i n dem Sinne aus, daß bei eingespieltem Zweiparteiensystem und bei unterstellter funktionierender, präziser Transformation des Wählerwillens i n Parlamentssitze die tatsäch151 Es k a n n sich dabei u m „Ministers of State" — Staatsminister — als Vertreter des Kabinettsministers i n besonders großen u n d bedeutenden M i n i sterien oder u m Parliamentary Secretaries — parlamentarische Sekretäre — m i t der gleichen F u n k t i o n i n weniger bedeutenden Ministerien oder Staatssekretariaten handeln; s. dazu Campbell, G., Parliament, London 1960, S. 39 f. 152 So erzählt der 60jährige Churchill, daß er seit seinem 26. Lebensjahr an 15 Wahlkämpfen teilgenommen, davon f ü n f verloren u n d zehn gewonnen hätte. Dabei habe er „das V o l k dieser Insel kennen u n d schätzen gelernt". Liberale, Tories, Radikale, Sozialisten — „ w i e v i e l freundliche Menschlichkeit u n d gute echte Sportlichkeit doch i n ihnen allen w o h n t " ; Churchill, S. W., „Thoughts and Adventures", S. 155, zit. nach de Mendelssohn, Peter, „ C h u r chill als Parlamentarier", i n PVS 1965,160 ff., 163. 153 Sampson, Α., A n a t o m y of Britain, München 1963, S. 135; den langen Weg zum A m t des Prime Ministers schildert er am Beispiel Harold M a c M i l lans, S. 322—328.

1

Loewenstein, Karl (VI), S. 402.

118

I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

liehe Auswahl des Prime Ministers von der Wählerschaft vorgenommen und damit das Ernennungsrecht des Monarchen bereits am Wahltag determiniert wird. Der eben genannte Vorgang ist historisch i n 3 verhältnismäßig einfach voneinander abtrennbare Abschnitte einzuteilen 2 : a) Die Zeit der monarchischen Souveränität 8 b) die Epoche der Souveränität des Parlaments 4 , c) das Zeitalter der Massendemokratie 5 , das, ohne die juristische Theorie von der Parlamentssouveränität aufzuheben, zur oben besprochenen Überlagerung durch das plebiszitäre Verfassungselement führt. Das der Souveränität entstammende parlamentarische Recht der Einsetzung und Amtsenthebung eines Premiers unter formalisierter M i t w i r k u n g des Monarchen bleibt rechtlich zwar bestehen, doch w i r d es verdrängt durch die seit 1867 zunehmende Bedeutung der Wählerentscheidung. Das Institut des Auflösungsrechts war das Vehikel zur Beförderung dieser Entwicklung; es ermöglichte eine Befragung des Wahlvolkes nicht nur an den jeweils festgelegten regulären Enden der Legislaturperiode®, sondern auch anläßlich bestimmter Streitfragen zwischen Regierung und Parlament oder Regierung und Parlament einerseits, der Wählerschaft andererseits. Heute ist ein mit der Auswechslung des Gesamtkabinetts verbundener Premierwechsel ohne vorangegangene Volksentscheidung nicht mehr vorstellbar 7 .

I . D i e Theorie von der Souveränität des Parlaments 1. Wesen und Begriff der Souveränität im Rechtssinne

M i t dem Wesen der Parlamentssouveränität als der „dominating characteristic of our political Institutions" 1 beschäftigten sich bereits Coke und Blackstone. Dabei ist zu beachten, daß rechtlich unter Parla2 Loewenstein, K a r l (IV), S. 1080 - 1081, n i m m t eine ähnliche Klassifizierung vor, überschätzt aber anscheinend die Periode der monarchischen Souveränität u n d deren Auswirkung. 3 I m 17. Jahrhundert bis zur Glory Revolution 1688 u n d der „ B i l l of Rights" 1689. 4 Bis 1867. 5 Von 1868 bis i n die Gegenwart reichend. 6 Das Unterhaus besitzt k r a f t seiner parlamentarischen Souveränität das Recht, seine eigene Legislaturperiode durch Parlamentsakt zu verlängern, so z. B. geschehen i m Ersten u n d Zweiten Weltkrieg, als das 1910 gewählte Parlament bis 1918 u n d das 1935 gewählte Unterhaus bis 1945 Bestand hatte. Vgl. dazu näher Loewenstein, K a r l (VI), S. 195 f. 7 Fricke, H., S. 211,212. 1 „Beherrschende Eigenschaft unserer Verfassungsordnung"; so Dicey, A . (II), S. 37; die i m 19. Jahrhundert herrschende individuelle Staatslehre sah

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

119

ment stets der Monarch, das Ober- und das Unterhaus zu verstehen ist 2 . Sir Edward Coke 3 bezeichnete dessen Befugnisse als „transzendent und absolut bezüglich sämtlicher Gegenstände, insbesondere der Verfassung sowie des weltlichen und geistlichen Rechts". Blackstone 4 schilderte ebenso das parlamentarische Monopol hinsichtlich sämtlicher Befugnisse und Zuständigkeiten: das Parlament sei der Standort der absoluten despotischen Autorität, die i n jedem Staatswesen vorhanden sein muß. Dieses außerordentliche Organ sei befugt, „die Thronfolge zu regeln oder neu zu gestalten, oder die Staatsreligion zu ändern oder abzuschaffen; kurz, es kann sämtliche mögliche Maßnahmen i n unbegrenzter Weise treffen, beschränkt nur durch tatsächliche Unmöglichkeiten" 5 . Dem Parlament steht also die Gesetzgebungsbefugnis für jeden Gegenstand zu. Aus der legislativen Souveränität folgt das Fehlen und sogar die Unzulässigkeit einer richterlichen Normenkontrolle 6 . Gleichfalls folgt aus der legislativen Allmacht des Parlaments dessen Alleinzuständigkeit: Nur das Parlament verfügt über die orginäre gesetzgebende Gewalt. Dies bedeutet nicht den Ausschluß aller übrigen Organe von der Rechtsetzung, wohl aber, daß sämtliche außerhalb des Parlaments wirkenden legislativen Befugnisse derivativ vom Parlament abgeleitet und delegiert sein müssen 7 . Schließlich leitet die englische Rechtslehre aus der Souveränität des Parlaments eine weitere Maxime ab; kein Parlament ist imstande, seine Nachfolgerparlamente zu binden oder, wie es Loewenstein 8 ausdrückt: „ K e i n Parlament kann den auf der einen Seite den Staat u n d auf der anderen Seite die Einzelpersönlichkeit, bzw. das diese schützende Rechte. Verkörperimg der Überordnung des Staates w a r die Souveränität des Parlaments. Siehe hierzu Jennings , J., Die Theorie der Institution, S. 99 -117, 101, i n : I n s t i t u t i o n u n d Recht, Darmstadt 1968. 2 „ K i n g i n Parliament" so auch Maitland, F. W., Constitutional History, Cambridge, 1961, S. 381. 3 Coke, E., S. 36. 4 Blackstone, Commentaries on the Laws of England, I Oxford 1765, S. 160 ff. 5 D a m i t ist auch dem überspitzten Satz De holmes widersprochen: „das Parlament k a n n alles tun, außer aus einem M a n n eine Frau u n d aus einer Frau einen M a n n machen", doch ist auch das möglich, w e i l i m m e r h i n eine rechtliche F i k t i o n dahingehend, daß eine F r a u als M a n n gelte — u n d umgekehrt — aufstellbar ist. 6 Wade and Phillips, S. 39; ein Parlamentsgesetz k a n n also n u r durch einen v o m Parlamentsgesetz entsprechenden actus contrarius aufgehoben werden, zu diesem Z e i t p u n k t sind die Gerichte zur A n w e n d u n g u n d Vollstreckung v e r pflichtet; siehe dazu den F a l l Lee gegen Bude u n d T o r r i n g t o n Railway Co. (1871) L. R. 6 C. P. 577. 7 Wade and Phillips, S. 42, 43; i n Großbritannien konnte der Gedanke v o n den konkurrierenden Gesetzgebern weder unter dem regionalen — eigene Gesetzgebungshoheit f ü r Territorien — noch unter einem funktionalen Aspekt — Beteiligung v o n Wirtschafts- u n d Sozialorganisationen am Gesetzgebungsverfahren — eine starke Anhängerschaf t finden, so Wade and Phillips. 8 Loewenstein, K . (VI), S. 69.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Grundsatz ,lex posterior derogat legi anteriori' außer Kraft setzen." Die i n anderen geschriebenen Verfassungen auftauchende Frage der „unabänderlichen Verfassungsnormen" 9 oder der erschwerten Abänderbarkeit von Verfassungsnormen hat i n England also eine Beantwortung zugunsten der absoluten legislativen Souveränität des jeweiligen Parlaments gefunden. Dieser Grundsatz von der Unmöglichkeit einer legislativen Bindung wurde i n jüngster Zeit von den Gerichten bestätigt 10 . Zum Wesen der Parlamentssouveränität gehört auch, daß die originäre Zuständigkeit des Parlaments juristisch nicht vom Volke abgeleitet wurde. Dem Volke kommt keine Organqualität zu, so daß auch eine Delegation 11 von Befugnissen nicht stattfinden kann. Eine rechtliche Kombination von Parlamentssouveränität und Volkssouveränität besteht heute noch nicht 12 . Ebensowenig existieren rechtliche Einschränkungen der Souveränität 13 . Doch haben seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts politisch-tatsächliche Entwicklungen zu ihrer weitgehenden konventionalen Einschränkung geführt. Begrifflich bedeutet die Souveränität des Parlaments i n der rechtlichen Betrachtungsweise den Inbegriff der materiellen und formellen, ausschließlich dem Monarchen, dem Ober- sowie dem Unterhaus zustehenden, die übrigen Staatsorgane und sämtliche dem britischen Recht unterworfenen Rechtssubjekte bindenden, legislativen Befugnisse. 2. Entstehung und Bedeutung der konventionalen Souveränität des Unterhauses

a) Entwicklung

der rechtlich-legislativen

Souveränität

Unter dem rechtlichen Dach der Souveränität des Parlaments, das den Monarchen sowie beide Häuser zur monistischen Souveränitätseinheit vereinte, vollzog sich i n einer langen Entwicklung ein Vorgang, der seinen End- und Höhepunkt etwa u m das Jahr 1867 erreichte und zur politischen, oder — w e i l auf tatsächlichen, aber dennoch normative Geltung entfaltenden Entwicklungen beruhend — zur konventionalen Suprematie des Unterhauses und damit zum parlamentarischen Regierungssystem i m Sinne der oben versuchten Kennzeichnung führte. Freilich machte die Evolution an diesem Punkte nicht halt, so daß durch die 9

Vgl. A r t . 79 Abs. 3 GG. V a u x h a l l Estates, L t d . gegen Liverpool Corporation (1932), L K . B. 733; Ellen Street, L t d . gegen Minister of Health (1934) I K . B. 500. 11 Z u m Problem der Repräsentation einer Volksgesamtheit i m Mittelalter u n d deren Bedeutung f ü r die modernen Repräsentationsformen, vgl. Brunner, Otto, L a n d u n d Herrschaft, 4. Aufl. 1959, Baden b. Wien, Brünn, Leipzig, Prag, Veröffentlichung des österreichischen Instituts f ü r Geschichtsforschung, S. 422 f. 12 Loewenstein, K . (VI), S. 66. 13 Loewenstein, K . (VI), S. 71, 10

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

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noch zu schildernden Veränderungen seit 1832, insbesondere aber 1867, eine weitere Schwerpunktverlagerung erfolgt ist. Dem bis i n das 13. Jahrhundert zurückreichenden „vorparlamentarischen" Stadium 1 4 kommt insoweit Bedeutung zu, als es den Blick auf die damals herrschende Auffassung vom Unterwerfungsvertrag freigibt: das als handlungsunfähig geltende Volk hatte kraft der „translatio" 1 5 sämtliche Gewalt dem Monarchen überantwortet, der damit zum Souverän m i t zweifacher Legitimation erhoben wurde 1 8 . Den Untertanen verblieb aber ein sich i m Eigentumsrecht konzentrierendes, herrscherfreies Gebiet erhalten: hier ist der Ansatzpunkt für den Zustimmungsvorbehält der Eigentümer hinsichtlich möglichen Beschränkungen des Eigentums, der insbesondere gegenüber dem Steuererhebungsrecht des Monarchen wirksam wurde. Es war die Aufgabe der von den Eigentümern 1 7 beschickten Vertretungskammern, die Interessen der begüterten Schichten gegenüber der Krone zu vertreten. Die Durchführung der kostspieligen außenpolitischen Unternehmungen hing davon ab, i n welchem Maße es der Krone gelang, i n den Vertreterversammlungen die Unterstützung der wirtschaftlich maßgebenden Stände zu erreichen. Die regelmäßige Einberufung der Ständeversammlung zwecks Bewilligung von Steuern war daher für die Krone zur Fortsetzung ihrer Politik unumgänglich geworden. Da die Steuerbewilligung vom Parlament aber von politischen Zugeständnissen des Monarchen abhängig gemacht wurde, lag i m Steuerbewilligungsmonopol des Parlaments der „Brennpunkt des epochalen Kampfes" zwischen Krone und Parlament, es war „der Hebel", der das Parlament und besonders die Commons „ i n den Sattel der Macht hob" 1 8 . Der Steuerbewilligungsgrundsatz des Parlaments galt bereits während der Regierungszeit Edwards I. 1 9 für die Erhebung der direkten Steuern, während das Gebiet der indirekten Besteuerung bis ins 17. Jahrhundert hinein heftig umstritten war 2 0 . 14 F ü r die historische Schilderung vgl. Hübner, Rudolf, Die parlamentarische Regierungsweise i n England, i n Vergangenheit u n d Gegenwart, Tübingen 1918, S. 4 ff. 15 Dies ist ein auf die Glossatoren zurückgehender Begriff, der die volle Übertragung der Staatsgewalt i m Gegensatz zur Concessio, der bloßen E i n räumung der Ausübung, bezeichnet; vgl. dazu v o n Gierke, Otto, Althusius u n d die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien, Breslau 1880, 5. Aufl. 1958, S. 82,123 f. 16 A l s Auserwählter Gottes u n d als Träger der k r a f t Unterwerfungsvertrag erworbenen Rechte. 17 Es handelte sich eigentlich infolge des damaligen Feudalsystems u m Besitzer, die i n der Lehenspyramide gleichzeitig die Position eines Lehensnehmers einnahmen. 18 Loewenstein, K a r l (VI), S. 64. 19 1272 bis 1307. 20 Die „ B i l l of Rights" beseitigte 1688 die königliche Finanzgewalt; zu dieser Frage waren i n den Jahren vorher bekannte Gerichtsentscheidungen ergangen, so etwa der F a l l Bates — Case of Impositions, 1606 — (2 St. T r . 371), Zollerhebungen betreffend.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

I n der zweiten, etwa u m die Mitte des 14. Jahrhunderts beginnenden Entwicklungsstufe ist bereits der allmähliche Übergang von einer steuerbewilligenden Ständeversammlung zum gesetzesbeschließenden Parlament zu beobachten. Die Ständevertreter wandeln sich von ausschließlichen Abgesandten ihrer Städte und Grafschaften zu Repräsentanten, zwar nicht der Gesamtheit der Untertanen 21 , aber doch der staatstragenden gesellschaftlichen Schichten Englands 22 , also der grundbesitzenden Aristokratie. So besaßen die etwa 100 Vertreter der Grafschaften i n Anbetracht ihrer Tradition i m Staatsdienst und ihres sozialen Ranges ein entschiedenes Ubergewicht über die m i t 200 Deputierten an Zahl weit überlegenen Abgeordneten der Gemeinden 23 . Weiteres Zeichen der „repräsentativen" Entwicklung ist die von nun an „kontinuierte" Versammlung sowie das Ende des imperativen Mandats 24 . Dennoch kann das englische Parlament jener Zeit nicht als Instrument der Volkssouveränität i m Sinne des naturrechtlichen Naturalismus angesehen werden 2 5 : Bis zur zweiten Wahlreform von 1867 ist es i n Ermangelung der Legitimation durch einen entsprechenden Bevölkerungsanteil nicht i n der Lage, ein „ A b b i l d des Volkes" i m Sinne der mechanisch-egalitären Begriffsbildung zu sein. „Das Unterhaus", so sagt Disraeli 2 6 i m Jahre 1835, also nach der ersten Reform B i l l — „kann nicht als eine Repräsentation des Volkes und seine Mitglieder nicht als Repräsentanten des Volkes angesehen werden. Die Commons seien auch jetzt nur ein „estate of the realm, a privileged and limited order of the nation, i n numbers a fraction of the mass" (eine privilegierte und begrenzte Ordnung innerhalb der Nation, i n Zahlen ein Bruchteil der Masse) — da die Wählerschaft nach der Wahlreform nicht mehr als 300 000 - 400 000 Stimmen beträgt. I n wachsendem Maße bestritt i n dieser zweiten Phase das Parlament dem Monarchen die Souveränität. Dabei spielte neben dem bereits erwähnten Steuerbewilligungsrecht das parlamentarische Zustimmungserfordernis für Gesetze eine große Rolle. Bereits i m 14. Jahrhundert hatte sich zwischen Monarch und Parlament eine partnerschaftliche Gestaltung der Gesetzgebung eingespielt, die sich sogar bis zum Gesetzesinitiativrecht des Parlaments während der Regie21

Wie Fricke, H., S. 206 annimmt. Loewenstein , Κ . (I), S. 35. 23 Hatschek, J., Englisches Staatsrecht, l . B a n d , 1905, S. 342; K e i r , D. L., S. 43, erinnert daran, daß erst i m Jahre 1533 erstmals ein Gemeindevertreter zum Speaker des Unterhauses gewählt worden w a r . 24 So Fricke, H., S. 206. 25 Loewenstein, Κ . (I), S. 35. 26 Disraeli , Β., „The Vindication of the English Constitution i n a Letter to a Noble and Learned L o r d by Disraeli the Y o u n g " ; Übersetzung: „Die Verteidigung der englischen Verfassung i n einem Brief an einen edlen u n d gelehrten Lord, v o n Disraeli dem Jüngeren", zit. nach Glum, F., Konservativismus i m 19. Jahrhundert, Bonn 1969, S. 129. 22

3. Abschn.: Plebiszitäre Determinierung

123

rungszeit Heinrichs V I . 2 7 steigerte. Den Monarchen aus dem Hause Tudor 2 8 war es jedoch gelungen, die parlamentarischen Legislativbefugnisse zurückzuschrauben. Das Recht der Initiative wurde ausschließlich der Krone vorbehalten, während das Zustimmungsrecht beim Parlament verblieben war 2 9 . Obwohl die Regierungsgewalt i n den Zeiten der Tudor-Monarchie umbestritten beim Monarchen ruhte 3 0 und sich i m persönlichen Regiment sogar absolutistische Züge entwickelten, hatte doch die Kombination von Common Law und Statute L a w die königliche Macht rechtlichen Grenzen unterworfen, deren Veränderung nicht i n der Alleinzuständigkeit des Monarchen lag. A u f diese Weise erhob sich das Recht zur Grundlage des Staates und das Ergebnis war die „Supremacy of Statute" 3 1 . Zur legislativen Souveränität des Parlaments war von hier aus nur ein kurzer Schritt. Jedes Gesetz bedurfte zu seiner Wirksamkeit der parlamentarischen Zustimmung 3 2 , die Verfügungsmacht über das Recht war i n die Hände des Parlaments gelegt 33 . Den Höhepunkt und einstweiligen Abschluß dieser Entwicklung brachte die B i l l of Rights, die den Auseinandersetzungen des 17. Jahrhundert m i t der formalen Verankerung der Legislativen Souveränität des Parlaments ein Ende bereitete 34 . Seither herrscht die rechtlich-legislative Parlamentssouveränität ungebrochen i m englichen Staatsrecht. I m 19. Jahrhundert nimmt das Unterhaus faktisch ausschließlich die parlamentarische Souveränität wahr, was sich i m Parliament Act des Jahres 1911 staatsrechtlich niederschlägt 35 . b) Die politisch-konventionale

Suprematie

I m Rahmen der rechtlich-legislativen Souveränität hatte sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts der Schwerpunkt zugunsten einer neuen Entwicklung verlagert, die sogleich starkes Eigenleben entfaltete und schließlich i m Zeitabschnitt zwischen den zwei großen Wahlreformen 30 27

1422 - 1461. Diese — Henry V I I . , Henry V I I I . , E d w a r d VI., Mary, Elizabeth I. — regierten v o n 1485 bis 1603. 29 Chrimes, S. B., English Constitutional Ideas i n the 15th century, Cambridge 1936, S. 104; Loewenstein , K . (VI), S. 63. 30 McHwain , C. H., G r o w t h of Political Thought i n the West, New Y o r k 1959. 31 Dies bedeutet die Souveränität des Gesetzes, also letztlich der Gesetzgebung. 32 Keir, D. L., S. 46. 33 Wade and Phillips, S. 31. 34 I m Jahre 1707 w a r es zu einer Machtprobe zwischen K ö n i g u n d Parlament gekommen: Queen Anne mußte beim Versuch, von der nie ausdrücklich außer K r a f t gesetzten Prärogative des monarchischen Gesetzesvetos Gebrauch zu machen, erfahren, daß den v o m Parlament beschlossenen Gesetzen ohne Vetomöglichkeit die Sanktion erteilt werden muß; Fricke, H., S. 210. 35 Loewenstein, K . (I), S. 37. 36 1832,1867. 28

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

zur parlamentarischen Suprematie geführt hatte 37 . Zwischen der ersten und zweiten Wahlreform hatte das Parlament i n Gestalt des House of Commons faktisch die Herrschaft über die Bestellung und Abberufung des Premiers und seiner Regierung übernommen 38 , gleichzeitig aber das historische Modell 3 9 errichtet, an dem die Theorie des parlamentarischen Regierungssystems entwickelt werden konnte, die zum Vorbild zahlreicher Nachahmungsversuche i n ausländischen Verfassungen wurde 4 0 . aa) Die Herausbildung der politischen Suprematie bis zur ersten Wahlreform (1688 - 1832) I n drei grundlegenden und für die englische Verfassungsentwicklung äußerst bedeutungsvollen Gesetzgebungswerken fand die Glory Revolution ihren positiv-rechtlichen Niederschlag. Einmal i n der B i l l of Rights von 168841, i m Triennial Meeting of Parliament Act von 169442 und schließlich i m Act of Settlement von 170043. Es war vor allem der Act of Settlement, der insofern den Ausgangspunkt parlamentarischer Bestrebungen bildete, als er den Grundsatz „the K i n g can do no wrong" 4 4 , also der Unverantwortlichkeit des Monarchen, verankerte. Damit hatten die den König bei der jeweiligen Amtshandlung beratenden Mitglieder des Privy-Council 4 5 die rechtliche Verantwortung für die Akte des Königs zu übernehmen 48 . 37 Der Begriff „parlamentarische Suprematie" soll i m folgenden zur A b grenzung v o n der Souveränität gebraucht werden. 38 Loewenstein , Κ . (IV), S. 1081; ders. I S. 168. 39 Über die staatsrechtliche Situation v o r 1867 berichten v o r allem Grey , H. G.; Parliamentary Government considered w i t h Reference to a Reform of Parliament; Todd, Alpheurs: O n Parliamentary Government i n England, Bd. I, London 1867, Bd. I I , London 1869 u n d Bagehot , Walter, The English Constitution, London 1963. 40 Vgl. f ü r die deutschen Verfassungen nach 1918 f ü r viele: Koellreutter, Otto, Das pari. System i n Deutschlands Verfassungen, Tübingen 1921; Nawiasky, H., Die Grundgedanken der Reichsverfassung, München—Leipzig 1920, S. 68/69; ders. Bayer. Verfassungsrecht, München 1923, S. 75/76. 41 I h r wesentlicher I n h a l t w i r d geschildert bei Loewenstein , Κ . (VI), S. 14/15. 42 6 u n d 7 W i l l i a m and Mary, C. 2, vgl. den I n h a l t bei Loewenstein , Κ . (VI), S. 15. 43 12 und 13 W i l l . 3, C. 2, s. I n h a l t bei Loewenstein, Κ. (VI), S. 15. 44 Der K ö n i g k a n n nichts falsch machen, so Bagehot, W., S. 40. 45 Z u r Entwicklung, Zusammensetzung u n d F u n k t i o n des P r i v y Council, siehe Loewenstein, Κ . (VI), S. 524 - 529, u n d Mackintosh, John, The B r i t i s h Cabinet, Appendix I I , London 1962. 48 Damit ist die Krone einerseits allen Parteistreitigkeiten enthoben, andererseits fließt daraus die Pflicht zur Wahrung parteipolitischer Neutralität. A u f die Bedeutung des Grundsatzes der ministeriellen Verantwortlichkeit f ü r die Erhaltung der Monarchie weist v o r allem L o r d Esher h i n ; so L o r d Esher, überliefert durch: Brett, M. V., „Journals and Letters of Reginald, Viscount Esher", Bd. I I I , London 1938, S. 129.

3. Abschn.: Plebiszitäre Determinierung

Die Ausformung der parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit ist das kennzeichnende Merkmal jener Epoche von der Glory Revolution bis zur Großen Reform von 1832. I m Verlaufe dieses Prozesses verdichtete sich die — neben der Verantwortung der Minister gegenüber dem Monarchen — bestehende parlamentarische Verantwortlichkeit 4 7 zur Convention. Die materielle Folge war die Aushöhlung des konstitutionellen, monarchischen Benennungsrechts. Der Anspruch des Parlaments, auf die Auswahl der Regierungsmitglieder, insbesondere des Prime Ministers, einzuwirken, erwuchs zur die verfassungspolitische Auseinandersetzung bis zur großen Wahlreform beherrschenden Streitfrage. Obwohl noch der Act of Settlement 48 versucht hatte, die Minister und andere Amtsträger der Krone von der Parlamentsmitgliedschaft auszuschließen, zog andererseits die Notwendigkeit, für das Budget parlamentarische Unterstützung zu finden, die Minister ins Parlament: der König mußte erkennen, daß er zur Durchsetzung seiner Politik parlamentarische Mehrheiten und überdies M i n i ster benötigte, die i n der Lage waren, solche — parteimäßig verschieden zusammengesetzte — Mehrheiten von F a l l zu Fall zu sammeln 49 . Das tatsächlich notwendige Zusammenwirken zwischen Parlament und königlicher Regierung fand i n der Revision des Act of Settlement seinen Ausdruck, womit den Dienern der Krone der Weg ins Unterhaus eröffnet 50 und damit Zeugnis dafür abgelegt wurde, daß die englische Verfassungswirklichkeit keine strenge Gewaltenteilung i m Sinne Montesquieus 51 , sondern eine gegenseitige Abhängigkeit der Gewalten entwickelt hatte 52 . Die Theorie war damals noch immer der Auffassung, daß sämtliche Gegenstände der Exekutive i n den Bereich der i m Rahmen des Common L a w ermessenfrei zu handhabenden königlichen Prärogative fielen 53. I n Wirklichkeit konnte der Monarch bei der Bestellung und der Entlassung des Premiers und des übrigen Kabinetts den akzentuierten Willen des Parlaments nicht ignorieren. Dies zeigte sich bereits 1694, als Wilhelm I I I . aus Rücksicht auf die Whig-Mehrheit i m Unterhaus einige Whigs ins Kabinett berufen mußte 54 . Damit war aber nur eine 47

Der Begriff „parlamentarische Verantwortung" w i r d erläutert von Finer , S. E., The I n d i v i d u a l Responsibüity of Ministers, i n : Public A d m i n i stration 1956, S. 377 ff. 48 1700. 49 Keir , D a v i d Lindsay, S. 316. 50 Ritter, Gerhard Α., Regierung u n d Parlament i n Großbritannien seit dem 17. Jahrhundert, i n : PVS Band 5,1964, S. 21. 51 V o m Geist der Gesetze, zit. nach der Textauswahl u n d Übersetzung bei Friedrich, Karl-Joachim, Die politische Wissenschaft, Freiburg—München 1961. 52 Pollard, A . F., The Evolution of Parliament, 2. Auflage, London, 1964, S. 257. 53 keir, D. L., S. 316 f. 54 Ogg, David, England i n the Reigns of James I I . u n d W i l l i a m I I I . , L o n don 1955, S. 337.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Vorstufe der parlamentarischen Regierung erreicht 55 , da die Minister bis i n die Regierungszeit Queen Annes 56 beiden Parteigruppierungen, den Whigs und den Tories gleichzeitig, entnommen wurden 5 7 . I m Verlaufe des 18. Jahrhunderts löste sich die i m Wege des Impeachments aktualisierbare rechtliche Verantwortung der Regierung von der parlamentarischen Abhängigkeit. Daneben beanspruchte die königlichkonstitutionelle Prärogative zur Einsetzung und Entlassung des Premiers weiterhin Geltung, war aber tatsächlich nicht mehr in der Lage, sich über einen ausdrücklichen Parlamentsbeschluß hinwegzusetzen. Die doppelte Verantwortung des Prime Ministers gegenüber dem König und dem Parlament 58 , von denen die letztere laufend an Bedeutung zunahm, symbolisiert das Stadium des Übergangs, das vom englischen Regierungssystem i n jener Zeit, allerdings verlangsamt durch restaurative Bestrebungen der Krone, insbesondere König Georgs III., durchmessen wurde: die Prärogative des Monarchen erfuhr über die bereits bestehende rechtliche Begrenzung durch das Common L a w hinaus eine Funktionalisierung durch die zunehmende parlamentarische Einflußnahme auf den Bestand der Regierung. Der durch ein parlamentarisches Mißtrauensvotum verursachte Sturz des Premierministers Walpole i m Jahre 1741 konnte zwar noch keine Convention erzeugen 59 , bildete aber einen Präzedenzfall für die politische Maßgeblichkeit der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse. So schlug auch der Versuch Georgs II. fehl, die Pelhams i m Jahre 1746 gegen den Willen des Parlaments i m Amte zu halten 6 0 . Ebenso konnten — verfassungstheoretisch durchaus legitimierte, doch durch die inzwischen herausgebildete Convention der parlamentarischen Verantwortung der Regierung funktionalisierte — Ansprüche Georgs III., die königliche Prärogative i n ihrer ursprünglichen Geltung wieder aufleben zu lassen, keinen dauerhaften Erfolg erzielen. Die M i t t e l dazu wurden i h m von der sogenannten Patronage i n die Hand gegeben: die Besetzung der öffentlichen Ämter, die Verteilung von Pensionen, Ehrungen und die Betrauung bestimmter Adelsfamilien m i t Parlamentssitzen, ermöglichten es dem Premierminister, weil noch keine festen Parteibindungen bestanden, die notwendige Unterstützung 55 Während Fricke, H., S. 209 das Jahr 1695 als Geburtsjahr des parlamentarischen Kabinetts bezeichnet. 56 1702- 1715. 57 Loewenstein, K . (VI), S. 15. 58 Namier, Lewis, England i n the Age of the American Revolution, 2. Aufl., London 1963, S. 47. 59 Birch , A . H., Representative and Responsible Government, London 1964, S. 133. 60 Vgl. Neville , Williams, The Eighteenth Century Constitution 1688 - 1815, Documents and Commentary, Cambridge 1960, S. 83/84.

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

12?

des Unterhauses zu gewinnen. Die Wirksamkeit der Patronage kam i n der langen Vorherrschaft der Whigs zum Ausdruck 61 . Normalerweise war dem Premier eine Mehrheit i n beiden Häusern des Parlaments sowie ein Sieg i n den Wahlen zum Unterhaus sicher 62 . Es ist bekannt, daß i n den Wahlen von 1761 nicht weniger als 235 Mandate von insgesamt 558 i m Wege der Patronage vergeben wurden 6 3 . Diese war es auch, welche die K l u f t zwischen Exekutive und Legislative i m 18. Jahrhundert überbrückte und eine Vorform des parlamentarischen Regierungssystems schuf 04 . Dadurch wurde die Bildung relativ sicherer parlamentarischer Mehrheiten ermöglicht 65 . König Georg I I I . versuchte, diese Konstellation für seine restaurativen Ziele auszunützen und m i t Hilfe der „Freunde des Königs" parlamentarische Mehrheiten herbeizuführen. Doch stießen diese Praktiken seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auf zunehmenden Widerstand i n der öffentlichen Meinung 6 6 . Insbesondere war es Edmund Burke 6 7 , der die Zerstörung der parlamentarischen Kontrollfunktion durch die Patronage kritisierte: „nur ein Parlament, das die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung durch deren Sturz aktualisieren oder ihre Bestellung verhindern könne", würde die Kontrollfunktion tatsächlich ausüben. Gleichzeitig betonte er die Bedeutung der königlichen Prärogative oder besser, ihrer intakten Reste 68 ; Burke war sich nämlich gleichzeitig bewußt, daß die parlamentarische Verantwortung der Regierung die Aushöhlung des monarchischen Benennungsrechts zur Folge haben mußte 69 . Diese Postulate beinhalteten gleichzeitig die Absage an die herrschende Theorie der Gewaltenteilung i m Sinne von Montesquieu und einen Eingriff i n den Bereich, der traditionsgemäß ausschließlich dem Monarchen vorbehalten war: der Exekutive 7 0 . Burke leistete aber auch i n einer 61

Wade and Phillips, S. 37. s. Mackintosh , John P., The B r i t i s h Cabinet, London 1962, S. 60. 63 Structure of Politics at the Accession of George I I I . 64 So Holdsworth, W i l l i a m , A history of English L a w , Vol. X , London 1938, S. 630; Ritter , Gerhard Α . (II), S. 21 f. 65 Ritter (II), S. 21 f. ββ Loewenstein , Κ . (VI), S. 16, weist insbesondere auf die damals einsetzende K o m m u n i k a t i o n s w i r k u n g des gedruckten Wortes h i n ; vgl. auch Nuscheier, Franz, Walter Bagehot u n d die Englische Verfassungstheorie, Meisenheim am Glan 1969, S. 17. 87 Thoughts on the Cause of the Present Discontents, i n : The Works of the Right, Hon. E. Burke, hrsg. von Henry Rogers, 1. Band, London 1854, S. 141. 88 Schumann, Hans-Gerd, E d m u n d Burkes, Anschauungen v o m Gleichgewicht i m Staat u n d Staatensystem, Meisenheim 1964, S. 72. 69 Thoughts on the Cause of the Present Discontents, i n : The Works of the Right, Hon. E . B u r k e , hrsg. v o n Henry, Rogers, l . B a n d , London 1854, S. 141. 70 Keir, D. L., Constitutional History, London 1955, S. 299. 62

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. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

weiteren Beziehung einen Vorgriff auf spätere Entwicklungen: Über das bloße Sanktionsrecht des Unterhauses, dem Premier und der königlichen Regierung i m Wege des Mißtrauensvotums die Unterstützung zu entziehen, hinausgehend, fordert er die „parlamentarisierte" Berufung des Premierministers. Nicht das Wohlwollen des Monarchen, sondern das parlamentarische Vertrauen sollte die Voraussetzung für dessen Amtseinsetzung sein 71 . Die Verfassungspraxis war hinsichtlich beider Komponenten der parlamentarischen Verantwortung — der parlamentarischen Bestands- und der Bestellungsabhängigkeit des Premiersministers — hinter Burke zurückgeblieben. Der monarchische Einfluß auf die Einsetzung des Premierministers war i n der Periode zwischen Walpoles Sturz (1742) und dem Ende der Regierung Georgs II. (1760) ständig geschwunden. Die königliche Prärogative konnte einem dem Parlament mißliebigen Premierminister nicht mehr den Verbleib i m Amte sichern. Den entscheidenden Präzedenzfall hatte der Sturz des das königliche Vertrauen i n hohem Maße besitzenden Premierministers Walpole erbracht 72 . Demgegenüber hatten die parlamentarischen Bestrebungen während der Regierungszeit Georgs I I I . (1760 - 1820) auf Grund der ausgefeilten Patronagetechniken einen Rückschlag erlitten, von dem sich die parlamentarische Bewegung 20 Jahre lang nicht erholen sollte. Erst 1782 erfaßte sie ein neuer Auftrieb, nachdem Lord North als Premierminister gestürzt wurde. Dieser Präzedenzfall löste auch jene Reformbewegungen aus, die — gegründet auf die politischen und wirtschaftlichen Ergebnisse der industriellen Revolution — erst m i t der zweiten großen Wahlreform i m Jahre 1867 ihren vorläufigen, noch die verfassungsmäßigen Verhältnisse der Gegenwart prägenden, Abschluß fand 73 . Zunächst hatte die massive Unterstützung durch den König Lord North noch vor dem Sturz bewahren können. Den eigenen Rücktritt zum Anlaß nehmend, hatte der Premierminister den Monarchen eindringlich auf die sich herausbildende Suprematie des Parlaments i n der Frage der Amtsbezeichnung des Premierministers hingewiesen: „Your Majesty is w e l l apprized that, i n this country, the Prince on the Throne, cannot, 71

Burke, Edmund, S. 78. Der Begriff der parlamentarischen Regierung w a r damals noch unbekannt; man sprach zur Umschreibung dieses Begriffs v o n Representative Government, Cabinet Government oder Responsible Government. Vgl. dazu v. Beyme, Klaus v., Die parlamentarischen Regierungssysteme i n Europa, München 1970. 72 Cobbett's Parliamentary History of England, Bd. X X I I , Sp. 333. 73 Die industriellen, wirtschaftlichen u n d sozialen Veränderungen sowie deren politische A u s w i r k u n g e n werden geschildert bei Lipson, Economic History of England, ii. 1 - 1 0 , iii. 5 1 - 5 6 ; vgl. allg. Woodward, Sir Ernest, History of England, London 1947, Neudruck 1957, S. 181 ff.

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

w i t h prudence, oppose the deliberate resolution of the House of Commons . . . The Parliament have altered their sentiments, and . . . their sentiments whether just or erroneous, must ultimately prevail .. . 7 4 " Dessen ungeachtet versuchte die nach dem Tode des Premierministers Rockingham (1782) gebildete Regierung Shelburne, sich ausschließlich auf das Vertrauen und die kraft Patronage mögliche königliche Unterstützung zu verlassen 75 . Dieser Versuch endete m i t dem Sturz durch die sich herausbildende Koalition Lord North — Fox. Doch auch i n diesem Fall ließ der König nicht von seinem Prärogativen freien Auswahlrecht ab und veranlaßte i m Dezember 1783 mittelbar den Rücktritt der Regierung North - Fox, indem er das House of Lords zur Ablehnung der von der Koalition eingebrachten Kolonialgesetzanträge bewog 76 . Anschließend ernannte er — ungeachtet der Minderheit der Tories i m Unterhaus — den jüngeren Pitt zum neuen Premierminister. Georg I I I . hatte m i t der vollen Ausschöpfung der alten Prärogativrechte ungeahnten Erfolg: von Dezember 1783 bis März 1784 versuchten die mehrheitlichen Whigs vergeblich, den König zur Auflösung des Unterhauses zu veranlassen. Der gestürzte James Fox forderte unablässig die Verwirklichung des parlamentarischen Prinzips, daß die Regierung bei Verlust der parlamentarischen Unterstützung ohne Rücksicht auf ihren Rückhalt i m Oberhaus oder das Vertrauen des Königs zurückzutreten habe 77 . Dem König war es i m Gegenteil gelungen, m i t Hilfe der Patronage die oppositionelle Mehrheit auf eine Stimme zu reduzieren, u m dann das Unterhaus aufzulösen 78 . Er hatte richtig kalkuliert: W i l l i a m Pitt konnte i n den General Elections unter Einsatz sämtlicher damals bekannter M i t t e l der Wählerbeeinflussung einen überwältigenden Sieg erringen 79 . Die Wahlen leiteten eine lange, bis 1830 währende Regierungszeit der Konservativen und gleichzeitig die Zweiparteienalternierung von Whigs 74 So Costin, W. C. and J. Steven Watson, The L a w and W o r k i n g of the Constitution: Documents 1660- 1914, Band I, 2. Auflage London 1961, S. 398; Übersetzung: „Eure Majestät ist w o h l gewahr, daß der Herrscher auf dem Throne i n diesem Lande bei gebotener Vorsicht nicht der wohlüberlegten Resolution des Unterhauses opponieren kann. Das Parlament hat seine Ansichten geändert u n d seine Ansichten, ob richtig oder irrig, müssen letztlich maßgebend sein." 75 May, Erskine, Supreme and Uncontrollable Assembly/The Edinburgh Review, Bd. 96,1852, S. 43. 76 Es handelte sich dabei u m die „ I n d i a B i l l " . Vgl. Turleville, House of Lords i n the Eighteenth Century, S. 409 - 415. 77 Vgl. Cobbett's Parliamentary History, Bd. X X I V , Sp. 222, 286, 365, 381, 387, 690, 736, 364, zit. nach Nuscheier, F., S. 19. 78 Siehe Feiling, K . (I), S. 151 - 162, bes. S. 157. 79 Viele liberale Fox-Anhänger verloren ihre Parlamentssitze; zur W a h l von 1784 siehe: F. N. 1, Keir, Constitutional History London 1955, S. 380. Es w i r k t e sich hier besonders der Verlust der nordamerikanischen Kolonien zugunsten der K o a l i t i o n aus. Siehe dazu Woodward — Parliament.

9 Lippert

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

und Tories ein 80 . Der König hatte auch hier — i m Sinne der überkommenen Prärogative — die Wahl zwischen einem Whig und einem Exponenten einer formierten Opposition, doch gaben sowohl das persönliche Vertrauen des Königs als auch der Rückhalt des Unterhauses den Ausschlag zugunsten Pitts. Der Monarch war zu dieser Zeit endgültig nicht mehr i n der Lage, seinen Premier langfristig gegen den artikulierten, oppositionellen Willen der Parlamentsmehrheit i m Amte zu halten 8 1 . Gleichzeitig indiziert der Präzedenzfall des Jahres 1783 (der durch den König mit Hilfe des Oberhauses durchgesetzte Rücktritt des Premierministers North), daß es nicht mehr ausschließlich i m Ermessen des Königs lag, seinen Erstminister zu entlassen. Besaß dieser das Vertrauen des Unterhauses, so war es nur dem einverständigen Zusammenwirken von König und Oberhaus möglich, seine Entlassung durchzusetzen. Dies w i r d auch daran deutlich, daß der „protokollarische Rücktritt" i m Falle des Todes (Demise) oder des Ruhens der königlichen Funktionen infolge einer „Royal Incapacity" 8 2 , bei dem der amtierende Premierminister sein A m t zur Verfügung stellt, u m dem Thronfolger oder dem Regenten den freien Gebrauch des Auswahlermessens zu ermöglichen, außer Übung geriet. Der Grund hierfür lag i m Erfordernis des parlamentarischen Vertrauens. Der einmal gesicherte parlamentarische Rückhalt sollte nicht durch die Ernennung eines neuen Premiers aufs Spiel gesetzt werden. Der Wegfall des protokollarischen Rücktritts war i m Jahre 1811 ins öffentliche Bewußtsein gedrungen, als der Prince of Wales 88 für den geisteskranken Georg I I I . die Regentschaft übernahm: der allgemein erwartete Wechsel i m Amte des Premierministers fand weder 1811 noch i m Jahre darauf statt, als die Ermordung Spencer Perei vais dazu die Möglichkeit eröffnet hätte 84 . Das Kabinett wurde i n unver80

Loewenstein, K . (VI), S. 17. Cobbett's Pari. History, Band X X I I I , Sp. 596. 82 Wade, E. C. S. and G. C. Phillips, Constitutional L a w , London, New York, Toronto 1951/52, Übersetzung: „Königliche Regierungsunfähigkeit", S. 126 f.; Rechtlich w i r d die K o n t i n u i t ä t nach dem Prinzip gesichert: „Der K ö n i g stirbt nie." Zugeständnisse an tatsächliche, natürliche Gegebenheiten w u r d e n erst unter W i l l i a m I I I . , K ö n i g i n Anne u n d Georg I I I . k r a f t Gesetzes gemacht, indem z. B. die Legislaturperiode des Parlaments über den Todeszeitpunkt hinaus verlängert u n d ebenso die Amtszeit der Richter aufrechterhalten wurde, so Anson, W. R., L a w and Custom of the Constitution, Oxford 1922. E i n Gesetz aus dem Jahre 1797 verkleinerte die durch den Tod des Monarchen entstehende Kontinuitätslücke insofern, als das Parlament durch die Demise zwar automatisch der Auflösung verfiel, jedoch ebenso automatisch u n m i t t e l b a r darauf ohne Einschaltung von Neuwahlen wieder einberufen wurde. Erst die Reformakte 1867 machte das Parlament hinsichtlich der Dauer der Legislaturperiode v o m Tode des Monarchen unabhängig. So Keir, D. L., S. 375. 85 Dem späteren Georg I V . (1820 - 1830). 84 Keir, S. 380. 81

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

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änderter Zusammensetzung unter der Führung des Earl of Liverpool neu berufen und auch bei der Thronbesteigung Georg IV. i m Amte belassen 85 . Aus den geschilderten Ereignissen kann die Folgerung gezogen werden, daß die Ausbildung der parlamentarischen Verantwortlichkeit zur allmählichen Lösung des Premiers aus der ausschließlichen Abhängigkeit von der Gunst des Monarchen, also zum Abbau der „Personal Sovereignty" 8 6 des Königs führte. Die nächste Stufe der verfassungspolitischen Entwicklung zeichnet sich durch eine Doppelabhängigkeit des Regierungschefs von Monarch und Parlament aus, ein Abschnitt, dessen Ende durch die restaurativen Erfolge Georg I I I . hinausgezögert wurde. Entgegen der Ansicht Woodwards 8 7 ist die tatsächliche Durchsetzung der parlamentarischen Verantwortlichkeit etwa u m das Jahr 1782 zu beobachten. Wie der Fall des Lord North 1782 nachgewiesen hat, ist eine auf der ausschließlichen A n wendung prärogativer Rechte beruhende Entsetzung nicht mehr möglich. I n dieser Zeit war der König auch nicht mehr imstande, dem erklärten Abberufungswillen des Parlaments entgegen zu handeln. Der Fall Pitt darf hier nicht mißverstanden werden. Die erste Ernennung Pitts scheint zwar unter Mißachtung des parlamentarischen Prinzips unternommen worden zu sein, doch zeigen die nachhaltigen Bemühungen u m die Gunst des Unterhauses sowie die Ermittlung des günstigsten Zeitpunkts für die Neuwahlen, daß sich Georg I I I . der Notwendigkeit einer parlamentarischen Mehrheit bewußt war. Pitts Wahlerfolg und dessen Verwertung durch den König zeigen aber auch das erste Erahnen einer erst i n einem späteren Zeitabschnitt wirksam werdenden Macht an: der Souveränität des Wählers 88 . bb) Die Verwirklichung der politischen Suprematie des Unterhauses nach der großen Wahlreform von 1832 a) Ursachen

und Motive

der

Reformbewegung

Die Glory Revolution von 1688 hatte das Königtum einer konstitutionellen Beschränkung unterworfen. Die Aristokratie als Vollstrecker der Revolution und Garant der neuen Ordnung fand i m Parlament das Werkzeug zur Sicherung und weiteren Ausdehnung ihrer Macht gegenüber dem Monarchen. Die wirtschaftlichen Veränderungen der indu85 Z u r Frage der Beteiligung des Prinzen an der Regierungsbildung 1812 vgl. Roberts, M., The Ministerial Crisis of 1812, i n : English History Review, Vol. 466 if. 88 Übersetzung: „Persönlich politische Souveränität." 87 Woodwards , Ε., The Age of Reform, Oxford 1938, S. 23; Birch , A . H., Repräsentative and Responsible Government, London 1964, S. 133. 88 Loewenstein , Κ . (IV), S. 1080.

·

132

I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

striellen Revolution 89 , die geistigen Herausforderungen der Aufklärungszeit, stellten auch i n England die Identität von Aristokratie und Staat i n Frage 90 . Die industrielle Entwicklung schuf die materiellen Grundlagen für den Aufstieg der städtischen Fabrikantenklasse. Die weitgehenden Bevölkerungsverschiebungen verlagerten den Schwerpunkt des Landes m i t zunehmender Industrialisierung vom Süden i n den Norden; die Folge war eine Menschenzusammenballung i n den großen Städten 91 . Die alte herrschende Klasse stieß auf die Schicht des wirtschaftlich erstarkenden Besitzbürgertums, das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts das notwendige Selbstbewußtsein erworben hatte, um dem „Landed Interest" 9 2 auch die politische Führung streitig zu machen. Unterstützt wurde es dabei von einer Welle der geistigen Erneuerung, die, ausgehend vom religiösen Impuls 9 3 , zum Triumph des Individualgefühls über das Uberindividualistische i n der Wirtschaftstheorie eines Adam Smith 9 4 und der radikalen Sozialphilosophie eines Jeremy Bentham führte. Die „laisser-faire"-Postulate des Adam Smith spornten den Unternehmer an, sich der vollen ökonomischen Entfaltung zu verschreiben. Erst die freigesetzte individuelle Energie sollte infolge immanenter Gesetzmäßigkeiten zum „Bonum Commune", zum allgemeinen Besten, führen. I n der Lehre Benthams fand die Bewegung des Individualismus ihren Höhepunkt. Die alte überkommene englische Vorstellung der Einheit von Staat und Gesellschaft wurde dabei i n Frage gestellt. Der Individualismus gedieh zur Weltanschauung der wirtschaftlich emporgestiegenen, bürgerlichen Schichten 95 . Er brachte einen, für das gesamte Zeitalter charakteristischen Kritizismus hervor, der vor den ehrwürdigen Institutionen des englischen Staates nicht haltmachte 96 . I n den frühen Schriften der Utilitarier gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden die staatlichen Institutionen schweren, das Selbstverständnis der Engländer erschütternden Angriffen ausgesetzt97. 89 Z u r E n t w i c k l u n g der kapitalistischen Wirtschaftsformen i n England vgl. Lipson, Α., Economic History of England, i. i. 1/10, iii. 51 - 56. 90 Loewenstein , Κ . (I), S. 70. 91 Loewenstein , Κ . (I), S. 74; Die Bevölkerung Londons wuchs zwischen 1800 u n d 1850 v o n 1 auf 3 Millionen, die Liverpools u n d Bristols i m gleichen Z e i t r a u m von 82 000 auf 400 000 bzw. v o n 61 000 auf 137 000 an, vgl. K e i r , S. 367. 92 K e i r , D. L., S. 368, Übersetzung: „Interessen der Großgrundbesitzer." 93 Dazu s. Baumgarten, O., Religiöses u n d kirchliches Leben i n England, Leipzig u n d B e r l i n 1922, S. 61 ff. 94 Adam Smith, Über die N a t u r u n d die Ursachen des Volkswohlstandes, London 1776. 95 Loewenstein, Κ . (I), S. 74. 96 Keir, D L . S. 370. 97 Besondere Aufmerksamkeit erregte Jeremy Bentham m i t seiner Schrift: Fragment on Government, zuerst 1776 erschienen, Oxford 1891, S. 199, i n der

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

Die von der französischen Revolution ausgehenden Erschütterungen, das individualistische Ideengut und der Ausschluß des wirtschaftlich erstarkten Bürgertums von der Anteilnahme an der Lenkung des Staates, w i r k t e n zusammen, u m i n England ein gefährliches Potential revolutionärer Energie zu sammeln. Daß es sich nicht entladen konnte, bildete die historische Leistung der Reform von 1832. Naturgemäß bildete das Parlament das Zentrum der staatlichen Willensbildung und als Vehikel politischer Machtausübung das heiß umkämpfte Objekt i n der Auseinandersetzung zwischen Aristokratie und Bürgertum. Die große Reform von 1832 bildete Höhepunkt und Lösung des Konflikts. Sie vermied die radikalen Folgen der französischen Revolution, indem sie der mächtigen Schicht des Besitzbürgertums zur Repräsentation verhalf 0 8 . ß) Durchführung

und Inhalt

der großen

Reform

aa) Der Weg zur Reform U m den vom Bürgertum ausgehenden wachsenden politischen Druck abzufangen, hatten die Tories Reformen eingeleitet, die zwar die Eigenschaft des Parlaments als Spiegelbild des aristokratischen Großgrundbesitzinteresses unberührt ließen, aber eine Reform des Budgetrechts, der Verwaltungs- und Justizorganisation bewirken sollten". Gleichzeitig wurden mehrere Vorschläge für eine Reform von Wahlsystem, Wahldauer und Zusammensetzung des Parlaments unterbreitet 1 0 0 . Die 1780 veröffentlichten, vom Oberhaus sofort abgelehnten Reformentwürfe des Herzogs von Richmond waren demgegenüber viel weitergehend und forderten die Demokratisierung des Wahlrechts und die Verkürzung der Legislaturperiode des Parlaments auf ein Jahr 1 0 1 . Weniger radikale Bestrebungen gingen 1782 von Pitt aus: die käuflichen Sitze 102 sollten m i t Steuermitteln erworben und den unterrepräsentierten Städten überlassen werden 1 0 3 . Das Projekt scheiterte an der ablehnenden Haltung von König, Kabinett und Commons. Ebenso erging es dem Reformer die Theorie Montesquieus als überholte Fiktion abtat; allgemein zu Benthams verfassungstheoretischen Aussagen siehe: Montague , F. C., Einleitung zu: A Fragment on Government by Jeremy Bentham, London, Neu98 druck 1951, S. Keir, D.87 L.,ff.S. 605, spricht zwar v o n revolutionären A u s w i r k u n g e n der

Reform, doch ergibt sich aus dem soeben Erläuterten, daß die Reform eine ausgesprochen antirevolutionäre Tendenz auswies. 99 F ü r die Einzelheiten des Reformprogramms siehe K e i r , D. L . S. 383 - 394. 100 So schlug Wilkes 1776 vor, London u n d den großen Industriestädten die Entsendung von zusätzlichen Abgeordneten entsprechend i h r e m Bevölkerungszuwachs einzuräumen. Siehe dazu Veitch, Genesis of Parliamentary Reform. 101 Veitch, S. 70 f. 102 Ihre Z a h l betrug etwa 100. 103 Holland, Rose, W i l l i a m P i t t a National Revival.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

versuch Grey's (1793), den die französische Revolution vereitelte. Noch 1826 verfiel der auf eine Neuverteilung der Mandate hinauslaufende Antrag Russeis der Ablehnung 1 0 4 . Ungeachtet der i n beiden Häusern herrschenden reformfeindlichen Mehrheit war — bedingt durch den Aufschwung der Presse 105 — die nun sich manifestierende, öffentliche Meinung auf das Problem der parlamentarischen Repräsentation des Wählers aufmerksam gemacht worden 10®. Während die Tory-Regierungen nach 1850 noch versuchten, durch Eindämmung der Pressetätigkeit die Agitation zum Schweigen zu bringen 1 0 7 , verlegte die außerparlamentarische Reformbewegung ihren Handlungsschwerpunkt vom legalen Mittel der Petition auf die Einberufung von Massenprotestversammlungen m i t bisher unerreichten Teilnehmerzahlen. Eine Welle des Protestes überschwemmte das Land, und alle Versuche, sie mit Hilfe einer Beschränkung der Meinungs- und Versammlungsfreiheit einzudämmen, schlugen fehl. Ein weiteres Instrument der außerparlamentarischen A k t i o n fand sich i n den Political Societies 108 . Obwohl 1799 gesetzlich verboten 109 , lebten diese politischen Vereinigungen bald wieder auf. I n ihrem W i r ken sind erste Ansätze einer Lösung der Arbeiterklasse aus der gemeinsamen Front m i t dem Bürgertum zu beobachten. Die Union- und Hampden-Clubs agitierten 1812 bereits für die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts und ein Parlament mit einjähriger Legislaturperiode 110 . Das Parlament war durch die jahrelange außerparlamentarische A k t i o n gezwungen, sich m i t der Bewegung auseinanderzusetzen und schließlich einen sehr gemäßigten Reformgesetzentwurf der WhigRegierung Grey anzunehmen 111 . I n den folgenden Generalwahlen wurde den Whigs ein Mandat für die Wahlreform i n Gestalt von 140 Sitzen Mehrheit erteilt. Die Zurückweisung einer von Rüssel eingebrachten Reformvorlage durch das Oberhaus wurde m i t einem ausdrücklichen Vertrauensvotum des Unterhauses zugunsten der Regierung Grey beantwortet. Der Präzedenzfall zeigt, daß der Rückhalt i m Oberhaus für den Amtsverbleib des Kabinetts nicht mehr benötigt wurde 1 1 2 . 104

Loewenstein, Κ . (I), S. 78. Wichwar , W. H., The Struggle for the Freedom of the Press, 1819 - 32, B u l l e t i n of the I n s t i t u t i o n of historical Research, Vol. 5, S. 51. loe K e i r , D. L., S. 397,399. 107 Loewenstein , Κ . (I), S. 76; K e i r , D. L., S. 398, berichtet, daß sogar die Habeas Corpus A k t e außer K r a f t gesetzt worden sei. 108 Die Entstehung der verschiedenen politischen Z i r k e l ist bei K e i r , D. L., S. 398,399 geschildert. 109 Den genauen I n h a l t des Gesetzesverbots s. bei May, Erskine Thomas, The Constitutional History of England since the accession of George I I I . , 1760 - 1860, London 1912, i i 62. 110 Vgl. dazu Butler , J. R. M., Passing of the Great Reform B i l l . 111 K e i r , D. L., S. 399; Loewenstein , Κ . (I), S. 78. 112 Wie es noch der F a l l war, als das House of Lords die I n d i a B i l l ablehnte u n d die Regierung dadurch zum R ü c k t r i t t gezwungen hatte. 105

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

Die dritte Reform B i l l wurde wiederum vom Unterhaus angenommen und vom Oberhaus unter dem Druck der öffentlichen Meinung sowie der von W i l l i a m I V . geäußerten Drohung eines Peersschubs 113 am 4. 7.1832 verabschiedet. ßß) Der Inhalt der Reform Die Whig-Regierung Grey bezweckte m i t der großen Wahlreform, jene Fehler des englischen Repräsentativsystems zu korrigieren, welche „had been occasioned i n i t by the operation of time" 1 1 4 und damit das Vertrauen des Volkes zum Regierungssystem zurückzugewinnen 115 . Dennoch enthalten die Whig-Reformen keine Demokratisierung des Systems, sondern nur eine Teilhabe des besitzenden, aber nicht über Grundeigentum verfügenden Bürgertums an der politischen Macht. Die radikale Philosophie war „zu utilitaristisch" 1 1 6 , u m sich den errungenen Einfluß durch das Proletariat streitig machen zu lassen. Gerade der von der französischen Revolution ausgehende, demokratische Impuls konnte keinen Eingang i n das Reformwerk finden 117. Demgegenüber erfuhren alte Grundsätze des Regierungssystems eine neue Belebung: das traditionelle J u n k t i m zwischen Eigentum und politischem Einfluß blieb auch nach 1832 erhalten; die Vorherrschaft des Grundeigentums war nur zum Teil von der Berücksichtigung von städtischen Vermögensinteressen verdrängt worden. Auch war die Ausdehnung des Wahlrechts bei weitem nicht weitgehend genug, u m von einer „Demokratisierung" des Wahlrechts zu sprechen 118 . Die städtische und die ländliche Arbeiterschaft blieben vom Wahlrecht auch nach 1832 ausgeschlossen119. 113 Peersschub bedeutet die Ernennung einer genügenden Z a h l regierungstreuer Peers durch den Monarchen, u m i m Oberhaus eine entsprechende Mehrheit zu bilden; s. dazu Jennings , W. (I) S. 445 ff. 114 Übersetzung: „Welche sich i m Laufe der Zeit eingeschlichen hatte." 115 May, Erskine (I), i. 282. 116 Loewenstein , Κ . (I), S. 79. 117 K e i r , D. L., S. 401, der die Meinung v e r t r i t t , daß sich die Reform v o n 1832 nicht m i t systemimmanenten Verbesserungen begnügt, sondern organische Veränderungen durchgesetzt hätte, welche den zunehmenden Aufstieg des v o n Bentham belegten u n d v o m demokratischen Anstoß verstärkten radikalen Gedanken widerspiegelt. Dem ist zu entgegnen, daß das repräsentative System auch nach 1832 die Verfassung beherrschte; vgl. hierzu z. B. die Stellungnahme Disraeli's bei Glum, F., Konservativismus i m 19. Jahrhundert, so auch Loewenstein, K . (I), S. 165, gelangt nach seiner eindrucksvollen staatssoziologischen Analyse zum selben Ergebnis. 118 Die Reform b e w i r k t e i n den Städten eine Vergrößerung der Wählerschaft von 188 000 auf 286 000; i n den Grafschaften v o n 347 000 auf 370 000; die Zahlenangaben sind entnommen Hatschek, J., Englisches Staatsrecht, Tübingen 1905, 1906, Band I, S. 252; Loewenstein, K . (I), S. 79, A n m . 19, weist noch darauf hin, daß das Verhältnis der Wähler zur Gesamtbevölkerung n u r 1 :30 betrug, was ebenfalls zeige, daß das allgemeine gleiche Wahlrecht bei weitem nicht erreicht wurde. 119 Genaue Zahlenangaben nennt Loewenstein, K . (I), S. 81 - 83.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Die Hauptwirkung der Reform lag i n der Neuverteilung der Mandate und der Neueinteilung der Wahlkreise 120 . Die Regierung setzte den Hebel der Umverteilung besonders bei den ländlichen Wahlkreisen an, i n denen die infolge der Landflucht zu „rotten boroughs" gewordenen Stimmbezirke als Hauptstützpunkte des „landed Interest" galten. 56 solcher Bezirke, die 1831 bereits weniger als 2000 Einwohner zählten und insg. 111 Abgeordnete stellten, wurde der Sitz entzogen 121 . Die Zahl der Abgeordneten i n den kleinen Flecken m i t 2 000 - 4 000 Einwohnern wurde u m die Hälfte reduziert. Die dadurch freiwerdenden Mandate konnten auf die bis dahin unterrepräsentierten städtischen Bezirke verteilt werden. Doch entsandten die 2,5 Millionen Einwohner der Kleinflecken noch immer 293 Abgeordnete, während die 8 Millionen Grafschaftsbewohner von nur 144 Abgeordneten repräsentiert wurden. Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß zwar der überwiegende Einfluß der grundbesitzenden Aristokratie nach 1832 fortbestand, die politische Repräsentation der wirtschaftlich maßgebenden bürgerlichen Schichten aber konkurrierend i n Erscheinung trat. II. Staatsrechtliche Ergebnisse Als Ergebnis der durch die große Reform erzeugten, tatsächlich-politischen Fakten, erwächst der Tatbestand der politischen Suprematie des Unterhauses, welcher die Periode zwischen den beiden Wahlreformen von 1832 und 1867 prägt. Obwohl nicht i m Sinne des kontinentaleuropäischen Rechtsdenkens unmittelbar vom Verfassungsrecht geprägt und ohne positivrechtlich definiert zu sein, erscheint der Tatbestand der parlamentarischen Suprematie als zum Bestandteil des Verfassungsrechts gehörend, w e i l sich seine Entwicklung auf „Conventions" gründet 1 , die bereits als Bestandteil der Verfassung beschrieben wurden 2 . Die staatsrechtliche Dogmatisierung der Suprematie des Parlaments beruht nicht auf einer rationalen Konstruktion des Regierungssystems 3 , sondern sie bedeutet das Ergebnis der aus dem tatsächlichen Zustand der politischen Machtverteilung Englands zwischen 1832 und 1867 gezogenen theoretischen Schlußfolgerungen. Es ist vor allem das Verdienst K a r l Loewensteins 4 , die der Vorrangstellung des Unterhauses zugrundeliegende politisch-soziologische Kau120

K e i r , D. L., S. 401. Genaue Angaben bei Loewenstein, Κ . (I), S. 80 f. Übersetzung: „rotten boroughs: verrottete Bezirke". 1 Loewenstein, Κ . (I), S. 66, A n m . 1 m i t vielen Nachweisen; vgl. auch Nuscheier, F., S. 23,24, i n den dortigen Anmerkungen. 2 Siehe oben, S. 23. 3 Wie sie die nachahmenden ausländischen Verfassungen zu errichten v e r suchten. 4 Loewenstein , Κ . (I), S. 165, 121

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

salität aufgedeckt zu haben. Die Beseitigung der Wahlpatronage, die Repräsentantenstellung der Abgeordneten und der schwindende Einfluß der Parteien i m Unterhaus, bildeten das politische Fundament für die Ausformung der parlamentarischen Suprematie. M i t der Eindämmung der königlichen Wahlpatronage 5 war der Krone der Einfluß auf die Repräsentantenauswahl und damit die Möglichkeit beschnitten, i m Unterhaus eine Mehrheit für den Premierminister zu finden. Der A r i stokratie hingegen war es gelungen, ihre, vor der Reform eine beherrschende Rolle spielende „electioneering power", lange, teilweise über 1832 hinaus, zu bewahren. Die wirtschaftliche Überlegenheit des Landadels gestattete i n den ländlichen Bezirken einen maßgebenden Einfluß auf die Auswahl der Repräsentanten®. Den Gegensatz zu diesen unter „heteronomen" 7 , also von außen auf den Wähler wirkenden, Einflüssen bei der Repräsentantennominierung, bildet ein auf autonomen Bestimmungsgründen beruhendes Bestellungsverfahren. Dieses überwiegt von Anfang an i n den Städten m i t der dortigen, zahlreichen, unübersichtlichen und mobilen Wählerschaft. Die Reform von 1832 hatte durch die Zuteilung von zusätzlichen Mandaten gerade den größeren Orten zu angemessenerer Repräsentation verholfen. So verschränken sich i n der Periode von 1832 und 1867 verschiedene alte und neue Formen, die je nach ihrer Kombination entweder den aristokratischen, oder den plutokratischen Einfluß überwiegen lassen. Grundsätzlich hatte aber die Wahlpatronage ihre, den Ausgang der Wahlen von vorneherein entscheidende, K r a f t eingebüßt. Das Hauptwerkzeug des Monarchen zur Fremdbestimmung des Parlaments war damit zerbrochen. Ein weiteres Element i n der soziologischen Grundlage der parlamentarischen Suprematie fügt das Parteisystem hinzu. Es ist durch einen Niedergang an ideologischer Potenz und Disziplin gekennzeichnet. Vor der Reform von 1832 konnte sich der König und sein Regierungschef der Unterstützung durch die i m Wege der Patronage zum Mandat gelangten Parlamentsmehrheit sicher sein. Die Reform von 1832 bedeutete den Wendepunkt, der gerade die Liberalen den Auswirkungen des Individualismus aussetzte8. Die Zahl der Abstimmungen, bei denen die Entscheidung der einzelnen Abgeordneten von den Parteileitungen frei-

5

I n den beiden Jahrzehnten nach 1832 w a r die königliche Prärogative nur noch i n 6, höchstens i n 12 Wahlkreisen wirksam, so Gash, Norman, Politics i n the Age of Peel, London 1953, S. 339 fï. 6 Loewenstein , Κ . (I), S. 84 f. 7 Loewenstein , Κ . (I), S. 84. 8 May , Τ. E. (I), S. 60 fï. ; bereits f ü r 1837 gibt May , Τ. E. (I), S. 67, folgende Parteigruppen an: 152 Whigs, 80 Radikale, 100 Ultratories, 159 Tories, 80 K o n servative.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

gegeben war, stieg steil an und begann erst ab der zweiten Reform von 1867 wieder zu fallen 9 . Das Parteisystem war i n atomistischer Auflösung begriffen, was sich an der Zahl der Abstimmungsniederlagen der Regierung zeigt. Lowell 1 0 weist ihre große Häufigkeit i n der Zeit zwischen 1850 und 1867 nach. Die Kabinette benötigten zumeist neben der Hilfe ihrer eigenen Partei die wechselnde Unterstützung weiterer Gruppierungen. Die Zahl der i n parlamentarischen Abstimmungen gestürzten Regierungen belief sich auf acht. Es kam sogar vor, daß Kabinette unter M i t w i r k u n g ihrer eigenen Partei gestürzt worden waren — eine für die heutigen englischen Parteiverhältnisse i m Unterhaus undenkbare und vor 1832 kaum bekannte Erscheinung. Individualistisches Gedankengut hatte also zur Auflösung kollektiven Parteiverhaltens geführt. Die Abgeordneten entwickelten nach der großen Wahlreform eine starke Neigung zur Unabhängigkeit von Parteiführung und Regierung 11 . Bezogen auf das Verhältnis von Gesamtparlament und Regierung w i r k t sich dies i m Sinne einer Auseinanderentwicklung beider Organe aus: während die Patronage die Ausbildung einer Gewaltenteilung Montesquieuscher Herkunft nicht zuließ 12 , ja sogar das Parlament m i t Hilfe verschiedener Einflußmittel von der königlichen Regierung geführt wurde, hatte sich nun das Parlament aus dieser Bevormundung gelöst und machte vom Hauptkriterium des parlamentarischen Systems, der Möglichkeit des Regierungssturzes, häufiger Gebrauch. Als dritter Faktor i n der sozialen Kausalität beim Aufbau der parlamentarischen Suprematie fällt die zunehmende „repräsentative" Unabhängigkeit der Abgeordneten gegenüber ihren Wählern ins Gewicht. Während vor der Reform von 1832 das Parlament Werkzeug der land9

V o n sämtlichen Abstimmungen waren durch die Einpeitscher

Liberale Konservative 1836 40% 56°/o 1850 37 % 45% 1860 25% 31% entnommen Tabelle I V , Lowell , Α . Lawrence, The Government of England, revised edition, New Y o r k 1912, Bd. I I , S. 75. 10 Vgl. Lowell , Α . Lawrence, The Government of England, Tabelle I I I , Bd. I I , revised edition, N e w Y o r k 1912, S. 73; Russell wurde 1850 12mal, A b e r deen 1854 15mal, Palmerson 1856 15mal geschlagen. Die Session v o n 1868 scheidet aus, w e i l damals ein Minderheitsministerium (Gladstone) am Ruder war. Die Bedenklichkeit des Zustandes w i r d auch von Grey, E., Die parlamentarische Regierungsform, London 1857, S. 98 ff. richtig erkannt. 11 Loewenstein, Κ . (I), S. 159. 12 Hanbury leugnet infolge der personalen Verflechtungen u n d gemeinsamen Sachziele sogar die funktionale Trennung. Siehe Hanbury, G., English Courts of L a w , London/New York/Toronto, Neudruck der 2. Aufl. 1954, S. 74.

3. Abschn.: Plebiszitäre Determinierung

sässigen Aristokratie war und nach der großen, zweiten Wahlreform von 1867 zum Machtinstrument des plebiszitär mobilisierten Volkswillens wurde, teilen sich zwischen den beiden Daten Aristokratie und aufstrebendes Besitzbürgertum i n die Innehabung der Mandate. Da die Abgeordneten damit als Angehörige der politisch und wirtschaftlich hervorragenden Schichten das „nationale Kollektivbewußtsein" verkörpern, sind sie von der großen Masse der Wähler unabhängig. Der Charakter des Unterhauses als Wirkungsrahmen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Elite der Nation veranlaßt die Wähler zu ehrfurchtsvoller Haltung gegenüber der Repräsentantenversammlung und ihrer überlegenen politischen Einsicht 13 . Die Abgeordneten jener Epoche sind von einem Selbstwertgefühl beseelt 14 , das die Bevölkerung i n ihrer soeben geschilderten Haltung bestärkt. Beide Faktoren, die Einstellung von wahlberechtigtem Volk und Repräsentanten, trugen bei zu jener „souveränen Autonomie" 1 5 , die das Verhältnis zwischen dem Unterhaus und seinen Wählern nach der Reform von 1832 kennzeichnet. Die drei Determinanten, Beseitigung der Wahlpatronage, Auflösung des parlamentarischen Parteibetriebs, sowie zunehmende repräsentative Unabhängigkeit der Abgeordneten, führen zu der sich i n den Jahren nach 1832 ausbildenden repräsentativen Organsouveränität. Diese aber beinhaltete die parlamentarische Verfügungsgewalt über Premier und Kabinett ohne Beteiligung des Volkes. Andererseits war die Erweiterung des Kreises der Wahlberechtigten und die Neuverteilung der Sitze nicht ohne Auswirkungen auf die institutionelle Machtverteilung geblieben. Das wachsende und sich i n allgemeinen Wahlen aktualisierende Gewicht der öffentlichen Meinung bewirkte sofort eine entsprechende Einflußminderung des nur erblich legitimierten House of Lords. Die Regierung bedurfte von nun an zu ihrer Amtsführung nicht mehr des Vertrauens des Oberhauses. Auch die vor der großen Reform zwischen beiden Häusern des Parlaments waltende Harmonie wurde durch die Abschaffung der adeligen Wahlpatronage, die zumeist Mitglieder der Peerskammer waren und die allgemeine Reduzierung des aristokratischen Einflusses i m Nominationsverfahren zerstört. Die von nun an bei vielen Gelegenheiten vom Oberhaus gegenüber den Commons an den Tag gelegte Gegnerschaft hielt bis zu ihrer weitgehenden Entmachtung durch den Parliament Act 1911 an 18 . 13

Bagehot, W., S. X I I ff. Loewenstein, Κ . (I), S. 129, nennt es die „geistige H a l t u n g des Repräsentantentypus ". 15 Loewenstein, Κ . (I), S. 129. 16 Siehe Keir , Ό. L., S. 414 m i t weiteren Nachweisen. 14

140

I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Die drei Hauptauswirkungen der großen Reform 1832 bildeten die geschichtliche Voraussetzung für die Dogmatisierung der politischen Suprematie des Unterhauses, die sich gegen die Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber den i n der Lehre weiterwirkenden Relikten konservativ-monarchischer Verfassungsinterpretation durchgesetzt hatte 17 . Selbst der seit seiner Schrift „Vindication of the English Constitution" 1 8 als Anhänger der konstitutionellen Theorie des 18. Jahrhunderts geltende Disraeli mußte später angesichts der Realitäten das House of Commons als Zentrum der politischen Macht anerkennen 19 . Als Ausfluß der i n der Verfassungspraxis entwickelten Suprematie des Unterhauses wurde i n der Verfassungstheorie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Doktrin von der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung allgemein akzeptiert 20 . Das Kabinett war demnach nur dem Parlament i n Gestalt des Unterhauses verantwortlich. Die i m 18. Jahrhundert wirksame dualistische Abhängigkeit von Krone und Parlament war jetzt auch i n der Lehre von der monistischen Lösung verdrängt 2 1 . I n zunehmendem Maße wurde die parlamentarische Kontrollfunktion als Primäraufgabe des Parlaments erkannt. Während die daraus fließende Abberufungsbefugnis bereits als kennzeichnendes K r i t e r i u m der parlamentarischen Regierungsweise diente, blieb das parlamentarische Bestellungsrecht umstritten. Nuscheier 22 glaubte die mangelnde Betonung der parlamentarischen Einsetzungsbefugnis auf den Unwillen, „den Bestellungsakt der Krone zu einer bloß formellen Handlung abzuwerten", zurückführen zu können. Daran ist sicherlich richtig, daß gerade i n der vom Ubergang von der konstitutionellen zur parlamentarischen Regierungsweise geprägten Zeit gezögert wurde, die Prärogative einer weiteren Einschränkung zu unterwerfen. Der tatsächliche Grund für das zähe Beharren an einem stets realisierbaren konstitutionellen Bestellungsrecht der Krone ist wohl i n den von der damaligen Verfassungspraxis erzeugten Verhältnissen zu sehen: die fortschreitende Parteienzersplitterung und die damit einhergehende 17 F ü r den W h i g - L o r d Broughan w a r e n die aus der königlichen Prärogative fließenden Rechte jederzeit realisierbar. Siehe dazu Henry L o r d Brougham , The B r i t i s h Constitution, i n : The Works of Henry Lord, Brougham, Bd. X I , Edinburgh 1873, S. 253. E i n weiteres Beispiel f ü r die Verbreitung der traditionellen monarchischen Lehre ist der Premierminister L o r d Melbourne, welcher der K ö n i g i n V i k t o r i a die „Commentaries" Blackstones als zeitgemäße Einführung i n die Prinzipien der englischen Verfassung empfahl, so The L e t ters of Queen Victoria, 1st. Ser., hg. von A . C. Benson u n d Viscount Esher, London 1907, Bd. I, S. 358 zit. bei Nuscheier, F., S. 33, A n m . 93. 18 „Die Verteidigung der englischen Verfassung." 19 Disraeli, Benjamin, Comingsby, or: The New Generation (1844 erschienen), i n London 1959. 20 Nuscheier, Franz, S. 25 f. 21 May, T. Ε. (I), S. 369. 22 Nuscheier, F., S. 32.

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

Auflösung der Fraktionsdisziplin hatten das Parlament i n seiner Wahlfunktion versagen lassen. Der Monarch war dadurch häufig gezwungen, das Vakuum zu füllen und Minderheiten-Premiers oder Koalitionsregierungen zu berufen 23 . U m aus dieser historischen Situation dogmatische Folgerungen zu ziehen, war die Zeit noch nicht reif. Die Ausnahmesituation bot Anlaß, daraus eine Regel abzuleiten und das Recht des Königs, seinen Premierminister zu bestimmen, zu verabsolutieren. I n Wirklichkeit hatten die damals i m Unterhaus herrschenden Parteiverhältnisse dem königlichen Handeln nur einen außerordentlichen Spielraum eröffnet, der sich rückblickend als Reservemacht 24 darstellt und i m „Normalfall", d.h. bei funktionierender parlamentarischer Mehrheitsbildung, zugunsten des parlamentarisch manifestierten Willens zurückzutreten hatte. Der König konnte zwar immer noch einen Premierminister seiner Wahl ernennen, vermochte aber nicht mehr, ihn gegen ein feindliches Unterhaus i m Amte zu halten. Wilhelm IV. unternahm 1834 den Versuch, einen Premier seiner Wahl zu berufen. Nach dem infolge eines Zerwürfnisses m i t dem König erfolgten Rücktritt Melbournes ernannte Wilhelm IV. den nicht über eine Mehrheit verfügenden Peel zum neuen Premierminister. Die Suprematie des Hauses duldete dies nicht und die Neuwahlen konnten, nachdem die Patronage entfallen war, der Regierung keinen Erfolg bescheren 25. Wollte der König seine Autorität bewahren, so mußte er den Willen der parlamentarischen Mehrheit bereits bei der Ernennung des Premierministers antizipieren. Hier liegt der Ausgangspunkt für die Theorie von der Kontinuitätsfunktion des Staatsoberhaupts i m parlamentarischen System. Darnach besteht die Aufgabe des Staatsoberhaupts i n der Sorge für das reibungslose Zusammenwirken der Verfassungsorgane. Die Verfolgung persönlicher, politischer Ziele ist i h m hierbei versagt. Erst i m Falle einer Unfähigkeit der Staatsorgane zum Zusammenwirken lebt i m Staatspräsidenten die Reservemacht wieder auf, u m die staatliche Kontinuität zu sichern 26 . 23 Minderheiten-Premiers führten die Regierungen i n den Jahren von 1846 bis 1852, 1858 - 1859, 1866 - 1868. Eine Koalitionsregierung amtierte von 1852 - 1855. Die Angaben nach K e i r , D. L., S. 407. 24 Siehe Kaltefleiter, W. (I), S. 31. 25 Z u m A b l a u f der Entlassung Melbournes u n d der Ernennung Peels s. Jennings , W. (I), S. 299 ff., 338 f.; Kitson, Clark, Peel and the Conservative Party, S. 191 ff.; Keith , Α . Β., The K i n g and the I m p e r i a l Crown, London 1936, S. 66 if. 26 Auch K e i r , D. L., S. 406, weist darauf hin, daß n u r „ a complete w i t h d r a w a l of any claim to control the composition of the minister, except w h e n the verdict of the electorate was indecisive, could the dignity of the sovereign be preserved". Ubersetzung: „ N u r ,ein gänzlicher Rückzug jeglichen Anrechts,

142

. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Eine weitere praktische Bestätigung der parlamentarischen Verfügungsgewalt über den Premier und das Kabinett erbrachte der berühmte Präzedenzfall der „Bed Chamber Question" i m Jahre 1839. Premier Melbourne hatte i m Unterhaus eine Niederlage erlitten und riet der Königin Victoria, den Herzog von Wellington, als den Oppositionsführer i m Oberhaus, zum Premierminister zu ernennen 27 . Wellington, der sich der parlamentarischen Abhängigkeit des Premierministers vom Unterhaus bewußt war, empfahl der Monarchin, Peel als den Vorsitzenden der konservativen Unterhausfraktion zum Regierungschef zu berufen. Dieser stimmte unter der Bedingung zu, daß i h m ein entscheidender Einfluß auf die Auswahl des persönlichen Stabes der Königin eingeräumt werde. Victoria lehnte dies ab und ernannte den gestürzten Melbourne, der ihr uneingeschränktes persönliches Vertrauen besaß, erneut zum Premierminister. Zu diesem Zeitpunkt war die königliche Gunst jedoch nicht mehr i n der Lage, die mangelnde parlamentarische Legitimierung zu ersetzen. So vergrößerten die i m Jahre 1841 abgehaltenen Gener al wählen die oppositionelle Tory-Mehrheit und brachten deren Führer Peel an die Regierung. Während sich die parlamentarische Suprematie immer deutlicher abzeichnete, die parlamentarische Einsetzung des Premierministers aber „noch nicht allgemein anerkanntes K r i t e r i u m der parlamentarischen Regierungsweise w a r " 2 8 , zählten für John Stuart M i l l 2 9 Entsetzung und Bestellung des Premiers zu den Hauptinstrumenten der parlamentarischen Kontrolle, zu unabdingbaren Wesensmerkmalen der Suprematie des Unterhauses 30 . M i l l stellt dabei nicht auf eine Übertragung des formalen Ernennungsrechts auf das Unterhaus ab, sondern er betont dessen Befugnis, tatsächlich zu entscheiden, welche Partei oder Parteien den Premierminister stellen sollten. Mill's Ansicht führt somit zur bloßen Formalfunktion der Ernennung durch den König, wie sie heute noch die englische Verfasdie Zusammensetzung des Ministeriums zu überwachen — es sei denn, das U r t e i l der Wählerschaft w a r nicht eindeutig — könnte die Würde des Souveräns erhalten 1 ." 27 Die Tatsache, daß ein Regierungswechsel ohne vorherige Neuwahlen möglich ist, bedeutet nach Friche , H., S. 211, ein Indiz f ü r das Vorliegen der repräsentativ-parlamentarischen Regierungsweise. 28 Nuscheier, F., S. 31. 29 To expell t h e m f r o m office, and either expressely of v i r t u a l l y appoint their successors' — so Mill, John Stuart, i n Westminster Review, Bd. 8, 1855, S. 239. Übersetzung: „ U m sie aus dem A m t zu entfernen u n d entweder formell oder materiell ihre Nachfolger zu bestimmen." 80 „ B y requiring the head of the A d m i n i s t r a t i o n should always be v i r t u a l l y appointed by the House of Commons, makes that body the real sovereign of the State", so Mill, John Stuart (I), S. 229. Übersetzung: „Die Tatsache, daß das Haupt der V e r w a l t u n g i m m e r materiell v o m Unterhaus ernannt wurde, hat zur Folge, daß dieses G r e m i u m der wahre Souverän des Staates ist."

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

sungsituation kennzeichnet und 1949 Aufnahme i n das Grundgesetz gefunden hat 8 1 . Auch Grey 8 2 spricht sich für eine bloß formale Ernennungszuständigkeit des Monarchen aus. Darüber hinaus war er Vorbote einer neuen Zeit, die erst nach 1867 anbrechen sollte: er wies bereits auf die determinierende K r a f t der i n den Wahlen akzentuierten öffentlichen Meinung hin: „Public opinion determines, i n the last resort, to what hands authority shall be trusted, for though the Ministers are the servants of the Crown, and are appointed by the Sovereign, yet as the Sovereign must choose Ministers who can command the confidence of Parliament, i t is practically the People who decide, through their Representatives, by whom the powers of Government shall be wieldet 3 3 ." Doch noch war es nicht soweit. Das Unterhaus hatte die parlamentarisch-politische Suprematie errungen, bestimmte allein über das Amtsende des Premierministers und hatte — wie die Präzedenzfälle der Jahre 1834 und 1839 zeigen — die königliche Ernennungsprärogative ihres materiellen Inhalts beraubt. Die von Grey beschwörten plebiszitären Kräfte waren damals noch durch die parlamentarische Repräsentation absorbiert. Die Generalwahlen hatten noch keine unmittelbar legitimierende K r a f t für die Einsetzung des Premiers zu entwickeln vermocht. Selbst ein die Oppositionspartei m i t der Mehrheit der Parlamentssitze ausstattendes Ergebnis führte nicht zum sofortigen Rücktritt des Kabinetts. Bis zum berühmten 1868 von Disraeli geschaffenen Präzedenzfall 84 führte nur die von der bisherigen Regierung i m neuen Parlament erlittene Abstimmungsniederlage zum Rücktritt. Das materielle Besetzungsrecht stand daher bis zur zweiten, großen Wahlreform unmittelbar dem organ-souveränen Unterhaus zu.

I I I . Die plebiszitäre Überlagerung der parlamentarischen Suprematie Der von Grey 1 überlieferte Satz, dem zu seiner Zeit der Charakter einer bloßen Prophezeihung zukam, ist inzwischen Wirklichkeit geworden. Unter bestimmten, i n der Zeit seit dem 2. Weltkrieg vorhandenen 31

Siehe A r t . 63 GG. Grey, H. G. E., S. 25. 33 Grey, H. G. E., ebd. Übersetzung: „Die öffentliche Meinung bestimmt i n letzter Hinsicht, welchen Händen die Macht anvertraut w i r d ; denn obwohl die Minister Diener der Krone u n d v o m Herrscher eingesetzt sind, muß der Herrscher dennoch Minister erwählen, welche das Vertrauen des Parlaments genießen. Es ist praktisch das Volk, welches beschließt, u n d zwar durch ihre Vertreter, von w e m die Regierungsmacht ausgeübt w i r d . 34 Disraeli w a r als erster Ministerpräsident 1868 nach Bekanntwerden seiner Wahlniederlage zurückgetreten, ohne die Einberufung des neugewählten Unterhauses abzuwarten, so Keir, D. L., S. 407. 1 Grey, H. G., S. 25. 32

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

und i m Zweiparteiensystem angelegten Voraussetzungen determiniert das Ergebnis der Generalwahlen die Entscheidung des Unterhauses und den Vollzug durch den Monarchen. Die Unterhauswahlen sind zur „Volkswahl" 2 des Prime Ministers geworden. Die Wählerschaft gewinnt grundsätzlich i n der Zweiparteienalternierung einen größeren Einfluß auf die Regierungsbildung als i m Mehrparteiensystem. Sie verteilt nicht nur die verfügbaren Parlamentsmandate, sondern bestimmt auch die zur Regierungsführung legitimierte, schon vor der Wahl bekannte Führungsmannschaft einer Partei. Dies gilt insbesondere für den Premierminister, der als Leader einer der beiden Massenparteien zur bekanntesten politischen Persönlichkeit des Landes wird 3 . Dennoch verdient das britische System die Beschreibung „parlamentarisch", als letztlich die Zahl der errungenen Unterhaussitze über die Regierungsberechtigung einer Partei entscheidet 4 . Bei der Wahl des örtlichen Kandidaten w i r d faktisch nicht mehr über den Abgeordneten abgestimmt, sondern über die Frage, welchem der beiden Parteiführer und welchem Sachprogramm der Vorzug zu geben ist. I n dieser sowohl real — als personalplebiszitär orientierten Wählerentscheidung überwogen i n zunehmendem Maße letztere Kriterien. Die Ausrichtung des Wahlinteresses auf die Bestellung des Premierministers hatte nach 1868, zumal i n der „Epoche der Wahlreformen" von 1884 bis 1928, eine weitere erhebliche Verstärkung erfahren: beginnend m i t dem Reform Act 18675 und endigend m i t dem Act von 1928e war durch eine Reihe von aufeinanderfolgenden, kettenreaktionsartig ablaufenden Reformen, die zahlenmäßige Kongruenz von Volk und A k t i v bürgerschaft erreicht worden 7 . Die Wählerinflation führte i n der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts zum Aufbau der modernen Massenpartei und zum Einpendeln der Zweiparteienalternative. Die Massenparteien 8 errichteten den letzten der drei Eckpfeiler, die heute noch dem britischen Regierungssystem das Gepräge verleihen. Es sind dies 2

Savelkouls, H., S. 35 ff. Loewenstein , Κ . (VI), Bd. 1, S. 161. 4 U m dieses Einflusses w i l l e n werden sogar Verzerrungen i n der Wertung der einzelnen Wählerstimmen hingenommen. Siehe dazu v o r allem j u r . Diss. Oppermann, Th., S. 102. 5 30 u. 31 Vict., c. 102. 6 18 u. 29 Geo. 5, c. 12. 7 Siehe Greaves , H. R. G., S. 14; Morrison , Herbert, Reg. u. Parliament i n England, München 1956, S. 124; Jennings —Ritter, Das britische Regierungssystem, Köln—Opladen 1958, S. 106; Fricke, H., S. 211. 8 McKenzie (I), S. I f f . , A l l g . f ü r die Konservative Partei, S. 146ff.; f ü r Labour 386 ff. u. S. 456 ff.; vgl. aber auch Loewenstein , Κ . (VI), S. 121 ff., insbes. 142. 3

3. Abschn.: Plebiszitäre Determinierung

a) Erweiterung der Aktivbürgerschaft b) Ausbildung der Massenparteien c) The swing of the pendulum — das Einpendeln des ZweiparteienWechsels. Die plebiszitäre Determinierung der repräsentativ-parlamentarischen Wahlfunktion ist die konventionale Folge der dreifachen soziologischen Kausalität. 1. Die soziologische Kausalität

A d a): Das Endziel, der demokratische Grundsatz von „one man—one vote" 9 , wurde m i t der langen Reihe von Reform-Acts des 19. und 20. Jahrhunderts angestrebt und schließlich m i t dem das allgemeine Stimmrecht beider Geschlechter verankernden "Representation of the people act" von 192810 erreicht. Schon kurze Zeit nach der Verabschiedung des Reform-Acts von 1832 setzten abermals Wellen von Reformbestrebungen ein, die gegen die zu wenig weitgehend scheinenden Ergebnisse der großen Reform anbrandeten. Da die Zahl der Wahlberechtigten innerhalb einer Generation u m 400 000 angewachsen war 1 1 , erschien der von der Reform 1832 gespannte Rahmen als zu eng. Die treibende K r a f t der Demokratisierungsbewegung wuchs i n der People's Charter 12 . I n ihr gelangte die wachsende Unzufriedenheit m i t dem Ausschluß der Arbeiterschaft vom Wahlrecht zum Ausdruck. I m Parlament kämpften zunächst nur die Radikalen für weitere Reformen. Erst i m Jahre 1852 brachte das Kabinett eine Reformvorlage ein — bis 1860 folgten vier weitere — die sämtlich auf die Erweiterung des Kreises der Wahlberechtigten abzielten 13 . Nachdem i m Jahre 1866 eine Reformvorlage der liberalen Regierung am Widerstand i n den eigenen Reihen gescheitert war 1 4 , verabschiedete das Unterhaus die von Derby und Disraeli initiierte Gesetzesvorlage als "The Representation of the People A c t " 1 5 . 9

E i n Mann, eine Stimme. 18 u n d 29 Geo. 5, c. 12. 11 1833 waren es 652 000, 1866 bereits 1 056 000 Wähler, Zahlenangaben aus Seymour , A p p e n d i x I . 12 I n der Charta w u r d e gefordert: Allgemeines, gleiches u n d geheimes Wahlrecht, ein jähr. Legislaturperiode, sowie die Abgeordneten-Besoldung. Vgl. zur Chartistenbewegung Hovell, M., The Chartist Movement I , 2; s. Keir, D. L., S. 15. 13 Z u m genauen I n h a l t dieser Gesetzesvorlagen vgl. K e i r , D. L., S. 415/6. 14 Dazu Bell, H. C., Palmerston and Parliamentary Representation, 4. Journal of Modern History, S. 186, zit. nach K e i r , D. L., S. 416. 15 30 u n d 31 Vict., c. 102, vgl. dazu Smith, Seymour, S. 257 if. 10

10 Lippert

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

I n i h m wurde die Besitzqualifikation i n den Grafschaften von 10 auf 5 Pfund verringert und eine Minimalqualifikation von 12 Pfund für zeitlich beschränkten Besitz — etwa durch Mieten — eingeführt 1 6 . Diese Maßnahme vergrößerte die Zahl der Wahlberechtigten i n den Grafschaften von 540 000 auf 790 000. Einschneidender w i r k t e sich die Reform i n den städtischen Wahlbezirken aus, wo zwei neue Wählerklassen entstanden waren; die Mieter eines Hauses ohne Mindestgrenze, sowie die Mieter unmöblierter Wohnungen oder Ladengeschäfte 17 . Die Folge war eine Verdoppelung der Zahl der Stimmberechtigten i n den Städten 18 . Überdies wiesen von nun an die städtischen Wahlbezirke, obwohl gegenüber den Grafschaften an Einwohnerzahl unterlegen, um 5 0 % mehr Wähler als diese auf. Gegenüber dem dadurch bewirkten Übergewicht der Arbeiter stimmen w i r k t e n nur zwei Gegeneinflüsse. Einmal das Doppelstimmrecht i n den „Fancy-Franchises" 19 , das den Diplominhabern bestimmter Universitäten ein Zusatzwahlrecht gewährte. Ein weiteres Gegengewicht bestand i n einem gewissen Mißverhältnis von Wähler- und Mandatszahl: 4 Millionen Bürger der Großstädte stellten 34 Abgeordnete von insgesamt 334 Mandaten der städtischen Wahlkreise 20 . Die Wahlreform 188421 bedeutete einen weiteren Schritt auf dem Wege zum allgemeinen Wahlrecht: auch i n den Grafschaften waren jetzt jene Männer wahlberechtigt, die sich als Mieter eines Grundstücks i m Mindestjähr wert von 10 Pfund ausweisen konnten. Dadurch wuchs die Wählerschaft i n den Grafschaftsbezirken auf 2,5 Millionen. Der 1885 verabschiedete Reform Act beseitigte die letzten Unterschiede zwischen Grafschafts- und städtischem Wahlrecht; sein Schwerpunkt entfaltete sich aber bei der Neuverteilung von Abgeordneten-Sitzen 22 . Der erste Schritt bestand i n der Eingliederung sämtlicher städtischer Wahlbezirke m i t weniger als 50 000 Einwohnern i n die sie umgebenden Grafschaftswahlkreise. Dem Gedanken des Einmann-Wahlkreises trug man Rechnung, indem bisher nicht repräsentierte Boroughs i n Bezirke zu je 50 000 Einwohnern, die je einen Abgeordneten entsandten, aufgeteilt wurden. 72 Boroughs verschwanden überhaupt und weitere 36 verloren einen Abgeordnetensitz; insgesamt standen 142 Mandate für eine der Bevölke16

Loewenstein , Κ . (VI), Band 1, S. 98. K e i r , D. L., S. 416. 18 Die Wählerschaft vergrößerte sich nach Loewenstein , u m 1,5 Millionen. 19 Phantasie- oder Spaß-Wahlkreise. 20 K e i r , D. L., S. 416. 21 Representation of the People A c t — 48 u. 49 Vict., C. 3. 22 Hierzu u n d zum folgenden siehe K e i r , D. L., S. 472 f. 17

Κ . (VI), ebenda

3. Abschn.: Plebiszitäre Determinierung

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rungsbewegung Rechnung tragende Neuverteilung zur Verfügung. Auch die nach diesen Maßnahmen teilweise weiterbestehende Diskrepanz zwischen Einwohnerzahl und parlamentarischer Repräsentation fand erst i m „Representation of the People Act" von 191823 ihre Lösung. Neben einer vollkommenen Neuverteilung der Sitze brachte die Reform von 1918 einen demokratischen Fortschritt insofern m i t sich, als sie das Stimmrecht allen Männern vom 21. und den Frauen vom 30. Lebensjahr an verlieh. Voraussetzung dafür blieb eine — allerdings geringe — Besitzqualifikation: der Wähler oder sein Ehegatte mußten Eigentümer eines Hauses, oder Mieter einer Wohnung oder eines Ladens m i t einem Minimalwert pro Jahr von 5 Pfund sein. I m Jahre 1928 wurde mit dem „Representation of the People A c t " 2 4 der letzte Schritt h i n zum allgemeinen gleichen, demokratischen Wahlrecht getan und das Prinzip von „One Man—One Vote" verwirklicht. Das Stimmrecht der Frauen wurde demjenigen der Männer unter Aufrechterhaltung der niedrigeren Besitzqualifikation gleichgestellt 25 . A d b): Der Aufstieg der Massenparteien. Als unmittelbare Folge der ersten weitgehenden Ausdehnung des Wahlrechts 1867 erscheint der Aufstieg der modernen Massenparteien. Während die durch die erste Wahlreform von 1832 initiierten soziologischen Entwicklungen zur politischen Suprematie des Unterhauses führte 2 6 , zwang die ab 1867 i n mehreren aufeinanderfolgenden Wellen vergrößerte Wählerschaft die Parlamentspolitiker, sich u m Anhänger i n den neuerrichteten Wahlbezirken zu bemühen. Die Anfänge der Parteiorganisationen sind jedoch wesentlich früher zu veranschlagen: bereits nach 1832 entstanden „Registration Societies" 2 7 , welche die Aufgabe hatten, die neuen Stimmberechtigten zu erfassen 28. Die Registrierung der Wähler öffnete so den bisher auf das Parlament beschränkten Parteien den Weg i n die Wahlkreise und ermöglichte es diesen, das ganze Land mit dem Netz ihrer Organisation zu überziehen 29 . 23

7 u n d 8 Geo. 5, c. 64. 18 u n d 29 Geo., 5, c. 12. 25 Eine Ausnahme machte i m m e r noch das Wahlrecht der Absolventen bestimmter Hochschulen, die gleichzeitig i n einem normalen Wahlkreis abstimmen konnten. Die Z a h l der i m Unterhaus vertretenen Universitäten wurde 191 noch erweitert durch die Universität London, zu der dann neben den schon bestehenden Universitätssitzen Oxford u n d Cambridge die U n i v e r sitäten v o n Wales u n d v o n Belfast kamen. 26 Thomas , J. Α., The House of Commons, 1832 - 1867, A . Functional A n a lysis, Ekonomika Nr. 13, March 1925, S. 49 - 61. 27 Vereinigung zur Eintragung der Wähler i n die Wählerlisten. 28 McKenzie (II), S. 8. 29 So Ostrogorski, Α., „Democracy and the Organisation of Political Partys, Vol. I, S. 142, London 1902. Das genannte W e r k Ostrogorskis beinhaltet 24

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Tatsächlich wurden jene Societies durch die Parlamentsparteien gefördert. Doch bis zur Formierung der konservativen und liberalen Parteiblöcke war noch ein weiter Weg. Zunächst galt es, die nach 1832 eingetretene Zeit des „Parteienpluralismus" 3 0 zu überwinden. Vorerst aber spaltete sich die Konservative Partei über die 1846 von Sir Robert Peel verfügte Aufhebung der Kornzölle i n die Parteigänger Peels, die „Peeliten", und den für die Wiederaufrichtung der Schutzzölle kämpfenden orthodoxen Flügel, während die Liberalen sich, nur geeint durch ihre Gegnerschaft gegenüber den Tories, als Radikale und Liberale gegenüberstanden 31 . Die konsequente Einrichtung außerparlamentarischer und überregionaler Parteiorganisationen konnte erst nach der Reform von 1867 einsetzen. Bereits 1852 aber hatte die Konservative Partei, insoweit der Veränderung der bisher auf die Wahlkreisebene zugeschnittenen politischen Propaganda folgend, i n ihrem neuerrichteten „Central Office" 3 2 eine Aufzeichnung der für die Partei kandidierenden Unterhauskandidaten erstellt. I m auf die zweite Wahlreform von 1867 folgenden Jahr wurden die teilweise aus den „Registration Societies" erwachsenen konservativen Lokalvereinigungen zur „National Union", dem Verband konservativer Wahlkreisorganisationen, vereinigt 3 3 . Eine parallele Entwicklung war i n der Liberalen Partei zu beobachten. Die Radikalen hatten 1835 ein Registrierungsbüro eingerichtet. Die Gesamtpartei folgte i m Jahre 1887 den Konservativen m i t der Gründung der „National-Liberal-Federation" und des „Central Office" 34 . Als die Reformakte 1884 das Wahlrecht i n die kleineren Städte und ländlichen Bezirke trug, folgte ihr die Organisation der Parteien auf dem Fuße 35 . Während sich aber die konservative Parteiorganisation als außerparlamentarisches Hilfsorgan der Parlamentsfraktion verstand, hatte es die klassische Darstellung der E n t w i c k l u n g der englischen Parteien, berücksichtigt aber trotz seines Erscheinungsjahres n u r die Zeit bis etwa 1895. Als Beispiel einer jüngeren eindringenden Darstellung s. Bulmer-Thomas, Ivor, The G r o w t h of the B r i t i s h Party, System, London 1965, Bd. 1. 30 Loewenstein, K . (VI), S. 126. 31 I m Unterhaus waren i m Jahre 1850 vertreten: 217 Konservative, Schutzzöllner, 104 Peeliten, Freihändler, 297 Liberale, 21 Radikale (Linksliberale) u n d 18 Repealers (Anhänger einer bloßen Personalunion zwischen England u n d I r l a n d ; so Loewenstein, K . (VI), S. 126 i n A n m e r k u n g 2. 32 Z u r Geschichte des „Central Office" u n d seiner heutigen Organisation, sowie den v o n i h m wahrgenommenen Aufgaben siehe McKenzie (I), S. 260 bis 293. 83 Z u r „National Union", i h r e r Entstehung u n d heutigen F u n k t i o n s. McKenzie (I), S. 146 - 259. Die v o n der National U n i o n i m m i t t e l b a r nach ihrer Gründung geleistete A r b e i t legt den Grundstein f ü r den Wahlerfolg der K o n servativen Partei i m Jahre 1874. Siehe Lowell, A . L., Government of England, New Y o r k 1908, S. 497 - 504. 34 Zit. nach Keir, D. L., S. 469.

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

Joseph Chamberlain unternommen, m i t Hilfe der „liberal Federation" die Parlamentsfraktion auf eine bestimmte politische Programmatik zu verpflichten 36 , und somit den ersten Angriff auf die Suprematie des Parlaments geführt 37 . Chamberlain hatte m i t seinem „Caucus System" bereits i n Birmingham 1868 einen überwältigenden Wahlerfolg erzielt, und begann nun — mit ähnlichen Ergebnissen — diese Methode auch auf die Kommunalverwaltung anzuwenden 38 . U m das Jahr 1884 hatten schließlich fast alle Lokalverbände der Liberalen Partei Organisationsform und Methode des Birminghamer Modells übernommen. Das Caucus System feierte seinen Triumph m i t dem Zusammenschluß der lokalen und regionalen Organisationen i n der National-Federation i m Jahre 1887. Damit setzte auch der Kampf zwischen Parteiorganisation und Parlamentsfraktion um den führenden Einfluß auf die Gestaltung der Politik ein 39 . Doch war auch die konservative Partei zu jener Zeit von Bestrebungen, die Parlamentsfraktion einer Volkskontrolle, ausgeübt durch die lokalen Wahlkreisrepräsentanten, zu unterwerfen, nicht frei geblieben. I m Vordergrund standen dabei die Demokratisierungsbemühungen von Lord Randolph Churchill, der gleichzeitig für eine Verantwortlichkeit der parlamentarischen Führer gegenüber der Parteiorganisation i m Lande eintrat 4 0 . Es hatte den Anschein, als ob die i m Entstehen begrif35 Sir I v o r Jennings , Party Politics, Bd. I , Appeal to the People, Cambridge 1961, S. 143 if. 38 Snelly, K . B. S., A hundred Years of English Government, 2. Auflage, London 1950, S. 127. 37 Selbst aus dem Lager der Liberalen schlug damals Joseph Chamberlain herbe K r i t i k entgegen. So meinte der Führer der Liberalen Partei, L o r d Hartington, daß dieser „ B i r m i n g h a m Plan" — gemeint ist damit das Caucus System Chamberlains — sicher zur Beschneidung der souveränen Rechte des Parlaments führen w i r d . So L o r d H a r t i n g t o n an L o r d Granville am 23.11. 1877, Eighth Duke of Devonshire, London 1911, Vol. I, S. 245. Hinsichtlich w e i terer negativer Stellungnahmen zum Caucus System vgl. Gardiner, A . G., The Life of Sir W i l l i a m Harcourt, London 1923, Vol. I I , S. 407 f. 38 Vgl. Weber, Max, Wirtschaft u n d Gesellschaft, Bd. I I , 5. Aufl., K ö l n 1964. 39 Seine Sorge u m die Erhaltung der repräsentativen Verfassungselemente u n d die Suprematie des Parlaments äußerte Ostrogorski i n : „The Introduction of the Caucus i n England." The Political Science Quarterly, Vol. V I I I . , June 1893, S. 287 -316; derselbe: „Democracy and the Organisation of Political Parties", Vol. I, London 1902. F ü r die zeitgenössische Diskussion der durch die Einführung des Caucus aufgeworfenen Fragen s. Chamberlain, J. „ A New Political Organisation", i n : F o r t n i g h t l y Review, Vol. X X I I , J u l i 1877, S. 126 bis 134; derselbe i n „The Caucus F o r t n i g h t l y Review, Vol. X X I V , November 1878, S. 721-41; Wilson, E. D. J., „The Caucus and its Consequence", Nineteenth Century, Vol. IV., Oct. 1878, S. 695 - 712; als Beitrag aus jüngster Zeit siehe Hanham, H. J., „Elections and Party Management. Politics i n the Time of Disraeli and Gladstone, London 1959, Kap. 7. 40 Churchill, Winston, S., L o r d Randolph Churchill, Vol.1, Chapter V I I and Appendix I I ; Herrick, F. H., „ L o r d Randolph Churchill and the Popular Organisation of the Conservative P a r t y " , i n : Pacific Historical Review, Nr. 15, June 1946, S. 178 - 1919,

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

fene sozialistische Bewegung 41 ausschließlich den Wünschen der Parteiorganisation gefügige Abgeordnete ins Parlament entsenden würde. Tatsächlich war es der i m Jahre 1874 vom Gewerkschaftskongreß ins Leben gerufenen „Labour Representation League" gelungen, 13 Parlamenskandidaten zu nominieren, von denen zwei i m gleichen Jahr, drei i n den Wahlen von 1880 erfolgreich waren. Obwohl nicht unmittelbar von den Gewerkschaften nominiert, hatten diese infolge ihrer organisatorischen und finanziellen Unterstützung i m Wahlkampf einen starken Einfluß auf die Auswahl der Kandidaten nehmen können 42 . M i t der Einflußnahme auf die Nominierung der Kandidaten war den Trade Unions incidenter die Möglichkeit i n die Hand gegeben, die von den Abgeordneten i m Parlament verfolgte Politik wesentlich zu steuern. Demgegenüber sind i n den beiden alten Parteien die Prophezeiungen Ostrogorskis, daß der Cuacus zum von der außerparlamentarischen Parteiorganisation beherrschten, „imperativen Mandat" führen wird, nicht erfüllt worden. Die parlamentarischen Führer sowohl der konservativen als der liberalen Partei hatten spätestens i m Zeitpunkt der Machtentfaltung eines Chamberlain oder der „Eskapaden von Lord Randolph Churchill" 4 3 die Gefahr erkannt und u m die Jahrhundertwende gebannt: Lord Salisbury verwies die Parteiorganisation i n die ihr zukommende dienende und ausführende Funktion, behielt die Direktion der Politik ausschließlich der Parlamentspartei vor 4 4 . Ähnliches war bei den Liberalen gelungen, wo das von Mitgliedern der Parlamentspartei gelenkte Central Office seine Kontrolle über die gesamte Parteiorganisation ausdehnen konnte. A . L . L o w e l l 4 5 konnte so wenige Jahre nach den Warnungen Ostrogorskis feststellen, daß der Versuch des Caucus, die Kontrolle über die Fraktionen zu erringen, fehlgeschlagen war. I n den beiden alten Parteien trat an die Stelle des Einflusses der außerparlamentarischen Parteiorganisation das Ubergewicht der die Politik formulierenden und parlamentarisch durchsetzenden Fraktionen. Während die parlamentarische Labourparty den starken Einfluß ihrer außerparlamentarischen Gremien trotz gegenläufiger Bestrebungen nie ganz abschüttelte 46 , standen sich i n den beiden Traditionsparteien nicht 41

Z u r Geschichte des Aufstiegs der Labour Party s. McKenzie (I), S. 386-412, hinsichtlich der Labour-Fraktion, S. 455-531, f ü r die Labour, Organisation u n d S. 560 ff. f ü r das Labour-Zentralbureau. 42 K e i r , D. L., S. 469. 43 McKenzie (II), S. 9. 44 McKenzie (II), S. 9. 45 Lowell , A . L., The Government of England, New Y o r k 1908, Vol. I, S. 496 f. 46 Attlee konnte noch i n der jüngsten Vergangenheit v o n der Labourparty Conference „als dem Parlament der Bewegung sprechen, das die v o n der

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

mehr Fraktion und Parteiapparat, sondern ausschließlich Fraktion und Wählerschaft unmittelbar kontrollierend gegenüber. Hier zeigte sich, daß die Wählerschaft von der durch die Techniken des 18. Jahrhunderts steuerbaren Akklamationsmaschine zum aktiven Faktor des Verfassungslebens geworden war. Die unmittelbare Konfrontation zwischen dem Party Leader und dem Volk war zum erstenmal i n der von Gladstone 1874 geführten Wahlkampagne und einige Jahre später i n seiner berühmten „Midlothian Campaign" des Jahres 1879/80 zu beobachten 47 . Diese Entwicklung nahm ihren Höhepunkt i n dem persönlichen Wahlduellen zwischen Gladstone und Disraeli, welche den Unterhauswahlen eindeutig plebiszitäre Züge verliehen 48 . A d c): Die Herausbildung des Zweiparteiensystems. Dem Zweiparteiensystem kommt für die englische Verfassungsordnung eine i n ihrer W i r k u n g kaum überschätzbare prägende und gestalterische Kraft zu. Erst die Wahlreformen der Jahre 1867, 1884/5 stellten m i t der ungeheuren Vergrößerung der Wählerschaft und des Ubergangs zu Einmannwahlkreisen die Weichen zugunsten des Zweiparteiensystems. Jetzt konnte das System der relativen Mehrheitswahl beginnen, seinen „spezifischen Einfluß auf die Bildung der Parteienstruktur i m Unterhaus auszuüben" 49 . Hinzu kam noch der Aufbau der nationalen Parteiorganisationen auf konservativer wie auf liberaler Seite, was diesen Parteien einen zunächst nicht aufholbaren Vorsprung gegenüber anderen politischen Gruppen schenkte. Bereits i m Jahre 1882 konnte der Dichter W. S. Gilbert daher die Zweiparteienstruktur i n poetischer Form kennzeichnen: „How nature always does contrive That every boy and every gal That's born into this w o r l d alive Is either a little Liberal Or else a little Conservative 50 ?" Partei zu verfolgende P o l i t i k festlegt u n d Instruktionen verabschiedet, die von den Labour-Abgeordneten auszuführen sind". Z i t i e r t nach McKenzie (I), S. 2. 47 Siehe dazu die Darstellung bei Hanham, H. J., Elections and Party Management. Politics i n the Time of Disraeli and Gladstone, London 1959, S. 56 ff. 48 So Ritter, Gerhard Α., Regierung u n d Parlament i n Großbritannien seit dem 17. Jahrhundert, i n : P. V. S. Bd. V (1964) S. 23. 49 So Oppermann, Thomas, S. 87; Die Rivalität zwischen Whigs u n d Tories i m 18. Jh. k a n n nicht als den K r i t e r i e n des modernen Zweiparteiensystems folgend anerkannt werden, vgl. dazu Sir Lewis Namir, England i n the age of American Revolution, London 1963, S. 12 ff. 50 Z i t i e r t nach Jennings , W. I. u n d C. A . Ritter, S. 56.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Tatsächlich hatten die genannten Faktoren mit den Wahlen von 1874 bewirkt, daß nur die beiden Parteien m i t der stärksten Anziehungskraft auf die Wähler i m Parlament eine Rolle spielen und abwechselnd den Premierminister stellen konnten. Das Zeitalter der Zweiparteienalternierung hatte begonnen und sollte i n der Gestalt des Wechsels von Konservativen und Liberalen bis i n die Zeit des Ersten Weltkrieges seine Wirksamkeit bewahren 51 . A m Beispiel des Aufstiegs der Labourparty und der damit einhergehenden Ausschaltung der Liberalen als der Alternativpartei läßt sich die grundsätzliche Veränderung i n der Parteienkonstellation beoachten 5 2 : zunächst erscheinen Drittparteien, die dann allmählich eine der beiden Großparteien als Alternierungspartei ausschalten und sich an deren Stelle setzen. Dabei fällt der neuen Partei stets die i n der Wählerschaft weniger tief verwurzelte Partei zum Opfer. Für das Merkmal „verwurzelt" ist die Tatsache maßgebend, daß sich stets eine mehr bewahrende, konservative und eine — ideologisch — auf den jeweiligen Zeitgeist ausgerichtete, fortschrittliche, der Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse verpflichtete Partei gegenüber stehen. Bei einschneidenden Änderungen i n der sozialen Gliederung der Wählerschaft, insbesondere aber nach Einbeziehung der von der Fortschrittspartei aufgestellten Postulate, w i r d diese „befriedigte" Gruppierung von einer anderen, neue Prinzipien normierenden Partei als Widerpart der konservativen Seite abgelöst. Die geäußerte Ansicht fand auch i m Aufstieg der Labourparty und dem komplementären Niedergang der Liberalen ihre Bestätigung. Die British Labour Party beteiligte sich unter vollem Aufwand erstmals 1906 an den Wahlen zum Unterhaus, wo sie 53 Kandidaten durchbrachte. Doch schon 1922 eroberte sie 142 Mandate und rückte zur Stellung der offiziellen Opposition auf, da die Liberalen nur über 114 Sitze verfügten. 1923 bildete Labour die erste Regierung unter dem Premier Ramsay MacDonald 53 . Die Generalwahlen von 1924 hatten das Schicksal der Liberalen als Alternativpartei besiegelt: Zwar mußte auch Labour einen Rückgang auf 151 Sitze hinnehmen, doch hatte die liberale Partei eine verhängnisvolle Niederlage erlitten und war nur mehr mit 40 Abgeordneten i m Unterhaus vertreten, während die Konservativen m i t 419 Mandaten un51 Die Home Rule Frage f ü r I r l a n d spaltete die Liberale Partei, die U n i o nisten schlossen sich den Konservativen an. 1906 aber wurde das Jahr des großen Wahlerfolges der wiedervereinten Partei, die das errungene Wählermandat f ü r verfassungsrechtliche Reformen, insbesondere des Oberhauses, einsetzte. 52 Oppermann, Th., S. 88. 53 Labour hatte 192, die Liberalen 159, die Konservativen 258 Sitze errungen; die Regierung konnte dank der Tolerierung der Liberalen gebildet werden; die Zahlenangaben stammen aus Loewenstein , Κ . (VI), S. 548,

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

ter Stanley Baldwin die Regierung bilden konnten. Die nächsten Generalwahlen 1929 brachten zwar 59 liberale Abgeordnete ins Unterhaus, doch bewiesen die Sitzzahlen der General Elections von 1931 und 193554, daß die Partei endgültig zur dritten politischen Kraft des Landes abgesunken war 5 5 . Die Nachkriegszeit änderte an der parlamentarischen Bedeutungslosigkeit der liberalen Fraktion nichts5®. Als Wilson nach den Generalwahlen 1964 mit der sehr geringen absoluten Mehrheit von 5 Sitzen die Regierungsführung übernahm, fand er die Tolerierung durch die 9 liberalen Mitglieder des Hauses 57 . M i t dem überzeugenden Sieg i n den Generalwahlen des Jahres 1966 hatte die Labour-Party, mit Ausnahme der „Erdrutschwahl" von 1945, ihren bisherigen Höhepunkt i n der Nachkriegszeit erreicht. Die Regierungsübernahme der konservativen Partei i m Jahre 1970 hatte den „Swing of Pendulum", den Pendelschwung, wiederhergestellt.

2. Konventionale Folgen der soziologischen Kausalität

Die von den i n engen Zeitabständen aufeinanderfolgenden Reformwellen i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erzeugte soziologische Kausaliät konnte auch am Pegel der konventionalen Entwicklung, i m Bereiche der Verfassung, abgelesen werden. Das allgemeine Wahlrecht und das Zweiparteiensystem hatten einen Strukturwandel des Systems, den Ubergang von der klassischen Phase der streng repräsentativ-parlamentarischen Form zum m i t plebiszitären Elementen angereicherten parlamentarischen System der zweiten Phase erzwungen 58 . I n diesem 54 Die Partei w a r wieder gespalten i n Nationalliberale u n d Fortschrittliche, nämlich 1931 w a r das Sitzverhältnis 35 zu 37,1935 das Verhältnis 33 zu 17. 55 Maurice Duverger hat i n seiner Studie (II), S. 14 ff., 28 ff. zwei Faktoren aufgezeigt, welche bei der Ausschaltung von Drittparteien m i t w i r k e n : a) der mechanische F a k t o r : drittstärkste Parteien haben überhaupt schlechte Aussichten, i n den ausschließlich nach dem Grundsatz der relativen Mehrheitswahl gehandhabten Wahlen die meisten Stimmen auf sich zu vereinigen. b) der psychologische F a k t o r : der i n der Wählerschaft vorhandene Sinn f ü r Realitäten f ü h r t dazu, daß „nutzlose" Stimmen nicht mehr abgegeben werden. 56 1945: 12; 1950: 9 Sitze; die Aufstellung ist entnommen Loewenstein, K . (VI), S. 548. 57 Der Speaker, der Vorsitzende des Unterhauses, w i r d überhaupt als überparteilich gewertet. E r ist, außer bei Stimmengleichheit, nicht stimmberechtigt, vgl. Punnett, Robert Malcolm, B r i t i s h Government and Politics, London 1968, S. 31. 58 Die von Friche, H., S. 216 der Phase 1 abstrakt gegenübergestellte u n d plebiszitär-parlamentarische F o r m genannte Ausgestaltung der Phase 2 ist i n England bis zum heutigen Tag nicht offiziell anerkannt.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Vorgang ist die Beteiligung der Arbeiterschaft an der parlamentarischen Willensbildung und damit ihre politische Befriedung enthalten. Sie setzte den Schlußstein i n das heutige Gebäude der englischen Verfassung, die von vier Elementen, dem demokratischen, dem parlamentarischen, dem monarchischen und schließlich dem Kabinettssystem geprägt wird 5 9 . Die ständige Integration neuer, fremder Elemente i n die englische parlamentarische Regierungsweise haben dem britischen Regierungssystem das Aussehen einer Mischung von Zügen der direkten und repräsentativen Demokratie verliehen 60 . Die repräsentative Grundlage der englischen Verfassung hat sich zwar nicht i m Sinne der Ideologie von Edmund Burke 6 1 erhalten, ist aber doch i n ansehnlicher Stärke und an eigentlich unerwarteten Stellen anzutreffen: die rigorose Parteidisziplin i m Unterhausbetrieb der Gegenwart bewahrt zwar grundsätzlich das Kabinett vor einem parlamentarischen Sturz und schwächt damit die repräsentative Suprematie des Parlaments; doch hat gerade sie es vermocht, den einzelnen Abgeordneten gegenüber seinen Wählern m i t einer A r t von kollektivem Schutz zu umgeben, der solange w i r k t , als sich das Mitglied i n Ubereinstimmung m i t der offiziellen Parteilinie befindet 62 . Dennoch haben die geschilderten, von den Reformwerken des 19. Jahrhunderts getragenen soziologischen Veränderungen zu starken Einbrüchen plebiszitären Denkens i n die englische Verfassungsordnung geführt. Die theoretische Fundierung jener Erscheinungen wurde a) mit der Lehre vom allgemeinen Mandat entwickelt, aus der b) wiederum die Konvention von der nicht mehr freien, sondern bloß determinierten Wahlfunktion des Unterhauses abgeleitet wurde. A d a): Die Theorie vom allgemeinen Mandat. Bereits Sir Robert Peel prophezeite die Notwendigkeit eines Rückhalts der Regierung i n der Wählerschaft und beschrieb die legitimierende K r a f t der plebiszitären Zustimmung. I m berühmten Tamworth Manifest des Jahres 1834, gerichtet an die Wählerschaft seines Wahlkreises Bristol, trug er diesen Vorstellungen Rechnung. 59

Jennings , W. (I), S. 13 f. So Oppermann, Th., S. 98; die englische Verfassung verbindet m i t Hilfe der durch die Convention geleiteten Evolution auch die v o n Leibholz als grundsätzlich unvereinbar bezeichneten Elemente, siehe Leibholz, G., S t r u k turprobleme der modernen Demokratie, Karlsruhe, 1958. 61 Siehe dazu die hervorragende Zeichnung der Gestalt, der Gedanken u n d des Wirkens von B u r k e bei Glum, F., Konservativismus, Bonn 1969, S. 101 bis 121. 62 Loewenstein, Κ . (VI), S. 164, berührt also n u r eine Seite des Problems, w e n n er die Autonomie des einzelnen Abgeordneten als durch die strikte Parteidisziplin stark eingeschränkt sieht; ganz i m Gegenteil ist diese Autonomie gegenüber den Wählern verstärkt worden. 60

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

Gladstone griff nach der Reform von 1867 sogar über seinen Wahlkreis hinaus und bat, an das ganze Land appellierend, um ein „personales Plebiszit oder das Mandat, das Land zu regieren" 63 . Disraeli, konservativer Leader, „Apostel eines neuen Zeitalters" 6 4 und Verwirklicher der großen Wahlreform von 1867, kritisierte jene Stimmen, welche „die Zeichen der neuen Zeit nicht erkannt hätten" 0 5 . Er geht soweit, daß er die Autorität des Staatsmanns als ausschließlich auf dem erfolgreichen Appell seiner Partei an das Volk beruhend, ansieht 66 . Die Berufung auf das Mandat der Wähler war überhaupt zuerst von den Konservativen als Argument i n der politischen Auseinandersetzung gebraucht worden. Vor allem sollte es den Widerstand des House of Lords gegen die gesetzgeberischen Reformmaßnahmen liberaler Premierminister legitimieren 6 7 . Inzwischen hatte das neue Zweiparteiensystem die Wählerschaft i n den Stand versetzt, darüber zu entscheiden, welcher von den beiden Premier-Aspiranten die Regierung bilden wird. I m Zweiparteiensystem erfährt der Spitzenkandidat der siegreichen Partei unmittelbar i m Wahlakt seine Legitimation zur Regierungsbildung. Das Unterhaus war damit nur mehr „numerisches Medium" des demokratischen Prinzips 68 . Die Wählermehrheit als Legitimationsgrundlage für die Regierung bildete den Ansatzpunkt für die Entwicklung der allgemeinen Mandatstheorie: der von der Wählerschaft eingesetzte Premierminister hat die Wahl der von i h m propagierten und vom Volk gebilligten Politik gewonnen; von i h m w i r d nun die Durchsetzung der politischen Ziele erwartet, wobei i h m bestimmte — infolge innerer oder äußerer Entwicklungen notwendige — Abstriche gestattet werden. Gleichzeitig ist i m Mandat aber eine Begrenzung auf Ziel und Folgen dieser Politik enthalten: weitreichende Vorhaben sollten, soweit sie nicht Gegenstand der letzten Wählerentscheidung gewesen sind, nicht begonnen werden 69 . Allerdings sind die Kriterien, die i m konkreten Fall ein Mandat indizieren, nicht völlig klar bestimmbar. Das von der neueren politischen Praxis gelieferte Material ist nicht immer frei von Widersprüchen und 63

Somervell , D. C., Disraeli and Gladstone, London 1925, S. 212 f. Jennings , W. I. (I), S. 15. 65 So ζ. B. L o r d George Bentwick, unbeugsamer Verfechter des repräsentativen Prinzips u n d der parlamentarischen Suprematie, siehe dazu Disraeli , L o r d George Bentwick, Bonn 1969, S. 80. 66 Jennings , W. I. (I), S. 15. 67 Siehe Jennings , W. I. (I), S. 396 ff. 68 Jennings , W. I. (I), S. 16. 69 Einer der ersten, der die durch die Mandatstheorie errichteten Grenzen aufzeigte, w a r L o r d Hartington, siehe Life of the Duke of Devonshire I I , S. 141. 64

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kann daher nur teilweise zur Begründung der Doktrin vom allgemeinen Mandat dienen 70 . So kann wohl nicht angenommen werden, daß der Premierminister L l o y d George über ein Mandat für die Vergrößerung der Wählerschaft unter Einbeziehung der Frauen verfügte. Das Gleiche gilt für die von i h m erreichte Lösung der irischen Frage 1921 und die von Baldwin 1928 durchgesetzte wahlrechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen 71 . Obwohl die Convention vom allgemeinen Mandat infolge ihrer vagen Ausprägung vorsichtiger Handhabung bedarf 72 , fand die zugrundeliegende Theorie doch allgemeine Anerkennung 7 3 . Einen Markstein i n der Diskussion u m die Wirksamkeit der Theorie vom allgemeinen Mandat bildete die Selbstkorrektur Dicey's, des großen „Apologeten" 7 4 einer ungebrochenen Souveränität des Parlaments. I m Jahre 1910 würdigte er das allgemeine politische Mandat als ein neues Prinzip der englischen Verfassung: „The time has arrived for the formal recognition of a principle, which i n fact, if not i n theory, forms part of our constitution morality 7 5 ." Auch andere Anhänger der Liberalen Partei hatten die Auseinandersetzung m i t ihrer überkommenen Verfassungsideologie nicht gescheut und sich i n die Front der Verfechter einer Mandatstheorie eingereiht. Der Herzog von Devonshire beschuldigte seinen Parteiführer Gladstone sogar des Wahlbetrugs, als dieser den Vorschlag einer „Home Rule" für Irland dem Parlament vorgelegt hatte, ohne dieses Thema zum Gegenstand des vorangegangenen Wahlkampfes gemacht zu haben 76 . I n den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts beherrschte die Theorie vom allgemeinen Mandat die Auseinandersetzungen der Parteien und fand ständigen Gebrauch als Wahlkampfargument. Auch hier waren es insbesondere die Konservativen, die ihren politischen Gegnern eine Verletzung der Theorie vom Mandat und damit die Entmündigung des

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Loewenstein , Κ . (VI), S. 16. Loewenstein , Κ . (VI), S. 16. 72 Moodie, G. C., The Government of Great Britain, London 1964, S. 186. 7S Jennings , W. I. (I), S. 505; Moodie , G. C. (IV), S. 187; a. A . Loewenstein, K., der aber keine Trennung von Theorie u n d Praxis v o r n i m m t , Loewenstein, K . (VI), S. 163. 74 Nuscheier, F., S. 117. 75 So Dicey, A l b e r t Venn, i n : The Quarterly Review, Bd. 212 (1910), S. 550. Übersetzung: „Es ist die Zeit gekommen f ü r die formelle Anerkennung eines Grundsatzes, der i n Wirklichkeit, nicht n u r i n der Theorie, einen T e i l unserer Verfassungsauffassung bildet." 76 Der genaue T e x t der Ausführungen Devonshires ist enthalten i n : Parliamentary Debates, 3rd ser. Band 304 (1885) Spalte 1241 f., zit, nach Nusçhç 1er, F., S. 118. 71

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

Volkes, sowie Machtloshaltung der Wähler zwischen den Wahlperioden, vorwarfen 7 7 . I n der Verfassungspraxis wurde i m Laufe dieses Jahrhunderts bereits einige Male die Mandatstheorie ausdrücklich befolgt: Joseph Chamberlain erörterte 1903 seine Zollpläne, um bei den nächsten Wahlen hierfür ein Mandat zu erlangen 78 . Premierminister Baldwin hatte den Ubergang vom Freihandel zum Schutzzoll bereits i m Wahlkampf seinen Wählern als Programmpunkt der Konservativen Partei unterbreitet, um dafür ein Mandat zu erhalten 79 . Die bisher eindrucksvollste Bestätigung der Theorie vom generellen Mandat war jedoch den Wahlen von 1945 vorbehalten. Die Labourparty hatte den Wahlkampf parteiprogrammatisch m i t den Themen Versorgungsstaat sowie Verstaatlichung bestimmter Industriezweige gestaltet und hierfür ein ausdrückliches Mandat i n Gestalt eines hohen Wahlsieges erhalten 80 . Premierminister Wilson bestand nach seinem knappen Wahlsieg i n den Unterhauswahlen 1964 darauf, daß er damit gleichzeitig das Mandat zur Wiederverstaatlichung der Eisen- und Stahlindustrie erhalten habe, weil dies ein ausdrücklicher Programmpunkt der Labour-Partei i m Wahlkampf gewesen sei. I m Wesen des generellen Mandats fällt zunächst als Hauptmerkmal die Beschränkung der unbegrenzten, legislativen parlamentarischen Souveränität durch die plebiszitäre Wählerentscheidung auf 81 . Es ist jedoch sehr schwierig, den eindeutigen Wahlauftrag herauszudestillieren: der der Regierung vor allem auf außenpolitischem Gebiet infolge der Unvorhersehbarkeit vieler Entwicklungen zustehende Handlungsspielraum 82 , die sehr weitgehende Parteidisziplin, die notwendigen Unvollständigkeit, Abstraktheit und programmsatzhaften Eigenschaften der politischen Zielvorstellungen der Partei erschweren die Abgrenzung 83 . Die reduzierte Anwendbarkeit der Theorie vom allgemeinen Mandat hat somit dazu beigetragen, Elemente des repräsentativen Prinzips zu 77 Emden , Cecil S., The People and the Constitution, 2. Auflage, London 1959, S. 221 ff. 78 Vgl. Nicolson, H., Life of the Duke of Devonshire I I , London 1967, S. 254. 79 Jennings , W. Κ . (I), Cambridge 1959, S. 505. 80 Labour entsandte 394 Abgeordnete ins Unterhaus — 1935 waren es n u r 154 — u n d vereinigte n u r 47,8 °/o der Wählerstimmen auf sich; die Angaben sind entnommen: Loewenstein , Κ . (VI), S. 548. 81 So insbes. Loewenstein , Κ . (VI), S. 47. 82 So ist 1962 der B e i t r i t t s w i l l e MacMillans zum Gemeinsamen M a r k t sicherlich nicht durch eine feindliche öffentliche Meinung i n England, sondern durch das Veto de Gaulles gebrochen worden. 83 Darauf weist insbesondere Moodie, G. C. (IV), S. 186 hin.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

erhalten. Von der D o k t r i n des generellen Mandats hat damit nur der Bereich konventionale Anerkennung gefunden, den man m i t „oberster Schiedsrichterfunktion der Wählerschaft" umschreiben könnte 8 4 . Die letzte Entscheidungsbefugnis über den Machtwechsel bleibt tatsächlich dem Wähler vorbehalten, da die Regierung und ihre die legislative Parlamentstätigkeit steuernde Mehrheit von einem durch Volksentscheid möglichen Machtwechsel bedroht ist: sollte die Regierung das ihr erteilte Mandat offenkundig mißbrauchen oder nicht erfüllen, so erhöht dies für sie die Gefahr, die nächsten Wahlen zu verlieren. Kaltefleiter 8 5 betont zu Recht die von der Chance des Machtwechsels wahrgenommene Rolle des Kontrollmechanismus und Wahrers der parlamentarischdemokratischen Verantwortlichkeit 8 6 . Die Kontrolle der Wählerschaft besteht demnach nicht nur am Wahltag, sondern auch während der Legislaturperiode; sie w i r d durch die von Regierung und Opposition unterrichtete öffentliche Meinung vorbereitet und i n Nachwahlen — wie i n Großbritannien üblich — oder Landtagswahlen, wie i n den deutschen Bundesländern, aktualisiert. Das ständige, auch zwischen den Wahlterminen bestehende Repräsentanzverhältnis zwischen Repräsentanten und Wählern w i r d als „Rückkoppelungsverhältnis" bezeichnet87» 8 8 . A d b) : Die Determinierung der parlamentarischen Wahlfunktion durch das Mandat der Wähler. Das allgemeine Mandat erschöpft sich inhaltlich nicht i n der Bedeutung für die sachlichen Fragen zukünftiger Politik: m i t der inflationären Vergrößerung der Wählerzahl und der Einpendelung des Zweiparteiensystems hat eine weitere Komponente Profil gewonnen und inzwischen 84 So schrieb Dicey , Α . V., bereits 1913 i n einem Leserbrief an die Times; Times v o m 15.9.1913: „The whole current of modern constitutional custom involves the admission that the f i n a l decision of every grave political question now belongs not to the House of Commons, b u t to the electors as the representatives of the nation." Übersetzung: „Der ganze T r e n d modernen V e r fassungsbrauchs b r i n g t m i t sich das Zugeständnis, daß die letztliche Entscheidung jeder bedeutsamen politischen Frage jetzt nicht dem Unterhaus, sondern den Wählern als den Vertretern der Nation obliegt." Siehe auch Moodie, G. C. (IV), S. 186 f. 85 Kaltefleiter, W. (I), S. 28. 80 Z u r Bedeutung der Chance des Machtwechsels s. Wildenmann, R. (II), insbes. S. 11 ff. u n d 53 ff. 87 Stein, Ekkehart, S. 74 ff. 88 Vgl. hierzu auch Weber, Werner, Spannungen u n d K r ä f t e i m westdeutschen Verfassungssystem, 2. Auflage, Stuttgart 1958, S. 62, der von der N o t wendigkeit einer klaren Verantwortungs- u n d Vertrauensbeziehung zwischen Regierenden u n d Regierten ausgeht. Jürgen Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit, 3. Auflage, 1968, schildert die E n t w i c k l u n g des 18. u n d 19. J a h r hunderts i n England, wo sich „die politisch fungierende Öffentlichkeit selbst als Staatsorgan etabliert", so auf S. 70 ff.

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

vorrangige Bedeutung erlangt, die hier als „personalplebiszitäres Mandat" bezeichnet werden soll. Diese Spielart trat zum ersten Mal 1885 i n Erscheinung, als Dicey 8 9 zugeben mußte, daß die Rezeption der Idee von der „Volkssouveränität der Nation" die letzte Entscheidung dem Volke verliehen habe. Ebenso wurde der Zusammenhang von Mandat und Einsetzung des Premierministers von Emden 90 dargelegt und die Entscheidung der Wähler über die Frage der Regierungsberechtigung als „seit 1868 absolut" gekennzeichnet. Der schrittweisen Einführung des allgemeinen Wahlrechts als Symbol der demokratischen Mündigkeit des Volkes lag tatsächlich die Theorie von der Volkssouveränität i m Sinne des Rousseauschen contrat social zu Grunde, wobei sich die Engländer i m Wissen von der Undurchführbarkeit der bei Rousseau geforderten Ausübung der Staatsgewalt in corpore einig waren 9 1 . I n England trat die Volkssouveränität daher i n Gestalt der periodischen Aktualisierung bei den Wahlen auf. M i t dem Zweiparteiensystem wurde dem Volk die Möglichkeit gegeben, zwischen zwei konkurrierenden Führungsgruppen zu wählen. Das entscheidende personalplebiszitäre Element liegt i n der unmittelbar legitimierenden Wirkung des Wählerverdikts. I m Zweiparteiensystem vermögen Partei- und Fraktionsspitzen den Wählerwillen nicht zu „mediatisieren" 92 . Dabei ist allerdings das Parlament insofern nicht ausgeschaltet 93 , als das britische Regierungssystem noch immer nach den Gesetzen der parlamentarischen Regierungsweise arbeitet, die parlamentarische Suprematie i n einer bestimmten Situation gegenüber dem unmittelbaren Wählerwillen den Ausschlag gibt. Dies zeigte sich nach den Generalwahlen des Jahres 1951, als die Labourparty m i t 48,8 Prozent zwar die meisten Stimmen auf sich vereinigen konnte 9 4 , von 625 Sitzen aber 321 auf die Konservativen entfielen 95 , die damit m i t der absoluten Abgeordnetenmehrheit den Premierminister stellten 90 . 89 Dicey , Α . V., die Einleitung zu seiner Introduction to the Study of the L a w of the Constitution, 8. Aufl., London 1915, S. X C i if. 90 Emden, Cecil S., The People and the Constitution, 2. Aufl., London 1959, S. 162. 91 F ü r viele vgl. Greaves, H. R. G., S. 13. 92 Loewenstein, Κ . (VI), S. 160. 93 a. A . Loewenstein, Κ . (VI), S. 161. 94 Gegenüber 48,0 °/o der Konservativen u n d 2,6 °/o der Liberalen. 95 Gegenüber 295 L a b o u r - u n d 6 Liberalen-Mandaten. 96 Z u m von Loewenstein so bezeichneten „britischen Wahlunrecht" u n d seiner staatspolitischen Bedeutung, Oppermann, Th., S. 126 ff. Tatsächlich zeigen sich gerade i n den General Elections v o n 1951 i n ungewöhnlich starkem Maße die Eigenheiten des britischen Wahlsystems.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Vom demokratischen Standpunkt, der sich nach der Zahl der abgegebenen Wählerstimmen richtet, war die Regierung Churchill damit eigentlich, eine Minderheitsregierung. Die unmittelbar aktualisierte Volkssouveränität hatte jedoch zugunsten der repräsentativen parlamentarischen Suprematie zurückzutreten 97 . Dieses Ergebnis war für die öffentliche Meinung nur deshalb erträglich, weil die Zweiparteienalternierung eine relativ hohe Chance des Machtwechsels bei den nächsten Wahlen bietet. I n der überwiegenden Anzahl der Fälle jedoch w i r d sich keine Diskrepanz zwischen dem demokratischen Wählerverdikt, verkörpert i n der Zahl der unmittelbar abgegebenen Stimmen, und der parlamentarischen Suprematie, ausgedrückt i n der Zahl der Abgeordneten, einstellen und somit die parlamentarische Wahlfunktion von der Wahlentscheidung des Volkes überlagert. Die personalplebiszitäre Determinierung offenbart sich noch i n einem weiteren, zunächst die Parteien, m i t diesen aber auch das Parlament bindenden Aspekt: während die Entscheidung über die regierungsberechtigte Partei i n extremen Ausnahmefällen über die Zahl der errungenen Mandate auf parlamentarischer Ebene fallen kann, w i r d die Frage nach der Person des von den Parteien zu präsentierenden Premierministers bereits am Wahltag unmittelbar vom Volke beantwortet. Die obsiegende Partei ist durch Convention gehalten, den offiziellen, i m Wahlkampf vorgestellten Leader vom Monarchen zum Premierminister ernennen zu lassen 98 . Als Symbol der legitimierenden Bedeutung der Generalwahlen gegenüber dem parlamentarischen Vertrauen mag eine Besonderheit der englischen Regierungsbildung genannt sein: der Monarch obliegt seiner Ernennungsfunktion i m Normalfall bereits wenige Stunden nach dem Bekanntwerden des Wahlausgangs, indem er den Leader der siegreichen Partei i n das A m t des Premierministers beruft. Ergebnis: Das königliche Ernennungsrecht als Ausfluß der systemnormativen

Kontinuitätsfunktion

des Staatsoberhaupts Der von der vorliegenden Arbeit verfolgten Fragestellung entsprechend, sind nun die anläßlich der Untersuchung des Bestellungsverfahrens i m parlamentarischen System m i t funktionierender Mehrheits97 Mathiot, André, The B r i t i s h Political System, London 1958, S. 71, meint, daß diese Folgerungen n u r i n England von der unterlegenen Partei ohne weiteres hingenommen w ü r d e n ; dabei ist aber fraglich, ob dies i n Anbetracht des weiter u m sich greifenden Demokratisierungsgedankens auch noch i n der Gegenwart der F a l l sein könnte. 98 Die Sanktion bei nichterfüllter konventionaler Verpflichtung besteht i n der Chance des Machtwechsels; es handelt sich dabei also nicht u m eine rechtliche, sondern u m eine politische Sanktion.

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

bildung gewonnenen Ergebnisse i n Beziehung zu setzen zu den i m Wege der Programmierung erarbeiteten Forderungen, die systemnormativ an die Machtverteilung zwischen Staatsoberhaupt und den bei der Bestellung des Regierungschefs beteiligten Kompetenzinhabern zu richten sind. Insbesondere ist zu fragen, ob und inwieweit dabei die verfassungsmäßigen Beteiligungsrechte des englischen Monarchen den aus der systemnormativen Position des Staatsoberhaupts i m parlamentarischen Regierungssystem abgeleiteten und i n der Programmierung konkretisierten Regeln entsprechen. Als dem Staatsoberhaupt i m parlamentarischen Regierungssystem verbliebene Restfunktion wurde eingangs die Pflicht zur Kontinuitätswahrung festgestellt", die wiederum für den funktionierenden Systemablauf als Reservefunktion und i m nichtfunktionierenden System i n Gestalt der Reservemacht auftritt. I n Ausübung der Reservefunktion obliegt es dem Staatsoberhaupt als einem „dignified part of the constitution" 1 0 0 , die staatliche Einheit zu verdeutlichen. Dabei obliegt es dem Staatsoberhaupt, Mehrheitsentscheidungen i n Entscheidungen der Gesamtheit zu transformieren. Beispiele hierfür sind etwa die Ausfertigung von Gesetzen, die Auflösung des Parlaments, die Ernennung und Entlassung von Ministern und Beamten 101 . Treten Lücken i m Arbeiten des Systems, i m Zusammenwirken der Verfassungsorgane auf, so erweitert sich der Handlungsspielraum des Staatsoberhaupts. I m Rahmen der i h m zustehenden Reservemacht ist er aufgerufen, für die Weiterarbeit des Regierungssystems zu sorgen. Aus der allgemeinen, funktionalen Stellung des Staatsoberhaupts leitet die Programmierung für dessen Beteiligung an der Amtseinsetzung des Regierungschefs i m funktionierenden System bestimmte Prämissen ab: a) I m Falle der funktionierenden parlamentarischen Willensbildung ist das Parlament auf jeden Fall materiell und eventuell formell Entscheidungsträger als souveräne Repräsentantenversammlung des C9 s. Kimminich, O., Das Staatsoberhaupt i n der parlamentarischen Demokratie, i n : Veröffentlichungen der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer, Heft 25, B e r l i n 1967, S. 71 ff. 100 Bagehot, W., S. 4. 101 Küchenhoff, Günther, Staatsrecht A l l g . Teil, Hannover 1951, S. 69. Den gleichen Begriff verwendet Kelsen, Hans, A l l g . Staatslehre, B e r l i n 1925, S. 305. F ü r die Diskussion der englischen Situation s. Shils, E., u n d M. Young, „The Meaning of the Coronation" i n : Sociological Review, Neue Serie, Vol. 1 Dezember 1953; Leonhardt, R. W., „77mal England", München 1957; Moodie, G. C., „The Government of Great B r i t a i n " , Frankenhain 1964, S. 81; vgl. auch Heuston, R. F. V., „Essays i n Constitutional L a w " , London 1964, S. 80.

11 Lippert

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Volkes. Von der konkreten, verfassungsmäßigen Ausgestaltung hängt es ab — insbesondere spielt hier das Wahlsystem eine Rolle —, ob der spätere parlamentarische Wille bereits i n die Wählerentscheidung vorprojiziert w i r d (Zweiparteiensystem), b) Das Staatsoberhaupt ist dabei auf die Initial- oder die Vollzugsfunktion beschränkt. Sieht die konkrete Verfassungsordnung eine i m formalen Verfahren gefaßte Entscheidung des Parlaments vor, so ist eine den parlamentarischen Willensbildungsvorgang einleitende und erleichternde Initiative des Staatsoberhaupts denkbar (unverbindlicher Vorschlag). I m übrigen hat das Staatsoberhaupt den Willen des Parlaments zu antizipieren und den i h m faktisch benannten oder von i h m festzustellenden Mehrheitskandidaten zum Regierungschef zu ernennen. Eigenes Ermessen des Staatsoberhaupts ist dabei — außerhalb der Konsultationsbefugnis — ausgeschlossen; er fungiert als bloßer Vollstrecker des parlamentarischen Willens. Mißt man die bei der Untersuchung der Amtseinsetzung des englischen Premierministers i m funktionierenden Zweiparteiensystem gefundenen Ergebnisse an den i n der Programmierung ermittelten Prämissen, so ergibt sich folgendes Bild. Prämisse a) Der lange Entwicklungsgang des englischen Systems, beginnend m i t der konstitutionellen Begrenzung der königlichen Macht i n der „ Glory revolution 1688", über die Suprematie des Gesamtparlaments, schließlich des Unterhauses und die m i t der Reformakte des Jahres 1867 einsetzende Uberlagerung der parlamentarischen Suprematie durch die Volksentscheidungen i m Rahmen der Parlamentswahlen wurde bereits geschildert. Die „ultimate sovereignty of the nation" 1 0 2 erhält vor allem i m Konfliktsfall zwischen Kabinett und Unterhaus streitentscheidende Bedeutung: Auflösung und Neuwahlen entscheiden den Konflikt, da die Partei m i t den meisten Sitzen regierungsberechtigt ist und den Regierungschef stellt. Gewisse Sondereffekte des englischen Wahlrechts können die 1951 geschehene Ausnahme eintreten lassen, daß die Partei m i t den meisten Wählerstimmen dennoch zur Minderheitspartei i m Unterhaus wird. I n dieser Situation erweist sich der von den Gesetzmäßigkeiten des parlamentarischen Systems geprägte Charakter der englischen Regierungsweise: das demokratische Prinzip t r i t t hier gegenüber dem repräsentativ-parlamentarischen Gedanken zurück; ausschließlich die Sitzzahl entscheidet über die Regierungsberechtigung der Parteien. I m Normal102 Dicey , Α . V., Introduction to the Study of the L a w of the Constitution, London 1885, S. 332.

3. Abschn. : Plebiszitäre Determinierung

163

fall jedoch werden Stimmen- und Mandatsmehrheit kongruent sein, so daß der zukünftige Premierminister tatsächlich am Abend des Wahltages bereits feststeht und die General Elections den Charakter einer Volkswahl des Premierministers annehmen. Das personalplebiszitäre Wählermandat entfaltet aber stets innerparteiliche BindungsWirkung: die von den Parteien als Premierkandidaten präsentierten „Party-Leader" müssen, je nach dem Abschneiden ihrer Partei bei den Wahlen, entweder zum Prime Minister oder zum „Her Majesty's Leader of the Opposition" berufen werden. Diese konventional gefestigte Regel findet ihre Sanktion i n dem Risiko des Machtbzw. Stimmenverlustes bei den nächsten Unterhauswahlen. Prämisse b) Die weitere, i n der Programmierung gewonnene und zur Prämisse a) korrelierende Voraussetzung b) fordert die „funktionalisierte" Teilnahme des Staatsoberhaupts am Bestellungsverfahren des Regierungschefs. Dabei erfordert die funktionierende Willensbildung der zuständigen Verfassungsorgane den Ausschluß des Staatsoberhaupts vom Kreise der Träger der materiellen Entscheidung. Die Eindeutigkeit der Funktionalisierung bedeutet hierbei, daß dem Staatsoberhaupt so lange, als das System funktioniert, keine Möglichkeit einer materiellen Entscheidungsteilhabe eingeräumt wird. Die i m System der „bipolaren Exekutive" 1 0 3 anzutreffende und sich i n einer parlamentarischen Verfassung als Mitursache der Instabilität 1 0 4 und damit als Strukturfehler erweisende präsidiale Einsetzung des Regierungschefs soll damit ausgeschaltet werden. Für das Staatsoberhaupt verbleiben damit nur die Initiativ- oder/und Vollzugsrechte als Ausfluß der Reservefunktion: es hat entweder das Willensbildungsverfahren des Parlaments einzuleiten, den Regierungschef vor der Entscheidung des Parlaments zu ernennen und dabei zu versuchen, den parlamentarischen Willen zu antizipieren, oder den ausdrücklich manifestierten oder konkludenten parlamentarischen Willen formal zu vollziehen. I n Großbritannien ist m i t der Einpendelung des Zweiparteienwechsels und dem Auftreten der Massenwählerschaft die zweifache Funktionalisierung der königlichen Prärogative vollendet. Zunächst hatte die Suprematie des Unterhauses die königliche Prärogative auf die bloß formelle Einsetzung des Premiers reduziert. Nur bei Uneinigkeit der Parteigruppierungen i m Parlament konnte der Monarch zeitweise seine alten Bestellungsrechte wiederbeleben. Für den Normalfall verfügt allein das Unterhaus über die „elective function". M i t 103 104

11·

Siehe hierzu Kaltefleiter, W. (I), S. 129 - 197. Kaltefleiter, W. (I), S. 185 ff.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

der Rezeption der Theorie von der Volkssouveränität war — bei arbeitendem Zweiparteiensystem — die zweite Stufe der Funktionalisierung der königlichen Prärogative erreicht: die Suprematie des Parlaments wurde jetzt grundsätzlich bereits m i t der Wählerentscheidung präjudiziert, was die Bindung des Monarchen einschloß. Die königliche Prärogative findet somit bei reibungslosem Verlauf der Willensbildung i n Wählerschaft und Parlament nur mehr formalen Einsatz i n Gestalt der Vollzugsrechte des Monarchen. U m Vollzug handelt es sich, da der Monarch unverzüglich nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses den plebiszitär legitimierten Kandidaten der Mehrheitspartei zum Prime Minister ernennt. Der sich i n wenigen Stunden abwickelnde Vorgang und die für ihn kennzeichnende Automatik des königlichen Handelns bilden nur ein Indiz dafür, daß die Ergebnisse der Programmierung von der englischen Verfassungspraxis bestätigt werden.

Vierter Abschnitt

Möglichkeiten eines Wiederauflebens des königlichen Auswahlrechts Die bisherigen Darlegungen schilderten Inhalt, Grenzen und Ausübung der königlichen Prärogative i m „Normalfall", d.h. i m funktionierenden Zweiparteiensystem. Eindeutige Wählerentscheidung und parteiinterne Voraussetzungen gestatten keinen Zweifel über die regierungsberechtigte Partei und ihren anerkannten „Leader" — was die vollkommene Funktionalisierung des königlichen Auswahlrechts und seine Entleerung zur formalen Vollzugshandlung ohne Ermessenspielraum zur Folge hat. Es können aber — i n der neueren englischen Verfassungsgeschichte nicht einmal seltene — Verfassungslagen eintreten, i n denen das monarchische Prärogativermessen wieder auflebt, u m dem i m berühmten Ausspruch „the Queen's Government must be carried on" gekennzeichneten Grundsatz der Kontinuität zum Siege zu verhelfen und möglichst umgehend für die Berufung eines regierungsfähigen Premierministers zu sorgen. I n Ausübung der Reservemacht ist das Staatsoberhaupt, dies wurde i n der Programmierung festgestellt 1 , dennoch allgemein geltenden und i n den verschiedenen Verfassungsordnungen unterschiedlich 1

Vgl. Ausführungen oben, Einleitung BC I I I .

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s 1 6 5

ausprägbaren Ermessensschranken unterworfen. Das Staatsoberhaupt hat sich möglichst der Parteilichkeit zu enthalten und keine persönlichen politischen Ziele zu verfolgen. Der Umschlag von der Reservefunktion des Normalfalls i n die Reservemacht, die sich sowohl i n der Methodik der Willensbildung als i n der materiellen Entscheidungsmöglichkeit ausdrückt, ist i n England i n zwei Situationen denkbar 2 : Einmal, wenn die regierungsberechtigte Partei infolge einer Abweichung vom Zweiparteiensystem nicht feststeht und weiter, wenn ein anerkannter Parteiführer zunächst nicht vorhanden ist 3 . Erstere Situation ergibt sich als Folge eines mindestens drei Parteien ins Unterhaus entsendenden und gleichzeitig die absolute Mehrheit einer Partei verweigernden Wahlausgangs. Keine Partei kann sich hier auf das zur Regierungsbildung legitimierende, eindeutige Votum der Wählerschaft stützen. Die i m Zweiparteiensystem erreichte Stufe der plebiszitären Determinierung sowohl der parlamentarischen Wahlfunktion als der königlichen Ernennungsfunktion w i r d hierdurch außer K r a f t gesetzt, allgemein „selbst die anscheinend am festesten verankerten Prinzipien der Verfassung gefährdet" 4 . Der Eintritt dieser Situation ermöglicht eine Erweiterung des königlichen Ermessensspielraums i m Rahmen der Reservemacht unter drei verschiedenen Bedingungen: Mehrere Parteien schließen sich zu einer Koalition zusammen, die über die absolute Mehrheit i m Unterhaus verfügt. Hierbei sind wiederum mehrere Alternativen denkbar: a) Der Fall einer üblicherweise auf dem europäischen Kontinent so bezeichneten „Koalition", i n der sich zwei oder mehrere Parteien nach der Wahl formal zusammenschließen und beide Partner Minister ins Kabinett entsenden 5 . b) Die Allparteienregierung: Diese Koalitionsspielart wurde bisher vor allem i n bestimmten, außen- oder innenpolitischen, nationalen Notstandssituationen m i t dem ausschließlichen Ziel der Überwindung des Notstands gebildet. 2 Von denen eine allerdings seit 1965 nicht mehr eintreten kann, wegen ihrer langjährigen, i n mehreren Präzedenzfällen der jüngsten Vergangenheit zum Ausdruck gebrachten verfassungspraktischen Bedeutung u n d insbesondere der i n i h r kontrastfreudig darstellbaren, zur vollen W i r k u n g kommenden Royal Prerogative, aber noch mitbehandelt wurde. 3 Meistens also bei einer plötzlich auftretenden Vakanz während der Legislaturperiode, da nach den Generalwahlen ein anerkannter „Leader" i m m e r zur Verfügung steht; eine Ausnahme gilt n u r f ü r den F a l l des plötzlichen Todes eines Party-Leaders i n der Zeit zwischen dem Wahltag u n d seiner Ernennung zum Prime Minister. 4 Hermens, F. Α . (II), S. 257. 5 Z u den A r t e n der Koalition, i h r e r Einteilung u n d Abgrenzung sowie zur Rechtsnatur des Koalitionsvertrages s. Weber, Harald, Der Koalitionsvertrag, Bonn 1967, S. 17 ft ,

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

So kam es während des Ersten und Zweiten Weltkrieges zur Bildung von Kriegskabinetten unter Einschluß aller i m Unterhaus repräsentierten Parteien (1915/16 und 1940), wobei die Koalition L l o y d George erst 1922 zusammenbrach, während sich das Kabinett Churchill unmittelbar nach der Kapitulation Deutschlands 1945 auflöste. Ein zur Klärung der bei der Bestellung des Koalitionspremiers auftauchenden verfassungsrechtlichen Fragen geeigneteres und angesichts der Abhängigkeit politischer Entwicklungen und Entscheidungen von der wirtschaftlichen Konjunktur® für die zukünftige Verfassungspraxis weit bedeutenderes Modell stellt die Bildung des National Government i m Jahre 1931 dar. Sie bedarf daher einer ausholenderen Darstellung 7 . Hierfür kommt der Leader einer der Oppositionsparteien, vor allem der i m Parlament am stärksten repräsentierten, i n Frage 8 . Dies bedeutet jedoch keine Beschränkung des monarchischen Ernennungsermessens, da die parteipolitischen Kräfteverhältnisse auch einen Ausschluß der größten Oppositionspartei von der Regierungsverantwortung als vorteilhaft erscheinen lassen könnten. Das momentane Fehlen eines unumstrittenen Parteiführers und der dadurch notwendig werdende Einsatz der Reservemacht konnte nur eintreten, wenn die Konservativen an der Macht waren, den Prime Minister stellten und dieser aus persönlichen Gründen, ohne Veranlassung durch entsprechende Ergebnisse i n General Elections, sein A m t zur Verfügung stellte. Da die Ämter des Prime Ministers und des Party Leaders i n Personalunion verknüpft sind, die Konservative Partei i m Gegensatz zu Labour einen stellvertretenden Parteiführer aber nicht kannte, war der Monarch i n einigen Fällen gezwungen, das Vakuum zu füllen und zunächst eine Persönlichkeit zum Premierminister zu ernennen, die erst daraufhin von den zuständigen Parteigremien regelmäßig auch zum Party Leader erhoben wurde 9 . Solche Vakuumsituationen traten ein: 1923 beim Rücktritt Bonar Laws; 1940, als Neville Chamberlain zurücktrat, beim Wechsel von Anthony Eden zu Harold MacMillan 1957, und schließlich 1963, als MacMillan seinem Nachfolger Sir Douglas Home Platz machte. 6 Vgl. dazu Kaltefleiter, W., Wirtschaft u n d P o l i t i k i n Deutschland, K o n j u n k t u r als Bestimmungsfaktor des Parteiensystems, K ö l n u n d Opladen 1968, S. 146 ff. 7 Vgl. Ausführungen i m 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 4. Abschnitt. 8 Loewenstein , Κ . (IV), S. 1079. 9 Z u m parteipolitischen Prozeß der Bestimmung eines Parteiführers s. v o r allem McKenzie, R. T. (II), S. 21 ff., insbes. 34 f., 51 ff. Solche Vakuumsituationen traten ein: 1923 beim R ü c k t r i t t Bonar Laws, 1940 als Neville Chamberlain zurücktrat; beim Wechsel v o n A n t h o n y Eden zu Harold Macmillan 1957 u n d zuletzt 1963, als M a c m i l l a n seinem Nachfolger Sir Douglas Home Platz machte.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen Ausahlrechts

167

I n jedem dieser Fälle hatte der Monarch unter Anwendung eines grundsätzlich bei Ernennungen nach den Generalwahlen nicht üblichen Ermessensgebrauchs den Prime Minister berufen. I n der Labour Party, wo ein ständiger Stellvertreter des Leaders amtiert, und ein rationalisiertes Verfahren die Wahl des Labour-Leaders und seines Stellvertreters regelt 10 , haben derartige „diskretionäre" Möglichkeiten für den Monarchen nie bestanden, da i h m nur die formale Sanktionierung der innerparteilichen Entscheidung verblieb. I n jüngster Zeit hat die Reform des konservativen Bestellungsmodus von 1965 die formalisierende Wahl und den deputy-leader geschaffen, damit zu einer weiteren, empfindlichen Einschränkung des monarchischen Auswahlermessens und eigentlich zum Wegfall der „Eingriffsmöglichkeit der königlichen Reservemacht i m Falle des Fehlens eines unbestrittenen Leaders" geführt. Trotzdem soll i n Anbetracht der ihr bis 1965 zukommenden, bei vielen Gelegenheiten rege verfassungsrechtliche Diskussionen auslösenden Bedeutung versucht werden, die verfassungsrechtliche Situation der Zeit vor 1965 darzustellen.

I. Die Ernennung eines Koalitionspremiers Die Koalition i m überkommenen Sinne der kontinental-europäischen Verfassungspraxis, gebildet durch ein „Bündnis politischer Parteien zum Zwecke der Bildung einer Regierung" 1 ist i n Großbritannien i m 20. Jahrhundert nicht mehr ins Leben gerufen worden und findet hier aus diesem Grunde keine Berücksichtigung. Bei beiden Beispielen von Kriegskabinetten handelte es sich u m parteienregierungen 2 , i n denen sämtliche maßgebenden politischen teien i m Parlament zu einer Koalition zusammengeschlossen waren, so stark ist, daß keine politisch relevante Oppositionspartei neben Koalitionsparteien besteht" 3 .

AllPar„die den

Die Allparteienregierung ist damit durch das Fehlen einer Opposition oder jedenfalls deren parlamentarische Unbedeutendheit ausgezeichnet 4 . 10 Z u r W a h l des Labour-Leaders vgl. die sehr eingehende Darstellung bei McKenzie, R. T. (II), S. 335 bis 365. 1 Weber, Harald, S. 178. 2 Vulpius, A x e l , Allparteienregierung, F r a n k f u r t , B e r l i n 1957, S. 4. 3 Kafka, F., Sp. 1104, zit. nach Weber, H., S. 23, A n m . 16. Die politische Toleranz einer Partei k a n n n u r nach einer Prüfung ihrer tatsächlichen Machtstellung i m Parlament beantwortet werden. So auch Vulpius , Α., S. 5 m i t Beispielen. 4 Eschenburg, Theodor, Staat u n d Gesellschaft i n Deutschland, Stuttgart 1956,1958, S. 685.

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Aus dem Wesen und der Zusammensetzung eines solchen Notstandsbündnisses folgt die beherrschende Stellung der Parteien bei Bildung und Auflösung der Regierung. Dementsprechend beschränkte sich die Rolle des Monarchen 5 darauf, den auf Grund Parteivereinbarung präsentierten Kandidaten formal zu ernennen. Ein eigener Ermessensbereich stand i h m dabei nicht zur Verfügung. Von der Allparteienregierung i n der Form des Kriegskabinetts streng zu trennen ist das 1931 aus einer wirtschaftlichen Notsituation geborene sog. „National Government" unter MacDonald. Als Allparteienregierung geplant, entpuppte es sich als Koalition zwischen den Konservativen, Liberalen und wenigen Labour-Abgeordneten. Das Gros der Labourfraktion aber stand i n Opposition zu Premier MacDonald und seinem Kabinett; die parlamentarische Bedeutung der Opposition läßt daher die Bezeichnung „Allparteienregierung" nicht zu 8 . Stellt man zwecks Abgrenzung von Allparteienregierungen und Großer Koalition m i t Vulpius 7 auf die Stellung und den parlamentarischen Einfluß der verbliebenen Opposition ab, so ist das National Government von 1931 dem Typus der „Großen Koalition" zuzurechnen. Bei der Einsetzung des Premierministers MacDonald i m Jahre 1931 interessiert die von König Georg V. wahrgenommene Rolle, die wesentlich über die i m Normalfall auszuführende, bloße Vollzugsfunktion hinausging und deshalb zum Gegenstand heftiger Kontroversen und lebhafter Verfassungsdiskussionen geworden ist. I m Folgenden soll der Sachverhalt dieses großen Präzedenzfalles (A) und seine rechtliche Würdigung (B) versucht werden. 1. Sachverhalt

Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich, bedingt durch den Aufstieg der Labour-Party, die Auflösung des traditionellen englischen Zweiparteiensystems angekündigt: i n den Generalwahlen des Jahres 1923 zog die Labour-Party m i t 191 Mandaten ins Unterhaus ein und war damit nach den Konservativen (258 Sitze) und vor den Liberalen (159 Abgeordnete) zur zweitstärksten Partei avanciert 8 . Dabei war bedeutsam, daß die Konservativen die absolute Mehrheit eingebüßt hatten und — getreu englischem Verfassungsdenken — m i t der Ernennung MacDonalds zum Minderheitenpremier durch den König der stärksten Oppositionspartei eine Chance gegeben werden sollte®. 5

1915 — Georg V.; 1940 — Georg V I . Weber, H., S. 24. 7 Vulpius, Α., S. 7. 8 Angaben nach Loewenstein, Κ . (VI), A n h a n g B, S. 548. 9 Dagtoglou, Prodromus, S. 92; Stacey, Frank, Government of modern Britain, Oxford, 1968, S. 239; MacDonald w a r auf die Tolerierung durch die 6

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen Aus Wahlrechts

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I n den Wahlen von 1924 gelang es den Konservativen m i t 410 Mandaten erneut, die absolute Mehrheit zu erreichen; jedoch konnte Labour seine Stellung als zweitstärkste Partei m i t 150 Sitzen gegenüber den Liberalen (40 Abgeordnete) weiter ausbauen 10 . Nach den General Elections von 1929 stieg Labour zur stärksten Partei auf, verfehlte aber m i t 288 Mandaten knapp die absolute Mehrheit. MacDonald wurde zum zweiten Male zum Minderheitenpremier ernannt und regierte m i t Unterstützung der Liberalen unangefochten bis i n das Krisenjahr 1931. Der Druck der Weltwirtschaftskrise bewirkte einen empfindlichen Rückgang der Steuereinnahmen; zugleich wurde der Staatshaushalt durch die Arbeitslosenunterstützung schweren Belastungen ausgesetzt. Zu Beginn des Jahres 1931 (am 11. Februar) hatte die konservative Opposition die Aufmerksamkeit des Unterhauses auf die Situation der Staatsfinanzen gelenkt und auf die Notwendigkeit unverzüglicher Sparmaßnahmen hingewiesen. Schließlich wurde am 17. März von der Regierung ein Ausschuß eingesetzt, der unter dem Vorsitz von Sir George May Vorschläge für rechtlich zulässige Einsparungen am Staatshaushalt ausarbeiten sollte. Der Ausschuß legte seinen Bericht am 31. J u l i vor und stellte fest, daß für den Ausgleich des Defizits von 120 Millionen Pfund i m Etat von 1932 drastische Steuererhöhungen sowie Gehaltskürzungen für sämtliche öffentlichen Bediensteten eingeführt werden müßten 11 . Der folgenschwerste und insbesondere eine sozialistische Regierung tangierende Vorschlag aber bestand darin, die Sätze der Arbeitslosenunterstützung u m 20 Prozent zu senken. A m 31. J u l i rief MacDonald einen Kabinettsausschuß ins Leben, der sich ausschließlich m i t der Prüfung des May-Berichts und dessen Verwirklichungsmöglichkeiten befassen sollte 12 . Neue alarmierende Meldungen über Spekulationen gegen die britische Währung, den Abzug von ausländischen Guthaben aus London und die Gewißheit, daß amerikanische Kredite nur noch nach vorheriger Sicherung des Haushaltsausgleichs erhältlich seien, zwang den zuständigen Kabinettsausschuß am 13. August, den i m May-Bericht geforderten Einsparungen, einschließlich der Kürzung der Arbeitslosenunterstützung, zuzustimmen 13 . Das Gesamtkabinett stimmte zwar am 14. August den vom Sonderausschuß vorgeschlagenen Liberalen angewiesen. Kaltefleiter, W. (I), S. 34, weist unter Berufung auf Hermens, F. Α. (I), S. 81, richtigerweise darauf hin, daß es auf dem europäischen Festland unter diesen Bedingungen w o h l zu einer K o a l i t i o n gekommen wäre. 10 Angaben nach Loewenstein , Κ . (VI), A n h a n g B, S. 548. 11 Nicolson , H. (II), S. 494/5. 12 I n i h m w a r auch M r . Henderson vertreten, der kurze Zeit später eine einfiußreiche Rolle gegen MacDonald spielen sollte. 18 Über die Einzelheiten der beschlossenen Sparmaßnahmen siehe Nicolson, H. (II), A n m e r k u n g i m A n h a n g I I , S. 603.

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Sparmaßnahmen zögernd zu, doch wandte sich eine Minorität scharf gegen jede Kürzung der Arbeitslosenunterstützung und forderte, an dessen Stelle einen Einfuhrzoll von 10 Prozent zu erheben 14 . Die Situation spitzte sich am 20. August zu, als der Premierminister m i t dem „General Council of the Trade Union Congress", dem Generalrat des Gewerkschaftskongresses zusammentraf, u m diesen von den geplanten Sparmaßnahmen zu unterrichten. I n der Form eines „grimmigen Bescheides" hatte der Generalrat die Regierungsvorschläge zurückgewiesen 15 . MacDonald jedoch war nicht gewillt, sich dem Diktat einer außerhalb der Regierung oder des Parlaments stehenden Körperschaft zu beugen 16 . Schon am Morgen des 21. August berief er das Kabinett zu erneuter Beratung ein. Die Minister gingen jetzt daran, die am Vortage beschlossenen Sparmaßnahmen einzuschränken 17 . Die Gruppe u m den Minister Henderson war nicht bereit, Streichungen auf dem Gebiet der Arbeitslosenunterstützung zu akzeptieren. A m Nachmittag des gleichen Tages informierte der Premier die Spitzen der Oppositionsparteien 18 . Die Oppositionsführer empfahlen dem Premierminister, entweder das Kabinett zu veranlassen, weiterreichenden Sparmaßnahmen zuzustimmen oder dem König seinen Rückt r i t t anzubieten 19 . Als auch i n der Kabinettssitzung vom 22. 8. eine Einigung nicht erzielt werden konnte, informierte MacDonald am 23. 8. den soeben erst aus Balmoral zurückgekehrten König Georg V. Als MacDonald dem Monarchen die unhaltbare Lage der Regierung nach einem möglichen Ausscheiden Hendersons schilderte, l u d dieser die Führer der Opposition, Baldwin und Samuel, zu sich. Ein Zufall 2 0 bewirkte, daß Samuel vor Baldwin vom König empfangen wurde. Mr. Samuel erklärte dem König, daß angesichts der Unpopularität der Sparmaßnahmen deren Durchführung auch von einem LabourKabinett getragen werden sollte. Würde dies auf Schwierigkeiten i n der 14 Nicolson , H. (II), S. 498, berichtet, daß MacDonald die Einführung der Einfuhrzölle wegen der ablehnenden H a l t u n g der Liberalen Partei als unrealistisch abgetan hatte. 15 s. Cole , M., ed.: Beatrice Webbs Diaries 1924 - 1932, London—New Y o r k Toronto 1956, S. 281. 18 Snowden, P. H., Autobiography, London 1934, S. 941; Cross , C., „ P h i l i p p Snowden", London 1966, S. 289, betrachtet die H a l t u n g des „Trade U n i o n Congress" als einen Wendepunkt i n der Entwicklung. 17 Z u den Einzelheiten vgl. Nicolson, H. (II), A n m . i m A n h a n g I I , S. 603. 18 Es waren dies M r . B a l d w i n f ü r die Konservativen u n d infolge der K r a n k h e i t von L l o y d George hatte Sir Herbert Samuel die F ü h r u n g der Liberalen Partei übernommen. 19 Nicolson, H. (II), S. 502. 20 M r . Baldwin, der erst am Vorabend, aus dem Urlaub gerufen, i n London eingetroffen war, hatte seine Wohnung verlassen u n d konnte nicht angetroffen werden; vgl. Nicolson, H. (II), S. 502.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen Aus W a h l r e c h t s 1 7 1

Partei des Premiers stoßen, so schlage er die Bildung eines National Government unter der Führung MacDonalds vor, da eine konservativ geführte Regierung auf die unsichere Unterstützung der Liberalen angewiesen sei". I n dem am Nachmittag folgenden Gespräch m i t Baldwin gab dieser dem König auf eine entsprechende Frage zu verstehen, daß er bereit sei, alles zu tun, was die nationalen Probleme lösen würde. Insbesondere würde er auch i n ein Kabinett unter MacDonald eintreten, oder — falls es gelänge, die Unterstützung der Liberalen zu finden — auch selbst eine Regierung bilden 2 2 . Inzwischen hatten sich i m Kabinett die Fronten endgültig geklärt: nach einer turbulenten Sitzung 23 war der Wille vieler Minister deutlich geworden, zusammen m i t Mr. Henderson eher zurückzutreten als eine Senkung der Arbeitslosenunterstützung hinzunehmen. Gleichzeitig wurde der Premierminister beauftragt, dem Monarchen die Demission der Regierung anzubieten 24 . Tatsächlich bot MacDonald dem König am Abend des gleichen Tages seinen Rücktritt an. Georg V. beschwor jedoch den Premier, einstweilen i m Amte zu verbleiben. Gleichzeitig stimmte er dem Vorschlag MacDonalds zu, am Morgen des nächsten Tages m i t den Führern der drei Parteien zusammenzutreffen. A m Montag, den 24. August, gelang gegen Mittag die Einigung: es sollte unter der Führung MacDonalds ein „National Government" gebildet werden, wobei vorgesehen war, die Parteiführer als „Persönlichkeiten" i n die Regierung aufzunehmen. Der Gedanke des Kabinetts der „Persönlichkeiten" kam insbesondere i n einem vom liberalen Parteiführer Sir Herbert Samuel verfaßten Memorandum zum Ausdruck, wo als Ziel der Konferenz nicht die Vereinbarung einer gewöhnlichen Parteikoalition, sondern die Zusammenarbeit einzelner Persönlichkeiten i n der nationalen Regierung bezeichnet wird 2 5 . Man war sich weiter dar21

Nicolson H. (II), S. 502. Zwischen Konservativen u n d Liberalen herrschte eine lebhafte Auseinandersetzung über die Frage des Schutzzolls, so Kaltefleiter, W. (I), S. 37, A n m . 67 verweist auf Gore, J., S. 406. 23 Insbesondere soll, so Nicolson , H. (II), S. 504 ein Telegramm der k r e d i t gewährenden New Y o r k e r Bankiers unter den Ministern Empörung ausgelöst haben, dem ein gewisses Mißtrauen gegenüber der Wirtschafts- u n d Finanzpolitik einer sozialistischen Regierung zu entnehmen w a r . H i e r ist auch die Wurzel des V o r w u r f s zu sehen, die internationale Finanzwelt habe sich gegen die Labour-Regierung verschworen u n d diktiere dieser n u n ihre Bedingungen, s. dazu H a r o l d MacMillan, Winds of Change, 1914 - 1939, L o n don 1965, S. 265 ff. F ü r die ähnlichen Schwierigkeiten, denen sich die deutsche Reichsregierung ausgesetzt sah, siehe Brüning, Heinrich, Memoiren 1918 bis 1934, Stuttgart 1970, S. 145 ff. insb. S. 310 ff., u. 346 ff. 24 Nicolson , H. (II), S. 505. 25 Nicolson, H. (II), S. 509. 22

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über einig, daß nach der Uberwindung der Krise das Unterhaus aufzulösen und von den Parteien ein getrennter Wahlkampf zu führen war. A n diesem Tage versammelte sich zum letzten Male das alte LabourKabinett. MacDonald informierte die Minister kurz über die politischen Vorgänge der letzten Stunden und lud sie ein, i n der neuen Regierung mitzuarbeiten. Dazu fanden sich aber nur drei Kabinettsminister bereit: Mr. Thomas, Lord Sankey und Philip Snowden 26 . Noch am Nachmittag desselben Tages begab sich MacDonald zum Buckingham Palast, u m dem König sein Rücktrittsgesuch als Premierminister der Labour-Regierung zu überreichen. Der König nahm das Gesuch entgegen und beauftragte MacDonald, ein Kabinett der Nationalen Regierung zu bilden. Dieser nahm den Auftrag an und „küßte zum Zeichen der erneuten Ernennung zum Premierminister die Hände des Königs" 2 7 . A m übernächsten Tag, dem 26. August, wurde das neue Kabinett vereidigt und damit die Regierungsbildung abgeschlossen. Die Regierung konnte sich i m Unterhaus auf die Stimmen der Konservativen, der Liberalen und der wenigen National Labour Abgeordneten MacDonalds stützen. Die gesamte übrige Labour-Fraktion ging i n die Opposition. Von diesem Zeitpunkt ab zeichnete sich die Auseinandersetzung durch zunehmende Verbitterung aus: das am 26. 8. vom National Executive Committee der Labour Party veröffentlichte Manifest drohte der Regierung m i t harter Opposition 28 . Ihren Höhepunkt erreichte die emotionale Auseinandersetzung, als der Labour-Exekutivausschuß am 28. September MacDonald und die übrigen Labour-Mitglieder des National-Governments aus der Partei ausschloß: Dadurch wurde der Premierminister gezwungen, den i m gleichen Jahr stattfindenden Wahlkampf gegen seine eigene Partei zu führen und ihr schließlich eine furchtbare Niederlage zu bereiten 29 . Das National Government gewann von 615 Sitzen 556 Mandate, davon entfielen auf National Labour 13 und auf die oppositionelle Labour Party nur 52 Abgeordnete. 2. Rechtliche Würdigung

Die Berufung MacDonalds zum Premierminister des National Government hatte eine erregte, innerhalb und außerhalb der Labour-Party geführte Diskussion über die Regierungsbildung ausgelöst. 26

Nicolson , Η . (Π), S. 510. So Sir Clive W i g r a m i n seinem Memorandum über den Verlauf der Konferenz u n d der Regierungsbildung, zit. nach Nicolson, H. (II), S. 510. 28 Bassett, R., Nineteen T h i r t y - O n e , Political Crisis, London, 1958, S. 183. 29 Angaben aus Loewenstein, Κ . (VI), S. 548; siehe zum W a h l k a m p f u n d weiteren Einzelheiten auch Butler, D. E., „ T h e Electoral System i n B r i t a i n " , 1918 - 1951, Oxford 1954, S. 173. 27

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen Aus W a h l r e c h t s 1 7 3 I n i h r w u r d e v o n l a b o u r o r i e n t i e r t e n A u t o r e n M a c D o n a l d der V o r w u r f gemacht, er habe seine, i h m ü b e r so v i e l e J a h r e h i n w e g t r e u ergebene Partei verraten 80. I m M i t t e l p u n k t der F r a g e s t e h t der v o n verschiedenen S e i t e n e r h o bene V o r w u r f , die B e r u f u n g v o n M a c D o n a l d z u m Chef des N a t i o n a l G o v e r n m e n t d u r c h K ö n i g G e o r g V . sei n i c h t verfassungsgemäß gewesen 3 1 . H i e r l i e g t der A n s a t z p u n k t f ü r das verfassungsrechtliche Interesse a n der R e g i e r u n g s b i l d u n g v o n 1931. Setzte d e r K ö n i g seine Reservemacht ein, d u r f t e er ü b e r h a u p t v o n i h r G e b r a u c h m a c h e n u n d w o l i e g e n die G r e n z e n der reserve p o w e r ? Es w a r e n T e i l e der Presse, die d e n e r s t e n A n g r i f f f ü h r t e n u n d — w i e der D a i l y E x p r e s s — 3 2 v o r d e r B e h a u p t u n g n i c h t zurückschreckten, daß der M o n a r c h w ä h r e n d der R e g i e r u n g s k r i s e d e r eigentliche F ü h r e r des Staates gewesen sei 3 3 . D i e ü b e r w i e g e n d e P r e s s e m e i n u n g jedoch w ü r d i g t e das V e r h a l t e n M a c D o n a l d s i n der K r i s e als „ p a t r i o t i s c h e T a t " 3 4 . A u f f a l l e n d i s t das F e h l e n e i n e r P a r l a m e n t s d e b a t t e ü b e r die V e r f a s s u n g s m ä ß i g k e i t d e r V o r g ä n g e des S o m m e r s 1931. D e r G r u n d h i e r f ü r l i e g t w o h l i n d e m U m s t a n d , daß der K ö n i g a n der R e g i e r u n g s b i l d u n g b e t e i l i g t w a r u n d eine i h n i n d e n P a r t e i e n s t r e i t v e r w i c k e l n d e Aussprache daher vermieden w e r d e n sollte35.

30 Die Auseinandersetzung u m die Person MacDonalds ist dargestellt bei McKenzie, B r i t i s h Political Parties, K ö l n 1961, S. 317 ff.; McKenzie schildert hier auch die Folgerungen, welche die Partei aus dem „traumhaften Schock", dem furchtbaren Schlag, den i h r MacDonald versetzt hatte, zu ziehen gedachte: insbesondere sollten zukünftige Parteiführer einer wirksamen K o n trolle der Parteiorgane unterworfen werden, so McKenzie, S. 317. Symptomatisch f ü r diese Bestrebungen ist der v o n Sir Charles Trevelyan auf der Parteikonferenz v o n 1932 eingebrachte Resolutionsantrag: „ T h a t the leader of the next Labour Government and the Parlamentary Labour Party be instructed by the national conference that, on assuming office, either w i t h or w i t h o u t power, definite Socialist legislation must be immediately promulgated and that the party shall stand or f a l l i n the House of Commons on the principles i n w h i c h i t has faith", zit. nach McKenzie, S. 319. Ubersetzung: „Daß der Führer der kommenden Labour-Regierung u n d der L a b o u r - F r a k t i o n v o n der Nationalkonferenz instruiert werde, daß nach seinem A m t s a n t r i t t , gleichgültig ob Labour an der Regierung ist oder nicht, eindeutige sozialistische Gesetzgebung sofort vorangetrieben werde, u n d daß die Partei i m Unterhaus m i t den von i h r vertretenen Grundsätzen stehen oder fallen w i r d . " Z u anderen Vorschlägen, die den Premier wenigstens nicht an Parteigremien, sondern die F r a k t i o n binden wollten, siehe McKenzie, S. 320. 31 So Laski, Harold, i n verschiedenen Veröffentlichungen. 32 Ausgabe v o m 25. 8.1931. 33 So ähnlich auch der Manchester Guardian u n d der D a i l y Herald, als das offizielle Organ der Labour Party. 34 So v o r allem The Times, Ausgabe v o m 25. August 1931. 35 I n den Parlamentsdebatten ist v o n jeher jegliche K r i t i k an der Person des Monarchen untersagt, siehe auch Carter, B. E., S. 50.

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Ein dem Verhalten des Königs kritisch gegenüberstehender Autor war Harold Laski3®, der i n der Krise eine Bestätigung des Monarchen als einem effektiven Verfassungsteil sah. Die nochmalige Premierschaft MacDonalds sei aus einer „Palastrevolution" geboren und vergleichbar m i t der Ernennung Lord Butes durch Georg I I I . i m Jahre 1760. Georg V. habe, so fährt Laski 3 7 fort, versäumt, die Labour-Opposition zu konsultieren. Laski ist weiter der Auffassung, daß die Idee, MacDonald an die Spitze des National Government zu stellen, „niemals von Mr. Baldwin oder Sir Herbert Samuel, den Führern der Oppositionsparteien, ausgegangen sein kann" 3 8 . Demgegenüber vertritt Sir Ivor Jennings 39 die Ansicht, daß für ein der Verfassung widerstrebendes Handeln des Königs keinerlei Anzeichen sichtbar würden; eine Grundauffassung, von der sich der Autor nie mehr entfernt hat 4 0 . Gleichzeitig jedoch stimmt Jennings m i t Morrison i n der Ansicht überein, daß eine Berufung Baldwins zum Prime Minister einer konservativ-liberalen Koalition den parlamentarischen Gesetzmäßigkeiten eher entsprochen hätte 41 . Dies haben aber, so Jennings, die Parteiführer MacDonald, Baldwin und Samuel, nicht aber der König zu vertreten 4 2 . Daß der König, indem er den Rat der Parteiführer befolgte, verfassungsgemäß gehandelt habe, ist i n der heutigen Literatur zur herrschenden Meinung geworden 43 . Dem Vorwurf Laskis, der König habe es versäumt, die Labour-Opposition zu konsultieren, ist entgegenzuhalten, daß es auch Georg V. nicht gelungen wäre, Henderson zum E i n t r i t t i n das Kabinett des National Government zu bewegen, andererseits auch Henderson kaum i n der Lage gewesen wäre, ein Mehrheitskabinett zu bilden 44 . 36 Laski, Harold, The Crisis and the Constitution: 1931 and after, London 1932, S. 30 ff., S. 34. 37 Las/ci, H. (II), S. 32 ff. 38 So Laski, H., Parliamentary Government i n England, New Y o r k 1938, S. 195. 39 Jennings, W. Ivor, The Constitution under Strain, i n : Political Quarterly, vol. I I I , 1932, Heft 2, S. 195. 40 Jennings, W. Ivor, Cabinet Government, London 1936, S. 39, erste A u f lage, u n d Cabinet Government, überarbeitete Auflage, London 1951, S. 41. 41 Kaltefleiter, W. (I), S. 42. 42 Jennings verweist hier auf eine entsprechende Stelle i n den Memoiren von Samuel, vgl. dazu Kaltefleiter, W. (I), S. 42. 43 So f ü r viele: Webb, S., W h a t Happened i n 1931: A Record, Fabian Tract Nr. 237, London 1932, S. 8; Carter, B. F., S. 47 ff.; bedingt auch Loewenstein, Κ . (IV), S. 1088/1089; Starey, F., S. 241. 44 Labour hatte zwar — eingeschlossen die Getreuen MacDonalds — 288 Sitze, die Konservativen u n d die Liberalen gemeinsam aber 319 Abgeordnete. So auch Kaltefleiter, W. (I), S. 40, der überdies auf Bassett, R., S. 363 verweist, wonach eine Konsultation Hendersons den K ö n i g möglicherweise dem V o r w u r f des Eingriffs i n parteiinterne Angelegenheiten ausgesetzt hätte.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s 1 7 5

I m übrigen hatte sich Premierminister MacDonald der Zustimmung seines Kabinetts versichert, ehe er dem Monarchen riet, eine gemeinsame Konferenz aller drei Parteiführer einzuberufen 45 . Wie schon angedeutet, erachtete der prominente Labour-Politiker Morrison 46 , ohne sich über die Verfassungsmäßigkeit der königlichen Maßnahme zu äußern, die Entscheidung, ein National Government zu bilden, als politisch falsch und hätte eine konservativ-liberale Koalitionsregierung m i t Baldwin als Premier vorgezogen. Eine interessante Variante i n der Argumentation wurde durch Moodie 47 eingeführt. Er geht von einer dem König tatsächlich zur Verfügung stehenden Wahlmöglichkeit zwischen MacDonald und Baldwin aus und folgert aus der Spaltung der Labour Party, daß MacDonald angesichts des fehlenden Rückhalts i n seiner Partei nicht hätte zum Prime Minister ernannt werden dürfen. Er schlägt deshalb vor, eine Regel, daß nur zu effektiver parlamentarischer Kontrolle i n der Lage befindliche Parteiführer premierfähig sind, i n das System der englischen Verfassungsprinzipien aufzunehmen. Damit ist ein zentrales Problem der Verfassung und der Ausübung der königlichen Prärogative angesprochen. Es ist Moodie zuzugeben, daß i m Normalfall, d. h. i m funktionierenden Zweiparteiensystem m i t eindeutiger Entscheidung des Wählers, der Monarch den Führer der Mehrheitspartei zu ernennen hat. MacDonald war zwar bei Bildung des National Government noch offizieller Parteiführer, doch von seiner Partei nicht ermächtigt, die Regierung zu führen oder i n sie einzutreten. I m Gegensatz zu Baldwin und Samuel 48 , die entsprechende Beschlüsse der zuständigen Gremien ihrer Parteien herbeiführten, traf MacDonald, obwohl der Feindschaft großer Teile Labours bewußt, nicht einmal A n stalten, i n seiner Partei u m Unterstützung zu werben 49 . H. Laski 5 0 betont, daß i n der neueren Zeit niemand mehr auf Grund seiner Persönlichkeit zum Premier ernannt worden sei, sondern ausschließlich kraft der i h m als Parteiführer zustehenden Autorität 5 1 . 45 Der A b l a u f der Kabinettssitzung v o m 23. 8.1931 ist genau geschildert bei Nicolson , H. (II), S. 505. 46 Morrison , H. (II), S. 106/107. 47 Moodie , G. C., The Monarch and the Selection of the Prime Minister: A Re-Examination of the Crisis i n 1931, i n : Political Studies, V o l . V , 1957, S. 3 if. 48 Carter, B. E., S. 52. 49 Snowden, Phillip, A n Autobiography, London 1934, S. 953. 50 Laski , H., The Crisis and the Constitution: 1931 and after, London 1932, S. 16. 51 Ä h n l i c h auch Jennings , W. I., The Constitution under Strain, i n Political Quarterly, Vol. I l l , 1932, Heft 2, S. 198.

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Jennings 52 ist es gelungen, das dabei auftauchende Problem i n einer überspitzten Frage zu verdeutlichen: Kann ein konservativer Ministerpräsident den König über seinen Ubertritt zu den Sozialisten informieren und gleichzeitig verlangen, daß seine konservativen Minister durch sozialistische Kollegen zu ersetzen sind? Freilich trifft diese Aussage für die Vorgänge i m Sommer des Jahres 1931 nicht ganz zu. Es bestehen Anzeichen dafür, daß MacDonald einige Zeit m i t der Hoffnung spielte, die Unterstützung seiner Partei doch noch zu erlangen und sie i n das National Government einbringen zu können 53 . I n der englischen Verfassungspraxis existieren keine Präzedenzfälle, welche die Entscheidung der Streitfrage, ob tatsächlich eine Wahlmöglichkeit zwischen Baldwin und MacDonald bestand, und weiter, ob die Berufung MacDonalds verfassungsmäßig war, erleichtern könnte. Doch ist zu berücksichtigen, daß m i t der Existenz dreier Parteien i m Unterhaus und einer Minderheitenregierung eine außerordentliche Lage eingetreten war, i n der die Bedingung der Normalität, unter welcher ein effektiver Parteiführer zum Premier zu ernennen war, eben nicht bestand. Hinzu kam, daß MacDonald die Unterstützung der Mehrheit des Unterhauses für sich gewinnen und somit eine wichtige Voraussetzung für die Ernennung zum Premierminister erfüllen konnte 5 4 . Der Meinung, daß Georg V. angesichts der oppositionellen Haltung fast der gesamten Labour Party dann sogleich Baldwin an die Spitze der faktisch konservativ-liberalen Koalition hätte stellen sollen, ist die Überlegung entgegenzuhalten, daß es politisch nicht ungefährlich gewesen wäre, die i n der Schutzzollfrage zerstrittenen Liberalen und Konservativen unmittelbar i n einer Koalition zu vereinen 55 . Die vor allem i n der Person des Premierministers verkörperte Beteiligung an der Regierung diente dazu, die öffentliche Meinung von alten Streitfragen ab- und — schon als Effekt des Etiketts „national" — auf bestimmte übergeordnete Gesichtspunkte zu lenken. Wenn es auch nicht gelungen war, die höchst unpopulären Sparmaßnahmen von einer reinen Labourregierung durchführen zu lassen 56 , so 52

Jennings , W. I . (V), S. 199. So Attlee, Clement, The Labour Party i n Perspective — and Twelve Years Later, London 1949, S. 56. 54 Vergleiche dazu Ausführungen oben; Moodie akzeptiert diese A r g u mentation u n d h ä l t deshalb das National Government unter der Premierschaft MacDonalds f ü r verfassungsmäßig, so i n (VI) S. 9 f. 55 Die hier vorherrschenden verschiedenen Konzeptionen führten später zum Auszug der Liberalen aus dem National Government, daran w i r d deutlich, daß B a l d w i n u n d Samuel politisch richtig handelten, als sie dem K ö n i g v o n einer Verbindung von ausschließlich Konservativen u n d Liberalen abgeraten hatten. 56 Wie es anscheinend zunächst i m Sinne Sir Herbert Samuels gewesen wäre, siehe dazu Nicolson , H. (II), S. 502. 58

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s 1 7 7

brauchte keine Entscheidung darüber getroffen zu werden, ob die Konservativen oder Liberalen Anspruch auf die Premierministerstellung hatten. MacDonald konnte sich daher nicht nur auf den Vorzug einer sicheren parlamentarischen Anhängerschaft berufen, sondern er bildete kraft Persönlichkeit und Parteizugehörigkeit einen Faktor der Regierungsstabilität, und es war i h m darüberhinaus gelungen, wie die folgenden Generalwahlen zeigten, i m Volke patriotische Zustimmung zu wecken 57 . Schließlich sei noch betont, daß Georg V. die Ernennung MacDonalds zum Prime Minister des National Government auf den ausdrücklichen Rat Samuels und Baldwins vollzogen hatte 58 . Erst nachdem die beiden Parteiführer auch ihren W i l l e n bekräftigt hatten, unter MacDonald i n das Kabinett einzutreten, scheint der König i n seiner Konferenz m i t MacDonald, Baldwin und Samuel vom 24. 8. bereits eine weitere Premierschaft MacDonalds vorausgesetzt zu haben. So berichtet Sir Clive Wigrams Memorandum über den Verlauf der Konferenz: „Der Premierminister erklärte, daß er die Rücktrittserklärung seines Kabinetts i n der Tasche habe, worauf der König erwiderte, er vertraue fest darauf, daß ein Rücktritt des Premierministers nicht i n Frage komme. Die Führer der drei Parteien müßten sich zusammensetzen und zu einem Arrangement kommen. Seine Majestät hoffe, daß der Premierminister m i t denjenigen seiner Kollegen, die i h m ihr Vertrauen erhielten, dazu mithelfen würde, eine Nationale Regierung zu bilden, die, wie er hoffe, auch die Unterstützung der Konservativen und Liberalen finden würde 5 9 ." Georg V. wäre aber auch i n diesem Punkte einem vorherigen anderslautenden Rat der drei Parteispitzen gefolgt: hätten sich die Parteiführer auf Baldwin als Premierminister und eine liberalkonservative Koalition geeinigt, so wäre die Ernennung Baldwins vom König vollzogen worden. Hätte er aber gegen den tatsächlich gegebenen Rat Baldwin ernannt, und wäre dieser i m Unterhaus an seiner Finanzgesetzgebung gescheitert, so nimmt Kaltefleiter 80 richtig an, daß Georg V. „ m i t weit mehr K r i t i k " bedacht worden wäre, und — dies zeigt auch die deutsche Nachkriegserfahrung — bei späteren, nicht von der Wählerentscheidung determinierten Premiereinsetzungen, an Einfluß verloren hätte. Nach Prüfung der beim Amtsantritt MacDonalds wirkenden Umstände und 57

Die oppositionelle Labour Party schrumpfte v o n 288 auf 52 Mandate, vgl. dazu Loewenstein , Κ . (VI), Anhang B, S. 548. 68 Kaltefleiter, W. (I), S. 44, die entscheidenden Unterredungen m i t Sir Herbert Samuel u n d B a l d w i n am 23. August schildert Nicolson, H. (II), S. 502 f. 59 Z i t i e r t nach Nicolson, H. (II), S. 507. 60 Kaltefleiter, W. (I), S. 44. 12 Lippert

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I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

des Verhaltens der Beteiligten, insbesondere des Königs, ist — auch bei vorläufig hypothetischer Reduzierung des von der Reservemacht umfaßten Bereichs auf „das Recht, gefragt zu werden, zu ermutigen und zu warnen" 6 1 — festzustellen, daß Georg V. i n diesem Falle von seiner Reservemacht Gebrauch machte und — auch entgegen dem von Laski erhobenen V o r w u r f — kein W i l l k ü r a k t des Monarchen vorlag 6 2 .

II. Die Berufung eines Minderheitenpremiers Vom Koalitionskabinett zu unterscheiden ist die Minderheitenregierung, obwohl beide Formen zunächst auf denselben Voraussetzungen beruhen: Repräsentation mindestens dreier Parteien i m Parlament, von denen keine über die absolute Mehrheit verfügt. Während sich aber die Koalition auf die kraft Vereinbarung mehrerer Parteien erzeugte absolute Mehrheit stützt, t r i t t das Minderheitenkabinett i n die parlamentarische Verantwortung, ohne über eine feste parlamentarische Mehrheit i m Unterhaus zu gebieten. I n der Koalition teilen sich mehrere Parteien i n die Besetzung der Ministerstellungen, während die Minderheitenregierung die Ämter ausschließlich unter ihren eigenen Abgeordneten verteilt. Auch hinsichtlich der Beteiligung des Monarchen an der Amtseinsetzung des Premierministers erscheinen Unterschiede. Zunächst ist beiden gegenüber der bei funktionierender Zweiparteienalternierung herrschenden Automatik des königlichen Vollzugs die Reaktivierung der Reservemacht gemeinsam 1 . Die Berufung des Minderheitenkanzlers eröffnet, ex ante betrachtet, dem Staatsoberhaupt aber möglicherweise insofern einen weiten Ermessensspielraum, als der Koalitionspremier sich als das Produkt einer den parlamentarischen Rückhalt erst erzeugenden Vereinbarung darstellt, während der Minderheitenpremier ohne parlamentarische Absicherung berufen werden muß. So schließt die Ernennung des Monarchen die von Wählerschaft und Unterhausparteien gelassene Legitimationslücke. Ungeachtet der naturgemäßen Schwächen des Minderheitenkabinetts — Abhängigkeit von anderen, die Politik der Regierung von Fall zu Fall unterstützenden „Tolerierungsparteien", wenig gefestigte Position der eigenen Führung, Verwässerung des politischen Programms — entM 62

So Bagehot, W., S. 267.

Der Versuch einer endgültigen Einordnung der Vorgänge von 1931 i n die Lehre von der Reservemacht soll dagegen erst nach K l ä r u n g der weiteren beiden Möglichkeiten einer Reaktivierung des Königlichen Auswahlermessens unternommen werden. — Vgl. dazu die Ausführungen i m 1. Hauptteil, 1. K a p i tel, 4. Abschnitt. 1 Loewenstein, Κ . (IV), S. 1090.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen Auswahlrechts

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spricht das Minderheitenkabinett als Einparteienregierung eher den Traditionen britischen parlamentarischen Denkens, und hat deshalb i n der Geschichte des englischen parlamentarischen Systems häufige A n wendung gefunden. I n der neuesten Geschichte lassen sich dabei drei Phasen unterscheiden, i n denen eine Verdichtung von Minderheitenregierungen zu ununterbrochener Folge oder jedenfalls eine bestimmte Häufigkeit zu beobachten ist. So bildeten die Minderheitenregierungen i n der Zeit zwischen den beiden großen Wahlreformen i m 19. Jahrhundert 2 die Regel 3 . Die nach der großen Reformbill von 1832 ausgebildete politisch-parlamentarische Souveränität (Suprematie) und die damals herrschende Parteiensplitterung ließen Lücken i n der Formierung des Mehrheitswillens, welche durch die Königin zu füllen waren — was allerdings oft unter weitgehender Ausschöpfung ihres Auswahlrechts geschah — und zur Einsetzung von Minderheitenpremiers führte 4 . So berief Victoria, nachdem Sir Robert Peel den Auftrag zur Regierungsbildung infolge der unnachgiebigen Haltung der Königin i n der „Bedchamber Question" abgelehnt hatte, gegen die konservative Mehrheit i m Unterhaus den Liberalen Viscount Melbourne als Minderheitenpremier, und dieser konnte sich bis nach den Generalwahlen 1841 i m Amte halten 5 . Weitere Beispiele, die dem königlichen Einfluß weiten Raum öffneten, ließen sich anführen 6 . Die zweite Phase, i n denen Minderheitenregierungen i n gewisser Konzentration auftraten, erstreckt sich über die Jahre 1880 - 1890. Sie ist Ausdruck der Versuche Königin Victorias, m i t Hilfe der Reaktivierung ihres alten Auswahlrechts eigene Wünsche hinsichtlich der Person der zu ernennenden Amtsinhaber, ungeachtet der seit der 2. Wahlreformb i l l 1867 eingetretenen Zweiparteienalternierung und plebiszitären Legitimierung der Premierminister, durchzusetzen. Einen ersten Versuch i n dieser Richtung unternahm die Königin bereits nach den Generalwahlen von 1880, die den Konservativen unter Disraeli eine Niederlage eingebracht und die Liberalen zur regierungsberechtigten Partei erhoben hatten 7 . 2

1832 u n d 1867. 3. Kabinett Melbourne 1839 - 1841, Russell 1846 - 1852, Aberdeen 1852 bis 1857, 2. Kabinett Aberdeen 1858- 1859, 3. Kabinett Derby 1866 - 1868; i n der Zeit von 1846 - 1868 bildeten während 14 Jahren Minderheitenpremiers die Regierung, siehe dazu Loewenstein , Κ . (VI), S. 137. 4 Loewenstein , Κ . (IV), S. 1091. 5 L i t e r a t u r bei Jennings , W. I. (I), S. 511. β Siehe dazu Jennings , W. I. (I), S. 511 ff. 7 L i t e r a t u r bei Jennings , W. I. (I), S. 519. 3

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Victoria wollte auf Grund ihrer berühmten persönlichen und politischen Aversion gegenüber Gladstone 8 diesen übergehen und Lord Hartington berufen. Damit folgte sie zwar — formal — dem bereits damals geübten Brauch, den offiziellen Oppositionsführer 9 m i t der Regierungsbildung zu beauftragen — Gladstone hatte nach der Niederlage 1874 die Führung der Liberalen Partei aufgegeben und Lord Hartington war Oppositionsführer i m Unterhaus geworden — doch war es letztlich Gladstone, dem der Schlag gegen Disraeli gelungen war, und der Wahlkampf wurde dementsprechend als persönliches Duell zwischen Gladstone und Disraeli aufgefaßt. Lord Hartington und Granville rieten daraufhin der Königin, dem Verdikt der Wähler zu folgen und Gladstone zu ernennen, was schließlich auch geschah. Nachdem die Regierung Gladstone i m Jahre 1885 infolge einer das Budget betreffenden Abstimmungsniederlage i m Unterhaus zurückgetreten war und Neuwahlen nicht stattfanden, fehlte der Konservativen Partei seit dem Tode Lord Beaconfields (Disraeli) ein unumstrittener „Leader". Die Entscheidung konnte nur zwischen Lord Salisbury, dem Vorsitzenden der konservativen Oberhausfraktion, und dem Fraktionsvorsitzenden i m Unterhaus, Sir Northcote, fallen. Königin Victoria entschied sich für den über eine größere Autorität verfügenden Lord Salisbury, der daraufhin ein Minderheiten-Kabinett bildete 1 0 . Die Bemühungen Victorias, ihre eigenen politischen Ansichten bei der Regierungsbildung zum Tragen zu bringen, erreichten ihren Höhepunkt, als die Wahlen von 1885 es den Liberalen ermöglichten, die Regierung Salisbury zu stürzen. U m die Ernennung Gladstones zu vermeiden, versuchte sie, die Liberalen i n letzter Minute zur Unterstützung des Kabinetts Salisbury zu veranlassen 11 . Dieses Vorhaben stieß jedoch auf den einhelligen Widerspruch der Befragten (Lord Salisbury, Mr. Goschen), die der Monarchin zur Berufung Gladstones rieten. Gladstone wurde daraufhin zum Premierminister ernannt, jedoch nach wenigen Monaten zum Rücktritt gezwungen. Infolge der Spaltung der Liberalen Partei über der Irlandfrage wurde daher Lord Salisbury zum Premier eines konservativen Minderheitenkabinetts ernannt, das sich bis 1892 an der Macht halten konnte 12 . Vor den Wahlen des Jahres 1892 8

Jennings , W. I . (I), S. 34. Die Stellung eines Oppositionsführers — eines offiziellen „Leaders of the Opposition" w u r d e zwar erst 1937 ins Leben berufen, Ministers of the Crown A c t 1937 — wobei dem Oppositionsführer ein Amtsgehalt zugesprochen wurde, doch hatte die Verfassungspraxis des 20. Jahrhunderts bereits v o r diesem Z e i t p u n k t den Begriff der offiziellen Opposition entwickelt u n d als offiziellen Oppositionsführer den „Leader" der größten Oppositionspartei betrachtet. 10 Vgl. Jennings , W. I . (I), S. 519 unten. 11 Diese Vorgänge werden v o n Jennings , W. I (I), S. 520, geschildert. 12 Jennings , W. I . (I), S. 521. 9

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s 1 8 1

hatte Victoria beschlossen, i m Falle eines Sieges der Liberalen nicht den von ihr abgelehnten Gladstone, sondern Lord Rosebery zum Premier zu ernennen. Doch gelang es auch hier Sir Henry Ponsonby, m i t Hilfe einer für Gladstone günstigen Meinungsumfrage unter den Abgeordneten die Königin zur Ernennung Gladstones zu veranlassen. Die nach dem Ersten Weltkrieg zum Abschluß gebrachte Ablösung der Liberalen durch die Labourpartei als der zweiten Alternierungspartei führte noch einmal zum Auftreten der Minderheitenregierung. Bereits bei den Unterhaus wählen 1922 war es der Labour-Party gelungen, die infolge der Spaltung geschwächten Liberalen zu überrunden und zur offiziellen Opposition aufzusteigen 13 . Der Ausgang der Wahlen des Jahres 1923 sah zwar die Konservativen als stärkste Partei, doch hatten sie die absolute Mehrheit eingebüßt 14 , und die parlamentarische Repräsentation dreier Parteien ohne absolute Mehrheit bedeutete, daß eine plebiszitär designierte, siegreiche Partei nicht vorhanden war 1 5 . Gleichzeitig stellte sich die Frage, ob Premierminister Baldwin — gemäß der von Disraeli, allerdings i m funktionierenden Zweiparteiensystem begonnenen Übung — ohne den Spruch des Parlaments abzuwarten, zurücktreten sollte 16 . Baldwin selbst neigte zunächst zum Rücktritt vor der Eröffnung des neuen Parlaments. Demgegenüber hielt Georg V. einen sofortigen Rücktritt für unkorrekt 1 7 . Der vom König 1929 geäußerten gegenteiligen Ansicht ist zu entnehmen, daß Georg V. vor Berufung eines Nachfolgers die Mehrheitsverhältnisse i m Unterhaus geklärt sehen wollte. Ein vorsichtiges Vorgehen war überhaupt geboten, da die Beteiligten sich nicht dem Verdacht aussetzen wollten, sie bemühten sich, die Labour Party von der Regierung fernzuhalten 18 . 13 Die Liberalen hatten gegenüber den 142 Labour-Abgeordneten n u r 114 Sitze errungen; vgl. Loewenstein, K . (VI), S. 548, v o n diesen zählten 53 zum A s q u i t h u n d 61 zum nationalliberalen Flügel. 14 Konservative 258, Labour 195, Liberale 159 Sitze. 15 Loewenstein , Κ . (VI), S. 23. le Sir Austen Chamberlain w a r der Auffassung, George V. sollte MacDonald als Führer der Labour-Party u n d den liberalen Leader A s q u i t h gleichzeitig befragen, ob sie eine Regierung bilden könnten. Vgl. dazu „ L i f e and Letters of Sir A u s t i n Chamberlain", I I , S. 239; A s q u i t h hingegen riet dazu, nach einer etwaigen Niederlage Baldwins MacDonald zu berufen. Siehe Jennings , W. (I), S. 39. 17 Nicolson, H. (II), S. 416. 18 A u f der konservativen Seite w a r e n der Meinung Baldwins entgegengesetzte Bemühungen spürbar, eine bürgerliche Regierung a m Leben zu erhalten, u m der Bestellung eines sozialistischen Premierministers zuvorzukommen. Zahlreiche Vorschläge w u r d e n daher offenbart, mannigfache K o m binationen ersonnen. L o r d Younger schlug vor, daß B a l d w i n i n eine K o a l i tionsregierung unter A s q u i t h eintreten sollte; L o r d Derby glaubte, daß die Liberalen einen konservativen Minderheitenpremier A u s t i n Chamberlain unterstützen würden. M r . St. Loe Starchey, der Herausgeber des „Spectator", schlug gar vor, der K ö n i g möge den nicht einmal dem Unterhaus angehören-

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Georg V. nahm von Anfang an eine feste Haltung ein und ließ keinen Zweifel daran, daß er, i m Falle einer Abstimmungsniederlage Baldwins i m Unterhaus, es für seine verfassungsmäßige Pflicht halte, den Führer der Opposition, Ramsay MacDonald, zum neuen Premierminister zu ernennen 19 . Der König befand sich damit i m Einklang m i t der alten englischen Verfassungsregel, nach der Niederlage einer Regierung zunächst den Oppositionsführer m i t der Regierungsbildung zu beauftragen 20 . Die Entwicklung dieser Regelhaftigkeit führt zur Neutralitätspflicht und damit letztlich auf die vom Staatsoberhaupt wahrzunehmende Kontinuitätsfunktion zurück. Demnach hat der Monarch ausschließlich für eine schleunige Regierungsbildung zu sorgen. Eigene politische Ziele sind dabei ausgeschlossen. Die einzige Möglichkeit, eine neutrale Haltung zu demonstrieren, besteht i n der Heranziehung des Oppositionsführers zur Regierungsbildung. Seit dem Jahre 1845, als Königin Victoria von Peel geraten wurde, den Leader der Whig-Partei, Lord John Rüssel, zu ernennen, sind — von einer Ausnahme i n der Regierungszeit Victorias 2 1 abgesehen — die englischen Monarchen schließlich doch der Verfassungsregel nachgekommen 22 . König George V. konnte sich bei der Berufung MacDonalds zum Premierminister über die eben dargelegte Regel hinaus auf das seit der zweiten Reformakte (1867) wirksame Argument stützen, der Entzug der absoluten Mehrheit der Konservativen sei ein plebiszitäres Verdikt, das, kombiniert m i t der mangelnden Vertrauensgrundlage, eine weitere Amtsführung durch Baldwin ausschließe23. Über die Frage, ob nun Labour oder den Liberalen die Regierungsberechtigung zufallen würde, hatte die Wählerschaft m i t dem Vorbehalt, daß sie den zweiten Platz hinter den Konservativen der Labour-Party zuwies, noch keine Entscheidung getroffen 24 . Es war die besagte Regel vom Einrücken der offiziellen Opposition, die hier den Ausschlag gab. Zunächst aber war das neugewählte Parlament am 8. Januar 1924 zur ersten Sitzung zusammentreten. A m 15. Januar hatte Oppositionsführer MacDonald nach der am selben Tag gehaltenen Thronrede des Monarchen einen Mißtrauensantrag gegen das Kabinett Baldwin eingebracht, der auch vom Unterhaus angenommen wurde 2 5 . den M r . McKenna m i t der B i l d u n g eines Kabinetts der nationalen „Treuhänder" beauftragen. Siehe dazu Nicolson , H. (II), S. 417. 19 Nicolson , H. (II), S. 417/418, m i t Fundstellennachweisen f ü r die Äußerungen des Königs. 20 Jennings , W. I. (I), S. 32. 21 Dies w a r i m Jahre 1852, als sich die Opposition bereitfand, m i t der Regierungspartei unter dem neuen Leader, L o r d Aberdeen, zu koalieren. 22 Vgl. dazu die Beispiele bei Jennings, W. (I), S. 33 ff. 28 Loewenstein, Κ . (V), S. 19. 24 Loewenstein, Κ . (V), S. 20.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s 1 8 3

A m 22. Januar unterbreitete Baldwin George V. den Rücktritt des Kabinetts. Noch am gleichen Tage wurde MacDonald zum Premierminister ernannt. Der König hatte damit die konventionalen Spielregeln genau eingehalten: MacDonald war Oppositionsführer, der Regierung Baldwin war i n den Wahlen die absolute Mehrheit entzogen und überdies war sie i m Parlament geschlagen worden. George V. hatte bei der Berufung MacDonalds Reservemacht i n zweifacher Weise ausgeübt: einmal hatte er Baldwin bewogen, sich dem Unterhaus zu stellen und damit endgültige Klarheit über die Mehrheitsverhältnisse i m Unterhaus zu erhalten 26 . Zum anderen aber mußte George V. mit MacDonald einen Premierminister einsetzen, der sich nicht auf eine parlamentarische Mehrheit stützen konnte. Die monarchische, grundsätzlich formalisierte Ernennungsprärogative erwächst i n diesem Rahmen zu legitimierender, die Lücke an parlamentarischer Unterstützung überbrückender Wirkung. Die am 29. Oktober 1924 abgehaltenen Generalwahlen stellten das Zweiparteiensystem wieder her: der dabei errungene Sieg der konservativen Partei nahm die Züge eines Erdrutsches („landslide") an, und sowohl ihre absolute Mitgliedermehrheit 2 7 als auch die Existenz eines unangefochtenen Leaders i n der Person Baldwins reduzierte die Beteiligung des Königs an der Regierungsbildung zur bloßen Ernennungsfunktion. Doch die bereits 1925 geäußerte Genugtuung Loewensteins 28 über die Rückkehr zum Zweiparteiensystem sollte noch einmal enttäuscht werden. Die Wähler des Jahres 1929 hatten die Labours zur stärksten Partei i m Unterhaus erhoben 29 , ohne ihr die absolute Mehrheit an Sitzen zu bescheren. Die Situation ähnelte damit der des Jahres 1923. Doch war sich Baldwin jetzt darüber sicher, daß, ungeachtet der fehlenden absoluten Mehrheit, die Stimme des Volkes, die „politische Stimme des Staates" 80 , auf einen nicht unverzüglich vollzogenen Rücktritt negativ reagieren würde. A m Dienstag, den 4. Januar 1929, reichte Baldwin seinen Rücktritt ein. George V. ernannte am 5. Januar, wiederum der bereits erörterten Verfassungsregel folgend, MacDonald als bisherigen Oppositionsführer zum neuen Premierminister. 25 M i t einem Stimmenverhältnis von 328 zu 256 Stimmen, so Loewertstem, Κ . (V), S. 25. 26 Nicolson, H. (II), S. 416. 27 419 Konservative, 151 Labour u n d 46 Liberale. 28 Loewenstein, Κ . (V), S. 53. 29 Labour 288, Konservative 260, Liberale 59. Zahlen nach Loewenstein, K . (VI), S. 548. 30 Z i t i e r t nach Nicolson, H. (II), S. 473, der sich auf einen Brief L o r d Stamfordhams — R A K . 2223,32 (Royal Archives i n Windsor) bezieht.

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Auch dieses M a l hatte Georg V. unter Einsatz seiner Reservemacht einen Premierminister berufen, der nicht die Unterstützung des Unterhauses besaß.

I I I . Die Nachfolge eines ausscheidenden konservativen Premierministers Die über lange Zeit hinweg bedeutendste Möglichkeit für den Einsatz der Reservemacht bot sich dem Monarchen, wenn die regierungsberechtigte Partei über keinen unumstrittenen Leader verfügte. Unter diesen Umständen konnte die königliche Prärogative zur Ernennung des Premierministers ihre volle Kraft entfalten. Die i m Zweiparteiensystem wirkende, die königliche Prärogative funktionalisierende Bestellungsautomatik war hier ausgeschaltet. Die umrissene Situation konnte jedoch nur bei den Liberalen und der Konservativen Partei eintreten, da bei ihnen die Bestimmung des Parteiführers nicht durch Wahlen erfolgte 1 . Die Erörterung des von der Liberalen Partei angewandten Verfahrens zur Bestellung des Party Leaders kann hier unterbleiben, weil es unter den gegenwärtigen politischen Kräfteverhältnissen ausgeschlossen ist, daß die Liberalen i n absehbarer Zeit den Premierminister stellen. Bis zur Reform des Bestellungsverfahrens i m Jahre 1965 kannten die Konservativen keine verbindliche Prozedur zur Bestellung ihres Leaders. Seit der Regierungszeit Neville Chamberlains 2 stand zwar ein Wählergremium zur Verfügung, das sich aus den konservativen Unterhausabgeordneten, den konservativen Lords, den bereits nominierten Parlamentskandidaten, sowie dem Vorstand der National Union zusammensetzte, doch erfüllte es tatsächlich eher die Aufgabe, einen vom Monarchen bereits ernannten Premierminister als Parteiführer zu bestätigen 3 , da bis zur Reform von 1965 die Konservative Partei ihren Leader nicht vor dessen Einsetzung als Premierminister bestimmte 4 . Dem einmal 1 Vgl. Ausführungen oben u n d McKenzie, R. T. (II), S. 335 ff.: der LabourLeader wurde bereits von Anfang an i m formellen Verfahren gewählt. 2 Als etwa seit 1937, so Dagtoglou, P., S. 93. 3 So McKenzie, R. T., B r i t i s h Political Parties, 2. Auflage London 1963, S. 21 ff., insbes. S. 34 f., S. 51 ff. 4 Befand sich die Partei i n Opposition, so w u r d e n zwar i m U n t e r - u n d Oberhaus parlamentarische Führer gewählt, die Parteiführerstellung blieb aber bis zur Regierungsübernahme durch die Partei unbesetzt, erst der neuernannte Premier erhielt dann die A k k l a m a t i o n auch als Parteiführer. So w a r die Konservative Partei seit dem Tode Disraelis 1881 bis zur Ernennung L o r d Salisburys zum Premierminister 1885 ohne Parteiführer — McKenzie, R. T. (II), S. 27 A n m . 1.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s 1 8 5

zum Premierminister ernannten Konservativen stand gleichzeitig ein Anwartschaftsrecht auf die Parteiführung zu 5 . Es sind drei Situationen denkbar, i n denen der königlichen Prärogative die Möglichkeit gegeben war, ihren Ermessensspielraum zu erweitern: Erkämpfte die Konservative Partei einen Wahlsieg ohne einen anerkannten Leader, so konnte der Monarch nach seinem freien, nur am Ziel einer schleunigen Regierungsbildung ausgerichteten Ermessen einen Premierminister ernennen. Das Gleiche galt, wenn die i n Opposition stehende Konservative Partei infolge des Rücktritts oder des parlamentarischen Kabinettssturzes an die Regierung gelangte, ohne einen unumstrittenen Führer zu haben. Beide Situationen sind und waren bereits seit der 2. Reformakte m i t der Entwicklung zum Zweiparteiensystem kaum realisierbar. Denn ein zum großen Teil auf Grund personalplebiszitärer Argumente geführter Wahlkampf und der anschließende Wahlsieg beinhalten die faktische Designation eines unumstrittenen Führers, und die i m Zweiparteiensystem notwendige Parteidisziplin hindert i n Verbindung m i t aus dem Gedanken der Volkssouveränität fließenden Verfassungsregeln die unmittelbar ohne Neuwahlen vorgenommene Auswechslung der regierungsberechtigten Parteien. Eine große Bedeutung hatten bis zum Jahre 1965 hingegen diejenigen Fälle erlangt, i n denen ein konservativer Premierminister, ohne durch eine Parlaments- oder Wahlniederlage gezwungen zu sein, während der Legislaturperiode zurückgetreten war. Diese Konstellation war geeignet, der Konservativen Partei erhebliche Schwierigkeiten zu bereiten: Die Konventionairegel verlangt vom Monarchen die Ernennung eines unumstrittenen Führers. Mangels einer formalisierten K ü r und infolge des stets vorhandenen Zeitdrucks 8 war es Aufgabe des Monarchen, diesen unangefochtenen Leader zu ermitteln. Während die Parteistatuten der Labour Party ausdrücklich die formelle Wahl eines stellvertretenden, zur Nachfolge berechtigten Parteiführers vorsehen 7 , wurde ein deputy-leader der Konservativen Partei zum ersten Male erst 1965 vom Parteiführer Heath ernannt. Die englische Verfassung kennt auch nicht das A m t eines nachfolgeberechtigten Vizepremiers 8 . Demgegenüber haben beide große Parteien 5 Vgl. McKenzie, R. T. (II), S. 51, fast sämtliche konservativen Premierminister dieses Jahrhunderts w u r d e n zunächst v o m Monarchen ernannt u n d erst dann zum Parteiführer gewählt — m i t Ausnahme von Bonar L a w , wo das umgekehrte Verfahren eingeschlagen wurde — vgl. Loewenstein , Κ . (IV), S.1094. 6 „The Queen's Government must be carried on." (Wellington.) 7 Vgl. McKenzie, R. T. (I), S. 335 if. 8 Jennings, W. (I), S. 27.

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bei verschiedenen Gelegenheiten bereits Vizepremiers ernannt 9 , ohne allerdings die Übung bis i n die Gegenwart fortzusetzen 10 . Es w i r d nun deutlich, daß bis i n die jüngste Vergangenheit die königliche Prärogative i m Rahmen der Reservemacht nicht nur parlamentarisch-politische, sondern auch unmittelbar parteiintern-politische Wirkungen entfalten mußte — was die Königin 1963/64 fast i n einen, über die Ernennung Lord Homes ausgebrochenen, Verfassungsstreit hineingezogen hätte. Das Korrelat der parteiinternen Ausstrahlung königlichen Handelns bildete dann die unmittelbare Verfassungserheblichkeit der Parteistatuten. Die von ihnen vorgesehenen Verfahrensmodi zur Bestellung des Party-Leaders entscheiden — weil grundsätzlich dem Parteiführer die Premierswürde zufällt — über das ,Ob' und das ,Wie' des königlichen Ermessensgebrauchs. U m die erheblichen Veränderungen herauszuarbeiten, welche der dem Monarchen verbliebenen, diskretionäre Spielraum durch die von der Konservativen Partei 1965 vorgenommenen Reform des Bestellungsverfahrens erfahren mußte, w i r d nun an Hand von Präzedenzfällen, von Fall-Situation, versucht, über die Beteiligung des monarchischen Staatsoberhaupts an der Auswahl des Nachfolgers eines während der Legislaturperiode ausscheidenden konservativen Premiers allgemein gültige Aussagen zu treffen. 1. Beispiele der Verfassungspraxis — Fallstudien

I n der seit der Jahrhundertwende verflossenen Zeit, welche den Konservativen insgesamt eine sehr ausgedehnte Regierungsdauer bescherte 11 , haben sich mehrere Konstellationen ergeben, i n denen der Monarch theoretisch hätte Gebrauch von seiner Prärogative machen können 12 . Es sollen hier jedoch nur die Fälle erörtert werden, i n denen der Monarch anscheinend tatsächlich seine Reservemacht i n unterschiedlicher Weise reaktiviert hatte: die Berufung Churchills, der Wechsel Eden-MacMillan und schließlich vor allem das ungewöhnliche und heftig umstrittene Avancement Lord Homes zum Premierminister nach dem Rücktritt MacMillans i m Jahre 1963, das auch zum Anlaß der Reform von 1965 wurde. 9

Vgl. dazu die Beispiele bei Loewenstein , Κ . (IV), S. 1095. Die Unterbrechung dieser Gepflogenheit geschah auf Wunsch K ö n i g i n Elizabeth II., welche eine weitgehende Präjuzierung ihres Prärogativermessens befürchtete. 11 Loewenstein , Κ . (IV), S. 1094 weist darauf hin, daß i n den letzten 44 Jahren — von 1967 zurückdatiert — die Konservative Partei i m m e r h i n eine doppelt so lange Regierungszeit als sämtliche übrigen Parteien oder Koalitionen aufweisen konnte. 12 Es waren dies: der Wechsel zu Bonar L a w 1922, vgl. Loewenstein , Κ . (IV), S.1094. 10

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s

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Die Ernennung Bonar Laws (1922) fügt sich nicht i n die Reihe der einen Einsatz der königlichen Reservemacht beinhaltenden Präzedenzfälle. Er bildet i m Gegenteil den einzigen Fall, i n dem das königliche Prärogativermessen durch Parteibeschluß von vornherein eingeschränkt wurde und ist somit eigentlicher Vorläufer der Reform von 1965. Auf Grund seiner vorbildhaften Bedeutung für die über 40 Jahre später rationalisierte Bestellungsweise soll er i n der Reihe der historisch geordneten Präzedenzfälle einen Platz finden. a) Die Ernennung Bonar Laws zum Premierminister

(1922)

Die Ursache für die Bildung der konservativen Regierung Bonar L a w 1 3 war die Auflösung der 1916 geschlossenen, aus Konservativen, Liberalen und wenigen Labour-Abgeordneten bestehenden und von Lloyd George geführten Kriegskoalition. Die 1918 veranstalteten Generalwahlen hatten zwar die Regierungskoalition i m Amte bestätigt 14 , doch waren es außenpolitische Schwierigkeiten, insbesondere die von Lloyd George betriebene Griechenland-Politik 15 , die zu großer Unzufriedenheit unter den der Konservativen Partei angehörenden Parlamentariern führten. Die für ihn gefährliche Stimmung erkennend, setzte Lloyd George den König davon i n Kenntnis, daß unter Umständen eine unverzügliche Auflösung des Parlaments notwendig werden würde. Die am 16. Oktober erfolgte weitere Warnung veranlaßte Georg V., seiner Hoffnung auf ein Weiterbestehen der Koalition und der Fortsetzung der Amtsführung von L l o y d George Ausdruck zu verleihen 18 . A m 19. Oktober 1922 versammelte sich die konservative Parlamentspartei i m Carlton-Club 1 7 und beschloß nach heftigen Angriffen auf L l o y d George und Austin Chamberlain 18 , auf Antrag Bonar Laws, m i t einem Stimmenverhältnis von 187 zu 87, als eigenständige Partei die Koalition zu verlassen und einen gesonderten Wahlkampf zu führen 19 . Dies bedeutete das Ende der Koalition. Noch am gleichen Tage reichte Lloyd George i m Buckingham Palace seinen Rücktritt ein 20 . Der i m Carlton Club eingeleitete Angriff auf Premier und Parteivorstand hatte Bonar Law plötzlich, wenn auch nicht zum offiziellen, so doch zum tat13

Vgl. die v o n Jennings , W. I., S. 526, angegebene Bibliographie. Es entfielen auf die Konservativen 334, die Liberalen 136, Labour 13, die sich gegen eine Opposition v o n 50 Konservativen, 29 Liberalen unter F ü h rung A s q u i t h u n d die Masse der Arbeiter m i t 59 Sitzen behaupten mußten. 15 Siehe Nicolson , H. (II), S. 396 ff., 403. 16 Siehe Nicolson, H. (II), S. 403 f., w o auf Fundstellen i n den königlichen Archiven verwiesen w i r d , so auf R A K 1814,3; R A K 1814,4. 17 I m Carlton-House treffen sich die konservativen backbench-Parlamentarier unter Ausschluß der Kabinetts- bzw. Schattenkabinettsmitglieder. 18 Den Leader der konservativen Unterhauspartei. 19 Eine Schilderung des genaueren Verlaufs findet sich bei McKenzie, R. T. (II), S. 35. 20 Vgl. McKenzie, R. T. (II), S. 35. 14

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sächlichen Party-Leader werden lassen 21 . Chamberlain hatte, weil er sich gegen die Aufkündigung der Koalition gewandt hatte, seinen Einfluß verspielt und trat von seinen Parteiämtern zurück 22 . Der König sandte daraufhin — insoweit die überkommene Verfassungsregel, daß der unumstrittene Parteiführer als Premierminister zu berufen ist, befolgend — seinen Privatsekretär (Lord Stamfordham) zu Bonar Law, u m die mögliche Übernahme des Premieramtes zu erkunden 23 . Dieser machte nun von einem i n der Konservativen Partei neuartigen Argument Gebrauch und erklärte, er könne das A m t des Premiers nicht annehmen, da er nicht mehr offizieller Party Leader sei. Die Wahl zum Parteiführer bedeute für i h n die „conditio sine qua non" für das A m t des Prime Ministers. Lord Stamfordham entgegnete, daß nur eine sehr beschleunigte Regierungsbildung und anschließende Parlamentswahlen eine Hoffnung auf die Ratifizierung der irischen Verträge ließen 24 . A m 23. Oktober wurde dann Bonar L a w i m Carlton House erneut zum Party Leader gewählt 2 5 und unmittelbar darauf vom König i m Buckingham Palast zum neuen Premierminister ernannt 26 . Die Wahl Bonar Laws bedeutete die zeitliche Umkehrung der bisher i n der konservativen Partei üblichen Reihenfolge. Es war das erste Mal i n der konservativen Partei des 20. Jahrhunderts (und bis 1965 auch das letzte Mal), daß das A m t des Parteiführers einer Persönlichkeit ohne deren vorherige Ernennung zum Prime Minister übertragen worden war. Die sich früher als bloßer, die Prärogativentscheidung des Monarchen i n die parteiinterne Sphäre transformierende Bestellung des Leaders hatte damit materiellen Inhalt und allgemein die Macht angenommen, den Ermessensgebrauch des Königs zu präjudizieren. Daß die Determinierung der Prärogative i m Falle Bonar Laws nicht wirksam zu werden brauchte, liegt an der hier feststellbaren Übereinstimmung von Prärogativentscheidung und Parteiwillen. Konstruiert 21 Mr. Bonar L a w hatte aus Gesundheitsgründen i m März 1921 sowohl die Stellung eines „Leaders of the House" — etwa dem Fraktionsvorsitzenden der Regierungspartei i m Bundestag vergleichbar — als die eines Fraktionsvorsitzenden i m Unterhaus aufgegeben. A u s t i n Chamberlain wurde v o n L l o y d George daraufhin zum Leader of the House ernannt u n d die W a h l zum Leader i m Unterhaus Schloß sich i n automatischer Folge an. Siehe hierzu McKenzie (II), S. 33 f. 22 Loewenstein , Κ . (IV), S. 1097. 23 Die Vorgänge sind v o n Jennings, W. I. (I), S. 44, geschildert. 24 So Nicolson, H. (II), S. 404. 25 Z u m ersten Male w a r e n i m Carlton Club nicht n u r die konservativen Lords u n d die konservativen Unterhausabgeordneten, sondern auch die bereits nominierten Wahlkreiskandidaten der Partei versammelt, u m den neuen Leader zu wählen. Es w a r e n daher anwesend: 152 Lords, 220 Unterhausabgeordnete, 67 Kandidaten. Siehe dazu Smelile, Κ . Β., A Hundred Years of English Government, London 1950, S. 232. 28 Vgl. dazu Blake, Robert, The U n k n o w n Prime Minister, London 1955, S. 459 ff.; u n d Nicolson, Η . (II), S. 404.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s

man den Fall, daß der Monarch Bonar L a w m i t der Regierungsbildung beauftragt hätte, obwohl dieser nicht zum Parteiführer gewählt worden war, so ist immerhin fraglich, ob der eindeutig artikulierte Parteiwille sich dem „Segen" der Prärogative gebeugt hätte. Auf jeden Fall bliebe festzuhalten, daß i n einer solchen Situation der König sich einem Vorw u r f parteilichen Verhaltens m i t allen Konsequenzen für seine persönliche Stellung und die Verankerung der Monarchie ausgesetzt hätte. b) Die Berufung Churchills (1940) Der Wechsel von Chamberlain zu Churchill i m Jahre 1940 ist aus mehreren Gründen ungewöhnlich. Einmal dadurch, daß Chamberlain durch eine i n seiner eigenen Partei ausgebrochenen Revolte, die sich sogar i n einer öffentlichen Unterhausabstimmung niederschlug, zum Rücktritt gezwungen wurde. Für die Untersuchung der Beteiligung des Monarchen an der Amtseinsetzung Churchills noch bedeutsamer ist, daß i n diesem Falle ein konservativer Politiker zum Premierminister berufen wurde, ohne daß die üblicherweise automatische Wahl zum Parteiführer erfolgt wäre. Der Gang der Ereignisse war folgender: Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges führte Chamberlain zunächst — bei Tolerierung durch die anderen Parteien — sein konservatives Kabinett weiter, i n das inzwischen auch Churchill und Eden als die Hauptgegner der früheren Beschwichtigungspolitik aufgenommen worden waren. Doch i m Gefolge des Scheiterns der britischen Expedition i n Norwegen und des Einfalls deutscher Truppen i n den Niederlanden und Frankreich beschloß die Labour-Party, der Regierung Chamberlain ihre Unterstützung zu entziehen und i m Unterhaus einen Mißtrauensantrag einzubringen. Chamberlain blieb zwar Abstimmungssieger, doch schrumpfte seine Mehrheit von nominell 200 Stimmen auf 81; 3 konservativen Abgeordnete stimmten gegen die Regierung und 60 übten Enthaltung 2 7 . Chamberlain gewann jetzt die Überzeugung, daß nur ein National Government i n der Lage war, den innen- und außenpolitischen Anforderungen zu begegnen. Als seine Hoffnungen, Labour wäre unter seiner Führung dazu bereit, geschwunden waren, brachte er Lord Halifax ins, Gespräch 28 . Die Würfel fielen am 10. Mai, als i n einer Zusammenkunft zwischen Chamberlain, Churchill und Halifax letzterer erklärte, daß es i h m seine Oberhausmitgliedschaft sehr schwer mache, den Premierminister-Aufgaben i n einem solchen Existenzkampf nachzukommen 29 . Damit war 27

Vgl. McKenzie, R. T. (II), S. 48. McKenzie, R. T. (II), S. 48. 29 So Churchill, S. W., The Second W o r l d War, London 1940 - 1954 GBD, Vol. I S. 523 ff. 28

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ausgesprochen, daß nur Churchill als Premierminister i n Frage kam. Denn nur i h m konnte es gelingen, die Labour Party zur Mitarbeit zu bewegen 30 . Noch am gleichen Tage erfolgte die Ernennung Churchills zum Premierminister. Da zwischen Churchill und Chamberlain die schriftliche Vereinbarung getroffen war, daß letzterer Parteiführer bleiben sollte 31 , Schloß die Ernennung Churchills die Besonderheit i n sich, daß die der Einsetzung zum Premierminister automatisch folgende Wahl zum Parteiführer jetzt nicht stattfand. Churchill stand somit, zunächst ohne Parteiführer zu sein, i m Kabinett den Vorsitzenden der anderen Parteien gegenüber. Die Lage wurde jedoch dadurch erleichtert, daß der Partei Vorsitzende Chamberlain gleichfalls Mitglied des Kabinetts war und überdies bis zu seinem gesundheitsbedingten Rücktritt von Partei- und Ministeramt 3 2 dem Premierminister m i t unbedingter Loyalität zur Seite stand 33 . Versucht man nun, sich über die Frage schlüssig zu werden, ob der König tatsächlich von seinem Auswahlrecht Gebrauch gemacht hatte, so gilt es, sich der Lage der Konservativen Partei, der Schwierigkeit einer Koalitionsbildung angesichts der m i t dem National Government von 1931 gemachten Erfahrungen, und nicht zuletzt auch der Situation des nationalen Notstands bewußt zu werden. Die übrigen Parteien machten, wie gezeigt, ihre Mitarbeit von der Premierschaft Churchills abhängig. Die Konservative Partei verfügte außer Lord Halifax und dem zurückgetretenen Chamberlain über keine hervorragende Führerpersönlichkeit. Churchill war zwar kein Parteiführer, doch hatte er bereits i m Winter 1939/40 seine persönlichen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen vermocht 34 . Hinzu kam die ebenfalls erwähnte Unterstützung durch den Party Leader Chamberlain. I n Abwägung dieser Argumente kann Loewenstein 35 nicht gefolgt werden, der meint, daß der Monarch hier eine wirkliche Wahl gehabt habe. I m Gegenteil, die nicht unbekannte Vorliebe des Königs für Lord Halifax 3 6 läßt es als unwahrscheinlich erscheinen, daß der König tatsächlich sein Ermessen einsetzte. Der König ernannte, übrigens auf 80 Die Labour Party hatte auch eine Zusammenarbeit m i t L o r d H a l i f a x ausdrücklich von sich gewiesen. Vgl. dazu The Report of the 43d A n n u a l Conference of the Labour Party, Jennings , W. (I), S. 531. 81 McKenzie, R. T. (II), S. 48. 82 A m 30. September, vgl. The Times v o m 4.10.1940. 88 E i n Zeugnis dieser Einstellung legen die von Chamberlain vorgenommenen Tagebucheintragungen ab, die teilweise bei McKenzie, R. T. (II), S. 49, w i e dergegeben sind. 84 Vgl. McKenzie, R. T. (II), S. 47. 85 Loewenstein , Κ . (IV), S. 1099. 86 Loewenstein , Κ . (IV), S. 1098 f.

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augenscheinlichen Rat Chamberlains 37 , Churchill deshalb, weil dieser i n der Lage war, eine Regierung auf breitester Grundlage zu bilden und der Unterstützung seiner eigenen Partei insgesamt sicher sein konnte 3 8 . Zudem schien Churchill über die persönlichen Eigenschaften zur Ausübung des Premieramtes i n dieser Situation zu verfügen, wobei Lord Halifax — einer alten Verfassungsregel entsprechend — als OberhausMitglied von der Premierstellung ausgeschlossen war. Die Ernennung Churchills bedeutete demnach das Ergebnis einer interparteilichen Abmachung, wobei der Hauptkonkurrent, Lord Halifax, aus verfassungsmäßigen Gründen ausscheiden mußte. Der König hatte bei der Berufung Churchills die einschlägigen und w i r k samen Verfassungsregeln genau beachtet; ein Gebrauch des Auswahlermessens ist nicht nachweisbar. c) Die Nachfolge Edens (1957) Die Nachfolge Edens geriet i n das aktuelle Stadium, als sich der wegen seiner i m Oktober/November 1956 betriebenen Nahost-Politik (Suez) sogar i n der eigenen Partei angegriffene Premierminister i m Januar 1957 einer risikoreichen Operation unterziehen mußte und u m seine Entlassung bat. Gefährliche Sturmzeichen zeigten sich bereits i m Dezember 1956, als das Unterhaus zwar m i t 320 gegen 257 Stimmen einen Mißtrauensantrag der Opposition zurückgewiesen hatte, aber das Abstimmunsgergebnis tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Regierungspartei vermuten ließ 39 . Infolge des Ausscheidens des bisherigen Amtsinhabers und die dadurch eingetretene „emergency — Situation" lag die Initiative, für eine schleunige Besetzung des Premieramtes zu sorgen, beim Monarchen. Ein geeigneter Nachfolger schien zunächst nicht vorhanden zu sein, was den Ermessensspielraum der Königin erweitert hätte 40 . Insbesondere war die Partei zunächst um einen Kandidaten verlegen, der beide wichtige Leader-Qualitäten, sowohl die Fähigkeit zur Integration der Gesamtpartei, als auch die notwendige Popularität i n seiner Person vereinte 41 . Eine Ausnahme bildete nur Richard Austin Butler, Lordsiegelbewahrer des Kabinetts Eden und 37

So Jennings , W. (I), S. 531. Dafür sorgte Chamberlain, dem es gelungen war, schwankende Parlamentsmitglieder f ü r die K o a l i t i o n zu gewinnen. Vgl. dazu Feiling, K , The Life of Neville Chamberlain, London 1946, S. 444. 39 Die Konservativen verfügten eigentlich über 345 Sitze, so Loewenstein, K., Staatsrecht, Staatspraxis v o n Großbritannien A n h a n g B, Berlin— Heidelberg 1967, S. 548. Die näheren Umstände sind geschildert bei Randolph Churchill, „The rise and f a l l of Sir A n t h o n y Eden", London 1959, S. 274 f. 40 Loewenstein , Κ . (IV), S. 1099, Mackintosh, John, The B r i t i s h Cabinet, London 1962, S. 522. 41 So Gespräch m i t M r . Milne v o m Conservative Central Office. 38

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gleichzeitig „Leader of the House" 42 . Butler, der zum „linken" Flügel der Tory-Partei zählte und vorher als Wissenschaftler tätig war, erwarb sich große Verdienste u m seine Partei, als er i n der Labour-Regierungszeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs daran ging, die konservative Jugendorganisation auszubauen und gleichzeitig seiner Partei als „Chefideologe" diente 43 . I n den Wochen der Eden-Krise war Butler als der eigentliche Nachfolger des Premierministers betrachtet worden. Die innerparteiliche Stimmung ergab jedoch ein anderes Bild: Unmittelbar nach dem Rücktritt Edens teilten etwa 100 konservative Abgeordnete ihrem Fraktionsgeschäftsführer mit, daß sie Butler i m Falle seiner Berufung ihre parlamentarische Unterstützung versagen müßten 44 . Der Grund für die Schwächung der ursprünglich großen Popularität Butlers i n den Reihen der Parlamentarier waren die unpopulären Maßnahmen der Suez-Politik, die Butler seinerzeit als amtierender Kabinettschef, getreu den Prinzipien der „collective responsibility" 4 5 , zu treffen und zu verteidigen gezwungen war. Der zweite, noch i m Hintergrund stehende Außenseiter, der frühere Außen-, dann Verteidigungsund zur Zeit des Rücktritts von Eden Wirtschafts- und Finanzminister i m Kabinett Eden, MacMillan, hatte zwar die Suez-Aktion zunächst voll unterstützt, u m aber später i m Unterschied zu Butler, dem Premierminister Eden seine weitere Unterstützung zu versagen. Aus verschiedenen Gründen waren i h m jedoch daraus keine Vorwürfe von der Seite des rechten Parteiflügels gemacht worden 4 6 . Dies war die Situation, die nun durch Elisabeth II. m i t der Ernennung eines Premierministers geklärt werden mußte. U m sicherzustellen, daß m i t der Berufung eines neuen Regierungschefs auch der herrschende Wille der Partei vollzogen, die Königin also nur eine von der Partei getroffene Entscheidung antizipieren würde, wurde ein mehrstufiges Konsultationsverfahren eingeleitet 47 . Zunächst einigte man sich auf drei Persönlichkeiten, welche die Stimmung der konservativen Mandatsträger i n den drei Hauptzentren 42 Z u m Begriff des „Leader of the House" vgl. oben, 1. Hauptteil, 1. K a p i tel, 2. Abschnitt, I I . 43 Z u m Werdegang u n d der politischen Persönlichkeit Butlers vgl. Sampson, Anthony, The A n a t o m y of Britain, London 1962, S. 84 ff. 44 Siehe Sampson, Α., S. 86. 45 Kollektiwerantwortung. 46 Z u r allgemeinen Darstellung der politischen Entwicklung MacMillans u n d seiner sozialen Herkunft, sowie seinem persönlichen Führungsstil als späterer Premierminister vgl. Sampson, Α., S. 322 f. 47 Näheres zum Problem des v o m britischen Monarchen durchgeführten Konsultationsverfahrens vgl. Loewenstein, Κ . (IV), S. 1113 ff., u n d Dagtoglou, P., S. 98 f.; grundsätzlich vor allem Schmitt, Carl, Der Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtliches Problem, i n : Verfassungsrechtliche Aufsätze 1958, S. 430 ff.; derselbe: Gespräche über Macht u n d Z u gang zum Machthaber, Pfullingen 1954.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen Aus Wahlrechts

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englischen politischen Lebens erfassen sollten: der Lordkanzler Lord K i l m u i r , versuchte die Meinung des Kabinetts, Ted Heath als Fraktionsgeschäftsführer diejenige der konservativen Unterhausabgeordneten zu ergründen; Lord Salisbury schließlich befragte die der konservativen Partei angehörenden Lords 48 . Lord Salisbury war dazu ausersehen, das Gesamtergebnis der Meinungsumfrage der Königin vorzutragen und somit als „intermediate" zu fungieren 49 . I n seiner Eigenschaft als erfahrener, aber aus dem politischen Leben zurückgezogener Staatsmann wurde überdies noch Winston Churchill von der jungen Monarchin als Berater konsultiert. Als Ergebnis konnte der überwiegende Wunsch der Befragten festgestellt werden, MacMillan an der Spitze der Regierung zu sehen. Churchill und Lord Salisbury verblieb daher nur noch die Aufgabe, der Königin einen diesem Wunsche entsprechenden Rat zu erteilen, der auch befolgt wurde 5 0 . Der britische Monarch hatte auch diesmal von seinem i m Rahmen der Reservemacht freien Auswahlermessen keinen materiellen Gebrauch gemacht. MacMillan konnte zwar beim Premierministerwechsel 1957 nicht durch ein formelles Wahlverfahren als anerkannter Leader ermittelt werden, doch war m i t Hilfe des Meinungsforschungsverfahrens sichergestellt worden, daß tatsächlich die Entscheidung den maßgeblichen Parteikreisen verblieb, die das Ergebnis dem Monarchen übermittelten und dieser die unter dem Ausschluß der Öffentlichkeit gefällte Parteientscheidung i m Wege des Vollzugs öffentlich sanktionierte. Dabei stand ein Ermessensspielraum der Königin formal zu: tatsächlich handelte es sich um eine Ermessensbindung 51 . d) Der Übergang des Premieramtes auf Lord Home (1963) Den letzten Präzedenzfall i n dieser Reihe bildete der Wechsel i m Amte des Premierministers von MacMillan zu Lord Home i m Oktober 1963. Der aus Anlaß der Ernennung Lord Homes und des zu dieser Berufung führenden Verfahrens entbrannte Verfassungsstreit und die rege Anteilnahme von Presse und Öffentlichkeit bildeten die Ursache für die wenig später i n der Partei einsetzenden Reformarbeiten am Bestellungsverfahren des Leaders, die m i t der neuen Wahlordnung 1965 ihren Ab48

So Gespräch m i t M r . M i l n e ; auch Sampson, Α., S. 326 f. Übersetzung: „ V e r m i t t l e r . " 50 Loewenstein , Κ . (IV), S. 1100. 51 Stellt m a n die Frage nach dem pathologischen F a l l : die K ö n i g i n ernennt etwa einen anderen Kandidaten als den v o n der Partei vorgeschlagenen, so hätte die Monarchin zwar rechtmäßig i m Sinne des Common L a w , w o h l aber verfassungswidrig i m Sinne der konventionalen Einschränkungen der monarchischen Prärogative gehandelt. Sie hätte ihre Neutralitätspflicht verletzt u n d damit eine Gefährdung der Monarchie herbeigeführt. 49

13 Lippert

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schluß fanden. Lord Homes unerwartete Ernennung stellte gleichzeitig den Höhepunkt der wenigen verfassungspolitischen Konstellationen dar, i n denen sich das königliche Auswahlrecht wenigstens nach außen m i t materiellem Inhalt zu füllen schien. Darüber hinaus sind bei dem 1963 vorgenommenen Führungswechsel einige interessante Abweichungen von vorangegangenen Präzedenzfällen festzustellen. Sie erscheinen teilweise als Ansätze einer Reaktivierung vergangener Verfassungszustände, z.T. aber auch als Keime möglicher Neubildungen. Die Reform von 1965 bereitete beiden Entwicklungsmöglichkeiten ein Ende und entsprach m i t dem neuen Bestellungsverfahren den demokratischen Forderungen unserer Zeit. Angesichts der Vielzahl nicht nur der verschiedenen verfassungsrechtlichen Stellungnahmen, sondern auch der sich zum Teil widersprechenden Darstellungen des Ablaufs der Ereignisse ist, u m die Frage nach dem Zusammenhang von parteiinterner Willensbildung und königlichen Auswahlermessens beantworten zu können, eine sich i n zwei Stufen entfaltende Betrachtung angebracht. Zunächst ist der tatsächliche Ablauf zu ergründen und erst dann i n die rechtliche Würdigung des Sachverhaltes einzutreten. Den Ausgangspunkt für die Schilderung der Ablösung MacMillans, des erfolgreichen Wahlsiegers von 1959, bildet die Abstimmung, die i m Unterhaus am 17.6.1963 über einen i m Zusammenhang m i t der Profumo-Affäre gestellten oppositionellen Mißtrauensantrag stattfand. Zwar behielt die Regierung m i t 69 Stimmen die Oberhand, doch ließ die Stimmenthaltung von 27 konservativen Abgeordneten einen baldigen Rücktritt des Premierministers erwarten 5 2 . Die i m Herbst 1964 anstehenden Generalwahlen und die ProfumoAffäre bildeten hierfür die zeitlichen Schranken. Der Rücktritt dürfte sich zwar nicht als unmittelbare Folge der Kabinettskrise um den ehemaligen Verteidigungsminister darstellen, doch zwang der Wahltermin die Konservative Partei, einem Nachfolger eine genügend langç Amtszeit zur Einarbeitung zu gewährleisten 53 . A m 9. Oktober 1963, dem Vorabend des Beginns der Jahreskonferenz der Konservativen Partei, verkündete MacMillan seinen Entschluß, i m Hinblick auf seine angegriffene Gesundheit und eine bevorstehende, risikoreiche Operation zurückzutreten, sobald der übliche Konsultationsprozeß die Partei hinter einem unangefochtenen Nachfolger geeint hätte 54 . Von einer solchen Einigung war die Konservative Partei zu diesem Zeitpunkt weit entfernt. Während i n der überwiegenden Zahl der Fälle auch beim nicht durch Wahl- oder parlamentarische Abstimmungsnie52

Die Angaben stammen aus Loewenstein , Κ . (IV), S. 1101. Eine Schilderung der Profumo-Affäre findet sich bei Bromhead, B r i t i s h Constitution i n 1963, i n Parliamentary Affairs 1964, S. 148. 54 Bromhead, P. (I), S. 147. 53

Peter,

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s 1 9 5

derlage veranlaßten Rücktritt eines konservativen Premiers die Nachfolgefrage bereits i n eindeutiger Weise gelöst war (auch bei der A b lösung Edens 1957 kamen nur zwei Kandidaten i n Frage), wurden 1963 sechs mögliche Premierminister genannt 55 . Butler und Quintin Hogg waren die beiden Hauptbewerber und zugleich Exponenten des liberalen und des „rechten" Parteiflügels. Mr. Butler schien, als der langjährige, faktisch stellvertretende Prime Minister, zunächst die größten Aussichten auf die Nachfolge zu besitzen. Doch stellte sich i h m der rechte Flügel unter der Führung Quintin Hoggs entgegen, der Butler i n vielen Fragen eine zu liberale Politik vorwarf. Zum Zwecke eines eindeutigen Ergebnisses wurde nun ein grundlegendes Befragungsverfahren eingeleitet, das die wesentlichen Gruppierungen der Gesamtpartei erfassen sollte. A m 14. Oktober stellte Butler i n Vertretung des erkrankten Premierministers dem Kabinett ein von MacMillan ausgearbeitetes Memorandum zur Diskussion, das die Konsultationsmodalitäten festlegte. Das vom Kabinett ohne Widerspruch gebilligte Verfahren sah vor, daß der Lordkanzler (Lord Dilhorne) die Meinung des Kabinetts einholen und der parlamentarische Geschäftsführer der konservativen Unterhausfraktion (Martin Redmayne) die konservativen Abgeordneten, die Lords sowie rund 150 Repräsentanten der lokalen Parteiorganisation befragen sollten 56 . Eine weitere Besonderheit des 1963 angewandten Verfahrens lag darin, daß die Befragten erste und zweite Präferenzen bilden und überdies diejenige personelle Alternative nennen sollten, der sie nicht zu folgen gewillt waren. Die Befragungen wurden vertraulich durchgeführt 57 , und die Ergebnisse lagen — allerdings ohne veröffentlicht zu werden — am 16. Oktober vor 5 8 . Dementsprechend wurde MacMillan am 17. Oktober i m Krankenhaus sowohl vom geringfügigen Vorsprung Lord Homes bei den Erstpräferenzen und seiner starken Überlegenheit i n den Zweitpräferenzen als auch davon informiert, daß sich die wenigsten der Befragten einer Premierschaft Lord Homes widersetzen würden. Als die Königin i n Begleitung ihres Privatsekretärs am 18. Oktober gegen 11.30 Uhr dem Premierminister i m Krankenhaus einen Besuch abstattete, verlas dieser 56

Dies waren Butler, Q u i n t i n Hogg, Reginald Maudling, Enoch Powell, Jan Macleod u n d schließlich L o r d Home, so Gespräch m i t M r . Milne. 5e Loewenstein , Κ . (IV), S. 1102. 57 Meistens telefonisch — w i e Bromhead, P. (I), S. 147, zu berichten weiß. 58 Das Resultat wurde, nachdem L o r d Home zum Premierminister ernannt war, der Presse übergeben u n d v o m Fraktionsgeschäftsführer i n einem Fernseh-Interview erläutert. Zahlenangaben w u r d e n dabei jedoch nicht gemacht. 1·

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ein Memorandum, i n welchem das Ergebnis des innerparteilichen Konsultationsprozesses niedergelegt und erläutert war. Allgemein w i r d angenommen, daß MacMillan i m Anschluß daran der Königin den Rat erteilte, Lord Home zu seinem Nachfolger zu ernennen 59 . Denn bereits u m 12.46 Uhr gab der Buckingham Palast bekannt, daß die Königin Lord Home m i t der Regierungsbildung beauftragt habe. Dabei ist beachtlich, aaß Lord Home die Ernennung nicht — wie ansonsten üblich — sofort annahm, sondern den gesamten restlichen Tag sowie den darauffolgenden 19. Oktober i n Unterredungen mit Ministern und Abgeordneten zu klären bemüht war, ob er auch i n seiner Fraktion die notwendige parlamentarische Unterstützung werde finden können. Erst als dies feststand 60 , fuhr Lord Home i n den königlichen Palast, „to kiss hands upon his appointment" 6 1 . Interessant war der Vorgang aber noch aus einem zusätzlichen, formalen Gesichtspunkt: Die für den zu Ernennenden bestehende Notwendigkeit, sich der Unterstützung seiner Fraktion zu versichern, hatte den gewöhnlich zu einer — nach außen — einzigen Phase zusammengeschmolzenen Ablauf wieder i n seine i n der Vergangenheit und — wie das Beispiel der Ernennung L o r d Homes bezeugt — i n Zweifelsfällen sichtbar werdenden Einzelbestandteile zerfallen lassen. Der eigentliche Ernennungsakt gliedert sich demnach i n vier Phasen: a) Der Monarch bittet den aussichtsreichsten Mehrheitskandidaten zu sich und beauftragt i h n m i t der Regierungsbildung. b) Der Kandidat prüft seinen Rückhalt i n Partei und Koalition. c) Findet er keine Unterstützung, so legt er den Auftrag i n die Hände des Königs zurück. d) Kann er das Prädikat eines unangefochtenen Kandidaten für sich i n Anspruch nehmen, erfolgt seine förmliche Ernennung durch den Monarchen, zu deren Zeichen und Bekräftigung der König durch den neuernannten Premierminister den Handkuß empfängt 62 . 59

So Loewenstein , Κ . (IV), S. 1103; Bromhead, P., S. 148, f ü r viele. Tatsächlich hatten es zwei wichtige konservative Politiker u n d K a b i nettsmitglieder — I a n Macleod u n d Enoch Powell — abgelehnt, unter L o r d Home an der Regierung mitzuarbeiten. 61 „ U m auf G r u n d seiner Ernennung den Handkuß zu geben." 62 Gespräch m i t M r . Johnson: Der Handkuß scheint auf die symbolhaften Rechtshandlungen des mittelalterlichen Lehenswesens zurückzugehen. Damals bedeutete der Händedruck zwischen Lehensherren u n d Lehensmann das Symbol der von n u n an bestehenden Fürsorgepflicht des H e r r n u n d der Treueu n d Gehorsamspflicht des Lehensmannes; so auch Hermann Nottarp, i n seiner i m Wintersemester 1964/65 an der Universität Würzburg gehaltenen V o r lesung „Deutsche Rechtsgeschichte". Diese Ansicht k a n n auch durch die a l l gemeine Erscheinung der ungebrochenen mittelalterlichen Uberlieferung Englands begründet werden. Vgl. dazu Radbruch, Gustav, Der Geist des englischen Rechts, Heidelberg 1946, 4. Auflage, Göttingen 1958, S. 5. 60

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Das von der Konservativen Partei unter dem Einfluß MacMillans i n Gang gesetzte, neuartige Verfahren zur Auswahl eines Kandidaten 6 3 , hat zwar erreicht, daß Sir Douglas Home eine konservative Mehrheitsregierung bilden konnte, ist aber gleichzeitig zum Gegenstand eines heftigen Verfassungsstreits geworden 64 , i n dessen Verlauf sogar am Verhalten Elisabeths II. K r i t i k geübt wurde 6 5 . Der erwähnte Verfassungsstreit wurde bereits am 17. Januar 1964 von einem der konservativen Bewerber u m die Premierschaft, Jan Macleod, ausgelöst 66 , der damit auf das unmittelbar vorher erschienene Buch Randolph Churchills 67 antworten wollte. Während Churchill sich insgesamt für die Verfassungsmäßigkeit der Vorgänge u m die Berufung Lord Homes aussprach, erhob Macleod gegenüber MacMillan den Vorwurf, die Ernennung Lord Homes habe nicht dem Wunsche der Partei entsprochen. MacMillan, den zu konsultieren die Königin verpflichtet gewesen sei, habe auf eigene Faust einen Außenseiter empfohlen und diesen als Kandidaten der Partei bezeichnet. Die Ernennung Lord Homes sei deshalb für die Monarchin eine Verfassungspflicht gewesen. Auch von einem anderen Autor 6 8 w i r d betont, daß das Auswahlermessen der Königin beschränkt wurde, als MacMillan den Inhalt seines Memorandums unterbreitet und als Empfehlung der Partei ausgegeben habe. Daß Lord Home die Regierungsbildung tatsächlich gelungen sei, beweise i m übrigen, daß Elisabeth letztlich den Willen der Partei vollzogen habe, und die letzte Entscheidung auch nicht bei ihr oder dem ausscheidenden Premierminister, sondern der konservativen Gesamtpartei gelegen habe. I m Gegensatz zu den beiden genannten Stellungnahmen machte Paul Johnson 69 unmittelbar die Königin für ihre Entscheidung und ihr Vorgehen verantwortlich. Johnson hält das Recht des Monarchen, den Premierminister auszuwählen, für „the one unqualified, executive privilege still enjoyed by the crown" 7 0 . Dieses werde aber nur dann zum Einsatz gelangen, wenn die regierungsberechtigte Partei über kein formalisiertes Wahlverfahren zur Bestellung ihres Leaders verfüge, und ein eindeutiger Nachfolger nicht vorhanden sei. Die Last und die Ver63

64 65

So Gespräch m i t M r . Milne.

Vgl. dazu Dagtoglou, P., S. 84 f.

Vgl. Johnson, Paul, „Was the Palace to blame?" i n N e w Statesman, 1964, S. 114 if. 88 Durch einen Aufsatz i n der Zeitung „Spectator", ν. 17.1.1964. 87 The Fight for the T o r y Leadership, London 1964. 08 Beloff, Ursula, The Queen and the Tories i n „The Observer" v o m 26.1. 1964, S. 3. 89 Johnson, P., „Was the Palace to blame?" i n New Statesman, 1964, S. 112 if. 70 Ubersetzung: „Das einzige, unbenannte, noch i m m e r i n den Händen der Krone ruhende Vollzugsprivileg."

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antwortung der Premierauswahl habe unter diesen Umständen allein die Königin zu tragen, die sich vorher zwar beraten lassen dürfe, hierzu aber keinesfalls verpflichtet sei. Bei vorangegangenen Konsultationen sei ein dabei erteilter Rat nicht geeignet, das freie Auswahlermessen des Monarchen zu binden. Die Königin habe i m Falle der Ernennung von Lord Home entweder die Einschränkung ihres Auswahlermessens durch MacMillan geduldet oder, i n Zusammenarbeit m i t dem ausscheidenden Premierminister, durch die Ernennung des ihr von Herkommen und politischer Auffassung sehr genehmen Lord Home persönliche Ziele verfolgt. Unabhängig von den geäußerten Zweifeln hinsichtlich des Verhaltens der beteiligten Organe entspricht die Ernennung Lord Homes i n einigen Punkten nicht den die neueren konventionalen Regelmäßigkeiten tragenden Präzedenzfällen der englischen Verfassung. Vor allem fällt auf, daß Home i m Widerspruch zu der seit der Übergehung Lord Curzons zugunsten Baldwins (1923)71 gefestigten, die M i t gliedschaft des Premiers i m Unterhaus vorschreibenden Konventionalregel, ernannt worden war. Darin lag kein Verstoß gegen einen Rechtsgrundsatz, doch eine Verletzung obiger Konvention. Die einzig mögliche Sanktion — die politische — ist nicht unmittelbar eingetreten, weil die konservative Unterhausfraktion i n der Sicherheit, daß Lord Home gemäß dem Peerage Act von 196372 seinen Adelstitel ablegen und eine Wahl i n das Unterhaus anstreben würde, vom Mittel, die parlamentarische Unterstützung zu verweigern, keinen Gebrauch gemacht hatte. Wohl aber ist i n der Wahlniederlage der konservativen Regierung i m darauffolgenden Jahr eine — jedenfalls teilweise gegen die i m Falle Lord Homes geübte Bestellungspraxis — gerichtete, politische Sanktion m i t Hilfe des Stimmzettels zu sehen 73 . Es bleibt weiter die Tatsache bestehen, daß Lord Home zum Prime Minister und zum Parteiführer zu einem Zeitpunkt ernannt worden war, wo er noch keine unmittelbare parlamentarische Erfahrung i m Unterhaus gesammelt hatte 7 4 . I m Falle Bonar Laws waren es 11, bei Baldwin 15, für Chamberlain 19, für Eden 23 und MacMillan 33 Jahre. Alle Rekorde schlug hier auch Churchill, der 38 Jahre lang als Unterhausabgeordneter tätig war, bevor er i n das höchste politische A m t des Landes gelangte. 71

Vgl. dazu die Ausführungen oben, i m 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 2. A b schnitt, I I . 72 11 Eliz, 2, c. 48. 73 Vgl. dazu Benemy, F. W., S. 31, der den m i t dem Bestellungsverfahren der Konservativen Partei unzufriedenen Wählern den Rat erteilt, i n den Generalwahlen f ü r A b h i l f e zu sorgen. 74 Während Balfour ζ. Β . v o r seiner Berufung zum Prime Minister bereits 26 Jahre Abgeordneter war, s. dazu Dagtoglou, S. 95.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s 1 9 9

Schon diese bei der Bestellung Lord Homes aufgetretenen Besonderheiten rechtfertigen ein Eingehen auf die von den erwähnten Autoren erhobenen Vorwürfe gegen den abtretenden Ministerpräsidenten MacMillan und die Monarchin. Der Auffassung, MacMillan sei von Anfang an entschlossen gewesen, „dem Earl of Home die Prime Ministerschaft zuzuspielen" 75 und er habe daher seinen eigenen Wunsch gegenüber der Königin als den Parteiwillen ausgegeben78, widerspricht allerdings zunächst die Tatsache, daß die Konservative Partei über der Nachfolgefrage tatsächlich von einem „Split", einer Spaltung, bedroht war 7 7 . Angesichts der damals zu beobachtenden gegenseitigen Lähmung durch die beiden Hauptflügel der Partei 7 8 gewann Lord Home, der i n den parteiinternen Umfragen die meisten Zweit- und Drittpräferenzen auf sich vereinigen konnte, zunehmendes Gewicht als Kompromißkandidat, MacMillan handelte insofern richtig, als er i n Home die vorrangige Kandidateneigenschaft, die Fähigkeit zur Integration der Partei, erkannte und i h n aus diesem Grunde als seinen Nachfolger wünschte. Das Argument, nur Lord Home garantiere die Einheit der Partei, mußte aber — jedenfalls zum großen Teil — entfallen, als am 17. Oktober (dem Tag, an dem die Umfrageergebnisse vorlagen) der Kandidat des rechten Parteiflügels, Quintin Hogg, und Macleod, der Favorit der Unterhausfraktion, übereinstimmend ihre Bereitschaft bekundeten, unter einem Premierminister Butler die Regierungsarbeit mitzutragen 79 . I n diesem Augenblick war die Parteikrise eigentlich beigelegt, und Butler wäre wohl i n der Lage gewesen, ein auf die geschlossene Konservative Partei gestütztes Mehrheitskabinett zu bilden. Doch die Reihe erregender Vorgänge u m diese Premierernennung war noch nicht abgeschlossen: Mr. Redmayne, der „Chief W h i p " 8 0 , wurde entsandt, u m MacMillan i m Krankenhaus von der neuesten Entwicklung zugunsten Butlers zu unterrichten. I n diesem Augenblick setzen die Zweifel ein: Wurde MacMillan nie über den Meinungsumschwung unter den führenden Parteipolitikern aufgeklärt? Wenn ja, i n welchem Umfang hatte der Premierminister darüber die Königin informiert? Eine eindeutige A n t w o r t darauf und damit eine sichere Widerlegung der These, MacMillan habe die sich zugunsten Butlers entwickelnde innerparteiliche Meinungsbildung abgeschnitten, u m Lord Home an die Spitze der Partei zu bringen, kann nicht gegeben werden. Wie schon angedeutet, beschränkte sich die publizistische K r i t i k nicht auf die Prü75

Loewenstein , Κ . (VI), S. 387; derselbe, (IV), S. 1102. Macleod, J., i m Spectator, 17. Januar 1964. 77 So ζ. B. Gespräch m i t M r . Milne. 78 Johnson, P., was the Palace to blame? New Statesman, Heft 24, 1964, spricht v o n „dead-lock". 79 Johnson, P., S. 114. 80 Fraktionsgeschäftsführer. 76

200

I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

fung der umstrittenen, parteiinternen Vorgänge bei der Ernennung Lord Homes, sondern schreckte nicht einmal davor zurück, auch das Vorgehen der Monarchin einer kritischen Würdigung zu unterziehen. Paul Johnson 81 gelangt i n grundsätzlichen Erörterungen des monarchchischen Auswahlrechts, sowie des die königliche Entscheidung vorbereitenden Konsultationswesens zu einem, angesichts der politischen Grundhaltung seiner Zeit 8 2 , überraschenden Ergebnis: das monarchische Auswahlrecht sei „the one unqualified, executive privilege still enjoyed by the crown" 8 8 . Johnson stimmt i n diesem Punkt nicht m i t dem konservativen Staatsdenker Leopold Amery 8 4 überein, der die Theorien von der parlamentarischen Bestellung und der plebiszitären Wahl des Prime Ministers m i t dem Hinweis auf die immer noch vitale Funktion und reale politische K r a f t der königlichen Ernennungsprärogative zu widerlegen sucht 85 . Johnson anerkennt, daß das monarchische Alleinentscheidungsrecht nur bei Fehlen einer entsprechenden Wahlprozedur der Mehrheitspartei auflebe. Dies habe die Folge, daß eine Beratungspflicht für die Königin nicht bestehe, ihr aber ein Konsultationsrecht eingeräumt sei. Der so erteilte Hat sei nicht geeignet, das königliche Ermessen zu beschränken 8 6 . Amery w i r d m i t seinem Postulat des i n bestimmten Verfassungslagen auflebenden, uneingeschränkten Auswahlrechts der Königin zwar dem „Normalfall" und den Ausnahmesituationen gerechter als diejenigen Autoren, die es versäumen, zwischen dem Einsatz der monarchischen Reservemacht i n der Krisensituation und der königlichen Vollzugsfunktion i m Normalfall zu unterscheiden. Doch gleichzeitig unterläßt er es, die Grenzen aufzuzeigen, denen das königliche Auswahlermessen unterworfen ist. Diese sind bereits i n dem i m berühmten Ausspruch Wellingtons „The Queen's Government must be carried on" angelegten Grundsatz der Kontinuität und der Neutralitätspflicht des Monarchen enthalten. Diese Begrenzungen verlangten vom Monarchen die Förderung des Zusam81

Johnson, P., S. 112 ff. Johnson, P., New Statesman 24.1.1964, New Statesman gilt als eine der führenden sozialistischen Zeitungen des Landes. 88 Ubersetzung: Das einzige, unbenannte, noch i m m e r i n den Händen der Krone ruhende Vollzugsprinzip. 84 Amery, Leopold, Thoughts on the Constitution, 2. Aufl. London 1964, S. 9,15, insbes. S. 27 ff. 85 So sagt er, Johnson, P., S. 21: „The starting-point is the selection by the Monarch of a Prime Minister", Übersetzung: Der Ausgangspunkt ist die W a h l des Premierministers durch den Monarchen. 86 Andere, z. B. Macleod, I., i n Spectator v o m 17.1.1964, der eine Beratungspflicht des Monarchen annimmt. Insbesondere sei, so meint Macleod, der ausscheidende Premierminister zu konsultieren. 82

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s

201

menwirkens der verschiedenen Verfassungsorgane. Das bedeutet die Verpflichtung des Monarchen, auf die Bestellung eines Mehrheitspremiers, eines i n seiner eigenen Partei möglichst unumstrittenen Mehrheitspremiers, hinzuwirken. Hiermit ist dem König untersagt, persönliche und sachliche Ziele zu verfolgen 87 . Legt man den gewonnenen Maßstab an die Ereignisse vom Herbst 1963 an, so ist zunächst festzuhalten, daß die Königin dann materiell verfassungsgemäß handelte, wenn die von ihr getroffene „Auswahl" nur das Ergebnis eines formellen Wahlgangs antizipiert hat 8 8 . Ob dem Monarchen die Antizipation der Mehrheitsentscheidung gelingt, hängt vom Stande seiner Information über die internen Strömungen und Mehrheitsverhältnisse der jeweils i n Frage kommenden Partei ab. Während Macleod 89 augenscheinlich i m Bemühen, die Verantwortung der Königin auszuschließen, es als Pflicht des Monarchen bezeichnete, den zurücktretenden Premierminister zu konsultieren, verneint Johnson 90 eine solche Beratungspflicht und bürdet damit die Verantwortung für die Ernennung L o r d Homes 1963 der Königin auf. Die m i t dieser Kontroverse zwischen Macleod und Johnson i n Beziehungen stehende Problemstellung beinhaltet die bedeutsame Frage nach dem von Carl Schmitt so bezeichneten „Zugang zum Machthaber" 91 , d.h. das Verhältnis von Rat und Entscheidung, von normativer Bindung und subjektiver Beratung 92 . Aus den einschlägigen Präzedenzfällen ist eine Pflicht der Königin, sich vom ausscheidenden Premierminister beraten zu lassen, nicht abzuleiten 98 . 87

So Kaltefleiter, W. (I), S. 223/224. So Kaltefleiter, W. (I), S.55; siehe auch Morrison , H. (II), S. 101 f.; Moodie, G. C. (IV), S. 78 f. u n d v o r allem Gespräch m i t M r . Milne, der auf die Diskrepanz zwischen der „choice" des Monarchen u n d der tatsächlichen Situation hinweist, nach der die eigentliche W a h l innerhalb der Partei ausgeführt wird. 89 Macleod, I., Spectator, 17. Januar 1964. 90 Johnson, P., N e w Statesman, 24. Januar 1964. 91 Schmitt, Carl, Der Zugang zum Machthaber, ein zentrales verfassungsrechtliches Problem, 1947, i n : verfassungsrechtliche Aufsätze 1958, S. 430 ff., derselbe (III), eine Betrachtung der verfassungsmäßigen Bedeutung des K o n sultations- u n d Beratungswesens soll i m 1. H T 2. Kap. 2. Abschn. (I) unternommen werden. 92 Z u m Problem des Rates i m Rahmen der Verfassung vgl. die hervorragende Würzburger j u r . Dissertation v o n Schlötterer W i l h e l m , Der Übergang v o m beratenden zum beschließenden Organ unter besonderer Berücksichtigung der E n t w i c k l u n g der Parlamente, j u r . Diss. Würzburg, 1967. 93 Carter, B. E., S. 56; Jennings, W. I . (I), S. 41, 51; Marshall Moodie, G. C., Some Problems of the Constitution, London 1967, S. 59; Dagtoglou, P., S. 99; Loewenstein, Κ . (IV), S. 1114; a. A . Finer, S. E., zit. bei Loewenstein, Κ . (IV), S. 140. 88

202

I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Es sind einige Fälle überliefert, i n denen der Monarch überhaupt nicht u m den Rat seines zurücktretenden Premierministers nachsuchte. So ließ sich Königin Victoria 1894 von Gladstone nicht beraten, ohne daß die Rüge der Verfassungsverletzung erhoben worden wäre. Der Wechsel von Campbell-Bannerman zu Asquith vollzog sich ohne Konsultation Campbell-Bannermans durch Eduard V I I 9 4 . Aber auch i n den strittigen Fällen von 192395 und 195796 hatten Georg V. und Elisabeth I i . den Rat des ausscheidenden Premierministers nicht i n Anspruch genommen. Jennings berichtet von Fällen, i n denen der zurücktretende Premierminister vom König konsultiert wurde, seinen Rat hinsichtlich des zu bestimmenden Nachfolgers jedoch verweigerte 97 . Es ist aber auch vorgekommen, daß der vom Ratgeber vorgeschlagene Premierkandidat das Einverständnis mit der Ernennung verweigerte 98 . Schließlich lassen sich auch Präzedenzfälle anführen, i n denen der zurücktretende Prime Minister konsultiert und der dabei erteilte Rat befolgt worden war. So hatte Chamberlain 1941 nach vergeblichen Versuchen, die Labour Party i n sein Kabinett einzubeziehen, dem König geraten, Winston Churchill zu ernennen 99 . Der letzte Fall einer Konsultation des zurücktretenden Regierungschefs durch den Monarchen ereignete sich 1963, als Elisabeth II. ausschließlich MacMillan befragte. Als sich die Königin durch MacMillan beraten ließ, erfüllte sie, wie die Präzedenzfälle zeigen, keine Verfassungspflicht. I m Gegenteil, sie setzte sich über die überwiegende Praxis hinweg, die eine Befragung des zurücktretenden Prime Minister nicht kennt 1 0 0 . Auffallend ist am damaligen Vorgehen Elisabeth II. weiterhin, daß sie sich i m Unterschied zu 1957 nicht der Hilfe eines „intermediate" 1 0 1 i n Gestalt eines unabhängigen, durch Erfahrung ausgezeichneten „elderly 94 Ebenso wurde verfahren, als Georg V I . 1937 Neville Chamberlain berief, vgl. Dagtoglou, P., S. 99. 95 Wechsel von Bonar L a w zu Stanley B a l d w i n , vgl. Ausführungen oben 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 2. Abschnitt. 98 Übergang v o n Eden zu MacMillan, vgl. Ausführungen oben 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 4. Abschnitt. 97 Dies geschah bei Palmerston, so Jennings , W. I. (I), S. 42; Gladstone 1894, so Jennings , W. I. (I), S. 519 f. 98 Das berühmteste Beispiel hierfür geschah auf den Rat von L o r d Salisb u r y 1886, worauf Victoria George Goshen ernennen w o l l t e : dieser lehnte ab u n d verwies auf Gladstone. Während der Koalitionsverhandlungen 1916 riet Asquith, Bonar L a w zu berufen; auch dieser Plan scheiterte an der A b l e h nung des Kandidaten. 99 a. A . Dagtoglou, P., S. 99, der hier keine Beratung annimmt. 100 Das 1940 eingeschlagene Verfahren k a n n nicht als Gegenbeispiel v e r w a n d t werden, w e i l es sich seinerzeit u m die B i l d u n g eines National Government handelte. 101 Ubersetzung: Vermittlers.

4. Abschn. Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s

203

statesman" 102 bediente 103 , sondern ausschließlich MacMillan befragte. Überhaupt waren die Konsultationen i n großer Eile abgewickelt worden 104 . Diese an das formale Vorgehen der Beteiligten gerichteten Fragen können, da über das i m Krankenhaus am 18. 10. geführte Gespräch zwischen Elisabeth II. und MacMillan keine Aufzeichnungen gemacht w u r den, nicht restlos geklärt werden. Für die verfassungsrelevante Beurteilung des monarchischen Handelns bedeutsamer ist, ob die Königin tatsächlich eine formale Entscheidung der Partei antizipiert hatte, als sie am 18. Oktober Lord Home m i t der Regierungsbildung beauftragte. Zum Verständnis der Situation ist notwendig, die von ihr m i t MacMillan geführte Unterredung i n zwei Bestandteile zu gliedern: einmal die Ausführungen, die der Premierminister über die innerhalb der Partei und die von der Umfrageaktion aufgedeckten Mehrheitsverhältnisse machte. A n diesen „objektiven", informatorischen Teil Schloß sich der „persönliche", die Empfehlung der Ernennung Lord Homes enthaltende Rat MacMillans an. Die Königin war zwar nicht verpflichtet, dem Rat zu folgen, wohl aber hatte sich ihr Ermessen an den innerparteilichen Mehrheitsverhältnissen auszurichten. Hier wurde — und dies kann als sicher gelten — Lord Home als der die Einheit der Partei am besten wahrende Kompromißkandidat ausgewiesen. Doch bleibt sogar das formale Befolgen der parteilichen Mehrheitsverhältnisse durch die Königin nicht vollkommen frei von Zweifeln. Macleod 105 berichtet unwidersprochen, daß am 17. Oktober, dem Vorabend der Zusammenkunft von Monarchin und Premierminister, die konservativen Spitzenpolitiker Quintin Hogg und Maudling sich gegen eine Premierschaft Lord Homes ausgesprochen und Butler ihre Unterstützung zugesagt hätten. Mr. Redmayne, der Fraktionsgeschäftsführer, wurde daraufhin beauftragt, dem Prime Minister über die neueste Entwicklung zu berichten. Es ist ungeklärt, ob Mr. Redmayne diese Mission tatsächlich ausführte, was Voraussetzung für eine entsprechende Information der Königin durch MacMillan gewesen wäre 1 0 6 . Die verfassungsmäßige Rolle von Elisabeth II. läßt sich aus diesem Grunde nur alternativ beurteilen. Wurde sie von dem Meinungsum102

Übersetzung: erfahrener, nicht mehr aktiver Staatsmann. 1957 waren dies L o r d Salisbury u n d Winston Churchill, so Gespräche m i t M r . Milne. 104 Vgl. Loewenstein, Κ . (IV), S. 1103, der auf Zeitunterschiede verweist. 103

105 106

Nach Johnson, P., S. 112. Johnson, P., S. 113 f.

204

I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

schwung i n der Führungsgruppe der Konservativen Partei nicht unterrichtet, so hatte sie L o r d Home i m Glauben, dem tatsächlichen Willen der Partei zu entsprechen, ernannt 1 0 7 . Auch i n diesem Falle bleiben allerdings die Zweifel hinsichtlich des Vorgehens der Königin beim Konsultationsverfahren unausgeräumt. Hätte die K ö n i g i n aber von den Stellungnahmen Quintin Hoggs und Maudlings erfahren und dennoch L o r d Home ernannt, so würde dies einen weitestgehenden Ermessensgebrauch und den Versuch bedeuten, zumindest der Entstehung einer eindeutigen Willensbildung i n der Partei unter rigorosem Einsatz der Reservemacht zuvorzukommen 1 0 8 . Die größere Wahrscheinlichkeit spricht jedoch für die Alternative 1. Sollte die Monarchin tatsächlich von neuen Entwicklungen i n der Spitzengruppe der Konservativen erfahren haben, so konnte sie sich am Freitag nur auf die ungenauen Berichte der Morgenzeitungen verlassen 109 . Eine Abweichung von MacMillans Memorandum über den Meinungsstand i n der Partei hätte einen Eingriff i n die innerparteilichen Auseinandersetzungen u n d damit ein Abweichen von den Geboten der Neutralitätsfunktion bedeutet. Die Heftigkeit des bereits u m die parlamentarisch erfolgreiche Berufung L o r d Homes entbrannten Verfassungsstreits läßt erahnen, daß damit möglicherweise selbst die Monarchie institutionell i n Gefahr geraten wäre. 2. Die Verfassungsrelevanz der Reform des Verfahrens zur Bestellung des konservativen Parteiführers (1965)

Die nicht zu verbergende Anhäufung von Abweichungen gegenüber früheren Präzedenzfällen, welche den Rücktritt MacMillans und die Ernennung L o r d Homes auszeichneten, vielleicht auch die K r i t i k an der Amtsführung L o r d Homes 110 , sicherlich aber der wachsende Druck i n der Konservativen Partei für eine Formalisierung u n d Demokratisierung des Verfahrens bei gleichzeitigem Unbehagen an der alten Bestellungsweise w i r k t e n zusammen, u m eine neue Regelung zu erzwingen. Daneben verfolgte man auch das Ziel, die Königin i n Zukunft vor der 107 Letztlich wurde L o r d Home auch v o n der Partei akzeptiert, was aber auch der monarchischen Ernennungsautorität sowie der Loyalität Butlers, der sich wieder als Kabinettsmitglied zur Verfügung stellte, zuzuschreiben wäre; nach M r . M i l n e ist die Möglichkeit, die monarchische A u t o r i t ä t zugunsten des Kandidaten einzusetzen, ein V o r t e i l des bis 1965 geltenden Ernennungsverfahrens der Konservativen Partei. 108 Angesichts der von Elisabeth I I . selbst nach den Wahlen v o n 1964, 1966 gezeigten konsequenten Verfassungsloyalität scheinen die Überlegungen Johnsons hinsichtlich der persönlichen Gründe, die Elisabeth bewogen haben könnten, L o r d Home zu ernennen, i n das Reich der Spekulation zu gehören. 109 Wie auch Johnson, P., S. 112 u n d 113 zugibt.

110

So ζ. B. Loewenstein , Κ. (IV), S. 1105.

4. Abschn. Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s 2 0 5

Gefahr zu schützen, unwillkürlich i n innerparteiliche Auseinandersetzungen verwickelt zu werden. Die Oppositionsrolle, welche die Konservativen seit den verlorenen Generalwahlen von 1964 zu spielen hatten, tat ein übriges, um die Reformbestrebungen einzuleiten und m i t Hilfe des neuen Bestellungsmodus den Nachfolger Homes, Mr. Edward Heath, zu wählen 1 1 1 . Ohne daß hier Raum für eine genaue Darstellung des Wahlvorgangs und der Zusammensetzung des Wahlkörpers wäre 1 1 2 , ist nochmals auf die formelle Wahl vollziehenden Wahlkörper und dem 1922-Committee bestehende personale Identität hinzuweisen. Während insgesamt i m neuen konservativen Wahlverfahren zahlreiche Parallelen zur entsprechenden Labour-Wahlordnung gezogen werden können 113 , bestehen doch zwei grundlegende Unterschiede. Einmal bedarf der vom 1922Committee gewählte Kandidat i m Gegensatz zur Labourparty, wo ausschließlich die Fraktion an der Wahl des Leaders partizipiert, noch der — allerdings nur formalen — Bestätigung durch den Parteikonvent. Sow o h l innerparteilich als auch verfassungsrechtlich bedeutsamer ist dagegen die Verschiedenheit i n der Bestellung des stellvertretenden Party-Leaders. Die Labour-Party setzt hier den Weg der formalen, demokratischen Wahl konsequent fort 1 1 4 , wohingegen bei den Konservativen der Deputy-Leader, entsprechend der überragenden Stellung des Party-Leaders, kraft Ernennung durch den Parteiführer eingesetzt w i r d 1 1 5 . Diese Regelung soll die harmonische Kooperation innerhalb der Spitzenmannschaft sichern. Die neue Wahlordnung, obwohl nur eine parteiinterne Regelung, bleibt nicht auf diesen Bereich beschränkt, sondern entfaltet i n mehrfacher Weise eine, das britische Verfassungsleben teilweise umgestaltende, Bedeutung. Neben dem bereits erwähnten „sozialen Effekt", der den Zugang zum höchsten politischen A m t Großbritanniens auch für früher ausgeschlossene Bevölkerungskreise öffnet 116 , ist vor allem die dadurch erzwungene strikte innerparteiliche Demokratisierung und die unmittelbar verf assungsmäßige Erheblichkeit zu nennen. 111

Dies geschah am 27. J u l i 1965; über Vorbereitung u n d Durchsetzung der Reform vgl. die genauere Schilderung i m 1. H a u p t t e i l des 1. Kapitels, 4. A b schnitt I I I 2. 112 Dies geschah bereits oben, 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 2. Abschnitt, I I 1 b) cc) bbb). 118 Siehe dazu McKenzie, R. T. (II), S. 335 ff. 114 One m a n — one vote. 115

116

Loewenstein, Κ. (IV), S. 1107.

E i n Beispiel ist der gegenwärtige Premierminister Ted Heath, der 1965 als erster Leader bereits nach dem neuen Modus gewählt wurde. Heath ist Handwerkersohn, hatte keine der vornehmen Public Schools besucht, die i n früheren Jahren die überwiegende Mehrheit der konservativen Premierminister stellten. Vgl. dazu Sampson, Α., S. 87.

206

I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

Die Demokratisierung des Bestellungsverfahrens Ebenen.

wirkt

auf

zwei

Einmal bedeutet der i m eigentlichen Wahlakt verwirklichte Grundsatz von „one man — one vote" die Ausschaltung der verschiedenen Gewichtigkeit der Abstimmenden. Die für das frühere „Suchen nach einem Leader" charakteristischen starken Einflüsse von „Parteibossen" 117 , von Hierarchien und Gruppierungen wurden 1965 auf die formelle und gleichberechtigte Teilhabe am Wahlverfahren nivelliert. Doch erschöpft sich die innerparteiliche A u s w i r k u n g der Reform nicht i m demokratischen Prinzip. Auch hinsichtlich der innerparteilichen Einflußstruktur sind Verschiebungen zu beobachten. Während beim alten Verfahren der Unterhausfraktion nur die Rolle einer Komponente i m Kräfteparallelogramm der Wahlgewalten zufiel, ist sie heute zum alleinigen Entscheidungsträger geworden. Die verfassungsrelevanten Auswirkungen werden i n der veränderten Stellung der königlichen Prärogative, der reduzierten Zahl der möglichen Verfahrensstadien, der faktisch zur parlamentarischen Wahl gewordenen Bestellung und der hiermit erreichten, von unten nach oben durchgehenden Willensbildung sichtbar. Das bedeutendste Ergebnis darunter ist die Auflösung des hier — wie an Hand der Präzedenzfälle nachgewiesen werden sollte — noch wirksamen materiellen Inhalts der Prärogative. Seit 1965 ist dem Monarchen jegliche Auswahlmöglichkeit entzogen; er ist verpflichtet, den offiziell zum Party-Leader gewählten Kandidaten zu ernennen. Eine andere Möglichkeit besteht für i h n nicht. Die Reihenfolge der einzelnen Glieder des Verfahrensablaufs ist umgekehrt: Während früher sowohl die Liberale als auch die Konservative Partei dem Monarchen freie Hand ließen, aus ihren Reihen einen Prime M i n i ster auszuwählen, u m erst dann den vom König Ernannten als PartyLeader zu bestätigen 118 , ist dies seit der Reform bei den Konservativen 1965 umgekehrt 1 1 9 . Die Partei w ä h l t zunächst ihren Party-Leader, und der auf diese Weise Bestimmte ist von der Königin zum Premierminister zu ernennen. Die Königin ist somit gehalten, den Parteibeschluß zu vollziehen. Die königliche Prärogative ist zur bloßen Vollzugsfunktion „ f unktionalisiert". I m für das britische Verfassungsverständnis allerdings undenkbaren Fall, daß sich die Monarchin über den Parteibeschluß hinwegsetzen und „ihren" Kandidaten ernennen sollte, droht die Gefahr des Verlustes 117 118

Loewenstein , Κ . (IV), S. 1107. So Jennings , W. I. (I), S. 44.

119 Labour hatte v o n A n f a n g an ein formalisiertes demokratisches W a h l verfahren, u n d die Liberalen können als nicht mehr regierungsfähige Partei aus der Betrachtung ausscheiden.

4. Abschn. Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s 2 0 7

ihrer Autorität infolge der Aufgabe der neutralen Position. Darüber hinaus würde das Unterhaus die Haushaltsmittel für die neue Regierung verweigern, was die Monarchin i n unmittelbare Gefahr bringen würde 1 2 0 . Loewenstein 1 2 1 stellt die — angesichts der Tatsache, daß der konservative „Deputy-leader" i m Gegensatz zum entsprechenden Funktionär auf Labour Seite nicht von der Fraktion gewählt, sondern seine Position nur der Ernennung durch den Leader verdankt — berechtigte Frage, ob die Königin bei Ausfall des Prime Ministers während der Legislaturperiode verpflichtet sei, den Deputy-leader i n das A m t des Premierministers zu berufen. Drei Alternativen sind hierbei denkbar: a) Die Königin ist i n der Auswahl des Nachfolgers frei; sie kann den Deputy-leader übergehen und eine Persönlichkeit berufen, die über einen sicheren Rückhalt i n der Partei verfügt. b) Es besteht eine Verpflichtung zur Ernennung des Deputy-Leaders. c) Die Königin hat die Neuwahl eines Leaders durch die Partei abzuwarten. Für die Alternative a) würde nur die zum vorreformatorischen Verfahren bestehende Analogie sprechen, daß ein gewählter Leader eben nicht vorhanden ist. Doch machen sowohl die bloße Existenz einer Wahlordnung, sowie auch der unmittelbar i m Deputy-Leader manifestierte Parteiwille einen Einsatz der königlichen Reservemacht überflüssig und untersagen i h n daher 1 2 2 . Alternative b) anerkennt die Tatsache, daß ein von der Partei gewählter Leader einen Stellvertreter bestimmt, und diesem daher mittelbar die Autorität des Leaders zuströmt. Ein historisches Beispiel ist das Verhältnis von Churchill und Eden während des Zweiten Weltkriegs. Churchills offizieller Stellvertreter als Premierminister war zwar der Labour-Führer Attlee, jedoch als Koalitionspartner ohne A n w a r t schaft auf die Nachfolge. Eden hingegen war der zweite Mann i n der Parteihierarchie 128 , wurde dem König von Churchill bereits während des Zweiten Weltkriegs als Nachfolger benannt und gelangte schließlich 1955 i n das A m t des Prime Ministers 1 2 4 . Doch können diese Argumente 120

121 122

Gespräche m i t M r . Elmore.

Loewenstein , Κ . (IV), S. 1107.

Wie schon bei der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer i n Graz, so ζ. B. v o n Dürig erläutert, hat die Reservemacht ausschließlich die K o n t i n u i t ä t u n d die A r b e i t des Systems zu sichern, eine Eingriffsmöglichkeit bietet sich nur, wo 1. eine Lücke besteht u n d 2. k e i n anderes M i t t e l zu deren Schließung i n der Lage ist, vgl. V V D S t R L , H. 25, S. 224. 128 Weber, H., S. 178. 124 So Churchill, W. S., The Second W o r l d War, Vol. V I , S. 419, 521.

208

I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

nicht an der Existenz eines i n einer Wahlordnung niedergelegten formellen Wahlverfahrens vorbeigehen, das ausschließlich der Fraktion die Entscheidung über den neuen Leader überträgt. Überdies ist dieses Verfahren kraft der i n i h m angelegten Handlungsfristen i n der Lage, innerhalb eines Zeitraums von längstens vier Tagen einen Parteiführer hervorzubringen 1 2 5 . Für den Normalfall, d. h. wenn die Konservative Partei i n der Lage ist, den vorgesehenen Verfahrensmodus i n Gang zu setzen und zu Ende zu bringen, ist daher auch die Alternative b) ausgeschlossen. Es bleibt die Lösung c). Sie verpflichtet den Monarchen, nach dem Rücktritt oder Tod des früheren Amtsinhabers von der Ernennung eines Premierministers zunächst Abstand zu nehmen u n d das Ergebnis der Wahl abzuwarten. Erst dann w i r d die K ö n i g i n pflichtgemäß den von der Fraktion gewählten und vom Parteikonvent bestätigten neuen Leader zum Premierminister ernennen 128 . Der Lösung c) gebührt der Vorzug, da sie das m i t der Reform verfolgte Prinzip, die Entscheidung i n die Hände der Fraktion zu legen, verwirklicht. Es kann als das Ziel der Reform angesehen werden, die Königin möglichst vor der Gefahr zu bewahren, i n die Arena der Auseinandersetzung innerparteilicher Interessengegensätze treten zu müssen. Es w i r d m i t der Zuweisung der bloßen Vollzugsfunktion erreicht, Aus diesem Grunde scheint die Alternative c) die einzige zulässige Lösung anzubieten. Sollte jedoch aus technischen Gründen der Zusammentritt des 1922Committee als der wählenden Versammlung nicht möglich sein (technischer Notstand), andererseits die Besetzung des Premieramtes dringend geboten, so bietet sich als Lösung an, zum Zwecke der Regierungsbildung die Reservemacht noch einmal einzusetzen: der Monarch ist dann berechtigt, den Deputy-Leader zum Premierminister zu ernennen und die fehlende Legitimierung kraft Wahl durch eine Legitimierung kraft Reservemacht zu ersetzen. Als weitere, m i t der Funktionalisierung der Prärogative i m engen Zusammenhang stehende verfassungserhebliche Auswirkung ist noch 125 §8 der Wahlordnung schreibt als Mindestfrist zwischen dem 1. u n d 2. Wahlgang zwei, als Höchstfrist v i e r Tage vor. Der dritte Wahlgang folgt unmittelbar auf den zweiten. Bei der W a h l v o n E d w a r d Heath fand der 1. Wahlgang a m 27., der 2. bereits am 28. J u l i statt; so Gespräch m i t M r . Milne. 126 Nach dem Wechsel i m Premieramt von Eden zu M a c M i l l a n i m Jahre 1957 veröffentlichte die Labour Party eine Stellungnahme, i n der die Parallelsituation i n dieser Partei beschrieben wurde. Die K ö n i g i n hätte i n diesem Falle die W a h l eines neuen Leaders abzuwarten, u m nicht — auch nicht durch die Ernennung des stellvertretenden Leaders — die Entscheidung der F r a k t i o n zu präjudizieren; so Loewenstein , Κ . (IV), A n m . 116, S. 1107; vgl. auch

Benemy, F. W., S. 22 ff.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen Auswahlrechts

209

die zahlenmäßige Verringerung der insgesamt möglichen Bestellungsstufen von vier auf zwei zu nennen. So wurde etwa Lord Home m i t der Regierungsbildung beauftragt (Stufe 1), sondierte i n seiner Partei (Stufe 2), nahm den Auftrag an (Stufe 3) und wurde daraufhin sofort ernannt (Stufe 4). Seit der Reform hingegen bleibt es bei der Wahl durch die Fraktion, der Bestätigung durch den Parteikonvent (Stufe 1) und der Ernennung durch die Königin (Stufe 2). Die Reform zeitigte insofern einen zusätzlichen weiteren Effekt, als die Bestellung des Premierministers i m konkreten Falle zu einer materiell parlamentarischen Wahl wurde, die dem Verfahren des A r t . 63 GG sehr ähnliche Züge trägt 1 2 7 . Als letzter Punkt bleibt schließlich eine unmittelbare Wirkung als Ausfluß der parlamentarischen Bestellung anzuführen: i n der nun geschlossenen Willensbildung von unten nach oben, von der Wählerschaft zum Unterhaus, das i n Gestalt der konservativen Unterhauspartei allein über die Einsetzung des Premierministers bei Rücktritt oder Tod des früheren Amtsinhabers befindet, hat sich m i t der Ausschaltung anderer, demokratisch nicht verantwortlicher Kräfte von der Bestellungsteilhabe, ein weiteres Stück repräsentativ-parlamentarischer Demokratie bei gleichzeitiger Verdrängung semikonstitutioneller Reste gebildet.

IV. Schranken der Reservemacht Es wurde bereits versucht 1 , die bei der Amtseinsetzung des Premierministers entstehenden und den Einsatz der Reservemacht rechtfertigenden Situationen enumerativ aufzuzählen und an Hand von Präzedenzfällen der jüngsten britischen Verfassungsgeschichte zu erläutern. I m Ergebnis war das Wiederaufleben der Reservemacht i n Gestalt eines königlichen Auswahlrechts i n drei Situationen: der Notwendigkeit der Ernennung eines Koalitionspremiers, der Einsetzung eines Minderheitenpremiers sowie der Berufung eines Nachfolgers eines während der Amtszeit ausfallenden konservativen Premierministers, möglich. Die i n Ermangelung einer formalisierten Wahlordnung i n der Konservativen Partei für den Monarchen bestehende Gelegenheit, sein überkommenes Auswahlrecht zu reaktivieren, ist seit der Reform von 1965 beseitigt. Geblieben ist der i n der einschlägigen Literatur bisher unerörterte Fall eines „technischen Notstands", der den Wahlkörper 2 aus tatsächlichen Gründen am Zusammentritt i n nächster Zukunft hindert, die 127 Allerdings m i t dem Unterschied, daß sich die W a h l des Bundeskanzlers i m Plenum des Parlaments vollzieht. 1 Vgl. Ausführungen oben, 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 4. Abschnitt. 2 Das 1922-Committee.

14 Lippert

210

I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

schleunige Besetzung des Premieramtes aber dringend geboten ist. Zum Zwecke der Uberwindung dieser Situation wurde das Wiederaufleben eines „konstitutionellen Rudiments" der früheren Reservemacht anerkannt. Die hier eingesetzte Reservemacht bedarf keiner Eingrenzung, da sie sich hinsichtlich des Monarchen darauf beschränkt, die Unmöglichkeit der Ausübung der Wahlgewalt durch den Wahlkörper festzustellen und anschließend den Deputy-Leader zu ernennen. Das Staatsoberhaupt verfügt hierbei — außerhalb der Berufung des Deputy-Leaders — über keinen Ermessensspielraum: die königliche Ernennung ersetzt die fehlende Legitimation durch die Fraktion. Für die übrigen beiden Konstellationen — die Berufung von Koalitions- oder Minderheitenpremier — ist es notwendig, die Reservemacht zu begrenzen. Zwei Gefahren sind es vor allem, die eine solche Beschränkung erheischen: einmal die bei übersteigerter Reservemacht drohende Instabilität der Regierungen und weiter des gesamten Regierungssystems und andererseits die dem Staatspräsidenten und insbesondere dem Monarchen i m parlamentarischen System drohende Gefahr, i n Verhalten, Person und Institution zum Gegenstand öffentlicher Auseinandersetzung zu werden. Der an erster Stelle gekennzeichneten Gefahr w i r d durch konventionale Verpflichtung 3 des Monarchen, eine Mehrheitsentscheidung zu befolgen, dadurch begegnet, daß der Monarch durch die Neutralitätsfunktion begrenzt ist. Die soeben genannte monarchische Verpflichtung ist die Grundlage des parlamentarischen Systems 4 . Dies beinhaltet die Verpflichtung, den unangefochtenen, i h m präsentierten Kandidaten einer sich bildenden Koalition zum Premierminister zu ernennen 5 . Gemäß dieser Regel wurde 1931 verfahren, als ebenfalls mehrere Parteien® i n der Lage und willens waren, ein Mehrheitskabinett zu beschicken7. Dabei ist dem britischen Monarchen — i m Unterschied zum deutschen Bundespräsidenten — 8 kein über das Prinzip des „to be asked, to encourage and to warn" 9 , also der konsultativen Einflußnahme, hinaus3

4 5 0

I n geschriebenen Verfassungen als rechtlich normierte Verfassungspflicht.

Kaltefleiter, Kaltefleiter,

W. (I), S. 48. W. (I), S. 48; Verney, D. V., S. 26.

Konservative, Liberale, Nationalliberale unter Macdonald. Dies w i r d , w i e am Beispiel der B i l d u n g des National Government 1931 verdeutlicht wurde, i m englischen Verfassungsleben i n nationalen Krisensituationen notwendig. Siehe auch Moodie, G. C. (IV), S. 79, aber auch Kaltefleiter, W. (I), S. 54, w e n n eine K l ä r u n g der Mehrheitsverhältnisse durch Neuwahlen nach allgemeinem Ermessen nicht zu e r w a r t e n j s t . 8 Der Bundespräsident verfügt m i t dem wahlweisen Auflösungsrecht des A r t . 63 Abs. I V über ein wirksames Sanktionsmittel, die Mehrheitsbildung i m Parlament zu fördern, ein i n „pluralistischer Stagnation", so Hermens, F. A . (II), S. 42, verharrendes Parlament zu konstruktiver Tat zu bringen, da ein Kanzler n u r über das eine absolute Mehrheit erfordernde Mißtrauensvotum des A r t . 67 zu beseitigen ist u n d die Parteien .es vorziehen, schon bei der W a h l Einfluß zu nehmen. 7

9

Bagehot, W., S. 267.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen Aus Wahlrechts

211

gehendes M i t t e l i n die Hand gegeben, die interparteiliche Mehrheitsbildung zu fördern. Das M i t t e l der Parlamentsauflösung steht dem englischen Monarchen zwar ebenfalls zu Gebote, er übt es jedoch nicht auf eigene Initiative aus wie der Bundespräsident i n A r t . 63 Abs. I V GG, sondern nur auf Antrag des jeweiligen Premierministers 10 . Infolge der i n der britischen Verfassungspraxis weit verbreiteten Abneigung gegen Koalitionen ist die Situation bedeutsamer, daß die Unterhauswahlen keine Partei m i t der absoluten Mehrheit der Mandate ausstatten und eine Koalitionsbildung nicht i n Betracht kommt 1 1 . Hier hat sich die Konventionairegei herausgebildet, daß der König zunächst grundsätzlich den Führer der i m vorigen Parlament stärksten Oppositionspartei i n Anerkennung des Wählerverdikts, das dem bisherigen Premierminister die absolute Mehrheit aberkannt hatte, zum Regierungschef ernennt 12 . W i r d der Minderheitenpremier, der auf die grundsätzliche Unterstützung einer weiteren Partei angewiesen ist, i n „ v i t a l questions" parlamentarischen Abstimmungsniederlagen ausgesetzt, so kann Jennings 13 nicht gefolgt werden, der bei Scheitern des Minderheitenpremiers dem Monarchen einen freien Ermessensgebrauch über den Einsatz der Auflösung einräumen möchte. Vielmehr hat der Monarch nun grundsätzlich das Unterhaus aufzulösen, u m durch Neuwahl eine Partei wieder zur absoluten Mehrheit zu führen 1 4 . Die oben als Grundregel des Systems bezeichnete monarchische Verpflichtung, den Mehrheitswillen zu realisieren, t r i t t hier, wie an Hand der Ernennung MacDonalds 1923 nachweisbar, außer Kraft. Der offizielle Oppositionsführer der vorherigen Legislaturperiode ist aus Gründen des plebiszitären Wählerverdikts auch dann zum Premierminister zu ernennen, wenn seine Partei nicht die stärkste Fraktion des Parlaments stellt 1 5 . Die aufgeführten Gesetzmäßigkeiten binden als Konventionairegeln das monarchische Ermessen. Ihre Verletzung würde unwillkürlich den Monarchen i n den Verdacht des parteilichen Handelns bringen und i h n jeder Einflußmöglichkeit berauben. A n dieser Stelle setzt die Wirkung 10 Vgl. dazu die Ausführungen zum Auflösungsrecht des Unterhauses i n Großbritannien, 1. Hauptteil, 1. Kapitel, 3. Abschnitt I 5. 11 So w a r es 1923, als die Konservativen u n d Liberalen keine K o a l i t i o n gegen Labour zu schließen bereit waren. 12 Jennings , W. I. (I), S. 25 ff.; Loewenstein , Κ . (IV), S. 1091. 13 Jennings, W. I. (I), S. 394. 14 So betonen insbesondere Günther u n d Erich Küchenhoff, S. 158, die A u t o m a t i k dieser Auflösimg i n diesem Fall. Eine Auflösung k o m m t freilich dann nicht i n Betracht, w e n n sich das Auflösungsbegehren des besiegten Minderheitenpremiers als Mißbrauch darstellen würde, vgl. dazu die A u s führungen z. parlam. Auflösungsrecht i n Great B r i t a i n , ebenda. 15 So verfügte Labour 1923 n u r über 191 Sitze, denen 259 konservative Mandate gegenüberstanden.

14·

212

I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

der zweiten Begrenzung ein: zur Erhaltung des Einflusses und der Sicherung der Stellung der Monarchie darf der Throninhaber auch bei Ausübung der Reservemacht den Boden der Neutralität, d. h. der parteipolitischen Neutralität, nicht verlassen. Diese Aussage bedeutet begrifflich, daß das Staatsoberhaupt seine Zuständigkeiten und seinen Einfluß nicht einsetzen wird, um bestimmte politische Gruppen zu fördern oder zu benachteiligen. Das Vertrauen aller politischen Gruppierungen i n das neutrale Verhalten des Staatsoberhaupts bildet die Grundlage der Autorität des Amtsinhabers. Bei der Amtseinsetzung eines Koalitions- oder Minderheitenpremiers ist die Beachtung der Neutralität i n der Befolgung des Mehrheitsprinzips, sowie der Wahrung der für die Bestellung der Minderheitenregierung ausgebildeten Reihenfolgeregeln enthalten, allerdings zunächst nur i n materieller Hinsicht. Denn besondere Bedeutung wächst dem Neutralitätsprinzip i m formellen Bereich zu, wo seine Verwirklichung i n den M i t t e l n ablesbar ist, die der Monarch einsetzt, u m seinen Einfluß auszuüben. Neben dem Verbot, politische Meinung i n der Öffentlichkeit zu äußern 18 , ist hier insbesondere die A r t , wie sich der König an den Gesprächen um die Regierungsbildung beteiligt, relevant. I n der Öffentlichkeit w i r d der Monarch nur als Sprachrohr der Regierung auftreten; die Regierung trägt für entsprechende Äußerungen die Verantwortung 1 7 . Bestimmte Anforderungen hinsichtlich der zu wahrenden Neutralität werden auch auf der Ebene der Konsultationen gestellt. Die sich dabei ergebenden zwei Grundalternativen des Gesprächs und ihrer Vereinbarkeit m i t der Neutralitätsfunktion — bloße Information oder steuerndes Verhandeln — hängen wiederum von der Situation ab. I m Normalfall, der Einsetzung eines Premierministers bei eindeutiger Wahlentscheidung und unumstrittenen Kandidaten, ist der Monarch auf die bloße Information beschränkt 18 . Der König ist auch dann nur auf eine passive Verhaltensposition beschränkt, wenn sich zwei oder mehrere Parteien zu einer über die absolute Mehrheit der Mandate gebietenden Koalition zusammenschließen und ein gemeinsamer, unumstrittener Kandidat für das Premieramt zur Verfügung steht. Das Gleiche gilt für 18 17

So ζ. B. Stewart, Michael, S. 29.

Es handelt sich hierbei u m ein Parallelproblem zur Frage der öffentlichpolitischen Äußerung des deutschen Bundespräsidenten, die i n Deutschland nach den Grundsätzen des Rechts der Gegenzeichnung behandelt w i r d ; i n England ist die „Speech f r o m the Throne", die v o n der K ö n i g i n gehaltene T h r o n rede, das Hauptbeispiel f ü r die Sprachrohreigenschaft monarchischer öffentl. Äußerungen; die Thronrede g i l t als Regierungserklärung u n d w i r d der K ö n i g i n v o m Kabinett, w ö r t l i c h ausgearbeitet, vorgelegt. 18 So ζ. B. schon das widerstrebende Sichfügen Victorias gegenüber den neuen, plebiszitären Konventionalregeln, kommentierend Martin, Th., „The Life of His Royal Highness The Prince Consort", London 1877, Vol. I , S. 110.

4. Abschn.: Wiederaufleben des königlichen A u s a h l r e c h t s 2 1 3

eine Minderheitenregierung, wo sich eine Partei gegenüber einer anderen als Tolerierungspartei verdingt. Das berühmte Beispiel ist hier die Unterstützung der Labourregierung durch die Liberalen 1 9 . Doch ist gegenwärtig — nach der Reform von 1965 — noch eine Situation denkbar, deren E i n t r i t t die passive, informatorische Verhandlungsposition des Staatsoberhaupts i n eine aktive, gestaltende, einflußnehmende Rolle mit eigenem Verhandlungsspielraum umschlagen läßt 2 0 . Wenn nach einer Neuwahl keine absolute Mehrheit erreicht werden konnte und eine unmittelbare Bildung einer Minderheiten- oder einer Koalitionsregierung aus der autonomen Initiative der Parteien zunächst nicht möglich erscheint, bleibt dem Staatsoberhaupt eine Vermittlerrolle vorbehalten. Dem König bietet sich hier die Möglichkeit, die zwischen den Parteiführern herrschenden persönlichen und sachlichen Gegensätze zu entschärfen. Doch birgt der sich dabei dem Monarchen öffnende Einflußbereich bereits das Risiko, daß i n der Öffentlichkeit der Eindruck erweckt wird, das Staatsoberhaupt hege besonderes Interesse für eine bestimmte Regierung 21 . Der Monarch w i r d diesen Eindruck am ehesten dadurch vermeiden, daß er 1. zunächst nur als Katalysator wirkend, bei den potentiellen Gesprächspartnern die Konsultationsbereitschaft fördert und 2. jeder sich anbahnenden Mehrheit, unabhängig von ihrer parteipolitischen Zusammensetzung, seine Unterstützung leiht. Der Monarch darf nicht versuchen, eine i h m mißfallende Mehrheitsbildung abzuwenden. 3. die Öffentlichkeit durch entsprechende Communiqués über die Vorgänge — soweit vertretbar — informiert. Der Versuch, die reserve power i n eine präzise, alle möglichen Situationen erfassende juristische Kodifikation zu bringen, kann nicht gelin19

Vgl. dazu Nicolson , H. (II), S. 426 f. Demgegenüber n i m m t Kaltefleiter, W. (I), S. 61, zwei Situationen an: a) Regierung ist zurückgetreten bzw. es entsteht k e i n Führungsanspruch eines Kandidaten b) die gleiche Situation w i e i m T e x t erläutert. Kaltefleiter übersieht dabei, daß die Regierung heute n u r mehr als Folge des Rücktritts eines Premierministers aus persönlichen Gründen zurücktritt. Dann aber steht der Führungsanspruch eines zu wählenden Nachfolgers bereits fest. Der Rücktritt einer Regierung würde stets nach Neuwahlen erfolgen; nach diesen besteht aber auf jeden F a l l ein i n den formellen Wahlen durch die Fraktionen bestätigter u n d gesicherter Anspruch. 21 E i n Beispiel f ü r diese These bildet die Ernennung Macdonalds zum Regierungschef eines National Government 1931. K ö n i g Georg V. wurde i m Anschluß daran ein parteiisches Verhalten zugunsten der Konservativen Partei u n d der Versuch vorgehalten, das Ansehen der Labour Party i n der öffent20

214

I. Teil, 1. Kap.: Amtseinsetzung des britischen Premierministers

gen, äußerstenfalls ist ihre jeweilige Einbeziehung i n ein einzelnes Institut des Verfassungsrechts möglich 22 . Die bei der Bestellung des Prime Ministers i n bestimmten Fällen wieder auflebende Reservemacht ist für die Kontinuität staatlicher Regierungstätigkeit notwendig. Sie gelangt stets dann zum Einsatz, wenn weder die Wählerschaft noch die Parteien zur notwendigen Mehrheitsbildung i n der Lage sind. Nachdem die Reform des Bestellungsmodus zur Einsetzung des konservativen Leaders die königliche reserve power aus ihrem bedeutsamsten Anwendungsgebiet verdrängt hat, bleiben ihr nur Eingriffsmöglichkeiten vor und bei der Ernennung eines Minderheitenpremiers oder vor der Berufung eines Koalitionspremiers. Bei der Benennung eines Minderheiten-Regierungschefs kommt der reserve power die Eigenschaft einer „Legitimitätsbrücke" zu, da sie als Surrogat einer teilweise fehlenden plebiszitären oder parlamentarischen Unterstützung fungiert. I n den anderen beiden Fällen reduziert sich i m Vorstadium der Regierungsbildung die reserve power auf bloßen, i n den Verhandlungen geltend gemachten Einfluß, der proportional der allgemeinen Überzeugung von der neutralen Haltung des Staatsoberhauptes wächst 23 .

liehen Meinung zu schädigen, s. z.B. D a i l y Express v o m 25.8.; vgl. dazu f ü r die Regierungsbildung u n d die Beteiligung Georgs V. i m m e r noch Nicol son, H. (II), S. 507 fï. 22 Das Grundgesetz verleiht der Ernennung des Minderheitenkanzlers durch den Bundespräsidenten quasi-legitimierendes Gewicht, vgl. A r t . 63 Abs. I V GG. 23 Z u den technischen u n d persönlichen Voraussetzungen dieses Einflusses

vgl. Kaltefleiter,

(I), S. 57 ff,

Zweites Kapitel

Bestellung der Regierungechefe in Deutschland

A. Bericht über die Amtseinsetzung des Reichskanzlers unter der Reichsverfassung

von 1871

Erster Abschnitt

I n der konstitutionellen Monarchie Während der Geltung der Bismarckschen Reichsverfassung von 1871 gab es keine einheitliche Reichsregierung, sondern zwei Regierungen nebeneinander. A n der Spitze des Reiches standen einerseits der von den verbündeten Regierungen beschickte Bundesrat als Gesamtkongreß aller Einzelstaaten, andererseits die Reichsleitung m i t dem Kaiser als geschäftsführendem Präsidialorgan des Reiches1. Innerhalb dieses Organismus hatte, unmittelbar dem Kaiser unterstellt, der Reichskanzler als einziger Reichsminister seinen Platz. Wenn man ,Regierungschef m i t als den für die oberste politische Leitung und richtungsgebende, vollziehende Tätigkeit berufenen und verantwortlichen Staatsorganträger umschreibt, so kommt der Kaiser hierfür nicht i n Betracht. Dieser bedurfte zwar bei seinen Maßnahmen der Gegenzeichnung des Reichskanzlers (Art. 17 RV), der damit auch die Verantwortung übernahm; eine staatsrechtliche Verantwortung des Kaisers selbst war jedoch der Verfassung unbekannt 2 . Demgegenüber stand gem. A r t i k e l 15 Abs. 1 RV der Vorsitz i m Bundesrat und die Leitung der Geschäfte dem Reichskanzler zu. Der Bundesrat kann zwar wegen seiner föderativen 1

Anschütz, Gerhard, Die Verfassung des deutschen Reiches, 14. Auflage 1933, Neudruck 1960, S. 241; Sternberger, Dolf, W a h l der Parlamente, B e r l i n 1969, S. 212. 2 Dambitsch, L u d w i g , Die Verfassung des deutschen Reiches, B e r l i n 1910, S. 268,

216

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland ( )

Zusammensetzung nicht als Reichskabinett angesprochen werden. Auch waren seine Mitglieder als Bevollmächtigte der Bundesstaaten weisungsgebunden und nicht staatsrechtlich verantwortlich. Dennoch hatte A r t i k e l 7 RV dem Bundesrat „kabinettsähnliche" Aufgaben übertragen 3 . Der als Vorsitzender des Bundesrates fungierende Reichskanzler war, insoweit begünstigt durch die allgemein monistischen, zur Konzentration der Geschäftsführung drängenden, politisch-technologischen Entwicklung sowie durch die persönliche Ausgestaltung des Amtes durch die überragende Gestalt Bismarcks, zu einem obersten Exekutivorgan geworden. Der Reichskanzler war für eigene Amtshandlungen gegenüber dem Kaiser 4 und nach vollzogener kaiserlicher Gegenzeichnung auch für dessen Anordnungen und Verfügungen verantwortlich. Adressat dieser politischen Verantwortung war der Reichstag 5 . Der die Bestellung des Regierungschefs regelnde Vorgang war also während der RV die Benennung des Reichskanzlers. Nach Art. 15 Abs. 1 RV wurde der Reichskanzler vom Kaiser ernannt. Diese Ernennung war ausschließlich eine Funktion des freien kaiserlichen Willensaktes und damit Beispiel einer obrigkeitlich-monarchischen konstitutionellen Berufung. Unter welchen tatsächlichen Einflüssen sie erfolgte, ist nicht klar erkennbar 6 . Rücksichten auf die Mehrheitsverhältnisse i m Reichstag standen hierbei nicht an erster Stelle 7 . Dies war auch nicht notwendig, w e i l verfassungsrechtlich die Berufung des Reichskanzlers durch den Kaiser nicht der Sanktionierung durch die Parlamentsmehrheit bedurfte. Das totale Fehlen einer parlamentarischen Wahlfunktion hatte u. a. zur Folge, daß der Reichstag zur legalen Opposition gegenüber der kaiserlichen Regierung wurde 8 , zu einer aktiven, die Politik mitentscheidenden Institution jedoch nie erstarken konnte. Nach Max Weber war die ganze Struktur des Reichstages auf eine negative Politik zugeschnitten. K r i t i k , Beschwerde, Beratung, Abänderung und Erledigung von Vorlagen der Regierung und alle parlamentarischen Gepflogenheiten entsprachen diesem Bild 9 . 3

Dambitsch, L., S. 194. Dambitsch, L., über A r t . 17 RV, S. 359 - 361. 5 Dambitsch, L., S. 359 ff. 6 Drastisch zur Berufungsfrage, Preuß, H. V o m Obrigkeitsstaat, Berlin— Leipzig 1921, S. 23: „Sie kamen, m a n wußte nicht weshalb u n d woher; sie gingen, m a n wußte nicht w o h i n u n d weshalb." 7 Meisner, H. O., Staat u n d Regierungsformen i n Deutschland, AöR. 7 Bd. 1951/52, S. 254-55. 8 Molt, Peter, Der Reichstag v o r der improvisierten Revolution, K ö l n 1963, S. 26 f. 9 Weber, Max, Wirtschaft u n d Gesellschaft I I , K ö l n 1964, S. 1088. 4

2. Abschn.: Der Übergang zur parlamentarischen Monarchie

217

Der Reichstag war nicht mehr als ein „demokratischer Zusatz" des monarchischen Reiches 10 . Gelegentlich mag der Rat des ausscheidenden Amtsvorgängers eine Rolle gespielt haben 11 . Grundsätzlich fiel die Wahl auf Vertreter der führenden Gesellschaftsschichten; so etwa der Ministerialbürokratie 1 2 , des Offiziers-Corps 13 und des auswärtigen Dienstes 14 . N u r zwei Reichskanzler waren auch Parlamentarier gewesen 15 . War der Reichskanzler jedoch einmal i n sein A m t eingesetzt, so mußte er sich i m Laufe der Zeit zunehmend bei seiner Amtsführung u m die Unterstützung einer Reichstagsmehrheit bemühen, da durch Obstruktion i n der Gesetzgebungsarbeit und der Etatbewilligung die Regierungstätigkeit gelähmt werden konnte. Eine das freie Auswahlermessen des Kaisers beschränkende Verfassungspraxis hat sich jedoch daraus nicht einmal i n Ansätzen entwickeln können.

Zweiter Abschnitt

Der Übergang zur parlamentarischen Monarchie Der Wechsel von der konstitutionellen zur parlamentarischen Monarchie warf spätestens u m die Jahrhundertwende seine Schatten voraus 1 . I m Jahre 1909 trat Bülow als erster Kanzler — ohne staatsrechtliche Verpflichtung — zurück, w e i l er nicht i n der Lage war, i m Reichstag eine Mehrheit zur Unterstützung seiner Politik zu finden. Bei der Auflösung des „Regierungsblocks" 2 w a r die Daily-TelegraphAffäre vom Herbst 1908 w o h l mehr der Anlaß als die Ursache, denn innerhalb der Regierung herrschten auf Grund der stark voneinander 10

S. 12.

Eschenburg,

Theodor, Die improvisierte Demokratie, München 1964.

11 So offenbar beim Wechsel v o n Bismarck zu Caprivi u n d B ü l o w zu B e t h mann-Hollweg. 12 Fürst von Bülow, v o n Bethmann-Hollweg, Michaelis. 13 Von Caprivi, Prinz M a x v o n Baden. 14 Fürst von Bismarck, Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst. 15 Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst als Abgeordneter der Liberalen Reichspartei; Georg Graf v o n H e r t l i n g als Vorsitzender der Zentrumsfraktion. 1 Hinweise auf die frühen parlamentarischen Vorgänge finden sich bei Poetzsch-Heffter (II), S. 924, A n m . 1. Danach hatte Bismarck bereits 1870 f ü r den F a l l der Ablehnung seiner Gesetzesvorlagen durch den Reichstag seinen Rücktritt oder die Parlamentsauflösung i n Aussicht gestellt.

2

Sternberger, D., S. 230.

218

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland ( )

abweichenden Verfassungsvorstellungen erhebliche Spannungen zwischen den Konservativen und Liberalen. Bülows Entlassung bewirkte zwar eine Stärkung des Reichstages3, aber die Parlamentarisierung 4 oder die Änderung der verfassungsmäßigen Regelung der Verantwortlichkeit des Reichskanzlers 5 gelang trotzdem nicht. Der Reichstag blieb auf seine „negative Macht" beschränkt. Bereits i m J u l i 1917 aber hatten die Parteien der Linken sowie die Nationalliberalen und das Zentrum einen interfraktionellen Ausschuß gebildet, dessen Aufgabe es sein sollte, die Einführung des parlamentarischen Regierungssystems vorzubereiten 6 . Deutlicher trat der Wunsch nach Einführung des parlamentarischen Regierungssystems erst i n der zweiten Hälfte des Ersten Weltkrieges zu Tage. Zwar wollte die kaiserliche Regierung ursprünglich alle Erörterungen einer verfassungsrechtlichen Neuorientierung auf die Zeit nach Kriegsende vertagen 7 , doch durch die ungeheueren Anstrengungen der Kriegsführung hatte sich das deutsche Volk einen Anspruch auf Lenkung der Geschicke durch stärkere Regierungsbeteiligung erworben 8 . Zunächst wurde aus Rücksicht auf die föderative Gliederung des Reiches m i t Zustimmung des Kaisers eine weniger einschneidende vorläufige Befriedigung angestrebt: Die Parteien sollten über politische Maßnahmen der Regierung i n Aussprachen unterrichtet und ihre Führer zu Staatssekretären ernannt werden 9 . Doch die Verhältnisse waren bereits i n Fluß geraten. Die Berufung des Nachfolgers von BethmannHollweg, Michaelis, wurde zwar vom Kaiser noch unter Ausschluß des Reichstag autoritär verfügt, aber der Reichskanzler nach wenigen Monaten vom Reichstag zum Rücktritt veranlaßt 10 . Damit hatten die Parteien durchgesetzt, daß der Kaiser trotz seines unbeschränkten Benennungsermessens bei der Berufung seines Reichskanzlers tatsächlich zu beachten hatte, daß sein Kandidat i n der Lage war, zwischen seiner Amtsführung und den Ansichten der Reichstagsmehrheit eine Konformität herzustellen. Bei der Ernennung des Grafen Hertling i m Jahre 1917 traten erstmalig die Parteien stark i n den Vordergrund 1 1 . Dabei hatte der Kaiser 3

Sternberger, D., S. 230. Gefordert v o n der SPD. 5 Angestrebt v o m Z e n t r u m u n d linksliberalen Parteien. 0 Sternberger, D., S. 231. 7 Bergsträsser, L u d w i g , Die Entwicklung des Parlamentarismus i n Deutschland, i n Parlamentarismus, K ö l n — B e r l i n 1967, S. 149. 8 Vgl. die kaiserliche Botschaft v o m 30. 9.1918. 9 Glum, Friedrich (I), S. 57/58. 10 Bergsträsser, L., S. 150. 11 Eschenburg, T., Franz v o n Papen, Vierteljahreshef te f ü r Zeitgeschichte, 1953, 2. Heft S. 159. 4

2. Abschn.: Der Übergang zur parlamentarischen M o n a r c h i e 2 1 9

keine Ernennung i m Sinne des i n A r t i k e l 15 Abs. 1 RV normierten monarchischen Vorrechte mehr vollzogen, sondern es wurde der zwischen den Reichstagsfraktionen i n direkten Verhandlungen gebildete Wille von i h m verwirklicht 1 2 . Nach dem Rücktritt des Grafen Hertling i m Herbst 1918 wurde nach KoalitionsVerhandlungen ein Koalitionskabinett m i t Prinz Max von Baden an der Spitze gebildet. Bei der Berufung des Prinzen Max zum Reichskanzler waren die Spielregeln des parlamentarischen Regierungssystems v o l l anerkannt worden: Der Ausschuß hatte den zukünftigen Reichskanzler auf die Berufung verantwortlicher Regierungsvertreter aus der Parlamentsmehrheit (Maximalprogramm vom 21.9.1918) und auf die dazu notwendige Aufhebung der Inkompatibilitätsartikel 9 bzw. 21 Reichsverfassung, die Bundesratsmitgliedern und Staatsbeamten die gleichzeitige Zugehörigkeit zum Reichstag untersagt, verpflichtet. Als sich der Reichskanzler Prinz M a x m i t seinem Kabinett dem Reichstag vorstellte, sprach die Reichstagsmehrheit der Regierung das Vertrauen aus — eine den Wandel zum parlamentarischen Regierungssystem bestätigende Geste 18 . Demgemäß wurde während der Amtszeit des Prinzen Max das tatsächlich bereits maßgebliche parlamentarische Regierungssystem verfassungsrechtlich fixiert. Nach dem Gesetz vom 28.10.1918 14 bedurfte nun der Reichskanzler zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstages. Die Folge eines Mißtrauensvotums w a r nicht ausdrücklich festgelegt, konnte aber nach dem Sinn des parlamentarischen Prinzips nur die Rücktrittsverpflichtung des Reichskanzlers sein. Auch nach dieser Verfassungsänderung w a r das Ernennungsermessen des Kaisers rechtlich unbeschränkt. Tatsächlich jedoch w a r sein Ermessen durch die Erfordernisse des Artikels 15 RV n. F. gebunden. Das kaiserliche Ernennungsrecht w a r auf die bloße Ernennungsfunktion reduziert worden. Zur Anwendung gelangte diese bedeutungsvolle Verfassungsänderung nicht mehr. Selbst die verfassungsrechtliche Sanktionierung des parlamentarischen Regierungssystems w a r nicht i n der Lage, die Monarchie zu erhalten und die Revolution vom 9. November 1918 zu verhindern. Sie t r u g aber dazu bei, einen „völligen Bruch i n der politischen Kontinuität der die Gefahr eines Zerfalls des deutschen Staates i n sich barg" 1 5 , zu vermeiden und w a r gleichzeitig eine wesentliche Voraussetzung für die neue deutsche Verfassung.

12 13 14

Glum, F. (I), S. 61. Ber gsträsser, L., S. 151.

RGBl. S. 1275 ff. Bracher, K a r l Dietrich, Auflösung der Weimarer Republik, Villingen/ Schwarzwald 1960, S. 11 ff., 15 ff. 15

220

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (B)

B. Bericht über die Bestellung des Reichskanzlers während der Weimarer

Verfassung

Erster Abschnitt

Verfassungsrechtliche Grundlagen I. Die Weimarer Verfassungskonzeption Die Weimarer Verfassung hat das parlamentarische Regierungssystem ausdrücklich übernommen 1 . Der Reichspräsident regiert nicht selbst und getrennt vom Parlament, sondern m i t diesem eng verbunden durch die Reichsregierung, d. h. durch Minister, die des Vertrauens des Reichstags zu ihrer Amtsführung bedürfen und auf dessen Verlangen zurückzutreten haben 2 . I m ausgehenden Kaiserreich waren die verfassungstheoretischen Überlegungen vom Weiterbestand der parlamentarischen Monarchie ausgegangen. I n dieser Frage bestand Einigkeit zwischen der politischen Theorie 8 und dem Führer der Sozialdemokratie, Friedrich Ebert 4 . Die Ausrufung der Republik entsprang eher einer Spontanreaktion i n der Not des Augenblicks einer von Emotionen aufgewühlten Zeit, als verfassungspolitischen Erwägungen 5 . Nur vor diesem Hintergrund ist die i m Weimarer Verfassungssystem liegende Spielart des parlamentarischen Regierungssystems, die Vorb i l d für die Konstruktion von Verfassungen anderer Länder wurde®, zu verstehen. Damit ist schon angedeutet, daß die Ausgestaltung des Amtes des Reichspräsidenten den Kernpunkt der sich sowohl vom parlamentarischen als auch vom reinen Präsidialsystem abhebenden verfassungssystematischen Neuerungen der Weimarer Verfassung darstellt 7 . Einerseits hielt man an der Aufteilung der Exekutive i n Reichspräsident einerseits und Reichskanzler m i t Reichsregierung andererseits, einem Wahrzeichen des parlamentarischen Regierungssystems 8 , fest. 1

Anschütz, G., Vorbem. v o r A r t . 41 W V . Anschütz, G., ebenda. 8 s. Weber, M a x (II), S. 325. 4 Bracher, K . D. (III), S. 17 u. 19. 5 Neumann, S., „Germany" i n Cole T.: European Political System", 2. A u f lage, New Y o r k 1961, S. 361. 6 So z. B. f ü r Österreich i n der Verfassungsreform 1929; f ü r F i n n l a n d u n d auch f ü r Frankreich 1958. 7 Loewenstein, K , Verfassungslehre, Tübingen 1959, S. 91. 8 Laferrière, Julien, Manuel de D r o i t constitutionnel, Paris 1941, S. 798, 2

1. Abschn.: Verfassungsrechtliche Grundlagen

221

Andererseits wurden i n Anlehnung an das gewaltenteilende Präsidialsystem zwei Säulen der Macht geschaffen: Der Reichspräsident und der Reichstag. Aber i m Gegensatz zum strengen Präsidialsystem stand zwischen Reichspräsident u n d Reichstag eine parlamentarische verantwortliche Regierung, welche die dem Staatsoberhaupt genommenen Exekutivfunktionen wahrzunehmen hatte, vom Reichspräsidenten dennoch nicht unabhängig war. A n der Bildung der Reichsregierung w a r der Reichspräsident maßgeblich beteiligt. Hinter dieser Schöpfung stand die Absicht der Verfassungsväter, das A m t des Reichspräsidenten möglichst stark auszugestalten 9 . Max Weber als führender verfassungspolitischer Theoretiker — er arbeitete eng m i t dem Weimarer Verfassungsarchitekten Hugo Preuß zusammen — 1 0 ging von der Autorität des Reichspräsidenten als Voraussetzung für die Arbeitsfähigkeit des Systems aus. Diese Autorität sollte das Staatsoberhaupt durch „plebiszitäre Wahl" erhalten 11 . Gleichzeitig müßte der Präsident über das Reichstagsauflösungsrecht und die Möglichkeit, bestimmte Fragen einem Volksentscheid zu unterwerfen, verfügen können 12 . Diese Sicht der Stellung des Staatspräsidenten mußte für das Problem der Amtseinsetzung des Reichskanzlers Bedeutung haben. Tatsächlich forderte Weber auch für den Reichspräsidenten das Recht, den Regierungschef auszuwählen. Der Wirksamkeitsgrad des Ernennungsrechts des Reichspräsidenten war nach Ansicht Max Webers von der Gestaltung des Parteienwesens abhängig: a) Die Parteisituation ist eindeutig, es liegt ein Zweiparteiensystem oder die Möglichkeit zur Koalitionsbildung vor. b) Der Präsident steht einem Mehrparteiensystem ohne funktionierende Koalitionsbildung gegenüber. I m Falle a) w i r d der Reichspräsident nur den Führer der Mehrheitspartei bzw. den Kandidaten der Koalition zum Reichskanzler berufen. Sollte er dies nicht tun, so würde der von i h m ernannte Kandidat sich der Gefahr eines Mißtrauensvotums durch den feindlichen Reichstag gegenübersehen. Dem Reichspräsidenten bliebe dann nur, den Reichstag aufzulösen: das V o l k würde i n der folgenden W a h l auch über den Reichskanzlerkandidaten entscheiden. Bei dieser Konstellation beschränkt sich der Einfluß des Staatsoberhauptes darauf, einen vorhandenen Mehrheitsentscheid zu verwirklichen oder einem sich bildenden Mehrheitsentscheid zur Konkretisierung zu verhelfen. Die Auswahl des Reichskanzlers erfolgt also auf Grund der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse. 9

10 11

12

Weber, M . (I), S. 457 f.

Kaltefleiter,

W. (I), S. 131.

Weber, M. (I), S. 457.

Kaltefleiter,

W. (I), S. 131.

222

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (B)

I m Falle b) kommt dem Auswahlrecht des Reichspräsidenten materielle Bedeutung zu. Zwar erhält der Reichskanzlerkandidat nicht auf Grund der Auswahl durch den Reichspräsidenten automatisch das parlamentarische Vertrauen, jedoch hätte eine Ablehnung des Kandidaten durch das Parlament eine Konfrontation zwischen Reichspräsident und Reichstag zur Folge 18 . Die Kombination von materiellem Ernennungsund Auflösungsrecht i n den Händen des Reichspräsidenten sowie die Mehrparteiensituation als einer verfassungssoziologischen Gegebenheit ermöglichen eine überragende EinfLußnahme des Reichspräsidenten auf die Berufung des Reichskanzlers. Der Verfassungsentwurf von Hugo Preuß war, abgesehen von einigen Schwerpunktsverlagerungen, i n erheblichem Maße von den Thesen Max Webers beeinflußt. Die so konzipierte Figur des Reichspräsidenten sollte systemstabilisierend w i r ken 14 . Dabei stieß Preuß auf Robert Redslob, der, auf der besonders i m französischen staatstheoretischen Denken beheimateten Theorie von Equilibrium fußend, ein zwischen Exekutive und Legislative bestehendes Gleichgewicht als Voraussetzung für ein echtes, funktionierendes parlamentarisches Regierungssystem ansah 15 . Die Aufrechterhaltung dieses Gleichgewichts sah Redslob durch einen starken Präsidenten gewährleistet, der dem Parlament ebenbürtig sein würde 1 6 . Dieser Gedankengang wurde zur Grundlage der Forderung Preuß' nach einem dem Parlament ebenbürtigen, plebiszitär eingesetzten Reichspräsidenten 17 . Demzufolge hatte der Präsident bei der Auswahl der Regierung „seine politischen Führungseigenschaften zu bewähren" 1 8 . Der Formulierung von Preuß, daß die Auswahl des Regierungschefs die „wichtigste selbständige Funktion des Reichspräsidenten" 19 sei, mag entnommen werden, daß die Sicherung der Einflußbasis des Reichspräsidenten bei der Einsetzung ein wesentliches Anliegen der von der Gleichgewichtstheorie Redslobs beeinflußten Verfassungskonstrukteure war. Die Betonung der optimalen Führerauslese fand Eingang i n die konkrete Ausgestaltung der WV. I I . Die verfassungsrechtliche Ausgestaltung Die Grundnorm für die Bestellung des Reichskanzlers war der A r t i k e l 53 WV. Hiernach wurde der Reichskanzler vom Reichspräsidenten ernannt. Dem Wortlaut des A r t . 53 nach war der Reichspräsident i n 13

Kaltefleiter, W. (I), S. 135. Preuß, Hugo, E n t w u r f der zukünftigen Reichsverfassung hrsg. i m A u f trage des Reichsamtes des Innern, B e r l i n 1919, S. 24. 15 Redslob, R., S. 4. 16 Kaltefleiter, W. (I), S. 139. 17 Preuß, H. (I), S. 24. 18 Preuß, H. (I), S. 24. 19 Preuß, H., Staat, Recht u n d Freiheit, Tübingen 1926, S. 388. 14

1. Abschn.: Verfassungsrechtliche Grundlagen

223

der Auswahl des Reichskanzlers frei; weder andere Staatsorgane noch politische Parteien hatten ein Recht, bei der Berufung des Reichskanzlers mitzuwirken 1 . A r t . 53 ist jedoch i n engem Zusammenhang mit A r t . 54 zu lesen, wonach der Reichskanzler zu seiner Amtsführung des Vertrauens des Reichstags bedurfte. Der Reichskanzler mußte zurücktreten, wenn i h m der Reichstag durch ausdrücklichen Entschluß sein Vertrauen entzog (Art. 54 Satz 2)2. Demnach war Voraussetzung für die Benennung des Reichskanzlers das Vertrauen des Reichspräsidenten, zur Amtsführung bedurfte der Reichskanzler zusätzlich das Vertrauens des Reichstags. U m seiner Regierung ein gewisses Maß an Stabilität zu sichern, war der Reichspräsident gehalten, einen Reichskanzler zu ernennen, der m i t dem Vertrauen des Reichstags wenigstens rechnen konnte. Dabei stand es dem Reichspräsidenten frei — hier zeigt sich wiederum die Beeinflussung der Verfassungsgestalter durch den Gleichgewichtsgedanken —, einen vom Reichstag durch Mißtrauensvotum zum Rückt r i t t gezwungenen Reichskanzler sofort wieder zum Regierungschef zu ernennen und unter Gegenzeichnung des wiederberufenen Kanzlers den Reichstag aufzulösen, u m ein nochmaliges Mißtrauensvotum zu verhindern 3 . Ein noch größerer Spielraum ergab sich für den Reichspräsidenten dann, wenn er gezwungen war, einen „Minderheitenkanzler" zu ernennen. Dies war stets dann der Fall, wenn ein Kandidat, m i t dem der Reichstag zur Zusammenarbeit bereit war, nicht zu finden war. Durch das Vertrauenserfordernis i n A r t . 54 bedurfte auch der Minderheitenkanzler des parlamentarischen Vertrauens. Ein ausdrückliches Mißtrauensvotum hätte seinen Sturz zur Folge gehabt. Insoweit kannte die W V die Institution des „Minderheitenkanzlers" nicht. Dieser unterschied sich vom Mehrheitenkanzler nur durch den Mangel an konstanter Gesetzgebungsmehrheit 4 . I n der Regel wurde der Spielraum des Reichspräsidenten bei der Ernennung des Minderheitenkanzlers dadurch erweitert, daß mehrere Persönlichkeiten dieses „Duldungsvertrauen" des Reichstags genossen5. Der Reichspräsident konnte auf diese Weise unbehelligt den i h m genehmen Kandidaten zum Reichskanzler ernennen, allerdings m i t der „auflösenden Bedingung" des A r t . 54 Satz 2 WV. 1

Anschütz, G., S. 313; Giese, F. (I), S. 149. A r t . 54, S. 2 W V . 3 Anschütz, G., S. 315; Pohl, Heinrich, i n : Handbuch des Deutschen Staatsrechts, I. Band, Tübingen 1930, S. 489. 4 Starck, C., Einflußrechte auf die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs, j u r . Dissertation Würzburg 1962, S. 376. 5 Anschütz, G., S. 154,189. 2

224

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (B)

Schließlich blieb dem Reichspräsidenten noch die Möglichkeit, einen Sturz seines Minderheitenkanzlers durch Auflösung des Reichstags m i t Gegenzeichnung des Kanzlers zu verhindern®. Bei der Auswahl des Reichskanzlers war der Reichspräsident nicht auf Reichstagsabgeordnete beschränkt, sondern konnte auch — freilich unter Beachtung des A r t . 54 Satz 1 — einen Nicht-Parlamentarier zum Reichskanzler berufen 7 . Das Amtsverhältnis des Reichskanzlers begann m i t der Aushändigung einer vom Reichspräsidenten vollzogenen, gegengezeichneten Urkunde 8 . Die Kombination der A r t . 53 und 54 WV, nach der über die Auswahl des Regierungschefs nur der Reichspräsident, über Abberufung des Regierungschefs aber Reichstag und Reichspräsident entscheiden können, weist auf einen Dualismus hin: Der Verfassungsgeber hat versucht, das parlamentarische m i t dem konstitutionellen Regierungssystem zu verbinden 9 . Die W V hat ein „Formenmischsystem" geschaffen. Konstitutionalismus ist eigentlich ein Begriff des monarchischen Staatsrechts. Er beinhaltet die Beschränkung der monarchischen Souveränität durch eine formelle Verfassung, die i h m ein Parlament zur Seite stellt 1 0 . Nach Einführung der Republik wurde jedoch auch vom konstitutionellen Reichspräsidenten gesprochen, u m damit die Stellung des Reichspräsidenten, als nach monarchischem Vorbilde geschaffen, auszuweisen 11 . Dieser Gedanke wurde i n A r t . 53 W V für die Bestellung des Reichskanzlers konkretisiert. Die Regierungsform des parlamentarischen Systems, nach der die Regierung i n ihrem Bestände vom parlamentarischen Vertrauen abhängig ist, hat den A r t . 54 geprägt. Dieser Dualismus 12 war für das Weimarer Verfassungsleben von zentraler Bedeutung und warf während der gesamten Geltungsdauer der Verfassung eine Reihe ernster Probleme auf. Die Spannung zwischen den beiden Prinzipien taucht auch i n den i n der verfassungsrechtlichen Literatur der Weimarer Zeit vertretenen Lehrmeinungen wieder auf. So herrschten Uneinigkeit über die Frage, was zu geschehen habe, wenn Reichspräsident und Reichstag sich nicht auf einen Reichskanzler einiβ

A r t . 25 i. V. m i t A r t . 50 W V . Giese, F. (I), S. 149. 8 §§ 2 u n d 1 I I I Reichsministergesetz. 9 Kaufmann, E., Die Reichsregierung, i n : Handbuch der Politik, Band I I I , 3. Auflage, B e r l i n u n d Leipzig 1921, §1, A n m . I I 3; Eschenburg, T., i n : DÖV 1954, S. 196. 10 Peters, H., A r t . Konstitutionalismus, i n : Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 5. Auflage, Freiburg 1929, Band 3, S. 554. 11 Apelt, W., Geschichte der Weimarer Verfassung, München 1964, 2. A u f lage, S. 201; Eschenburg, T., i n : D Ö V 1954, S. 197. 12 Loewenstein, K , Der Staatspräsident, AöR, Bd. 75, 1959, S. 181/82; Freytagh-Loringhoven, A . von, die Weimarer Verfassung i n Lehre u n d W i r k l i c h keit, München 1924, S. 123. 7

1. Abschn.: Verfassungsrechtliche Grundlagen

225

gen können; welche Folgen es hätte, wenn schon die Reichstagsmehrheit unfähig wäre, einen Reichskanzlerkandidaten hervorzubringen. Die Versuche der Lehre, den Dualismus zugunsten eines Organs zu überwinden und die Frage des „Vorrangs" bei der Berufung des Reichskanzlers und der Regierungsbildung zu klären, lassen sich i n drei Gruppen einteilen.

I I I . Die Lehrmeinungen 1. Betonung des Vorrangs des Reichstags — Gewichtsverlagerung auf A r t . 54 2. Eine Mittelmeinung, welche die rechtliche Ermessensfreiheit, aber auch die faktische Gebundenheit des Reichspräsidenten an die Mehrheitsverhältnisse i m Reichstag anerkennt 3. Eine Meinung, die unter Betonung des konstitutionellen Moments für ein unbeschränktes Ermessen des Reichspräsidenten plädiert — Gewichtsverlagerungen auf A r t . 53 A d 1 : Die Meinung faßte das präsidiale Ernennungsrecht als formale Befugnis des Reichspräsidenten auf, das dieser auf Grund der Nominierung des Reichskanzlerkandidaten durch die Reichtagsfraktionen ausübe 1 . Es sei die Pflicht des Reichspräsidenten, vor der Ernennung des Reichskanzlers m i t den Fraktionen zu verhandeln, da die Weimarer Republik ein Parteienstaat sei 2 . Giese3, als einer der Hauptvertreter dieser Auffassung, betrachtete die Regierung als bloßen Ausschuß des höchsten Staatsorgans Reichstag und daher das parlamentarische Vertrauen als Voraussetzung für die Übernahme des Reichskanzleramtes. Stier-Somlo 4 betonte zwar den Gleichgewichtsgedanken i m Sinne von Redslob, hielt aber beim Bestellungsund Regierungsbildungsvorgang am Übergewicht des Parlaments fest. Daraus zog er den Schluß, daß der Reichspräsident nur den Kandidaten zum Reichskanzler ernennen dürfe, der aller Voraussicht nach das Vertrauen des Reichstags besäße. I n Abweichung vom Gedanken des zu erhaltenden Gleichgewichts w i r d der Reichspräsident damit zum bloßen Vollstrecker des Mehrheitswillens. A r t . 53 beinhalte kein materielles Ernennungsrecht, sondern eine bloße Ernennungsfunktion des Reichspräsidenten. I n verfassungs1

2

Glum, F. (VII), S. 22/28 f., 31.

Glum, F. (VII), S. 31.

3

Giese, F., Die Verfassung des deutschen Reiches, 1931, Vorbem. zu A r t . 41. 4 Z i t i e r t bei Herrfahrdt, H., Kabinettsbildung, B e r l i n 1927 S. 12/13; ferner dieser Ansicht: Thoma, Richard, Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. 1, Tübingen 1930, S. 503 ff. (505); Hoffmann, Ε. Α., Die Stellung des Staatshauptes zur Legislative i m Deutschen Reich u n d seinen Ländern, AöR Bd. 46,1924, S. 262. 15 Lippert

226

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (B)

theoretischer Hinsicht wurde durch diese Meinung die Stellung des Reichspräsidenten bei der Berufung des Regierungschefs auf seine idealtypische Funktion i m „klassischen" parlamentarischen Regierungssystem zurückgeführt. A d 2: Ein Teil der Lehre meinte, daß dem Reichspräsidenten durch A r t . 53 zwar juristisch der Vorrang eingeräumt sei, daß aber die politisch-realen Machtverhältnisse eine materielle Beschränkung des Auswahlrechts zur Folge hätten 5 . A u f dieser Grundlage operierte Kaufmann®, wenn er die Verfassungsurkunde und die Verfassungswirklichkeit klar voneinander scheidet und auf die normative K r a f t letzterer hinweist. Er stellte den Willen dei Verfassungsschöpfer, den Reichspräsidenten zum „Vater des Kabinetts" zu machen, dem auf der Verfassungswandlung beruhenden, tatsächlichen Zustand gegenüber 7 . Die tatsächlichen Verhältnisse würden von den politischen Parteien geschaffen, die i n ihren Fraktionssitzungen über ihre Regierungsbeteiligung beraten, „die durch instruierte Gesandte" miteinander verkehren und verhandeln wie fremde Mächte 8 . Diese stark an der Verfassungswirklichkeit der ersten Jahre der Weimarer Republik orientierte These w i r d 1932 gegenstandslos, als der Reichspräsident durch ausschließlich von seinem Willen bestimmte Kanzlerernennungen die Bedeutung der Parteien und damit die des Reichstags entscheidend zurückdrängte 9 . A d 3: Anschütz näherte sich bereits der dritten Meinung: Er verneinte ausdrücklich die Verpflichtung des Reichspräsidenten, sich von den Fraktionen der Reichstagsmehrheit einen Reichskanzler aufdrängen zu lassen 10 . Eine Präsentation des Reichskanzlers durch die Reichstagsmehrheit würde dem Geiste der Verfassung widersprechen. Das Ernennungsrecht des Reichspräsidenten sollte nicht nur formelle Befugnis sein 11 . Finger 1 2 , als exponierter Verfechter einer starken Stellung des Reichspräsidenten, hielt trotz der von der Meinung ad 2 nachgewiesenen, veränderten tatsächlichen Verhältnisse am Wortlaut des A r t . 53 5 6

208.

Herrfahrdt, Kaufmann,

H.,S. 13. Erich, Regierungsbildung, i n : Die Westmark 1921, S. 205 ff.,

7 Ä h n l i c h : Freytagh-Loringhoven, A . von, Die Weimarer Verfassung S. 136/165, München 1924. 8 Kaufmann, E. (IV), S. 205 ff., 208. 9 Starck, C.,S. 69. 10 Anschütz, G., A r t . 53, A n m . 2, S. 313. 11 Anschütz, G., S. 38 unter Berufung auf Poetzsch-Heffter (II), S. 925. 12 Finger, Α., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches der Verfassung v o m 2. 8.1919, Stuttgart 1923, S. 311 ff.

1. Abschn.: Verfassungsrechtliche Grundlagen

227

fest. Der Reichspräsident solle einen entscheidenden Einfluß auf die Regierung ausüben, indem er den Vorsitzenden der Reichsregierung, den Reichskanzler ernennt. Seit dem Jahre 1923 beginnt sich, unter dem Eindruck der „pluralistischen Stagnation des Parteiensystems" 13 und der dadurch schwierig gewordenen Kanzlerbestellung, die Forderung durchzusetzen, dem Reichspräsidenten müsse größerer Einfluß bei der Regierungsbildung eingeräumt werden. So war es vor allem Poetzsch-Heffter 14 , der i m unbeschränkten materiellen Benennungsrecht des Reichspräsidenten ein erwünschtes Gegengewicht gegen die Macht des Parlaments und der i n i h m vertretenen Parteien sah. Er hielt auch die Erteilung des Vertrauensvotums durch den Reichstag anläßlich der Vorstellung des neugebildeten Kabinetts nicht für erforderlich, da die Regierung nach A r t . 54 Satz 2 W V nur auf Grund eines ausdrücklichen Mißtrauensvotums zum Rücktritt verpflichtet sei 15 . Dem trat auch Anschütz 16 bei, der eine Entziehung des Vertrauens nicht schon darin sieht, daß der Reichstag es ablehnt, der Regierung sein Vertrauen auszusprechen. Der Rücktritt des Kabinetts Stresemann auf die Verweigerung eines Vertrauensvotums h i n entbehre daher der staatsrechtlichen Notwendigkeit 1 7 . Die i n den Stellungnahmen von Anschütz und Poetzsch erkennbare strikte Ablehnung der parlamentarischen M i t w i r k u n g bei der Regierungsbildung läßt sich auf das konstitutionelle Prinzip zurückführen. M i t der von den genannten Autoren durchgeführten Interpretation hebt sich die Weimarer Regierung von den meisten ausländischen parlamentarischen Verfassungen ab, da dort bei Nichterteilung eines Vertrauensvotums der Staatspräsident 18 gezwungen ist, die Regierungsbildung m i t einem neuen Ministerpräsidenten zu versuchen 19 . Ebenso betont Hermann Lufft 2 0 das materielle Benennungsrecht des Reichspräsidenten, das er aus der direkt vom Volke übertragenen Machtvollkommenheit ableitet. Ein Konflikt zwischen Reichspräsident 13 Z u m Begriff s. Hermens, F. Α., Verfassungslehre F r a n k f u r t (Main), Bonn 1964, S. 429. 14 Poetzsch-Heffter, S. 925; ferner sind dieser Ansicht Preuss, Η . (II), S. 388; Anschütz, G., A r t . 53, A n m . 2. 15 Freytagh-Loringhoven, A . von, S. 235. 18 Anschütz, G., A n m . 3 zu A r t . 54. 17 Anschütz, G., ebenda, A n m . 2. 18 Kehlenbeck, Paul, Der Staatspräsident, H a m b u r g 1955, S. 31. 19 Beispiele bei Kehlenbeck, P., S. 28. 20 Lufft, Hermann, Souveränitätskonflikte zwischen Reichspräsident u n d Reichstag, i n : Hochland, 24. Jg., 1926/27, S. 688.

15*

228

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (B)

und Reichstag dürfe nicht auf Kosten des Reichspräsidenten als Träger der Souveränität gehen 21 . Mehr die historische Betrachtung verfolgende Autoren 2 2 sehen das größere Einflußrecht des Reichspräsidenten durch den freiwilligen Verzicht des Reichstags auf die i h m gestellte Aufgabe, einen Kanzler hervorzubringen, begründet 23 . Nach dieser kurzen Skizzierung von i n der Lehre vertretenen Ansätzen zur Auflösung des Dualismus sollen nun die Ergebnisse der bei der Auswahl des Reichskanzlers geübten Verfassungspraxis betrachtet werden.

Zweiter Abschnitt

Die politische Praxis und ihre Ergebnisse Die Amtseinsetzungen der Reichskanzler und die darauf gründenden Kabinettsbildungen während der Weimarer Republik lassen sich rückblickend i n vier Perioden einteilen 1 . 1. Die Reichskanzlerkandidaten als Führer einer Mehrheitskoalition (Zeit der „Weimarer Verfassungsparteien" 1919 - 1922) 2. Verbreiterung der Mehrheitsbasis Große Koalition 1922 - 1923

durch Uberparteilichkeit

und

3. Minderheitenkanzler der Mitte mit ungebundener Fühlung nach allen Seiten 1923 -1930 4. Lösung der Kabinette vom Reichstag — Versuch der überparteilichen Präsidialkabinette Die Berufungen der Reichskanzler und die anschließenden Regierungsbildungen der ersten Periode waren von zwei Erscheinungen geprägt. Die das Verfassungswerk tragenden politischen Parteien — das Zentrum, die Sozialdemokratie und die aus dem progressiven Liberalismus entstandene Deutsche Demokratische Partei — bildeten die Mehrheit des Reichstags. Sie stimmten, trotz aller sonstigen Gegensätze, i n der gemeinsamen parlamentarisch-demokratischen Grundhaltung überein. Sie anerkannten, daß der maßgebliche politische Wille der Nation von der Mehrheit des Parlaments repräsentiert wurde, und befürworteten 21

22 23 1

Lufft, H., S. 693.

Glum, F. (VII), S. 35; Härtung, .F, S. 338 f. Starck, C., S. 66. Soweit nach Herr fahr dt, H., S. 40/41.

2. Abschn.: Die politische Praxis und ihre Ergebnisse

229

einen starken Einfluß des Reichstags auf die Bestellung des Reichskanzlers und die Kabinettsbildung 2 . Infolgedessen fiel es dem vom Reichspräsidenten ernannten Kanzler nicht so schwer, ein Kabinett auf der Grundlage der Weimarer Koalition zu bilden. Ausnahmen stellen nur die Regierungsbildungen bis zur Annahme des Versailler Vertrages dar. Der damalige Reichspräsident Ebert führte sein A m t mit der politischen Zielsetzung, die Stabilisierung des Reiches durch eine Außenpolitik der Verständigung und eine Innenpolitik der Zusammenarbeit m i t allen demokratischen Gruppen zu erreichen 8 . U m die Formulierung der Außenpolitik zu erleichtern, drängte der Reichspräsident auf möglichst schnelle Regierungsbildung. Hier reichte seine M i t w i r k u n g weit über die rein formale Ernennung des Reichskanzlers hinaus und ging oft bis zur Besetzung der einzelnen Ministerämter, wobei er sich auch des Druckmittels der Rücktrittsdrohung bediente, u m die Koalitionsverhandlungen zu beschleunigen 4 . Friedrich Ebert wirkte auch dann tatkräftig bei der Regierungsbildung mit, wenn der Reichstag infolge zerrissener Parteienverhältnisse der Führung bedurfte 5 . Regelmäßig aber überließ der Präsident den Fraktionen des Parlaments die Initiative. Diese bildeten gewöhnlich unmittelbar nach den Reichstagswahlen eine Arbeitsgemeinschaft, i n der i n langen Verhandlungen das gemeinsame Regierungsprogramm aufgestellt, und die Besetzung der Kabinettsposten festgelegt wurden. Dem Reichspräsidenten verblieb dann allenfalls noch die Ernennung des Koalitionskandidaten zum Reichskanzler und die übrigen zur Regierungsbildung notwendigen Maßnahmen zu vollziehen®. Aber das Eingreifen Eberts bei den Regierungsbildungen i n der Zeit der Annahme des Versailler Vertrages sowie i m Falle des Minderheitenkanzlers Fehrenbach hatte doch gezeigt, daß die jeweilige tatsächliche Machtposition der sich „verfassungsrechtlich ebenbürtig gegenüberstehenden" 7 Verfassungsorgane Reichspräsident und Reichstag von den Mehrheitsverhältnissen i m Reichstag abhängig war. Damit können w i r als Ergebnis dieses ersten Zeitraums formulieren: Die Intensität des präsidialen Einflusses wächst proportional zum Ausmaß der „pluralistischen Stagnation" 8 der Reichstagsparteien. 2 Bergsträsser, L u d w i g , E n t w i c k l u n g des Parlamentarismus mentarismus, K ö l n — B e r l i n 1967, S. 153. 3 Kaltefleiter, W. (I), S. 155. 4 Kaltefleiter, W. (I), S. 156, m i t weiteren Nachweisen. 5 Kaltefleiter, W. (I), S. 156. 6 Poetzsch-Heffter, Bd. 13, S. 162/63. 7 Bergsträsser, L., S. 153. 8 Kaltefleiter, W. (I), S. 158.

in:

Parla-

230

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (B)

Die zweite Periode wurde geprägt durch das Bemühen, hinter Reichskanzler und Kabinett nicht nur eine zahlenmäßige, sondern eine tragfähige Mehrheit zu sammeln. Dieser Begriff hat zum Inhalt, daß kein wesentlicher Volksteil, der zu außerparlamentarischen Störungen des politischen Lebens i n der Lage ist, ausgeschlossen bleibt 9 . Die schwierige Aufgabe, die DVP als Vertreterin industrieller Interessen und die Arbeiterpartei SPD zu gemeinsamer Arbeit i m Kabinett zu vereinen, ist gescheitert. Der durch den Sturz von Wirths Nachfolger Cuno getroffene Reichspräsident Ebert blieb bei der nächsten Kanzlerernennung passiv und ernannte Stresemann als den Kandidaten einer sich i n seltener Einmütigkeit zusammenfindenden Großen Koalition zum Reichskanzler 10 . Als Anfang Oktober 1923 die Große Koalition auseinanderbrach, ernannte der Reichspräsident Stresemann sofort wieder zum Reichskanzler m i t dem Auftrag, ein Kabinett auf möglichst breiter Basis zu bilden. Das Scheitern dieser Bemühungen leitete über zur dritten Periode, i n der — besonders unter Hindenburg — unter Verzicht auf feste Koalitionsbindungen durch Einsetzung von Minderheitenkanzlern der bürgerlichen Mitte weite Volkskreise erfaßt werden sollten. Dabei wurde infolge der fortschreitenden Zerklüftung und Radikalisierung des Parteiwesens 11 die Ernennung eines Reichskanzlers, der die Herstellung einer tragfähigen Mehrheitsregierung erwarten ließ, immer schwieriger. Die Situation eröffnete dem Reichspräsidenten einen weiten Manövrierspielraum, ja, sie verlangte seine M i t w i r k u n g i n einer die Funktionen des Staatspräsidenten i m klassischen parlamentarischen System sprengenden Weise 12 . Dieser suchte sich auch dadurch einen Einfluß auf die Regierungsbildung zu sichern, daß er dem von i h m ernannten Reichskanzler einen fest umschriebenen Auftrag hinsichtlich der zu verfolgenden Politik erteilte; so zum ersten Male dem Abgeordneten Koch-Weser i m Jahre 192513, und ebenso 1927, als Hindenburg den Zentrums-Abgeordneten Marx zum Reichskanzler ernannte und i h n beauftragte, eine Regierung der bürgerlichen Mitte zu finden. Der Reichspräsident übte schließlich sein Auswahlrecht gemäß A r t . 53 tatsächlich als materielles Ernennungsrecht aus, indem er sich für Persönlichkeiten entschied, deren politische Richtlinien i h m am meisten zusagten 14 . 9

Herrfahrdt, H., S.31. Poetzsch-Heffter, Bd. 13, S. 163. 11 Koellreutter, Otto, Die Stellung des deutschen Reichspräsidenten, i n : D J Z 125, Sp. 551 ff. 12 Kaltefleiter, W. (I), S. 158. 13 Bergsträsser, L., S. 155. 14 Thoma, Richard, Handbuch des deutschen Staatsrechts I, Tübingen 1930, S. 507; Pohl, Heinrich, Die Zuständigkeiten des Reichspräsidenten, i n : Anschütz—Thoma, R., S. 487. 10

2. Abschn. : Die politische Praxis und ihre Ergebnisse

231

Diese Entwicklung führte schließlich i n der vierten Periode zu den „Präsidialkabinetten", welche i n zunehmendem Maße auf die Zustimmung des Reichstags verzichteten und ihren alleinigen Rückhalt i m Vertrauen des Reichspräsidenten fanden — womit i m pluralistischen Parteienstaat eine monistische Präsidialregierung das Ubergewicht errungen hatte 15 . M i t dem Übergang zur Phase der Präsidialkabinette, bei deren Bildung das Parlament ausgeschlossen wurde, war die Entwicklung vom parlamentarischen System zum präsidentiellen System abgeschlossen16. Die parlamentarische Regierungsweise verlangt, daß das Staatsoberhaupt den Regierungschef nicht i n freier Entscheidung unter Ausschluß des Parlaments ernennt, sondern unter Berücksichtigung des Grundsatzes der parlamentarischen Verantwortlichkeit des Kabinetts 1 7 . Eine solche Rücksichtnahme war dem Reichspräsidenten während der Endphase der Weimarer Republik infolge der Konstellation des Parteiwesens nicht mehr möglich. Durch das Versagen des Reichstags i n seiner wichtigsten Funktion, nämlich eine Regierung hervorzubringen 18 , war der Reichspräsident gezwungen, seine Reservemacht zu aktualisieren und eigentlich dem Reichstag obliegende Aufgaben wahrzunehmen. Was die Minderheitenkanzler und ihre Kabinette der dritten und vierten Periode besonders kennzeichnete, waren folgende Gesichtspunkte 1 9 : 1. Die Betonung der Mitte. Hier kam zunächst der Wunsch zum Ausdruck, Vermittler und ehrlicher Makler zwischen den an parlamentarischer Präsenz ständig zunehmenden Flügelparteien zu sein. Das Zusammenwirken der Mittelparteien war aber durch die Radikalisierung der äußersten Links- und Rechtsparteien sehr erschwert: Die Parteien der Mitte litten unter der ständigen Bedrohung, bei Zugeständnissen gegenüber einer Seite weitere Wähler an die entgegengesetzte parteipolitische Front zu verlieren 20 . 2. Als beherrschendes Moment trat schließlich die Forderung nach „Überparteilichen Persönlichkeiten" hervor, verstanden als Fähigkeit zu parteiunabhängiger, energischer Führung und schiedsrichterlicher Stellung gegenüber den verschiedenen Volksteilen 2 1 . Gerade Hindenburg war es, der die Ausrichtung der Politik am „bonum commune", ohne Rücksicht auf parteipolitische Interessen, 15 Meisner, H. O., Staats- u n d Regierungsformen i n Deutschland seit dem 16. Jahrhundert, AöR 77, Bd. 1951/52, S. 225 f., 260. 16 Freytagh-Loringhoven, A . von, S. 237. 17 Kehlenbeck, P., S. 28. 18 Hilferding, Rudolf, Internationale Revue f ü r Sozialismus u n d Politik, i n : Die Gesellschaft, 7. Jg., Bd. 1, B e r l i n 1930, S. 389. 19 I m folg. vgl. Herrfahrdt, H., S. 41 if. 20 Bergsträsser, L., S. 155. 21 Herrfahrdt, H., S. 41.

232

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (B)

immer wieder betonte. So auch i n der Unterredung m i t von Papen am 31.5.1932, als er sagte: „Ich w i l l endlich einmal ein Kabinett von Männern, die ich auch persönlich kenne, ein Kabinett, das regiert und nicht bei jeder Kleinigkeit von Parteihändeln abhängig ist 2 2 ." Der Gesichtspunkt der Uberparteilichkeit mag auch erklären, daß sich die Minderheitenkabinette trotz zunehmender Isolierung durch die Parteien i m politischen Leben halten konnten. Neben die Rückendeckung durch den plebiszitär bestellten Reichspräsidenten traten noch die i n vielen Gruppen des Volkes wurzelnde Achtung vor der sachlich-politischen Leistung und die Zustimmung zur überparteilichen Haltung hinzu 2 3 . Solche Sympathien i n der Bevölkerung basierten aber infolge des negativen Eindrucks von der Praxis der Regierungsbildungen gerade nicht auf der parlamentarisch konstruierten Verfassung, sondern auf der Hinwendung zu stabileren, „konstitutionellen" Verhältnissen. Auch mag die Erinnerung großer Teile des Volkes an die sicherere Regierungsführung während der Monarchie eine Rolle gespielt haben 24 . M i t der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler war auch die vierte Periode der Kabinettsbildungen unter der Weimarer Verfassung abgelaufen. Das parlamentarische Regierungssystem, i n Deutschland wegen seiner mit der Revolution gekoppelten Einführung als „Importware" angesehen, hatte seine Bewährungsprobe nach weitverbreiteter Meinung nicht bestanden 25 . Die parlamentarische Kanzlerbestellung als Errungenschaft des parlamentarischen Regierungssystems 2® war zum anfälligen Glied des Verfassungssystems geworden und mußte i m Interesse der Staatsräson autoritär ausgeschaltet werden 27 .

Dritter Abschnitt

Reformbestrebungen Unter dem Eindruck der immer schwieriger werdenden Regierungsbildungen wurden von Wissenschaftlern und Politikern Reformen vorgeschlagen, die eine Erleichterung der Regierungsbildung zum Ziele 22 Schönbrunn, Günter, Weltkriege u n d Revolutionen 1914 - 1945, Geschichte i n Quellen, Bd. V, München 1961, S. 267. 23 Brüning, Heinrich, Memoiren, vgl. Magazin Der Spiegel, 23.10.1970. 24 Apelt, W., S. 208, 360; Finger , Α., S. 311/312; Glum, F. (I), S. 229. 25 F ü r viele: Leibholz, G., Die S t r u k t u r der neuen Verfassung, Deutsche V e r w a l t u n g 1948, S. 73 f. 28 Schmidt, Richard, S. 200. 27 Loewenstein, K . (III), S. 185.

3. Abschn. : Heformbestrebungen

233

hatten. Dies sollte teilweise ohne ausdrückliche Verfassungsänderung erreicht werden. Zunächst ist hier der erwähnte Autorenkreis zu nennen, welcher den Einfluß des Reichspräsidenten auf Kanzler- und Ministerernennung verstärkt sehen wollte 1 . Abgesehen von verfassungsrechtlichen und politisch-praktischen Bedenken 2 hinsichtlich der geplanten Stärkung der Stellung des Reichspräsidenten herrschte Übereinstimmung über die mangelnde Führungs- und Handlungsfähigkeit von Mehrheiten; diese seien für die Beschlußfassung zuständig, jedoch nicht geeignet, Führungsentscheidungen zu treffen 3 . Aus diesem Grunde sei eine Verstärkung des monistischen Einflusses des Staatsoberhaupts bei der Kanzlerauswahl wünschenswert 4 . Unter den Verfechtern dieser Meinung waren zwei Hauptargumente vertreten: Einmal wurde versucht nachzuweisen, daß der Reichspräsident eigentlich über umfassende Rechte bei der Kanzlerberufung verfüge, deren volle Ausschöpfung aber von einer zu mobilisierenden Zustimmung des Volkes abhängig sei 5 . Andererseits wurde beklagt, daß der Reichspräsident keine materiellen Rechte bei der Regierungsbildung habe, nur eine Schmuckfigur sei und seine verfassungsrechtliche Stellung deshalb ausgebaut werden müsse®. I m Falle der ersten Meinung wurde eine Änderung ohne, von der zweiten m i t Hilfe einer formellen Verfassungsänderung angestrebt. Eine weitere Möglichkeit, die Kabinettsbildung zu erleichtern, wurde i m Verzicht auf das am Anfang der Weimarer Republik geforderte positive Vertrauensvotum des Reichstags für das Kabinett bei dessen Amtsantritt gesehen. Das nach A r t . 54 erforderliche Vertrauen des Reichstages wurde solange „fingiert" 7 bis das Mißtrauen ausdrücklich erklärt wurde 8 . 1

Poetzsch-Heffter, F., Carl Schmitt u n d Herrfahrdt. Bergsträsser, L., S. 1392/93. 3 Westarp, Graf Kuno, A m Grabe der Parteiherrschaft, B e r l i n 1932/33, S. 129. 4 H i e r w i r d bereits dezisionistisches Gedankengut sichtbar, vgl. Badura, Peter, Die Methoden der neueren allgemeinen Staatslehre, Erlangen, 1959, S. 199 ff., zur Lehre Carl Schmitts. 5 B u n d zur Erneuerung des Reiches, S. 49/54. 6 Frost, Gerd, Die Kabinettsbildung als Problem der Staatsgestaltungslehre, j u r . Diss. M a r b u r g 1955, S. 47. 7 Hierbei handelt es sich jedoch nicht u m eine Fiktion, sondern eine w i d e r legbare Vermutung: Eine F i k t i o n unterstellt einen nichtgegebenen Sachverhalt als existent, während die V e r m u t u n g bis zum Beweise des Gegenteils einen möglichen Sachverhalt als vorliegend behandelt; vgl. hierzu Crei felds, Carl, Rechtswörterbuch, Stichworte F i k t i o n u n d Vermutung, München 1968, S. 308,1135. 8 Poetzsch-Heffter, F., Bd. 13, S. 168; M d R Dr. K a h l i n Gesch.O.Ausschuß des Reichstags am 15.10.1924, zit. bei Anschütz, G., S. 320 f.; a. A . von Freytagh-Loringhoven, Α . V., S. 168/69; Luther, Hans, Weimar u n d Bonn, Schrif2

234

I. Teil, 2. Kap. : Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (B)

Ungeachtet dieser sich innerhalb rechtspositivistischer Betrachtung bewegenden Diskussion setzte sich die tatsächliche Verfassungspraxis durch, als die Abgabe von Vertrauenserklärungen für Mehrheits- und von Billigungserklärungen für Minderheitsregierungen außer Übung kam. Schon der Reichskanzler Marx begnügte sich nach seiner ersten Kabinettsbildung m i t der Ablehnung eines Mißtrauensvotums durch den Reichstag. Die Präsidialkanzler der vierten Phase erhielten weder Vertrauens« noch Billigungserklärungen. Dennoch wurde nicht bestritten, daß die Regierungsbildung i n staatsrechtlich v o l l wirksamer Form vorgenommen worden war. Das Problem, ob das Vertrauen des Parlaments schon i m Unterlassen einer Mißtrauenserklärung, oder der Abgabe einer Billigungs- bzw. einer Vertrauenserklärung erblickt werden konnte, ging über den Rang einer technischen Fragestellung weit hinaus, w e i l gerade an dieser Stelle das Maß der Abhängigkeit des Regierungschefs und seines Kabinetts vom Parlament und damit die Intensität und Spielart des parlamentarischen Regierungssystems abzulesen war. Die Weimarer Verfassungspraxis kannte mehrere Beispiele, wo eine der Regierung nicht freundlich gegenüberstehende Reichstagsmehrheit gegen einen Vertrauensantrag gestimmt, aber auch einen Mißtrauensantrag abgelehnt hat, u m einen Regierungssturz zu verhindern. Weitere Bestrebungen, die insbesondere von den Parteien verfolgt wurden, hatten eine Bindung des Auswahlermessens des Reichspräsidenten an bestimmte „parlamentarische Bräuche" zum Ziel. So forderte der Vorsitzende der Deutschnationalen Volkspartei i n einem vielbeachteten Brief® den Reichspräsidenten auf, gemäß der parlamentarischen Übung nach dem Sturz des Kabinetts eine der Oppositionsparteien m i t der Regierungsbildung zu beauftragen. Ebert hat diese Forderung entschieden zurückgewiesen 10 . Andere Forderungen richteten sich auf die Beauftragung des Führers der größten Fraktion nach den Neuwahlen 1 1 . Beide Reichspräsidenten haben aber wiederholt betont, daß sie i n der Auswahl des Reichskanzlers lediglich durch A r t . 54 gebunden seien 12 . I n der Tat war i n Deutschland nie ein Brauch dahingehend entwickelt worden, daß bei der Regierungsbildung entweder der Führer der größten Fraktion (nach Neuwahlen) oder der Führer der Opposition (nach einem parlamentarischen Regierungssturz) zum Reichskanzler zu betenreihe der Hochschule f ü r politische Wissenschaften, Heft 11, München 1951, S. 23/24. 9 Abgedruckt bei Poetzsch-Heffter, Bd. 13, S. 163/64. 10 Poetzsch-Heffter, F., ebd. 11 Poetzsch-Heffter, F., Bd. 13, S. 163. 12 Anschütz, G., S. 314; Pohl, Heinrich, i n : Handbuch des deutschen Staatsrechts I Tübingen 1930, S. 488/89.

3. Abschn. : Reformbestrebungen

235

stellen seien. Eine solche Übung wäre auch mangels einer geschlossenen Opposition mit einem anerkannten Führer und infolge des Fehlens einer Fraktion, welche die Mehrheit der Parlamentssitze einnimmt, nicht realisierbar gewesen. Überdies war der damalige Reichstag nicht i m Sinne eines Parlaments, bei dem die Wahlfunktion i m Vordergrund steht, organisiert, sondern primär als Legislativ- und Kontrollorgan 1 8 . Das Weimarer Parlament war nicht i n der Lage, den Schritt zur vollausgebauten Parteiregierung i m Sinne des englischen Vorbildes zu gehen. Der Reichstag war nicht bereit, die Regierung einer Mehrheitspartei zu übertragen 14 . Eine kraftvolle Partei- bzw. Koalitionsregierung entwickelte sich unter diesen Umständen ebensowenig wie eine starke, zur Übernahme der Verantwortung bereite Opposition. Die Reichskanzler der Weimarer Republik hatten sich auf eine wechselnde „Koalition der Vernünftigen" zu stützen, deren Parteien die Regierung nur beeinflußten, ohne i n sie einzutreten 15 . Als Ergebnis ist festzuhalten: Der i n der Weimarer Verfassung angelegte Dualismus ist als relativer Dualismus zu verstehen 16 , der nur auf das souveräne V o l k zurückgeführt werden kann, da sowohl Reichspräsident als auch Reichstag i n gleicher Weise demokratisch legitimiert sind. Fraglich ist daher überhaupt, ob der Dualismus über die einseitige Vorrangstellung eines der beiden Organe aufgelöst werden konnte 1 7 . Für die Staatspraxis waren mehrere Verfassungskonforme Möglichkeiten denkbar 18 . Die Konzeption der Weimarer Verfassungsväter war von einem starken Präsidenten i m Rahmen des ausdrücklich beibehaltenen parlamentarischen Regierungssystems ausgegangen. Für die Bestellung des Kanzlers bedeutet dies, daß das Staatsoberhaupt am Vorgang der Auswahl des Regierungschefs i n der Weise beteiligt ist, daß auch die von i h m eingesetzte Regierung des parlamentarischen Vertrauens bedarf 19 . Diesen Weg hatte die Weimarer Verfassungspraxis i n der Not des Augenblicks verlassen, u m den autoritären Pfad zu beschreiten. 18 Trossmann. Hans, Reichstag u n d Bundestag, Organisation u n d Arbeitsweise, i n : Ernst Deuerlein Hrsg. der Reichstag, F r a n k f u r t 1963, S. 125. 14 Molt , Peter, Der Reichstag v o r der improvisierten Revolution, K ö l n 1963, S.363. 15 Bracher, Karl-Dietrich, Die Auflösung der Weimarer Republik, V i l lingen/Schwarzwald 1960, S. 34 f. 16 Starck, C., S. 72. 17 Wolgast, E., Die Kampfregierung. E i n Beitrag zur Lehre v o n der K a b i nettsbildung nach der Weimarer Verfassung (ö. r. Vorträge u n d Abhandlungen Heft 1, hrsg. v. E. Wolgast) Königsberg 1929, S. 16/18. 18 Apelt, W., S. 214. 19 Kehlenbeck, P., S. 29.

236

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland ( )

C. Unter dem Bonner Grundgesetz Erster Abschnitt

Entstehung des Art. 63 GG I. Die in den Verfassungen der westdeutschen Länder verwirklichten Lösungen Nach der Kapitulation vom 8.5.1945 war jede deutsche staatliche Tätigkeit erstorben. Die Funktionen der öffentlich-rechtlichen Körperschaften wurden von den Behörden der Besatzungsmächte wahrgenommen und gingen nur allmählich, auf der untersten Stufe der Gemeinden und Kreise, wieder auf Deutsche über. Von dort war jedoch noch ein weiter Weg bis zur Wiedererstehung deutscher Staatlichkeit i n Gestalt von Ländern. Allerdings wurde i n Bayern bereits am 28. 5.1945 der erste bayerische Ministerpräsident ernannt 1 . Bedingt durch die unterschiedlichen Ansichten der Besatzungsmächte hinsichtlich deutscher Beteiligung dauerte dies freilich i n anderen Besatzungszonen länger. Die zur Neuordnung des staatlichen Lebens notwendigen Verfassungen wurden von verfassungsgebenden Landesversammlungen ausgearbeitet. Die dort entwickelten Lösungen der Bestellung des Regierungschefs vermögen insoweit nicht unmittelbare Vorbilder für die entsprechende Regelung des Grundgesetzes zu sein, als i n den deutschen Ländern die „MinisterratsVerfassung" 1 herrscht, also das Kollegium der Ressortchefs, der Ministerrat als oberstes Regierungsorgan fungiert. Die Funktionen des Staatsoberhaupts werden i m allgemeinen vom Gremium des Kabinetts erfüllt, einzelne darunter vom Minister- bzw. Parlamentspräsidenten 8 . Sobald sich aber teilweise die Auffassung durchgesetzt hatte, daß die Beibehaltung eines Staatspräsidenten den Staatszwecken förderlich sei, mußte die Frage nach der A r t seiner Beteiligung am BestellungsVorgang gestellt werden. Dabei gilt auch für die nach 1945 geschaffenen Länderverfassungen die für jeden Verfassungsgeber geltende Regel, daß der Inhalt des Verfassungswerks mitgestaltet w i r d und gleichzeitig eine Reaktion auf die unmittelbar vorangegangene staatliche Vergangenheit darstellt 4 . 1

Maunz, Theodor, Deutsches Staatsrecht, 17. Aufl., München 1969, S. 2. Anschütz, G., Verfassung des deutschen Reiches, 14. Aufl., B e r l i n 1933, S. 242. s Mangoldt, Hermann von, Das Verhältnis v o n Staatschef u n d Regierung, i n : Beiträge zum öffentlichen Recht, Sonderveröffentlichung der Zeitschrift f ü r ausländisches u n d internationales Privatrecht, London 1960, S. 353. 4 Strauß, Walter, Der Bundespräsident u n d die Bundesregierung, D Ö V 1949, S.272 - 275. 2

1. Abschn.: Entstehung des A r t . 63 GG

237

Schon hier i m kleinen Bereich der Länderverfassungen ist die große Mühe erkennbar, die als Wurzel allen Übels angesehenen „Fehler" der Weimarer Verfassung, wie etwa den Dualismus zwischen Staatsoberhaupt und Parlament, bei der Berufung des Regierungschefs zu vermeiden. Daraus resultiert die beherrschende Stellung, die dem Parlament bei der Kabinettsbildung i n sämtlichen Verfassungen zugeordnet ist. Ein weiteres Verfassungsorgan ist an der Bestellung des Regierungschefs nicht beteiligt. Es bestehen nur Unterschiede i m formalen Ablauf. Die Mehrzahl der Verfassungen regeln die Regierungsbildung i n zwei Stufen, nämlich die Wahl des Ministerpräsidenten und, dieser folgend, die Berufung der übrigen Kabinettsmitglieder 5 . Demgegenüber lassen die Verfassungen der Staaten Berlin 6 , Hamburg 7 und Bremen 8 die Regierung i m gleichen einheitlichen Wahlverfahren ins A m t berufen. I n einigen Ländern ist eine qualifizierte Mehrheit Voraussetzung für die Amtseinsetzung des Ministerpräsidenten 9 . Andere Verfassungen suchen den Wahlablauf zu beschleunigen und die Kompromißbereitschaft der Parteien zu stärken, indem sie nach Verstreichen einer bestimmten Frist 1 0 und erfolgloser Wahl des Regierungschefs die A u f lösung des Landtags zulassen 11 . Neben den Lösungen der Länderverfassungen 12 fanden sich i n der relativ langen Zeit zwischen Kapitulation und dem Zusammentritt des Herrenchiemseer Verfassungskonvents sowie des Parlamentarischen Rates eine Fülle von Vorschlägen und Entwürfen, die sich u m Klärung der bei Berufung des Regierungschefs auftauchenden Probleme bemühten. II. Vorschläge in Parteien und Lehre Auch die Autoren dieser Vorschläge und Entwürfe standen unter dem Einfluß der Besatzungsmächte und unter dem Eindruck des Versagens der Weimarer Verfassung. I m Gegensatz zu vielen anderen bedeutenden 5

Amphoux, J., Le Chancelier, Paris 1962, S. 31. A r t . 41. 7 A r t . 34. 8 A r t . 107. • Baden-Württemberg, A r t . 45, Berlin, A r t . 41, Bremen, A r t . 107, Hamburg, A r t . 34, Hessen, A r t . 101, Niedersachsen, A r t . 20, Nordrhein-Westfalen, A r t . 52, Rheinland-Pfalz, A r t . 98. 10 Nach A r t . 44 Abs. V, a. F. = 4 Wochen. 11 Baden-Württemberg, A r t . 37, Niedersachsen, A r t . 21. 12 Allerdings w a r e n die Verfassungen einiger Länder erst nach dem I n krafttreten des Grundgesetzes verabschiedet worden, so i n Baden-Württemberg am 19.11.1953, B e r l i n am 1.10.1950, H a m b u r g am 6. 6.1952, NordrheinWestfalen am 28. 6.1950, u n d die Landessatzung Schleswig-Holstein am 13.12. 1949. 6

238

I. Teil, 2. Kap. : Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland ( )

Fragen des staatlichen Aufbaus 1 blieb das Problem der Berufung des Regierungschefs dem unmittelbaren Interesse der Besatzungsmächte entrückt, was den Parteien als Trägern der öffentlichen Willensbildung und des politischen Sachverstandes ein großes Betätigungsfeld eröffnete. Dabei blieb der Konsens zwischen den schon damals maßgeblichen Parteigruppierungen der Union einer- und der SPD andererseits nicht nur auf die Bereitschaft zum Aufbau eines westdeutschen staatlichen Provisoriums beschränkt, sondern man war sich i n der frühen Nachkriegszeit bereits darüber einig, daß eine Wiedererrichtung des parlamentarischdemokratischen Verfassungsstaates versucht werden sollte 2 . Doch herrschte auf Grund der Weimarer Erfahrungen die feste Überzeugung von der Notwendigkeit, bestimmte Sicherungen i n die neue Verfassung einzubauen, die eine Wiederholung der Zerstörung parlamentarischen Lebens verhindern sollten. Den Konsensus über die konkreten Einzelfragen der Verfassung galt es jedoch erst i m Parlamentarischen Rat herzustellen, wo die verschiedenen Konzeptionen der Parteien aufeinandertreffen. Den Weg der innerparteilichen Willensbildung zu verfolgen ist unerläßlich für das Verständnis der bemerkenswert ausführlichen Diskussionen i m Parlamentarischen Rat. 1. Konzeption der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands

a) Vorschläge des Nürnberger Parteitages von 1947 Der sozialdemokratische Parteivorstand hatte i m September 1946 einen verfassungspolitischen Ausschuß m i t der Erarbeitung von Grundsätzen für die Verfassung des zukünftigen westdeutschen Staates beauftragt. Der Ausschußvorsitzende, Dr. Menzel, erläuterte die Arbeitsergebnisse auf dem Nürnberger Parteitag 3 . Diese sehen das A m t des Reichspräsidenten vor, dessen Befugnisse aber gegenüber der Weimarer Verfassung erheblich beschränkt sind und auf dem Gebiete der „formellen Repräsentation" liegen 4 . Auch die Reichsregierung w i r d i n den Beschlüssen erwähnt 5 : bei ihr ist die vollziehende Gewalt konzentriert und sie bedarf des Vertrauens des Reichstags. Das Parlament w i r d auf Grund allgemeinen Wahlrechts gewählt®. Die Nürnberger Beschlüsse stellen somit klar, daß das parlamentarische System m i t der parlamentarischen Vertrauensbedürftigkeit der Regierung eingeführt werden soll, äußern 1

Wie etwa die zukünftige föderative Gestaltung. Soergel, Werner, Konsensus u n d Interessen; eine Studie zur Entstehung des Grundgesetzes f ü r die Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1969, S. 55. 8 V o m 29. 6. bis 2. 7.1947. 4 Soergel, S. 61. 5 Β-4. β B-l. 2

1. Abschn.: Entstehung des A r t . 63 GG

239

sich aber nicht über den Gang der Bestellung des Regierungschefs u n d die daran beteiligten Staatsorgane. b) Westdeutsche Satzung = Entwurf

Menzel I

Demgegenüber machte die als Erster Menzel-Entwurf bekanntgewordene Westdeutsche Satzung vom 16. 8.1948 7 bereits wesentlich konkretere Ausführungen über die künftige deutsche Staatsorganisation. Der sozialdemokratische Parteivorstand hatte i m August 1948 beschlossen, einen Entwurf für ein westdeutsches Grundgesetz auszuarbeiten. Die Ausführung war dann dem Innenminister von Nordrhein-Westfalen, Dr. Menzel, übertragen worden 8 . Sein E n t w u r f entstand zeitlich fast parallel zur Tagung des von der Ministerpräsidenten-Konferenz eingesetzten Ausschusses der Sachverständigen für Verfassungsfragen i m August 19489, ohne aber von den Arbeiten auf Herrenchiemsee Notiz zu nehmen. Die „westdeutsche Satzung" Menzels stellte die erste vollständige Fassung für ein Grundgesetz dar. Sie unterscheidet sich w o h l i n der Terminologie, nicht aber i m materiellen Gehalt vom organisatorischen Teil einer echten Staatsverfassung: So w i r d , u m den Gedanken des Provisoriums wachzuhalten, anstelle eines Bundestages nur von einer „gesetzgebenden Versammlung" gesprochen. Die Bundesregierung ist durch ein Direktorium ersetzt, das aus einem Leitenden Direktor und den Direktoren besteht. § 28 des Entwurfs legt die parlamentarische Vertrauensbedürftigkeit der Regierung fest und verankert dadurch das parlamentarische Regierungssystem. Eine neue Regelung gegenüber der Weimarer Verfassung erfährt die Berufung des Leitenden Direktors, der nach seiner gesamten „satzungsrechtlichen" Stellung an den Platz des Kanzlers getreten ist: § 24 S. 1 bestimmt, daß der Leitende Direktor von der Versammlung gewählt wird, deren Abgeordnete wiederum vom Volke unmittelbar zu wählen sind 1 0 . Die Wahl des Leitenden Direktors löste die i n der Weimarer Verfassung gemäß A r t . 53 stattfindende Ernennung des Reichskanzlers durch den Reichspräsidenten ab. Diese Lösung k a m neben den mehr sozial-psychologischen Vorteilen zugunsten der Stabilität der Regierung noch dem demokratischen Prinzip entgegen, w e i l die W a h l nicht, wie die Berufung eines Organs durch ein vorgesetztes Einzelorgan die Bestellung i n der Richtung nach abwärts 1 1 darstellt, sondern die Amtseinsetzung von 7

Parlamentarischer Rat, Drucksache Nr. 39. Soergel, S. 64. 9 10.-25.8.1948. 10 § 9 der Satzung. 11 Kelsen, Hans, Die Grenzen zwischen juristischer Methode, Tübingen 1911, S. 279. 8

und

soziologischer

240

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland ( )

unten nach oben 12 , verbunden m i t der Unterordnung der Auswählenden gegenüber den Gewählten, ausdrückt 13 . Die zitierten Autoren übersehen hier den wesentlichen Unterschied zwischen der i m Rahmen der Vollzugsfunktion des Staatspräsidenten vorzunehmenden Ernennung und der materiellen Ernennung, die auch den Willensbildungsvorgang umfaßt und Entscheidung beinhaltet und Entscheidung sowie Vollzug vereint. Auch Vogel 14 scheint den Unterschied nur i n Ansätzen zu realisieren, wenn er feststellt, daß „bei der Ernennung der zu Ernennende bereits feststeht, der Gewählte bei der Wahl hingegen nicht". Ernennung ist nach Vogel 1 5 i m wesentlichen „Vollzug eines Beschlusses, der wahlähnlich zustandegekommen sein mag", die Wahl dagegen ist „ein Prozeß". Damit erkennt er zwar den Vollzugscharakter der Ernennung und den Verfahrenscharakter der Wahl an, aber er betrachtet die beiden Formen als zueinander i n einem alternierenden Verhältnis stehend. I n Wirklichkeit aber sind Wahl und Ernennung keine Alternativen i n der Bestellungsform, sondern die Ernennung kann als Vollzug oder Bestätigung zeitlich der Wahl folgen. I n alternativer Weise stehen sich dagegen als Prozesse der Willensbildung 1. materielle Ernennung und 2. die Wahl gegenüber. Für die materielle Ernennung trifft dann zu, daß sie die Berufung eines Organs durch ein vorgesetztes Einzelorgan, die Bestellung von oben nach unten, bedeutet. Die formale Ernennung dagegen vermag am Ende eines jedweden Willensbildungsprozesses zu stehen. Der Entwurf Menzel I hatte sich für ein Bestellungsverfahren entschieden, das die Willensbildung i m Wege der formalen Wahl regelte und damit die Bedeutung des Parlaments beim Bestellungsverfahren auch formal sicherte. Allerdings war der westdeutschen Satzung m i t der Veröffentlichung des Herrenchiemseer Entwurfs ihr Maßstabs- und Vorbildscharakter genommen. Dennoch erteilte der sozialdemokratische Parteivorstand dem verfassungspolitischen Parteiausschuß unverzüglich den Auftrag, einen neuen sozialdemokratischen Entwurf zum Grundgesetz vorzubereiten 16 . c) Entwurf

Menzel II

A m 2. September 1948, einen Tag nach der Eröffnung des Parlamentarischen Rates i n Bonn, wurde dieser Entwurf, bekannt als „Zweiter Menzelentwurf", der Öffentlichkeit vorgelegt. Auch er kannte als Ver12

Vogel, Bernhard, W a h l der Parlamente u n d anderer Staatsorgane, B e r l i n 1969, S. 10. 18 Vogel, S. 18. 14 Vogel, S. 18. 15 Vogel, ebenda. 16 Soergel, S. 69.

1. Abschn.: Entstehung des A r t . 63 GG

241

fassungsorgane die Gesetzgebende Versammlung, das Direktorium ünd den Länderrat 1 7 . Doch besteht das Direktorium jetzt schon aus den* Ersten Minister und mehreren weiteren Ministern 1 8 . § 30 des Entwurfs sieht die Wahl des Ersten Ministers durch die Versammlung vor, von der das Direktorium i n seiner Amtsführung abhängig ist 1 9 . Die sozialdemokratischen Entwürfe gehen mit der formellen Wahl dès Regierungschefs durch die Abgeordnetenkammer über die Mindestvoraussetzungen des parlamentarischen Systems hinaus. Die Fassung des Entwurfs Menzel I I wurde zur Richtschnur für das Verhalten der SPDFraktion i m Parlamentarischen Rat. 2. Vorschläge der Unionsparteien

Das Verfassungsprogramm der Union ermangelte i n der ersten Zeit der i n der Sozialdemokratie zu beobachtenden Geschlossenheit der Willensbildung. Zwar treten bereits unmittelbar nach dem Zusammenbruch einzelne Gruppen der verschiedenen Unionsparteien m i t Erklärungen, Manifesten und Programmen an die Öffentlichkeit, doch verhindert das Fehlen einer einheitlichen Parteiorganisation und einer gemeinsamen Führungsgruppe den Konsens über ein von allen Beteiligten gebilligtes Parteiprogramm 20 . Erst i m November 1946 erscheint das Grundsatzprogramm der Christlich-Sozialen Union, das sich aber hauptsächlich dem Problem des föderalistischen Aufbaus i m künftigen Deutschland widmet. Eigentlicher Verfassungsausschuß der CDU/CSU war der als Ausschuß der Arbeitsgemeinschaften der Unionsparteien gegründete „Heppenheimer Kreis", i n dem sich insbesondere die CDU-Politiker der britischen Zone zusammenfanden 21 . Auch dort standen die Auseinandersetzungen über die Frage des grundsätzlichen Verhältnisses von Bund und Ländern i m Vordergrund. Die Düsseldorfer Arbeitsgemeinschaft der CDU/CSU 22 setzte den Weg des Heppenheimer Kreises fort. Nach ihren Vorschlägen sollte der Bundeskanzler vom Bundespräsidenten auf Grund eines verbindlichen Vorschlags des Bundestags ernannt werden. Sollte das Parlament zum Vorschlag nicht i n der Lage sein, so würde der Bundesrat als Legalitätsreserve bei der Kanzlerberufung einspringen. Neben der Arbeit des offiziellen Verfassungsausschusses wurden i n anderen überregionalen Gremien der Union unablässig weitere verfassungsrechtliche Konzeptionen entworfen. 17

18 19

20 21 22

51.

§28. §34.

Soergel, S. 73. Soergel, S. 79. Die v o m 2. 4. bis 25. 5.1948 tagte.

16 Lippert

242

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland ( )

Allmählich hatte sich unter ihnen der „Ellwanger Freundeskreis", i n dem sich politische Führer der Unionsparteien aus der amerikanischen und französischen Zone trafen, eine Vormachtstellung erobert. Die von den „Ellwangern" entwickelten „Grundsätze" wurden als einziger offiziöser Entwurf von CDU und CSU i n den Parlamentarischen Rat eingebracht 28 . Er sieht u. a. folgende Bundesorgane vor 2 4 : a) einen aus allgemeinen Wahlen hervorgehenden Bundestag b) einen Bundesrat, dessen Mitglieder durch die Landesregierungen zu bestellen und an deren Instruktionen gebunden sind 2 5 c) einen Bundespräsidenten, der vom Bundestag und Bundesrat gewählt w i r d und d) eine Bundesregierung, die aus dem Bundeskanzler und den Bundesministern besteht. Das Verfahren zur Berufung des Regierungschefs war unter Modifizierungen grundsätzlich aus der Weimarer Verfassung übernommen worden: die Bundesregierung wurde vom Bundespräsidenten ernannt und entlassen 28 und bedurfte bei ihrem Amtsantritt des Vertrauens des Bundestages. Die Unfähigkeit des Bundestages zur Regierungsbildung sollte durch die Einschaltung des Bundesrates als Legalitätsreserve überwunden werden. Darüber sagt I I I , 12 d des Entwurfs: „ K o m m t vier Wochen nach Zusammentritt des neugewählten Bundestags die Bildung einer Bundesregierung nicht zustande, so kann der Bundespräsident m i t Zustimmung des Bundesrates eine Bundesregierung berufen, die solange i m A m t bleibt, bis eine Regierungsbildung gelingt 2 7 . Während also die SPD i n beiden Menzel-Entwürfen die Einführung eines formalen Bestellungsverfahrens i n der Form der parlamentarischen Wahl des Regierungschefs anstrebt, beläßt es der Ellwanger Entwurf bei der Ernennung des Kanzlers durch das Staatsoberhaupt. Das Erfordernis des auf den Zeitpunkt des Amtsantritts vorverlegten und ausdrücklich für die Amtseinsetzung konstitutiven parlamentarischen Vertrauens beweist aber, daß der Bundespräsident kein materielles Ernennungsrecht, sondern eine bloße Ernennungsfunktion ausüben und nur als Vollstrecker des parlamentarischen Willens handeln soll. Erst bei Ausfall des Bundestages als Aktionszentrum sollte der Bundespräsident Reservemacht erhalten. Sein Ermessensspielraum ist u 24

Soergel, S. 79.

I I I , 12 a - d . Die Senatskonzeption der rheinischen C D U w a r damit verworfen. 26 I I I , 12 d. 27 Vgl. Glum (I), S. 2. Einen ähnlichen Vorschlag unterbreitet ebenfalls Glum. Bemerkungen zum organisatorischen T e i l einer künftigen Verfassung. SJZ 1948, Sp. 117; allerdings sollte dabei der Bundespräsident zugunsten des Bundesrates v ö l l i g ausgeschaltet werden. 25

1. Abschn.: Entstehung des A r t . 63 GG

243

aber auch hier begrenzt durch das Zustimmungserfordernis des Bundesrates. I n dieser Stufenfolge verwirklichten die Ellwanger Grundsätze die oben für den Bestellungsvorgang i m parlamentarischen System dargelegten Gesetze der Systemnormativität. Der für das Weimarer System charakteristische und schließlich verhängnisvolle Dualismus w i r d hier zwar zwischen Bundespräsident und Bundestag vermieden, doch erscheint er wiederum i m Verhältnis von Bundespräsident und Bundesrat, wenn der Weg der Einschaltung einer Legalitätsreserve beschritten werden muß. Die daraus entstehende geschäftsführende Regierung wäre der Gefahr ausgesetzt gewesen, bei der Durchführung eines Legislativprogrammes auf einen obstruierenden Bundestag zu stoßen.

I I I . Endgültige Ausarbeitung des Art. 63 im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee und dem Parlamentarischen Rat 1. I m Konvent von Herrenchiemsee

Der Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee setzte die Kette jener Entwürfe fort, die eine entscheidende und auch formalisierte Beteiligung des Parlaments an der Berufung des Regierungschefs vorsahen. Der Bundeskanzler sollte bereits ex ante i n ein besonders enges Vertrauensverhältnis zur Bundestagsmehrheit gebracht werden. Daher bestimmt der A r t . 87 Abs. 1 HChE, daß der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten vom Bundestag zu „benennen" 1 sei, was bedeutet, daß der HChE bereits die rein parlamentarische Bestellung des Bundeskanzlers vorgesehen und gleichzeitig den Bundespräsidenten auf die bloße Vollzugsfunktion beschränkt hatte, soweit jedenfalls die Bestellung i m funktionierenden parlamentarischen System, i m Normalfall, erfolgt. Allerdings war der Bundespräsident an die erste Benennung eines Bundeskanzlers noch nicht gebunden: es stand i h m frei, Bedenken gegen die Wahl des Bundestages zu erheben, was gem. A r t . 87 Abs. 2 eine Verpflichtung des Bundestages zur erneuten Beschlußfassung zur Folge hatte. Dessen nochmalige Entscheidung zugunsten des Kandidaten der 1 A r t i k e l 87 lautet: a) Der Bundeskanzler w i r d dem Bundespräsidenten von dem Bundestag benannt. Erhebt der Bundespräsident nicht binnen drei Tagen durch B o t schaft an den Bundestag Bedenken gegen den Benannten, so hat er dessen Ernennung zum Bundeskanzler zu vollziehen. b) Erhebt der Bundespräsident Bedenken, so hat der Bundestag binnen 7 Tagen erneut zu beschließen. Bestätigt der Bundestag einen früheren Beschluß, so ist die Ernennung v o m Bundespräsidenten zu vollziehen; benennt der Bundestag einen anderen Bundeskanzler, so w i r d ebenso w i e nach der ersten Benennung verfahren.

ig·

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I. Teil, 2. Kap. : Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland ( )

Erstbenennung verpflichtete jedoch den Bundespräsidenten, die Ernennung zu vollziehen. I m Falle der Benennung eines neuen Kandidaten standen dem Bundespräsidenten nach A r t . 87 Abs. 2 Satz 2 die gleichen rechtlichen Möglichkeiten wie i m Verfahren der ersten Benennung zu. Die Übertragung der alleinigen Bestellungsgewalt auf das Parlament hatte den Dualismus der Weimarer Verfassung endgültig beseitigt. Der interessante Vorschlag des Ellwanger Freundeskreises der CDU, den Bundesrat als Legalitätsreserve einzuschalten, stieß i m HChE anscheinend auf interessierte Beachtung, denn auch dort war eine Reservealternative für den Fall eines Ausfalls der parlamentarischen Wahlfunktion vorgesehen: der Bundesrat sollte als Entscheidungsträger an die Stelle des Bundestages treten 2 . Nach Ablauf einer Frist von einem Monat sollte der Bundesrat den Bundestag als Benennungskörper ersetzen und der Bundespräsident die Ernennung vollziehen. Getreu dem Prinzip des Umschlagens von Reservefunktion i n Reservemacht stand dem Bundespräsidenten während der ganzen Dauer der Legislaturperiode das Auflösungsrecht dann zu, wenn der Bundeskanzler auf Grund der Benennung durch den Bundesrat ernannt worden ist 3 . Damit hatte der HChE, eines seiner Hauptanliegen, die erleichterte Regierungsbildung i m Rahmen der beibehaltenen parlamentarischen Regierungsweise, verwirklicht 4 . 2. I m Parlamentarischen Rat

Die vorbereitete Debatte i m Plenum erbrachte die grundsätzliche Billigung eines stufenförmigen Bestellungsverfahrens. Dabei wurde auch die Einschaltung einer Reservegewalt unter den Bedingungen eines nicht funktionierenden parlamentarischen Systems erörtert 5 . Vor die2 A r t i k e l 88 lautet: a) Macht der Bundestag v o n dem Recht der Benennung des Bundeskanzlers nicht binnen eines Monats seit Erledigung des Amtes Gebrauch, so k a n n der Bundespräsident den Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundesrats ernennen. Die Frist beginnt m i t dem ersten Zusammentreten eines B u n destages, m i t dem Rücktritt des Bundeskanzlers oder m i t seinem Tod. b) Die gleiche Befugnis steht dem Bundespräsidenten zu, wenn er gegen den v o m Bundestag benannten Bundeskanzler Bedenken erhoben u n d der Bundestag nicht innerhalb der Frist v o n 7 Tagen Beschluß gefaßt hat (Art. 87, Abs. 2, Satz 1). c) H a t der Bundespräsident den Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundesrates ernannt, so hat er während der ganzen Wahlperiode das Recht, der Bundestag aufzulösen. 8 A r t . 88, Abs. 3. 4 von Doemming—Füßlein—Matz, Entstehungsgeschichte der A r t i k e l des Grundgesetzes, Tübingen 1951, S. 427. 5 Abg. Dr. Süsterhenn (CDU) begrüßte die Befugnis des Bundesrates, den Kanzler dann zu benennen, w e n n der Bundestag nicht zu einem Vorschlag i n der Lage ist, als Schaffung einer echten Legalitätsreserve; vgl. 2. Plenarsitzung v o m 8. 9.1948, Stenobericht S. 22.

1. Abschn.: Entstehung des A r t . 63 GG

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sem Hintergrund bewegte sich auch die Diskussion i m zuständigen Ausschuß des Parlamentarischen Rates, dem Ausschuß für die Organisation des Bundes. Dabei befürworteten die Vertreter der SPD, das A m t des Bundespräsidenten zunächst nicht i n das Grundgesetz aufzunehmen, sondern dessen Funktionen einem Bundespräsidium, bestehend aus dem Bundestagspräsidenten, dem Präsidenten des Bundesrates, sowie dem Bundeskanzler zu übertragen®. Dieser schon auf den HChE zurückgehende Vorschlag 7 wurde aber fallengelassen, da sich die Mehrheit für die Institution des Bundespräsidenten aussprach. Bei der Formulierung der Vorschläge standen weniger theoretische Einsichten als der Wille i m Vordergrund, den wegen der Teilung Deutschlands notwendigerweise provisorischen Charakter der westdeutschen Verfassung zu betonen 8 . Schließlich wurde von den Vertretern der FDP die Einführung des Präsidialsystems oder wenigstens der parlamentarischen Regierung auf Zeit verlangt; aber auch diese Vorschläge verfielen der Ablehnung 9 . Nachdem die Entscheidung für die Einführung des parlamentarischen Systems und für den Bundespräsidenten als oberstes Verfassungsorgan gefallen war, hatte man für die Regelung der Kanzlerbestellung eine Vielzahl von Anregungen und Vorschlägen gemacht. Wie ein roter Faden zog sich durch die lebhaften Debatten die Frage nach der Beteiligung von Parlament, Staatsoberhaupt und Länderkammer am Bestellungsverfahren des Kanzlers. Zunächst wurde die vom Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee entwickelte Lösung einer K r i t i k unterzogen. Insbesondere fand das von A r t . 87 vorgesehene, komplizierte Wechselspiel zwischen Bundespräsident und Bundestag nicht den ungeteilten Beifall der Abgeordneten 10 . Der Abgeordnete Dr. Dehler (FDP) hielt das ständig drohende Auflösungsrecht des Bundespräsidenten i m Falle eines vom Bundesrat geäußerten Vorschlags 11 für einen unwürdigen Zustand 12 . Eine eingehende Debatte über die A r t der Beteiligung des Bundespräsidenten an der Kanzlerbestellung fand dann i m Rahmen der Beratung über das durch Art. 78/88 des HChE vorgesehene Berufungsverfahren statt. I n der siebten Sitzung des Organisationsausschusses 18 wurden zwei Hauptfragen der Beteiligung von Verfassungsorganen an der Bestellung β

Strauss, S. 273. A r t . 75 des Verfassungsentwurfs v o n Herrenchiemsee, München 1948. 8 Kaltefleiter (I), S. 202. 9 von Doemming—Füßlein—Matz, S. 428. 10 So Abg. Dr. Becker, S. 44 f.; kritisch auch Abg. Zinn, SPD, Steno-Protok o l l S. 28, 32 f., 49 f. 11 Steno-Protokoll S. 88 Abs. 3. 12 Steno-Protokoll S. 25 ff., 40 f., 56 ff. ,s 29. 9.1948, Steno-Protokoll S. 24 - 106. 7

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des Bundeskanzlers besprochen: einmal das Problem, ob dem Bundespräsidenten ein Einspruchsrecht gegen den Vorschlag des Bundestages zugestanden werden sollte; vor allem aber äußerten maßgebliche Abgeordnete Bedenken gegen die A r t und Weise der Benennung des Bundeskanzlers durch den Bundestag, wie sie i m Herrenchiemseer E n t w u r f vorgesehen war. Dabei gab der Abgeordnete Heile (DP) m i t Unterstützung der Abgeordneten de Chapeaurouge (CDU) und Lobe (SPD) die dann i m heutigen A r t . 63 Abs. 1 verwirklichte und für die Effektivität der Willensbildung i n Wahlkörpern so bedeutungsvolle 14 Anregung, das Vorschlagsrecht dem Bundespräsidenten zu übertragen 15 . Die A b geordneten Dr. Schwalber (CSU) und Dr. Katz (SPD)1® verwiesen auf die Möglichkeit, die Entscheidung i n den Bundestag vorzuverlegen, wom i t schon dort eine Mehrheitsbildung herbeizuführen und Minderheitsregierungen tunlichst zu verhindern seien. Bei der darauffolgenden Abstimmung entschied sich die Ausschußmehrheit für die stärkere Beteiligung des Bundespräsidenten an der Kanzlerbestellung. Hierzu wurde vom Abgeordneten Mücke (SPD) ein A n t r a g formuliert und nach redaktioneller Umarbeitung dem Ausschuß vorgelegt 17 . Nach beiden Fassungen „benannte" der Bundespräsident dem Bundestag einen Bundeskanzler, wozu der Bundestag durch Vertrauenserklärung oder deren Verweigerung Stellung zu nehmen hatte. Der Organisationsausschuß beschäftigte sich gleichfalls m i t der Beteiligung des Bundesrates an demselben Vorgang. Einige Abgeordnete setzten sich für eine weitgehende M i t w i r k u n g der Länderkammer ein; sei es, daß sie dem Bundestag ein Vetorecht gegenüber den Vorschlägen des Bundesrates einräumen wollten 1 8 , sei es, daß sie die Anhörung des Bundesrates vor der Benennung des Bundeskanzlers verlangten 1 9 . Der Ausschuß stimmte i n seiner 8. Sitzung vom 30.9.1948 20 dem Vorschlag der Redaktionskommission zu, das ständige Auflösungsrecht des Bundespräsidenten einzuschränken. Die Absätze I V und V der zu einem A r t i k e l vereinigten Bestimmungen der bisherigen A r t i k e l 87 und 88 lauteten: I V . K o m m t die Volkskammer dieser Verpflichtung nicht nach, so hat der Bundespräsident den Kanzler auf Vorschlag der Länderkammer zu ernennen. 14

Vgl. hierzu Sternberger (III), S. 11. Organisationsausschuß 7. Sitzung, Steno-Protokoll S. 24 ff., 30. 16 Ebenda, S. 34,36. 17 Der Wortlaut ist abgedruckt bei von Doemming—Füßlein—Matz, S. 428, Fußnote 18. 18 Steno-Protokoll, Dr. Kroll, S. 79; ebenso Dr. Schwalber, S. 76; dagegen: 15

Dr. Katz (SPD), S. 64 und 85; Walther (CDU), S. 76. 19 Abg. de Chapeaurouge (CDU); Abg. Wirmer (CDU), S. 89. 20 Steno-Protokolle S. 1 - 13,

1. Abschn.: Entstehung des A r t . 63 GG

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V. Hat der Bundespräsident den Bundeskanzler auf Vorschlag der Länderkammer ernannt und verweigert die Volkskammer dem neuernannten Bundeskanzler das Vertrauen, so hat der Bundespräsident die Volkskammer aufzulösen 21 . Auch dieser Lösung stimmte der Organisationsausschuß zu. I n der 11. Sitzung 2 2 wurden gegenüber dem Automatismus der A u f lösung durch den Bundespräsidenten Bedenken erhoben. A u f Antrag des Abgeordneten Schwalber (CSU) wurde die Vorschrift i n eine KannBestimmung umgewandelt, u m die starke Bindung des Bundespräsidenten aufzulockern. A u f Anregung des Abgeordneten Dr. Lehr hatte man dem Absatz V noch eine Fristbestimmung hinzugefügt; der Bundespräsident sollte jetzt den Bundestag binnen drei Monaten auflösen. U m klarzustellen, daß es sich u m ein reines Vorschlagsrecht handelt 28 , gelangte der Organisationsausschuß i n der 21. Sitzung vom 10.11. 48 24 zu einer Fassung, i n der das „benennt" i m A r t . 87 Ziff. 1 durch den Ausdruck „schlägt vor" ersetzt wurde. Dem Hauptausschuß lagen i n erster Lesung und i n seiner 3. Sitzung 25 4 Vorschläge für eine Neufassung des A r t . 87 vor: 1. Der Vorschlag des Organisationsausschusses i n der Fassung der Sitzung vom 10.11.1948 2. Eine Fassung des allgemeinen Redaktionsausschusses2® 3. Ein Antrag der CDU-Fraktion 2 7 4. Ein sozialdemokratischer Antrag 2 8 . Der Vorschlag des allgemeinen Redaktionsausschusses befürwortete eine förmliche Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag und nahm gleichzeitig Abstand vom umstrittenen Initiativrecht des Bundespräsidenten und der Legalitätsreserve des Bundesrates 29 . I m einzelnen lautete der Vorschlag 80 : I. Der Bundeskanzler w i r d vom Bundestag ohne Aussprache m i t mehr als der Hälfte seiner Mitglieder gewählt und vom Bundespräsidenten ernannt. II. Kommt binnen 14 Tagen seit Beendigung des Amtes des bisherigen Bundeskanzlers eine solche Wahl nicht zustande, so findet eine neue Wahl statt, i n der gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Ver21 22

Zit. nach von Doemming—Füßlein—Matz, S. 429.

V o m 7.10.1948, Steno-Protokolle S. 97 - 109. So Abg. Dr. Katz (SPD), Steno-Protokoll S. 48. 24 Steno-Protokoll, S. 26 - 32. 25 V o m 16.11.1948, Steno-Protokoll S. 26 - 32. 2e Drucksache Nr. 276 v o m 16.11.1948. 27 Hauptausschuß 3. Sitzung, Steno-Protokoll S. 27. 28 Vorgelegt v o m Abg. Dr. Löwenthal (SPD), Steno-Protokoll ebd. 29 Meder, A r t . 63 S. 2. 23

80

Wortlaut zit. bei von Doemming—Füßlein—Matz, S. 430.

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I. Teil, 2. Kap. : Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland ( )

einigt der Gewählte nicht mehr als die Hälfte der Stimmen der Mitglieder auf sich, so kann der Bundespräsident m i t Zustimmung des Bundesrates den Bundestag binnen 7 Tagen nach der Wahl auflösen. Die Zustimmung des Bundesrats bedarf der Mehrheit seiner Mitglieder. W i r d der Bundestag binnen dieser Frist nicht aufgelöst oder vereinigt der Gewählte mehr als die Hälfte der Stimmen der Mitglieder auf sich, so ist er vom Bundespräsidenten zu ernennen. Dabei w i r d i m Abs. I dem Bundespräsidenten eine ausschließliche Vollzugsfunktion zugesprochen; er ist auch nicht als Anreger oder V i t a l i tätsträger vorgesehen. I n Abs. I I w i r d eine äußerst bemerkenswerte Neuerung eingebracht,, die Regierungsbildung soll erstens erleichtert und zweitens beschleunigt werden. Eine Erleichterung w i r d durch die Einschränkung der Vertrauensbedürftigkeit des Bundeskanzlers, also der Möglichkeit des Minderheitenkanzlers, erreicht. Die Beschleunigung w i r d durch die Drohung des Auflösungsrechts gefördert, zu dessen Ausübung der Bundespräsident allerdings der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Daneben wurden noch Anträge der CDU-Fraktion und des Abgeordneten Dr. Löwenthal 8 1 eingereicht: Der Antrag der CDU-Fraktion beließ die Benennungsinitiative beim Bundespräsidenten. Bei Fehlschlagen der ersten Benennung, bei Verweigerung des Vertrauensvotums durch den Bundestag, sollte der Bundespräsident eine nochmalige Benennung vornehmen: bei deren Mißerfolg ging das Benennungsrecht auf den Bundestag über und der Bundespräsident wurde Adressat der Benennung. Sollte der Bundestag hierzu nicht i n der Lage sein, so war geplant, das Benennungsrecht auf den Bundesrat übergehen zu lassen 82 . Sollte, auch der Bundesrat als Benennungsinitiator versagen oder der Bundestag den Benannten ablehnen, sah Abs. I V die Auflösung des Bundestags durch den Bundespräsidenten vor. Der Abgeordnete Löwenthal formulierte eine Fassung, i n der dem Bundespräsidenten der erste Schritt zugewiesen wurde: dieser sollte zunächst den Bundeskanzler ernennen. Erst nach diesem Schritt konnte der Bundestag dem Bundespräsidenten bindend eine Nachfolge vorschlagen. Der Bundespräsident hatte daraufh i n den von i h m ernannten Kanzler zu entlassen und den Kandidaten des Bundestages zu ernennen. I n der vierten Sitzung des Hauptausschusses88 wurde ein neuformulierter Vorschlag der SPD-Fraktion vorgelegt 34 . Nach i h m war der Bun31 32 33 34

Hauptausschuß, 3. Sitzung, Steno-Protokoll S. 27. Abs. I I I des CDU-Entwurfs. V o m 17.11.1948, H A , Steno-Protokoll S. 41 - 43. a) Der Bundeskanzler w i r d v o m Bundestag ohne Aussprache m i t mehr als der Hälfte seiner Mitglieder gewählt u n d v o m Bundespräsidenten ernannt. b) K o m m t binnen 14 Tagen seit Beendigimg des Amtes des bisherigen Bundeskanzlers die W a h l nicht zustande, so schlägt der Bundespräsi-

1. Abschn.: Entstehung des A r t . 63 GG

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deskanzler vom Bundestag zu wählen und nach erfolgter Wahl vom Bundespräsidenten zu ernennen. Der Bundespräsident sollte erst dann als „Geburtshelfer" m i t einem Vorschlag an den Bundestag eingreifen, wenn dieser von sich aus zu einer Wahl nicht i n der Lage war. Die Länderkammer war jetzt endgültig vom Bestellungsverfahren ausgeschlossen. Absatz 2 des Entwurfs sah ebenfalls als Alternativen den Minderheitenkanzler oder die Bundestagsauflösung vor. Gegenüber dieser Lösung machten Abgeordnete der CDU-Fraktion 3 5 vor allem geltend, daß i m SPD-Vorschlag der Initiative des Bundespräsidenten nicht genügend Raum gelassen werde. Trotzdem nahm der Hauptausschuß i n der gleichen Sitzung den von der SPD-Fraktion vorgeschlagenen Antrag als A r t . 87 an. Der allgemeine Redaktionsausschuß und der Organisationsausschuß beschäftigten sich erneut m i t der genannten Benennung. Dabei erhob der allgemeine Redaktionsausschuß gegen die zwischenzeitliche Einschaltung des Bundespräsidenten Einwände 8 6 und legte einen eigenen Vorschlag vor 8 7 . Demnach sollte das Vorschlagsrecht vor dem ersten Wahlgang eingeführt werden. Bei einer Ablehnung des vom Bundespräsidenten kommenden Vorschlag würde dieser nicht i n gleicher Weise wie bei einem Eingreifen auf dem Höhepunkt der Krise gefährdet werden. Auch sei das Vertrauensverhältnis zwischen Staatsoberhaupt und Minderheitenkanzler schwerer herzustellen, wenn unmittelbar vor dessen Wahl der Präsidentenvorschlag der Ablehnung verfallen sei. Schließlich wies der allgemeine Redaktionsausschuß noch auf die bloß vermittelnde Tätigkeit des Bundespräsidenten bei der Wahl des Bundent dem Bundestag einen Bundeskanzler vor. Erhält dieser V o r schlag nicht die absolute Mehrheit der Stimmen des Bundestages, so findet eine neue W a h l statt, i n der gewählt ist, w e r die meisten S t i m men erhält. I n diesem Falle muß der Bundespräsident binnen 7 Tagen nach der W a h l entweder den Gewählten ernennen oder den Bundestag auflösen. Z i t i e r t nach von Doemming—Füßlein—Matz, S. 431. 85 Walther u n d Dr. Mangoldt, H A , Steno-Protokoll S. 42. 88 Drucksache Nr. 374 v o m 16.12.1948. 87 a) Der Bundeskanzler w i r d v o m Bundestag ohne Aussprache gewählt u n d v o m Bundespräsidenten ernannt. b) Die W a h l erfolgt auf Vorschlag des Bundespräsidenten m i t mehr als der Hälfte der Mitglieder des Bundestages. c) W i r d der Vorgeschlagene nicht gewählt, so k a n n der Bundestag binnen 14 Tagen nach dem Wahlgang m i t mehr als der Hälfte seiner M i t g l i e der einen Bundeskanzler wählen. d) K o m m t eine W a h l innerhalb dieser Frist nicht zustande, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, i n dem gewählt ist, w e r die meisten Stimmen erhält. I n diesem Falle muß der Bundespräsident binnen 7 Tagen nach der W a h l entweder den Gewählten ernennen, oder den Bundestag auflösen; das Auflösungsrecht entfällt, w e n n f ü r den Gewählten mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages gestimmt hat. Z i t i e r t nach von Doemming—Füßlein—Matz, S. 432.

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I. Teil, 2. Kap. : Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland ( )

deskanzlers hin: Ein Vorschlagsrecht m i t bindender Wirkung für den Bundestag sei i n keinem Abschnitt des Bestellungsverfahrens unbedingt erforderlich 88 . Der Organisationsausschuß Schloß sich dem Vorschlag des allgemeinen Redaktionsausschusses i n seiner 28. Sitzung vom 16.12.1948 an 80 . Der Hauptausschuß verabschiedete i n 2. Lesung und i n seiner 33. Sitzung vom 8.1.1949 die vom Organisationsausschuß gebilligte Fassung 40 . I n der gleichen Sitzung wurde vor der Abstimmung über die Vorlage des Organisationsausschusses ein Abänderungsantrag des Abgeordneten Dr. Seebohm (DP) und Fraktion 4 1 abgelehnt, der das Vorschlagsrecht i n der dritten Wahlphase auf den Bundesrat übergehen lassen wollte, um — wie ausgeführt wurde — die neutrale vermittelnde Stellung des Bundespräsidenten zu betonen. Als Begründung für die Ablehnung des Vorschlags der DP wurde von den Abgeordneten Dr. Schmid (SPD), Dr. Dehler und Dr. Heuß (FDP) 42 auf die Notwendigkeit verwiesen, die Verantwortlichkeit des Bundestages ungeschmälert zu erhalten und eine Komplizierung des Bestellungsverfahrens zu vermeiden. I n der 3. Lesung und 49. Sitzung des Hauptausschusses vom 9.2.1949 48 wurden auf Antrag des Abgeordneten Dr. von Mangoldt (CDU) geringfügige redaktionelle Abweichungen vorgenommen 44 . Damit erhielt A r t . 87 die endgültige Fassung, die auch i n der 4. Lesung und 57. Sitzung des Hauptausschusses vom 5. 5.1949 45 bestätigt und schließlich vom Plenum als A r t . 63 Grundgesetz endgültig verabschiedet wurde. 38 89 40 41

42 43 44 45

von Doemming—Füßlein—Matz, S. 432. Steno-Protokolle S. 1 - 3. H A , Steno-Protokoll S. 408. a) Der Bundeskanzler w i r d v o m Bundestag auf Vorschlag des Bundespräsidenten ohne Aussprache m i t mehr als der Hälfte seiner M i t g l i e der gewählt u n d v o m Bundespräsidenten ernannt, b) K o m m t diese W a h l nicht zustande, geht das Vorschlagsrecht auf den Bundestag über. W i r d binnen 14 Tagen seit Beendigung des Amtes des bisherigen Bundeskanzlers k e i n neuer Bundeskanzler gewählt, so geht das Vorschlagsrecht auf den Bundesrat über. Erhält der V o r schlag des Bundesrates nicht die absolute Mehrheit der Stimmen des Bundesrates, findet eine neue W a h l über die v o m Bundespräsidenten, dem Präsidenten des Bundestages u n d dem Präsidenten des Bundesrates gemeinschaftlich dem Bundestag unterbreiteten Vorschläge statt. Gewählt ist, w e r die meisten Stimmen erhält. I n diesem F a l l muß der Bundespräsident binnen 7 Tagen nach der W a h l entweder den Gewählten zum Bundeskanzler ernennen, oder den Bundestag auflösen. Das Auflösungsrecht entfällt, w e n n f ü r den Gewählten mehr als die Hälfte der Mitglieder des Bundestages gestimmt hat. (Wortlaut zit. n. von Doemming—Füßlein—Matz, S. 432 - 33. H A , Steno-Protokolle S. 407 f. H A , Steno-Protokolle S. 643 f. Meder, A r t . 63, Abs. I, S. 2. H A , Steno-Protokolle S. 754.

1. Abschn.: Entstehung des A r t . 63 GG

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Rückblickend kann den ausgedehnten Ausschußberatungen 46 entnommen werden, daß bei der heutigen Ausarbeitung des A r t . 63 GG als Hauptprobleme vor allem die folgenden Fragen i m Vordergrund standen: Welche Staatsorgane sind am Bestellungsverfahren des Regierungschefs zu beteiligen, und weiter: I n welchem Abschnitt des Verfahrens und i n welcher Weise hat dies zu geschehen. Der Parlamentarische Rat gab hierauf eine klare Antwort. Nachdem die Entscheidung zugunsten des parlamentarischen Regierungssystems gefallen war und man sich entschlossen hatte, die Institution des Staatsoberhauptes beizubehalten, stand die Beteiligung von Bundestag und Bundespräsident eigentlich bereits fest. Demgegenüber sollte die Länderkammer, der Bundesrat, nur als Legitimitätsreserve, d. h. subsidiär bei Unfähigkeit des Bundestages zur Mehrheitsbildung, zum Zuge kommen. Aber selbst der subsidiären Lösung stand der Wille der Mehrheit entgegen: man wollte keine weitere Komplizierung des Verfahrens, man suchte auch jede A r t von Doppelabhängigkeit der Regierung zu vermeiden und man war sich einig über die hervorragende Bedeutung, die dem Bundestag als dem Organ des souveränen Volkswillens zukommen mußte. Ein Zeichen dafür ist die Einführung der formalen parlamentarischen Wahl des Bundeskanzlers. I n ihr und nicht i m vom Staatsoberhaupt vollzogenen Ernennungsakt liegt die Legitimierung des Kandidaten. Deshalb kann auch — und dies w i r d durch die Stellungnahme des allgemeinen Redaktionsausschusses47 gewiß — das dem Bundespräsidenten i n die Hand gelegte Vorschlagsrecht nur als Hilfe bei der Regierungsbildung aufgefaßt werden. Als Mittel, das „anstößt und damit ein Verfahren ins Rollen bringt". Die Kanzlerbestellung zu erleichtern, ist auch das Ziel, das m i t der Einführung des Minderheitenkanzlers verfolgt wird. Dieser bedarf nur eines reduzierten parlamentarischen Vertrauens. Gleichzeitig sollte durch die Möglichkeit der Parlamentsauflösung die Fähigkeit und Bereitschaft des Bundestages zur Mehrheitsbildung angeregt werden. Freilich richteten sich die Beschlüsse der Abgeordneten — wenn auch mehr ünbewußt — nicht nur an den systemnormativen Gesetzen der parlamentarischen Regierungsweise aus, sondern es waren primär die Weimarer Erfahrungen sowie der feste Wille, „es besser als damals" zu machen, welche die Erörterungen prägten 48 . Diese bewirkten zugleich eine entscheidende Verringerung der die Weimarer Lösung kennzeichnenden, weitgehenden und wucherungsfähigen Befugnisse des Staatsoberhaupts bei der Kanzlerbestellung 4 ·. 46 47 48 49

Der Parlamentarische Rat erreichte eine Tagungsdauer v o n 9 Monaten. Drucksache Nr. 374 v o m 16.12.1948. Scheuner (I), S. 17. Fromme, S. 34.

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I. Teil, 2. Kap. : Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

Zweiter Abschnitt

Berufung des Bundeskanzlers auf Vorschlag des Bundespräsidenten Einschlägige Verfassungsnorm ist der A r t . 63 GG i n seinen Absätzen I und I I 1 . A r t . 63 zieht endgültig den Schlußstrich unter die vom Konstitutionalismus geprägte verfassungsrechtliche Vergangenheit Deutschlands 2 . Sie bedeutet aber nicht nur eine völlige Neukonstruktion i n der Gewichtsverteilung der am Bestellungsverfahren des Bundeskanzlers beteiligten Verfassungsorgane, sondern ist gleichzeitig die fundamentale Norm, die das normale Verfahren der Kanzlerwahl vorschreibt. Ausnahmen davon bestehen i n den A r t . 67 und 68 Abs. I Satz 2 für den Fäll einer Neuwahl des Bundeskanzlers nach einem Kanzlersturz: hier greift das i n den genannten Bestimmungen geregelte besondere Verfahren ein. A r t . 63 greift ein, wenn infolge des obligatorischen Amtsendes in A r t . 69 Abs. I I GG nach dem Zusammentritt eines neugewählten Bundestags die Neuwahl des Bundeskanzlers notwendig wird. A r t . 63 erhält eine überragende Bedeutung dadurch, daß, obwohl die Mehrheit des Parlamentarischen Rates es abgelehnt hatte, eine Regierung auf Zeit 3 einzuführen, doch eine Kongruenz i n der zeitlichen Dauer von Legislaturperiode und Amtszeit der Regierung erreicht wurde, was bedeutet, daß sich die Kanzlerwahlen grundsätzlich nach A r t . 63 Abs. I und I I regeln 4 . A r t . 63 stößt i n vieler Beziehung i n verfassungsrechtliches Neuland vor. Es fällt zunächst die i m Gegensatz zur entsprechenden Bestimmung der Weimarer Verfassung minutiöse Regelung des formalen Ablaufs auf: die präzise, aber komplizierte Reihenfolge des Eingreifens der Staatsorgane am Verfahren resultierte aus dem Bestreben, politische Wirksamkeit i n das Flußbett juristischer Zuständigkeitsverteilung zu leiten. Der Versuch, den Wahlvorgang rechtlich lückenlos zu erfassen, konnte aber nicht verhindern, daß u m die einzelnen Phasen des Verfahrens zahlreiche Streitfragen aufbrachen 5 , die allerdings eher inter1

a) Der Bundeskanzler w i r d auf Vorschlag des Bundespräsidenten v o m Bundestag ohne Aussprache gewählt, b) Gewählt ist, w e r die Stimme der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages auf sich vereinigt. Der Gewählte ist v o m Bundespräsidenten zu ernennen. 2 Seifert—Geeb, Das deutsche Bundesrecht, Frankfurt/Baden-Baden, 1. L i e ferung — J u l i 1949, S. 63. 3 Vgl. die Anträge von Dr. Dehler (FDP), Org. Ausschuß Sitzungen v o m 23. 9. u n d 30. 9.1948, Steno-Prot. S. 25 - 26, 40 - 41, 56 - 58, S. 4. 4 Maunz—Dürig—Herzog, K o m m e n t a r zum GG, Rdn. 1 zu A r t . 63, M ü n chen—Berlin, 1958 ff.

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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pretationsbedürftige Einzelheiten berühren, während das Grundschema der formellen und materiellen Kräfteverteilung i n A r t . 63 fest vorgegeben und infolge der Grundeinsichten der Beteiligten i n die Erfordernisse der parlamentarischen Regierungsweise unumstritten ist. I m Gegensatz dazu beschwor die Großzügigkeit der Weimarer Regelung eine globale Auseinandersetzung herauf. Die Frage nach dem überwiegenden Einfluß bei der Kanzlerberufung mußte i n einer Zeit i m Vordergrund stehen, i n der die dualistisch-konstitutionelle Konzeption noch über eine starke Anhängerschaft verfügte. Diese Frage kann die heutige verfassungsrechtliche und verfassungspolitische Diskussion nicht mehr belasten — die „Weichen" sind endgültig zugunsten des entscheidenden rechtlichen und politischen Einflusses des Parlaments gestellt. I n der Geschichte der deutschen parlamentarischen Entwicklung hat die Wahlfunktion des Bundestages das geringste Alter 8 . Sie ist dabei die wichtigste Funktion des Bundestages 7 und stellt sein fundamentales Einflußrecht auf die Richtlinien der Politik dar 8 . Die förmliche Wahl des Bundeskanzlers ist der entscheidende legitimierende Schritt bei seiner Berufung 9 . I n ihr soll möglichst ein Kandidat die absolute Mitgliedermehrheit auf sich vereinigen. Ist dies nicht möglich, so gestattet A r t . 63 Abs. I V die Wahl eines Bundeskanzlers m i t relativer Mehrheit, wobei allerdings die Alternative zwischen der Ernennung des Gewählten und der Auflösung des Bundestags vorgesehen ist. A r t . 63 gruppiert die Entscheidung des Parlaments i n drei Phasen 10 : I n der durch den Vorschlag des Bundespräsidenten eingeleiteten Phase 1 stimmt das Parlament über den vorgeschlagenen Kandidaten ab 11 ; sollte dieser dabei nicht gewählt werden, so steht dem Bundestag die Initiative zu, einen eigenen Kandidaten zu benennen 12 . Nach erfolglosem Ablauf der zweiten Phase erfolgt die Wahl unter den Bedingungen des Art. 63 Abs. IV. Dabei w i r d nicht nur anläßlich der Betrachtung des verfassungsgeberischen Willens, sondern auch angesichts der zeitlichen Abfolge der einzelnen Akte und der schwindenden K r a f t der parlamentarischen Legitimierung i n der dritten Phase deutlich, daß es sich bei den Abschnitten zwei und drei gegenüber der „Normalität" des ersten Durchgangs nur u m subsidiäre, die Kanzler wähl erleichternde Hilfskonstruktionen handeln kann. I n jenem dritten A b 5 Vgl. hierzu die Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, i n : V V D S t R L Heft 8, B e r l i n 1967. 6 Loewenberg, S. 265. 7 Die Bedeutung der „Elective function" betonte als erster Bagehot, S. 66. 8 Starch, S. 107. 9 Münch, S. 135. 10 von Mangoldt—Klein, K o m m e n t a r zum GG, Bd. I I , a. a. O., S. 1226. 11 A r t . 63 Abs. I I Grundgesetz. 12 A r t . 63 Abs. I I I Grundgesetz.

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I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

schnitt erscheint der Bundespräsident plötzlich wieder als zentrale Figur, nachdem er zunächst nach Abgabe seines Vorschlags i n den Hintergrund getreten war. Es ist Aufgabe, zu prüfen, inwieweit A r t . 63 und die dort dem Bundespräsidenten zugewiesene Funktion der „Rollenerwartung" 1 3 gerecht wird, die das klassische Modell parlamentarischer Regierungsweise an i h n richtet. I. Der Vorschlag des Bundespräsidenten Das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten i m A r t . 63 GG stellt eine eigenartige Form der Beteiligung des Staatsoberhaupts an der Berufung des Bundeskanzlers dar. Während i n den von anderen parlamentarischen Verfassungen angebotenen Lösungen entweder das Staatsoberhaupt zunächst den Regierungschef beruft, der dann das Vertrauen des Parlaments erhält, oder aber das Parlament durch Wahl des Ministerpräsidenten die Initiative ergreift 1 , hat das Grundgesetz i m A r t . 63 Abs. I eine neue Lösung gefunden. Der Präsident ergreift m i t seinem Vorschlag zwar die Initiative, doch die vermag keine materielle Verpflichtungswirkung für das Parlament zu entfalten. Der Vorschlag verpflichtet nur den Bundestag zur Stellungnahme. Dieser hat es aber i n der Hand, selbst die Initiative zu ergreifen und den Bundespräsidenten von jeder Mitwirkung, unter der auflösenden Bedingung der Fähigkeit zur Bildung einer absoluten Mehrheit, auszuschalten. Die rechtliche Bedeutung des Vorschlags liegt i n der Verpflichtung des Bundestags, über den Vorschlag abzustimmen. Das A m t des Bundeskanzlers darf aber erst nach erfolgter Wahl übertragen werden 2 . Amphoux 3 stellt die Frage nach dem Ursprung des Vorschlags und gelangt zum Ergebnis, daß es nur „ u n pâle reflêt des prérogatives" 4 des deutschen Staatsoberhaupts i n der Zeit vor und nach 1918 sei 5 . 13 Kaltefleiter (I), S. 9 - 1 3 ; dort geht Kaltefleiter insbesondere auf das i n der Soziologie bereits beachtete Problem der Rolle u n d des Rollenkonflikts ein; hierzu vgl. die Definition v o n Dahrendorf, Ralf: „Soziale Rollen sind Bündel v o n Erwartungen, die sich i n einer gegebenen Gesellschaft an das Verhalten der Träger von Positionen knüpfen", i n : Pfade aus Utopia, M ü n chen 1967, S. 144. 1 Beispiele Kehlenbeck, S. 2 8 - 3 0 ; Kehlenbeck stellt dar, w i e die beiden genannten Prinzipien i n konkreten Verfassungsordnungen v e r w i r k l i c h t sind; vgl. f ü r die Weimarer Verfassung, Münch, S. 129. 2 Münch, S. 130. 3 Amphoux, J., Le Chancelier Fédéral, Paris 1962, S. 45. 4 Übersetzung : E i n schwacher Abglanz der Prärogative. 5 Ebenso von Mangoldt i n von Mangoldt—Klein, A n m . I I I 1 zu A r t . 63; Schulz, Günther, Blick i n die Zeit, M D R 1959, S. 455.

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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Die Frage nach der Funktion des Vorschlags ist wesentlich bedeutender. Münch® stellt auch richtigerweise seine Bedeutung als „praktische Geburtshilfe" i n den Vordergrund. Für diese Auffassung sprechen auch die Beratungen des Parlamentarischen Rates 7 , wo sich die erfahrenen Abgeordneten für einen Vorschlag einsetzten, der von außen an die Versammlung herangetragen wird. Inzwischen hat Dolf Sternberger 8 die Beziehungen zwischen Vorschlag und Wahl genauer untersucht. Dabei schildert er die Zweiphasigkeit eines jeden Wahlvorgangs: jeder Wahlablauf sei i n die Phase der Präsentation eines oder mehrerer Kandidaten sowie die der verbindlichen Entscheidung zu trennen. Dabei könnten beide Vorgänge i n einem oder, voneinander getrennt, i n zwei verschiedenen Wahlkörpern entwickelt werden, was dann der „ungeteilten" oder der „geteilten" Wahlgewalt entspreche 9. Die volle Wahlgewalt, bestehend aus Vorschlag und Entscheidung 10 , dürfe aber nur dann einem einzigen Wahlkörper ungeteilt anvertraut werden, wenn dieser i n der Lage ist, die Bestellungsversuche bis zur Herbeiführung des gewünschten Konsensus zu wiederholen. Je größer aber der Wahlkörper ist, desto weniger w i r d er imstande sein, aus sich heraus selbständige Kandidaturen zu entwickeln; desto höher ist daher die Wahrscheinlichkeit einer Teilung der Wahlgewalt 1 1 . Diese Gesetzmäßigkeiten würden — allerdings mehr aus dem Gefühl praktischer Opportunität — beim Einbau des Vorschlags i n den Bestellungsprozeß des A r t . 63 berücksichtigt: Der Bundestag stellt angesichts der Zahl seiner Abgeordneten einen großen und infolge der Aufspaltung i n Fraktionen einen inhomogenen Wahlkörper dar; eine von sich aus eingeleitete und vollzogene Willensbildung wäre hier erschwert und, wenn formalisiert, u m den Preis vieler Wahlgänge erkauft. Genau an dieser Stelle setzt der Vorschlag des Bundespräsidenten ein, u m ein Vakuum zu füllen. Er setzt nicht nur den Verfahrensablauf i n Gang, sondern vermeidet auch eine Reihe nicht zum Ziele führender Wahlgänge; i h m ist ein Katalysator- und ein verfahrensökonomischer Effekt eigen. Der i h n handhabende Bundespräsident handelt dabei i n Wahrnehmung seiner Kontinuitätsfunktion; er ist das Vitalitätszentrum, das einen Anstoß gibt, u m die Kontinuität staatlichen Lebens aufrecht• Münch, S. 131. 7 Organisationsausschuß 7. Sitzung Pari. Rat, Steno-Prot. S. 30, 34, 36, 40, 44; H A S. 407. I n der 4. Sitzung des H A erscheint aber der Vorschlag des B u n despräsidenten erst nach dem Versuch des Bundestags, einen Mehrheitskanzler selbst zu wählen. 8 Sternberger, Dolf (III), S. 11 - 49. 9 Sternberger (III), S. 11. 10 Dabei ist der Vorschlag wiederum durch eine A u s w a h l vorbereitet, die eigentlich auch als T e i l der Wahlgewalt anzusehen ist. 11 Sternberger (III), S. 11.

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zuerhalten. Der Bundespräsident t r i t t allerdings m i t Einsetzen der Eigenvitalität des Bundestags sofort i n den Hintergrund, und seine Funktionen leben erst wieder auf und schlagen i n Reservemacht um, wenn die Bemühungen des Bundestags nicht züm Ziele führen 1 2 . Es gilt nun, den formellen und materiellen Handlungsspielraum des Präsidenten bei der Ausübung des Vorschlagsrechts, aber auch seine Grenzen sichtbar zu machen. Dabei kann, wie insbesondere Triepel 1 3 eingehend nachgewiesen hat, auch eine rein rechtliche Betrachtungsweise politische Aspekte nicht ausschließen. Denn es handelt sich u m die Untersuchung der staatsrechtlichen Relevanz politischer Tätigkeit des Bundespräsidenten. Die Kontinuitätsfunktion beinhaltet hinsichtlich der vom Staatsoberhaupt bei der Bestellung des Regierungschefs zu erfüllenden Rolle nur die Initiativ- bzw. Vollzugswirkung der präsidialen Handlungen. Das Parlament hat stets das Entscheidungszentrum zu sein. A r t . 63 Abs. I I I schützt das von der Kontinuitätsfunktion verlangte Verbot, den Staatspräsidenten i m funktionierenden parlamentarischen System als Entscheidungsträger zu reaktivieren; der Vorschlag des Bundespräsidenten bleibt daher für die endgültige Entscheidung unverbindlich. Zwar war auch der Weimarer Reichspräsident durch A r t . 54 Weimarer Verfassung gehalten, die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse bei der Ernennung des Reichskanzlers zu antizipieren, doch bestand hierzu keine formale Verpflichtung, und der Präsident konnte, da er über das Auflösungsrecht verfügte, nicht dazu gezwungen werden. Wenn „Macht" nach einer weithin anerkannten Definition „jede Chance" bedeutet, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstände durchzusetzen" 14 , so ist der Bundespräsident eindeutig i m Normalfall als Inhaber der Bestellungsmacht ausgeschaltet. Daraus folgt, daß ein etwa vorhandenes Ermessen des Bundespräsidenten i m Rahmen des Vorschlags nach A r t . 63 Abs. I GG die durch die Reservefunktion errichteten Grenzen nicht zu verletzen vermag. Dies gilt sowohl für die Willensbildung des Bundespräsidenten zur Vorbereitung des Vorschlags, als auch für seinen Inhalt. Dieses Ergebnis leugnet aber nicht die Möglichkeit sowohl einer optimalen und einer nicht sachgerechten Ausübung des Vorschlagsrechts: das Staatsoberhaupt hat, der klassischen englischen Formulierung folgend, dafür zu sorgen, daß „the King's government must be carried on". Jene Aufgabe würde der Bundespräsident sicherlich nicht optimal erfüllen, wenn er, obwohl eine Partei über die absolute Mehrheit i m Parlament und einen anerkannten Bundes12

A r t . 63 Abs. I V GG. Triepel, Heinrich, Staatsrecht und Politik, B e r l i n 1927, insbes. S. 19,22. 14 Weber, M a x , zit. nach Anrold Gehlen, Stichwort „Macht", i n : H a n d w ö r terbuch der Sozialwissenschaften, Tübingen, Göttingen 1964, S. 77. 13

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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kanzlerkandidaten verfügt oder eine Koalition einen unumstrittenen Führer nominiert hat, dennoch „seinen" Kandidaten vorschlagen würde. Dieser könnte zwar dem Bundestag nicht aufgezwungen werden, würde jedoch zu kontinuitätshemmenden, unnötigen Abstimmungen führen und die Kanzlerberufung verzögern. Anders liegen freilich die Dinge, wenn eine solche Mehrheit und die übrigen Voraussetzungen nicht bestehen 15 . Das Grundgesetz trifft für die Bedingungen, unter denen der Bundespräsident seinen Vorschlag vorbereiten soll, keine Regelung. Es wurde schon beklagt, daß die Verfassung die Rechte und Pflichten des Bundespräsidenten angesichts der tatsächlich herrschenden Gesetzmäßigkeiten der Parteiendemokratie nicht regele 16 , daß es „nur die halbe Wahrheit" enthalte 17 . Lobend w i r d dann die französische Verfassung von 1964 erwähnt, die ausdrücklich i n ihrem Art. 45 von den „consultations d'usage" spricht. Auszugehen ist auch hier wieder von den politischen Mehrheitsverhältnissen. Teilt man den gesamten Verlauf der Regierungsbildung i n die Regierungsvorbildung i m offiziösen und die Regierungsbildung 18 i m offiziellen, verfassungsrechtlichen Sinne ein, so gewinnt der offiziöse Abschnitt nur i m Falle des heterogenen, zur Koalitionsbildung gezwungenen Parlaments, Bedeutung. Dabei werden die Parteien oder ihre Fraktionen eine kaum zu überschätzende Rolle spielen 19 . Die Aktionen der beteiligten politischen Gruppen müssen dabei zeitlich der Ausübung des Vorschlagsrechts durch den Bundespräsidenten vorhergehen. Für die Frage, ob und wieweit der Bundespräsident i n der Wahl seiner M i t t e l zur Gestaltung der Vorgänge i n der offiziösen Sphäre frei ist, soll primär auf die i h m grundgesetzlich anvertraute Initiative des Vorschlags zurückgegriffen werden. Sie ist qualitativ vom Recht des Staatsoberhaupts, persönliche Wünsche zu äußern, völlig verschieden 20 . Sie fließt ausschließlich aus der präsidialen Kontinuitätsfunktion. Demgemäß hat, dies w i r d durch die Fristbestimmung i n A r t . 63 Abs. I I I und I V GG bestätigt, der Bundespräsident möglichst schnell für die Kanzlerbestellung zu sorgen. Er w i r d bestrebt sein, einen möglichst „sinnvollen" Vorschlag zu unterbreiten 2 1 . Dazu ist er aber nur i n der Lage, wenn er

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Kaltefleiter (I), S. 213. Nawiasky (IV), S. 94, 97. 17 Schneider, Hans, i n : Die Regierungsbildung nach dem Bonner GG, N J W 1953, S. 1330; Münch, S. 128. 18 Weber, Harald, S. 26. 19 Weber, Harald, S. 27. 20 Anderer Ansicht ist Münch, S. 131, welcher keine Bedenken dagegen hat, daß der Bundespräsident sich des Vorschlags auch zum Ausdruck eigener Meinungen bedient. 21 von Mangoldt—Klein, A n m . I I I 1 a zu A r t . 63. 16

17 Lippert

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die Möglichkeit hat, sich über die Erfolgsaussichten seines Vorschlags zu unterrichten 22 . Die Literatur 2 3 versucht, daraus eine politisch einflußreiche Rolle des Bundespräsidenten auf die Gestaltung der dem Vorschlag vorhergehenden Koalitionsgespräche abzuleiten. Sicherlich schmiedet A r t . 63 Abs. I GG einen Rahmen für die präsidialen Einflußmöglichkeiten auf die Koalitionsverhandlungen. Dabei ist dem Staatsoberhaupt aber auf Grund seiner der Neutralität verpflichteten Stellung bereits der Versuch versagt, unmittelbares persönliches Interesse an oder gegen eine bestimmte politische Konstellation durchzusetzen. Er w i r d demgegenüber versuchen, Anreger und Förderer zu sein, auf politischer Erfahrung gründenden Rat zu geben, wofür i h m die Techniken der Konsultation zur Verfügung stehen. Er w i r d m i t Vertretern der Parteien und Fraktionen konferieren, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens empfangen 24 und nicht zuletzt den möglicherweise bedeutsamen Rat des noch geschäftsführenden Bundeskanzlers entgegennehmen. Es steht i h m weiterhin frei, die Verhandlungen selbst zu leiten oder, wie es der Übung i n den parlamentarisch regierten Staaten m i t monarchischer Spitze entspricht, wo der Monarch von vornherein nicht als „Vater der Koalition" i n Erscheinung treten kann 2 5 , daß sein Beauftragter den Meinungsstand i n den Spitzengremien von Parteien und Fraktionen sondiert 28 . Dieser so umgrenzte Bereich unterliegt dem freien Ermessen des Bundespräsidenten; über seinen Handlungsspielraum bei Ausübung seines Vorschlagsrechts ist damit allerdings noch keine Aussage getroffen. Obwohl der Dualismus der Weimarer Verfassung i m A r t . 63 zugunsten einer monistischen Lösung m i t alleiniger Entscheidungsbefugnis des Bundestags aufgelöst wurde, ist dem Bundespräsidenten mit dem Vorschlagsrecht ein Teil der Wahlgewalt überlassen worden. I n der dabei von i h m wahrgenommenen Initial- bzw. Vollzugsfunktion könnte noch ein Raum freien Ermessens vorbehalten sein 27 . So könnten auch i m Vorschlagsrecht des A r t . 63 ermessensfreie Räume angelegt sein. Tatsächlich w i r d allgemein anerkannt, daß der Bundespräsident nicht verpflichtet ist, den Kandidaten der stärksten Fraktion, auch wenn es sich 22

von der Heydte—Sacherl, S. 79; Schneider, Hans, DÖV, S. 1331. Vgl. hierzu Friesenhahn, E., i n : V V D S t R L 16, S.43; Glum, F. (I), S.330; Nawiasky, H., i n D Ö V 1950, S. 161. 24 Schneider, Hans (II), S. 1331. 25 Münch, S. 128. 28 Vgl. die interessanten Konsultationstechniken der englischen K ö n i g i n beim Premierministerwechsel M a c M i l l a n — L o r d Home, 1. Hauptteil, 1. Kap., 4. Abschn., I I I , 1. 27 Schauss, Günter, Wandlungen des freien Ermessens des Staatsoberhauptes, j u r . Diss. F r a n k f u r t 1949, S. 6. 23

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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u m die Oppositionspartei der vergangenen Legislaturperiode handeln sollte, i n Vorschlag zu bringen 2 8 . Bereits Reichspräsident Ebert war während der Weimarer Verfassung gezwungen, solchen von einer Verpflichtung des Präsidenten zur Berücksichtigung der stärksten Gruppe ausgehenden Auffassungen mit aller Schärfe entgegenzutreten 29 . Der Vorschlag des Bundespräsidenten ist auch i m Hinblick auf das i n A r t . 58 GG normierte Gegenzeichnungsrecht formal frei: Er bedarf nicht der Gegenzeichnung. Unter den Ausnahmen, die nach A r t . 58 Satz 2 GG eine Gegenzeichnung erfordern, ist das Vorschlagsrecht i m Gegensatz zur Ernennung und Entlassung nicht erwähnt. Letztere sind für die Herbeiführung der Rechtsfolge: Besetzung oder Entsetzung des Kanzleramtes wegen ihrer konstitutiven Wirkung verfassungsrechtlich notwendige Akte 3 0 . Demgegenüber ist der Vorschlag des Bundespräsidenten ein rechtliches „Weniger", w e i l er lediglich die rechtliche Verpflichtung des Bundestags enthält, über den Vorschlag abzustimmen 31 . Wenn schon Ernennung und Entlassung des Bundeskanzlers keiner Gegenzeichnung bedürfen, so ist sie bei dem für den Bundestag materiell unverbindlich bleibenden Vorschlag erst recht nicht erforderlich. Überdies ist nicht ersichtlich, wer durch Gegenzeichnung die Mitverantwortung für den Vorschlag übernehmen sollte 32 . Während also der Bundespräsident formell i n seinem Vorschlagsermessen frei ist, sind doch an der Grenze zwischen Recht und Faktum Ermessensbindungen denkbar. Die Formulierung Münchs 33 , daß keine Bedenken gegen den Gebrauch des Vorschlagsrechts durch den Bundespräsidenten zum Ausdruck seiner eigenen Meinung bestünden, vermag keine Klärung zu bringen, ob und inwieweit das Staatsoberhaupt dabei Ermessensschranken unterworfen ist. Tatsächlich sind i n zwei Bereichen Schranken errichtet: a) Begrenzungen materiell-politischer Natur, die letztlich auf A r t . 63 Abs. I I Satz 1 GG beruhen. Die Grenzen zwischen politischer Übung und bereits i m Bereiche des Gewohnheitsrechts liegenden Bildungen sind dabei sehr schwer feststellbar.

28 Koellreutter (II), S.205; Schneider, Hanna, S. 1331; Seifert—Geeb (II), Abs. 1 der Erläuterungen zu A r t . 63, S. 140. 29 Vgl. die theoretischen Vorbemerkungen zu der W V . 30 Münch, S. 183. 31 von Mangoldt—Klein, S. 1229, l d zu A r t . 63; Münch, F., S. 129/130; Smend (I), S. 146 f ü r die W V . 32 Eschenburg, T., Staat u n d Gesellschaft i n Deutschland, Stuttgart 1956, S. 642; Münch, S. 132 weist richtigerweise darauf hin, άε·3 der Vorschlag weder rechtsetzender noch rechtsverwirklichender A k t , also keine Anordnung oder Verfügung sei. 33 Münch, S. 131.

1

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b) Rechtliche Begrenzungen, welche insbesondere durch Rechtsnormen gebildet werden, die vom Kanzlerkandidaten bestimmte, für den Amtsantritt notwendige, persönliche Eigenschaften verlangen. A d a): Eine materielle Bindung des Bundespräsidenten nimmt von Mangoldt 3 4 an; sie ergäbe sich aus A r t . 63 Abs. I I GG. Der Präsident übe sein Vorschlagsrecht nur dann sinnvoll aus, wenn er darauf bedacht sei, einen Kandidaten vorzuschlagen, der Aussicht habe, die Stimmen der „Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl" 3 5 zu erreichen. Diese Formulierung vermag aber die Zweifel, ob von Mangoldt nun eine materiellrechtliche Schranke des Vorschlagsrechts bejaht oder lediglich aus Gründen der politischen Zweckmäßigkeit eine tatsächliche Bindung des Bundespräsidenten an die wirkliche Macht der politischen Verhältnisse annimmt, nicht zu beseitigen. U m zu einem Ergebnis zu gelangen, ist zunächst ein Blick auf die sich immerhin schon seit 20 Jahren entwickelnde Vorschlagspraxis zu richten. Ein weiterer Schritt soll dann einer Untersuchung der Frage gewidmet werden, inwieweit bereits eine etwaige Transformation von der außerrechtlichen politischen Übung i n Verfassungsgewohnheitsrecht stattgefunden haben könnte. Bei der Analyse der Verfassungspraxis sind zwei Ausgangssituationen zu unterscheiden, u m die Schwelle sichtbar zu machen, auf der Reservefunktion i n Reservemacht umzuschlagen vermag. 1. Die erste liegt vor, wenn eine Partei oder eine Koalition die Mehrheit der Sitze i m Bundestag errungen hat und gleichzeitig ein unumstrittener Kanzlerkandidat vorhanden ist. 2. Um die andere Möglichkeit handelt es sich, wenn mehr als zwei Parteien i m Parlament repräsentiert sind, von denen aber keine über die Sitze der Mehrheit der Mitglieder verfügt und eine eindeutige Festlegung zugunsten einer Koalition ebenfalls nicht besteht 36 . Die erste Alternative bestand nach den Bundestagswahlen i n den Jahren 1949,1953,1957,1965 und 1969. Als Modellfall für die zweite Alternative dient die den Bundestagswahlen von 1961 folgende parteipolitische Situation, die aber dann doch noch i m Sinne der ersten Alternative gelöst wurde. Dabei bildet die Konstellation von 1953 und 1957 einen Ausnahmefall: Die politischen Erfolge der Adenauer-Koalition nutzend, hatten die Unionsparteien es verstanden, die Bundestagswahlen von 1953 und 1957 34 v. Mangoldt-—Klein, S. 1227; a . A . Laforet, W., S.55; Münch, F., S. 130; Schneider, Hans, Die.. Regierungsbildung nach dem Grundgesetz, N J W 1953, S. 1330 f. 35 A r t . 121 GG. 36 Amphoux, J., S. 51/58.

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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i n eine Volksabstimmung für oder gegen Adenauer zu verwandeln — die absolute Mehrheit an Sitzen für die Union i n beiden Wahlen war das Ergebnis 37 . Überdies war Adenauer der unumstrittene Führer seiner Partei innerhalb und außerhalb des Parlaments. Demgegenüber war i n den Jahren 1949, 1965 und 1969 eine Koalition zur Regierungsbildung unumgänglich. Die Parteienkonstellation von 1949 unterschied sich noch nicht wesentlich von der heterogenen Mandatsverteilung i m Reichstag der zwanziger Jahre 38 . Adenauer als der Führer der größten Partei ergriff die Initiative zugunsten einer „bürgerlichen Koalition", worüber nach langen Verhandlungen eine Einigung erzielt wurde 3 9 . Bestandteil dieser Übereinkunft war auch die Wahl von Theodor Heuß zum Bundespräsidenten und die von Konrad Adenauer zum Bundeskanzler. Es lag damit eine Verknüpfung von Präsidenten- und Kanzlerwahl 4 0 vor, die ihren eigentlichen Grund i m institutionellen Neubeginn des Jahres 1949 hatte. Theodor Heuß besaß bei seinem Vorschlag infolge der politischen Kräfteverhältnisse keinen Spielraum; der Bundestag hätte sich bei einem anderslautenden Vorschlag des Bundespräsidenten dennoch durchgesetzt und Adenauer zum Kanzler gewählt. Nach den Wahlen von 1965 kehrte die CDU/CSU als stärkste Fraktion i n den Bundestag zurück. Zwar fehlten ihr vier Sitze zur Mitgliedermehrheit, aber die FDP hatte bereits vor den Wahlen dem Bundeskanzler und CDU-Spitzenkandidaten L u d w i g Erhard ihre Unterstützung zugesagt und dieser sich vor den Wahlen auf eine Koalition m i t der FDP festgelegt 41 . Bereits an dem der Wahl folgenden Tag sprach sich die FDP offiziell für eine Kanzlerschaft Erhards aus und informierte den Bundespräsidenten darüber 42 , was — politisch gesehen — jede andere Möglichkeit des Vorschlags für Bundespräsident Lübke ausschloß. Ähnliches gilt für die beiden Kanzlerberufungen von 1963 (Wechsel Adenauer-Erhard) und 1966 (Wechsel Erhard—Kiesinger). Schon sechs Monate vor dem versprochenen Rücktrittstermin Adenauers hatte die 37

Löwenberg, G., S. 270. CDU/CSU 139; SPD 131; F D P 52; B P 17; DP 17; K P D 15; Wirtschaftliche Wiederaufbau-Vereinigung 12; Z e n t r u m 10; Deutsche Reichspartei 5; Unabhängige u. a. 4. Die Vertreter Berlins sind dabei nicht mitgezählt. 39 Heidenheimer, J., A r n o l d ; Adenauer and the CDU, The Rise of the Leader and the Integration of the Party, Den Haag 1960, S. 178 - 185. Das erste Z u sammentreffen nach den Wahlen zwischen Adenauer u n d anderen C D U - F ü h rern w i r d i n allen Einzelheiten i n der autorisierten Biographie von Paul Weymar beschrieben, Adenauer, New Y o r k 1957; Edinger, K u r t Schumacher, A Study i n Personality u n d Political Behavior, Stanford 1965, S. 120, 208 ff. 40 Kaltefleiter (I), S. 213. 41 Kaltefleiter (I), S. 213. 42 Die Welt, 21. u n d 22. 9.1965. 38

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Fraktion formell beschlossen43, L u d w i g Erhard dem Bundespräsidenten als Nachfolger vorzuschlagen 44 . Die Kandidatur Kiesingers wurde ebenfalls durch formelle Wahlgänge i m Schöße der Fraktion vorbereitet und das Ergebnis dem Bundespräsidenten mitgeteilt. Die Bundestagswahlen des Jahres 1969 brachten ein „Novum" für das deutsche Verfassungsleben insoweit, als zum ersten Male i n der Geschichte der Bundesrepublik der Kanzler nicht von der größten Fraktion gestellt und CDU/CSU sogar von der Regierungsbildung ausgeschlossen wurden. I m Wahlkampf war die Koalitionsfrage bis zuletzt eigentlich unbeantwortet geblieben. Es war nur die Abneigung der beiden großen Parteien zur Fortsetzung der Großen Koalition spürbar. Nach Bekanntwerden des Wahlergebnisses kamen SPD und FDP sehr schnell überein, eine Koalition zu versuchen — was den Bundespräsidenten Heinemann i n die Lage seiner Vorgänger versetzte: Das vom Bundespräsidenten schon wegen seines Rollenauftrags erwartete Interesse an einer schleunigen Bundeskanzlerwahl wäre i n den geschilderten Fällen verletzt worden, hätten die Amtsinhaber Heuß, Lübke und Heinemann von ihrem Vorschlagsrecht „phantasievollen" Gebrauch gemacht. Die Vorschrift des A r t . 63 Abs. I I I GG ermöglicht es dem Bundestag, dem Bundespräsidenten trotz dessen anderslautendem Vorschlag einen eigenen Bundeskanzler aufzuzwingen, was einen Prestigeverlust des Präsidenten und möglicherweise sogar einen nicht mehr zu verbergenden Konflikt m i t dem Bundeskanzler sowie dessen Regierung bedeuten und den Bundespräsidenten aus den i h m kraft seiner Auctoritas vorbehaltenen Positionen faktischen Wirkens vertreiben würde 4 5 . Hätte Bundespräsident Heuß 1949 einen anderen Kandidaten anstelle Adenauers vorgeschlagen, wäre i m Verfahren nach A r t . 63 Abs. I I I GG dennoch Konrad Adenauer zum Bundeskanzler gewählt worden. Das gleiche gilt für die Wahl L u d w i g Erhards 1965 und — allerdings m i t geringerer Sicherheit — für die Wahl W i l l y Brandts. Immerhin ist es — das hinter dem Vorschlag stehende Prestige des Bundespräsidenten eingerechnet — zweifelhaft, ob die sieben erforderlichen FDP-Abgeordneten einem entsprechenden Vorschlag Heinemanns gefolgt wären und einen CDU-Kandidaten zum Bundeskanzler gewählt hätten. I n Anbetracht der bereits getroffenen Absprachen zwischen SPD und FDP hätte ein i n eine andere Richtung wirkender Vorschlag die Verfolgung eigener politischer Vorstellungen durch den Bundespräsidenten erkennen lassen und seine Prestigeminderung zur Folge gehabt. 43

Bei der A b s t i m m u n g gaben 159 Fraktionsmitglieder ihre Stimme f ü r Erhard ab, 47 stimmten gegen ihn, 19 enthielten sich der Stimme, u n d 25 waren anscheinend nicht anwesend; Die Welt, 24.4.1963. 44 Löwenberg, S. 271. 45 Vgl. Eschenburg, T., D a r f Heinrich L ü b k e Minister Schröder ablehnen? i n : Die Zeit v o m 15.10.1965.

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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Das Interesse des Bundespräsidenten, einer zueinandergefundenen Koalitionsmehrheit auch i m Vorschlag zum Ausdruck zu verhelfen, wurde 1953 und 1957 durch den i n diesen Bundestagswahlen entscheidenden „Plebiszitäreffekt" determiniert. Z u m erstenmal wurde i n einer deutschen Parlamentswahl — ähnlich den britischen „General Elections" — die Person des Regierungschefs zur Wahl gestellt 48 . Hätte der Bundesprâsidênt m i t seinem Vorschlag den Mann, dem es als erstem deutschen Parteiführer gelungen war, seine Partei i n einer verfassungsmäßigen Wahl zu einer absoluten Mehrheit zu führen, übergangen, so wäre er anschließend nicht nur von einer überwältigenden Bundestagsmehrheit durch die Wahl Adenauers zum Bundeskanzler desavouiert, sondern auch m i t der i m Willen eindeutigen, plebiszitären Stimme der Wählermillionen konfrontiert worden. W i r vermögen damit zu erkennen, daß der Bundespräsident es bei allen besprochenen Regierungsbildungen vermieden hat, persönliche politische Ziele durchzusetzen. Er bemühte sich hingegen stets, „eine latente Mehrheit manifest" werden zu lassen 47 . Bei diesen Gelegenheiten hat er den von der jeweiligen Koalition präsentierten 48 Kandidaten zur Wahl vorgeschlagen. Insoweit ist Löwenberg beizupflichten, wenn er unter den Bedingungen der Alternative 1 das präsidiale Vorschlagsrecht als „Formalität" 4 9 ansieht. I n der Tat ist das Vorschlagsrecht unter diesen Voraussetzungen bereits i n die „dignified parts of the constitution" 5 0 gereiht und i m Normalfall nicht mehr bedeutungsvoll. Ein anderer Aspekt w i r d dabei von Löwenberg 5 1 übersehen: Nicht die Stellung als Führer der größten Fraktion prädestiniert einen Kandidaten für den Vorschlag durch den Bundespräsidenten, sondern — abgesehen von der absoluten Mehrheit einer Partei — die Festlegung auf eine Koalition, deren anerkannter Kandidat zur Verfügung steht. Dies hat deutlich die Regierungsbildung 1969 gezeigt, obwohl sie damals i m Hinblick auf den Ausschluß der stärksten Fraktion als „systemwidrige Mißachtung des Wähler willens" empfunden wurde 5 2 . Es bleibt also festzuhalten, daß bei der vorliegenden ersten Alternative der Bundespräsident, faktisch veranlaßt durch die für die Wahl gem. 48 Heidenheimer, A r n o l d J., hat den Kanzlereffekt i m deutschen Parteiensystem untersucht, „ D e r starke Regierungschef u n d das Parteiensystem: der Kanzlereffekt i n der Bundesrepublik", i n : Politische Viertel Jahresschrift I I (1961), besonders S. 254 - 262. 47 Kaltefleiter (I), S. 218. 48 U n d 1953 sowie 1957 den zusätzlich v o m Volke gewünschten. 49 Löwenberg, S. 273. 50 Bagehot, W., The English Constitution, London 1963, S. 61; Übersetzung: „Die würdigen Teile der Verfassung." 51 Löwenberg, S. 273. 52 Vgl. Böhm, Anton, „Der Verlierer bestimmt die Regierung", i n : Rheinischer Merkur, 10.10.1969.

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I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

A r t . 63 Abs. I I I allein maßgebenden parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse, stets den Mehrheitskandidaten von sich aus vorschlagen wird. Die für den Bundespräsidenten politisch verpflichtende Macht der Mehrheit ist dabei unabhängig von der Beteiligung der größten Fraktion an der Regierungsbildung. I n der Tat ist das Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten „durch die zweite Stufe der Kanzler w ä h l wesentlich eingeengt" 53 . Dies feststellend, befinden w i r uns aber immer noch i m Bereiche zwar faktisch zwingender, rechtlich aber unerheblicher Verpflichtung. Wegen der nicht unerheblichen Dauer der Verfassungspraxis und der gleichförmigen Handhabung von sich nach denselben Gesichtspunkten vollziehenden politischen Geschehensabläufen durch den Bundespräsidenten drängt sich die Frage auf, ob nicht bereits Teile der beschriebenen Übung zu Gewohnheitsrecht erstarkt sein könnten. Eine solche Gewohnheitsrechtsbildung würde eine Beschränkung des dem Bundespräsidenten nach A r t . 63 Abs. I eingeräumten Ermessens bedeuten. Dieser wäre i m Falle der Ausgangssituation 1 über den politischen Zwang hinaus auch rechtlich verpflichtet, den anerkannten Kandidaten der Mehrheit i n seinen Vorschlag aufzunehmen. Das Gewohnheitsrecht würde also dann ergänzend zum positiven Verfassungsrecht hinzutreten. Eine derartige Entwicklung ohne weiteres zu sanktionieren, hieße, i n Anerkennung der psychologisch-soziologischen Geltungstheorie der politischen Notwendigkeit rechtsschöpferische K r a f t zuzuerkennen und das Faktische zum Normativen zu erheben 54 . Gerade i m Verfassungsrecht wären die damit verbundenen Verunsicherungen und der Mangel an Berechenbarkeit untragbar und würden zum Niedergang seiner normativen K r a f t beitragen 55 . Andererseits gilt es, des der Staatsrechtswissenschaft gestellten Auftrags zu gedenken, möglichst weite Bereiche des politischen Lebens rechtlich zu erschließen, zu normativieren und damit der Rechtssicherheit zuzuführen 56 . Die Sicherung und Berechenbarkeit des Verfassungsrechtslebens muß auch bei dem Bemühen i m Vordergrund stehen, die Verhaltensalternativen des Bundespräsidenten bei Ausübung seines Vorschlagsrechts nicht nur nach den Gesetzen politischer Faktizität, 53

Eschenburg, T. (III), S. 641. Begriff nach Larenz, S. 239 f. 55 Vgl. die eindrucksvolle Schilderung des Niedergangs der normativen Geltungskraft bei Kaegi, Werner, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates, Zürich 1945; Hesse, Konrad, Die normative K r a f t der Verfassung, Tübingen 1959, S. 5 f. 56 Über die methodologischen Aufgaben der Staatsrechtslehre, vgl.: Wagner, Christa, S. 40; Leibholz, Gerhard, Z u r Begriffsbildung i m öffentlichen Recht, i n : Blätter f ü r deutsche Philosophie, Bd. 5, Heft 2/3 1931/32, S. 175 ff., 54

182.

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sondern rechtlicher Normativität eindeutig zu bestimmen. Dabei ist von den Voraussetzungen auszugehen, unter denen Gewohnheitsrecht i m allgemeinen entsteht. Anschließend soll geprüft werden, ob und inwieweit besondere Bedingungen die Bildung von Verfassungsgewohnheitsrecht beherrschen und schließlich die oben gestellte Frage beantwortet werden. Die Ungeschriebenheit gilt als populäres Hauptmerkmal des Gewohnheitsrechts. Sie genügt aber dennoch nicht, den Begriff zu erklären, weil nicht jegliches ungeschriebene Recht Gewohnheitsrecht darstellt 5 7 . Daher ist auf die Besonderheit der Entstehungsweise des Gewohnheitsrechts abzustellen. Nach der sich i n langen Jahrzehnten herausgebildeten herrschenden Auffassung entsteht eine Norm des Gewohnheitsrechts durch die Kombination eines objektiven und subjektiven Merkmals, durch „usus continuus" und „opinio necessitatis" 58 . „Usus continuus", eine Übung, entsteht, wenn über längere Zeiträume hinweg ein entsprechendes Verhalten zu beobachten ist. Die Länge dieses Zeitraums ist „ex ante", nicht genau bestimmbar, wenn auch dahingehende Versuche von manchen Kodifikationen versucht worden waren 5 9 . Eine kürzere Dauer kann auch genügen, wenn der Übung i n allen oder annähernd allen entsprechend situierten Fällen gefolgt w i r d 6 0 . T r i t t eine Unterbrechung der Übung ein, so w i r d sie nur dann aufgehoben, wenn bei einem gleichgestalteten Fall m i t Wissen und Willen ein von ihr abweichendes Verhalten gezeigt wird. Was unter „opinio necessitatis" zu verstehen ist und wer ihr Träger sein kann, ist umstritten 8 1 . Infolge des Charakters des Gewohnheitsrechts als eines für sämtliche Rechtsgebiete Geltung beanspruchenden und daher wegen seiner Abstraktheit inhaltsarmen Begriffs 82 können als seine Träger nur „Beteiligte" oder „Normadressaten" bezeichnet werden. Da unter „Normadressaten" gemeinhin ein Rechtssubjekt zu verstehen ist, das von einem bereits geltenden Rechtssatz angesprochen wird, einigt man sich besser auf die Bezeichnung „Beteiligte" für die Träger der „opinio necessitatis". Unter ihr w i r d Rechtsüberzeugung 83 , 57

Höhn, Ernst, Gewohnheitsrecht i m Verwaltungsrecht, B e r n 1960, S. 3. Koellreutter (II), S. 97. 59 Das kanonische Recht verlangt ζ. B. eine Frist von hundert Jahren — Codex Juris Canonici, can. 30; eine i n Wissenschaft u n d Praxis des sächsischen Rechts verbreitete Meinung glaubte, daß die Übung sich mindestens auf einen Zeitraum v o n 31 Jahren, sechs Wochen u n d drei Tagen erstrecken müsse; vgl. RGZE 113/349 (359). 60 Höhn, S. 44 f. 01 Als Träger werden genannt: die Allgemeinheit, Forsthoff (II), S. 134, die Beteiligten, Peters (IV), S. 7 9 - 8 0 ; die Normadressaten, Höhn, E., S. 51 f. 62 Larenz, K a r l , Methodenlehre, Berlin—Göttingen—Heidelberg 1960, S. 139 ff. 68 Forsthoff (II), S. 133. 58

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Überzeugung unbedingter Verbindlichkeit® 4 , Gerechtigkeitsüberzeugung 8 5 oder Rechtsmäßigkeitsüberzeugung® 6 verstanden. Gemeinsam ist den von der Literatur gefundenen Umschreibungen das unbedingte Erfordernis der Uberzeugung auf Seiten der Übenden, daß ihre Verhaltensweise das Recht befolge, dem Recht entspreche und es verwirkliche. Der Wille zur Rechtserzeugung w i r d aber nicht als notwendig angesehen87. A u f der Grundlage der gefundenen Bestandteile w i r d dann definiert: „Gewohnheitsrecht ist Recht, das, ohne als Rechtssatz schriftlich fixiert zu sein, tatsächlich geübt wird, wobei die Übung auf der Überzeugung der Beteiligten beruht, die Handlung sei rechtens 88 ." Für die i m Verfassungsrecht grundsätzlich anerkannte Möglichkeit der Bildung von Gewohnheitsrecht 89 gilt es zu prüfen, ob die Übertragung obiger Merkmale möglich ist: Bereits der an der Entstehung von Gewohnheitsrecht i m Verfassungsrecht beteiligte Kreis von Rechtssubjekten unterscheidet sich von jenem des Zivilrechts. I n den vom Prinzip der Gleichordnung erfüllten Rechtsverhältnissen des Zivilrechts erscheinen vor allem Privatpersonen als Träger des Gewohnheitsrechts. Ganz anders i m Verfassungsrecht, das auf einer „Gesamtentscheidung über A r t und Form der politischen Einheit" 7 0 beruht. Nach einem bestimmten Prinzip ist hier das Zusammenwirken der Verfassungsorgane durch Verteilung von Funktionen, Kompetenzen und Befugnissen i n einer Weise geregelt, auf die der einzelne Bürger i n seiner Eigenschaft als Rechtssubjekt keinen bestimmenden Einfluß auszuüben vermag. Daraus folgt, daß die zwischen juristischen Personen des Privatrechts herausgebildete Übung i n keinem Fall zur Grundlage von Verfassungsgewohnheitsrecht werden kann. Aber es kommen auch nicht alle juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder deren Behörden als Träger von Verfassungsgewohnheitsrecht i n Frage. Die Übung muß von einem bestimmten Kreis von Personen entwickelt werden, welche zu besonderer staatlicher Tätigkeit berufen sind 71 . Als solche selbständige, zu eigener Willensbildung befähigte, oberste Staatsorgane sind die Verfassungsorgane anzusehen 72 , bei denen es sich u m Staatsorgane handelt, die i n der Verfassung vor64 85 88 87 88 89 70 71 72

Nawiasky (I), S. 60. Höhn, S. 12. Jellinek, Georg (I), S. 339,342. Mokre, Hans, Theorie des Gewohnheitsrechts, Wien 1932, S. 176. Wagner, S. 23. Küchenhoff, Günther u. Erich, S. 67. Schmitt (V), S. 20 ff. Schulze, Hermann, Das Preußische Staatsrecht, Leipzig 1872,1. Bd., S. 14. Küchenhoff, Günther u. Erich, S. 89.

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gesehen sind, deren Kompetenzen unmittelbar aus der Verfassung fließen und denen wesentliche Funktionen i m Verfassungsleben übertragen sind. Diese Funktionsträger können zu Trägern von Verfassungsgewohnheitsrecht werden. Darüber hinaus steht diese Eigenschaft allen jenen Gruppen offen, die bei der Formung des gesamtstaatlichen Willens mitwirken; dabei kommt den m i t dem besonderen Auftrag des A r t . 21 versehenen Parteien und deren parlamentarischen Organisationen die höchste Bedeutung zu 73 . A u f das Erfordernis des „usus longaevus" für die Entstehung von Gewohnheitsrecht kann auch bei der Bildung von Verfassungsgewohnheitsrecht nicht verzichtet werden. Zwar mag die Folge der Ereignisabläufe i m Staatsrecht nicht vergleichbar m i t der anderer Rechtsgebiete sein; i n i h m sind grundsätzlich die zeitlichen Abstände zwischen den relevanten Handlungen größer: Parlamentswahlen, Regierungsbildungen, Regierungsstürze, Parlamentsauflösungen erfüllen etwa i n oft noch unregelmäßiger Folge von Jahren und Jahrzehnten das öffentliche Leben. Staatsrecht ist politisches Recht, und die i n i h m waltenden Ereignisse der Verfassungspraxis sind i n eine „Werteinmaligkeit" gehoben, die sie von Parallelvorgängen i n anderen Rechtsgebieten qualitativ unterscheiden 74 . Es wäre gefährlich, ließe man die Gewohnheitsrechtsbildung der „Dynamik" moderner Verfassungsentwicklung ständig auf dem Fuße folgen. Würde man die Entstehung von Gewohnheitsrecht bereits auf Grund weniger oder auch nur eines einmaligen Übungsfalles annehmen, so wäre der Weg zur allgemeinen „Kompetenzusurpation" 7 5 nicht weit. Die Elemente der konstanten Praxis, der dauernden Übung 7 6 , müssen daher für das Verfassungsgewohnheitsrecht bewahrt bleiben; das Normative hat eine Tendenz zur langsamen Entfaltung 7 7 und darf dem Dynamischen nicht untergeordnet werden 7 8 . Eine allgemein gültige Feststellung, wie oft die Übung wiederholt werden muß, kann jedoch nicht getroffen werden 7 9 . Stets ist die grundsätzlich mögliche Häufigkeit der Übungsfälle zu prüfen: Verfassungsgewohnheitsrecht entsteht dann 73 Diese sind zwar keine Verfassungsorgane i m Sinne der Definition Lechners, jedoch strittig; wie hier: Maunz—Diirig—Herzog, A r t . 21, Rdz. 46. 74 Besonders k o m m t diese i n den Integrationswirkungen staatlicher V o r gänge zum Ausdruck, vgl. hierzu Kimminich, O., der auch die Symbolfunktion i n die Kontinuitätsaufgabe des Staatsoberhauptes i n der parlamentarischen Demokratie aufnimmt, S. 71 ff. 75 Kaegi (I), S. 123. 76 Kaegi (I), S. 122. 77 Larenz, S. 269. 78 Kaegi, ebenda. 79 ζ. B. weist Draht, M a r t i n ( V V D S t R L 1951, Heft 9, S. 93) darauf hin, daß die B i l d u n g von Verfassungsgewohnheitsrecht auch i n wenigen Vorgängen möglich ist. Α. A . Hamann, Andreas. Einführung I A 1 S. 3, u n d das M i n d e r Reitengutachten des Bremer Staatsgerichtshofs, Entscheidung v o m 5.1.1957 i n : N J W 1957, S. 666 f. (668).

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nicht, wenn die Zahl der tatsächlich vollzogenen Übungsfälle hinter den möglichen zurückbleibt und gleichzeitig eine bewußte Nichtwiederholung vorliegt. I n diesem Falle würde — prima facie — die opinio necessitatis der Beteiligten fehlen. Dabei ist aber stets zu prüfen, ob ein vergleichbarer Sachverhalt vorliegt, der die Fortsetzung der Übung rechtfertigen würde. Als Begriffsbestimmung des Verfassungsgewohnheitsrechts ergibt sich somit: „Das Verfassungsgewohnheitsrecht ist Recht, welches ohne rechtssatzmäßig fixiert zu sein, vom Volk, insbesondere den Verfassungsorganen oder anderen, am Verfassungsleben beteiligten Faktoren, längere Zeit geübt wird, wobei die Übung i n der Überzeugung vorgenommen wird, sie sei rechtens, und welches das Verfassungsrecht i m formellen oder materiellen Sinne ändert oder ergänzt 80 ." Wie oben gezeigt, hatte der Bundespräsident i n den unter die Rubrik 1 fallenden Situationen stets denjenigen Politiker vorgeschlagen, der entweder Führer der absoluten Mehrheitspartei oder unumstrittener Kandidat einer Koalitionsmehrheit war 8 1 . Dies gilt auch für die Kanzlerwahl 1969, wo dem Bundespräsidenten von den zur Koalitionsbildung entschlossenen Parteien SPD und FDP ein Kandidat benannt wurde. Demgegenüber scheint die Einordnung der Vorgänge bei der Regierungsbildung 1961 etwas schwieriger: die Union hatte die absolute Mehrheit eingebüßt, und es herrschten Zweifel darüber, inwieweit die FDP, die zwar schon i m Wahlkampf ihre Koalitionsbereitschaft m i t der CDU/CSU bekundet, diese aber vom Verzicht Adenauers auf eine weitere Kanzlerschaft abhängig gemacht hatte, nun doch Adenauer i n der Bundeskanzlerwahl unterstützen würde. Die Probleme dehnten die Koalitionsverhandlungen auf zehn Wochen aus, was i n der Bevölkerung zu einer Vertrauenserschütterung gegenüber dem gesamten Parteisystem geführt hatte 82 . Bundespräsident Lübke ließ bald nach der Wahl erkennen, daß er eine Regierung auf breiter parlamentarischer Grundlage, etwa eine Allparteienregierung oder eine Große Koalition zwischen CDU und SPD, befürworte 8 8 . Dennoch verhielt er sich, als die Absicht der FDP, wiederum m i t der CDU zu koalieren, feststand, verfassungskonform: u m die letzten Zweifel über das zu erwartende Verhalten der FDP i n der Bundeskanzlerwahl zu beseitigen, bat er den Fraktionsvorsitzenden Mende u m eine — später auch stattgefundene — geheime Probeabstimmung i n der Fraktion. Damit schaffte er sich Sicherheit über die Unumstrittenheit des Koalitionskandidaten Konrad Adenauer 84 . 80

Wagner, S. 32. a. A . Loewenberg, S. 273, der meint, daß die Nominierung durch die größte F r a k t i o n maßgeblich wäre. 82 Kaltefleiter (I), S. 221. 83 Der Präsident, i n : „Die W e l t " v o m 25.10.1961. 84 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 23.10. 1961; „Die Welt", 4.11.1961, 81

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Der Bundespräsident war also auch hier einer festgelegten parlamentarischen Mehrheit gefolgt. Bundespräsident Lübke hatte informelle Kontakte dazu benützt, den entscheidenden Wahlgang i m Parlament zu „antizipieren". Insoweit befand er sich i n der gleichen Situation wie die englische Königin bei den Premierministerwechsel von 1957 und 1963, als sie keinen eigenen Ermessensspielraum ausnutzte, sondern — i n der Wahl ihrer Methoden frei — den von der repräsentativen Mehrheit der regierenden konservativen Partei gewünschten Kandidaten ermittelte und damit ebenfalls spätere Willensbildungsvorgänge antizipierte. Mißt man die politische Verhaltensweise am Maßstab der zur Bildung von Verfassungsgewohnheitsrecht notwendigen Kriterien, ist zunächst das Vorliegen einer Übung zu bejahen, w e i l schon einige gleichgelagerte Situationen von den Beteiligten dieselbe Behandlung erfahren haben. Als Beteiligte zählen hier insbesondere der Bundespräsident, die Fraktions- und Parteileitungen, zum Teil auch das Volk i n Gestalt der Wählerschaft. Mag auch der der Verfassungspraxis i n der Bundesrepublik Deutschland bisher zur Verfügung stehende zeitliche Entfaltungsraum noch als relativ eng bezeichnet werden, so hat die Bundesrepublik hinsichtlich ihres zeitlichen Bestandes immerhin bereits die Weimarer Republik überdauert 85 . Der innerhalb des betrachteten Zeitabschnitts möglichen Häufigkeit der Übungsanwendung wurde i n allen Fällen entsprochen, der Bundespräsident hat ausnahmslos den Kandidaten einer absoluten Einparteien- oder Koalitionsmehrheit zu seinem eigenen gemacht. Dies gilt auch für 1961 und 1969. Es hätte der Übung also nicht öfters entsprochen werden können als es geschah. Gegenüber der optimalen Häufigkeit muß die Bedeutung der absoluten zahlenmäßigen Häufigkeit auf der Ebene des Verfassungsrechts zurücktreten, so daß für die Handhabung des Vorschlagsrechts durch den Bundespräsidenten das Vorliegen einer gleichmäßigen und dauernden Übung ein „usus continuus", bejaht werden kann. Die Übung muß aber, u m normative K r a f t entfalten zu können, den „Zweck des Rechts" verwirklichen. Die Beteiligten müssen i n Befolgung der Übung einer „rechtlichen Anforderung" 8 6 nachkommen. Die Übungen sollen Ausdruck eines „Rechtsgeltungswillens der Gemeinschaft" 87 und einer allgemeinen Rechtsüberzeugung sein. 85 Wobei der Weimarer Republik die Entwicklung einer bewegten u n d vielseitigen Verfassungspraxis zugestanden werden muß. Vergleiche f ü r ein Teilgebiet dieses Problems Herrfahrdt, H., Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluß der politischen Praxis, B e r l i n 1927. 86 Larenz, S. 270. 87 Enneccerus— Nipper dey, Lehrbuch des bürg. Rechts, Bd. 1, Tübingen 1950,15. Auflage, § 39.

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Ob jene „opinio necessitatis" vorliegt, ist nicht als bloßes „psychologisches Faktum" feststellbar, sondern hängt ab von der A n t w o r t auf die Frage nach dem Sinn der Bestätigungsakte durch die Beteiligten: ist ihnen der Zweck einer Normerfüllung eigen, so kann der Rechtsgeltungswille als vorhanden angenommen werden. Der Zweck der Normerfüllung wiederum ist mittels Feststellung bestimmter Kriterien zu ermitteln; als solche werden die Unangefochtenheit, die Freiwilligkeit der Übung, sowie ihre sinnhafte Beziehung auf die Rechtsidee, angeführt. Das Moment der „Unangefochtenheit" war bei den einzelnen Vorschlägen des Bundespräsidenten seit 1949 eigentlich — m i t Ausnahme des Vorschlags von W i l l y Brandt durch Bundespräsident Heinemann nach den Bundestagswahlen von 1969 — nie angezweifelt worden. Dabei hatten manche K r i t i k e r die Koalitionsbildung unter Ausschluß der stärksten Fraktion als „Manipulation des Wähler willens" hingestellt 88 . Zuzugeben ist, daß der Koalitionszusammenschluß gegen die größte und bisher den Regierungschef stellende Fraktion stets risikobelastet sein wird. Rechtlich und politisch ruht i m parlamentarischen Regierungssystem die Regierung auf ihrer Mehrheit i m Parlament, wobei das Größenverhältnis der die Regierung bildenden Fraktionen und insbesondere die Beteiligung der größten Fraktion unerheblich ist. Auch i m Jahre 1969 ist der Vorschlag des Bundespräsidenten auf keinen nennenswerten Widerstand bei den Beteiligten oder i m Schrifttum gestoßen. Die geäußerte K r i t i k richtete sich primär gegen das politische Ereignis der Koalitionsbildung der beiden Parteien als solches, nicht aber gegen das Verhalten des Bundespräsidenten, dem ja ein Entscheidungsspielraum schon aus dem faktischen Grunde der i m Bundestag bestehenden Mehrheitsstruktur genommen war 8 9 . Dem Vorschlag Bundespräsident Heinemanns kann daher die „Unangefochtenheit" nicht abgesprochen werden. Die Übung ist auf der Grundlage der Freiwilligkeit entwickelt worden, wenn sie nicht nur durch tatsächliche Verhältnisse erzwungen, sondern auch durch die Überzeugung rechtlicher Gebotenheit initiiert wurde 9 0 . Hinsichtlich des Gebots der freiwilligen Entstehung der vom Bundespräsidenten gehandhabten Gepflogenheit, stets den sicheren Mehrheitskandidaten vorzuschlagen, erheben sich sogleich Zweifel: für den Bundespräsidenten besteht, wenn er den Kandidaten der Mehrheit übergehen sollte, das erhebliche Risiko eines Prestigeverlustes und einer 88 Böhm, Anton, „Der Verlierer bestimmt die Regierung", i n : „Rheinischer M e r k u r " v o m 10.10.1969. 89 Die Erfolgsaussichten W i l l y Brandts f ü r den F a l l eines anderslautenden Vorschlags des Bundespräsidenten untersucht Kaltefleiter (I), S. 214. Nach i h m wäre Brandt m i t sicherer Wahrscheinlichkeit i m zweiten Wahlgang erfolgreich gewesen. 90 Wolff, Bd. 1 S. 25 I I I a.

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Auseinandersetzung m i t dem dann doch nach A r t . 63 Abs. I I I GG gewählten Bundeskanzler. Der Bundespräsident hat sich als Rollenträger i n der für das Funktionieren der parlamentarischen Regierungsform notwendigen wechselseitigen Zuordnung der einzelnen Institutionen 9 1 zu begreifen. Für die Erläuterung des Merkmals Freiwilligkeit ist die am verfassungspolitischen Neubeginn bestehende Situation des Jahres 1949 zu betrachten: A r t . 63 war eine erst i n Betrieb zu nehmende Maschinerie, faktische Zwänge waren noch nicht entwickelt, und der Bundespräsident hätte anstelle Konrad Adenauers K u r t Schumacher dem Bundestag vorschlagen können. Zwar wäre wegen des die Wahlfunktion und letzte Entscheidungsgewalt des Bundestages sichernden A r t . 63 Abs. I I I des Grundgesetzes Adenauer doch zum Bundeskanzler gewählt worden; nichts aber hätte den Bundespräsidenten hindern können, einen anderen Vorschlags zu unterbreiten. Demgegenüber w i r d etwa i n der Strafrechtswissenschaft die Freiwilligkeit des Rücktritts vom Versuch nicht angenommen, wenn der Täter zum Rücktritt wegen einer für i h n wesentlichen nachteiligen Veränderung der Sachlage bestimmt wird, obwohl die Fortführung der Tat objektiv möglich gewesen wäre 9 2 . Aber die i n einem i m strafrechtlichen Sinne handelnden Täter wirkenden subjektiven Vorgänge sind nicht auf die Verhaltensmaßstäbe eines Verfassungsorganträgers übertragbar; ebenso ist die i m Straf recht als Maßstab für die Freiwilligkeit des Rücktritts dienende Unterscheidung von „autonomen" und „heteronomen" Motiven 9 3 aus dem gleichen Grunde nicht anwendbar. Neben dem Willen, das Vorschlagsrecht i n sinnvoller Weise auszuüben, war es auch die Auffassung von der bestehenden rechtlichen Verpflichtung, die es dem Bundespräsidenten gebot, den unangefochtenen Kandidaten einer festen Mehrheit vorzuschlagen. Das i m Grundgesetz verwirklichte parlamentarische Prinzip ist zwar i n vielen Staaten kraft Übung 9 4 , i n Deutschland aber endgültig durch die Revolution eingeführt worden. Es hat damit über die politische Wirksamkeit hinaus eine verfassungsrechtliche Verankerung erfahren. Wie bereits am Beispiel der Weimarer Verfassung und des englischen Systems der „Constitutional Conventions" gezeigt worden ist, beruht die parlamentarische Regierungsweise auf der politischen Bestandsabhängigkeit der Regierung von der Parlamentsmehrheit: i n seiner idealtypischen Ausformung führt das 91

Kaltefleiter (I), S. 18. Schänke—Schröder, Kommentar zum StGB, München 1970, Rdn. 25 zu § 46 StGB. 93 Schönke—Schröder, Rdn. 22 u n d 23 zu § 46. 94 Die Verfassungen Großbritanniens u n d der skandinavischen K ö n i g reiche sind i n i h r e m tatsächlichen W i r k e n n u r durch Beobachtung jener „Conventions" zu erklären; dies betont insbesondere Scheuner (III), S. 214 f. 92

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zur Ausschaltung des i n A r t . 53 Weimarer Verfassung enthaltenen und für die Verfassungspraxis jener Epoche so abträglichen Dualismus der Bestellungszuständigkeit. Es ist hier nicht der Ort, u m auf die Problematik der Rechtsnatur und des Geltungsbereichs von Koalitionsverträgen einzugehen 95 . Diese vermögen hinsichtlich des präsidialen Vorschlagsrechts keinerlei Bindungswirkung zu entfalten, jedoch ist denkbar und wahrscheinlich, daß der Bundespräsident i n einem die absolute Mehrheit sichernden Koalitionsvertrag eine hilfreiche Konkretisierung erblicken und den Koalitionskandidaten zur Wahl vorschlagen wird. Schließlich sei noch an den vom Bundespräsidenten bei seinem Amtsantritt geleisteten Eid erinnert 9 6 , wonach der Bundespräsident u.a. gelobt, Schaden vom deutschen Volk zu wenden und seinen Nutzen zu mehren. Nach herrschender und richtiger Auffassung bildet auch der Eid des Bundespräsidenten eine rechtliche Verpflichtung für den jeweiligen Amtsträger. A u f unseren Fall angewendet bedeutet dies die normative K r a f t des Eides, Gebote politischer Vernunft zu rechtlicher Verpflichtung umzuformen. Die vom Bundespräsidenten gemäß A r t . 63 Abs. I GG gemachten Vorschläge haben sich nach einer bestimmten Übung vollzogen, nach welcher ein feststehender unumstrittener Mehrheitskandidat nicht übergangen wurde. A u f Grund dieser tatsächlichen Gepflogenheit und der zusätzlichen subjektiven Voraussetzung („opinio necessetatis") der Beteiligten, ist nicht mehr auszuschließen, daß eine entsprechende Gewohnheitsbildung bereits stattgefunden hat. A d 2: Die Ermessensbegrenzung des Bundespräsidenten durch Gewohnheitsrecht könnte aber nur unter den Voraussetzungen der Alternative 1 eintreten, also bei sicherer, auf einen Kandidaten geeinigter, parlamentarischer Mehrheit. Liegen diese Voraussetzungen nicht vor, so ist eine gewohnheitsrechtliche Bindung des Bundespräsidenten nicht möglich 97 . Während i m Fall 1 die übrigen Beteiligten zur parlamentarischen Mehrheitsbildung i n der Lage waren und deren Ergebnis vom Bundespräsidenten i n seinem Vorschlag antizipiert wurde, ist i n der Alternative 2 das Parlament nicht i n der Lage, seine Wahlfunktion eigenständig wahrzunehmen. Dem Bundespräsidenten obliegt es jetzt, die informatorischen Voraussetzungen für seinen Vorschlag zu schaffen 95 Eine eingehende Untersuchung der Rechtsnatur des Geltungsbereichs u n d der bisherigen verfassungspolitischen Praxis u n t e r n i m m t Weber, Harald, Der Koalitionsvertrag, B o n n 1967. 96 „Ich schwöre, daß ich meine K r a f t dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden v o n i h m wenden, das Grundgesetz u n d die Gesetze des Bundes wahren u n d verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen u n d Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So w a h r m i r Gott helfe." 87 Als Beispiel sei hier auf die zu A r t . 18 Bayer. Straßen- u n d Wegegesetz entwickelte „Selbstbindung der V e r w a l t u n g " verwiesen.

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und durch helfenden, schlichtenden Rat das Parlament bei der Ausübung seiner Wahlfunktion zu unterstützen 98 . Der nach solchen Sondierungen vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Kandidat hat dennoch aus zwei Gründen eine erhöhte Aussicht, bei der Abstimmung die Mehrheit der Abgeordnetenstimmen auf sich zu vereinen 99 . Denn erstens sei der Kandidat m i t dem Prestige versehen, über das ein neutraler Bundespräsident verfügt, soweit er eine vermittelnde Haltung einnimmt und keine eigenen politischen Ziele verfolgt. Zweitens erhöht das Gesetz der „self-fulfilling prophecy" 1 0 0 die Chancen des Kandidaten. Die Beteiligten sehen i m Vorschlag des Bundespräsidenten das Endprodukt eines langen Antizipationsprozesses, d. h. der Kandidat, der über die größten Aussichten verfüge, ist schließlich — und sei es erst i m Wahlgang nach A r t . 63 Abs. 4 GG gewählt zu werden — auch Gegenstand der Abstimmung. Demgegenüber kann der Bundespräsident i n Wirklichkeit bereits die Wahl i m Verfahren des A r t 63 Abs. 4 GG i m Auge haben, i n welchem für i h n die Möglichkeit eines Umschlags der Reservefunktion i n Reservemacht besteht. A d b ) : Ermessensbeschränkung des Bundespräsidenten durch die an den Kandidaten zu stellenden, persönlichen Voraussetzungen. Das Grundgesetz schweigt über die persönlichen Voraussetzungen, die vom Bundeskanzler und den übrigen Regierungsmitgliedern erfüllt werden müssen und ebenfalls eine Ermessensbeschränkung des Bundespräsidenten bedeuten. So würde der Bundespräsident die Grenzen seines Ermessens überschreiten und die m i t dem Eid übernommene Verpflichtung der Schadensabwendung verletzen, wenn er als Kandidaten jemanden vorschlagen würde, der aus persönlichem Unvermögen, Krankheit oder einem anderen Grunde nicht i n der Lage wäre, die Obliegenheiten seines Amtes wahrzunehmen 101 . Der Bundeskanzler und die übrigen Mitglieder der Bundesregierung stehen zum Bund i n einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis eigener A r t , das durch das Gesetz über die Rechtsverhältnisse der Mitglieder der Bundesregierung 102 vom 17. Juni 1953 ausgestaltet worden ist. Sie sind keine Bundesbeamten i m Sinne des Bundesbeamtengesetzes und 98 Eschenburg, T., Franz v o n Papen, Staat u n d Gesellschaft, Stuttgart 1956 - 1958, S. 642. 99 Kaltefleiter (II), S. 217. 100 Interessante Ausführungen zur methodologischen Erörterung dieser Frage siehe: Popper, S. 13 f. (der auch den Terminus „ödipuseffekt" v e r w e n det); Simon, H., Models of Man, Social and Rational Mathematical Essays on Rational H u m a n Behavior i n a Social Setting, New Y o r k 1957, S. 82 ff. ; u n d Merton , R. Κ . , The Self F u l f i l l i n g Prophecy, i n : Merton , R. K., Social Theory and Social Structure, Glencoe 1957, S. 421 ff . 101 Münch, S. 122. 102 BGBl. I , S. 407.

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Lippert

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unterliegen nicht den beamtenrechtlichen Erfordernissen. Insbesondere sind formale Befähigungsnachweise irgendwelcher A r t nicht erforderlich 1 0 3 . Der Bundespräsident würde aber sein Ermessen überschreiten, wenn er einen Kandidaten vorschlagen würde, der die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter verloren hat. Der Verlust ist i n den §§31, 32 StGB geregelt, das A m t des Bundeskanzlers ist als „öffentliches A m t " i m Sinne des § 31 StGB anzusehen 104 . Das gleiche gilt, wenn der Kandidat eines oder mehrere der i n A r t . 18 GG aufgezählten Grundrechte verw i r k t hat; gemäß § 39 Abs. 2 BVerfGG kann das BVerfG den Betroffenen unter anderem die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter aberkennen. Ebenso darf der Bundespräsident niemanden vorschlagen, der nicht i m Besitze des aktiven Wahlrechts ist. Angesichts der überragenden Stellung, welche die Verfassung dem Bundeskanzler zuweist, sowie der zur Amtseinsetzung erforderlichen parlamentarischen Legitimierung ist das Vorliegen dieser Voraussetzungen selbstverständlich 105 . Aus dem gleichen Grund muß das passive Wahlrecht, die Wählbarkeit zum Deutschen Bundestag, zu den Voraussetzungen gezählt werden, deren der Bundeskanzler zu seinem Amtsantritt bedarf und mangels derer der Bundespräsident den Betroffenen i n seinem Vorschlag nicht berücksichtigen darf 1 0 8 . Über die Wählbarkeitsvoraussetzungen w i r d i m Grundgesetz nur i n A r t . 38 Abs. 2 als Mindestalter das vollendete 21. Lebensjahr bestimmt und auf das BundesWahlgesetz107 verwiesen. Dort w i r d die von A r t . 38 Abs. 2 GG normierte Altersvoraussetzung bestätigt 1 0 8 . § 16 Abs. 1 S. 1 BWahlG schreibt als weitere Wählbarkeitsvoraussetzung vor, daß der Kandidat Deutscher i m Sinne des A r t . 116 Abs. 1 GG sein muß; dabei sind „Deutscher" i m Sinne des A r t . 116 Abs. 1 GG und die deutsche Staatsangehörigkeit nicht gleichbedeutend 109 . § 16 BWahlG stellt insoweit höhere Anforderungen, als § 12 BWahlG sie für das aktive Wahlrecht stellt. Gemäß § 12 Abs. 1 BWahlG sind auch diejenigen Personen stimmberechtigt, die nicht deutsche Staatsangehörige, aber Deutsche i m Sinne von A r t . § 116 Abs. 1 GG sind, während § 16 Abs. 2 Nr. 4 eben diesen Personenkreis von der passiven Wählbarkeit und dam i t auch von der Mitgliedschaft i n der Bundesregierung ausschließt. 108 104 105

106 107 108 109

Münch, S. 123. Schönke—Schröder, § 31, Rdn. 1 zu § 31. Das aktive Wahlrecht (Stimmrecht) k a n n entzogen werden: a) § 31 Abs. 5 StGB. b) A r t . 18 GG i. V. m i t A r t . 39 Abs. 2 BVerfGG. Münch, S. 121. V o m 7. M a i 1956, BGBl. I, S. 383. § 16 Abs. 1 S. 2 BWahlG. A r t . 116 Abs. 1 GG.

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Weiterhin spricht § 16 BWahlG denjenigen Personen die Wählbarkeit ab, die nach § 13 vom Wahlrecht ausgeschlossen sind, deren Wahlrecht gemäß § 14 ruht und die infolge Richterspruchs die Wählbarkeit oder die Fähigkeit zur Bekleidung öffentlicher Ämter nicht besitzen 111 . Auch darf der Bundespräsident dem Bundestag kein Mitglied einer nach den Maßstäben des A r t . 21 Abs. 2 GG verfassungswidrigen und i m Verfahren von § 13 Nr. 2 i n Verbindung m i t den §§ 43 ff. BVerfGG für verfassungswidrig erklärten Partei vorschlagen. I n den Vorschlag kann auch ein Kandidat aufgenommen werden, der nicht Mitglied des Bundestages ist. Die Frage, ob der Regierungschef Abgeordneter sein muß oder darf, beurteilt sich nach der Auffassung von der Gewaltenverteilung und ihrer formalen oder faktischen Ausgestaltung i n der konkreten Verfassungsordnung. Während die französische Verfassung von 1958112 auch die strikte personelle Gewaltenteilung durch Festlegung der Inkompatibilität von Regierungsamt und Mandat sichert, entspricht es auf der anderen Seite alter 1 1 3 und neu bestätigter 114 britischer Verfassungstradition, daß der Premierminister einen Sitz i m Unterhaus einnimmt. I m englischen Rede- und Parteienparlament w i r d dem Premierminister durch enge personelle Verflechtung zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit die parlamentarische Unterstützung gesichert. Der Premierminister w i r d damit nicht nur zur Zentralfigur der Regierung, sondern auch zum eigentlichen „Leader" des Unterhauses. Gleichzeitig erfüllt sich damit die Unterrichtungs- und Aufklärungsfunktion des Parlaments 115 , da die Gegensätze zwischen den Kabinettalternativen und den sie tragenden Parteien sichtbar gemacht werden 1 1 8 . Das Grundgesetz beschreitet zwischen den beiden extremen Positionen der englischen und französischen Lösung insofern einen Mittelweg, als es weder die Mitgliedschaft i m Bundestag als WählbarkeitsVoraussetzung zum Bundeskanzler vorschreibt, noch i n einer Inkompatibilitätsbestimmung die Unvereinbarkeit von Regierungsamt und parlamentarischem Mandat gebietet 117 . Die bisherige westdeutsche Verfassungspra110

§ 16 Abs. 2 Nr. 1 - 3 BWahlG. § 31 StGB ; A r t . 18 GG i. V. m i t § 39 Abs. 2 BVerfGG. 112 Vgl. A r t . 23 der Verfassung der V. französischen Republik, 1958. 113 Dicey (I), S. 426. 114 E i n populäres Beispiel w a r der Verzicht L o r d Homes auf seinen L o r d Titel, u m f ü r das Unterhaus kandidieren zu können. 115 Bagehot, S. 152. ne Morrison, H., Government and Parliament: A survey f r o m the inside, 3rd edition Oxford 1964, S. 125 ff.; dort beschreibt Morrison auch die Kooperat i o n zwischen Labour-Regierung u n d Fraktion, S. 98 ff., 123. 111

117 Ausdrücklich verneinen z . B . von Mangoldt—Klein, S. 1227; Seifert— Geeb, S. 140, das Erfordernis einer Mitgliedschaft i m Bundestag.

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xis kennt aber nur einen Bundeskanzler, der nicht gleichzeitig Bundestagsabgeordneter gewesen ist 1 1 8 . Es stellt sich aber die Frage, ob angesichts der rechtlich und politisch engen Verbindung von Bundestag und Bundeskanzler nicht tatsächlich erforderlich ist, daß der Bundeskanzler dem Kreis der Abgeordneten entnommen wird. Tatsächlich erzeugen die vielen Berührungspunkte zwischen Bundestag und Bundeskanzler 119 ein neues, dem bisherigen deutschen Verfassungsleben unbekanntes enges Verhältnis zwischen Parlament und Exekutive, das die gesamte parlamentarische Arbeitsweise beeinflußt 120 . Dabei ist das englische Ziel, die parlamentarische Parteiregierung, der eine ebenso klare Opposition gegenübersteht, i m deutschen Bundestag aus verschiedenen Ursachen noch nicht erreicht 121 . Aber schon aus Gründen des „politischen Klimas", u m den Dialog zwischen Regierung und Opposition zu erleichtern, ist es wünschenswert, daß der Kanzler dem Parlament angehört; ein rechtliches Erfordernis hierzu besteht aber nicht. 1. Die Ausübung des Vorschlagrechts

I m Rahmen der Betrachtung des A r t . 63 GG wurde bisher versucht., die schwierigen Fragen des dem Bundespräsidenten i m Rahmen des Vorschlagsrechts zu Gebote stehenden Ermessens zu klären; dabei sind in verschiedener Richtung dessen Grenzen abgesteckt worden. Gleichzeit i g wurde versucht, deutlich zu machen, i n welchem Maße das ursprünglich freie, umfassende, materielle Ernennungsrecht i m Sinne der dem Staatsoberhaupt i m parlamentarischen System zukommenden Kontinuitätsfunktion umgewandelt wurde, i n das Initiativrecht des Vorschlags einer- und das bloß formale Ernennungsrecht andererseits. Der damit vorgenommenen „internen" Betrachtung des Vorschlags soll jetzt eine „externe" Annäherung folgen, wobei wichtige, für die staatlicht Funktionsfähigkeit bedeutsame Fragen auftauchen; insbesondere gilt es zu klären, ob und inwieweit sich das Vorschlagsrecht als verfassungsrechtliche Vorschlagspflicht darstellt. Ihre Konkretisierung finden die Kompetenzprobleme i n der Behandlung einiger Fälle von pathologischer Gestaltung. Dabei ist der weitere Verfahrensablauf zu ermitteln und nach den möglichen Sanktionen, etwa gegen den Bundespräsidenten, zu fragen. 118 Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger. 119 parlamentarische W a h l u n d parlamentarische A r t . 63 u n d 67 GG.

Abberufung

gemäß

120 s. dazu näher Hereth, Michael, Parlamentarische Opposition i n Deutschland am Beispiel des Verhaltens der sozialdemokratischen Bundestagsfrakt i o n v o n 1949 - 1966, phil. Diss. Erlangen, 1968, S. 35. 121 Vgl. Hereth, Michael, S. 35 ff.

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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Daran w i r d anschließend kurz die Bindungswirkung des Vorschlags gegenüber dem Bundestag erörtert. Bei allem des vom Parlamentarischen Rat beobachteten Streben nach Präzision der Gesamtverfassung und insbesondere der technischen Verfahrensabläufe, ist das Grundgesetz eben doch kein „ausgeklügeltes Werk" wie das nach langen Vorbereitungsarbeiten geschaffene BGB 1 2 2 . Die dadurch unabänderlich auftretenden gesetzestechnischen Mängel kommen auch i n den Auslassungen und unklaren Formulierungen des Art. 63 GG zum Ausdruck 1 2 3 ; es fehlt an einer Bestimmung darüber, welche Folgen die Nichtausübung des Vorschlagsrechts durch den Bundespräsidenten hat, was wiederum i n Beziehung steht m i t der A n t w o r t auf die Frage nach dem Charakter des Vorschlagsrechts als Berechtigung oder Verpflichtung. U m den Staat und das i h n tragende Regierungssystem handlungsfähig zu gestalten, bedarf es der wechselseitigen Zuordnung und des Zusammenwirkens von Verfassungsorganen 124 gemäß den jeweils geltenden Gesetzen der Systemnormativität, deren Verhältnis von der Verfassung festgelegt wird. Die Ausgestaltung dieses Verhältnisses geschieht durch die Kompetenznormen 125 . Sie bezwecken die Verwirklichung der dem jeweiligen Staatsorgan zugeordneten Funktion 1 2 8 . Daraus ergibt sich die Unvergleichlichkeit einer von der Verfassung eingeräumten und auferlegten Zuständigkeit 1 2 7 und dem i m Z i v i l recht gebräuchlichen Begriff „Anspruch" oder „Recht" i m Sinne der Begriffsbestimmung des § 194 Abs. 1 BGB 1 2 8 . Wenn Zuständigkeit der Inbegriff der Angelegenheiten ist, den das O r g a n . . . von Rechts wegen wahrzunehmen berufen ist 1 2 9 , so ist der Bundespräsident neben dem Bundestag zuständig für die Wahl des Kanzlers; das Vorschlagsrecht ist ein Teil des sich als Wahlgewalt darstellenden Geschäftskreises „Bestellung des Bundeskanzlers". Dieser erste Eindruck vom komplexen, Berechtigung und Verpflichtung umfassenden Inhalt einer „Zuständigkeit" w i r d bereits durch etymologische Hinweise bestätigt. Die Synonymität von Zuständigkeit und Kompetenz vorausgesetzt, geht letzteres auf das lateinische Wort „competens" zurück als 122

Jellinek, W., V V D S t R L , B e r l i n 1950, Bd. 8, S. 5. Jellinek (I), S. 8. 124 Knöpfle, F., Das A m t des Bundespräsidenten i n der Bundesrepublik Deutschland, i n : DVB1.1966, S. 713 - 722, S. 715; Kaltefleiter (I), S. 18. 125 Vgl. hierzu grundlegend Barfuß, Walter, Ressortzuständigkeit u n d V o l l zugsklausel, i n : Forschungen aus Staat u n d Recht, Bd. 7,1968. 126 Amphoux, S. 59. 127 Jellinek, Georg (II), S. 227; Huber, E. R., Wirtschaftsverwaltungsrecht, Tübingen 1954, Bd. 2, S. 716, verwenden Zuständigkeit u n d Kompetenz synon y m ; a. A . Wolff, S. 12. 128 § 194 Abs. 1 B G B : Das Recht, v o n einem anderen ein T u n oder U n t e r lassen zu verlangen (Anspruch), unterliegt der Verjährung. * 29 So Wolff, 1. Bd., § 30 I I b, S. 140. 123

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adjektivisch gebrauchtes Partizip-Präsens aktiv von „competere", was unter anderem soviel wie zusammenstimmen, entsprechen, zukommen bedeutet 130 . Die darin enthaltene Grundtendenz der „Kooperation" mag ebenfalls ein durch Verteilung von Rechten und Pflichten ermöglichtes Zusammenwirken bedeuten. Obwohl das Grundgesetz i n A r t . 63 Abs. 1 GG über einen derartigen Charakter des Vorschlagsrechts schweigt, mahnt die dem Bundespräsidenten anvertraute Kontinuitätsfunktion zur möglichst zeitigen Kanzlerwahl. Obwohl man sich über die vorwiegend praktischen Gründe, die zur Einführung des Vorschlags führten, i m klaren ist, herrscht dennoch Uneinigkeit darüber, ob das Vorschlagsrecht auch eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Ausübung beinhaltet. Einige Autoren 1 3 1 verneinen eine durch die Verfassung auferlegte Pflicht des Bundespräsidenten zum Vorschlag oder sehen i n seiner Unterlassung dann keine Verfassungsverletzung, wenn er i n Ermangelung einer festen Mehrheit keine Aussicht hat, die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder zu gewinnen. Dann stehe dem Bundespräsidenten sogar die Möglichkeit der Verschweigung zur Verfügung 1 3 2 . Diese Argumente vermögen die herrschende Lehre aber nicht davon abzubringen, dem A r t . 63 Abs. 1 GG eine verfassungsrechtliche Pflicht des Bundespräsidenten zum Vorschlag zu entnehmen 133 . Begründungen unterbleiben aber dabei ebenso wie beim gegenteiligen Standpunkt. Aus dem Schweigen des Grundgesetzes und der an anderen Stellen ausdrücklich formulierten, verschiedenen Verpflichtungen des Bundespräsidenten 134 , kann eine verfassungsrechtliche Pflicht nicht geleugnet werden: erstens ist das Schweigen des Grundgesetzes nicht immer beredtes Schweigen, sondern mag aus der oben zitierten technischen Unvollkommenheit zu verstehen sein 135 , zweitens wollte der Verfassungsgeber den Eindruck des Mißtrauens vermeiden, der durch eine ausdrückliche Verpflichtung des Bundespräsidenten hätte entstehen können und „als m i t der Würde des Bundespräsidenten unvereinbar erschien" 138 . Eine Rechtspflicht zum Vorschlag folgt aber schließlich aus der Ausgestaltung des Vorschlagsrechts als „Zuständigkeit" des Staatsoberhauptes. Die i n A r t . 63 GG angelegte Zuständigkeitsverteilung hat den Sinn, 180

S. 350. 181

Duden,

M a n n h e i m 1963, Bd. 7, Etymologie,

Stichwort

„Kompetenz",

Meder, I I , 1 zu A r t . 63, u n d Schneider, Hans, N J W 1953, S. 1331. Schneider, ebenda. 188 Eschenburg, T., Staat u n d Gesellschaft i n Deutschland, Stuttgart 1956/59, S. 641 ; Jellinek, W., D Ö V 382 u n d V V D S t R L , Heft 8, S.9; Laforet, S. 55 u n d V V D S t R L Heft 8,1950, S. 55 — Diskussionsbeitrag; v. Mangoldt—Klein, S. 1228; Münch, S. 133; Nawiasky (IV), S. 94; Giese—Schunck, A r t . 63, Erl. I I , 1. 184 Vgl. A r t . 63 Abs. 2, S. 2 GG; Abs. 4, S. 2 u n d 3 GG. 185 Jellinek, W., V V D S t R L , Heft 8,1950, S. 5. 186 von Mangoldt—Klein, S. 1228. 182

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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unter Vermeidung der Unklarheiten des A r t . 53 WV, deutlich abgegrenzte Verantwortlichkeit zu begründen. Das ist aber nur möglich, wenn die Realisierung von Zuständigkeiten nicht i m Belieben der dazu berufenen Organträger steht 137 . Damit ist die gewisse „Automatik" der kompetenzadäquaten Handlungen angedeutet, die für das Funktionieren der oben beschriebenen Zuordnung Voraussetzung ist. I h r ist auch der Bundespräsident einerseits als Verfassungsorgan und weiter als Träger der Kontinuitätsfunktion unterworfen. Dem Argument von der mangelnden Erfolgsaussicht und der daraus folgenden Verschweigungsbefugnis kann nicht zugestimmt werden, w e i l erstens i m Falle der Alternative 2 die Ermessensgrenzen sowieso hinausgeschoben werden und zweitens auch ein aussichtslos scheinender Vorschlag den Verfahrensablauf des A r t . 63 i n Gang setzt und wegen der reduzierten parlamentarischen Vertrauensbedürftigkeit i n A r t . 63 Abs. 4 GG wenigstens zur Wahl eines Minderheitenkanzlers führen kann. Wenn es nun der Bundespräsident aus irgendwelchen Gründen 13 ^ unterläßt, einen Kandidaten vorzuschlagen, so stellt sich die Frage nach dem Gang des weiteren Verfahrens und nach den Sanktionen, die der Bundestag gegen den Bundespräsidenten einleiten könnte. Da das Unterlassen des Vorschlags eine Verfassungsverletzung bedeutet 139 , wäre folgender Weg eröffnet: Anklage des Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher VerfassungsVerletzung nach A r t . 61 GG und Erklärung seiner Amtsverhindertheit gemäß A r t . 61 Abs. 2 S. 2 GG durch das Bundesverfassungsgericht sowie die Abgabe des Vorschlags durch den Präsidenten des Bundesrates 140 . — Es besteht aber auch die Möglichkeit, ein Verfahren nach A r t . 93 Abs. 1 S. 1 GG i n Verbindung m i t § 13 Nr. 5 BVerfGG einzuleiten, das nach § 67 BVerfGG m i t einem Feststellungsurteil endet und dessen Vollstreckung sich nach § 35 BVerfGG bestimmt 1 4 1 . Der m i t dem genannten Verfahren verbundene Zeitverlust würde aber jener vom Parlamentarischen Rat der einschlägigen Verfassungsbestimmung mitgegebenen Intention, für eine schnelle Kanzlerwahl zu sorgen, widersprechen 142 . Über den Mangel eines Vorschlags ist nach Meinung 187

Wolff, Bd. 2 § 72 I V a, 1 = S. 17. Als solche kommen vielerlei Momente i n Betracht, z.B. u n ü b e r w i n d liche Gegnerschaft zwischen Bundestagsmehrheit u n d dem Bundespräsidenten; Wunsch des Präsidenten, den geschäftsführenden Bundeskanzler i m A m t e zu halten; Unmöglichkeit, einen aussichtsreichen Vorschlag zu machen. 139 Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 2 zu A r t . 63; von Mangoldt—Klein, S. 1228; Münch, S. 133; Giese—Schunck, Erl. I I 1 zu A r t . 63; a. A . Meder, A r t . 63 Erl. I I 1; Schneider, H., N J W 1953, S. 1331. 140 A r t . 57 GG: Die Befugnisse des Bundespräsidenten werden i m Falle einer Verhinderung oder bei vorzeitiger Erledigung des Amtes durch den Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen. 141 von Mangoldt—Klein, S. 1229, * 42 Münch, S. 133. 138

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von Jellinek 1 4 8 unschwer und ohne obige Umständlichkeit hinwegzukommen: „Dem Bundestag müsse es i n diesem Falle freistehen, dem Bundespräsidenten i n aller Ehrerbietung eine angemessene Frist zu setzen, nach deren fruchtlosem Ablauf das Kanzlerbestimmungsrecht i n vollem Umfange auf den Bundestag übergeht." I n der Tat empfängt der Bundeskanzler seine Legitimierung i n der Wahl durch den Bundestag; diese ist der zentrale konstituierende A k t , während der Vorschlag nur aus praktischen Gründen i n das Grundgesetz eingebracht worden ist und vom Bundestag übergangen werden kann. Deshalb erscheint die sofortige Wahl durch den Bundestag gemäß A r t . 63 Abs. 3 GG dann möglich, wenn der Bundespräsident das Recht zur Ausübung des Vorschlags einbüßte. Jellinek 1 4 4 deutet die Möglichkeit einer „Verwirkung" an, von Mangoldt 1 4 5 , Giese 146 , Schneider 147 folgen ihm, allerdings ohne Begründung. Nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts 148 und des Bundesgerichtshofes (BGH) 1 4 9 liegt Verwirkung — hier eines Anspruchs oder eines Erstattungsrechts — dann vor, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung längere Zeit verstrichen ist und besondere Umstände hinzutreten, auf Grund derer die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben empfunden wird. Die Verwirkung stellt sich dar als ein Fall der unzulässigen Rechtsausübung, als ein „venire contra factum proprium" 1 5 0 und ist Ausfluß eines allgemeinen, auch i m Verwaltungsrecht geltenden Rechtsgedankens. Wenn Jellinek 1 5 1 von einer dem Bundespräsidenten „ i n aller Ehrerbietung" gesetzten Frist spricht und Münch 1 5 2 die Frage stellt, ob dem Bundespräsidenten aus anderen Gründen denn aus bloßer „courtoisie" eine Frist gesetzt werden müßte, so steckt darin ein wahrer, aber unausgesprochen gebliebener Kern: Da die bloße Verzögerung, der Zeitablauf, nicht zum E i n t r i t t der V e r w i r kung genügt, w i r d durch eine vom Bundestag bestimmte und erfolglos 1 5 8 verstrichene Frist dem Verhalten des Bundespräsidenten ein zusätzliches doloses Element anhaften, das dem E i n t r i t t der Verwirkungs143 I n D Ö V 1949, S. 382, V V D S t R L , Heft 8, S.9; so auch Giese—Schunck, Erl. I I 1 zu A r t . 63 GG; Meder, A r t . 63, Erl. I I 1; sowie Schneider, H., N J W 1953, S. 1331 folgen ihm. 144 Jellinek, W a l t e r (I), S. 9. 145 von Mangoldt—Klein, S. 1229. 146 Giese—Schunck, ebenda. 147 Schneider, H., ebenda. 148 RGZ 155,152. 149 B G H Z 25, 52. 150 Forsthoff (II), S. 166. 151 V V D S t R L , Bd. 8, S. 9. 152 Münch, S. 133. 153 Das heißt, ohne daß ein Vorschlag gemacht worden wäre.

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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Voraussetzungen gleichzeitig eine gewisse Publizität verleiht. Sollte also der Bundespräsident nach Fristsetzung 154 durch den Bundestag keinen Vorschlag an i h n richten, hat er das Recht zum Vorschlag verwirkt, d. h., seine Ausübung wäre unzulässig und unbeachtlich. Die gleiche Rechtsfolge „Verwirkung" träte dann ein, wenn der Bundespräsident von A n fang an i n „schlüssiger Form" zu erkennen gibt, daß er keinen Vorschlag zu machen gedenke 155 . I n diesem Fall bedürfte es wohl keiner Fristsetzung durch den Bundestag, u m die Verwirkung herbeizuführen. Die Ansicht Münchs 156 , nach welcher der Bundestagspräsident eine Anfrage an den Bundespräsidenten richten und gleichzeitig, u m den durch die Fristsetzung möglichen Zeitverlust zu vermeiden, einen Sitzungstermin zur Abstimmung über den Vorschlag oder zum ersten Wahlgang nach A r t . 63 Abs. 3 anberaumen sollte, dürfte wegen der dem Bundestag obliegenden Wahlfunktion, zu deren Ausgestaltung i m Rahmen der Verfassung er folglich befugt sein muß, verfassungsgemäß sein 157 . Die Frage ist nun, ob nach einem erfolglosen Erstvorschlag der Bundespräsident befugt ist, einen weiteren (oder weitere) und vielleicht sogar einen subsidiären Hilfsvorschlag einzureichen. Der Verfassungstext schließt weitere Vorschläge nicht ausdrücklich aus, wobei allerdings der Wortlaut des A r t . 63 Abs. 3 GG zu beachten ist, der vom Vorgeschlagenen i m Singular spricht und überdies zu diesem Zeitpunkt, nach A b lehnung des ersten Vorschlags, der Lauf der Frist einsetzt 158 , innerhalb deren der Bundestag von sich aus einen Mehrheitskanzler wählen soll 1 5 9 . Auch kann der Entstehungsgeschichte keine eindeutige Entscheidung entnommen werden 1 6 0 , so daß i m Ergebnis der Bundespräsident bei weiteren Vorschlägen die Verfassung w o h l nicht verletzen würde 1 8 1 . Die 154 von Mangoldt—Klein, S. 1229 sowie Merk, V V D S t R L , Heft 8, S. 59, lehnen die Befugnis des Bundestags zur Fristsetzung ab. 155 E i n Verzicht ist nach Schneider, H., N J W 1953, S. 1331 möglich, i n W i r k lichkeit aber wegen des Pflichtcharakters staatl. Zuständigkeit unzulässig. 15e Münch, S. 133. 157 a. A . von Mangoldt—Klein, ebenda; Merk, ebenda. 158 Münch, S. 133, stellt es i n Auseinandersetzung m i t Glum (I), S. 330, 331 auf die seiner richtigen Ansicht nach m i t der A b s t i m m u n g über den Vorschlag zu laufen beginnenden Frist ab. G l u m konnte die erst 1952 i n K r a f t getretene Geschäftsordnung noch nicht berücksichtigen; er w i l l die Frist erst zum letzten Vorschlag laufen lassen. 159 von Mangoldt—Klein, S. 1230. 180 Die Abgeordneten Becker u n d Lehr hatten i n der 7. Sitzung des Organisationsausschusses, Steno-Protokoll S. 57 wiederholte Vorschläge f ü r statthaft gehalten; Abgeordneter Mücke formulierte einen Vorschlag, nach welchem der Bundestag ausschließlich über Präsidialvorschläge abzustimmen habe. I n der 11. Sitzung w i r d über eine Fassung m i t zweimaligem Vorschlag gesprochen, Steno-Protokoll S. 97, zit. nach Münch, S. 135, A n m . 3. 181 Ebenso Glum (I), S. 330, 331; derselbe, kritische Bemerkungen zu A r t . 63 GG i n Recht u n d Gerechtigkeit, Festgabe f ü r Erich Kaufmann, S t u t t gart—Köln 1950, S. 53; Münch, S. 135.

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Funktion des Vorschlags als praktische Hilfe für die Willensbildung des Bundestags möge, ebenso wie der erweiterte Ermessensspielraum des Bundespräsidenten, unter den Bedingungen der Situation 2 als zusätzliches Argument für die Zulässigkeit weiterer Vorschläge angeführt werden. Von der Zulässigkeit weiterer Vorschläge des Bundespräsidenten unberührt bleibt aber die Entscheidung des Verfassungsgebers, i n A r t . 63 Abs. 1 und Abs. 2 GG nur einen Abstimmungsgang zuzulassen. W i r d der Kandidat des Bundespräsidenten i n der ersten Abstimmung nicht gewählt, so gestaltet sich das Verfahren nach den Regeln des A r t . 63 Abs. 3 GG 1 6 2 : Dabei w i r d versucht, durch Initiative des Bundestags einen Bundeskanzler zu wählen; jeder Vorschlag muß dabei von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundestags unterstützt werden 163 . Stimmen für einen Bewerber, dessen Vorschlag diesen Erfordernissen nicht genügt, sind ungültig 1 6 4 . Daraus folgt, daß erstens i m neuen Verfahrensabschnitt gemäß A r t . 63 Abs. 3 GG der Bundestag nicht mehr gehalten ist, zu den Vorschlägen des Bundespräsidenten Stellung zu beziehen, und weiter, daß faktisch der Bundespräsident wegen § 4 GeschOBT nur dann Aussicht hätte, seinem Kandidaten überhaupt gültige Stimmen zukommen zu lassen, wenn er die erforderliche Zahl von Abgeordneten dafür gewinnen könnte, seinen Kandidaten zu ihrem eigenen zu machen. Daraus folgt aber auch, daß der Bundespräsident, ohne durch die i n A r t . 63 Abs. 4 GG vorgesehene Situation hierzu legitimiert zu sein, i n die gefährliche Nähe des Versuchs gelangt, die wahre Funktion des Bundestags zu hemmen, indem nicht ein mehrheitspolitisch möglicher, sondern ein eigener, „präsidentieller", Kandidat ins Spiel gebracht wird. Aus diesen Gründen w i r d wohl i n praxi der Bundespräsident von weiteren Vorschlägen absehen. Zur wirksamen Ernennung des Bundeskanzlers muß neben die rechtswirksame Wahl noch die Zustimmung des Gewählten treten 1 6 5 . I m Gegensatz dazu bedarf der Vorschlag infolge seiner bloßen Vorbereitungsfunktion zur verfassungsrechtlichen Wirksamkeit nicht des Einverständnisses des Vorzuschlagenden 166 . Dabei betont Münch 1 6 7 , daß sich aus politisch-taktischen Gründen der Bundespräsident wohl des Einverständnisses versichern werde. Der Präsident des Bundestags ist aber weder 162 Vgl. dazu die Ausführungen i m d r i t t e n Abschnitt, 2. Kapitel, 1. H a u p t teil. 163 § 4 Abs. 4 Geschäftsordnung des Bundestags. 164

Ritzel—Koch, Geschäftsordnung des Bundestags, A n m . 1, zu § 4. Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 8 zu A r t . 63; von Mangoldt—Klein, S. 1232; Meder, A r t . 63 Erl. I I 7. 188 Giese—Schunck, Erl. 63 I I 1; Maunz—Dürig—Herzog, A n m . 3 zu Rdz. 8 A r t . 63; Meder, A r t . 63, Erl. I I 7; Münch, S. 132. 187 Münch, S. 132. 185

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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berechtigt noch verpflichtet, nach dem Einverständnis des Vorgeschlagenen zu forschen; erklärt der Kandidat jedoch vor der Abstimmung, er sei ohne Einverständnis i n den Vorschlag aufgenommen worden, so ist es verfassungsrechtlich zulässig, i n das Verfahren gemäß A r t . 63 Abs. 3 GG einzutreten und die Abstimmung über den Vorschlag von der Tagesordnung abzusetzen 168 . Über die Form, welche der Bundespräsident für seinen Vorschlag i n Anspruch nimmt, treffen weder das GG noch die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags eine Aussage 169 . Den dadurch entstehenden Spielraum kann der Bundespräsident durch ermessensfreie Wahl der entsprechenden Form ausfüllen 170 . I n der bisherigen Verfassungspraxis hatte der Bundespräsident stets ein einfaches briefliches Schreiben an den Präsidenten des Bundestags gerichtet 171 , der dessen Inhalt dann durch Verlesen dem Hause bekanntgab. Doch der Bundespräsident ist dabei frei, er könnte auch selbst etwa an der Bundestagssitzung teilnehmen, um seinen Vorschlag persönlich den Abgeordneten bekanntzugeben. 2. Wirkung des Vorschlags gegenüber dem Bundestag

Obwohl die parlamentarische Wahl des Bundeskanzlers das legitimierende und konstitutive Moment i m Bestellungsverfahren bildet und obgleich der Bundestag in der Lage ist, seinen Kandidaten durchzusetzen, kommt i n einem, allerdings formalen, Punkt dem Vorschlag des Bundespräsidenten bindende Wirkung zu: Der Bundestag ist verpflichtet, zunächst zum Vorschlag Stellung zu nehmen 172 . Diese Verpflichtung zur Willenserklärung findet ihre Begründung i n der als Kompetenznorm ausgestalteten Wahlfunktion des Bundestags. Auch hier sind „klinische Fälle" denkbar. So könnten die Beziehungen zwischen Bundestag und Bundespräsident i n einer Weise unfreundlich geworden sein, daß der Bundestag sich nicht m i t der bloßen Ablehnung des präsidialen Vorschlags begnügt, sondern unter Übergehung dieses Vorschlags — ohne eine Stellungnahme abzugeben — einen eigenen Kandidaten mit der nach A r t i k e l 63 Abs. 2 und 3 GG notwendigen Mehr168

Münch, ebenda. § 101 GeschOBT betrifft n u r nichtlegislative Vorlagen v o n Bundestag und Bundesrat. 170 Vgl. Knöpf le, Franz, Das A m t des Bundespräsidenten der B R D i n : DVB1.1966, S. 713 - 722. 171 Der Vorschlag des Bundespräsidenten wurde auch nicht als Bundestags-Drucksache verteilt; die Briefe lauteten folgendermaßen: Sehr geehrter H e r r Bundestagspräsident! — Gemäß A r t . 63 Abs. 1 des GG schlage ich dem B T vor, H e r r n zum Bundeskanzler zu wählen. M i t vorzüglicher Hochachtung (Unterschrift). 172 Münch, S. 134; Smend, S. 146 f ü r die Weimarer Zeit; von Mangoldt— Klein, S. 1229, i. gl. Erl. I I I 1 d; Giese—Schunck, Erl. I I 1 zu A r t . 63 GG. 169

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heit der Mitglieder wählt. I n diesem Verhalten läge zwar sicherlich ein grober Verfassungsverstoß; fraglich aber sind seine Folgen für den weiteren Verfahrensablauf und insbesondere die Rechtmäßigkeit der Wahl. Giese-Schunck 173 meinen, daß der Bundestag i m ersten Wahlgang keine nichtvorgeschlagene Persönlichkeit rechtswirksam wählen könne. Auch Jellinek 1 7 4 erblickt i n der Möglichkeit der Wahl eines Nichtvorgeschlagenen eine Gefahr für die „Würde" des Bundespräsidenten. Zur Vergegenwärtigung des Problems ist es erforderlich, sich einmal die vom Staatsoberhaupt i m parlamentarischen System beim Bestellungsverfahren wahrgenommene Rolle und weiter die Funktion des Vorschlags i n Erinnerung zu rufen. W i r waren dabei hinsichtlich der Rollenerwartung zum Ergebnis der Initial- oder Vollzugsfunktion gelangt und hatten den Vorschlag als praktisches Hilfsmittel der Willensbildung erkannt 1 7 5 . Der ganze Komplex gewinnt also weniger aus dem Aspekt der „Würde" des obersten Staatsorgans, sondern mehr unter dem Gesichtspunkt des nüchternen Zwecks einer möglichst schnellen Bundeskanzlerwahl Bedeutung. Dieser wurde durch die den Mehrheitserfordernissen genügende Wahl des Bundeskanzlers erfüllt; was gleichzeit i g zeigt, daß der Vorschlag des Bundespräsidenten abgelehnt worden wäre. Würde man den Bundestag zur Wiederholung des Gesamtverfahrens, einschließlich der Abstimmung über den Vorschlag, zwingen, wäre das Gebot der Kontinuität nicht wirkungsvoll erfüllt und überdies wegen der vorangegangenen Auseinandersetzungen die abermalige Vereinigung einer absoluten Mehrheit unsicher. Es ist aber auch denkbar, daß der den Vorschlag ignorierende Bundestag sich als zur qualifizierten Mehrheitsbildung unfähig erweist. Hier ist Münch17® zuzustimmen, der den Lauf der Frist schon m i t diesem Vorschlags- und erfolglosen Wahlgang einsetzen läßt. Allerdings wäre hier an einen nochmaligen Vorschlag durch den Bundespräsidenten zu denken. Dieser hätte dann Gelegenheit zum Studium der Mehrheitsverhältnisse i m Parlament, und gleichzeitig stattete er den Kandidaten m i t seinem stets vorhandenen Prestige 177 aus, was die Chance vergrößert, eine absolute Mehrheit zu erringen. Wegen der bereits seit dem ersten Wahlgang laufenden Frist von 14 Tagen ist der Bundespräsident allerdings gehalten, einen neuen Vorschlag unverzüglich 1 7 8 zu unterbreiten, wobei anschließend das mit dem wiederholten Vorschlag i n die Phase 173

Giese—Schunck, ebenda. V V D S t R L , a. a. O., S. 8. 175 Vgl. die Ausführungen oben, Einleitung, I I I , 1 a. 176 Münch, S. 134. 177 Vgl. die A n m e r k u n g 2 auf S. 416, w o auch das Problem der self »fulfill i n g prophecy erörtert w i r d . 178 I m Sinne des § 121 Abs. 1 BGB, 174

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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eins zurückgespulte Verfahren i n den Abschnitt zwei eintritt und sich nach A r t . 63 Abs. 3 GG abwickelt. Es läßt sich auch der Fall konstruieren, daß sich der Bundestag „verschweigt", d. h., die Kanzlerwahl überhaupt unterläßt 1 7 9 . Der Bundestag würde es damit versäumen, seine Wahlfunktion zu erfüllen und i n grober Weise die Verfassung verletzen, was i m Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gemäß A r t . 93 Abs. 1 Satz 1 GG i n Verbindung m i t §§ 13 Nr. 5, 67 BVerfGG festgestellt werden kann. Dabei bereitet freilich die Vollstreckung nach § 35 BVerfGG Schwierigkeiten; das Bundesverfassungsgericht kann kein sonstiges Verfassungs- oder Staatsorgan m i t dem Vollzug der dem Bundestag unveräußerlich zustehenden Wahlfunktion betrauen und diese ebensowenig selbst ausüben. Für diesen Fall hat demnach das Grundgesetz keine Vorsorge getroffen. Zwar liegt der Wille, eine möglichst große Anzahl politischer Ämter m i t Angehörigen der eigenen Partei zu besetzen, i m Wesen einer politischen Partei, doch ist die Konstellation denkbar, daß infolge der Aufsplitterung der Parteien oder des Gegenüberstehens von zwei mächtigen, einander feindlichen Blöcken, sich eine beherrschende negative Mehrheit bildet und der Bundestag dadurch zum Schweigen gebracht wird. Die geschilderte Situation stellt sich heute aber noch gefährlicher dar als während der Weimarer Verfassung, da der Reichspräsident vom Reichstag insofern unabhängig war, als er zunächst einen Reichskanzler berufen konnte, der dann den Versuch machte, m i t wechselnden Mehrheiten zu regieren. War das wegen der Mehrheitsverhältnisse i m Reichstag nicht möglich, so hatte der Reichspräsident die Möglichkeit der Auflösung gem. A r t . 25 WV, u m eine seiner Regierung günstigere Zusammensetzung des Reichstags herbeizuführen 180 . Der Bundespräsident, jedenfalls i m Normalfall, handelt nach dem Bonner Grundgesetz nur als Initiator und Vollstrecker. I n der Krisensituation ist er zwar m i t der i n A r t . 63 Abs. 4 GG verkörperten Reservemacht ausgestattet, die oben nachgewiesene Verfassungslücke aber nicht geschlossen worden. Dem Bundespräsidenten bliebe daher nichst anders übrig, als i m Wege des A r t . 69 Abs. 3 GG den bisherigen Bundeskanzler als Chef einer geschäftsführenden Bundesregierung i m Amte zu belassen. Dieser wäre zwar von einem Mißtrauensvotum bedroht, was aber bei Erfolg nur m i t der Wahl eines neuen Bundeskanzlers enden könnte 1 8 1 . Es käme auch noch der Weg des A r t . 68 i n Frage. Der geschäftsführende Bundeskanzler könnte den Vertrauensantrag stellen, bei dessen Ablehnung durch den 179 Münch, S. 146 - 146 meint, eine Gruppe des Bundestags sei stets zur A b s t i m m u n g bereit. 180 So bejahte Anschütz, S. 196 das Redit des Reichspräsidenten, den Reichstag schon v o r Beginn der ersten Tagung aufzulösen; Pohl, H., H a n d buch des Staatsrechts, Bd. 1, S. 487. 181 A r t . 67 GG.

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Bundestag die Parlamentsauflösung und anschließende Neuwahlen ermöglicht würden. Da die Einschaltung einer „Bestellungsreserve" i n Gestalt der Länderkammer bereits vom Parlamentarischen Rat aus verschiedenen Gründen abgelehnt worden war 1 8 2 , sollte de lege ferenda ein Ausweg geschaffen werden, der die ganze Verantwortung beim Bundestag beläßt und i h m gegenüber aber gleichzeitig eine gewisse Drohung beinhaltet. I n dem A r t . 63 GG sollte für den Fall einer Obstruktion eine automatische A u f lösungsmöglichkeit eingeführt werden, die nach Ablauf einer bestimmten Frist wirksam werden könnte. Dies würde auch keine unzulässige Ausdehnung der präsidialen Reservemacht bedeuten; denn wenn eine Auflösung gemäß A r t . 63 Abs. 4 GG möglich ist, obwohl immerhin eine relative Mehrheit für einen Kandidaten gestimmt hat 1 8 3 , so muß sie erst recht i m Fall einer Verschweigung zur Verfügung stehen, wenn nicht einmal eine Mehrheitsbildung irgendeiner A r t sichtbar wird. Für die Neufassung des A r t . 63 w i r d dann folgender Vorschlag gemacht: A r t . 63 Abs. 4 GG erhält einen Satz 4, der lautet: „Eine Auflösung durch den Bundespräsidenten findet auch dann statt, wenn der Bundestag es unterläßt, trotz Fristsetzung zum Vorschlag des Bundespräsidenten gem. A r t . 63 Abs. 1 GG Stellung zu nehmen." 3. Abstimmung über den Vorschlag

1. Die Wahl des Bundeskanzlers durch den Bundestag ist der zentrale Abschnitt des Bestellungsvorgangs. I n ihr findet das eigentlich von der Bestandsabhängigkeit der Regierung ausgehende parlamentarische Prinzip seine Vollendung, indem von Anfang an Verbindungslinien gezogen werden zwischen dem Regierungschef und der Parlamentsmehrheit. Diese Regelung berücksichtigt die Skrupel der Mehrheit, den eigenen Regierungschef zu stürzen. U m die Wahl gruppieren sich der Vorschlag als die Wahl vorbereitender und die Ernennung als sie vollziehender Vorgang. Die Entscheidung w i r d aber allein unter Ausschaltung des Staatspräsidenten i n der Wahl gefunden. 2. Die Abstimmung des Bundestags über den Vorschlag des Bundespräsidenten ist ihrem Inhalt nach nicht eine Wahl i m engeren Sinne von Auswahl, da die Abgeordneten nicht die Möglichkeit haben, zwischen verschiedenen Persönlichkeiten zu wählen; ein Gegenkandidat kann nicht aufgestellt werden, und über den Vorschlag w i r d nur m i t ja oder nein abgestimmt 184 . Dabei sind Stimmzettel m i t dem Namen des Vor182 y g i dazu die Darstellung der Entstehungsgeschichte, der A r t i k e l des Grundgesetzes, oben, S. 353 ff. 183

Die zahlenmäßig fast die Hälfte des Parlaments erfassen kann. Münch, S. 136; Jellinek, W., i n D Ö V 1949, S. 382; ders. i n V V D S t R L Bd. 8, S. 9; Ritzel—Koch, A n m . 1 zu § 4 = S. 24. 184

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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schlagenden als gültig zu werten 1 8 5 , während unbeschriebene Stimmzettel als ungültig gelten 186 . M i t anderen Namen versehene Stimmzettel sind ebenfalls ungültig, w e i l sie den Charakter der Abstimmung als einer bloßen Stellungnahme zum Kandidaten des Bundespräsidenten nicht berücksichtigen 187 . Wenn ein vom Bundespräsidenten nicht vorgeschlagener Kandidat die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl auf sich vereinigt, wäre er nicht i n wirksamer Weise gewählt 1 8 8 ; dies wäre nur dann möglich, wenn der Vorschlag des Bundespräsidenten überhaupt nicht zur Abstimmung kam. Für die wirksame Wahl des Nichtvorgeschlagenen bedürfte es sonst eines Wahlgangs unter den Modalitäten des A r t . 63 Abs. 3 GG. 3. Über die Ausgestaltung des ersten Wahlgangs geben A r t . 63 Abs. 1 und 2 GG die Normen der Geschäftsordnung des Bundestags und die politische Übung Auskunft 1 8 9 . Gemäß A r t . 63 Abs. 1 GG und § 4 Abs. 1 GeschOBT wählt der Bundestag den Bundeskanzler ohne Aussprache. Von Mangoldt-Klein 1 9 0 schließen aus dem Verbot, daß es die Verfassung — wie auch i m A r t . 54 Abs. 1 Satz 1 GG — vermeiden wollte, durch eine Debatte m i t zu erwartenden kritischen Bemerkungen über Person und Politik des Kandidaten, dessen Autorität zu gefährden. Münch 1 9 1 sieht i m Ausspracheverbot auch einen erzieherischen Zweck, der den Abgeordneten die öffentliche Stellungnahme verbietet und sie so dem Zwang zur Rücksicht auf die hinter ihnen stehenden Gruppen enthebe. Sicherlich haben diese Erwägungen eine Rolle bei der Schaffung des A r t . 63 gespielt, doch verfolgt das Ausspracheverbot noch eine weitere Bedeutung: m i t i h m unterstellt die Verfassung, daß eine Aussprache über den Kandidaten i m Plenum überflüssig sei, w e i l der Abstimmung zum Zwecke der Mehrheitsbildung sowieso Verhandlungen außerhalb des Parlaments vorangehen müßten. Solche Koalitionsgespräche haben die Aufgabe, den sachlichen und personellen Inhalt zukünftiger Politik zu klären und führen dann gewöhnlich zum Abschluß eines formellen „Koalitionsabkommens" 1 9 2 . Das gilt insbesondere dann, wenn keine der 185 Vgl. Bundestag, 3. Sitzung v o m 15.9.1949, Steno-Protokoll S. 13, wo die Frage der Stimmzettel behandelt w i r d , die m i t dem Namen Adenauer beschrieben waren. 186 Ritzel—Koch, ebenda, von Mangoldt—Klein, S. 1231. 187 Ebenso die Belehrung des Bundestagspräsidenten über den techn. A b lauf der A b s t i m m u n g bei der Bundeskanzlerwahl v. 16.10.1963 — 87. Sitzung des Deutschen Bundestags; Münch, ebenda; Ritzel—Koch, ebenda; a. A . von Mangoldt—Klein, S. 1231; Jellinek, W., ebenda u n d Meder, a. a. O., Erl. I I 2 zu A r t . 63, die sie als Nein-Stimmen werten wollen. 188 Münch, ebenda. is· vgl. Nelamischkies, Carl-Heinz, Die Disziplin i m Deutschen Bundestag, j u r . Diss., K i e l 1964. 190 von Mangoldt—Klein, S. 1231. 191 Münch, S. 138. 192 v g l z u r allgemeinen Problematik des Koalitionsvertrags Weber, Harald, S. 17 ff.

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Parteien i m Parlament die Mehrheit der Mitglieder der Abgeordneten stellt: i n diesem Fall ist eine Kanzlerwahl ohne vorherige Vereinbarung wohl nicht möglich. Freilich gehen einem solchen Vertragsabschluß schwierige Verhandlungen voraus. Vor den Bundestagswahlen ist oft schon eine grundsätzliche Einigung zwischen den koalitionswilligen Partnern festzustellen, der Abschluß des Vertrags erfolgt dann nach der Wahl. I n i h m werden die Parteien versuchen, den Kanzlerkandidaten auf ein politisches und personelles Programm festzulegen; dieser ist bis zu seiner Bestellung von den Parteien abhängig 193 . Solche Verhandlungen über Person und Politik eines zukünftigen Kanzlers sind auch dann denkbar, wenn einer Partei die absolute Mehrheit an Sitzen zufallen sollte. Sie werden etwa dann erforderlich, wenn die Mehrheitspartei aus bestimmten Gründen ihre parlamentarische Unterstützung zu verbreitern trachtet, wie dies nach den Bundestagswahlen von 1953 der Fall war 1 9 4 . W i r d jedoch von einer Partei die Alleinregierung angestrebt, so sind solche Aussprachen außerhalb des Plenums, vor der Abstimmung über den Vorschlag, unwahrscheinlich, w e i l man sich schon vor den Bundestagswahlen auf einen Kandidaten geeinigt haben dürfte. I n den meisten Fällen w i r d einem derartigen Wahlerfolg einer Partei ohnehin ein personaler „Plebiszitäreffekt" zugunsten des Kandidaten vorliegen, der damit unantastbar für innerparteiliche Gegner w i r d 1 9 5 . Insgesamt werden also durch das Ausspracheverbot Koalitionsgespräche aus der Mitte des Bundestags „verbannt" 19 ®. Findet aber eine solche Aussprache über den Kandidaten, seine Eignung und die von i h m vertretene Politik dennoch statt, so ist die darauf folgende Wahl w i r k sam 197 . Gleichzeitig bestimmt § 4 Abs. 2 GeschOBT, daß die Wahl mit verdeckten Stimmzetteln erfolgt, also eine geheime Abstimmung vorliegt. Hierzu trifft § 54 a GeschOBT 198 folgende Regelung: die Stimmzettel werden erst vor Betreten der Wahlzellen — nach Namensaufruf — ausgehändigt. Bei der Stimmabgabe sind die Wahlzellen zu benutzen 198 Siehe Eschenburg (III), S. 173/174; 679/680; Schneider, H., N J W 1953, S. 1331. 194 Die Mehrheitspartei CDU/CSU hatte damals FDP, D P u n d B H E als Koalitionspartner gewonnen. 195 So schildert Löwenberg, G., das Plebiszit über Person u n d P o l i t i k K o n r a d Adenauers i n den Jahren 1953 u n d 1957, S. 268 ff. 198 von Mangoldt—Klein, S. 1231. 197 So richtig, Maunz i n Maunz—Dürig—Herzog, Rd. Ziff. 3 zu A r t . 63 GG, dieser Meinung ist schon wegen des Zwecks der schnellen Regierungsbildung zuzustimmen, dieser verbietet die Verhinderung eines materiellen Erfolgs durch einen formellen Mangel. 198 Eingefügt durch Änderungsbekanntmachung v o m 10. 3.1969 (BGBl. I, S. 253).

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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und die Stimmzettel i n einem Wahlumschlag i n die Urnen zu legen. Letztlich ist das Gebot der geheimen Wahl ein Ausfluß des i n A r t . 38 GG verankerten Prinzips vom unabhängigen Abgeordneten i n repräsentativer Funktion. Der Bundestag ist nach § 49 Abs. 1 GeschOBT nur dann fähig, eine Entscheidung zu fällen, wenn mehr als die Hälfte der Mitglieder des Hauses i m Sitzungssaal anwesend ist 1 9 9 . Dabei besteht zunächst eine Vermutung zugunsten der Beschlußfähigkeit, solange diese nicht i m Sinne des § 50 GeschOBT „bezweifelt" ist 2 0 0 . Dazu wäre erforderlich, daß mindestens fünf Abgeordnete die Beschlußfähigkeit anzweifeln, und wenigstens muß es einem Mitglied des Präsidiums gleichfalls zweifelhaft erscheinen, ob eine beschlußfähige Anzahl Mitglieder anwesend ist. Die einhellige Bejahung der Beschlußfähigkeit durch den Sitzungsvorstand schließt jedenfalls Zweifel aus 201 . § 49 Abs. 2 GeschOBT schreibt vor, daß der Präsident i n den Fällen, i n denen ein Beschluß nur von einer bestimmten Mitgliederzahl wirksam verabschiedet werden kann, i n einer ausdrücklichen Erklärung die Anwesenheit und Zustimmung der erforderlichen Mehrheit feststellt. I n der bisher vom Bundestag bei Bundeskanzlerwahlen verfolgten Praxis wurde das Vorliegen beider Erfordernisse zusammen i n einer Erklärung nach der Auszählung der Stimmen vom Präsidenten des Bundestags festgestellt. Sollte sich dabei die Beschlußfähigkeit des Bundestags herausstellen, so ist die Wiederholung der Wahl bzw. Abstimmung erforderlich 202 . Dabei erhebt sich das Problem, ob man i n diesem Falle die Abstimmung als unwirksam betrachtet m i t der Folge einer nochmaligen Stellungnahme zum Vorschlag des Bundespräsidenten, oder ob die Ablehnung des Vorschlags unterstellt w i r d und sich die darauffolgenden Wahlgänge nach A r t . 63 Abs. 3 GG gestalten, wobei auch die i n der genannten Vorschrift bestimmte Frist schon nach der Abstimmung über den Vorschlag zu laufen beginnt. Die Lösung dieser Frage erlangt für den Fall des A r t . 63 Abs. 4 GG Bedeutung, da eine obstruierende, heterogene Mehrheit durch Boykott der Wahl die Bestellung eines Minder-: heitenkanzlers verhindern könnte 2 0 3 . I n Abwägung zwischen dem Interesse an einer wortlautgetreuen Auslegung der Geschäftsordnung einerseits und dem Gebot der Kontinuität andererseits, ist letzterem der Vorzug zu geben. Die Tatsache, daß der Vorschlag des Bundespräsidenten die erforderliche Mehrheit nicht gefunden hat, genügt, i h n als abgelehnt anzusehen; gleichzeitig beginnt dann die Frist gemäß A r t . 63 Abs. 3 zu laufen. A r t . 63 Abs. 4 GG 199 200 201 202 203

Ritzel—Koch, A n m . 5 zu § 49. Ritzel—Koch, A n m . 1 zu § 49. Ritzel—Koch, A n m . 2 b zu § 50. §51 GeschOBT. Amphoux, S. 69, A n m . 1, der insoweit Münch, S. 138, folgt.

19 Lippert

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bietet das letzte Mittel, u m die Krise endgültig m i t geringsten Anforderungen an das parlamentarische Vertrauenserfordernis durch Berufung eines Minderheitenkanzlers oder durch Auflösung des Bundestags zu beenden. Es geht nicht an, den hier deutlich zum Ausdruck gekommenen Willen der Verfassung durch Erwägungen der Geschäftsordnung unwirksam zu machen 204 . U m i m ersten Wahlgang gewählt zu werden, bedarf der Vorgeschlagene wegen A r t . 63 Abs. 2 GG der Stimmen der Mehrheit der Mitglieder. A r t . 121 GG stellt klar, daß darunter die Mehrheit der gesetzlichen M i t gliederzahl zu verstehen ist, die aber nicht m i t der Zahl der tatsächlichen Mitglieder übereinzustimmen braucht. So verfügte das Bundesverfassungsgericht 205 , daß die Abgeordneten einer verfassungswidrigen und vom Bundesverfassungsgericht gemäß A r t . 21 Abs. 2 GG i n Verbindung mit § 13 Nr. 2 und § 46 Abs. 3 BVerfGG aufgelösten Partei ihre Mandate verlieren 20 ®. Die gesetzliche Mitgliederzahl w i r d für die jeweilige Legislaturperiode vom Bundeswahlgesetz festgelegt. §§8, 10 Abs. 3, Satz 2 des Wahlgesetzes vom 15.6.1949 bestimmten für den ersten Deutschen Bundestag die Zahl 402; für den zweiten Bundestag wurde die Abgeordnetenzahl auf 487 erhöht. I m Jahre 1956 schließlich gelangte man auf 506 Abgeordnete, wobei diesmal das Gesetz eine unbegrenzte, nicht nur auf eine Legislaturperiode beschränkte Geltungsdauer vorsah. Seit dem Änderungsgesetz vom 14.2.1964 207 besteht der Bundestag aus 518 Abgeordneten. I m Hinblick auf die besondere Stellung West-Berlins verringert sich die gesetzliche Mitgliederzahl gem. § 54 Nr. 1 Bundeswahlgesetz bis auf weiteres auf 496 Abgeordnete, da die 22 — mittelbar gewählten — Berliner Abgeordneten nicht mitgezählt werden. I m übrigen bildet die Zahl 496 insoweit nach oben keine starre Grenze, als infolge der sog. Uberhangmandate die Gesamtzahl der Bundestagsabgeordneten mehr als 496 betragen kann 2 0 8 . Gewinnt der Vorgeschlagene tatsächlich die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder, so stellt der Bundestagspräsident den Willen des Kandidaten fest, die Wahl anzunehmen. Die Feststellung der Zustimmung des Gewählten ist nach Ansicht der Praxis ein Teil des Wahlverfahrens; jedenfalls hat bisher der Präsident erst nach den Zustimmungserklärungen der Kandidaten die Wirksamkeit der Wahl festgestellt 209 . 204 Münch, F., Bundesregierung, S. 138. 205 BVerfGE Bd. 2 , 1 ff. 206 Vgl. §§ 48, 49 Bundeswahlgesetz. 207 BGBl. I, S. 61. 208 Vgl. § 6 I I I Bundeswahlgesetz. 209 So Münch, S. 139 u n d 143; von Mangoldt—Klein, a.a.O., S. 1232; a . A . Meder, i n B K , Erl. I I 7 zu A r t . 63 GG, der das Einverständnis des Gewählten zur Ernennung verlangt; ebenso Giese—Schunck, Grundgesetz f ü r die BRD, Erl. I I 8 zu A r t . 63.

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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I n der Tat ist die Abstimmung als eine rein einseitige Billigung des Vorschlags durch die Abstimmenden anzusehen 210 ; erst m i t der Zustimmung des Kandidaten ist dieser wirksam gewählt, was hier u m so mehr gelten muß, als ein Vorschlag der eigenen Person nicht möglich und das Einverständnis nicht Voraussetzung für die Aufnahme i n den Vorschlag des Bundespräsidenten ist. Eine Ablehnung der Wahl würde das Scheitern des Gesamtakts „Wahl" bedeuten und hätte die Folge einer sofortigen Überleitung des Verfahrens i n die Wahlphase des A r t . 63 Abs. 3 GG ohne nochmaligen Vorschlag des Bundespräsidenten 211 . Sollte der Kandidat nach der Abstimmung Bedenkzeit erbitten, etwa u m die möglichen Kombinationen der Kabinettsbildung zu sondieren, so kann dem, infolge der bereits m i t der ersten Abstimmung einsetzenden Frist des A r t . 63 Abs. 3 GG, nicht entsprochen werden 2 1 2 . Aber nicht nur die Wahl, sondern auch die Ernennung erfordert eine Zustimmung des Kandidaten 2 1 3 ; zwar gilt der Bundeskanzler nicht als Beamter i m Sinne des Bundesbeamtengesetzes, doch steht er i n einem öffentlich-rechtlichen Amtsverhältnis, und die Ernennung der Bundesminister 2 1 4 vollzieht sich analog dem entsprechenden Vorgang des Beamtenrechts 215 . Dort geschieht die Ernennung durch rechtsgestaltenden, mitwirkungsbedürftigen Verwaltungsakt 21 ®. Dies bedeutet, daß solche Akte nur bei ordnungsmäßiger Antragstellung durch die Betroffenen wirksam sind 2 1 7 . Das gleiche gilt für den Staatsakt der Ernennung des Bundeskanzlers. Dabei ist aber die Zustimmung des Kandidaten zu seiner Wahl durch den Bundestag und die Einwilligung zur Ernennung durch den Bundespräsidenten 218 nicht i n zwei voneinander geschiedenen Rechtshandlungen enthalten, sondern die unmittelbar nach dem Ergebnis der Stimmenauszählung vom Kandidaten erklärte Annahme der Wahl ist komplexen Inhalts, als sie das antizipierte Einverständnis zur Ernennung enthält. Anschließend macht der Bundestagspräsident dem Bundespräsidenten auf amtlichem Wege Mitteilung von der erfolgten Wahl und deren Annahme 2 1 9 . 210

Münch, S. 139. Münch, S. 143. 212 Dazu v e r t r i t t Münch, ebenda, die richtige Ansicht, daß i m letzten W a h l gang nach § 63 Abs. 4 GG Bedenkzeit möglich ist. 213 Maunz—Dürig—Herzog, Rd. Ziff. 8 zu A r t . 63 GG. 211

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§ 1 BMinGes. Vgl. z. B. § 5 Abs. 2 BRRG. 216 Mang, i n Mang—Maunz—Mayer—Obermayer, Staats- u n d V e r w a l tungsrecht i n Bayern, 2. Auflage, München 1964, S. 286. 217 Obermayer i n Mang—Maunz—Mayer—Obermayer, S. 194. 218 § 184 B G B : vorherige Z u s t i m m u n g bedeutet Einwilligung. 219 Vgl. ζ. B. das Schreiben des Präsidenten des Bundestags an den B u n despräsidenten v o m 16.10.1963, i n dem er die W a h l L u d w i g Erhards zum Bundeskanzler m i t t e i l t . 215

19'

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I . Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

Π . Die Ernennung durch den Bundespräsidenten Die den entscheidenden Einfluß des Parlaments sichernde formelle Wahl genügt noch nicht, u m dem Gewählten die Rechtsstellung des Bundeskanzlers zu verschaffen. Hierzu ist die Ernennung durch das Staatsoberhaupt notwendig. Hervorgehoben sei nochmals, daß die dem Bunüespräsidenten gemäß A r t . 63 Abs. 2 GG übertragene Ernennung nicht mehr das materielle konstitutionelle Ernennungsrecht des Kaisers nach der Reichsveriassung oder des Reichspräsidenten i n der Endphase der Weimarer Republik enthält, sondern der Bundespräsident — insoweit rolienkoniorm — a u i den iormalen Vollzug der parlamentarischen Entscheidung beschränkt ist. Die lormale Ernennung als Ausdruck der Kontinuitatsiunktion zählt zu den „würdigen" Verlassungsteilen i m Sinne Walter Bagehots 1 . Dieser Grundsatz beansprucht so lange Geltung, als der Bundestag zur E r i u i l u n g seiner Wamtunktion i m Sinne der Erfordernisse des A r t . 63 Abs. 2 und 3 GG i n der Lage ist. Ist dies nicht der Fall, so erfolgt der Umschlag der Reserveiunktion i n Reservemacht, der Bundespräsident t r i t t dann i n die Rolle des Entscheidungsträgers. 1. Rechtliche Bedeutung der Ernennung

Der Gewählte erhält das A m t m i t seiner Ernennung durch den Bundespräsidenten, die den abschließenden formell-konstitutiven Staatshoheitsakt bildet; erst ab diesem Zeitpunkt ist der Bundeskanzler berechtigt, Amtshandlungen vorzunehmen*. Aus diesem Grunde entschied sich das frühere Staatsrecht für die konstitutive Wirkung der Aushändigung einer Ernennungsurkunde 8 . Dieselbe Regelung findet sich i m Bundesbeamtengesetz 4 , wonach die Ernennung m i t dem Tage der Aushändigung der Ernennungsurkunde wirksam wird. Das genannte Gesetz kann jedoch für den Bundeskanzler nicht unmittelbar gelten, und auch das einschlägige Bundesministergesetz 5 beseitigt nicht alle Zweifel. § 2 Abs. 2 dieses Gesetzes lautet: „Das Amtsverhältnis beginnt m i t der Aushändigung der Urkunde oder, falls der Eid vorher geleistet worden ist, m i t der Vereidigung." Das Bundesministergesetz scheint damit den Weg für einen Beginn des Amtsverhältnisses ohne vorherige Ernennung durch den Bundes1 2 8 4 5

So von Mangoldt—Klein, S. 1232, m i t weiteren Nachweisen. Münch, S. 183. § 2 Abs. 2 Reichsministergesetz. §10 Abs. 2 B G B . Gesetz v o m 17. J u n i 1953, BGBl. I , S. 407.

2. Abschn.: Vorschlag des Bundespräsidenten

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Präsidenten freizumachen. Dabei ist aber zu beachten, daß die Vereidigung des Bundeskanzlers nicht mehr vor dem Staatspräsidenten®, sondern dem Bundestag 7 stattfindet und sie somit eines Rechtsgrundes bedarf, der ausschließlich i n der Ernennung liegen kann. Bei der bisher üblichen, gleichzeitigen Vereidigung von Bundeskanzler und Bundesministern 8 bedurfte es, u m das Amtsverhältnis des Bundeskanzlers beginnen zu lassen, der vorherigen Aushändigung der Urkunde an ihn, weil bereits der Vorschlag des Bundesministers an den Bundespräsidenten gemäß A r t i k e l 64 Abs. 1 GG eine Amtshandlung darstellt 9 . A m Erfordernis der vorher konstitutiven Ernennung ändert also auch das Bundesministergesetz nichts; Amphoux 1 0 meint allerdings. d*ß gegenüber dem früheren Redit die Bedeutung der Urkundenübergabe gemindert worden sei. Die Frage, ob eine ausdrückliche Ernennung notwendig ist, stellt sich angesichts der Möglichkeit einer Wiederwahl desselben Amtsträgers. Das Grundgesetz gibt i n A r t . 63, 69 GG eine eindeutige Antwort. Während aus der Weimarer Zeit Beisüiele berichtet werden, nach denen bei Wiederaufnahme i n das neue Kabinett keine ausdrückliche E^n^nnung, sondern eine bloße Bestätigung erfolgte 11 , und die britische Verfassungspraxis ebenfalls die bloße Bestätigung kennt, endigt das A m t des Bundeskanzlers gemäß A r t . 69 Abs. 2 GG obligatorisch m i t dem Zusammentritt eines neuen Bundestags. Der Verfassungsgeber wollte damit die permanente parlamentarische Legitimation der Regierung sichern. Der Bundestag sollte nur einer Regierung gegenüberstehen, der er selbst die parlamentarische Legitimation erteilt hatte 1 2 . Einzige Möglichkeit der Bestellung eines neuen Bundeskanzlers ist dann die Wahl und die Ernennung nach A r t . 63 GG 1 5 . Diese strenge Einstellung der Verfassung hat die bisherige Verfassungspraxis bestätigt. 1953, 1957 und 1961 war Bundeskanzler Adenauer i m Verfahren gemäß A r t . 63 wiedergewählt und vom Bundespräsidenten jeweils wiederernannt worden. Das gleiche gilt von L u d w i g Erhard für die Regierungsbildung 196514. 8 7 8

9 10 11 12 13 14

s. § 3 Reichsministergesetz. A r t . 64 Abs. 2 GG, § 3 Bundesministergesetz. s. z. B. 1. Bundestag, 3. Sitzung, S. 40; 2. Bundestag, 3. Sitzung, S .39; 3. Bundestag, 3. Sitzung am 22.10.1957. Münch, S. 148. Amphoux, S. 95. Poetzsch-Heffter, Bd. 13, S. 173. s. Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 3 zu A r t . 69. F ü r die Neuwahl während der Legislaturperiode g i l t A r t . 67 Abs. 1 GG. Münch, S. 147.

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I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C) 2. Das Ernennungsrecht als Ernennungspflicht

Schon aus dem systemnormativen Argument der Vollzugsaufgabe des Staatspräsidenten i m Rahmen der Kontinuitätsfunktion folgt die Verpflichtung des Bundespräsidenten, den vom Bundestag m i t absoluter Mehrheit gewählten Kandidaten zu ernennen. Das gleiche Ergebnis ist aber auch aus dem Charakter des A r t . 63 Abs. 2 Satz 2 GG als Kompetenznorm abzuleiten und schließlich sei an den als Ausfluß des Gebots von Treu und Glauben geltenden Gedanken des „venire contra factum proprium" erinnert, wonach eine früherem eigenen Verhalten widersprechende Rechtsausübung unzulässig ist 1 5 . Der Bundespräsident würde m i t seiner Weigerung, den Gewählten zu ernennen, seinen eigenen Vorschlag mißachten 1 ·. Aus den genannten Gründen würde — auch bei einem Schweigen der Verfassung — eine Pflicht zur Ernennung anzunehmen sein 17 . Das Recht und die Pflicht zur Ernennung besitzt nur formalen Charakter, bei ihrer Ausübung steht dem Bundespräsidenten kein Ermessensbereich zu 18 . Dem Bundespräsidenten bleibt nur zu prüfen, ob die verfassungsmäßigen Voraussetzungen der Ernennung vorliegen 19 . Diese Prüfungspflicht ist Ausfluß des von i h m geleisteten Amtseids 20 , i n dem er sich verpflichtet hat, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes zu wahren und zu verteidigen. Würde der Bundespräsident einen Bundeskanzler ernennen, der die verfassungsrechtlichen oder sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen des Amtes nicht erfüllt, so beginge er eine Verfassungs- oder Gesetzesverletzung 21 . Die Ernennung unterliegt nicht dem Erfordernis der Gegenzeichnung 2 2 . Das Grundgesetz vollzieht die Abkehr von der monarchischen Gegenzeichnung. Diese hatte den Sinn, den Monarchen von jeder Verantwortung zu entlasten und sie den Ministern aufzuladen. I m parlamentarischen System hingegen erfüllt die Gegenzeichnung den Zweck, das präsidiale Handeln an den Willen der parlamentarisch verantwortlichen Regierung zu binden 2 3 . Bei der Ernennung des Regierungschefs 15

Palandt, A n m . 4 d zu § 242. M i t i h m hat der Bundespräsident zwar keine eigene P o l i t i k zu v e r folgen, der Vorschlag ist i h m aber zuzuredinen. 17 A r t . 63 I I GG. 18 von Mangoldt—Klein, S. 1232; Maunz—Dürig—Herzog, Rd. Ziff. 7 zu A r t . 63 GG; Münch, S. 147; Eschenburg, T., Jahreshefte f ü r Zeitgeschichte, 1954, S. 595. 19 Seifert—Geeb, S. 140; von Mangoldt—Klein, S. 1232. 20 A r t . 56 GG. 21 Dabei findet freilich n u r eine Prüfung des Verfahrens statt; die Voraussetzungen hinsichtlich der Person sind schon i m Vorschlag geprüft worden. 22 A r t . 58 Abs. 2 GG. 23 Vgl. Laforet, S. 1 f. 16

2. Abschn. : Vorschlag des Bundespräsidenten

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ist die Gegenzeichnung ohne Bedeutung oder überflüssig, w e i l sie nur das Einverständnis des Ernannten m i t seiner Ernennung bedeuten könnte 24 . Konsequenterweise hat daher das Grundgesetz vom Erfordernis der Gegenzeichnung bei der Ernennung des Kanzlers abgesehen. Das Grundgesetz stellt nicht ganz klar, binnen welcher Frist der Bundespräsident seine Ernennungspflicht realisieren und den von i h m vorgeschlagenen und vom Bundestag gewählten Kandidaten zum Bundeskanzler ernennen muß 2 5 . Nur A r t . 63 Abs. 4 GG setzt dem Bundespräsidenten eine Frist von 7 Tagen. Diese bezieht sich ihrem Wortlaut nach nur auf den dritten Wahlgang, doch sieht sie ein Teil der Lehre 2 6 als auch für die beiden vorhergehenden Phasen verbindlich an. Für die Übernahme der Frist von 7 Tagen i m ersten Wahlgang ist aber kein Grund ersichtlich. Der Kandidat ist bereits m i t der erforderlichen qualifizierten Mehrheit gewählt und dem Bundespräsidenten dadurch jeglicher Ermessensspielraum genommen. Seine Pflicht ist es, für eine unverzügliche 27 Ernennung des Kanzlers zu sorgen. Unterläßt es der Bundespräsident, den Bundeskanzler fristgemäß zu ernennen, so verletzt er die i h m auferlegte verfassungsrechtliche Pflicht 28 . Dabei ist die Siebentage-Frist als äußerste Grenze anzusehen, bei deren Überschreitung automatisch eine Vermutung der Verfassungsverletzung entsteht. Es bleibt die Frage bestehen, welche rechtlichen Möglichkeiten gegeben sind, entweder den Bundespräsidenten zur Vornahme der Ernennung zu veranlassen, ein anderes Organ m i t der Ernennung zu beauftragen, oder den Bundeskanzler ohne förmliche Ernennung einzusetzen. Die letztere Alternative kann deshalb nicht i n Frage kommen, weil erst die förmliche Ernennung durch das Staatsoberhaupt den konstitutiven, unverzichtbaren Schlußstein des Berufungsverfahrens setzt. Der Gewählte könnte, ohne ernannt zu sein, nach außen nicht als Bundeskanzler auftreten und Amtshandlungen vornehmen 29 . Aus diesen Gründen ist die verfassungsgerichtliche Erzwingung der Ernennung oder ihr Ersatz vorzuziehen. Dabei kommen drei Hauptwege des Vorgehens i n Frage: 24

Münch, S. 146. Jellinek, W. (I), S. 9, beklagt überhaupt die Nachlässigkeit des G r u n d gesetzes. 28 Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 7 zu A r t . 63; Jellinek, W., D Ö V 1949, S. 382; ders. i n V V D S t R L , Bd. 8, S. 9; Meder, Erläuterungen I I 5 zu A r t . 63; Münch, S. 146; a. A . von Mangoldt—Klein, S. 1232; Giese—Schunck, Erl. I I 5 zu A r t . 63 = S. 118; Merk, Bd. 8, S. 59; Seifert—Geeb, S. 140 R., die f ü r eine unverzügliche Ernennung eintreten. 27 Unverzügl. bedeutet „ohne schuldhaftes Zögern", Legaldefinition § 131 BGB. 28 Giese—Schunck, A n m . 5 zu A r t . 63; von Mangoldt—Klein, S. 1233; Münch, S. 148; Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 7 zu A r t . 63. 29 Münch, S. 149. 25

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I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

a) Die Anklage gemäß Art 61 GG Der Bundestag oder der Bundesrat könnten den Bundespräsidenten wegen vorsätzlicher Verletzung des Grundgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht anklagen, worauf der Bundespräsident gemäß A r t . 61 Abs. 2 GG i n Verbindung m i t §§ 13, Nr. 4, 49 BVerfGG durch einstweilige Anordnung für amtsverhindert erklärt und die Ernennung vom Präsidenten des Bundesrats vorgenommen werden kann. Dieser hat gemäß A r t . 57 GG das Recht und die Pflicht, alle dem Bundespräsidenten nach dem Grundgesetz zustehenden Befugnisse wahrzunehmen 80 , wozu auch solche des politischen Ermessens zählen. Der Bundesratspräsident ist dabei aber nicht ständiger Vertreter des Bundespräsidenten und nimmt seine Befugnisse ausschließlich gemäß der diesem eingeräumten Rechtsstellung wahr. Die Bestimmungen über die Stellvertretung des bürgerlichen Rechts sind daher auf das Verhältnis von Bundespräsident und Bundesratspräsident nicht anwendbar. Daraus folgt, daß der Bundesratspräsident gegenüber dem Bundespräsidenten nicht weisungsgebunden ist 8 1 . Schließlich ist auch noch die — zwar unwahrscheinliche, aber doch vorstellbare — Situation rechtlich zu würdigen, i n welcher auch der Präsident des Bundesrates sich weigert, die Ernennung des Gewählten zu vollziehen. Weil der Bundesratspräsident die Befugnisse des Bundespräsidenten aus eigener Rechtsstellung wahrnimmt, kann er, wie der Bundespräsident selbst, zum Adressaten eines Anklageverfahrens gemäß A r t . 61 GG und folglich durch einstweilige Anordnung des BVerfG nach A r t . 61 Abs. 2 Satz 2 GG i n Verbindung m i t §§13 Nr. 4, 49 ff. BVerfGG für amtsverhindert erklärt werden. Das Grundgesetz läßt aber eine für die staatliche Kontinuität höchst bedeutsame Frage unbeantwortet: auf wen gehen die Befugnisse des Bundespräsidenten bei Verhinderung auch des Bundesratspräsidenten über? Einige Autoren 8 8 nehmen hier den E i n t r i t t der Vizepräsidenten gemäß ihrer Reihenfolge nach § 7 Abs. 1 Satz 1 der Geschäftsordnung des Bundesrates 88 an, während eine andere Meinung 8 4 eine Verfassungsänderung für notwendig erachtet und „de lege ferenda" die Bestellung des ersten Bundesratsvizepräsidenten zum Stellvertreter befürwortet. Bei Würdigung der genannten Auffassungen ist zu bedenken, daß es sich bei dem § 7 GeschOBR u m eine die interne Vertretung innerhalb des 80

Dennewitz, Erl. I I 2 zu A r t . 57. Dennewitz, Erl. I I 3 a zu A r t . 57; Maunz—Dürig—Herzog, A r t . 57. 82 Giese—Schunck, Erl. I I 4 zu A r t . 57 GG; von Mangoldt—KZein, Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 5 zu A r t . 57. 88 V o m 1.7.1966, B G B l . I I I , 1102/1. 84 Dennewitz, Erl, I I 3 a zu A r t . 57. 81

Rdz. 7 zu S. 1102 ff.;

2. Abschn.: Vorschlag des Bundespräsidenten

297

Bundesratspräsidiums festlegende Regelung handelt. Es ist daher sehr fraglich, ob einer internen — i n der Verfassung nicht verankerten — Reihenfolgeregelung einer autonomen Satzung plötzlich der Rang von Verfassungsnormen zuwachsen soll. Es erscheint aus Gründen der Zweckmäßigkeit angebracht, bis zu einer ausdrücklichen rechtlichen Regelung der weiteren Vertretung des Bundespräsidenten, die drei Vizepräsidenten des Bundesrats als Kollegium handeln zu lassen. Die Lösung hätte einmal den Vorteil einer erleichterten Mehrheitsbildung bei Abstimmung, und überdies könnte sie sich auf den Minderheitenvorschlag zu A r t . 79 des Entwurfs von Herrenchiemsee35 stützen, wo die Einführung eines kollegial zusammengesetzten „Bundespräsidiums" empfohlen wurde 3 8 . b) Eine zweite prozessuale Möglichkeit, die Ernennung des Bundeskanzlers durchzusetzen, wird durch das Organstreitverfahren

nach

Art 93 Abs. 1 Satz 1 GG eröffnet Als Antragsteller und Antragsgegner stehen sich Bundestag und Bundespräsident 87 gegenüber, wobei der Bundestag fristgemäß 88 geltend machen muß, daß er infolge der unterlassenen Ernennung durch den Bundespräsidenten i n seiner, i n A r t . 63 Abs. 1 und 2 GG verankerten, Wahlfunktion verletzt oder gefährdet sei 89 . Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergeht gemäß §67 BVerfGG als Feststellungsurteil. Da das Bundesverfassungsgericht nicht nur über die Auslegung der strittigen Verfassungsbestimmung entscheidet, sondern auch die konkrete Maßnahme des Antragsgegners oder der Unterlassung beurteilt, reicht § 67 eigentlich über den Spielraum des A r t . 93 Abs. 1 Satz 1 GG hinaus 4 0 ; dies ist aber wegen der unklaren Fassung von A r t . 93 Abs. 1 GG sowie wegen § 93 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich unbedenklich 41 . I m Ergebnis w i r d das Bundesverfassungsgericht angesichts der Weigerung des Bundespräsidenten, den Gewählten zum Bundeskanzler zu ernennen, die Feststellung treffen, daß die unterlassene Ernennung gegen das Grundgesetz verstößt. Angesichts des Charakters der i m Organstreitverfahren ergehenden Entscheidung als Feststellungsurteil stellt sich die Frage nach der V o l l 85

Bericht, S. 72 f. Z u m Problem u n d zur Arbeitsweise der Kollegialorgane s. Küchenhoff, Günther u n d E r i k , S. 143 ff. 87 § 13 Nr. 5, § 63 BVerfGG. 38 §64 Abs. 3 BVerfGG. 39 § 64 Abs. 1 u n d 2 BVerfGG. 40 Maunz, Sigloch, Schmidt-Bleibtreu, Klein, Rdz. 1 zu § 67 BVerfGG. 41 Leibholz—Rupprecht, A n m . 2 zu § 67. 36

298

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

streckbarkeit: das Ziel der Feststellungsklage reicht — mangels Leistungsbefehl — weniger weit als das der Leistungsklagen, woraus folgt daß Feststellungsurteile i m allgemeinen nicht vollstreckungsfähig sind 42 . Infolge der Notwendigkeit, der Verfassung zur allgemeinen Geltung zu verhelfen, erscheint es zweifelhaft, ob diese Grundsätze auch auf verfassungsgerichtliche Feststellungsurteile anwendbar sind. Das Grundgesetz hat i m Gegensatz zur Weimarer Verfassung 48 darüber keine Regelung getroffen. § 35 BVerfGG 4 4 bestimmt allerdings, daß das Bundesverfassungsgericht i n seiner Entscheidung den Vollstrecker bestimmen und i m Einzelfall sogar die A r t und Weise der Vollstreckung regeln kann. Die enge Anwendung würde aber dem Sinn und Zweck der Vorschrift des § 35 BVerfGG widersprechen. I m verfassungsgerichtlichen Verfahren versteht man unter Vollstreckung „den Inbegriff aller Maßnahmen, die erforderlich sind, u m solche Tatsachen zu schaffen, wie sie zur Verwirklichung des vom Bundesverfassungsgericht gefundenen Rechts notwendig sind" 4 5 . Danach sind also auch Feststellungsurteile nach § 35 BVerfGG vollstreckbar 46 . A u f die Frage nach dem „Wie" der Vollstreckung, hier also dem einzuschlagenden Weg, u m die verfassungsmäßige Ernennung des Kandidaten durchzusetzen, erscheinen drei Antworten möglich: a) Das Verfassungsgericht trifft eine Entscheidung über die Person des Vollstreckenden und teilt diesem die A r t und Weise der Vollstreckung mit. b) Das Bundesverfassungsgericht vollzieht selbst die Ernennung des Gewählten zum Bundeskanzler. c) Unter Heranziehung des i m § 894 ZPO wirkenden Rechtsgedankens w i r d die Ernennung durch den Bundespräsidenten „fingiert". Bei Erörterung der Alternativen a) und b) drängt sich die Frage auf, ob es dem Bundesverfassungsgericht i n Anwendung der Vollstreckungsregelung des § 35 gestattet ist, von der i m Grundgesetz vorgenommenen Zuständigkeitsverteilung abzuweichen. Geiger 47 hält z.B. die Unterstellung aller Bundes- und Landespolizeikräfte unter den Bundes42

Thomas—Putzo, A n m . 1 zu § 256. A r t . 19 Abs. 2 W V sah die Vollstreckung der Urteile des Staatsgerichtshofs durch den Reichspräsidenten vor. 44 „Das Bundesverfassungsgericht k a n n i n seiner Entscheidung bestimmen, w e r sie vollstreckt; es k a n n a u d i i m Einzelfall die A r t u n d Weise der Vollstreckung regeln." 45 Arndt , Α., DVB1. 1952, S. 3 u n d dem folgenden BVerfGE, Bd. 6, S. 300 ff. (304). 46 Maunz-Sigloch, Schmidt-Bleibtreu, Klein, A n m . 2 zu § 35 BVerfGG; Leibholz—Rupprecht, A n m . 3 zu § 35. 47 Kommentar zum BVerfGG, Berlin—Frankfurt, 1952, S. 131. 43

2. Abschn.: Vorschlag des Bundespräsidenten

299

Innenminister ohne Berücksichtigung der A r t . 84, 85, 91 GG für zulässig. Das Bundesverfassungsgericht seinerseits hat bei verschiedenen Gelegenheiten seine Überzeugung von seiner eigenen Berechtigung zur Korrektur der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung zum Ausdruck gebracht 48 . Dagegen macht Herzog 49 erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken geltend. Die i m Grundgesetz verankerte Zuständigkeitsordnung sei durch das Bundesverfassungsgerichtsgesetz und das Bundesverfassungsgericht nur dann aufhebbar, wenn sich dies aus dem A r t . 93 Abs. 2 oder A r t . 94 Abs. 2 GG als den verfassungsrechtlichen Grundlagen des BVerfGG ergäbe; doch schon der Wortlaut dieser Bestimmungen schließe eine solche Entscheidung 50 aus. Ebenso dürfe das Schlagwort vom „Hüter der Verfassung" nicht dazu verleiten, dem BVerfG i n seiner Eigenschaft als Gericht unvereinbare Funktionen i m Rahmen politischer Ermessensentscheidung aufzubürden. Damit würde auch die Stellung des BVerfG als über allen anderen Organen stehender Richter nicht mehr i n das Schema der Gewaltenteilung passen51. Diese Beispiele genügen bereits, u m Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit jener Auffassung zu wecken, die i m BVerfG den unumschränkten „Herrn der Vollstreckung" 5 2 sieht. Die Ansicht der herrschenden Meinung müßte i m Rahmen der Alternative a) konsequenterweise zur Befugnis des BVerfG führen, den Bundesratspräsidenten m i t der Ernennung des gewählten Kandidaten zum Bundeskanzler zu beauftragen. Damit würde man — dem faktischen Ergebnis nach — zur zeitweiligen Amtsverhindertheit des Bundespräsidenten und zu seiner Vertretung durch den Bundesratspräsidenten gelangen, ohne den mühevollen und hindernisreichen Weg der Präsidentenanklage nach A r t . 61 beschreiten zu müssen. Die noch weitergehende Alternative b) würde eine Kumulation von „apokryphen Notstandskompetenzen" 53 bewirken, indem das Bundesverfassungsgericht bei Weigerung des Präsidenten die Ernennung des Bundeskanzlers selbst zu vollziehen vermag. I n diesem Falle würde die allgemeine Zuständigkeitsverteilung des Grundgesetzes aufgehoben, da der Gewählte nicht von dem hierzu verfassungsrechtlich vorgesehenen Verfassungsorgan Bundespräsident, sondern vom Bundesverfassungsgericht ernannt würde. Eine solche Auflösung des organisatorischen Teils

48 49 50 51 52 53

Beispiele bei Herzog, S. 40. Herzog, S. 41 f. Herzog, S. 43 f. Herzog, S. 45. Dreher, E., N J W 1951, S. 380; Geiger, S. 130; BVerfGE 6, S. 300 ff. Herzog, S.45.

300

I. Teil, 2. Kap. : Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

der Verfassung infolge ausufernder Vollstreckungsbefugnisse des BVerfG wäre m i t der Ordnung des Grundgesetzes nicht i n Einklang zu bringen. c) Die Gefahr eines die staatliche Kontinuität Konflikts

lähmenden

gebietet die Suche nach einer verfassungskonformen

Lösung

I m Falle des die Ernennung verweigernden Bundespräsidenten ist aber auch die Beauftragung von Kontrollorganen i m Wege der Ersatzvornahme nicht möglich, w e i l der Bundespräsident als oberstes Staatsorgan einer derartigen Kontrolle nicht unterworfen ist. A u f der Suche nach einer Lösungsmöglichkeit fällt der Blick auf § 894 Abs. 1 S. 1 ZPO 5 4 . Die Abgabe einer Willenserklärung w i r d dort m i t Erlangung der Rechtskraft des Urteils fingiert. Die Bestimmung ist wegen § 167 VWGO analog i m Verwaltungsgerichtsprozeß, auf Grund der §§ 85 Satz 2, 62 Abs. 2 Arb. GG i m arbeitsgerichtlichen Verfahren und wegen § 198 Abs. 1 SGG i m Prozeß vor den Sozialgerichten anzuwenden. Ohne die erweiternde Auslegung i m Wege der Analogie 5 5 anzuwenden, erscheint doch die Subsumtion des vorgegebenen verfassungsrechtlichen Sachverhalts unter den i n § 894 ZPO enthaltenen Rechtsgedanken möglich: Ernennung des Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten trägt, da sie die Amtseinsetzung des Kandidaten bewirkt, die Merkmale einer staatsrechtlichen Willenserklärung 5 8 . A u f die Form kommt es hierbei nicht an 57 . Der Bundespräsident ist zwar nicht als Schuldner i m Sinne des § 894 ZPO anzusprechen, doch nimmt er eine i h n verpflichtende Vollzugsfunktion wahr, was i h n insoweit einem Schuldner gleichstellt. Die Heranziehung des Rechtsgedankens hat dann zur Folge, daß die Ernennung m i t Erlaß des verfassungsgerichtlichen Feststellungsurteils 58 als vollzogen gilt und die Amtseinsetzung beendet ist. Als Verfahrensart kommt also der Organstreit nach A r t . 93 Abs. 1 GG zum Zuge, wobei es den zuständigen Verfassungsorganen freisteht, ein anschließendes Anklageverfahren gegen den Bundespräsidenten i m Wege des A r t . 61 GG einzuleiten.

54 § 894 ZPO, Abs. 1: „ I s t der Schuldner zur Abgabe einer Willenserklärung verurteilt, so g i l t die E r k l ä r u n g als abgegeben, sobald das U r t e i l die Rechtsk r a f t erlangt hat." 55 Siehe dazu Larenz t S. 287 ί ϊ . 56 Erklärungen rein tatsächlichen Inhalts w ü r d e n f ü r § 894 ZPO nicht genügen, s. Thomas—Putzo, A n m . 2 b zu § 894; f ü r die Geltung der Regeln über die Willenserklärung auch i m öffentl. Recht, s. Wolff, § 441 a, b, c = S. 252. 57 Palandt, Einführung I v o r § 116. 58 Z u der Frage der Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Urteile siehe: Maunz, Sigloch, Schmidt-Bleibtreu, Klein, Rdz. 14 zu § 24; 6 u n d 7 zu § 31.

3. Abschn.: I n i t i a t i v e des Bundestags

301

Dritter Abschnitt

Berufung des Bundeskanzlers auf Initiative des Bundestages I. Das Verfahren zur Wahl eines Mehrheitskanzlers gemäß Art. 63 Abs. 3 GG Das i n A r t . 63 Abs. 3 GG geregelte Verfahren soll für den Fall Vorsorgen, daß der vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Kandidat nicht gewählt wird. Es gibt dem Bundestag die Waffe der Ablehnung des Vorschlags sowie zur Durchsetzung eines eigenen Kandidaten i n die Hand und sichert damit die Wahlfunktion des Bundestags. Nawiasky 1 kann dem A r t . 63 Abs. 3 GG keine große Bedeutung beimessen, w e i l der Bundespräsident ja doch bemüht sei, festzustellen, ob sein Vorschlag auch Aussicht auf Annahme habe. Überdies sei der Autorität des Staatschefs m i t der i n A r t . 63 Abs. 3 GG den Parteien eingeräumten Möglichkeit, die Regierungsbildung durch den Präsidenten zu vereiteln, ein schlechter Dienst erwiesen 2 . Nawiasky ist insoweit zu folgen, als i m Normalfall das Verfahren nach A r t . 63 Abs. 3 GG tatsächlich keine Anwendung finden wird. Als Normalfall ist die Situation einer festen Mehrheit zu verstehen, die über einen unumstrittenen Kandidaten verfügt. Die Bedeutung der zweiten Wahlphase kommt jedoch dann zum Vorschein, wenn die dargestellte Situation nicht vorliegt und sich mehrere Kandidaten m i t ähnlichen Erfolgsaussichten anbieten. A u f diese Weise könnte A r t . 63 Abs. 3 GG, der ebenfalls Ausdruck einer der westdeutschen Verfassung innewohnenden Grundtendenz ist, nämlich „der Angst vor dem Mißerfolg, dem Willen, durch juristische M i t t e l allen Eventualitäten vorzubeugen" 3 , plötzlich Bedeutung erlangen. Insbesondere i m Falle des von den Verfassungsvätern i m Gedenken an die Weimarer Verhältnisse gefürchteten Vielparteiensystem wäre es beruhigend zu wissen, daß den Gruppierungen nun 14 Tage Zeit gelassen sind, sich i m Wege des Kompromisses neuen politischen Grundlagen zu nähern. A r t . 63 Abs. 3 GG bietet so die nochmalige Chance einer qualifizierten Mehrheitsbildung, deren Erreichung durch die oben genannten technischen M i t t e l i n sehr aufgeklärter und differenzierter Weise erleichtert wird 4 . 1

Nawiasky (IV), S. 96. Nawiasky (IV), S. 95. 3 Amphoux, S. 74. 4 Vgl. z. B. A r t . 53 W V , wo eine „globale" Lösung angeboten w i r d , i n der jedoch möglichen Eventualitäten nicht begegnet werden kann, während A r t . 63 einen festen Glauben an die parlamentarische Mehrheitsbildung offenbart. 2

302

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C) 1. Wahl

a) Das Vorschlagsrecht M i t dem Ubergang i n die zweite Wahlphase belebt sich das B i l d parlamentarischer Willensbildung. Dem Bundestag obliegt es nun 5 , von sich aus — ähnlich den deutschen Länderparlamenten® — einen Regierungschef zu wählen. Folglich müssen aus der Mitte des Bundestags Kandidaturen entwickelt werden. Dabei handelt es sich nicht mehr u m eine bloße Abstimmung m i t „Ja oder Nein", sondern u m eine echte Wahl i m Sinne von Auswahl zwischen mehreren Persönlichkeiten 7 . Die Zahl der Kandidaten ist jedoch pro Wahlgang nicht unbegrenzt, w e i l § 4 Abs. 5 GeschOBT eine sehr wichtige „Filterfunktion" insofern ausübt, als „Wahlvorschläge aus der Mitte des Bundestags der Unterstützung eines Viertels der Mitglieder des Parlaments bedürfen". Die Regelung bewirkt, daß sektiererische und obstruierende Kandidaturen verhindert und gleichzeitig die Fraktionen zu den eigentlichen Vorschlagskörpern werden. Verfügt eine Fraktion über mehr als 100 Mitglieder oder handelt es sich u m einen von mehreren Fraktionen eingebrachten Vorschlag, so genügt die Unterschrift „ X und Fraktion", während grundsätzlich die Wahlvorschläge die erforderliche Zahl Unterschriften tragen müssen 8 . Münch 9 äußert Zweifel hinsichtlich der Verfassungsmäßigkeit dieser von § 4 Abs. 5 GeschOBT normierten und i m Grundgesetz nicht enthaltenen Erfordernisse, stellt diese aber für die Wahlphase des A r t . 63 Abs. 3 GG zurück. Tatsächlich liegt i m § 4 Abs. 5 GeschOBT eine Beschränkung bezüglich der Zahl der möglichen Kandidaten: i n jedem Wahlgang kann optimal nur über vier, den Erfordernissen dieser Bestimmung genügenden Vorschlägen abgestimmt werden. Diese Beschränkungen dürften auf das endgültige Resultat der Phase 2 wegen der zur Wahl erforderlichen Mitgliedermehrheit keine Auswirkungen haben, da Vorschläge, die nicht einmal die Unterstützung eines Viertels der Bundestagsmitglieder erhalten, keine Chance haben, die absolute Mehrheit auf sich zu vereinigen 10 . §4 Abs. 5 GeschOBT beinhaltet keine Behinderung des i n 5

A r t . 63 Abs. 3 GG, § 4 Abs. 3 GeschOBT. So A r t . 44 Abs. 1 der Bayer. Verfassung: „Der Ministerpräsident w i r d . . . von dem neugewählten L a n d t a g . . . gewählt. 7 von Mangoldt—Klein, S. 1233. 8 Die Wahlvorschläge sind i n schriftlicher F o r m einzureichen, w e i l sie als Vorlagen zu behandeln sind. Vgl. § 75 Abs. 1 GeschOBT. Sie brauchen aber nicht gem. § 76 Abs. 1 GeschOBT gedruckt u n d als Drucksachen verteilt zu werden, da der Vorschlag nicht als A n t r a g i m Sinne der §§ 75, Abs. 2, 76 Abs. 1 GeschOBT anzusehen ist. Die nach den Voraussetzungen des § 4 Abs. 5 GeschOBT Vorgeschlagenen werden v o m Bundestagspräsidenten dem B u n destag bekanntgegeben. Vgl. Ritzel—Koch, A n m . 2 zu § 4. 9 Münch, S. 139. 10 Amphoux, S. 76. β

3. Abschn.: Initiative des Bundestags

303

Art. 63 Abs. 3 GG verankerten, internen Initiativrechts des Bundestags, sondern bezweckt nur dessen Kanalisierung und Lenkung 1 1 . Was die Qualifikation angeht, so muß der Kandidat, u m zum Bundeskanzler wählbar zu sein, dieselben persönlichen Voraussetzungen wie der gem. A r t . 63 Abs. 2 GG gewählte Bundeskanzler erfüllen. Das Einverständnis der Vorgeschlagenen m i t ihrer Kandidatur braucht, wie beim Vorschlag des Bundespräsidenten nach A r t . 63 Abs. 1 GG, nicht festgestellt zu werden; entscheidend ist auch hier die Annahme der Wahl durch den Gewählten nach der Abstimmung 1 2 . Angesichst der gem. A r t . 63 Abs. 3 GG auf den Bundestag übergegangenen Vorschlagsinitiative stellt sich die Frage, ob der Bundestag nach dem Scheitern des präsidialen Vorschlags ausschließlich aus sich heraus, abgeschnitten von externen Entscheidungshelfern, seine Wahl treffen muß oder etwa der Bundespräsident noch das Recht hat, m i t einem Vorschlag i n die Wahlgänge einzugreifen. Der Verfassungstext verbietet ein solches Eingreifen nicht, und auch den Beratungen des Parlamentarischen Rates ist nicht zu entnehmen, daß das präsidiale Vorschlagsrecht m i t dem Vorschlag nach A r t . 63 Abs. 1 erschöpft sein soll 13 . Glum 1 4 läßt ebenfalls schon für das Verfahren nach A r t . 63 Abs. 1 und 2 mehrfache Vorschläge des Bundespräsidenten zu und meint auch, daß A r t . 63 Abs. 3 weitere Vorschläge des Bundespräsidenten nicht verbieten würde. I m Gegenteil, der Bundestag wäre wegen der sicherlich schwierigen politischen Lage für eine solche Vermittlung des Bundespräsidenten dankbar. Dabei ist zu berücksichtigen, daß A r t . 63 Abs. 3 GG m i t der Abstimmung über den Er st Vorschlag des Bundespräsidenten auch die 14tägige Frist für die Initiativphase des Bundestags einsetzen läßt. Wegen der möglichen Bedeutung des Vorschlags als Erleichterung für die parlamentarische Willensbildung sind Vorschläge des Bundespräsidenten i n der Phase 3 zwar nicht verfassungswidrig, sie unterscheiden sich aber i n rechtlicher Hinsicht vom Vorschlag nach A r t . 63 Abs. 1 GG: der Bundestag w i r d durch sie nicht mehr zur Stellungnahme verpflichtet, es stehen Vorschläge aus der Mitte des Bundestags neben dem Präsidentenvorschlag. Auch dieser bedarf der Qualifizierung des § 4 Abs. 5 GeschOBT, 11 Z u m Problem des Verhältnisses von Verfassung u n d den Geschäftsordnungen der Verfassungsorgane s. Schneider, H., „Die Bedeutung der Geschäftsordnung oberster Staatsorgane f ü r das Verfassungsleben", i n : Rechtsprobleme i n Staat u n d Kirche — Festschrift f ü r Rudolf Smend, Göttingen 1952, S. 304 ff. 12 Münch, S. 139; von Mangoldt—Klein, S. 1233. 13 I m Parlamentarischen Rat w u r d e n v o n versch. Seiten wiederholte V o r schläge f ü r statthaft erachtet, Abgeordnete Becker (RDP) sowie Lehr (CDU), 7. u n d 11. Sitzung, S. 57 bzw. 97. Die Vorschläge w u r d e n freilich abgelehnt. 14 Glum (III), S. 53.

304

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

was bedeutet, daß der Bundespräsident sich der Hilfe einer Fraktion oder mindestens 100 Abgeordneter bedienen muß. Der Lauf der 14tägigen Frist beginnt dabei nicht erst nach dem letzten Vorschlag des Bundespräsidenten 15 , sondern bereits m i t der Ablehnung seines ersten, nach A r t . 63 Abs. 1 GG unterbreiteten Vorschlags 16 . Die gegenteilige Auffassung würde i n ihrer Konsequenz nicht nur zur Behinderung des Bundestags i n seiner Wahlfunktion, sondern auch zu einer Verlängerung der Krise und damit zu einer Unterbrechung staatlicher Kontinuität führen. Schließlich sei noch auf die Gefahr eines Autoritätsverlustes für den Bundespräsidenten hingewiesen, der durch weitere Vorschläge, die er nur m i t Hilfe von Parteipolitikern einbringen kann, Einfluß zu nehmen versucht. Seine der neutralen Haltung verpflichtete Position legt i h m i n der Phase 2 des Kanzlerwahlverfahrens Zurückhaltung auf. b) Die Abstimmung

im Bundestag

Die Wahl eines Bundeskanzlers hat binnen 14 Tagen nach dem ersten Wahlgang zu erfolgen 17 . Die Frist berechnet sich i n Ermangelung einer Sonderregelung entsprechend den allgemeinen Vorschriften des bürgerlichen Rechts 18 . Danach w i r d der Tag der Abstimmung über den Erstvorschlag des Bundespräsidenten beim Lauf der Frist nicht mitgerechnet 1 9 . Der Verfassungstext gibt i n A r t . 63 Abs. 3 GG keine Auskunft darüber, ob während der laufenden Frist nur ein Wahlgang zulässig ist oder ob der Bundestag i n immer neuen Abstimmungen die absolute Mehrheitsbildung versuchen darf. Freilich geben schon die von der politischen Wissenschaft entdeckten Zusammenhänge zwischen qualifizierten Mehrheiten und der Zahl der zu ihrer Bildung notwendigen Wahlgänge 20 Anhaltspunkte für den wahren W i l l e n des Grundgesetzes. I n der Tat folgt die Lehre einhellig 2 1 der von der Praktikabilität sowie dem Gedanken des Grundgesetzes, die qualifizierte Mehrheitsbildung zu fördern, geprägten Lösung, und läßt daher beliebig viele Wahlgänge zu. Nach dem Wortlaut des A r t . 63 GG können sich anscheinend an die Abstimmung über den Erstvorschlag des Bundespräsidenten die Wahlgänge nach A r t . 63 Ab.s 3 GG unmittelbar anschließen. Dabei stellt sich 15

Glum (III), ebd.; ders.: (I), S. 331. Amphoux, S. 77; Münch, a. a. O., S. 135. 17 A r t . 63 Abs. 3 GG. 18 §§186 ff. BGB. 19 §1871 BGB. 20 (vgl. S. 383 f.) eig. Kap. usw. 21 So f ü r viele: Schmidt-Bleibtreu, Klein, Randz. 4 zu A r t . 63 GG; Giese, Erl. I I 6 zu A r t . 63; Jellinek, D Ö V S. 282 u. V V D S t R L S. 9; Meder, Erl. I I 3 zu A r t . 63; Münch, S. 133-138; Ritzel—Koch, A n m . 2 a E zu S. 4; Seifert—Geeb, Abs. 3 der Erl. zu A r t . 63 GG, S. 140; von Mangoldt—Klein, A r t . 63, A n m . (IV). 16

3. Abschn.: Initiative des Bundestags

305

die Frage nach der geschäftsordnungsmäßigen Zulässigkeit des unmittelbaren Ubergangs; es ergeben sich zwei Lösungsmöglichkeiten: a) Die Abstimmung über den Vorschlag des Bundespräsidenten ist einziger Tagesordnungspunkt. Ein Wahlgang nach A r t . 63 Abs. 3 GG wäre so als neuer Punkt der Tagesordnung anzusehen, der nach dem Scheitern des ersten Wahlgangs nur dann auf die Tagesordnung gesetzt werden kann, wenn nicht 5 Mitglieder widersprechen 22 . b) A u f Grund einer interfraktionellen Einigung vor Sitzungsbeginn über die unmittelbare Folge eines i n derselben Sitzung stattfindenden Wahlgangs gem. A r t . 63 Abs. 3 GG könnten mehrere Wahlgänge i n einer Sitzung abgewickelt werden. Gegen die Lösung b) sprechen aber verfahrensökonomische Gründe; bei einem Scheitern des ersten Wahlgangs dürfte auch i m sich unmittelbar anschließenden Wahlgang kein anderes Ergebnis gefunden werden, da sich ohne Bedenkzeit für die Beteiligten die politischen Verhältnisse kaum klären werden. T r i t t man jedoch der Alternative a) bei, so greift § 24 Satz 2 GeschOBT ein, wonach vor Schluß jeder Sitzung der Präsident gemäß dem Beschluß des Bundestags den Termin der nächsten Sitzung sowie — soweit bereits bestimmt — ihre Tagesordnung bekanntgibt. Gemäß § 25 Abs. 1 Satz 1 GeschOBT kann der Bundestagspräsident jedoch vom Bundestag ermächtigt werden, Zeit und Tagesordnung der nächsten Sitzung festzulegen. Nach einem erfolglosen ersten Wahlgang könnte der Präsident damit nach Rücksprache m i t den Beteiligten den geeignetsten Zeitpunkt für die nächste Sitzung bestimmen. Strittig ist, ob eine Aussprache über die Kandidaten zulässig ist 2 3 . Von Mangoldt-Klein meinen, das Verbot der Aussprache i n A r t . 63 Abs. 1 GG hätte wegen seiner Schutzfunktion zugunsten des Bundeskanzlerkandidaten allgemeine, auch für die Wahlen nach A r t . 63 Abs. 3 und 4 GG, Geltung. Diese Ansicht übersieht dabei aber, daß nur i n A r t . 54 Abs. 1 und 63 Abs. 1 GG ein solches Verbot ausdrücklich normiert ist, wobei es sich jeweils u m Fälle handelt, wo am Wahlverfahren entweder Kandidaten für das Präsidentenamt oder der Kandidat des Präsidenten beteiligt sind. Daraus folgt, daß das Ausspracheverbot primär dem Zweck dient, die Würde des Staatsoberhauptes zu schützen. Der Bundespräsident ist aber an den Wahlgängen nach A r t . 63 Abs. 3 und 4 GG nicht beteiligt. Für die vom Bundestag dabei herausgestellten Kandidaten besteht ein solches Schutzbedürfnis nicht, während der Bundeskanzler als eigentlicher Führer der parlamentarischen Mehrheit und oberster politischer 22

§26 Abs. 3 GeschOBT. Verneinend von Mangoldt—Klein, S. 1234; Giese—Schunck, Erl. I I 6; Amphoux, S. 79/80; Schneider, H., Die Regierungsbildung nach dem Bonner GG, N J W S 3,1331. 23

20 Lippert

306

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

Amtsinhaber von vornherein einer demokratischen K r i t i k ausgesetzt ist. Eine Diskussion über persönliche Eigenschaften und Fähigkeiten der Kandidaten ist schon i m Wahlkampf üblich und wegen der Auf klärungsfunktion des Parlaments sogar erwünscht. Angesichts des dem deutschen Staatsrecht traditionsgemäß innewohnenden Prinzips der Öffentlichkeit 24 , ist aus dem Schweigen des GG eher der Gegenschluß auf Gestattung einer Aussprache zu ziehen 25 . I m übrigen kann eine Debatte wegen ihrer klärenden Wirkung bei einer Abstimmung über mehrere zur Wahl stehende Bewerber zweckmäßig sein 28 . Trotz der unterschiedlichen Beziehungen für das Erfordernis der absoluten Mehrheit sind auch i n der zweiten Wahlphase die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder für eine gültige Wahl erforderlich 27 . Obwohl §4 GeschOBT die geheime Wahl nicht ausdrücklich vorschreibt, gilt die von § 4 Abs. 2 Satz 1 GeschOBT statuierte Benützung verdeckter Stimmzettel auch für die Wahlgänge nach A r t . 63 Abs. 3 und 4 GG. Den Kandidaten, soweit sie Mitglieder des Bundestags sind, bleibt es unbenommen, für sich selbst zu stimmen 28 . Für die Zustimmung des Gewählten zu seiner Wahl gilt das oben Ausgeführte; erst m i t der A n nahme der Wahl durch den Gewählten ist der gesamte Wahlakt abgeschlossen und sind die Voraussetzungen für die Ernennung durch den Bundespräsidenten geschaffen. 2. Die Ernennung

Die Ernennung des i m Verfahren nach A r t . 63 Abs. 3 GG Gewählten weicht nach Form, Inhalt und den dabei von den beteiligten Verfassungsorganen wahrgenommenen Funktionen nicht vom gleichen Vorgang bei vom Bundespräsidenten vorgeschlagenen und nach A r t . 63 Abs. 2 GG gewählten Kandidaten ab: Für Frist 2 9 , Ernennungsverpflichtung des Bundespräsidenten 30 sowie die Sanktionen bei Verweigerung der Ernennung ist auf das oben Ausgeführte zu verweisen m i t der einzigen Einschränkung, daß i m Unterschied zur Ernennungsverpflichtung i n 24 Amphoux, S. 80; vgl. auch A r t . 42 Abs. 1 Satz 1 GG; vgl. weiter: Smend, R., Z u m Problem des öffentlichen u n d der Öffentlichkeit, i n : Gedächtnisschrift f ü r Walter Jellinek, 1955, S. 11 ff.; Besprechung v o n Arendt, Öffentlichkeit als Staatsersatz, i n : Archiv f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie X L I I , 1956, S. 239 ff. 25 Obwohl Jellinek, W., V V D S t R L 8 S. 5, davor w a r n t . 26 Schneider, N J W 53,1331. 27 von Mangoldt—Klein, S. 1234. 28 So Münch, S. 139 unter Berufung auf den durch den Staatsgerichtshof (StGH) i n RGZ 128, A n h a n g S. 63 f. als allgem. deutsches öffentliches Recht erkannten Grundsatz. 29 a. A . Meder, Erl. I I 5 zu A r t . 63. 30 Was schon aus A r t . 63 Abs. 2 Satz 2, Abs. 4 Satz 2 GG folgt.

3. Abschn.: I n i t i a t i v e des Bundestags

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A r t . 63 Abs. 2 Satz 2 GG hier der Rechtsgedanke des „venire contra fact u m proprium" mangels eines eigenen Vorschlags des Bundespräsidenten nur dann herangezogen werden kann, wenn der Bundespräsident unter den Voraussetzungen des § 4 Abs. 4 GeschOBT einen erfolgreichen Vorschlag abgegeben hat.

I I . Die Wahl eines Minderheitenkanzlers nach Art. 63 Abs. 4 GG Führt auch das gem. A r t . 63 Abs. 3 GG ablaufende Verfahren nicht zur Wahl eines von der Mitgliedermehrheit unterstützten Kandidaten, so findet ein neuer und endgültiger Wahlgang statt, i n dem die parlamentarische Vertrauensbedürftigkeit i n der Weise eingeschränkt ist, daß gewählt ist, „wer die meisten Stimmen erhält" 1 . Sollte der Kandidat jedoch die absolute Mehrheit erreichen, so erwächst dem Bundespräsidenten dieselbe Verpflichtung zur Ernennung des Gewählten wie i n den Phasen 1 und 2; dabei ist i h m — lt. Verfassungstext — eine Frist von sieben Tagen eingeräumt. Aber auch i m Fall einer nur relativen Abstimmungsmehrheit für einen Kandidaten sieht das Grundgesetz eine Lösung vor: Der nach seinem erfolglosen Vorschlag zunächst i n den Hintergrund getretene Bundespräsident w i r d nun zum Entscheidungszentrum i m komplizierten Zuständigkeitsmechanismus des A r t . 63 GG; er macht von dem i h m übertragenen, „alternativ-obligatorischen Wahlrecht" 2 Gebrauch und ernennt entweder den gewählten Kandidaten zum Bundeskanzler oder löst den Bundestag auf 3 . Während sich die meisten Verfassungen nicht der Mühe unterziehen, solche Probleme einer nicht funktionierenden Mehrheitsbildung vorauszusehen und detaillierte Lösungen anzubieten 4 , steht der Abs. 4 des A r t . 63 GG am Ende einer genau ausgewogenen Stufenfolge, i n welcher der Wille spürbar ist, Regierungskrisen zu vermeiden oder zu überbrücken. Sie stellt grundsätzlich nur einen Wahlgang zur Verfügung und muß deshalb aus den technischen Gründen der Mehrheitsbildung 5 auch auf die Mitgliedermehrheit verzichten und sich m i t dem von der stärksten parlamentarischen Gruppe unterstützten Kandidaten zufrieden 1

A r t . 63 Abs. 4. Giese—Schunck, Erläutg. I I 8 zu A r t . 63. 3 A r t . 63 Abs. 4 Satz 3. 4 Siehe etwa A r t . 53 u n d 54 W V , wo ein Minderheitenkanzler nicht v o r gesehen war. I n der Verfassungspraxis ernannte der Reichspräsident einen Reichskanzler, der f ü r sein Legislativprogramm keine koalitionsmäßig abgesicherte Mehrheit h i n t e r sich hatte u n d m i t wechselnden Mehrheiten regierte; auf ein ausdrückliches Mißtrauensvotum A r t . 54 Satz 2 W V mußte auch er zurücktreten. Vgl. hierzu Starck, S. 75,76. 5 Sternberger (III), S. 18 f. 2

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I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

geben®. I m gleichen Augenblick, i n dem sich die Unfähigkeit des Bundestags zur qualifizierten Mehrheitsbildung manifestiert, hat der Bundespräsident m i t obigen Entscheidungsalternativen einzugreifen. Er ist dabei nach A r t . 63 Abs. 4 GG legitimiert, der eine i n gesetzliche Formen gegossene Verkörperung der i m Krisenfall auflebenden Reservemacht des Staatsoberhaupts darstellt. Nur bei diesem Abstimmungsergebnis beteiligt das Grundgesetz neben dem Bundestag auch den Bundespräsidenten an der sachlichen Entscheidung über die Bestellung des Kanzlers. Die eigentliche parlamentarische Legitimierung bleibt dem Bundestag insofern vorbehalten, als der Bundespräsident nur den immerhin m i t den meisten Stimmen gewählten Kandidaten ernennen darf. Die Möglichkeit einer Aktivierung der Reservemacht w i r k t sich jedoch mittelbar bereits auf die Berufung des Bundeskanzlers i m ersten und zweiten Wahlgang aus: die Parlamentarier können durch die Befugnis des Bundespräsidenten, einen Minderheitenkanzler zu berufen, unter Druck gesetzt werden 7 . Gibt nämlich der Präsident zu verstehen, daß er einen bestimmten Kandidaten auf jeden Fall zum Kanzler ernennen wird, so weit dieser die relative Mehrheit erreicht, so werden die kleineren Parteien ihre bisherige ablehnende Haltung nochmals überprüfen, ehe sie auf die Vorteile einer Regierungsbildung verzichten 8 . M i t der Auflösungsbefugnis erhält der Bundespräsident ein weiteres, schärferes Druckmittel. Der Auflösung des Bundestags haben innerhalb von 60 Tagen Neuwahlen zu folgen®, die besonders i m Anschluß an eine Bundestagswahl für die Abgeordneten Zeit- und Kräfteverschleiß und die Gefahr eines Mandatsverlustes, für die Parteien finanzielle Belastungen und mögliche Prestigeeinbußen bedeuten 10 . Auch die Aussicht auf diese Schwierigkeiten w i r k t kompromiß- und koalitionsfördernd. Der Bundespräsident richtet m i t der Auflösung einen Appell an das Volk, die Wahlentscheidung zu korrigieren 1 1 . Bei dem geltenden deutschen Verhältniswahlrecht sind zwar Stimmenbewegungen nicht unmittelbar, sondern nur proportional i n Mandatsverteilungen zu transponieren", was die Wirksamkeit des Auflösungsrechts als M i t t e l zur sicheren 6

Amphoux, S. 84. Eschenburg (III), S. 643. So meint Kaltefleiter (I), S. 219, daß die A n k ü n d i g u n g des Bundespräsidenten, i m Zweifel L u d w i g Erhard auch als Minderheitskanzler zu berufen, die Einigung bei der Regierungsbildung 1965 „zweifellos beschleunigen könne". • A r t . 39 Abs. 1 GG. 10 Seit dem U r t e i l des B V e r f G über die Parteien-Finanzierung v o m 19.7. 1966, BVerfGE 20, 56, sind diese Gefahren gemindert worden. 11 Kehlenbeck, S. 34. 12 Wildenmann, R., W. Kaltefleiter u n d U. Schleth, „Die A u s w i r k u n g e n verschiedener Wahlsysteme auf das Parteien- u n d Regierungssystem der B u n desrepublik", i n : Z u r Soziologie der Wahl, S. 80 if. 7 8

3. Abschn.: I n i t i a t i v e des Bundestags

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Mehrheitsbildung beschränkt 13 . Dennoch könnte eine geringe Verschiebung der Stimmenverteilung den „machtpolitischen Datenkranz entscheidend verändern", wenn i n der vorangegangenen Bundestagswahl die absolute Mehrheit von einer Partei nur knapp verfehlt wurde 1 4 . 1. Das Wahlverfahren

Der einmalige, letzte Wahlakt gemäß A r t . 63 Abs. 4 GG hat unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern 15 nach Ablauf einer Frist von 14 Tagen stattzufinden 18 . Dabei ist aus den gleichen Erwägungen wie beim Ubergang von der ersten zur zweiten Wahlphase für den letzten Wahlgang eine eigene Sitzung anzuberaumen, insbesondere, u m i n der Zwischenzeit den Parteien Gelegenheit zu nochmaligen Verhandlungen zu geben. I m übrigen gelten für das Verfahren des dritten Wahlgangs die gleichen Vorschriften wie für die zweite Wahlphase, eine Aussprache i m Plenum des Bundestages vor der Abstimmung ist auch hier zulässig; gleichzeitig gilt das Erfordernis des § 4 Abs. 5 GeschOBT 17 . I n der Wahlphase drei ist gewählt, wer die meisten Stimmen erhält. Dabei ist möglich, daß der Kandidat die absolute Mitgliedermehrheit oder die relative Abstimmungsmehrheit erhält. I m ersteren Fall hat der Bundespräsident den Kandidaten zum Bundeskanzler zu ernennen. 2. Die Ernennung gem. Art. 63 Abs. 4 Satz 2 G G

Hier bestehen keine Unterschiede zu den Pflichternennungen nach Art. 63 Abs. 1 und 2 GG. Bei einer Weigerung des Bundespräsidenten bestehen dieselben Sanktionsmöglichkeiten wie i n den übrigen Fällen der Wahl eines Mehrheitskanzlers. 3. Die Reservemacht des Bundespräsidenten gem. Art. 63 Abs. 4 Satz 3 G G

Erringt ein Kandidat nur die Stimmen der relativen Mehrheit, so hat der Bundespräsident nach dem i h m anvertrauten alternativ-obligatorischen Wahlrecht innerhalb von 7 Tagen den Gewählten zum Bundeskanzler zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen. 13 Ausführungen zu den W i r k u n g e n v o n Verhältnis- u n d Mehrheitswahl machen: Hennis , W., Parlamentarische Opposition u n d Industriegesellschaft, i n : Gesellschaft, Staat, Erziehung, 5 (1956), S. 209 ff.; Hermens, F. Α., M e h r heitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht, S. 72 f.; Hermens—Unkelbach, Die Wissenschaft u n d das Wahlrecht, i n : Politische Viertel Jahresschrift, 8. Jg. 1967 Heft 1, S. 2 ff. 14 So Kaltefleiter (I), S. 220. 15 § 121 Abs. 2 BGB. le A r t . 63 Abs. 4 Satz 1. 17 Amphoux, S. 89.

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I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

a) Problematische

Fallgestaltungen

aa) Das Grundgesetz geht von der Voraussetzung aus, i n der dritten Wahlphase wenigstens eine relative Mehrheit zu erreichen. I n der Verfassung findet sich keine ausdrückliche Regelung für den Fall, daß der Bundestag überhaupt nicht zur Wahl schreitet. Zutreffend bemerkt von Mangoldt 1 8 zur Entschuldigung des Verfassungsgebers, daß eine Verfassung nicht jeden theoretisch denkbaren Fall vorhersehen könne und immer mit der grundsätzlichen Einsicht der Parteien rechnen müsse. Sicherlich soll eine Verfassung, u m nicht an Klarheit und Eindringlichkeit zu verlieren 1 9 , nur die i m Bereiche der Wahrscheinlichkeit liegenden Konflikte zu regeln suchen 20 . I m obigen Fall ist es allerdings unwahrscheinlich, daß sich der Bundestag i n der Obstruktion vollständig einig ist. I n Anbetracht des ansonsten von den Verfassungsvätern mit dem Grundgesetz verfolgten Strebens nach Konfliktsvorbeugung bzw. -regelung mag es erstaunen, daß dem Staatsoberhaupt anscheinend keine Waffe gegen ein sich vollkommen i n die Obstruktion begebendes Parlament übertragen wurde 2 1 . Dennoch verpflichten die der Staatsrechtswissenschaft gesetzten Ziele 22 dazu, auch für diesen Fall eine Entscheidung zu suchen. Nawiasky 2 3 hält zwei Wege für gangbar: Entweder sollte der Bundespräsident nach A r t . 69 Abs. 3 einen geschäftsführenden Bundeskanzler ernennen oder den Bundestag auflösen. Von Mangoldt 2 4 wiederum erachtet die Auflösung für unzulässig und fordert die Ernennung eines geschäftsführenden Kanzlers gemäß A r t . 69 Abs. 3 GG. Die Zulässigkeit der Auflösung ergibt sich aber bereits als logische Folgerung aus der Anlage des Grundgesetzes und der „Gleichheit der ratio legis" 25 . Das sogenannte „argumentum a maiore ad minus" besagt, daß i n einer weitergehenden Regel die weniger weitgehende enthalten ist 2 6 . Dies bedeutet für die vorliegende Frage: Wenn der Bundespräsident nach A r t . 63 Abs. 4 GG sogar einen zu beschränkter demokratischer Legitimierung befähigten Bundestag, der einen Minderheitskanz18

von Mangoldt—Klein, S. 225. s. Hesse, Normative K r a f t . 20 Z u m T e i l ist bewußt auf jede Vollständigkeit verzichtet worden, u m der politischen W i r k l i c h k e i t zu gewähren, vgl. Schmid, K a r l , Regierung u n d Parlament, i n : Recht, Staat, Wirtschaft, 1951, S. 96. 21 Rechtsvergl. Material über solche Parlamentsauflösungen zu Beginn der Legislaturperiode bringt Kehlenbeck, S. 34 ff.; Nawiasky (IV), S. 87, erblickt darin sogar ein Versagen des Parlamentarischen Rates. 22 Vgl. die Stellungnahme von der Heydtes, i n v. d. Heydte—Sacherl, Soziologie der deutschen Parteien, München 1955, S. X V . 23 Nawiasky (IV), S. 87. 24 Bonner Grundgesetz, S. 225. 25 Larenz, S. 295. 26 Larenz, S. 294. 19

3. Abschn. : Initiative des Bundestags

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1er gewählt hat, auflösen kann, so muß dies erst recht für ein Parlament gelten, das überhaupt nicht zu einer Mehrheitsbildung i n der Lage ist. Die beiden Fällen gemeinsame „ratio legis" wäre die Möglichkeit einer Revision der Wahlentscheidung durch das Wählervolk. Ernennt der Bundespräsident einen geschäftsführenden Bundeskanzler, so wäre dies verfassungsgemäß, weil sogar i m Falle der relativen Mehrheit eines Kandidaten dessen Ernennung zum Minderheitenkanzler, wie auch die Auflösung des Bundestages, möglich wäre. Dies muß erst recht dann gelten, wenn der dritte Wahlgang infolge der Obstruktion des Bundestages überhaupt nicht stattfindet. Würde dem Bundespräsidenten die Möglichkeit der Auflösung versagt, so läge es i n der Hand des Bundestages, durch Nichtausübung seiner Wahlfunktion i n der dritten Wahlphase zu verhindern, daß die Voraussetzungen einer Auflösung überhaupt eintreten. Die i n A r t . 63 Abs. 4 GG zum Ausdruck gelangende Sorge u m die Kontinuität und den Bestand arbeitsfähiger Verfassungsorgane stünde i m Widerspruch zu einem solchen Ergebnis. A n diesem Beispiel w i r d deutlich, daß der Bundespräsident des „Normalfalles" und der Krisen-Bundespräsident zwei scharf voneinander getrennte Figuren sind und der E i n t r i t t der Krise „die eine i n die andere verwandelt" 2 7 . Aber selbst die krisenbedingte Aktivierung der Reservemacht schließt die Möglichkeit für den Bundespräsidenten aus, eine eigene Politik i m Rahmen der i h m eingeräumten Verhaltensalternativen zu verfolgen. Die Reservemacht dient ausschließlich dazu, Störungen i m Zusammenwirken der verschiedenen Verfassungsorgane des Regierungssystems zu beseitigen 28 . Bei Beschränkung auf dieses Ziel „ w i r d die Öffentlichkeit, werden die Parteien den Einfluß des Bundespräsidenten seiner Überparteilichkeit zugute halten und i h n soweit akzeptieren und respektieren; was als politische Reservemacht i m Bundespräsidenten steckt, bedarf der Schonung i n Normalzeiten. Je freier sich der Bundespräsident vom politischen Tagesdenken i n Zeiten der Ruhe hält, desto freier sind seine Hände für den Fall, i n dem er nach dem W i l l e n der Verfassung Krisenentscheidungen zu treffen hat" 2 9 . Der obengenannte Fall ist aber nicht nur bei einer Obstruktion der Wahl durch den Bundestag denkbar, sondern kann auch dann eintreten, wenn etwa i m Parlament fünf gleichstarke Gruppen vorhanden wären, ohne daß sie sich auf einen Kandidaten einigen könnten. N u n gilt aber auch hier die Voraussetzung des § 4 Abs. 5 GeschOBT 30 , was zur Folge hat, daß kein Kandidat 27

F r a n k f u r t e r Allgemeine Zeitung v o m 14.10.1965. Kaltefleiter (I), S. 224. 29 F r a n k f u r t e r Allgemeine Zeitung v o m 14.10.1965. 30 Wahlvorschläge aus der M i t t e des Bundestags bedürfen der Unterstützung durch mindestens ein V i e r t e l seiner Mitgliederzahl. 28

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I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

aufgestellt und keine Wahl vorgenommen werden kann, da A r t . 63 Abs. 4 GG das Merkmal der „relativen Mehrheit" nicht näher beschreibt. Der Bundespräsident könnte aus diesem Grunde auch keinen Minderheitenkanzler ernennen, obwohl das Grundgesetz keine Mindeststärke für die Minderheit vorschreibt. § 4 Abs. 5 GeschOBT hat also möglicherweise zur Folge, daß dem Bundespräsidenten tatsächlich kein Wahlrecht zwischen Auflösung und Ernennung des Minderheitenkanzlers zusteht. Es ist daher Münch 8 1 zuzustimmen, wenn er den Bundespräsidenten so handeln lassen w i l l , als ob der letzte Wahlgang m i t der Wahl eines Minderheitenkanzlers geendet hätte und er aus tatsächlichen Gründen an der Ausübung seiner Befugnis zur Ernennung des Minderheitenkanzlers gehindert wäre. Dabei stünde dem Bundespräsidenten der Weg einer Parlamentsauflösung i n jedem Falle offen. Das Recht, den bisherigen Bundeskanzler gemäß A r t . 69 Abs. 3 GG m i t einer weiteren Führung der Geschäfte zu beauftragen, w i r d dadurch nicht beseitigt. bb) Zweifel an der Durchsetzbarkeit des alternativ-obligatorischen Wahlrechts ergeben sich auch i m folgenden Fall: I m dritten Wahlgang ist derjenige gewählt, der die meisten Stimmen erlangt hat. Die so umschriebene, relative Mehrheit setzt begrifflich das Auftreten von zwei Bewerbern voraus. Wenn aber nun nur ein einziger Kandidat gewählt wird, ohne die absolute Mehrheit zu erreichen, so würde der Verfassungswortlaut dem Bundespräsidenten die Ernennung des Minderheitenkanzlers und zusätzlich die Auflösung des Bundestags untersagen. Eine solche, wörtliche Interpretation würde dem Gebot staatlicher Kontinuität widersprechen. I n einem Bundestag m i t mehreren Parteien, von denen keine über die absolute Mehrheit verfügt, läge es i n der Hand der übrigen Parteien, durch Nichtbeteiligung an der Wahl zu verhindern, daß die relativ größte Minderheit den Bundeskanzler stellt. Daher liegen auch bei der Wahl des einzigen Kandidaten zum Minderheitenkanzler die Voraussetzungen für das alternativ-obligatorische Wahlrecht des Bundespräsidenten vor 8 2 . cc) Der dritte Wahlgang kann aber auch das Ergebnis der gleichen Stimmenzahl für zwei Bewerber erbringen. Jellinek 8 8 meint, daß dann das Los entscheiden müsse, welcher der beiden Kandidaten als gewählt zu gelten habe. Eine Stichwahl komme nicht i n Frage, da nach dem W i l len des Grundgesetzes der dritte Wahlgang endgültig der letzte sein 81 Münch, S. 141 ; Münch erörtert auch die Frage der Verfassungsmäßigkeit des § 4 GeschOBT. 82 Giese—Schunck, Erl. I I 8 zu A r t . 63. 88 V V D S t R L 8 S. 9 u n d 10; D Ö V 1949 S. 382.

3. Abschn.: I n i t i a t i v e des Bundestags

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solle. Demgegenüber lehnen Münch 8 4 und andere Autoren 8 5 den Vorschlag Jellineks ab: zwar sei unter bestimmten Voraussetzungen der Losentscheid bei der Wahl des Bundestagspräsidenten vorgesehen 86 , doch ließe sich diese Regelung nicht auf die Kanzlerwahl übertragen. Der Bundeskanzler bekleide nicht wie der Bundespräsident ein vor allem m i t wesentlichen technischen und repräsentativen Funktionen versehenes Amt, sondern seiner Stellung komme hervorragende politische Bedeutung zu. Tatsächlich würde es einen Rückfall i n vergangene archaische Rechtszustände bedeuten, wenn das „ordalhaft" anmutende Losverfahren 87 entscheiden müßte, welche politische Richtung i n nächster Zeit die Staatsführung prägt; überdies stünden rationellere Wege einer Entscheidungsfindung zur Verfügung 8 8 . Bei seinem eigenen Lösungsvorschlag nimmt Münch 8 9 i n Kauf, daß dem Grundgesetz „auf jeden Fall etwas Gewalt geschehen" müsse. Dem Geiste der Verfassung entspreche es am meisten, wenn der Bundespräsident nicht nur über die Frage entscheiden solle, ob er einen Minderheitenkanzler ernennen w i l l , sondern auch, welchen von zwei Kandidaten m i t gleicher Stimmenzahl er beruft. Ein solches Wahlrecht sehen Maunz—Dürig—Herzog 40 wegen der starken Stellung des Bundeskanzlers gem. A r t . 67 GG als bedenklich an. Zuzugeben ist, daß damit dem Bundespräsidenten i n der Tat ein freies Benennungsrecht m i t Wahlmöglichkeiten zwischen mehreren Bewerbern eingeräumt würde, das dem Sinn des Grundgesetzes widersprechen würde. Die philologisch-grammatikalische Interpretation 4 1 weist jedoch einen Lösungsweg, der die Nachteile des Münchschen Vorschlags vermeidet: den meisten Stimmen stehen als Korrelat ein Weniger an Stimmen gegenüber. Entfällt nun auf zwei Bewerber die gleiche Stimmenzahl, so haben sie zwar i m Außenverhältnis — gegenüber den übrigen Kandidaten — die meisten Stimmen erreicht, i n ihrem Verhältnis zueinander jedoch liegt Stimmengleichheit vor. Es kann aber nur dann von den meisten Stimmen eines Kandidaten gesprochen werden, wenn jeder andere Bewerber weniger erhalten hat. Bei Stimmengleichheit ist deshalb kein 34

Münch, S. 142/3. von Mangoldt—Klein, S. 342; Merk, V V D S t R L Heft 8 S. 60. 36 Gem. § 2 Abs. 2 S. 4 GeschOBT bei Stimmengleichheit. 37 Siehe hierzu f ü r das Losverfahren allgemein, Nottarp, Hermann, Gottesurteilsstudien, München 1956, S. 37. 38 So könnte etwa die Stimme des Parlamentspräsidenten den Ausschlag geben, oder der älteste K a n d i d a t gewählt sein, w i e es die Verfassung v o n Estland 1937 vorgeschrieben hatte; Meder, Erläuterg. I I 4 zu A r t . 63. 39 Münch, S. 142,143. 40 A n m . 5 zu Erl. 63. 41 Stein, S. 245. 35

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I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

i m Sinne von A r t . 63 Abs. 4 Satz 1 GG m i t den meisten Stimmen gewählter Kandidat vorhanden, der vom Bundespräsidenten ernannt werden könnte. Der Wahlgang ist daher als gescheitert zu betrachten und die letzte Wahl noch nicht beendet 42 . Bei Stimmengleichheit der Spitzenkandidaten ist der Wahlakt also unverzüglich zu wiederholen 48 . Meder 44 verlangt m i t gutem Grund, daß der Bundestag i n seiner Geschäftsordnung über diese Frage Klarheit schaffen müsse. Dabei würde eine Ausgestaltung der zweiten Abstimmung als Stichwahl eine erneute Stimmengleichheit verhindern. dd) Dem Bundespräsidenten wurde i n A r t . 63 Abs. 4 Satz 3 GG für seine Entscheidung eine Frist von sieben Tagen bestimmt. Diese Zeitspanne ist — etwa i m Verhältnis zu der i n A r t . 68 gewährten Frist von 21 Tagen und der vom Bundespräsidenten zu entwickelnden politisch folgereichen Ermessensentscheidung — verhältnismäßig kurz. Erhebt der Bundespräsident gegen den gewählten Minderheitenkanzler und die von diesem vertretene Politik keine Bedenken, so w i r d er i h n ernennen. Zur Auflösung des Bundestages w i r d es nicht ohne weiteres kommen, weil von kurzfristig nach den regulären Bundestagswahlen stattfindenden Neuwahlen keine wesentlichen Veränderungen i n der Zusammensetzung des Parlaments zu erwarten sind. Die Entscheidung des Bundespräsidenten richtet sich auch nach dem Ergebnis einer Sondierung der Verhältnisse beim Bundesrat dahingehend, ob dieser gegebenenfalls bereit wäre, durch Zustimmung zur Erklärung des Gesetzgebungsnotstands die Regierung zu unterstützen. Damit sei nur angedeutet, daß die Frist von 7 Tagen dem Bundespräsidenten i n schwierigen Situationen vielleicht nicht genügt, von seinem Ermessen i n zweckmäßiger Weise Gebrauch zu machen. Es ist daher die Frage bedeutsam, ob dem Bundespräsidenten auch nach Ablauf der Frist noch beide Alternativen uneingeschränkt zur Verfügung stehen. Nach Maunz—Dürig—Herzog 45 soll das Recht zur Auflösung erlöschen und eine Pflicht zur Vornahme der Ernennung bestehen. Von anderer Seite 48 wurde diese Auffassung kritisiert. Der Bundestag gilt nach Ablauf der 7-Tages-Frist als aufgelöst, soweit der Bundespräsident keine Entscheidung trifft. Dafür spreche zunächst die Bezogenheit der Frist auf die Ernennung 47 , sowie ihre gleichzeitige Gel42 43

S. 60. 44

Merk, V V D S t R L Heft 8, S. 60. von Mangoldt—Klein, S.342; Ritzel—Koch,

§4, A n m . 3, S. 25; Merk,

N.,

Erl. 11 4 zu A r t . 63. Rdz. 7 zu A r t . 63; ebenso Meder, Erl. I I 8 zu A r t . 63; Seifert—Geeb, S. 140; Jellinek, Walter, V V D S t R L 8 S. 9 f. 46 von Mangoldt—Klein, S. 1236. 47 A r t . 63 Abs. 4 Satz 2. 45

3. Abschn. : I n i t i a t i v e des Bundestags

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tung für Satz 3 des A r t . 63 Abs. 4 GG. Sollte sich der Bundespräsident i n den 7 Tagen nicht zur Ernennung entschließen können, so bestünden wegen der darin deutlich zum Ausdruck gelangenden politischen Situation keine Hoffnungen auf eine funktionstüchtige Regierung; der Bundespräsident dürfe daher nach Ablauf der Frist nicht zur Berufung eines Minderheitenkanzlers an der Spitze einer zur Verwirklichung ihrer politischen Ziele unfähigen Regierung verpflichtet werden. Demgegenüber ist aber die Möglichkeit i n Erwägung zu ziehen, daß der Bundespräsident aus irgendwelchen Gründen die der Wahl folgende Ernennung über den Ablauf der Frist hinauszögern muß und die Auflösung aus den angeführten Nachteilen und Risiken 4 8 gar nicht ins Auge gefaßt hatte. Sicherlich mögen während des Laufs der Frist — unabhängig von ihrer Wortstellung — Ernennung und Auflösung gleichberechtigt nebeneinander stehen. Doch dann w i r d die vom Grundgesetz gewünschte beschränkte Anwendbarkeit des Auflösungsrechts 49 wieder wirksam. Die Auflösung nach A r t . 63 Abs. 4 GG dient vor allem dazu, „aus dem Bundestag die letzten Möglichkeiten zur Wahl eines Mehrheitskanzlers herauszuzwingen" 50 . Außerhalb der oben bezeichneten Frist verdrängt daher auch die schwache parlamentarische Legitimierung das Auflösungsrecht des Bundespräsidenten. Auch ergeben sich Zweifel an der Zulässigkeit der „nachgeschobenen" Auflösung insoweit, als mit ihr eine langwährende Amtsdauer des geschäftsführenden Bundeskanzlers verbunden ist. Zugunsten einer Ernennungspflicht des Bundespräsidenten nach A b lauf der vorgesehenen Frist ließe sich noch ein teleologisches Motiv anführen: was würde bei Annahme eines uneingeschränkt weiterbestehenden Ermessens des Bundespräsidenten geschehen, wenn dieser sowohl die Ernennung als die Auflösung verweigern würde? Eine Klage des Bundestags 51 gem. A r t . 93 Abs. 1 Satz 1 GG würde nur zu einem verfassungsgerichtlichen Feststellungsurteil 52 des Inhalts führen, daß die Unterlassung des Bundespräsidenten gegen den A r t . 63 Abs. 4 GG verstößt. Die Vollstreckung gemäß § 35 BVerfGG würde große Schwierigkeiten bereiten, da das Gericht zwar das Vorliegen eines Ermessensbereichs und auch dessen Verletzung feststellen, nicht aber das Ermessen selbst ausüben darf; dies gilt freilich auch für eine Vollstreckung unter Heran48 Siehe auch Hermens (II), S. 451; auch hat der Minderheitenkanzler die Möglichkeiten aus A r t . 68, 81 GG. 49 von Mangoldt (III), S. 697,699. 50 F r a n k f u r t e r Allgemeine Zeitung v o m 14.10.1965. 51 Unter der Behauptung der Verletzung seiner W a h l f u n k t i o n durch den Bundespräsidenten. 52 §67 BVerfGG.

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I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

Ziehung des Rechtsgedankens von § 894 ZPO 5 3 . I n diesem Falle bliebe dann nur noch das Anklageverfahren gemäß A r t . 61 GG, dessen Einleitung aber bereits an den hierfür erforderlichen Mehrheiten scheitern dürfte. N i m m t man aber eine Ernennungspflicht bei Wegfall einer Ermessensalternative an, so würde nach verfassungsgerichtlicher Feststellung einer Verfassungsverletzung durch den Bundespräsidenten eine Vollstreckung gemäß § 35 BVerfGG unter Heranziehung des Rechtsgedankens i m § 893 ZPO möglich sein. Als funktionales Argument bietet sich noch der Hinweis auf die vom Bundespräsidenten wahrzunehmende Kontinuitätsfunktion und die daraus fließende Sorge für eine schnelle Regierungsbildung und Kanzlerwahl. Die m i t Hilfe der funktionalen Methode gewonnenen Ergebnisse werden i n ansonsten unentschiedenen Fällen als Entscheidungshilfe herangezogen 54 : auch hier gibt sie den Ausschlag, als außerhalb der 7-TageFrist das dort künstlich hergestellte Gleichgewicht zugunsten der Ernennungspflicht bei Ausschaltung der weiteren Verhaltensalternative aufgelöst werden muß. ee) Zur Rechtswirksamkeit der Wahl ist die Annahme durch den Gewählten erforderlich 5 5 ' 5 e . Dabei ist besonders i m Fall eines nur von einer Minderheit Gewählten die Wahrscheinlichkeit groß, daß der Kandidat die Wahl ablehnt, w e i l er die Verwirklichung seiner politischen Ziele angesichts der Mehrheitsverhältnisse für unwahrscheinlich hält. I m Falle der Ablehnung ist der letzte Wahlgang gescheitert. Da dem Bundespräsidenten bereits bei vollendeter rechtswirksamer W a h l m i t relativer Mehrheit das Recht zur Auflösung des Bundestags zusteht, muß dies erst recht für die gescheiterte Wahl gelten 57 . Das Auflösungsrecht ist an die tatsächlich vorliegende Möglichkeit des Bundespräsidenten gebunden, von seinem Wahlrecht i m Wege der anderen Alternative Gebrauch zu machen und den Kandidaten einer M i n derheit zu ernennen. Die Auflösung ist ab dem Zeitpunkt zulässig, i n dem die Unfähigkeit des Bundestags feststeht, einen Kandidaten m i t absoluter Mehrheit zu wählen. Gegen den Gedanken, nach Ablehnung der Wahl durch den Kandidaten der relativ größten Minderheit auf den Bewerber m i t der zweit53 Eyermann-Fröhler, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, M ü n chen—Berlin 1972, Rdz. 9 a zu f. 114 V w G O , sehen richtig den K e r n p u n k t des Problems i n der Frage, w e m die letzte Entscheidung überantwortet sein sollte: bei einem Rechtsbegriff ist die Entscheidung gerichtlich i m vollen Umfang nachprüfbar, während bei einer Ermessensentscheidung die v o m Gericht nicht ersetzbare A u s w a h l zwischen gleichermaßen rechtmäßigen Entscheidungen der Verwaltungsbehörde zusteht. 54 Luhmann, Niklas, Funktionale Methode u n d juristische Entscheidung, i n : AÖR, Bd. 94, Tübingen 1969, S. 22. 56 von Mangoldt—Klein, S. 1232; Münch, S. 139. 57 A r g u m e n t u m a maiore ad minus.

3. Abschn. : I n i t i a t i v e des Bundestags

317

größten Stimmenzahl zurückzugreifen und diesen zum Minderheitenkanzler zu ernennen, erheben sich mehrere Einwände: Die wortgetreue Interpretation des A r t . 63 Abs. 4 Satz 1 GG verlangt die Berücksichtigung des Kandidaten m i t den meisten Stimmen, und sie w i r d bestärkt durch das Argument der breitesten parlamentarischen Unterstützung. Schließlich würden Spannungen unvermeidbar sein, wenn eine Minderheitengruppe ihre Machtübernahme nur der Ablehnung der Wahl durch den Kandidaten der größeren Minderheit verdankt. Aus diesem Grunde scheint eine Wiederholung des Wahlgangs angebracht 58 . Sollte ein m i t der Mitgliedermehrheit gewählter Kandidat die Annahme der Wahl ablehnen, so hätte das sogar die Verpflichtung des Bundespräsidenten zur Folge, einen weiteren Wahlgang abzuwarten, w e i l eine Auflösung eine anscheinend sachlich mögliche Mehrheitsbildung verhindern oder für längere Zeit aufschieben würde 5 9 . Schließlich ist auch noch der F a l l denkbar, daß ein obstruierender Bundestag einen Mehrheitskanzler wählt, der dann aber vereinbarungsgemäß die Annahme der Wahl ablehnt. I n dieser Situation brauche, so argumentiert Münch 60 , der Bundespräsident die Scheinwahl nicht zu berücksichtigen, so daß i h m das alternativ-obligatorische Wahlrecht zwischen Ernennung und Auflösung weiterhin zustünde 61 . M i t der vorgetäuschten Mehrheitswahl verletzt der Bundestag die i h m vom Grundgesetz62 übertragene Wahlfunktion: der Scheinakt der Mehrheitswahl ist insoweit nichtig 6 8 und für den Bundespräsidenten unbeachtlich. Das i n Wirklichkeit von der negativ geeinten Mehrheit angestrebte Ziel, die Verhinderung einer von der Mitgliedermehrheit getragenen Bundeskanzlerwahl oder überhaupt einer schleunigen Regierungsbildung, muß i n der i n A r t . 63 Abs. 4 GG vorgesehenen Rechtsfolge wirksam werden 64 : der Bundespräsident besitzt das Wahlrecht zwischen Ernennung und Auflösung. b) Verfahren aa) Die vom Bundespräsidenten nach Ausübung seines Wahlrechts und i m Rahmen der Reservemacht vorgenommene Ernennung unterscheidet sich hinsichtlich der Legitimationsgrundlage von den entsprechenden Vorgängen der übrigen Wahlphasen des A r t . 63: Während nach A r t . 63 Abs. 2, 3, 4 Satz 2 GG der Bundestag die Alleinentscheidung über die Bestellung des Bundeskanzlers trifft, während der Bundespräsident 58 59 80 61 62 88 64

Münch, S. 144. Münch, S. 144. Münch, S. 145. So auch von Mangoldt—Klein, S. 1238. A r t . 63 GG. Unter A n w e n d u n g des Rechtsgedankens i n § 117 BGB. Palandt, A n m . 3 zu § 117.

318

I. Teil, 2. Kap.: Bestellung der Regierungschefs i n Deutschland (C)

i m Bereiche der Initial- und Vollzugsfunktion verbleibt, partizipiert er nach A r t . 63 Abs. 4 Satz 3 GG an der Entscheidungsmacht über die Besetzung des Kanzleramtes. Jetzt muß zum Votum der relativen Mehrheit noch das des Bundespräsidenten hinzukommen, das kein freies Ernennungsrecht, sondern an die Entscheidung der relativen Mehrheit des Bundestags gebunden und i m formellen A k t der Ernennung konkludent enthalten ist. Der Formalakt weist keine Unterschiede zu den übrigen Ernennungen auf. Auch darf er nicht ohne vorausgegangene wirksame Wahl vollzogen werden. Auch bei i h m handelt es sich u m einen einseitigen, zustimmungsbedürftigen Staatshoheitsakt. Die Zustimmung des zu Ernennenden braucht nicht ausdrücklich erteilt zu werden. Eine Wahlannahmeerklärung dürfte auch hier konkludent die Zustimmung zur Ernennung mitenthalten. bb) Gemäß A r t . 58 Satz 2 GG bedarf die Auflösung nach A r t . 63 Abs. 4 GG nicht der ministeriellen Gegenzeichnung. Diese Regelung ist auch zweckmäßig, w e i l bei einer Erstregierungsbildung am Beginn der Legislaturperiode ein gegenzeichnungsiähiger Kanzler noch fehlt und ein Grund für einen geschäftsführenden Kanzler, die Gegenzeichnung zu verweigern, kaum denkbar ist. Das Grundgesetz trifft keine Aussage über die Rechtsnatur der Auflösungserklärung. I n Betracht kommen dabei ein einfaches Gesetz, eine Verordnung oder eine Verfügung. U m ein Gesetz kann es sich bei der Auflösungserklärung deshalb nicht handeln, weil grundsätzlich dem Bundestag die Gesetzgebungszuständigkeit vorbehalten ist, während der Bundespräsident nach A r t . 82 die Gesetze verkündet. I n Ermangelung des abstrakt-generellen Charakters kann die Auflösung auch nicht als Rechtsverordnung angesehen werden 6 5 . Die Auflösung stellt sich dar als „ein den konkreten Einzelfall bestimmender, seine K r a f t an i h m erschöpfender Staatsakt" 6 6 . Die Auflösungsverfügung richtet sich an den Bundestag. Daher kann weder ihr bloßer Erlaß durch den Bundespräsidenten noch ihre tatsächliche Kenntnisnahme durch den Bundestag — ihre Rechtswirkungen wären sonst von diesem abhängig — für die Rechtswirksamkeit ausreichen 67 : maßgebend ist daher der Zeitpunkt, i n dem der A k t i n den Machtbereich des Empfängers gelangt. M i t dem Zeitpunkt des Empfangs durch den Bundestag w i r d die Auflösung rechtswirksam, d. h., grundsätzlich m i t der Mitteilung i n einer Vollsitzung oder schriftlicher Zustellung an den Präsidenten des Bundestags 68 . Die Auflösungserklärung ist also eine empfangsbedürftige Verfügung des Bundespräsidenten 69 . 65 66 87

Anschütz, A n m . 3 zu A r t . 25. Anschütz, ebd. Palandt, A n m . 1 b zu § 130 BGB.

3. Abschn.: Initiative des Bundestags

319

Von Mangoldt-Klein 7 0 erachten auch die Veröffentlichung i n Tageszeitungen und i m Rundfunk als genügend, da nach heutiger Verkehrssitte Mitteilungen i n dieser Form den Empfänger erreichen können 71 . Ob die Auflösungsverfügung dem Bundestag verkündet oder schriftlich zugestellt wird, ist ein technisches Problem. Die Weimarer Verfassungspraxis kannte beide Formen 72 . Nach A r t . 39 Abs. 1 Satz 2 GG endet m i t dem Zeitpunkt des W i r k samwerdens der Auflösungsverfügung die Wahlperiode des Bundestags. Gleichzeitig beginnt die 60-Tage-Frist des A r t . 39 Ab. 1 Satz 3 GG zu laufen, innerhalb der die Neuwahlen stattzufinden haben 78 . Ebenso erlöschen alle Rechte des Bundestags, die Mitgliedschaftsrechte und die i n Art. 46 und 47 GG aufgezählten Vorrechte entfallen für die meisten Abgeordneten. Ausnahmen gelten nur für die Mitglieder des Präsidiums, des Ständigen Ausschusses, des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten und des Ausschusses für Verteidigung, sowie deren erste Stellvertreter 7 4 . Die Auflösungsverfügung kann nicht rückgängig gemacht werden, sie ist unwiderruflich und selbst dann nicht rücknehmbar, wenn der Bundestag unmittelbar nach der Bekanntgabe der Auflösungsverfügung einen Kanzler m i t der Mehrheit seiner Mitglieder gewählt hätte. Die Unwiderruflichkeit folgt aus dem Begriff der Auflösung selbst. Einen neuen Bundestag hervorzubringen obliegt allein dem Wählervolk 7 5 ; der Bundespräsident kann einen einmal aufgelösten Bundestag nicht wiederbeleben 7®.

68

von Mangoldt—Klein, S. 1239, f ü r W V Anschütz, G., A n m . 1 zu A r t . 25; Poetzsch-Heffter, Jahrbuch f. öffentl. Recht Bd. 13, S. 161; z. verfassungsrechtlichen Diskussion über die umstrittene Reichstagsauflösung v o m 12. 9.1932 s. Fricke, Helma, Die Reichstagsauflösung d. J. 1932 u n d das parlamentarische System d. W V , i n : Der Staat, 1. Bd. 1962 Heft 1/4 S. 199 ff. 69 Seifert—Geeb, S. 140 f. 70 von Mangoldt—Klein, S. 1239. 71 Palandt, A n m . 2 zu § 130. 72 Siehe die bei Anschütz, A n m . 1 zu A r t . 25 aufgeführten Beispiele. 73 Fristberechnung gem. § 186 ff., 187 Abs. I BGB. 74 A r t . 49. 75 A r t . 38 Abs. I . 76 Siehe Pohl, H., Die Auflösung des Reichstags, Tübingen 1930, S. 29 f.

ZWEITER H A U P T T E I L

Beendigung der Rechtsstellung der Regierungschefs

Ein vorgegebenes, über das Verfassungsorgan „Parlament" verfügendes System t r i t t erst dann i n das Stadium der parlamentarischen Regierungsweise, wenn verfassungsrechtlich, konventional oder tatsächlich die Bestandsabhängigkeit der Regierung von der Volksvertretung erreicht ist 1 . Diese Regel von der parlamentarischen Abhängigkeit der Regierung ist das unverzichtbare Hauptmerkmal des parlamentarischen Systems 2 . Die Intensität der Abhängigkeit und die nähere Ausgestaltung des Verhältnisses von Parlament und Regierung geben Auskunft über die i n der gegebenen Verfassung herrschende Spielart des parlamentarischen Systems 8 . Der Grundsatz von der konsequenten parlamentarischen Verantwortlichkeit bietet nur der sog. „monistischen" Lösung Raum, d. h. eine Doppelverantwortung der Regierung gegenüber Parlament und Staatsoberhaupt würde der Systemnormativität widersprechen4. I m folgenden Teil ist die Aufgabe gestellt, an den Ergebnissen englischer Verfassungsentwicklung und daran anknüpfender theoretischer Erkenntnsise die deutschen Verfassungen zu messen, insbesondere dabei zu prüfen, inwieweit sich die deutsche Verfassungsentwicklung über Reichs Verfassung 1871, Weimarer Verfassung und Bonner Grundgesetz der von der englischen Verfassung gezeigten Systemnormativität annähert. Dementsprechend sind auf diesem Wege die einzelnen Verfassungsartikel nicht ausschließlich isoliert zu interpretieren, sondern gleichzeitig die sich aus dem Charakter des Regierungssystems ergebenden Zusammenhänge zu berücksichtigen. 1

So ζ. B. Peters (IV), S. 27. Lowell , S. 4 f.; Kaltefleiter (I), S. 50, S. 4. 3 Siehe etwa die v o n Scheuner (III), S. 215 if. getroffene Einteilung; f ü r die funktionale Fragestellung am fruchtbarsten ist Kaltefleiter (I), S. 21 f., m i t den Einteilungen i n das Klassisch-Parlamentarische Regierungssystem, das Quasi-Parlamentarische Regierungssystem, das Parlamentarische Regierungssystem m i t bipolarer Exekutive. 4 Siehe dazu Maurer, Th., H a t der Bundespräsident ein politisches M i t spracherecht? i n : D Ö V 1968, S. 669. 2

21 Lippert

322

I I . Teil: Beendigung der Rechtsstellung der Regierungschefs

Trotz aller Bemühungen des Parlamentarischen Rates u m einen „parlamentarisme rationalisée" 5 muß i m Zusammenhang der A r t . 67, 68, 81 GG auf einen gefährlichen Strukturdefekt hingewiesen werden. Dieser latente Fehler w i r d dann relevant und kann zu einer systemgefährdenden Macht werden, wenn man die den Bundespräsidenten betreifenden Zuständigkeitsnormen expansiv interpretiert. U m einem solchen Auslegungsergebnis ausdrücklich den Boden zu entziehen, sollte de lege ferenda — ein Verfassungsänderungsvorschlag unterbreitet werden, der infolge seines gleichzeitigen „plebiszitären Effekts" geeignet ist, der ungeheueren Herausforderung, der das Repräsentativsystem ausgesetzt ist, zu begegnen6. Kaltefleiter 7 hat die i n einem solchen Fall drohenden stabilitätshemmenden Wirkungen am Beispiel verschiedener Staaten „bipolaren Exekutive" erläutert. Die monistische Lösung bedingt die bereits eröterte 8 , dem Staatsoberhaupt i n diesem System zugeordnete Kontinuitätsfunktion. Diese teilt sich wiederum i n die Erscheinungsformen der Reservefunktion (im Normalfall) und der Reservemacht (in der Krise des Systems oder sogar der Verfassung). Die Konstruktion solcher Modelle, die eine Aktivierung der Reservemacht erfordern, erscheint hier besonders schwierig, aber auch gefahrvoll. Denn zunächst gewinnt der Fall eines zur erforderlichen Mehrheitsbildung unfähigen Parlaments nur i n der Frage der Parlamentsauflösung, nicht aber bei der Amtsbeendigung Bedeutung. Andererseits kann die präsidiale Reservemacht, soweit sie sich gegen das entscheidungsunfähige Parlament richtet, die Grundnormen des parlamentarischen Systems, die parlamentarische Bestandsabhängigkeit der Regierung, außer K r a f t setzen. Aus diesem Grunde ist der Spielraum der präsidialen Reservemacht möglichst zu begrenzen. I m zweiten Hauptteil ist die Aufgabe gestellt, am Maßstab der eingangs skizzierten Erfordernisse des parlamentarischen Regierungssystems die Ergebnisse englischen Verfassungslebens und deutscher Verfassungsrechtsregelungen vergleichend zu messen. Es sind verschiedene Ursachen des Amtsendes denkbar, so etwa der Tod des Amtsinhabers, der freiwillige Rücktritt aus persönlichen Gründen, wie Krankheit, Amtsmüdigkeit oder ähnliches. Die Frage nach der Amtsbeendigung i m parlamentarischen System muß die soeben erwähnten Spielarten außer Betracht lassen. I h r Inter5

Kaltefleiter (I), S. 199. E i n Beispiel f ü r den auch i n der Theorie geführten A n g r i f f bedeutet das Buch v o n Johannes Agnoli u n d Peter Brückner „Die Transformation i n der Demokratie", B e r l i n 1967, das zugleich, soweit ersichtlich, die einzige existierende umfassende Darstellung der v o n der neuen L i n k e n verfolgten i n s t i t u tionell politischen Ziele ist. 7 (I),S. 129 ff. 8 Vgl. dazu oben Einleitung C 2. 6

I I . Teil: Beendigung der Rechtsstellung der Regierungschefs

323

esse konzentriert sich auf die Alternativen des erzwungenen Verlustes der Rechtsstellung und die Beteiligungsformen der entsprechenden Verfassungsorgane. Als solche kommen i n Frage das Staatsoberhaupt, das Parlament i n Gestalt seiner Gliederung und schließlich die Wählerschaft. Die i n dieser Reihenfolge verkörperte Ablösung i n der Inhaberschaft des Abberufungsmonopols kann am Beispiel der englischen Verfassungsentwicklung am besten sichtbar gemacht werden, wo sich die — materielle — Abberufungsbefugnis vom Staatsoberhaupt über das Parlament auf die Wählerschaft verlagert hat. Die deutschen Verfassungsschöpfungen versuchen, diesen Gang nachzuvollziehen. Es w i r d zu zeigen sein, daß das Grundgesetz, ungeachtet der gewissenhaften Bemühungen der Verfassungsväter, die aus der Diskrepanz zwischen vorauseilender Verfassungswirklichkeit und nachfolgendem Verfassungsrecht resultierenden Spannungen gering zu halten, an einer eigentlich unauffälligen 9 , m i t der Abberufung des Bundeskanzlers sowie der Parlamentsauflösung korrespondierenden Stelle das von der britischen Verfassung bereits aufgenommene Abwehrvermögen gegen die unmittelbar-demokratische Zeitströmung nicht zu entwickeln vermochte 10 .

9 Die Stelle ist infolge der — als Reaktion auf das D r i t t e Reich zu v e r stehenden — vorwiegenden Beschäftigung der deutschen Staatsrechtslehre m i t der Grundrechtsproblematik unter Vernachlässigung des organisatorischen Teils der Verfassung tatsächlich „unbekannt" geblieben, vgl. hierzu den von Forsthoff, Ernst, am 24. J u n i 1968 i m Hause der Carl Friedrich v. Siemens-Stiftung gehaltenen Vortrag „ V o n der Staatsrechtswissenschaft zur Rechtsstaatswissenschaft", abgedruckt i n : S t u d i u m Generale 21 (1968), S. 692 bis 704. 10 Vgl. hierzu insbesondere Weber, Werner (II), S. 62 ff.

21*

Erstes Kapitel

Das Amteende des britischen Premierministers

Erster Abschnitt

Die königliche Prärogative als Grundlage der Amtsbeendigung und ihre konventionale Funktionalisierung I . Das monarchische Entsetzungsrecht

Entsprechend der bei der Amtseinsetzung des Premierministers herrschenden Rechts- und Verfassungslage zählte auch die Entlassung der „servants" 1 zunächst zum unbestrittenen Befugniskreis des englischen Monarchen. K r a f t Vermutung bestand überhaupt eine allseitige Zuständigkeit des Königs i n sämtlichen Bereichen des öffentlichen Lebens, die mittels der Prärogative ausgefüllt wurde. Die Prärogative bedeutete damals somit die vermutete, umfassende monarchische Kompetenz. I n sich über Jahrhunderte hinziehenden, wechselvollen Kämpfen war es gelungen, die Prärogative zunächst als Bestandteil des Common Law auszuweisen 2 und ihre Ausübung der gerichtlichen Kontrolle zu unterstellen. Die Glory Revolution (1688) vollendete die Bindung der Prärogative an das Common Law. I n der Gegenwart kommt der Prärogative noch immer zentrale Bedeutung i n der britischen Verfassungsordnung zu. Sie bildet den rechtlichen Rahmen nicht nur für den verfassungsrechtlichen Wirkungskreis des Monarchen, sondern auch für die formell i m Namen des Königs ausgeübten Befugnisse der Exekutive, Judikative und teilweise Legislative 8 („The K i n g i n Parliament"). Die Prärogative stellt sich daher als ein 1

Übersetzung: Diener, Was insbesondere eine v o n den Gerichten i m 17. Jahrhundert an Hand berühmter „Cases" erbrachte Leistimg ist. 3 Kaltefleiter (I), S. 26. 2

1. Abschn.: „Royal Prerogative" u n d Amtsbeendigung

325

„Bündel von Befugnissen dar, die der Krone kraft Common L a w von altersher zustehen" 4 . Legt man die von der modernen Theorie 5 gewonnene Haupteinteilung der Prärogative zugrunde, so zählt das dem Monarchen als Staatsoberhaupt und Inhaber der Prärogative zustehende Entlassungsrecht zu den „executive powers of the Monarch"; gehört damit i n den Bereich der Exekutivbefugnisse, welche den Kreis der monarchischen Amtshandlungen auf innen-, außen- und kirchenpolitischem Sektor umfassen. I m Bereich der für die Entlassung maßgebenden innenpolitischen Prärogativrechte mußte die Prärogative infolge ihrer Zugehörigkeit zum Common L a w i m Laufe der seit der Glorious Revolution verstrichenen Zeit weite Gebiete an die zur Abhebung, Änderung oder Ergänzung des Common L a w befugte Parlamentsgesetzgebung verlieren 6 . Der i m 20. Jahrhundert zur Steuerung sozialer und wirtschaftlicher Abläufe notwendig werdende staatliche Wirtschaftseingriff erzwang zunehmende Durchnormierung des „Administrative L a w " 7 aus Gründen der Rechtssicherheit und der Effizienz i n der Verwaltung 8 . Ungeachtet dieser „Landgewinne" des formellen Parlamentsgesetzes sind gegenwärtig immer noch einige Gebiete des exekutiven Bereichs 9 der monarchischen Prärogative vorbehalten. Vor allem aber werden noch heute sämtliche Staatsdiener vom Monarchen kraft Prärogative ernannt und entlassen. Auch der Premierminister zählt zu den Dienern der Krone. I n Ermangelung einer rechtlichen Beschränkung oder iedenfalls Regelung durch Parlamentsgesetz ist daher die Prärogative Grundlage der Entlassung des Premiers unverändert geblieben. Sie gestattet dem Monarchen freie Ermessensausübung hinsichtlich des Amtsendes seines „Dieners", des Premierministers. Rechtlich verfügt die englische Königin daher auch heute noch über die Befugnis, dem Premierminister 4 Wade and Phillips, S. 132. Dabei ist hinzuzufügen, daß die Prämaative wiederum zu teilen ist i n die v o n der Krone unmittelbare — durch den M o n a r chen selbst — oder mittelbare — durch die verschiedenen Träger der Staatsfunktion. 5 Siehe dazu Loewenstein (VI), S. 508; Heuston, Robert Francis, Essays, London 1961, S. 63 ff. 6 Diese Befugnis des Parlaments ist Ausfluß der Parlamentarischen Souveränität; vgl. dazu die Ausführungen bei Dicey (II), Introduction X X V I I I . 7 Übersetzung: des Verwaltungsrechts. 8 Allgemein Forsthoff, E. (I), München 1971; f ü r diese Zusammenhänge zwischen der parlamentarischen Normsetzung u n d der Verwaltungsgerichtsbarkeit s. Gar dinger, Gerald u n d A n d r e w Martin, i n : L a w Reform Now, L o n don 1964, S. 24 - 56. 9 z.B. nationale Verteidigung, militärischer Oberbefehl, V e r w a l t u n g u n selbständiger Territorien, bestimmte Kronregalien u n m i t t e l b a r der k ö n i g lichen Prärogative vorbehalten.

326

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

gegen dessen Willen oder den Willen anderer Staatsorgane seiner Stellung zu entheben. Diese Befugnis soll i n Zukunft als (formelles) Entsetzungsrecht bezeichnet werden.

I I . D i e funktionalisierte Prärogative als Entlassungsfunktion

Der Feststellung, daß es rechtlich i m freien Ermessen des englischen Monarchen steht, den Premierminister aus dem Amte zu entlassen, kommt für die tatsächliche Verfassungssituation der Gegenwart für den Normalfall kein materieller Aussagewert mehr zu. Seit der Zeit der für die Weiterentwicklung so bedeutsamen Glory Revolution (1688) haben sich i n einem Maße Machtverschiebungen i m Verhältnis der an der Entlassung beteiligten Verfassungsorgane ergeben, die jene Common-Law-Grundlage vollkommen verschütteten. Die alten rechtlichen Grundlagen leben nur unter ganz bestimmten Bedingungen wieder auf, u m i n Gestalt der „Reservemacht" für das Funktionieren des Systems zu sorgen. Die Mittel, die jene erwähnten Verschiebungen i m Machtgefüge bewirkt hatten, sind i n der englischen Theorie und Verfassungspraxis seit Dicey 1 als „Conventions" bekannt. Begriff, Entwicklung und Bedeutung der Conventions wurden bereits an früherer Stelle erläutert, für Einzelheiten w i r d auf obige Ausführungen verwiesen 2 . Das Anliegen des greifbaren Verständnisses verlangt jedoch nach einer i m Zusammenhang m i t der Amtsbeendigung betrachteten, kurzen Einführung. Die Conventions wurden als „von den Beteiligten kraft Übung errichtete, zur Verfassungsordnung gehörende, abänderbare Regeln" bezeichnet, „welche die Ausübung verfassungsrechtlicher Befugnisse durch die Organträger systemnormativ gestalten und dem Verfassungswandel dienen". Das Verhältnis zur sozialen Wirklichkeit wurde als das Hauptproblem der modernen Verfassungen bezeichnet 3 . I m stets bestehenden und bei der geschriebenen Verfassung besonders intensiven Spannungsverhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit entscheidet sich m i t der Fähigkeit einer Verfassung, „normative K r a f t " 4 zu entfalten, ihr Schicksal. Die rechtliche Verfassung muß den tatsächlichen Sozialkräften erliegen, wenn sie es versäumt, „einen materiellen K e i m ihrer Lebens1

Dicey (I), X X V I I I . Siehe zweiter Abschnitt, 1. Kapitel, 1. Hauptteil. 3 So bereits Lassalle, Ferdinand, i n seinem am 16. 4.1862 i n B e r l i n gehaltenen Vortrag, abgedruckt i n : Gesammelte Reden u n d Schriften, herausgegeben und eingeleitet v o n Bernstein, Eduard, I I 1919, S. 25 ff.; dazu Hesse, S. 8. 4 Hesse, S. 6. 2

1. Abschn.: „Royal Prerogative" und Amtsbeendigung

327

kraft i n der Zeit, den Umständen und dem Nationalcharakter" 5 vorzufinden. Hierzu ist es notwendig, i n die Verfassungsordnung stets ein „Stück der Gegenstruktur", also einen Teil der zunächst contra legem wirkenden Strömungen, einzubeziehen. Eine geschriebene, „starre" Verfassung ist auf eine i m Wege der Interpretation oder der formalen Verfassungsänderung vollzogene Annäherung angewiesen. Demgegenüber bewegt sich die englische Verfassungsentwicklung i m Spannungsverhältnis zwischen „legal", „constitutional" und „ l i v i n g constitution" 6 . Die K l u f t zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit w i r d hier durch die konventionale Systemnormativität aufgefüllt. Verfassungsmäßig gewinnt also i n diesem Zusammenhang die Bedeutung von systemgemäß, s. h. den systemnormativen Regeln entsprechend. Die Conventions stellen „das Vehikel" jener Verfassungswandlung dar, die bei unveränderter rechtlicher Grundlage i m Common Law die quasi-absolutistische Herrschaftsform der Stuarts zunächst durch die konstitutionelle Monarchie beschränkt und schließlich i n das parlamentarische Regierungssystem transformiert hat 7 . Sie erfüllen damit zwei Hauptfunktionen: einmal die Erhaltung des Systems, indem sie die dazu notwendigen Voraussetzungen i m Verhältnis der verschiedenen Staatsorgane zueinander entwickeln 8 und überdies den Kontakt zwischen dem gegenwärtigen System und dem sich herausbildenden verfassungspolitischen Bewußtsein der Zeit durch Weiterentwicklung herstellen. A u f diese Weise wurde auch der letzte große Schritt der englischen Verfassungsentwicklung, die Einbeziehung plebiszitär-demokratischer Forderungen i n den Verfassungsraum, eingeleitet 9 . Vor das Problem der Nutzbarmachung unmittelbar demokratischer Postulate sieht sich heute jede Repräsentativverfassung gestellt 10 . Die Bestandskraft des Repräsentativsystems hängt von seiner Fähigkeit ab, diese Prinzipien i m eigenen Bereich w i r k e n zu lassen 11 . Gerade am Beispiel der Amtsbeendigung des englischen Premierministers ist der Einfluß jener die Zeiten verbindenden Conventions nachzuweisen. 5

Hesse, S. 11. Kaltefleiter (I), S. 18. 7 von Beyme, Klaus, Das parlamentarische Regierungssystem i n Europa, München 1970, S. 49. 8 So w a r die Ablösung des Monarchen als des Entscheidungsträgers durch das Parlament oder die Parteien ein Beispiel f ü r die machtstrukturelle U m verteilung k r a f t Convention. 9 Vgl. hierzu v o r allem Oppermann, S. 97 ff. Eine theoretische Fundierung der i n neuerer Zeit erhobenen u n m i t t e l b a r demokratischen Forderungen findet sich insbesondere bei Agnoli —Brückner; zum aktualisierten Rätegedanken s. Gottschalch, Wilfried, Parlamentarismus u n d Rätedemokratie, B e r l i n 1968. 10 Vgl. dazu Gottschalch, S. 9. 11 Hesse, S. 8,11. 6

3 2 8 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Die i m Common L a w ruhenden rechtlichen Grundlagen sind unverändert geblieben; sie gewähren dem Monarchen ein unbeschränktes Entlassungsrecht hinsichtlich seines Prime Ministers. Rechtlich sind sowohl die Entsetzungsbefugnis als materielle Entscheidung über die Entlassung als auch der formale Vollzug der Entlassung i n den Händen des Monarchen vereinigt. Später setzen Bestrebungen ein, eine Standesbzw. Volksvertretung zu etablieren und m i t bestimmten, nicht nur abwehrenden, sondern an der Regierungsführung teilnehmenden Befugnissen auszustatten. Schließlich war es zur Sicherung der Stellung des Monarchen notwendig, eine Funktionsteilung i n der Weise vorzunehmen, daß der König seine umfassenden Befugnisse auf Rat von parlamentarisch verantwortlichen Dienern wahrnahm. Dieses Prinzip „The K i n g can do no w r o n g " " , stellte sicher, daß der Monarch von der politischen Auseinandersetzung unangefochten blieb. Die Sanktion der parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit führte über die Möglichkeit des „impeachment" zur Institution des Ministersturzes. Der Vorgang ist insofern bedeutsam, als dadurch das Parlament am Entsetzungsrecht des Monarchen zunächst partizipierte und es schließlich an sich zog. Dem Monarchen war von dem Globalrecht der Amtsbeendigung i m Normalfall nur der Vollzug des parlamentarischen Entsetzungsbeschlusses verblieben. Dem rechtlich unbegrenzten Ermessen des Königs wurden so innere Ermessensschranken hinzugefügt, die, errichtet von Conventions, die Systemnormativität der parlamentarischen Regierungsweise verwirklichten und die rechtliche Entsetzungsbefugnis des Königs funktionalisierten. Dem Monarchen wurde untersagt, i m Normalfall einen Minister zu entlassen, der das Vertrauen des Parlaments besaß. I n einem weiteren Entwicklungsabschnitt, dessen Abschluß gegenw ä r t i g noch nicht erreicht zu sein scheint, haben die Conventions die Aufnahme des Prinzips der Volkssouveränität i n die Verfassung bew i r k t . Das vom Parlament i n einem langwierigen Prozeß errungene materielle Entsetzungsmonopol wurde unmittelbar auf die Wählerschaft transferiert, das parlamentarische Abberufungsrecht — jedenfalls unter den gegenwärtigen politischen Verhältnissen — i n die Reihe der „dignified parts of the Constitution" 1 8 eingegliedert. Der Monarch hat sich — entsprechend den systemnormativen Erfordernissen — m i t der bloßen Vollzugsfunktion zu begnügen. I m Überschreitungsfalle wäre festzu12 So Bagehot, S. 14; dieser Grundsatz Schloß bis zum Erlaß des Crown Proceedings A c t v o n 1947 — 10 u. 11 Geo. 6, c. 44 — die gerichtliche I m m u n i t ä t der Krone ein. Seither jedoch besteht ein gerichtlich verfolgbarer Anspruch auf Schadenersatz aus Amtspflichtverletzung königlicher Beamter. Der Monarch genießt freilich w e i t e r h i n gerichtliche I m m u n i t ä t . Vgl. dazu Loewenstein (VI), Bd. I I , S. 110 ff.; James, Ph. S., S. 164. 13 Würdige Verfassungsteile, vgl. Bagehot, S. 61.

2. Abschn.: Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

329

stellen, daß der Monarch zwar rechtmäßig i m Sinne des Common Law, aber verfassungswidrig i m Sinne der konventionalen Entwicklung gehandelt hätte 14 .

Zweiter Abschnitt

Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus Es handelt sich dabei allgemein u m den epochalen Vorgang der tatsächlichen Durchsetzung des parlamentarischen Regierungssystems, seiner konventionalen Festigung und doktrinären Untermauerung. Seine Konkretisierung findet das parlamentarische Prinzip i n der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung, als deren Sanktion die Abberufbarkeit der Gesamtregierung oder ihrer Einzelmitglieder durch das Parlament steht. Die Repräsentantenversammlung erlangte das Monopol der Regierungskontrolle allerdings erst nach langen Kämpfen: die parlamentarische Teilhabe an der Regierungskontrolle beseitigte nicht unmittelbar die gleichermaßen bestehende Abhängigkeit der königlichen Minister vom Monarchen. A n die Stelle dieser i m 18. Jahrhundert entwickelten Doppelverantwortlichkeit trat nach der Wahlreform von 1832 die ausschließlich parlamentarische Verantwortung gegenüber dem Unterhaus. Damit war jedoch die Entwicklung noch nicht abgeschlossen. Verschiedene Umstände bewirkten gemeinsam eine innere Umstrukturierung der Regierung, die den Premierminister zur herausragenden Gestalt werden ließ, i n dessen Person sich die parlamentarische Verantwortlichkeit der Exekutive konzentrierte 1 . Interessant ist, daß auf dem europäischen Kontinent die herausragende Stellung des Regierungschefs und ihre theoretische Untermauerung und verfassungspraktische Verwirklichung erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgt. Darunter ist das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland von 1949 hervorzuheben, wo das „Kanzlerprinzip" verwirklicht worden ist 2 . 14 Vgl. Spannungsverhältnis „legal" (rechtlich), „constitutional" (verfassungsmäßig) u n d „ l i v i n g Constitution" (der lebenden Verfassungspraxis entsprechend) bei Kaltefleiter (I), ebenda, S. 18, A n m . 40. 1 Vgl. Literatur zur Theorie des Prime Ministerial Government Haesman, D. J., The Prime Minister and the Cabinet, i n : Parliamentary Affairs, Bd. X V (1962), S. 481 ff.; Brasher , Η., Studies i n B r i t i s h Government, London 1965, Kap. I I I ; Hinton, R. W. K., The Prime Minister as an Elected Monarch, i n : Parliamentary Affairs, Bd. X I I I (1960), S. 297 ff. 2 Vgl. Amphoux, Einleitung, S. 7.

3 3 0 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Bereits unter Königin Anne (1702 - 1714) hatte die Trennung von unverantwortlichen Monarchen („the K i n g can do no wrong") und verantwortlichen Ministern eingesetzt und war unter Georg I. (1714 - 1727) und Georg I I . (1727 - 1760) vollendet worden 3 . I m Laufe des 18. Jahrhunderts waren die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse zum materiell bestimmenden Faktor für das Amtsende der königlichen Minister geworden. Walpole beschrieb 1739 i n einer Rede vor dem Unterhaus die i h m auferlegte Doppelverantwortung: „When I speak here as a minister I speak as possessing my powers from His Majesty, but as being answerable to This House for the exercise for those powers 4 ." Sein i m Jahre 1741 folgender Sturz durch das Unterhaus bestätigte die obigen Thesen 5 . Ebenso wurden kurz darauf (1746) die Pelhams entgegen dem Willen Georgs II. vom Parlament zum Rücktritt gezwungen®. Der Grund für die i n den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts und dem beginnenden 19. Jahrhundert zu beobachtende Seltenheit der parlamentarischen Ministerstürze liegt nicht — wie das Beispiel des 1782 gestürzten Lord North beweist — i m Fehlen der Convention von der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung und ihrer Mitglieder 7 , sondern i n den bereits geschilderten Versuchen Georgs III., durch intensiven Einsatz der Patronagetechnik einer parlamentarischen Sanktion zuvorzukommen, was eigentlich die Wirksamkeit der Konvention bestätigt. Die nach der großen Reform von 1832 kulminierende parlamentarischpolitische Souveränität (Suprematie) des Unterhauses 8 war an der Instabilität der Regierungen abzulesen. Zwischen den beiden großen Wahlreformen (1832 und 1867) wurden acht Regierungen durch Abstimmungsniederlagen i m Unterhaus zum Rücktritt gezwungen 9 . Während infolge des atomisierten Parteiensystems die Krone bei der Einsetzung eines Premierministers i n verschiedenen Fällen ihrer Prärogative materiellen Inhalt zu geben vermochte, war die Doppelabhängigkeit der 3 Nuscheier, S. 12; Hallen, Henry, The Constitutional History of England, 1. Auflage 1827, 7. Auflage London 1854, Bd. I I I , S. 182 ff., erblickte dagegen den Beginn dieser E n t w i c k l u n g bereits bei W i l l i a m I I I . 4 „ W e n n ich hier als Minister spreche, so tue ich dies, w e i l ich meine Macht aus den Händen Seiner Majestät empfangen habe, gleichzeitig aber hinsichtlich der Ausübung dieser Befugnisse dem Parlament verantwortlich bin." Parliamentary History, zit. nach Nuscheier, S. 13, A n m . 48. 5 Obwohl dieses Vorkommnis noch keinen Präzedenzfall f ü r die Erzeugung einer Convention gebildet hatte; siehe dazu Birch, Α . Η., Representative and Responsible Government, London 1964, S. 133. 6 Vgl. Neville, Williams, The Eighteenth — Century Constitution 1688 to 1815, Documents and Commentary, Cambridge 1960, S. 68 - 69. 7 Wie es Woodward, E. L., The Age of Reform, Oxford 1938, S. 23, noch f ü r 1815 annimmt. 8 Nuscheler, S. 74; Loewenstein (I), S. 126. 9 Southgate, Donald, The Passing of the Whigs, 1832 -1886, London 1962, S. 290.

2. Abschn.: Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

331

Regierung von Krone und Parlament i m Zeitalter der parlamentarischen Suprematie zur monistischen Unterwerfung gegenüber dem Unterhaus geworden. Die Dogmatisierung der politischen Souveränität des Unterhauses folgte m i t gewisser Phasenverschiebung der verfassungssoziologischen Entwicklung. Noch über die erste große Wahlreform von 1832 hinaus hatte man Relikte der monarchisch-konstitutionellen Verfassungstheorie zu retten vermocht 10 . Nach der Reform von 1832 setzte sich eine Betrachtungsweise der Verfassung durch, die den Veränderungen des verfassungspolitischen Hintergrundes Rechnung trug 1 1 und die Suprematie des Unterhauses anerkannte, was von der zeitgenössischen Theorie m i t Ausdrücken wie „the predominant outhority i n the State" 1 2 umschrieben wurde. Der Begriff des „parliamentary government" beherrschte jetzt die wissenschaftliche Diktion. Dabei kam i h m allerdings nicht die heutige engere Bedeutung zu, sondern er beinhaltete nur die Existenz eines parlamentarischen Körpers i n der Verfassung, ist also etwa dem heutigen Begriff des „Parlamentarismus" gleichzusetzen 13 . Die zeitgenössische „liberale" Verfassungstheorie nahm dabei allerdings Einschränkungen vor. Voraussetzung für das Vorliegen einer parlamentarischen Regierung war ihre politische Verantwortung sowie die parlamentarische Sanktion dieser Verantwortlichkeit. Als weiteres Merkmal der parlamentarischen Regierungsweise wurde angesehen, daß die Primärfunktion des Parlaments nicht i n der Legislative, sondern i n der parlamentarischen Kontrolle der Regierung angelegt sei 14 . Aus diesen beiden Komponenten leitete sich die Befugnis des Parlaments ab, über das Amtsende der Regierung zu entscheiden 15 . Die herrschende Verfassungstheorie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte die Ablösung der doppelten Verantwortung durch die monistische Abhängigkeit vom Parlament bestätigt. Als Parlament i n diesem Sinne galt jedoch nur mehr das Unterhaus, da das House of Lords auf den Bestand der Regierung keinen Einfluß mehr ausüben konnte 1 8 . Die verfassungspolitische Verwirklichung der parlamentarischen Verantwortlichkeit sowie ihre theoretische Anerkennung genügten noch nicht, u m die gegenwärtige britische Verfassungssituation zu schildern. 10

Beispiele bei Nuscheier, S. 21,22,23. Beispiele bei Nuscheier, S. 13. 12 „Die vorherrschende A u t o r i t ä t i m Staate", weitere Beispiele bei Nusche1er, S. 23. 13 Vgl. Küchenhoff, Günther u n d Erich, S. 175. 14 So z. B. Birch, Α . Η., Representative and Responsible Government, L o n don 1964, S. 65. 15 So Nuscheier, S. 26. 16 Nuscheier, S. 25. 11

3 3 2 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Die englische Verfassungsgeschichte kennt mehrere Arten der Verantwortung, die sich z.T. i n zeitlicher Aufeinanderfolge ablösen, sich gleichzeitig überlagern und i n ihrer W i r k u n g hemmen. Bei der Verantwortlichkeit der Minister muß zunächst zwischen der streng rechtlichen Verantwortlichkeit und der konventionalen Form unterschieden werden 17 . Für die Frage der Amtsentsetzung i m parlamentarischen System gew i n n t die konventionale Verantwortung besonderes Interesse. Sie ist unter zwei Gesichtspunkten zu betrachten. Einmal die persönliche Verantwortung des Einzelministers und weiterhin die gemeinsame Verantwortung des Kabinetts für die gesamte Regierungspolitik. Angesichts der Entwicklung, welche die Stellung des Premierministers i n der Zeit seit der zweiten Wahlreform (1867) nicht nur i m Verhältnis zu den übrigen Kabinettsmitgliedern, sondern zum Unterhaus und insbesondere zur Wählerschaft erfahren hat, scheint eine dritte Komponente der Verantwortlichkeit gewachsen zu sein, die für die Zusammenarbeit der britischen Verfassungsorgane höchst bedeutsam ist und zu einer Verfassungswandlung geführt hat.

I . D i e D o k t r i n der „individual ministerial responsibility" 1. Wesen und Begriff

Ausgangspunkt für das Verständnis des Wesens der „individual ministerial responsibility" ist der Satz: „The K i n g can do no wrong." Er verlangt eine Verantwortlichkeit für jeden, i m Namen des Monarchen von einem Diener der Krone vorgenommenen A k t 1 . Der Minister war ursprünglich ein solcher Diener, zuständig für die Besorgung eines gewissen, abgegrenzten Kreises von Regierungshandlungen 2 . Rechtlich ist der Minister für die i n diesen Bereich fallenden Handlungen verantwortlich. Das Sanktionsmittel für rechtswidriges Verhalten bestand i n der öffentlichen Staatsanklage, die strafrechtlichen Charakter trug. Unter den letzten Tudors verschwand das impeachment, u m i m 17. Jahr17 So ζ. B. Wade and Phillips, S. 62; Moodie (IV), S. 87; Birch, S. 17 - 20 k l ä r t zunächst die A r t e n dér Verantwortung, u n d unterscheidet dabei: a) die öffentliche, demokratische, dem allgemeinen W o h l verpflichtete Verantwortlichkeit, der die Staatsführung allgem. demokratischer Staaten gegenüber der Gesamtheit der Bürger unterworfen ist. b) die moralische Verantwortung, als Beschreibung einer Gewissenshaltung, c) die konkrete Ministerverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament. 1 Todd, Α., On Parliamentary Government i n England, 2nd edn. London 1887, vol. 1, S. 273. (Übersetzung: Die individuelle ministerielle Einzelverantwortlichkeit.) 2 Moodie (IV), S. 94.

2. Abschn.: Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

333

hundert als Kampfmittel des Parlaments gegen die königliche Regierung eingesetzt zu werden 3 . Doch seit der Mitte des 18. Jahrhunderts 4 drang die Überzeugung i n das Bewußtsein der Beteiligten, daß die bloße Unzufriedenheit m i t der politischen Amtsführung nicht i n straf rechtsartige Sanktionen zu kleiden ist 5 . Die Emanzipation der parlamentarischen politischen Sanktion führte zum Amtsverlust bei rechtswidriger, mangelhafter oder politisch inopportuner Amtsführung. Die individual ministerial responsibili t y bedeutet somit die auf den Einzelminister als Diener der Krone gezogene parlamentarische Verantwortlichkeit®. Jeder Minister, auch der Ministerpräsident, ist nach dieser Konvention Adressat der individual ministerial responsibility 7 und damit äußerstenfalls der Sanktionsdrohung des Amtsverlustes ausgesetzt8. Sowohl hinsichtlich des Inhalts wie des Umfangs der Verantwortlichkeit ergeben sich jedoch Unterschiede zwischen den verschiedenen Einzelministern. Während Jennings 9 jedem Minister die Verantwortung für sein Ministerium aufbürdet und die die allgemeine Meinung i h m hierin folgt 1 0 , ist doch etwa zwischen dem Prime Minister und dem Secretary of State for Scotland und den übrigen Ministern zu unterscheiden. Während gewöhnlich ein Minister tatsächlich für die Führung seines Ressorts die Verantwortung trägt, ist der Staatssekretär für Schottland für die vier für die Verwaltung von Sonderaufgaben i n Schottland errichteten Ministerien verantwortlich 1 1 . Die Herausbildung der Ämter des Prime Ministers und der allmählichen Anerkennung seines Führungsanspruchs über das sich ebenfalls homogenisierende Kabinett ist ungefähr zur Zeit Walpoles anzusetzen 12 ; sie ließ keinen freien Raum für den neuen Organträger entstehen, son3

Loewenstein (VI), S. 424. Als 1742 erfolglos versucht wurde, den bereits parlamentarisch gestürzten Walpole m i t einem Anklageverfahren zu überziehen, tauchte n u r ein F a l l der A n w e n d u n g des Impeachment auf, als L o r d Melville i m Jahre 1804 der K o r r u p t i o n beschuldigt worden war, vgl. dazu Birch, S. 139. 5 Vgl. dazu die A n m . bei Finer, S. E., The I n d i v i d u a l Responsibility of Ministers, i n : Public A d m i n i s t r a t i o n 1956, S. 379, F N 11 - 15. ® Der Begriff „Diener" ist bereits i m 18. Jahrhundert ungeachtet seiner rechtlichen K o r r e k t h e i t v o n der Verfassungspraxis überholt: U m diese Zeit ist die tatsächliche Regierungsgewalt bereits auf die königliche Prärogative an Stelle des Monarchen ausübenden Minister übergegangen, die dafür dem Parlament u n d der Krone verantwortlich waren. Vgl. Finer, S. 380. 7 Wade and Phillips, S. 62. 8 I n jüngster Zeit mehren sich die Stimmen, die jener D o k t r i n v o n der i n d i v i d u a l ministerial responsibility jede Bedeutung absprechen: siehe h i e r zu insbesondere Finer, S. 377 ff. 9 Wade and Phillips, S. 189 f. 10 Finer, S. 394, A n m . 3. 11 Moodie (IV), S. 93, A n m . 27. 12 So Wade and Phillips, S. 63. 4

3 3 4 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

dern die individual responsibility überspannte jetzt den gesamten Zuständigkeitsbereich des Premierministers. Für diesen trat an die Stelle des Vertretenmüssens eines Geschäftsbereichs die globale Verantwortung für die gesamte Regierungspolitik. Uber den eben beschriebenen Umfang der Verantwortlichkeit hinaus enthält der englische Ausdruck responsibility inhaltlich zwei weitere Merkmale: a) die Amtsinhaber haben dem Parlament Auskunft über ihre Amtsführung zu geben, b) ein Minister, der das parlamentarische Vertrauen verloren hat, kann u. a. mit Hilfe des Mißtrauensvotums zum Rücktritt gezwungen werden 13 . Damit sind die Voraussetzungen geschaffen, u m gemäß der überkommenen Doktrin unter individual ministerial responsibility die Verantwortlichkeit zu verstehen, welche der jeweilige Minister hinsichtlich seiner Amtsführung gegenüber dem Unterhaus übernimmt 1 4 . 2. Gegeneinflüsse der Counterconventions i n der Verfassungspraxis

Obwohl die Individual Ministerial Responsibility begrifflich Bestandteil des tatsächlich verwirklichten parlamentarischen Regierungssystems ist und theoretisch Anerkennung gefunden hat, stellen sich ihrer Sanktion, dem Amtsverlust, Hindernisse i n den Weg, die jenem Vollzug entgegenwirken. Dies w i r d sichtbar, wenn man die Häufigkeit der aus den verschiedensten Ursachen entstandenen Unzufriedenheit der Parlamentarier m i t ihren Ministern i m Kabinett i n Beziehung zur Zahl der erzwungenen Amtsverluste setzt 15 . Finer zeigt eine Tabelle von „resignations" der 100 Jahre zwischen 1855 und 1955, i n der die relativ geringe Zahl von 20 (einschließlich Profumo von 21) Rücktritten nachgewiesen wird 1 6 . Die soeben aufgezählten Fälle betrafen jedoch nur Ressortminister. Premierminister wurden i m gleichen Zeitraum i n den Jahren 1858 (Viscount Palmerston), 1859 (Earl of Derby), 1866 (Mr. Gladstone), (1868) (Disraeli), 1885 (Mr. Gladstone), 1895 (Earl of Rosebery) vom Unterhaus zum Rücktritt gezwungen. Zwar fand sich das Unterhaus noch einmal 13

Finer, S. 378. So unumstrittene Meinung vgl. Marshall Geoffrey , Ministerial Responsi b i l i t y , i n : Political quarterly 1963, S. 256 - 268, S. 256. 15 Finer, S. 383 f. 16 L o r d John Russell 1855, L o r d Ellenborough 1868, Robert Lowe 1864, L o r d Westbury 1865, S. H. Walpole 1867, A . J. Mundella 1894, G, W y n d h a m 1905, Col. J. E. B. Seeley 1914, A . B i r r e l l 1916, A . Chamberlain 1917, N. Chamberlain 1917, L o r d Rothermere 1918, E. S. Montagu 1922, Sir S. Hoare 1935, J. H. T h o mas 1936, Viscount Swinton u n d Earl W i n t e r t o n 1938, Sir Ben S m i t h 1946, H. Dalton 1947, Sir T. Dugdale 1954, J. Profumo 1963; zit. nach Finer, S. 383 f. 14

2. Abschn.: Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

335

zusammen, u m der Regierung i n einer „ v i t a l question" i n öffentlicher Abstimmung eine Niederlage zu bereiten 17 , doch angesichts der seit der zweiten Wahlreform 1867 veränderten Verfassungsstruktur zeitigte sie keine unmittelbaren Folgen für den Bestand des Kabinetts, sondern führte i n Anerkennung des Prinzips der Volkssouveränität zunächst mittels der Auflösung des Parlaments zum Appell an das Wahlvolk 1 8 und erst kraft dessen Entscheidung zum Regierungswechsel. Die Ablösung von L l o y d George 1923, die Rücktritte Neville Chamberlains 1940, Anthony Edens 1957 und Harold MacMillans 1963 sind, soweit sie überhaupt eine erzwungene Amtsbeendigung beinhalten, Sonderfälle, die sich nicht i n das Schema des parlamentarischen Amtsverlustes einfügen, und daher an anderer Stelle zu behandeln sind 19 . Während vor der Entwicklung eines homogenen Kabinettkörpers und bevor sich der Prime Minister als Chef der Regierung herauskristallisierte, der Rücktritt eines Ministers die Stellung der übrigen Krondiener i m Ministerrang nicht berührte, unterscheidet sich später der Sturz oder Rücktritt eines Premiers hinsichtlich der inzwischen auch i m Grundgesetz i n A r t . 69 Abs. I I festgelegten Folge der Amtsbeendigung sämtlicher Kabinettsmitglieder 2 0 : „ A l l the administrators go out together. The whole executive Government changes .. .in a body 2 1 ." Kraft Verfassungskonvention bewirkt das Ende der Amtszeit des Premierministers den geschlossenen Rücktritt der übrigen Regierungsmitglieder. Die zugrundeliegende Konventionairegei fußt auf i m wesentlichen zwei Entwicklungsergebnissen: einmal der allmählichen Heraushebung der Position des Prime Ministers, die i n der Zeit Walpoles (1721 -1742) ihren ersten Abschluß findet. Weiterhin i n der Formung eines i n sich homogenen und m i t der Parlamentsmehrheit übereinstimmenden Kabinetts. Der Prime Minister ist ein Gebilde der Verfassungspraxis und hat erst in jüngster Zeit Aufnahme i n ein Parlamentsgesetz gefunden 22 . Die Anfänge seines Führungsanspruchs i m Kabinett reichen i n die Zeit zurück, als die ersten beiden Könige des Hauses Hannover (Georg I. "v ;!

17 1924 gegenüber dem Minderheitenkabinett Macdonalds, i m sogen. Campbell-Case; nähere Darstellung des Ereignisses bei Nicolson (II), S. 432 if. 18 Jennings (I), S. 527. 19 s. dazu die i m vierten Abschnitt, 1. Kapitel, 1. H a u p t t e i l unternommenen case-studies. 20 „Das A m t des Bundeskanzlers oder eines Bundesministers endigt i n jedem Falle m i t dem Zusammentritt eines neuen Bundestags, das A m t eines Bundesministers auch m i t jeder anderen Erledigung des A m t s des Bundeskanzlers." 21 „ A l l e Minister treten gemeinsam ab. Die ganze Regierung w i r d gleichzeitig ausgewechselt", Bagehot, S. 183; Finer , S. 383. 22 s. Ministers of the Crown A c t von 1937, 1 E d w a r d 8 u. 1 Georg 6, c. 38 und Chequers Estate A c t v o n 1917, 7 u. 8 Georg, 5, c. 55.

3 3 6 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

und Georg II.) aus verschiedenen Gründen den Kabinettssitzungen regelmäßig fernblieben 23 . Die Vorbereitung und Leitung der Sitzung sowie die Aufrechterhaltung der Verbindung zum Monarchen wurde einem erfolgreichen und fähigen Minister übertragen, so daß Walpole i m Laufe seiner Amtszeit zwar nicht den Titel eines Prime Ministers führte, wohl aber faktisch als solcher handelte. Ebenso findet das moderne Kabinett als Lenkungs- und Koordinationsorgan seinen U r sprung i n der Zeit des Regierungsantritts Georgs I. 2 4 . Seine Ursprünge reichen über P r i v y Council, Ordinary Council bis i n die Frühzeit unmittelbar nach der normannischen Eroberung zurück und sind identisch m i t Beratergremien ganz verschiedenen Umfangs und verschiedener Zusammensetzung, i n denen die politischen und Verwaltungsangelegenheiten des Landes beraten wurden 2 5 . Doch dann wurden bereits vor der Thronbesteigung Georgs I. Tendenzen einer Homogenisierung sichtbar 2 6 , die, verbunden m i t der Übernahme der Kabinettsführung durch die ersten Premierminister, dem Kabinett zu einer einheitlichen, sich vom monarchischen Einfluß allmählich emanzipierenden Haltung verhalfen. Die Entwicklung wurde durch die nun einsetzende Abhängigkeit der Regierung vom House of Commons begleitet, was die Auflösung der einheitlichen Exekutive, bestehend aus dem Monarchen und den ihm politisch und persönlich zugeordneten Ministern, zur Folge hatte. I m Ergebnis entstand zunächst ein System der „bipolaren Exekutive" 2 7 , i n welchem das Kabinett einer Doppelabhängigkeit von König und Parlament ausgesetzt wurde und schließlich ab 1832 zur konventional und dogmatisch abgesicherten, parlamentarischen Regierungsweise führte. Die monistische parlamentarische Abhängigkeit der Regierung hatte gleichzeitig die sich als „Dezisionspartnerschaft" darstellenden Beziehungen zwischen Monarch und Kabinett umstrukturiert 2 8 . War der ursprünglich i m Privy Council versammelte Kreis von Würdenträgern und Beamten nur zu fakultativem Rat gegenüber dem entscheidungsmonopolisierten Monarchen berechtigt 29 , so rückte nach stufenweiser Entwicklung das Kabinett als früheres Ratsorgan i n die Stellung des Entscheidungsträgers, während der Monarch als ehemaliger Entscheidungsinhaber für den Normalfall auf das Recht, „zu warnen", zu er23 Nicht n u r aus sprachlichen Gründen, sondern v o r allem, w e i l Georg I. deutscher K u r f ü r s t w a r . 24 Z u r E n t w i c k l u n g des Kabinetts vgl. Mackintosh , John, B r i t i s h Cabinet, London 1962, S. 33 ff. 25 Vgl. Loewenstein (VI), S. 376. 28 Loewenstein, S. 378, A n m . 2 1705 W h i g - M i n i s t e r i u m ; 1710 T o r y - M i n i s t e r i u m ; Walpole führte von 1721 - 1742 ein W h i g - M i n i s t e r i u m . 27 Begriff bei Kaltefleiter (I), S. 129 ff. 28 Küchenhoff, Günther (II), S. 372. 29 Begriff des f a k u l t a t i v e n Rats bei Schlötterer, Wilhelm, Der Übergang v o m beratenden zum beschließenden Organ, j u r . Diss. Würzburg 1967, S. 74 f.

2. Abschn. : Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

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mutigen, usw." 3 0 und damit auf die Position eines „obligatorischen" Ratgebers beschränkt wurde 8 1 . Die Konzentration von Richtlinienkompetenz und oberster politischer Leitung i n den Händen des Premierministers als des Regierungschefs führte zur Konvention vom obligatorischen Rücktritt sämtlicher Kabinettsmitglieder beim Amtsverlust des Prime Ministers. 3. Die Counterconventions

Unter „Counterconventions" sollen jene Faktoren verstanden werden, die der unmittelbar-formalen Sanktion der „individual ministerial responsibility", dem Mißtrauensvotum und dem Ministersturz, entgegenwirken. Außer Betracht bleiben somit jene die Wahlniederlage einer Regierung und die den offiziellen, freiwilligen Rücktritt eines Regierungsmitglieds mitverursachenden Momente. Finer 3 2 nennt i n seiner die Existenz der Convention von der individual ministerial responsibility leugnenden Arbeit insgesamt vier den Vollzug der individual ministerial responsibility hemmende Faktoren: Removal and Reappointment 33 , The Personal Factors 34 , Reshuffle 35 , collective solidarity 3 6 . a) Removal and Reappointment Diese Conterconvention hat zum Inhalt, daß der von einem Mißtrauensvotum bedrohte Minister nur zurücktritt, u m nach kurzer Zeit ein anderes, weniger gefährdetes Ressort zu übernehmen. Diese Praxis verhindert den Vollzug der individual ministerial responsibility, da die betroffene Persönlichkeit, ohne politische Einstellungen oder Amtsführungen zu ändern, wieder i n ein verantwortliches Ministeramt berufen wird 3 7 . 30

Bagehot, S. 111. Die denkbaren, b e i m Austausch v o n Rat u n d Ratgeber auftretenden, rechtlichen Übergangsstufen zwischen beratendem u n d beschließendem Organ werden i n der inhaltsreichen j u r . Diss. Schlötterers, S. 73 - 83, herausgearbeitet. Schlötterer unterscheidet dabei folgende Stufen: I. Beratung ohne Entscheidungsteühabe des Ratgebers 1. Fakultativer Rat. 2. Der Übergang v o m fakultativen zum obligatorischen Rat. 3. Der obligatorische Rat. I I . Negative Entscheidungsteilhabe des Ratgebers. I I I . Positive Entscheidungsteilhabe des Ratgebers. I V . N u r noch negative Entscheidungsteilhabe des Entscheidenden. V. Alleinentscheidungsrecht des Ratgebers. 32 Finer, S. 386 ff. 33 Übersetzung: „Entfernung u n d Wiederernennung." 34 Übersetzung: „Persönliche Faktoren." 35 Übersetzung: „Kabinettsumbildung." 36 Übersetzung: „Kollegialprinzip." 37 Beispiele bei Finer, S. 386; L o r d Templewood, Nine Troubled Years, London 1954, S. 301 ff. 31

22 Lippert

3 3 8 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

b) The Personal Factors Ein weiteres, die Sanktionsdrohung der individual ministerial responsibility entschärfendes Moment kann von den persönlichen Faktoren, d. h. den Flügelbildungen und den persönlichen Verhältnissen innerhalb der Regierungspartei, erzeugt werden. Bereits i n der Phase der Regierungsbildung offenbart sich die gleiche Erscheinung: Die hinter den einzelnen Politikern stehenden Parteigruppierungen oder auch i n der Öffentlichkeit herrschenden Erwartungen zwingen den Prime Minister, bestimmte Ernennungen zu sichern 38 . I m umgekehrten Fall greift ebenfalls die Wirkung der persönlichen Faktoren zum Schutze des Ministers ein. Seine Position als Repräsentant eines Parteiflügels, Proporzüberlegungen, die Stimmung der öffentlichen Meinung sowie sein persönliches Verhältnis zu Premierminister und Kabinettskollegen sind geeignet, ihn durch die Einschaltung weiterer M i t t e l der Counterconventions zu schützen 39 . c) Reshuffle Ein bedeutsames M i t t e l gegen das Wirksamwerden der individual ministerial responsibility liegt i n den Händen des Prime Ministers. Das Recht der Patronage verschafft i h m die Möglichkeit des „Reshuffle", der Kabinettsumbildung. Die Counterconvention des Reshuffle reicht insofern weiter als das M i t t e l des „Removal and Reappointment", als i m Verfahren der Kabinettsumbildung der formale Rücktritt und die spätere Neuberufung nicht notwendig sind, sondern die einzelnen Minister nur ihre Positionen als Leiter der Ministerien vertauschen. Die englische Verfassungsgeschichte des parlamentarischen Zeitalters kennt viele Beispiele, i n denen die jeweiligen Premierminister es unternommen hatten, vom Parlament angegriffene Minister an die Spitze anderer Ministerien zu berufen und die freien Stellen m i t unbeteiligten, oft jungen Politikern zu besetzen 40 . Berühmte Beispiele für „Reshuffles" der jüngsten Geschichte bilden die von Churchill 1942 vorgenommene Regierungsumbildung 41 und insbesondere das Große Revirement MacMillans i m Jahre 1962, i n dessen Verlauf der Premierminister 24 Umbe38 Siehe dazu Heasman, D. J., The Prime Minister and the Cabinet, i n : Pari. Affairs, Vol. X V , Nr. 4, Herbst 1962, S. 461 ff., S. 464 f., dort viele Beispiele. 39 Vgl. hierzu die Ausführungen u n d die Beispiele Finers, S. 387 f. m i t w e i teren Nachweisen. 40 Beispiele bei Finer , S. 388 f. i n den verschiedenen Autobiographien, so f ü r viele: Jones, T., D i a r y w i t h Letters, i n : The Times, 3. J u n i 1936, S. 203, wo Auszüge aus diesem D i a r y abgedruckt sind; Churchill, W. S., The Second W o r l d War, London—Toronto 1951, Vol. I V , Kap. V, u n d die Biographie Broad , Lewis, Winston Churchill, London 1951, S. 375 ff. 41 Vgl. dazu Reith, Sir J., Into the Wind, London 1941, S. 441 ff.

2. Abschn. : Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

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Setzungen i n Kabinett und Regierung vornahm, u m seine Position gegenüber der Opposition und der eigenen Partei zu stärken 42 . d) Collective solidarity Einer der stärksten, der Verbindlichkeit der Doktrin von der individual ministerial responsibility entgegenwirkenden Faktoren ist die „collective solidarity", die konventionale Verpflichtung der Gesamtregierung zur Solidaritätswahrung 43 . Konkretisiert auf den Fall parlamentarischer Angriffe gegen ein bestimmes Regierungsmitglied, übernimmt die collective solidarity die Funktion eines Schutzschildes: Die Herausforderung des Einzelministers gilt als Versuch, die Gesamtregierung zu stürzen 44 . Das Unterhaus und damit die Regierungspartei werden plötzlich m i t der Entscheidung konfrontiert, entweder der eigenen Regierung i n einer als „ v i t a l " bezeichneten Frage eine Abstimmungsniederlage beizubringen oder von der „Verfolgung" des Ministers abzusehen. Der Grund für die hohe Wahrscheinlichkeit, m i t der die Regierungspartei angesichts einer parlamentarischen K r i t i k an einem Regierungsmitglied den Schutzwall der collective solidarity errichten wird, liegt i n der Gefahr einer Niederlage bei den nächsten Unterhauswahlen, wenn der angegriffene Minister zurücktritt und damit inzidenter ein eigenes oder vom Kabinett getragenes Fehlverhalten zugibt 45 . So entfaltete die collective solidarity ihre Schutzfunktion zugunsten der angegriffenen Minister Schinwell 194746, Henderson und Bevin 194947 und Strachey i n demselben Jahr 4 8 . Doch sind andererseits Situationen denkbar und auch eingetreten, i n denen das Gewicht der collective solidarity nicht zugunsten des Ministers eingesetzt wird, was grundsätzlich den Rücktritt des betroffenen Regierungsmitglieds zur Folge hat. Dafür können zwei Gründe maßgebend sein 49 . Einmal die infolge einer Abweichung vom Zweiparteiensystem geschaffene Parteikonstellation i m Unterhaus, welche die absolute Mehrheit einer Partei ausschließt. Diese Alternative ist gegenwärtig und i n absehbarer Zukunft eigentlich ausgeschlossen, da ein Wiedererstarken der Liberalen oder das Auftreten einer neuen Alternierungspartei als unwahrscheinlich anzusehen ist. 42 Z u r Kabinettsumbildung 1962 vgl. Jones, G. W., The Prime Minister's Power, i n : Parliamentary Affairs, 1964/65, S. 170. 43 Moodie (IV), S. 87 f. 44 Finer, S. 389. 45 Low, S., The Government of England, London 1914, S. 146 f.; Lowell, A . L., The Government of England, New Y o r k 1912,2 Vol., revised edition, S. 73. 46 So Finer, S. 389. 47 Vgl. House of Commons Debates v. 19.1.1949. 48 Finer, ebenda. 49 Finer, S. 390.

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3 4 0 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

I n der gegenwärtigen Lage des Parteiensystems kommt dem zweiten Grund weit größere Bedeutung zu. Der unter K r i t i k stehende Minister w i r d stets dann des Schutzes der collective solidarity entbehren, wenn sich die sein Verhalten rügenden Vorwürfe als begründet herausstellen und die Wahlchancen seiner Partei bei den nächsten General Elections zu gefährden drohen. I n einem solchen F a l l w i r d die Partei des M i n i sters auf seiner Auswechslung bestehen. Das prominenteste Beispiel für die soeben beschriebene Verfahrensweise bildet der Rücktritt des Kriegsministers i m Kabinett MacMillan, Profumo, i m Jahre 196350. Die anfängliche Entwicklung offenbart auch i n diesem Fall den zunächst vorherrschenden Willen i n der Führung der Konservativen Partei, m i t Hilfe der collective solidarity Profumo unter der Bedingung abzusichern, daß sich die Gerüchte über seine, möglicherweise die Sicherheit Großbritanniens gefährdenden, privaten Beziehungen als unwahr erweisen 51 . U m sein Verbleiben i m Amte zu rechtfertigen, gab Profumo am 22. März eine entsprechende Stellungnahme vor dem Unterhaus ab, i n der Beziehungen i n der getadelten A r t zu Miss Keeler geleugnet wurden. A m 4. Juni jedoch mußte der Minister i n einem an den Prime Minister gerichteten Brief die gegen seine Person gerichteten Vorwürfe zugeben. Gleichzeitig nahm er seinen Rücktritt 5 8 . Daß i h m der Schutz der collective solidarity versagt geblieben wäre, w i r d bereits aus der m i t dem Bekanntwerden der näheren Umstände schwindenden Autorität MacMillans ersichtlich: I n einer am 17. Juni 1963 stattgefundenen Unterhausabstimmung über das Vorgehen des Kabinetts i n der Behandlung der Angelegenheit blieben 27 konservative Abgeordnete der Abstimmung fern, u m auf diese Weise ihr Mißfallen über die „Leichtgläubigkeit" MacMillans zu bekunden 53 . Zwar war MacM i l l a n nach dem Rücktritt Profumos noch i m A m t verblieben, doch konnte ab diesem Zeitpunkt sein baldiger Rücktritt nicht mehr ausgeschlossen werden 5 4 . Der Versuch, Profumo unter den Schutz der collective solidarity zu stellen, hätte m i t nicht geringer Wahrscheinlichkeit das Kabinett durch eine backbench-rebellion gefährdet. e) Das Prinzip der Volkssouveränität

(als Counterconvention)

Als weitere, die Aktualisierung der individual ministerial responsib i l i t y hemmende Gegenkraft w i r k t die i n den General Elections zum 60 Siehe dazu die nähere Schilderung der m i t der Profumo-Affäre zusammenhängenden Ereignisse bei Bromhead, P., The B r i t i s h Constitution, i n : Parliamentary Affairs, Bd. 17 (1963 - 64), S. 142 ff., 145 - 147. 51 Vgl. L o r d Denning's Report, London 1964, § 131. 52 Bromhead, S. 145. 58 Siehe House of Commons Debates, 27th June 1963, col. 1649 f.; zur v o m Premierminister am 17. J u n i v o r dem Unterhaus abgegebenen Stellungnahme siehe Debates, 21st June 1963, col. 801 - 810. 54 Bromhead, S. 146.

2. Abschn.: Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

341

Tragen kommende Volkssouveränität. Obwohl i n der britischen Verfassungsrechtslehre noch nicht anerkannt 5 5 , haben die Auswirkungen der 1867 und den folgenden Jahren durchgeführten Wahlreformen ein für die englische Verfassung angesichts der nie stillstehenden konventionalen Fortentwicklungen charakteristisches „Mischsystem"5® entstehen lassen 57 . Die überkommenen Institute, die „technische Ausgestaltung" 5 8 des reinen Repräsentativsystems wurden beibehalten, damit aber der Blick auf den tatsächlichen Strom der Veränderungen verbaut. Das sich einspielende Zweiparteiensystem führte zur unmittelbaren plebiszitären Legitimierung des Premierministers i n den General Elections. Korrelierend dazu verlagerte sich die — ursprünglich dem Monarchen zukommende — materielle Abberufungsbefugnis vom Parlament i n Gestalt des Unterhauses auf die Wählerschaft. Diese noch näher zu beschreibenden Veränderungen sind daran erkennbar, daß eine parlamentarische Niederlage der Regierung i n einer „ v i t a l question" oder auch ein Mißtrauensbeschluß des Hauses nicht mehr unmittelbar zum Rücktritt des Premierministers und des Kabinetts, sondern zur automatischen Auflösung führt 5 9 . I n den darauffolgenden Wahlen entscheidet das V o l k den Streit zwischen Kabinett u n d Unterhaus. Der Vorgang bedeutet insofern die tatsächliche V e r w i r k lichung des Prinzips der Volkssouveränität i m Rahmen und i n den Formen des parlamentarischen Systems, als sich das V o l k damit die „endgültige Entscheidungsbefugnis" vorbehält 8 0 . Damit kann die gegenkonventionale W i r k u n g der Volkssouveränität hinsichtlich der individual ministerial responsibility bereits eingegrenzt werden: Sie vermag ihre stabilisierende W i r k u n g zugunsten des Einzelministers nur insoweit zu entfalten, als die Regierung sich zum Einsatz der collective solidarity zugunsten des bedrohten Kabinettsmitgliedes entschließt. T u t sie dies nicht, so steht der Gedanke der Volkssouveränität einer Entfernung des Einzelministers nicht entgegen, da nur der Premierminister und i m beschränkten Maße das Kabinett, nicht aber der seine Legitimation vom M Eine der wenigen Gegenstimmen w i r d v o n Marshall, G., The Constitutional Status of the People, i n : Parliamentary Affairs, 1956 - 1957, S. 148 bis 154, erhoben. 58 So Oppermann, S. 98. 57 Die soziologisch-politischen A u s w i r k u n g e n u n d die konventionalen F o l gerungen der Wahlreformen w u r d e n bereits geschildert: die H a u p t a u s w i r k u n gen bestanden i n einer schrittweisen Ausdehnung der wahlberechtigten Bevölkerung bis zur faktischen Kongruenz v o n Aktivbürgerschaft u n d erwachsener Bevölkerung, sowie i n der Organisierung der neuen Wählermassen i m Rahmen der beiden Großparteien. 58 Fricke, S. 218. 59 Küchenhoff, G. u. E., S. 176.

80

Friche, S. 212,

3 4 2 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Premierminister ableitende Einzelminister i n den Genuß des „plebiszitären Schutzes" gelangen. Fragt man nach den Adressaten der stabilisierenden W i r k u n g jener Gegenkonvention, so kommen sämtliche Faktoren 8 1 dem Einzelminister zugute. Demgegenüber sind es vor allem die Volkssouveränität, die collective solidarity, das Reshuffle und, eingeschränkt, das Removal and Reappointment, welche die Stellung des Premiers und damit des Kabinetts zwar nicht von der parlamentarischen Verantwortlichkeit, wohl aber von deren Sanktion durch Amtsverlust ohne vorausgehende Wahlentscheidung faktisch zu befreien vermögen. Die dem Prime Minister i n die Hände gelegte „Power of Patronage" läßt ihn zum, freilich politisch beschränkten 82 , „Herrn über das Kabinett" werden 03 . I h m steht das formale Ministerentlassungsrecht des Monarchen zu Gebote, u m sich von mißliebigen Ministern zu trennen, die zu einer Gefahr für die Regierung zu werden drohen. Das Widerstreben der Kabinettsmitglieder, zurückzutreten, beinhaltet eine interessante Wirkung — die Stärkung der Stellung des Premierministers. Derselbe Effekt 84 — m i t entsprechend verringerter Intensität — ist bei dem Removal and Reappointment einzelner Minister zu konstatieren. Der von der collective solidarity dem Prime Minister angebotene Schutz w i r d aus der das Amtsende sämtlicher Minister an die Amtszeit des Prime Ministers bindenden convention verständlich: Dem Nachfolger soll, formal, bei der Bildung des neuen Kabinetts freie Hand gelassen werden 85 . I m Ergebnis ist also festzuhalten, daß i n der Volkssouveränität das die parlamentarische Sanktion am stärksten hemmende M i t tel liegt. I I . D i e Absorption der ministeriellen Einzelverantwortlichkeit durch die collective responsibility

Der gesamte i n der Gegenwart von der parlamentarischen Verantwortung der britischen Regierung umspannte Bereich kann m i t der Doktrin von der individual ministerial responsibility keineswegs mehr gekennzeichnet werden. Aus diesem Grunde ist es erforderlich, weitere Stufen der Betrachtung einzuführen. 61 Removal, Reappointment, persönliche Faktoren, Reshuffle, collective solidarity sowie die Volkssouveränität. 02 So schildert Jones, S. 178 f. die Angewiesenheit des Premiers auf die übrigen führenden Männer seiner Partei. 83 Heasman, D. J., The Prime Minister and the Cabinet, i n : Parliamentary Affairs, autumn 1962, S. 479. 64 Jones, S. 170. 65 Heasman, S. 479; dies g i l t freilich nur, w e n n er v o n der bisherigen Regierungspartei gestellt w i r d , es sich also u m einen sog. „ s t i l l e n Sturz" handelt.

2. Abschn. : Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

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Die i m Schutze der collective solidarity verkümmerte Realisierbarkeit der individual responsibility führt automatisch zur collective responsibility. Die Doktrin der Kollektivverantwortlichkeit versucht, einen der charakteristischen Züge der britischen Kabinettsstruktur i n seinem Wesen und seiner Bedeutung zu beschreiben. I m folgenden soll untersucht werden, ob und inwieweit der Convention von der collective responsibility in der Gegenwart noch normative K r a f t zukommt. Dabei w i r d sich die Gelegenheit ergeben, auf Parallelentwicklungen i n den jüngsten deutschen Verfassungsschöpfungen hinzuweisen 1 . 1. Wesen und Grundlagen der collective responsibility

Bei der Beschreibung des Wesens der collective responsibility w i r d von britischen Autoren meist ein aus dem Jahre 1878 stammender Ausspruch Lord Salisbury's 2 herangezogen: „For all that passes i n Cabinet every member of i t who does not resign is absolutely and irretrievably responsible and has no right afterwards to say that he agreed i n one case to a compromise, while i n another he was persuaded by his colleagues . . . I t is only on the principle that absolute responsibility is undertaken by every member of the Cabinet, who, after a decision is arrived at, remains a member of it, that the joint responsibility of Ministers to Parliament can be upheld and one of the most essential principles of parliamentary responsibility established 3 ." Lord Salibury war es damit tatsächlich gelungen, die wesentlichen Merkmale des Verfassungsprinzips der Kollektivverantwortlichkeit zu erfassen: die collective responsibility als gesamthänderische Verantwortlichkeit gegenüber dem Unterhaus einerseits und als i m Verhältnis zwischen den Regierungsmitgliedern bestehender Komplex von Rechtspflichten andererseits. Beide Seiten stehen zueinander i n korrelierender Beziehung. Die britische Verfassungstheorie hat sich bisher überwiegend des Innenverhältnisses angenommen 4 . 1

Siehe Schneider, Franz, 1964, S. 40. Marquis of Salisbury , Life of Robert, Vol. I I , S. 219 f. 3 Übersetzung: „ F ü r alles, was i m Parlament geschieht, ist jedes Mitglied, das nicht aufgibt, absolut u n d unwiederbringlich verantwortlich, u n d es hat kein Recht, nachher zu sagen, daß es i n einem Falle m i t einem Kompromiß einverstanden war, während es i n einem anderen F a l l v o n einem Kollegen überredet wurde. N u r i m Prinzip w i r d absolute Verantwortlichkeit übernommen von jedem Kabinettsmitglied, das, nachdem eine Entscheidung gefällt worden ist, ein M i t g l i e d bleibt, (nur i m Prinzip) k a n n die M i t v e r a n t w o r t u n g aufrechterhalten werden u n d einer der wesentlichsten Grundsätze der parlamentarischen Verantwortlichkeit aufgestellt werden." Z i t i e r t nach Wade and Phillips, S. 64. 4 Hierzu zählt die gesamte, die Fragen v o n Kabinettsorganisation u n d Kabinettsreform behandelnde Literatur, so insbesondere f ü r viele: Schneider, Franz, S. 41 f. 2

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Dies erscheint verständlich, als die gegenwärtigen Einwirkungen von Seiten der Zweiparteienstruktur und des demokratisch-plebiszitären Verfassungselements die formal-parlamentarische Sanktion der collective responsibility unwahrscheinlich werden lassen5. Gemäß der D o k t r i n von der collective responsibility würde die Annahme eines ausdrücklichen Mißtrauensantrags durch das Unterhaus oder einer Niederlage der Regierung i n einer von ihr als „ v i t a l " bezeichneten Frage den Rücktritt oder, unter den gegenwärtigen, vom Zweiparteiensystem geprägten Verhältnissen, die Parlamentsauflösung zur Folge haben. Die Kollektivverantwortlichkeit des Kabinetts ist dabei nicht m i t der Summe der Einzelverantwortlichkeiten der Kabinettsmitglieder gleichzusetzen. Während diese nur den vom Einzelminister verwalteten Exekutivbereich umfaßt, bewirkt jene einen Sprung i n andere Dimensionen: Das Kabinett übernimmt die Verantwortlichkeit für die Formulierung und Durchführung des gesamten politischen Programms 6 . I m inneren Bereich entspricht der Unterschied von individual und collective responsibility der Unterscheidung von Ressort- und K o l legialprinzip i n der deutschen Staatsrechtslehre 7 . Das Ressortprinzip bezweckt die höchstmögliche Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Ressortministers 8 ; i h m entspricht i m Verhältnis zum Parlament die D o k t r i n der individual ministerial responsibility. Demgegenüber soll durch das Kollegialprinzip sichergestellt werden, daß die Regierungsentscheidung grundsätzlich durch kollegiale Beratung und Mehrheitsbeschlüsse der Mitglieder des Kabinetts gewonnen wird 9 . Der Gedanke der collective responsibility entspricht somit dem Kollegialprinzip 1 ®. Auch die beiden Elemente der Kollegialmaxime — kollegiale Beratung und Mehrheitsbeschluß — sind der collective responsibility entlehnt. Während der Mehrheitsbeschluß Folgen m i t Außenwirkung zeitigt, entfaltet das Erfordernis der kollegialen Beratung Wirkungen i n der Sphäre der Willensbildung. Letzteres Merkmal verlangt freilich nicht, daß jeder Minister an der Formulierung der allgemeinen politischen Ziele zu beteiligen ist 1 1 . Dem Gedanken der kollegialen Bera5 Vgl. dazu Ausführungen i m Zweiten Abschnitt, I I 2, 1. Kapitel, H a u p t t e i l 2, wo die den Einfluß der collective responsibility hemmenden Counterconventions beschrieben werden. 6 Vgl. Moodie (IV), S. 88. 7 Vgl. dazu Maunz—Dürig—Herzog, A n m . 1 zu A r t . 65 GG. 8 Maunz—Dürig—Herzog, A n m . 1 zu A r t . 65 GG. 9 Maunz—Düng—Herzog, ebenda. 10 Die dritte v o n der deutschen Staatsrechtslehre eingeführte G r u n d maxime, das Premier- oder Kanzlerprinzip, w i r d an anderer Stelle erörtert werden. 11 Wade and Phillips, S. 64,

2. Abschn. : Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

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tung ist bereits Genüge getan, wenn dem Minister Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde 1 2 . Bedingt durch die gewaltige Zunahme der politisch-verwaltungstechnischen Regierungsaufgaben seit dem Ersten Weltkrieg 1 8 und den Umfang der Nachkriegskabinette ist eine eingehendere Diskussionsmöglichkeit politischer Grundsatzfragen auf Kabinettsebene nicht mehr vorhanden 14 . Die eigentliche Information erhalten die Minister durch ihre Mitarbeit i n den Kabinettsausschüssen, wo sie i n der Diskussion Gelegenheit zur eigenen Stellungnahme finden 15. Die zweite Komponente des Kollegialprinzips, der Mehrheitsbeschluß, beinhaltet für die Kabinettsmitglieder die Verpflichtung, die i m fraglichen Beschluß verkörperte Regierungspolitik auch dann i n öffentlichen Stellungnahmen sowie parlamentarischen Abstimmungen zu vertreten, wenn sie persönlich nicht m i t ihr übereinstimmen sollten. Der Rücktritt stellt für das i n seiner persönlichen Meinung von der Regierungspolitik abweichende Kabinettsmitglied die einzige Möglichkeit dar, der Teilhabe an der kollektiven Verantwortlichkeit zu entgehen 16 . 2. Heutige Bedeutung

a) Ausgehend von der geschichtlichen Entwicklung der collective responsibility, lassen sich insgesamt vier Hauptbedeutungen aufzeigen. Die bereits nach der Glory Revolution (1688) feststellbaren erfolgreichen Bestrebungen, eine einheitliche Haltung der königlichen M i n i ster herbeizuführen, richteten sich gegen die Politik des Monarchen, die einzelnen Staatsmänner gegeneinander auszuspielen und auf diese Weise i n Abhängigkeit zu halten 1 7 . Noch während des gesamten 18. Jahrhun12

Moodie (IV), S. 89. So berichtet Schneider, Franz, S. 42 v o n 700 interministeriellen A u s schüssen, welche i n Großbritannien die A r b e i t der Regierungsbürokratie koordinieren sollen. 14 Die Gefahr der Stagnation an der Spitze w i r d bei McKenzie, Probleme der englischen Demokratie, i n : Die Demokratie i m Wandel der Gesellschaft, B e r l i n 1963, S. 56 ff., 62 diskutiert. 15 Z u den Kabinettsausschüssen siehe Mackintosh , S. 437 ff. 18 Die jüngste britische Verfassungsgeschichte kennt n u r eine Ausnahme von diesem Grundsatz, die durch die besonderen Umstände des 1931 gebildeten National Government verständlich w i r d : 1932 veröffentlichte das National Government eine Stellungnahme des Inhalts, daß i n der Schutzzollfrage den liberalen Ministern gestattet werde, ihre Meinung i n der Öffentlichkeit sowie i n parlamentarischen Abstimmungen zu vertreten; die volle Wirksamkeit der collective responsibility wurde jedoch kurze Zeit später w i e derhergestellt, als die betroffenen Minister u m ihre Entlassung baten; vgl. dazu Jennings (I), S. 219 ff., sowie die Schilderung der damaligen Vorgänge i m Detail bei Nicolson (I), S. 539 - 542. * 7 So Moodie (IV), S. 91. 13

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derts konnte von einem einheitlichen, als Staatsorgan geschlossen handelnden Kabinett nicht die Rede sein; der König bediente sich der Ratschläge verschiedener Einzelminister bei der Durchführung seiner Polit i k 1 8 . Erst die allmähliche Durchsetzung der parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit bis 1832 und die auf die Große Reformakte folgende Epoche der Parlamentssouveränität, vor allem jedoch das Zweiparteiensystem nach der demokratischen Wahlreform des Jahres 1867, sorgten dafür, daß ein homogenes Kabinett auch i n seiner Zusammensetzung dem Mehrheitswillen des Unterhauses entsprach. Die ursprüngliche Bedeutung der collective responsibility als Schutzmöglichkeit gegenüber der monarchischen Personalpolitik wurde abgelöst durch ihre Schutzwirkung zugunsten des Einzelministers. Ihre Bedeutung ist damit jedoch noch nicht erschöpft. I n beschränktem Maße führt das Kollegialprinzip auch zu einer gegenseitigen Machtbeschränkung der Minister, da Mehrheitsentscheidungen den Spielraum einzelner Persönlichkeiten einengen. Ein weiterer Effekt w i r d durch die Existenz eines von der Opposition der Regierung gegenübergestellten „Schattenkabinetts" sichtbar. Es ist ein Erzeugnis des starken Drucks, dem die Opposition durch die Regierungsmannschaft unterworfen ist: Nur die Herausstellung einer klaren, sachlichen und personellen Alternative legitimiert ihren Anspruch auf die Übernahme der Regierung 19 . Angesichts der drei bisher aufgeführten Bedeutungen w i r d bereits sichtbar, daß die Kollektivverantwortlichkeit — i m ganzen betrachtet — nicht als „verfassungsrechtliche Mythologie" 2 0 anzusehen ist. Die vierte und eigentliche Bedeutung der collective responsibility liegt i n ihrer parlamentarischen Sanktionsmöglichkeit. Da der kraft Votum des Unterhauses herbeigeführte Rücktritt des Premiers und des Kabinetts i n der jüngsten britischen Verfassungsgeschichte äußerst selten aufgetreten ist 2 1 , liegt die Vermutung nahe, daß auch die Convention der collective responsibility ihren die Sanktionierung hemmenden Einflüssen unterliegt. b) Hemmungen der parlamentarischen Sanktion der collective responsibility durch die Counterconventions. 18

So Wade and Phillips, S. 63. Moodie (IV), S. 91. So bezeichnet v o n Loewenstein (VI), S. 428. 21 Seit 1868 sind n u r f ü n f Premierminister auf diese Weise zum Rücktritt gezwungen worden: Es w a r dies i n den Jahren 1885, 1886, 1895, Januar 1924 u n d Dezember 1924. Der von Birch , S. 137, A n m . 1, vertretenen Ansicht, daß auch der Rücktritt Chamberlains 1940 i n diese Reihe aufgenommen werden sollte, ist entgegenzuhalten, daß eine vollzogene parlamentarische Niederlage gerade nicht vorliegt. Allerdings handelte es sich bei Chamberlain auch nicht u m einen an den Wahlchancen, sondern am Verlauf des Kriegsgeschehens orientierten Führungswechsel. 19

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2. Abschn. : Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

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Obwohl letztlich ein Niederschlag der zwischen den beiden Wahlreformen von 1832 und 1867 herausgebildeten Entwicklungen und Theorien, hat die auf der Suprematie des Parlaments fußende „liberale" Doktrin von der collective responsibility als herrschende Theorie bis i n die Gegenwart überlebt 22 . Doch bildet ungeachtet der ungebrochenen doktrinären Geltungskraft das Jahr der zweiten, großen Wahlreform, 1867, auch hier eine A r t von „Wasserscheide". Als Überbau der von der Reformakte erzeugten Veränderungen i m politisch-tatsächlichen Bereich wuchsen der Durchsetzung der collective responsibility entgegenwirkende Einflüsse, die i m folgenden wiederum als „Counterconventions" bezeichnet werden sollen. Der politisch-soziologischen Tatsache der Zusammenfassung der Massenwählerschaft i m Zweiparteiensystem entsprach die Convention der Parteidisziplin 23 . Die Vergrößerung des Kreises der Wahlberechtigten bildete die Grundlage für die moderne englische Verfassung, die ein Mischsystem aus der strengen repräsentativ-parlamentarischen Form und dem plebiszitär-parlamentarischen Element i n sich vereint 2 4 . Das dieser Synthese innewohnende Prinzip der Volkssouveränität führte zu der konventionalen Folge, daß das Parlament infolge seines plebiszitärlegitimierten Rückkoppelungsverhältnisses zum V o l k faktisch die Sanktionsmöglichkeit verlor, den Premierminister unmittelbar durch eine parlamentarische Abstimmungsniederlage zum Rücktritt zu zwingen. I n der Phase der Parlamentssuprematie konnte das Unterhaus den Premierminister durch den König unmittelbar einsetzen und abberufen. I n der zweiten, m i t der Reform von 1867 einsetzenden Phase hatte das Volk die letzte Entscheidung über den Stand des Kabinetts übertragen bekommen. I m Konfliktsfall, bei etwa i n Form eines Mißtrauensvotums angezeigter Diskrepanz zwischen Parlament und Regierung, folgen der automatischen Auflösung 2 5 Neuwahlen und die Entscheidung durch die Wähler. Der Aufstieg der beiden geschilderten konventionalen Mächte, der Parteidisziplin und der parlamentarisch-plebiszitär aktualisierbaren Volkssouveränität, hat die verfassungspraktischen Sanktionierungsmöglichkeiten der collective responsibility i m herkömmlichen Sinne weitgehend stillgelegt und auf eine andere Ebene verlagert 2 8 : Die Verant22

Birch, S. 136. Siehe dazu Dowse, Robert E., and Trevor Smith, Party Discipline i n the House of Commons — A Comment i n Parliamentary Affairs, Vol. X V I Nr. 2/ 1963, S. 159 if.; Lipson, Leslie, The T w o - P a r t y System i n B r i t i s h Politics, i n : The American Political Science Review, Vol. X L V I I 1953, S. 337 - 358. 24 Fricke, S. 216. 25 Küchenhoff, Günther u. Erich, S. 176; Fricke, S. 214. 26 Birch, S. 137. 23

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wortung von Premier und Regierung w i r d heute i m Rahmen der Generalwahlen i n der Weise aktualisiert, daß unmittelbar über den Bestand des Kabinetts entschieden wird. Überdies hat sich i n den letzten Jahren eine weitere Veränderung i m Gefüge der collective responsibility bemerkbar gemacht, die ihren Ausgangspunkt i m Innenverhältnis von Prime Minister und Kabinett nimmt, aber i n bedeutsamer Weise auf das Verhältnis von Regierung und Unterhaus oder Regierung und Volk ausstrahlt. Diese Frage soll i m folgenden untersucht werden.

ΙΠ. Das Premierprinzip und die Konzentration der Verantwortung beim Premierminister Neben dieser weitgehenden Stillegung der collective responsibility ist ein weiterer, zu einer Reduktion des Adressatenkreises der collective responsibility führender Prozeß festzuhalten, dessen Abschluß, wenn nicht schon erreicht, so doch unmittelbar abzusehen ist: die Zuspitzung der collective responsibility i m Prime Minister. I n i h m konzentriert sich die aktualisierbare Verantwortung, wovon die übrigen Kabinettsmitglieder nur mehr mittelbar betroffen sind. Gewisse, vor wenigen Jahrzehnten einsetzende und nach dem Zweiten Weltkrieg i n das allgemeine Bewußtsein gerückte Veränderungen der verfassungspolitischen Machtstruktur haben damit den verfassungsrechtlichen Ausprägungen des Kanzlerprinzips i m Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland sehr ähnliche Ergebnisse erzeugt 1 . Da die Entwicklungsrichtung der konventionalen Anpassung bekannt ist, erschien es sachgerecht, die Konzentration der collective responsibil i t y auf den Premierminister bereits als jetzt vollendet zu beschreiben, obwohl diese Stufe möglicherweise erst i n wenigen Jahren vollkommen erstiegen sein wird. 1. Die Theorie vom „Prime Ministerial Government" als Reaktion auf die tatsächlichen Veränderungen im Regierungsgefüge

a) Die Erweiterung der verfassungspolitischen Machtstellung des Regierungschefs Noch der große Premierminister des ausgehenden 19. Jahrhunderts, W i l l i a m Gladstone, konnte hinsichtlich der Machtverteilung innerhalb des Kabinetts aus gutem Grunde eine Ansicht äußern 2 , die zum Allgemeingut von Theorie und Praxis gehörte: Die Ursache für eine Revision dieser Vorstellungen bestand i n der fast diktatorialen Machtfülle der 1 2

Ridley, S. 447. Ridley, S. 447.

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beiden überragenden Führerpersönlichkeiten der beiden Weltkriege, L l o y d George und Winston Churchill 3 , und der darin zum Ausdruck gelangenden, gewaltig erweiterten verfassungspolitischen Machtstellung des britischen Regierungschefs. Die einsamen Entschlüsse Edens während der Suez-Krise fügen sich i n dieses Bild 4 . Als weithin sichtbares Zeichen der „supra-präsidentiellen Macht" 5 des Premierministers werden insbesondere angesehen8: seine Heraushebung aus dem Kabinett, seine plebiszitäre Legitimierung durch die Wählerschaft, die Vereinigung von Regierung und Parteileitung i n seiner Hand, das faktische Verfügungsrecht über die Lebensdauer des Unterhauses, die Ernennung und Entlassung von Regierungsmitgliedern, die tatsächlich innegehabte Organisationsgewalt sowie das formelle und materielle Recht der Patronage über zahlreiche Regierungsämter, i n sachlicher Hinsicht auch i m Bereich der anglikanischen Staatskirche. Ungeachtet dieser einschneidenden Veränderungen wurden die begrifflichen Konsequenzen nicht sofort gezogen: Die britische Regierungsform wurde weiterhin m i t dem Ausdruck „Cabinet Government" belegt 7 . Die Bemühungen u m eine dogmatische Einordnung der neuen verfassungspolitischen Situation setzten erst zu Beginn der sechziger Jahre ein. b) Entwicklung

der Theorie

Die Machtverteilung innerhalb der Regierung, die Stellung des Premierministers innerhalb des Kabinetts bilden bereits seit dem Erscheinen von Sir Ivor Jennings berühmtem Buch „Cabinet Government" 8 einen Schwerpunkt der theoretischen Diskussion der Gegenwart 9 . Während A r t h u r Berriedale K e i t h sein Werk „British Cabinet System" 1 0 noch m i t dem Satz: „The national Government of Great B r i t a i n today is controlled by the Cabinet" 1 1 beginnt, die Kabinettsregierung gelegentlich als Kabinettsdiktatur 1 2 bezeichnet wurde, bildete sich allmählich 3

Nuscheier, S. 151. Nuscheier, ebenda. 5 So Berkeley, Humphrey, The Power of the Prime Minister, London 1968, S. 118. 6 Dazu f ü r viele: Nuscheier, S. 152; Schneider, Franz, S. 51; Berkeley, S. 24. 7 Davon bilden allerdings Muir, S. 83, „ W o r k i n g head of the state" u n d die Geschwister Webb, Sidney u n d Beatrice, A Constitution for the Socialist Commonwealth of Great Britain, New Y o r k 1920, S. 72, „The dictatorship of one man", die i n der Zwischenkriegszeit bereits auf die diktatorische Stellung des Premiers hingewiesen hatten, eine Ausnahme. 8 2nd edition Cambridge 1951. 9 Schneider, Franz, S. 42. 10 London 1952. 11 Übersetzung: „Die britische Regierung steht heute unter der Kontrolle des Kabinetts." 12 So Viscount Cecil of Chelwood i n einer Oberhausrede 1950, zit. nach Jennings —Ritter, Das Britische Regierungssystem, Quellenbuch, Köln—-Opla4

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eine Gegenposition innerhalb einer Autorengruppe 13 , die der traditionellen Theorie vom „cabinet government" ausdrücklich oder konkludent den Begriff des „Prime Ministerial Government" entgegenhielt. Während einerseits Carter noch als Vertreter der traditionellen Lehre vom Cabinet Government i n Erscheinung t r i t t , stellt er andererseits das A m t des Prime Ministers i n den Mittelpunkt und bekämpft die überkommene Formel vom „primus inter pares". „The Prime Minister is the real source of office and honour; he may exercise a directing authority which is the envy of political leaders of other states 14 ." I n den folgenden Jahren wurde das Buch von John P. Mackintosh „The British Cabinet" zum Standardwerk 1 5 der modernen britischen Verfassungstheorie. Darin werden die traditionellen Standpunkte von Morrison 16 und Chester 17 m i t scharfer K r i t i k überzogen. Den genannten Schriftstellern w i r d vorgeworfen, die Frage nach der tatsächlichen Machtverteilung nicht gestellt zu haben 18 . Mackintosh selbst gelangt zum Ergebnis, daß England vom Premier regiert werde 1 9 . Demgegenüber hätte das Kabinett ein hohes Maß an Entscheidungsermessen an die vorbereitenden Fachausschüsse oder den Premierminister selbst verloren und sei zu einem vom Regierungschef besetzten Koordinationsorgan geworden. I n i h m führe der Premier den Vorsitz, bestimme die Tagesordnung und interpretiere nicht nach Kampfabstimmung, sondern nach Einzelbefragung die Meinung des Gremiums. Mackintosh 20 sieht den 1958, S. 120, an der viele Wissenschaftler festhalten, so f ü r mehrere: McKenzie, R. T., Probleme der englischen Demokratie, i n : Die Demokratie i m Wandel der Gesellschaft, B e r l i n 1963, S. 59; Carter, B y r u m E., „The Office of Prime Minister", London 1956, S. 193. 13 Dazu zählen insbes. Heasman, D. J., The Prime Minister and the Cabinet, i n : Parliamentary Affairs, 1962, S. 481 if.; Brasher, H., Studies i n B r i t i s h Government, London 1965; Hinton, R. W. K , The Prime Minister as an Elected Monarch, i n : Parliamentary Affairs, 1960, S. 297 if.; Genemy , F. W. G., The Elected Monarch, London, Toronto, Wellington, Sidney, 1965. 14 Übersetzung: Der Premierminister ist die wahre Quelle von A m t u n d Ehre; er gebietet über eine Führungsmacht, u m die er v o n ausländischen politischen Führern beneidet w i r d . 15 London 1962. 16 Morrison, Herbert, Government and Parliament: A survey f o r m the inside, t h i r d edition, Oxford 1964. 17 Chester, D. N., Neue Entwicklungen i n der Britischen Kabinettsregierung, i n : PVS 1960/1961; Jahrgang I. und II., S. 37 ff. 18 Mackintosh, Appendix I I , S. 532. 19 „ W h i l e B r i t i s h Government i n the latter half of the 19th Century can be described simply as Cabinet Government, such a description w o u l d be misleading today. N o w the country is governed by the Prime Minister." Übersetzung: „Während die britische Regierung i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Kabinettsregierung beschrieben werden kann, wäre eine solche Beschreibung heutzutage irreführend. Jetzt w i r d das L a n d v o m Premierminister regiert." Z i t i e r t nach Nuscheier, S. 153. 20 Mackintosh, S. 383 f.

2. Abschn.: Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

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die vornehmste und gleichzeitig einzig verbliebene Aufgabe des Kabinetts i n der Koordination der an Umfang und Vielfältigkeit zunehmenden Verwaltung, nicht aber i n der Führung von Mehrheitspartei und damit Parlament. Eine sich i m gleichen Jahre zu Wort meldende Stimme aus der politischen Praxis bestätigt dies auch: „Every cabinet member is i n a sense a Prime Minister's agent, his assistance. I t is the Prime Minister's cabinet and he is the one person directly responsible to the Queen 21 ." Lord Homes Darstellung bedeutet nichts weniger als die Reduktion der Funktionen des Kabinetts und seiner Mitglieder auf die bloß beratende Assistenz des die „general policy" (die Richtlinien) bestimmenden Premierministers. Zwar ist der Führungsanspruch hinsichtlich der Richtlinienkompetenz i n der britischen Verfassungstheorie nicht herrschend anerkannt 22 , doch legen die bereits erwähnten kombinierten konventionalen Befugnisse des Prime Ministers i m Verhältnis zum Kabinett und den übrigen Verfassungsorganen dieses Ergebnis nahe. Das Argument w i r d verstärkt durch einen weiteren wichtigen Gesichtspunkt: Die Exekutivfunktion ist i m britischen Regierungssystem rechtlich grundsätzlich bei der Krone verblieben. Bestimmte Teile der Prärogative können durch Parlamentsgesetz abgelöst und Regierungsstellen übertragen worden sein, während andere prärogativ erfaßte Gebiete zwar der Krone noch formell zustehen, über ihren Einsatz aber wiederum die parlamentarisch verantwortliche Regierung bestimmt 2 3 . „Principal adviser" — Hauptberater — des Monarchen ist jedoch der Premierminister. Er stellt das einzige Verbindungsglied zwischen Kabinett und Monarchie dar 2 4 . Nur m i t seiner Zustimmung ist ein informatorischer Kontakt zwischen Monarchen und einem Einzelminister überhaupt möglich. Mackintosh hatte es ungeachtet seiner neuen Thesen nicht unternommen, den überkommenen Begriff des „cabinet government" durch einen neuen Ausdruck abzulösen. Bereits i m Jahre 1960 hatte Ernst Fraenkel den Ausdruck „Premierminister-Demokratie" 2 5 zur Kennzeichnung der eingetretenen Änderungen gebraucht. 21 Ridley , F. F., Chancellor Government, i n : Parliamentary Ä f f airs, Vol. X I X , London 1966, S. 446 ff. (446). Übersetzung: „Jedes Kabinettsmitglied ist i n einem gewissen Sinn ein Agent des Premierministers, seine Unterstützung. Es ist das K a b i n e t t des Premierministers, u n d er ist die Person, die der K ö n i g i n gegenüber u n m i t t e l b a r verantwortlich ist." 22 Dazu Ridley , S. 447. * 23 Schlötterer, S. 73 ff. Dieses Verhältnis stellt wiederum ein Beispiel dar f ü r den Rollentausch von ursprünglichem Berater u n d Entscheidungsträger. 24 So Ridley, S. 448. 25 Fraenkel, Ernst, Historische Vorbelastung des deutschen Parlamentarismus, i n : Deutschland u n d die westlichen Demokratien, Stuttgart 1964, S. 18.

3 5 2 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Die begriffliche Überwindung des „cabinet system" gelingt schließlich Richard Crossman m i t der Formulierung des „Prime Ministerial Government" 2 6 . Zunächst warf er den Traditionalisten i n der Aufrechterhaltung von der Doktrin von der parlamentarischen Souveränität vor, sich m i t einer von Bagehot erzeugten „Legende" identifiziert zu haben. Darüber hinaus sieht er das Cabinet System als seit dem Jahre 1931 zu den „würdigen Teilen" der Verfassung gehörend an. Crossman rezipiert i n einer weiteren Beziehung die Gesetzmäßigkeit Bagehots, wenn er dessen für das Kabinett gebrauchte Funktionsbeschreibung „a hyphen which joins, a buckle which fastens the legislative part of the state to the executive part" 2 7 auf den Premierminister überträgt. Vor allem aber liegt die Besonderheit des Prime Ministerial Government nach Ansicht Crossmans darin, daß die Befugnis die grundlegenden politischen Entscheidungen zu treffen, vom Kollektiv des Kabinetts auf den Premierminister übergegangen sei. Ähnlich Sir Douglas Home betrachtet auch er die übrigen Kabinettsmitglieder als bloße Vollzugsgehilfen des Prime Ministers, was diesen zum alleinigen Führer einer Parteiphalanx erhebe 28 . Darin liegt gleichzeitig die Anerkennung der faktischen Richtlinienkompetenz des britischen Regierungschefs. Die neue Theorie von der „Suprematie" des Premierministers hat inzwischen eine große A n hängerschaft gefunden 8 ·. 2. Die Verkürzung der collective responsibility auf die individual responsibility des Prime Ministers als Folge des Prime Ministerial Government

Die soeben unternommene Schilderung der i n den letzten Jahrzehnten vollzogenen Herausbildung des Prime Ministerial Government deutete bereits an, daß diese Entwicklung nicht ohne Auswirkungen auf das Verhältnis von Kabinett und Kontrollorgan Unterhaus oder der letztlich hinter diesem stehenden Wählerschaft bleiben konnte. Die m i t der traditionellen Formel des „primus inter pares" nicht mehr zu kennzeichnende, führende Stellung des Prime Ministers i m Kabinett, die Abhängigkeit der Minister vom Kabinettschef hinsichtlich ihrer 26 Crossman, Richard, Introduction to Walter Bagehot's English Constitution, London 1963, S. 51. 27 Übersetzung: „ E i n Bindestrich, der zusammenfügt, eine Schnalle, die den legislativen T e i l des Staates m i t dem exekutiven T e i l verklammert." 28 Crossman, R., S. 40 ff. 29 Benemy , Frank, W i l l i a m , The Elected Monarch, London—Toronto— Wellington—Sidney, 1965; Brasher , Η., Studies i n B r i t i s h Government, L o n don 1965, Kap. I I I ; Berkeley , Η., The Power of the Prime Minister, London 1968; Hinton, R. W. K., The Prime Minister, as an Elected Monarch, i n : Parliamentary Affairs, Bd. X I I I , 1960, S. 297 ff., sowie Jones, S. 167 - 185.

2. Abschn.: Monopolisierung des Entsetzungsrechts beim Unterhaus

353

Ernennung und Entlassung sowie die inzwischen den Premierminister umgebende politische Sphäre, i n der er die „general policy", die Richtlinien, nach freiem Ermessen zu bestimmen vermag, haben die Minister von gesamthänderischen Teilhabern der Macht zu „Agenten des Premierministers" 3 0 herabgedrückt. Auch der 1782 dem Gedanken der collective responsibility neuen Ausdruck verleihende, vom Kabinett Lord North praktizierte Präzedenzfall, wonach die Beendigung der Rechtsstellung des Prime Ministers den Amtsverlust sämtlicher Regierungsmitglieder nach sich zieht, erzeugte letztlich eine die Stellung des Prime Ministers von derjenigen der M i n i ster weiter differenzierende Convention. Zusätzliche Anhaltspunkte ergeben sich aus der Eigenschaft des Premierministers als des einzigen Verbindungsglieds zwischen Monarch und Kabinett, seiner bis vor kurzer Zeit noch formal innegehabten Stellung als Leader of the House 31 und vor allem der seit der zweiten Wahlreform faktisch und seit 1923 i n einem Präzedenzfall gesicherten, ausschließlich i h m vorbehaltenen Entscheidung über die Auflösung des Parlaments 32 . Schließlich ist an die seit der zweiten Wahlreform von 1867 wirksame neue Grundlage der plebiszitär-parlamentarischen Legitimation des Premierministers zu erinnern. Die seit einigen Jahren i n der Lehre vorgenommene Neuinterpretation der Stellung des Regierungschefs zieht häufig Vergleiche zwischen dem Prime Minister und dem amerikanischen Präsidenten, die allerdings stets an der i n der amerikanischen Verfassung strikt verwirklichten Gewaltentrennung scheitern müssen. Naheliegender erscheint der Vergleich m i t den ausschließlich dem Präsidenten verantwortlichen amerikanischen Secretaries of State und den deutschen Bundesministern. A r t . 65 Grundgesetz bestimmt i n diesem Zusammenhang: „Jeder Bundesminister leitet seinen Geschäftsbereich i m Rahmen der vom Bundeskanzler gesetzten Richtlinien selbständig und unter eigener Verantwortung". Dadurch w i r d jedoch keine selbständige Verantwortung gegenüber dem Bundestag, sondern ausschließlich gegenüber dem Bundeskanzler begründet 33 . Die noch i n der Weimarer Verfassung verankerte Einzelverantwortung der Reichsminister wurde i m Grundgesetz mediatisiert durch die Verantwortung gegenüber dem Bundeskanzler, der als einziges M i t -

80

So Sir Alee Douglas-Home i n seinem Interview. Leader of the House entspricht der Stellung eines Fraktionsvorsitzenden der Regierungsfraktion i n Deutschland, so Gespräch m i t N e v i l Johnson v o m Naffield College, Oxford. 32 Siehe dazu Jennings (I), S. 312. 38 Maunz—Dürig—Herzog, A n m . 3 zu A r t . 65, Randziffer 4. 81

23 Lippert

3 5 4 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

glied der Bundesregierung parlamentarisch legitimiert 3 4 , vom Bundestag abberufbar ist 3 5 und insgesamt 36 die Verbindung von Regierung und Parlament herstellt. Es ist naheliegend, die vom Grundgesetz getroffene Regelung zur Bewertung der i n der britischen Regierungsspitze sichtbar werdenden Strukturveränderungen heranzuziehen. Gerade die Stellung und das Verständnis der englischen Kabinettsmitglieder als Hilfsorgane des Prime Ministers einer- und die faktisch errichtete Richtlinienkompetenz sowie parlamentarisch-plebiszitär legitimierte Stellung des Premiers andererseits stellen Parallelvorgänge m i t den entsprechenden Ergebnissen dar. Die individual responsibility der Minister wurde i n Großbritannien ebenfalls durch die Abhängigkeit vom Premierminister überlagert 37 . Der Premierminister bildet ebenfalls, wie der Bundeskanzler, das herausgehobene Verbindungsglied zum Parlament und zur Wählerschaft. Die Convention von der Entscheidungsbefugnis des Premierministers über die Auflösung des Parlaments unter Ausschaltung des Kabinetts sowie das den obligatorischen Rücktritt sämtlicher Minister erzwingende Amtsende des Premierministers beweisen dies. Das Weiterbestehen der individual ministerial responsibility w i r d damit nicht geleugnet — sie ist allerdings nur mehr mittelbar zu realisieren. Die dem britischen Regierungschef zustehende Richtlinienkompetenz sowie die weiteren i h n i n eine von seinen Kollegen „verschiedene Dimension" 3 8 hineinstellenden Befugnisse und die damit erzwungene Reduktion des Entscheidungsbereichs der Einzelminister markieren den Ubergang zum Premierprinzip. Wie aber Ressortprinzip und die individual ministerial responsibility, Kollegialprinzip und collective responsibility miteinander korrelieren, entsprechen sich Premierprinzip und die i m Prime Minister konzentrierte Verantwortlichkeit des Kabinetts. Die drei genannten Prinzipien stehen dabei nicht isoliert nebeneinander, sondern sind miteinander kombiniert und überlagern sich. Die früher festgestellte Überlagerung der individual ministerial responsibility durch die collective responsibili t y ist nun abgelöst durch den Übergang auf die Alleinverantwortlichkeit des Premierministers 39 , die dem neu kreierten Regierungstyp des 34

A r t . 63. A r t . 67. 3e Über A r t . 65, 68, 69, 81. 37 a. A . Ridley , S. 448, welcher der D o k t r i n der i n d i v i d u a l ministerial responsibility noch ungebrochene Wirksamkeit zubilligt. 38 s. Schneider, Franz, S. 42, 49 ff. 39 E i n wirksamer T e i l des Kollegialprinzips ist noch i m sog. „Inneren K a b i n e t t " enthalten; zum Begriff vgl. die Hinweise bei Schneider, F., K a b i nettsreform, S. 52 ff. 35

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

355

Prime Ministerial Government entspricht, wo das Kabinett grundsätzlich nicht mehr über die Autorität verfügt, den Maßnahmen des Premiers, soweit diese nicht i n erkennbarem Widerspruch zur öffentlichen Meinung stehen, „die Gefolgschaft zu verweigern" 4 0 . E i n anerkannter Grundsatz englischen Staatsdenkens, keine Macht ohne Verantwortung, findet i n der Konzentration der Kabinettsverantwortlichkeit i m Premierminister seine Bestätigung.

Dritter Abschnitt

Die Stillegung der parlamentarischen Entsetzungsbefugnis durch die Aktualisierung der plebiszitären Abberufung in der Verfassungspraxis Das Modell einer Monopolisierung der Verfügungsbefugnis über das Amtsende des Premierministers beim Unterhaus ist nicht i n der Lage, den zeitgenössischen, hinsichtlich der Abberufung des Premierministers herrschenden Verfassungszustand zu beschreiben. Ein Blick auf die Verfassungspraxis der vergangenen hundert Jahre läßt unschwer erraten, daß neben dem Parlament, ja vor allem an dessen Stelle, Kräfte an der Entscheidung über das Amtsende des Premierministers beteiligt sind, die erst nach der Wahlreform von 1867 politische Wirksamkeit entfalteten. Auch bei der Abberufung ringen zwei verschiedene Strukturprinzipien u m die Vorherrschaft; es sind dies das repräsentativ-parlamentarische sowie das plebiszitär-parlamentarische Element. Der „Wettlauf zwischen beiden Souveränen" 1 , die Frage, welcher Einfluß überwiegt, w i r d dabei durch die Parlamentsauflösung kanalisiert. Hier ist entscheidend, wem die materielle Inhaberschaft des Auflösungsrechts zusteht, wer die „Frage an das V o l k " 2 zu stellen berechtigt ist. Es w i r d die Aufgabe dieses Abschnitts sein, u.a. nicht nur die verschiedenen Bedeutungen der Parlamentsauflösung i m allgemeinen und als Indikator für die verfassungsrechtliche Position der beteiligten Verfassungsorgane hervorzuheben, sondern auch die der Auflösung zukommende Funktion als Klammer zwischen beiden Systemelementen und — i n Anbetracht 40 1 2

23*

Schneider, F., S. 56. So Jellinek, Walter (II), S. 46 ; er meint damit Parlament u n d Volk. Schmitt, S. 340.

3 5 6 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

des unserer Gegenwart innewohnenden Verlangens nach plebiszitärer Legitimation — den von ihr geleisteten systemerhaltenden Dienst zu schildern.

I . Das parlamentarisch-plebiszitäre Verfassungselement

Das englische Regierungssystem w i r d noch i n der Gegenwart zu den vom Burkeschen Repräsentativprinzip durchdrungenen Verfassungsordnungen gerechnet 1 . Die Theorie Burkes bezweckte ursprünglich die theoretische Stützung des gegen Krone und Volk erhobenen parlamentarischen Souveränitätsanspruchs 2 . M i t den von den Wahlreformen gegen Ende des vorigen Jahrhunderts vorangetriebenen tiefgreifenden Veränderungen i n Umfang und Organisation der Wählerschaft geriet das ausschließlich repräsentativ ausgestaltete System zunehmend i n den Sog neuer politischer Zeitströmungen und damit i n die Gefahr seiner Aufhebung. Die am Ende der Reformen stehende „Fundamentaldemokratisierung" 3 trug den potentiellen K e i m revolutionärer Vernichtung des Repräsentativsystems i n sich. M i t Verwirklichung des „Democratic Principle" 4 war die „plebiszitäre Legitimität" 5 zum primären Rechtfertigungssystem aufgestiegen. Das englische parlamentarische System hatte den plebiszitären A n griff auf seine Lebensfähigkeit angenommen und — unter teilweiser Einbeziehung der Gegenstruktur® — bis heute abschlagen können. Als Ergebnis wurde das sich gegenwärtig immer noch i m Übergangsstadium befindliche plebiszitär-repräsentative parlamentarische Regierungssystem geboren, das einen Versuch des Ausgleichs zwischen beiden Prinzipien verkörpert und erstaunliche Anpassungsfähigkeit beweist. Obwohl inzwischen Veränderungen i n der Rolle des Unterhauses zu beobachten sind, ist der Weg zum plebiszitären System noch nicht zu Ende gegangen: Letzte, aber widerstandsfähige Bollwerke liegen i n der Struktur der bezeichnenderweise auf den Parlamentsfraktionen basierenden englischen Parteien 7 sowie i n der traditionellen Auffassung von 1

Birch, u n d seine Texte. Vgl. Näheres dazu bei Fraenkel, Verfassungsstaat, Tübingen 1958, S. 12 f. 8 So Fraenkel (I), S. 16. 4 Jennings (I), S. 13 ff. 5 „ D e m plebiszitären System e n t s p r i c h t . . . eine Verfassung, i n der das V o l k u n m i t t e l b a r als handelndes Subjekt der Staatsgewalt a u f t r i t t u n d i n der i h m eine unmittelbare E i n w i r k u n g auf die Staatsgestaltung i n F o r m von Sachentscheiden zugestanden ist." Fraenkel (I), S. 7. 6 Hesse, S. 14. 7 Die infolge der rigorosen Parteidisziplin ein zugunsten der Abgeordneten gegenüber den Wählern wirkendes repräsentatives Element geworden waren, Oppermann, S. 100f. 2

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

357

der Regierung als eines Treuhänders des Volkes, welche die Annahme einer Identität von Regierenden und Regierten ausschließt. Damit w i r d die Idee von der Regierung als einem „trust" zu einem M i t t e l der Erhaltung der repräsentativen Grundlagen des englischen Regierungssystems 8 . 1. Die soziologisch-tatsächlichen Grundlagen

Die an verschiedenen institutionellen Verschiebungen der letzten hundert Jahre meßbare Auffüllung des repräsentativen Rahmens m i t plebiszitären Verfassungselementen wurde durch eine Welle von Strukturveränderungen i m politisch-tatsächlichen Bereich ausgelöst. Die damit i n Zusammenhang stehenden Grundlagen, Vorgänge und daraus gezogenen konventionalen Folgerungen wurden bereits i m Zusammenhang m i t der plebiszitären Bestellung des Premierministers erörtert®. Die dort gewonnenen Erkenntnisse sollen zum Verständnis der ebenfalls plebiszitär gestalteten Abberufung des Prime Ministers kurz wiederholt werden. Drei Faktoren bereiteten der plebiszitär-parlamentarischen Entwicklung den Boden. Es sind dies: die von den aufeinanderfolgenden Wahlreformen seit 1867 herbeigeführte Erweiterung der Wählerschaft bis h i n zur fast vollständigen Kongruenz von wahlberechtigter A k t i v b ü r gerschaft und Volk i n der Gegenwart, die Ausformung des Zweiparteiensystems und schließlich die i m Parlament geltende Parteidisziplin. Während die Große Wahlreform von 183210 nur die Besitzqualifikation auf das mit fortschreitender industrieller Revolution zu wirtschaftlicher Macht gelangte Gewerbe- und Industriebürgertum ausgedehnt und damit die Zahl der Wahlberechtigten u m rund 200 000 vergrößert hatte, erzwang die von dem konservativen Premierminister Disraeli durchgesetzte zweite Wahlreform 1 1 i m Jahre 1867 den ersten großen demokratischen Durchbruch. Einerseits wurde durch eine starke Senkung der Besitzqualifikation i n den Grafschaften (von 10 auf 5 Pfund) der ländliche, grundbesitzende Wählerstamm vergrößert; vor allem jedoch erfolgte die Umgestaltung der bisher eigentlich geltenden „Eigentumsqualifikation" i n eine tatsächliche bloße Besitzqualifikation, da i n den boroughs die Mieter ab einem geringen Mietjahreswert i n die Wählerlisten aufgenommen werden konnten. Den städtischen Arbeitermassen war damit der Weg zur Partizipation an der staatlichen Macht freigelegt worden. 8 9 10 11

Siehe dazu Fraenkel (I), S. 18. Vgl. dazu die Ausführungen oben, 3. Abschn., I I I , 1. Kap., 1. H.teil. The Representation of the People Act, 2 u. 3 W i l l . 4, c. 45. 30 u. 31 Victoria, c. 102.

3 5 8 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Die Wahlreform von 188412 vergrößerte die Zahl der Wahlberechtigten u m zwei Millionen und enthielt den größten Schritt i n Richtung einer Demokratisierung. Vom Stimmrecht ausgeschlossen war nur noch der weibliche Teil der Bevölkerung sowie jene Männer, welche die niedrige Besitzqualifikation von 10 Pfund nicht zu erfüllen vermochten. Die Reformen von 191818 und 192814 nahmen die Frauen i n den Kreis der Wahlberechtigten auf und besorgten damit die Angleichung des britischen Wahlrechts an die demokratischen Errungenschaften anderer westlicher Staaten. Den „demokratischen Schlußstrich des Wahlgewölbes" 15 fügte schließlich der Representation of the People Act von 19491β hinzu, m i t dem alle Besitzqualifikationen entfielen. Der zweite zugunsten einer plebiszitären Umgestaltung der britischen Verfassung wirkende Faktor ist i n der Organisation der m i t den Wahlreformen inflationär erweiterten wahlberechtigten Aktivbürgerschaft i n zwei Hauptparteien zu sehen. Unter Zweiparteiensystem soll hier die Situation verstanden werden, daß 1. nicht mehr als zwei Parteien die Chance eingeräumt ist, die Regierung zu bilden, 2. die i n den Wahlen siegreiche Partei damit auch die erforderliche parlamentarische Mehrheit erringt und i n der Lage ist, sich ohne die Hilfe einer weiteren Partei an der Macht zu halten, 3. die beiden Hauptparteien sich i n angemessenen Zeitabständen als Regierungspartei ablösen 17 . Das Problem der Entstehung, Festigung und Erhaltung des Zweiparteiensystems hat i n der Literatur verhältnismäßig geringe Beachtung gefunden. Die bisher hinsichtlich seiner Entwicklung abgegebenen Stellungnahmen lassen sich i n die folgenden beiden Hauptgruppen einteilen: einmal w i r d das Zweiparteiensystem auf die Eigenarten der britischen Verfassungsinstitutionen zurückgeführt 18 , zum anderen werden 12

Representation of the People Act, 48 u. 49 Victoria, c. 3. Representation of the People A c t 1918, 7 u. 8 Geo. 5, c. 64. 14 Representation of the People A c t 1928,18 u. 29 Geo. 5, c. 12. 15 Loewenstein (VI), S. 99. 16 12,13 u. 14 Geo. 6, c. 68. 17 Vgl. dazu Lipson, L., The T w o - P a r t y System i n B r i t i s h Politics, i n : The American Political Science Review, Vol. X L V I I 1953, S. 337 - 358, 338. 18 Dazu zählen: Lowell , Α . L., Governments and Parties i n Continental Europe, Boston—New Y o r k 1896, vol. I , S. 71 f., der das Cabinet-System als Ursache des Zweiparteiensystems ansieht; Goswell, H. F., Democracy the Threshold of Freedom, New Y o r k 1948, S. 242, der die Parlamentsauflösung als G r u n d angibt. Die w o h l populärste Ansicht w i r d durch Neumann, Robert G., European and Comparative Government, New Y o r k 1951, S. 142 v e r treten: das Zweiparteiensystem als ein Produkt des relativen Mehrheitswahlrechts i n Einmann-Wahlkreisen. 13

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

359

seine Grundlagen als i n der gesellschaftlich-ökonomischen Struktur des Landes wurzelnd angesehen19. Der Lösung dieser Streitfrage kommt für die vorgegebene Thematik insofern keine Bedeutung zu, als auf der ersten großen Wahlreform 1832 m i t der hervortretenden Suprematie des Unterhauses eine „Atomisierung" des Parteiwesens beobachtet werden mußte, das erst nach der zweiten Wahlreform 1867 wieder i n zwei Gruppierungen gebunden werden konnte. Zwischen die ursprünglichen Entstehungsgründe der Zweiparteienordnung und der Gegenwart hatte sich die von der zweiten Großen Wahlreform 1867 ausgehende, zugunsten der Ausbildung von zwei Massenparteien wirkende Kausalität geschoben. A b 1832 ist aber auch zu beobachten, wie das soziologisch-ökonomische Argument die religiöse Frontstellung zunächst ergänzte und schließlich ablöste: Industrie- und Handelsinteressen waren so stark angewachsen, daß sie m i t den bis dahin unumstrittenen agrarischen Interessen konkurrierten. Das Ergebnis war die erste Große Wahlreform von 1832 und die Wirtschaftsreform von 1846, welche die Schutzzölle auf dem Agrarmarkt aufhob. Dies bedeutete für die Konservative Partei einen furchtbaren Schlag: Die Peeliten verließen die Partei, u m sich den Liberalen anzuschließen 20 . Doch der neue Führer der Konservativen, Disraeli, hatte bereits frühzeitig den Niedergang des „landed interest" vorhergesehen und deshalb versucht, neue Wählerschichten für seine Partei zu erschließen. Einen ersten Schritt i n dieser Richtung bedeutete die von i h m durchgesetzte Wahlreform von 1867, die einem neuen „interest", den städtischen Lohnarbeitern, den Weg zur Urne bahnte. U m die Wählermengen auf ihre Seite ziehen zu können, waren die beiden Parteien gezwungen, ihre Organisation zu intensivieren und so ihrerseits das Zweiparteiensystem zu verstärken 21 . Dieser die britische Verfassungsentwicklung allgemein auszeichnende „Gradualismus" ist an den i m 19. Jahrhundert erreichten Erweiterungen des Stimmrechts besonders deutlich ablesbar. Die Großen Reformakte — 1832, 1867, 1884 — folgten i n zeitlichen Abständen aufeinander, ermöglichten es dem i n den Grundzügen etablierten, jedoch nach 1832 gestörten Zweiparteiensystem, die neuen Wählermassen aufzufangen und zu organisieren. So konnte jedes neue 19 So Lipson (I), S. 351 ff., der interessanterweise den Ursprung der E n t wicklung zum Zweiparteiensystem weniger i n einer „Homogenität" der englischen Gesellschaftsverhältnisse oder regionalen oder k u l t u r e l l e n Interessen, sondern i n der religiösen Spaltung des Landes erblickte; ähnlich übrigens auch Friedrich, K a r l J., Constitutional Government and Democracy, Neuauflage Boston 1950, S. 413. Insbesondere hätte die Konfrontation der Church of England m i t den protestantischen Neukonformierten die E n t w i c k l u n g v o n Tories u n d Whigs vorbereitet. 20 Lipson (I), S. 356. 21 Lipson, ebenda.

3 6 0 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Wählerinteresse i n das System eingegliedert werden. Das auf diese Weise gefestigte Zweiparteiensystem gilt inzwischen als Bestandteil der Verfassung 22 . I h m kommt für die Verstärkung des plebiszitären Verfassungselements große Bedeutung zu. Systemgemäß sind i m Unterhaus normalerweise nur zwei größere Parteien vertreten, die sich i n die Rolle von Regierung und Opposition teilen 2 3 . Die stärkere Partei stellt die Regierung, ohne dazu der Hilfe einer weiteren Partei zu bedürfen. Daraus folgt, daß die Unterhauswahlen sich als Wettbewerb der beiden Großparteien darstellen. Der Einfluß des Wählers ist hier weit stärker als i m Vielparteiensystem. Er beschränkt sich nicht darauf, durch Entsendung von Abgeordneten die Stärke der verschiedenen Parteien zu bestimmen, sondern er wählt oder entläßt den Premierminister und folglich das gesamte Kabinett. Die Führungsspitze beider Parteien ist der Bevölkerung vor der Wahl bekannt. Koalitionsverhandlungen bei der Regierungsbildung werden überflüssig. Die Wählerschaft entscheidet ebenso direkt über das Amtsende des Premierministers, indem sie dem Oppositionsführer mehr Parlamentssitze zur Verfügung stellt. Die Wahlen wurden zu gemischt real- und personal-plebiszitär motivierten Abstimmungen über das Amtsende des Premierministers oder die Amtsbestellung des Oppositionsführers 24 . Insoweit kommt es den zeitgenössischen Forderungen nach einer unmittelbar-demokratischen Regierungsform entgegen und stellt damit eine zukunftsweisende Variante der parlamentarischen Demokratie dar 2 5 . Als dritter Faktor der britischen Verfassungsstruktur ist die Parteiendisziplin anzusehen. Sie hat bisher ebenfalls wenig Interesse zu wecken vermocht 2®. Überdies wurde den technischen Vorgängen, wie der Institution der Whigs, der Auslieferung der backbenchers an die parlamentarischen Führungsgruppen übergroße Bedeutung beigemessen. Dabei geriet die grundlegende Betrachtung der plebiszitär wirkenden konventionalen Funktion der party discipline i n Rückstand 27 . 22

So Wade and Phillips, S. 24; Cadart, Jacques, Régime électorale et régime politique en Grand-Bretagne, Paris 1948, S. 151. 28 Die Zweiparteienalternierung trägt hier zur Konstitutionalisierung bei, vgl. dazu Leibholz (IV), S. 15 fï. 24 So auch der Report of the Royal Commission on Electoral Systems, Cd. 5163 par. 126, zit. nach Humphreys, 7. Z i t . nach Oppermann, S. 104, A n m . 250: „ A general election is i n fact considered b y a large portion of the électorale as practically a referendum on the question which of the t w o Governments shall be returned to power." 25 Damit hatte es die englische Verfassungsentwicklung wieder einmal — w i e schon so oft — bewerkstelligt, ein Stück der Gegenstruktur, so Hesse, S. 14, i n sich aufzunehmen u n d damit die Erhaltung des Systems zu sichern. 2e So Dowse, R. E. u n d T. Smith, Party Discipline i n the House of Commons — A Comment, i n : Parliamentary Affairs, vol. X V I , N r . 2, 1963, S. 159 if., 159. 27 Dieser Eindruck w i r d i n vielen Lehrbüchern u n d Monographien englischer Autoren vermittelt, s. z. B. Laski, H., Parliamentary Government, New

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

361

Der Begriff „party discipline" soll dabei jene nicht unbedingte, aber sehr weitgehende Loyalität kennzeichnen, die den einzelnen Parlamentsabgeordneten zur insbesondere i n Abstimmungen aktualisierten treuen Gefolgschaft gegenüber der Parteiführung veranlaßt. Loewenstein 28 bemerkt zu Recht, daß dieser Beziehung zwischen „leader" und „beckbencher" der Ausdruck „Fraktionszwang" nicht gerecht zu werden vermag: dem letzteren liege „mehr der äußere Zwang als die innere Bereitschaft zugrunde". Er spricht dann weiter von einem „komplizierten psychologischen Prozeß", der hinter dieser Loyalität stehe. I n der Tat mögen die von Loewenstein erwähnten Punkte auf eine Erhaltung und Festigung der party discipline hinwirkende Momente darstellen: die eigentliche Ursache für die Ausbildung der Parteiloyalität liegt i n den durch die Reform von 1867 ausgelösten Folgeerscheinungen. Hier fällt der Ursprung der Parteidisziplin zusammen m i t den i m System der Zweiparteienalternierung und der Parteiorganisation gestellten Anforderungen. I m Zweiparteienparlament m i t vielleicht knappen Mehrheitsunterschieden standen Regierung und Opposition unter der ständigen Anspannung, i n jeder denkbaren Situation auf das loyale Abstimmungsverhalten der eigenen Fraktion zählen zu können — eingedenk der Konventionairegel, daß eine Abstimmungsniederlage i n einer v i t a l question zumindest zur Auflösung des Unterhauses und zur Entscheidung des Volkes führt. Diese führt auf die i m Zweiparteiensystem wirksame Volkssouveränität. Wie bereits besprochen, ist die Entscheidung über die Bestellung und Abberufung des Premierministers grundsätzlich i n die Hände des Wählers gelegt. Die strenge Parteidisziplin stützt die plebiszitären Verfassungsteile insofern, als sie die vom Wähler legitimierte Regierung gegen parlamentarische Niederlagen absichert und damit wiederum der Wählerschaft bis zu den nächsten Generalwahlen die Entscheidung über den Bestand der Regierung vorbehält. I n der Bindung des Parlaments an die i n den vorangegangenen General Elections getroffene Wählerentscheidung liegt tatsächlich eine Einbuße an repräsentativem Spielraum zu Lasten des Unterhauses. Damit ist der gesamte Vorgang aber noch nicht erklärt. Denn dem Verlust an repräsentativer Substanz auf parlamentarischer Seite entspricht eine Erweiterung des Handlungsspielraums auf der Ebene des Prime Ministers und des Kabinetts. Der Premierminister verfügt über die Richtlinienkompetenz, die sich i m Kabinett i n der konkreten Entscheidungsmacht 29 und i m Unterhaus i n gesetzlicher Sanktionierung Y o r k 1938, S. 74; Stout , H. M., B r i t i s h Government, London 1953, S. 30 f.; Harrison, W., The Government of B r i t a i n , London 1955, S. 36. 28 Loewenstein (VI), S. 222. 29 „Policy decision."

3 6 2 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

durchsetzt 30 . Die Parteiloyalität fügt damit die Elemente der plebiszitären Volkswahl sowie die Handlungsfähigkeit der stabilen Regierung zu einer äußerst wirkungsvollen Kombination zusammen 31 . Es sind aber auch Situationen vorstellbar und i n der Verfassungspraxis nicht einmal selten, i n denen sich eine Gruppe von Abgeordneten der Regierungspartei zusammenfindet, u m den Premierminister zu bestimmten politischen oder personellen Konzessionen oder sogar zum Rücktritt zu zwingen. Letztere Möglichkeit w i r d aber nie i m Wege der offenen Abstimmung i m Unterhaus durchgesetzt, sondern geschieht durch internen Austausch des Premierministers und der Führungsgruppe. Ein offener Sturz des Prime Ministers durch die Mehrheit des Unterhauses würde nicht mehr zum sicheren Rücktritt, sondern gemäß dem Postulat der Volkssouveränität zur Auflösung und anschließenden Neuwahlen führen. I n ihnen ist die Wählerschaft gehalten, durch Veränderung der Parteipräferenz eine neue Mehrheit zu schaffen 32. Die Rebellen der Regierungspartei würden dabei m i t großer Wahrscheinlichkeit schwere Einbußen erleiden. Denn auch die „backbench-revolt" richtet sich nach der vermuteten Stimmung i n der Wählerschaft 33 . Sie w i r d dann eingreifen, wenn die Popularität von Regierungschef und Regierungspartei einen Tiefstand erreicht hat. Erleidet die Regierung dadurch eine Abstimmungsniederlage, so werden die darauffolgenden Generalwahlen die bisherige Opposition an die Macht bringen. Daher ist i n der Gegenwart nur mehr der stille Führungswechsel denkbar 34 . Die Regierungspartei orientiert sich auf diese Weise am unterstellten Wählerwillen und hat die Chance, verlorenes Terrain wiederzugewinnen. Somit dient auch die an den Wahlchancen ausgerichtete Verweigerung der Parteiloyalität einem plebiszitären Ziel: Die Regierung möge sich i n sachlicher und personeller Hinsicht an den Volkswillen annähern. 2. Die Verfassungspraxis der Amtsbeendigung nach der Zweiten Reformakte 1867

M i t der Zweiten Großen Reform 1867 wurde die dritte und noch i n der Gegenwart Geltung besitzende Stufe i m materiellen Abberufungsverfahren erreicht: Die sich als ein Ergebnis der ersten großen Reform 1832 herausbildende parlamentarische Suprematie hatte das monarchischkonstitutionelle Entsetzungsrecht beseitigt und beim Unterhaus monopolisieren können. 30

Loewenstein (VI), S. 229. Mannheim, K a r l , Freedom, Power and Democratic Planning, London 1951, S. 149 ff. 32 Jennings (I), S. 20. 33 Kaltefleiter (I), S. 31. 34 Vgl. Kaltefleiter (I), S. 30, A n m . 31. 31

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

363

Die vom Unterhaus erklommene Stellung als Träger der „elective function", die naturgemäß das Recht des Parlaments einschloß, eine Regierung durch Mißtrauensvotum wieder zu beseitigen 35 , schlug sich i n der Zeitspanne zwischen den beiden Wahlreformen i n der Praxis der parlamentarischen Abberufungen nieder: I n den 35 Jahren wurden zehn Premierminister mit ihren Regierungen vom Unterhaus durch Mißtrauensvotum zum Rücktritt gezwungen, so unter anderem: Viscount Melbourne, 1841 Sir Robert Peel, 1846 Lord John Russell, 1852 Earl of Derby, 1852 Earl of Aberdeen, 1855 Viscount Palmerston, 1858 Earl of Derby, 1859 Earl Russell, 196636 Insbesondere warf das Geschehen des Jahres 1857/58 ein helles Licht auf die Kreationsgewalt des Unterhauses. I n den Generalwahlen von 1857 hatte Palmerston eine große liberale Mehrheit errungen, doch bereits i m darauffolgenden Jahr wurde der Premierminister, ungeachtet seiner Popularität, von seiner eigenen Mehrheit gestürzt. Bagehot 37 erwähnt gerade diesen Fall, u m das dem Unterhaus i n die Hand gelegte uneingeschränkte Recht des Ministersturzes zu dokumentieren: „Though selected i n the interest of a particular Ministry, i t i n fact destroyed that Ministry 3 8 ." I n dieser Zeit drohte jede Abstimmung, jede Debatte für den Premierminister zu einer Katastrophe zu werden. Die Parteienzersplitterung i m Unterhaus und die dadurch erzeugte wankelmütige Haltung des Parlaments ließ keinen Premierminister das Ende der damals siebenjährigen Legislaturperiode i m Amte erleben 39 . Diese Situation änderte sich jedoch schlagartig m i t den 1868 stattfindenden ersten Generalwahlen nach der Reformakte von 1867. Die „Probe des neuen Systems" 40 hatte bereits i m Wahlduell zwischen Gladstone und Disraeli von 1868 begonnen: Die einzelnen Abgeordneten wurden von ihren Stimmkreisen nur gewählt, weil sie für oder gegen Gladstone waren 4 1 . Die i m Gefolge der Reform auftretenden Veränderungen offenbarten sich i n zwei bedeutenden, von Disraeli geschaffenen 35

Bagehot, S. 150,158. Vgl. Jennings (I), S. 511. 37 Bagehot, S. 73. 38 Übersetzung: „ O b w o h l i m Interesse eines besonderen Ministeriums ausgewählt, zerstörte es i n W i r k l i c h k e i t dieses Ministerium." 39 Birch, S. 137. 40 Bagehot, Einleitung. 41 So Bagehot, ebenda. 38

3 6 4 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Präzedenzfällen: Sein Minderheitenkabinett war 1868 i n einer parlamentarischen Abstimmung über eine „ v i t a l question" besiegt worden. Doch i n Mißachtung der eigenen, konventional bestehenden Rücktrittspflicht und unter Gebrauch der revolutionären Argumentation, erst der Appell an das Volk würde die Entscheidung über den Bestand der Regierung bringen, weigerte sich Disraeli zurückzutreten, was die Unterhausauflösung durch Königin Victoria zur Folge hatte 42 . Bei den sechs Monate später abgehaltenen Wahlen erlitt Disraeli eine eindeutige Niederlage und trat — als erster Premierminister der britischen Verfassungsgeschichte —, ohne die Konfrontation m i t dem neugewählten Unterhaus abzuwarten, zurück. Er hatte damit den zweiten weitreichenden Präzedenzfall geschaffen. Der Führer der Konservativen Partei hatte der Verdrängung der Souveränität des Parlaments durch die Souveränität des Volkes Ausdruck verliehen. Gladstone hingegen war zunächst nach seiner Wahlniederlage 1874 abgeneigt, den Präzedenzfall zu bekräftigen: „ A precedent, tending i n its results to the degradation of British politics, by bringing i n a system of perpetual canvass, and removing the political centre of gravity from Parliament to the platform 4 8 ," sah sich aber auf Drängen seiner Minister schließlich veranlaßt, dem Beispiel Disraelis zu folgen. Der damit erzeugte, zweite Präzedenzfall verdichtete sich bereits zur Konventionairegei, besagend, daß die Entscheidung über den Amtsverbleib des alten Premierministers i m Normalfall des funktionierenden Zweiparteiensystems unmittelbar von der Wählerschaft getroffen wurde 4 4 . Tatsächlich wurden i n der Zeit seit der zweiten Großen Wahlreform 1868 nur fünf Premierminister m i t einer offenen Abstimmungsniederlage i m Unterhaus über eine „ v i t a l question" oder m i t einem ausdrücklichen Mißtrauensvotum konfrontiert 4 ®. 42 Z u r Auseinandersetzung u m Disraelis Weigerung zurückzutreten, siehe insbesondere Letters of Queen Victoria, 2nd series, I, S. 521 — Life of Disraeli, I I , S. 366 - 379; Life of Gladstone, I I , S. 247 f. 48 Übersetzung: „ E i n Präzedenzfall, der i n seinen Resultaten auf die Degradierung der britischen P o l i t i k abzielt, indem er ein System des ständigen Wahlkampfes einführt u n d den politischen Schwerpunkt v o m Parlament i n die Wahlschlacht verlagert." Z i t i e r t nach Nuscheier, S. 91. 44 Nuscheier, S. 92, A n m . 32. 45 Dies w a r der F a l l 1885 (Gladstone), 1886 (die konservative Regierung des Marquis of Salisbury), 1895 (liberale Regierung des E a r l of Rosebery) u n d 1923, als u n m i t t e l b a r nach den Generalwahlen der konservative Premier B a l d w i n durch ein v o n Labour u n d Liberalen unterstütztes Mißtrauensvotum zum Rücktritt veranlaßt wurde. Schließlich ist n o d i die Niederlage zu erwähnen, die der Labour-Minderheitenpremier Macdonald 1924 i n der „CampbellFrage" erlitten hatte. Die Fälle L l o y d George, Chamberlain, Eden u n d MacM i l l a n gehören nicht hierher: Die ersten beiden sind das Ergebnis der j e w e i ligen außenpolitischen Situation, während die Ablösung v o n Eden u n d MacM i l l a n unter die R u b r i k „ a n den Wahlchancen orientierte Auswechslung des Leaders durch die eigene Partei" fällt, siehe hierzu Kaltefleiter (I), S. 30/31.

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

365

Dabei ist jedoch ein seit der zweiten Reformakte eingetretener fundamentaler Unterschied bezüglich der W i r k u n g der parlamentarischen Niederlage festzuhalten: Während i m Zeitalter der parlamentarischen Suprematie eine entsprechende Niederlage i m Unterhaus die sofortige Demission von Premierminister und Kabinett nach sich zog, kam ihr seit 18674® nur mehr die Bedeutung eines Indikators von Meinungsverschiedenheiten zwischen Unterhausmehrheit und Regierung zu: Erst die einer qualifizierten Abstimmungsniederlage folgende Auflösung des Parlaments durch den König und die Neuwahlen gaben dem V o l k die M i t t e l zur Hand, u m als Streitentscheider zu wirken 4 7 . Das parlamentarische Mißtrauensvotum hatte damit seine unmittelbare Macht über den Bestand der Regierung eingebüßt, soweit es i m Rahmen einer funktionierenden Zweiparteienalternierung auftrat. Diese These w i r d von der Entwicklung der Verfassungspraxis seit 1867 bestätigt. Die wenigen Fälle, i n denen es überhaupt zu einer parlamentarischen Niederlage gekommen ist und denen überdies keine Parlamentsauflösung folgte, bleiben die Ausnahme. So wurde 1885 nach der Niederlage Gladstones i n der Abstimmung über das Budget nur deshalb von einer Auflösung Abstand genommen, u m die bereits i m Parlament eingebrachte Redistribution Bill, welche die Reform von 1884 vervollständigen sollte, nicht dem Prinzip der Diskontinuität zwischen den Legislaturperioden zum Opfer fallen zu lassen 48 . I m Jahre 1886 waren der Abstimmungsniederlage des Marquis of Salisbury bereits Auflösung und Neuwahlen vorangegangen. Die Unklarheit über die Fähigkeit der siegreichen Liberalen, die Regierung tatsächlich zu bilden, bewog den Premierminister Salisbury, sich dem Parlament zu stellen 49 . Da auch die Niederlagen Baldwins (1923) und Macdonalds (1924) infolge der seinerzeitigen vorübergehenden A u f hebung des Zweiparteiensystems nicht i n das Schema passen, bleibt i m beobachteten Zeitraum nur eine parlamentarische Niederlage, der sich die Demission des Kabinetts unmittelbar anschloß: Die Regierung Rosebery trat i m Jahre 1895 sofort zurück. Daß diese Verhaltensweise bereits damals als orthodox empfunden wurde, beweist das Zögern seines konservativen Nachfolgers, des 48

So Greaves , H. R. G., The B r i t i s h Constitution, 3rd ed., London 1955, S. 14 u n d A n m . 45. 47 Formal handelt es sich bei solchen Neuwahlen u m die bloße N e u w a h l von Abgeordneten, materiell hingegen einmal u m politische Entscheidung v o n sachlichen Fragen, die Grundlagen des Konflikts zwischen den Verfassungsorganen waren; w e i t e r h i n u m die personal-plebiszitäre Entscheidung der Be- u n d Entsetzung des Premierministers. Z u Recht betrachtete Fricke, S. 214, A n m . 52 die K o m b i n a t i o n v o n real- u n d personal-plebiszitären Elementen als gegenüber einem bloßen Sachplebiszit vorteilhaft. 48 So Jennings (I), S. 519. 49 So Jennings (I).

3 6 6 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Marquis of Salisbury, die Regierung ohne vorherige Neuwahlen überhaupt zu übernehmen 50 . Nach seiner Bestellung zum Prime Minister löste er auch das Unterhaus auf und erhielt eine beachtliche Legitimation seitens der Wählerschaft 51 . 3. Konventionale Resultate

Das grundsätzliche Entsetzungsmonopol der Aktivbürgerschaft. Aus den beschriebenen, von der zweiten Reformakte initiierten politisch-soziologischen Veränderungen: inflationäre Vergrößerung der Wählerschaft, Etablierung des Zweiparteiensystems und Festigung einer strengen Parteiloyalität, erwuchsen verfassungskonventionale Ergebnisse, welche die Grundstruktur der englischen Verfassungsordnung umgestalteten. Die einzelnen Konventionen bilden die plebiszitäre Füllung i m repräsentativen Rahmen. Hier sollen die von jenen Conventions ausgehenden und für die Abberufung des Prime Ministers wirksamen Einflüsse erörtert werden. Die m i t der Reform 1867 zur Wahl zugelassene Millionenwählerschaft bewirkte eine allmähliche Umgestaltung i n den verschiedenen Bereichen staatlichen Lebens. So war etwa i m Bereich des Wahlkampfs und der politischen Propaganda eine „Überregionalisierung", eine Entwicklung von der lokalen zur nationalen Betrachtungsweise zu beobachten 52 . Gleichzeitig trat die jetzt zunehmend i n den beiden großen Parteien der Whigs und der Tories organisierte Wählerschaft gegenüber dem Unterhaus als Einflußfaktor konkurrierend i n Erscheinung. Doch hatten sich hier bemerkenswerte Unterschiede zwischen den beiden Parteien herausgebildet. Insbesondere die Tories erwiesen sich hier als Bewahrer der Repräsentativgrundsätze. Die außerparlamentarische Organisation der Partei hatte die Entscheidungsfreiheit der Unterhausfraktion von Anfang an akzeptiert und verstand sich als Unterstützungsvereinigung für die Parlamentspartei 53 . Ganz anders das Selbstverständnis der „Liberal-Federation" unter dem Einfluß Joseph Chamberlains: Der Caucus erhob den Anspruch, die 50

Jennings (I), S. 522. Jennings (I), ebenda. 52 Ritter, Gerhard Α., Deutscher u n d britischer Parlamentarismus, T ü b i n gen 1962, S. 16 f. 53 Was noch heute i n der überragenden Stellung des konservativen Leaders i n F r a k t i o n u n d Partei seinen Ausdruck findet: siehe hierzu M c K e n zie, R. T., Politische Parteien i n England, Köln—Opladen 1961, S. 102 — McKenzie (II), S. 146; auch dokumentiert durch ein Z i t a t aus der Gründerzeit der nationalen Parteiorganisation: The U n i o n has been organized rather as a handmaid to the Parliamentary party . . . , Übersetzung: „Die U n i o n w a r u n gefähr so organisiert w i e ein Dienstmädchen gegenüber der Parlamentspartei." So Raikes, H. C., MP. i n 1873, Conservative A n n u a l Conference Report, p. 10. 51

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

367

Fraktion auf ein bestimmtes Programm festzulegen 54 . Der das „imperative Mandat" fordernde Caucus w i r d somit zum Vorboten plebiszitärer Postulate überhaupt; insbesondere sind Züge des Rätesystems erkennbar. Ganz allgemein zeichnete sich die Uberlagerung der Souveränität des Parlaments durch die Souveränität des Wählers ab. Die Parteiführer begannen m i t großangelegten Versuchen, die Wählerschaft über das Parlament hinweg unmittelbar anzusprechen 55 . Die Aktivbürgerschaft schickte sich an, „zu einem aktiven institutionellen Faktor des Regierungssystems" 56 zu werden. Insbesondere m i t der Etablierung des Zweiparteiensystems und der gesicherten Parteiloyalität i m Unterhaus konnte die Wählerschaft zwar nicht unmittelbar Einfluß auf politische Entscheidungen des Parlaments nehmen, wohl aber am Wahltag über Ein- und Entsetzung von Premierministern entscheiden 57 . Die hier einschlägigen Präzedenzfälle, der sich der Wahlniederlage unmittelbar anschließende Rücktritt Disraelis und Gladstones, wurden zur Grundlage einer Convention, die das Verdikt des Volkes als unmittelbaren Entsetzungsgrund für den Premierminister anerkannte. Dies bedeutete aber nur die erste Stufe der konventionalen Entwicklung. Die zunächst weiterbestehende konkurrierende Abberufungsbefugnis des Unterhauses fiel dem Zweiparteienwechsel und der Parteiloyalität zum Opfer. Wie am Verlaufe der Verfassungspraxis bereits erläutert, kam einer parlamentarischen Niederlage des Premierministers nach 1867 bereits Seltenheitswert zu. Der Hauptaustragungsort der Kämpfe zwischen den Anhängern eines unterschiedlichen Demokratieverständnisses war meistens das Institut der Parlamentsauflösung. Die Untersuchung der Funktion der Parlamentsauflösung i m Rahmen einer gegebenen Verfassungsordnung sowie die Rolle, welche die beteiligten Verfassungsorgane hierbei spielen, eröffnet den Blick für die Grundentscheidungen der Verfassung und bietet häufig aus ungewohnter Perspektive ein neues B i l d von der verfassungsrechtlichen Stellung der obersten Staatsorgane. Darüber hinaus entwickelt die Auflösung i n anderer Beziehung überragende Bedeutung: Von ihrer Ausgestaltung kann unter Umständen gerade i n der Gegenwart die Bestandsfähigkeit eines überwiegend repräsentativ organisierten Regierungssystems abhängen. Die i n 54

Smelile, S. 127. Beispiele hierfür sind die bereits erwähnten Wahlduelle zwischen Gladstone u n d Disraeli, vgl. hierzu Ritter, G. Α., Regierung u n d Parlament i n Großbritannien seit dem 17. Jahrhundert, i n PVS, Bd. V (1964), S. 23. 56 Nuscheier, S. 90. 57 Kaltefleiter (I), S. 44; f ü r die Regierungsbildung sowie die Beteiligung Georg V. immer noch Nicolson (I) S. 507 ff. 55

368

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Deutschland i n jüngster Zeit wiederbelebte Formel „ A l l e Macht den Räten", verleiht der zur Zeit der Großen Koalition (1966 -1969) entstandenen „Repräsentativverdrossenheit" Ausdruck. Eine neue Richtung des verfassungspolitischen Bewußtseins postuliert das „individuelle Wahl- und Mitbestimmungsrecht... als eines Menschenrechtes" 58 und „geht von der Volkssouveränität als einer prinzipiell uneingeschränkten und unantastbaren Kollektivbefugnis aus". Diese Vorstellungen sollen die Grundlage eines neuen, ausschließlich plebiszitär legitimierten Regierungssystems bilden. Ähnliche Erscheinungen sind i n der gesamten westlichen Welt festzustellen. Ein plebiszitäres Ventil, das die aus der von den Gegnern des repräsentativen Systems unterstellten Diskrepanz zwischen Staats- und Volkswillen 5 9 resultierenden Spannungen teilweise abzugleichen vermag, stellt die Auflösung des Parlaments dar. Ihre Funktion für das englische Regierungssystem und die von den am Verfahren beteiligten Verfassungsorganen ausgeübte konventionale Rolle sollen i n folgendem geprüft werden. a) Die Kombination plebiszitärer

von repräsentativer

und

Komponente im britischen Regierungssystem

Folgt man der von Fraenkel 6 0 gegebenen Begriffsbestimmung des Repräsentativsystems und legt man den so vorgegebenen Maßstab an die Entwicklung des britischen Verfassungslebens der letzten einhundert Jahre, so w i r d gerade i n der Praxis der Amtseinsetzung und Amtsbeendigung des Regierungschefs das Wirken der Prinzipien der Volkssouveränität spürbar. Überdies aber verlor das Unterhaus auch noch die konkurrierende Entsetzungsbefugnis: Sein negatives Votum zwang den amtierenden Premierminister nicht mehr unmittelbar zum Rücktritt, sondern bildete nur das Indiz für eine Meinungsverschiedenheit zwischen Kabinett und Unterhaus und führte damit zur Auflösung und Streitentscheidung durch das Volk. I n beiden Alternativen ruht die Entsetzungsbefugnis i n den Händen des Wählers. Parlament und Monarch sind auf Initial- und Vollzugsfunktionen reduziert. I m Gegensatz dazu hat das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland dem Bundestag ein parlamentarisches Entsetzungsrecht belassen 61 . Nur unter den besonders erschwerten Bedingungen des A r t . 68 kann es zu einem Volksentscheid zwischen der Äußerung des Mißtrauens durch das Parlament und der Neuwahl des Bundeskanzlers kommen. 58 Hinsichtlich der m i t der Einfügung plebiszitärer Elemente i n die Weimarer Verfassung verfolgten Ziele vgl. Fraenkel (I), S. 50 f. 59 So Agnoli —Brückner, Die Transformation der Demokratie, B e r l i n 1967. 60 Fraenkel (I), S. 5. 81 Vgl. A r t . 67 GG.

3. Abschn. : Plebiszitäre Abberufung

369

b) Die Parlamentsauf lösung als plebiszitäres Instrument

im britischen Verfassungsgefüge

Die Auseinandersetzung zwischen den repräsentativen und den plebiszitären Elementen demokratischer Verfassungen kennzeichnet die moderne Verfassungsgeschichte seit der großen Französischen Revolution 6 2 . Das Wahlvolk ist zu einer beherrschenden Kraft geworden. Sein Wille äußert sich insbesondere i n den Wahlen zum Unterhaus, die seit der Wahlreform 1867 und der Festigung des Zweiparteiensystems mehr und mehr zum repräsentativen Rahmen geworden sind, i n dem sich die plebiszitäre Wahl und A b w a h l des Premierministers vollziehen 63 . Offenkundig hat damit ein weiteres, das plebiszitär-parlamentarische Element, neben der repräsentativ-parlamentarischen Ordnung i n der britischen Verfassung Platz gefunden. Die repräsentativ-parlamentarische Form nimmt ihren staatstheoretischen Ursprung i m Unterwerfungsvertrag. Die gesamte Staatsgewalt w i r d i m Idealfall kraft translatio vom Volk auf das absorptiv-repräsentative Parlament übertragen. Demgegenüber stellt die plebiszitär-parlamentarische Form eine Spielart der i m Sozialvertrag angelegten Möglichkeiten dar und unterstellt die Vertretungsorgane dem Souverän „ V o l k " 6 4 . Diese Entwicklung war notwendig, u m die einem souveränen Repräsentationsorgan grundsätzlich drohende Gefahr, durch Verlust des Repräsentativcharakters der Selbstaufhebung ausgeliefert zu sein, abzuwenden 65 . Sie war aber auch notwendig, u m einer weiteren Gefahr, der plötzlichen Entfesselung unmittelbar-demokratischer, elementarer, unberechenbarer Kräfte und damit dem Zusammenbruch des repräsentativ-parlamentarischen Systems, entgegenzutreten. Die englische Verfassungsgeschichte folgte damit i n für sie typischer, konventionaler Anpassung der von Wilhelm Humboldt jeder Verfassung erteilten Mahnung, „einen materiellen K e i m ihrer Lebenskraft i n der Zeit, den Umständen, dem Nationalcharakter" vorzufinden 66 . Die Verfassung muß sich, u m „normative K r a f t " zu entfalten 67 , m i t „den 62

Fraenkel (I), S. 5 ff. A u f den plebiszitären Charakter von parlamentarischen Wahlen weist besonders Schmitt (VI), S. 339 hin. 04 Siehe dazu Fricke, S. 216. 65 Diese Zusammenhänge m i t Michels „ehernem Gesetz der Oligarchie" zeigt Fraenkel (I), S. 10 auf. 66 Gesammelte Schriften, herausgegeben von der Preußischen Akademie der Wissenschaften 11,1903, S. 99. 67 Hunold, Albert, Masse u n d Demokratie, Erlenbach—Zürich u n d S t u t t gart 1957, u n d Hesse, gehen zwar v o n geschriebenen Verfassungen aus, doch besteht auch i n der britischen gewachsenen Verfassungsordnung die Diskrepanz von normativer Forderung u n d tatsächlicher Zeitströmung; freilich 63

24 Lippert

3 7 0 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

spontanen Kräften und lebendigen Tendenzen der Zeit verbinden" 6 8 , „ein Stück der Gegenstruktur i n sich aufnehmen" 69 . Die spontanen und lebendigen Kräfte der Zeit, das aufzunehmende Stück Gegenstruktur, war das demokratische Gefühl, das sich i m verfassungstheoretischen Postulat vom individuellen Wahl- und Mitbestimmungsrecht als einem Menschenrecht und der Volkssouveränität als einer prinzipiell uneingeschränkten und unantastbaren Kollektivbefugnis niederschlug. Carl Schmitt 7 0 stellt der überkommenen parlamentarischen Legalität die plebiszitäre Legitimität gegenüber und bezeichnet letztere als „einziges anerkanntes Rechtfertigungssystem" der Gegenwart. Gerade das Beispiel Englands beweist jedoch, daß auch i n unserer Zeit ein nicht ausschließlich plebiszitär legitimiertes Regierungssystem auf den „ W i l len zur Verfassung" bei den Rechtsunterworfenen stoßen kann 7 1 . Ungeachtet der veränderten Stellung des Unterhauses — das i m Normalfall von der Bestellung und Abberufung des Premierministers ausgeschlossen ist 7 2 und damit hinsichtlich der Bestellungs- und Abberufungsbefugnis eine wesentliche Einschränkung seiner repräsentativen Position hinnehmen mußte — weist die englische Verfassung, obwohl i m Ubergangsstadium, noch starke Züge der repräsentativ-parlamentarischen Ordnung auf. Als Bollwerke des repräsentativen Rahmens werden zu Recht die englischen Parteien angesehen73, deren Schwerpunkt (dies gilt vor allem für die Konservative Partei) noch immer i n den Parlamentsfraktionen ruht 7 4 . Die Leitung der „Parliamentary Party" liegt beim „Leader", der die politischen Richtlinien der Regierung oder der Opposition bestimmt und über die „Whigs" der Fraktion zuführt. Hier setzt der weitere, aus der Parteienstruktur resultierende und das britische System repräsentativ-parlamentarisch prägende Effekt ein: die Fraktionsloyalität versetzt das Kollektiv der Abgeordneten i n die Abhängigkeit vom Party-Leader; die Richtlinienloyalität schirmt die Unterhausmitglieder vor den Einflüssen der Wählerschaft ab und erhöht ist dank der ständigen Einbeziehungs- u n d Anpassungstätigkeit der Conventions die Spannung verringert, vgl. dazu die bereits gemachten Ausführungen oben, zweiter Abschn., erstes Kapitel, erster Hauptteil. 60 Hesse, S . U . w Hesse, S. 14. 70 Schmitt (VI), S. 340. 71 Hesse, S. 12. 72 Schmitt, S. 315, spricht v o n der F u n k t i o n des Parlaments als einer „bloßen Zwischenschaltung" des plebiszitären Systems. 78 So Fraenkel (I), S. 16 f. 74 Vgl. dazu McKenzie (II), S. 146.

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

371

den repräsentativen Spielraum 75 . Ein zusätzliches repräsentatives Argument liegt i n der traditionellen englischen Auffassung von der Regierung als einem „trust" 7 8 . Vom Vertrauen des Volkes ins A m t berufen, i m Interesse des bonum commune, i m Rahmen der Verfassung handelnd, teilweise vom Wahlvolk m i t einem Mandat versehen 77 , nimmt die Regierung die Funktionen eines „trustee" 7 8 wahr. Diese Vorstellung enthält starke Elemente jener „translatio", wodurch die Summe der Staatsgewalt auf ein Repräsentativorgan übertragen wurde. Damit ist aber die unmittelbar-demokratische Ansicht von der Identität zwischen Regierenden und Regierten ausgeschlossen79. Die trust-Idee als starker Wahrer des repräsentativen Prinzips i n der englischen Verfassung verhindert gegenwärtig den Umschlag i n das vorwiegend plebiszitär-legitimierte System. 4. Die plebiszitäre Funktion der Parlamentsauflösung im britischen Regierungssystem

a) Allgemeines I m einseitig repräsentativ organisierten Regierungssystem ist das Parlament der Versuchung ausgesetzt, daß es sich „ i n seinen Handlungen und Entschließungen vom W i l l e n des Volkes entfernt und eine A r t von parlamentarischem Absolutismus begründet" 8 0 . Das streng repräsentative Prinzip überläßt dem Volk nur die personalen Entscheidungen i m Rahmen der Parlamentswahlen 81 . I n der Verfassung m i t unmittelbardemokratischer Orientierung fungiert die Aktivbürgerschaft als unmittelbar handelndes und entscheidendes Verfassungsorgan. Das Postulat des unmittelbar entscheidenden Volkssouveräns ist bei Vorhandensein 75 Freilich w i r d auch der Leader bestrebt sein, sich v o n der öffentlichen Meinung nicht allzu w e i t zu entfernen. Dies g i l t i n noch stärkerem Maße f ü r die backbenchers, deren immittelbarer K o n t a k t zur Bevölkerung bei zu w e i t gehender Entfernung der Regierungspolitik v o n der S t i m m u n g des Volkes die „stille" Auswechslung der Führungsgarnitur durchführt. Beispiele hierfür sind Eden u n d M a c M i l l a n i n Großbritannien, i n Deutschland Adenauer u n d Erhard, vgl. dazu Kaltefleiter (I), S. 30 ff. 78 Allgemeines zu Begriff u n d Wesen des „ t r u s t " s. James, P h i l i p S., Introduction to English L a w , London 1966, S. 451 ff. 77 Say, the trusties must strictly comply w i t h a l l the turns of the t r u s t . . . Übersetzung: „Angenommen, die Treuhänder müßten sich s t r i k t allen V e r änderungen der Treuhand fügen . . . " , James, Ph. S., S. 459. 78 Eines Treuhänders. 79 So Fraenkel (I), S. 18. 80 Fraenkel (I), S. 7,35. 81 Vgl. Scheuner, U., i n Festschrift f ü r Huber, S. 232: Das V o l k übt hier einen A k t des Vertrauens, der Übertragung v o n Macht zur verantwortlichen Ausübung axis.

2*

3 7 2 I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

eines Parlaments i n einem Verfassungssystem grundsätzlich nicht erfüllbar. Infolge der zur Sicherung der „normativen K r a f t " der Verfassung notwendigen Einbeziehung von Forderungen des „verfassungstheoretischen Bewußtseins der Zeit" 8 2 muß jede Verfassungsordnung m i t repräsentativem Schwerpunkt bestrebt sein, über plebiszitäre Ventile revolutionäre Energien abzuleiten. Als Mittel plebiszitärer Auflockerung kommen verschiedene Verfassungsinstitute i n Frage: das Gesetzesreferendum, die Gesetzesinitiative, die Volksabstimmung über Verfassungsänderungen, die Wahl bzw. Abwahl von Staatsoberhaupt oder Regierungschef durch das Volk, vor allem aber die Auflösung des Parlaments. Sie bedeutet einen Appell an das Volk, durch Neuwahl des Abgeordnetenhauses und eine dabei vorzunehmende Parteienpräferenz eine bestimmte Frage, einen Streitpunkt zwischen obersten Verfassungsorganen, zu entscheiden 83 . Darin steckt der von Rousseau84 geäußerte Gedanke, daß der Vertreter zu schweigen habe, wenn der Vertretene selbst spreche. Die Auflösung gewährt dem Aktivbürger somit die Möglichkeit, als außerordentlich angerufener Richter eine Frage m i t Bindungswirkung für die Repräsentativorgane zu entscheiden. Interessant an diesem Vorgang ist die „Klammerwirkung" der Auflösung: eigentlich anstehende Sachfragen werden nicht durch Realplebiszit (wie i m Volksentscheid), sondern überlagert durch die vom Bürger zu treffende personelle Wahl und damit repräsentativ überhöht, entschieden 85 . Die vom Auflösungsrecht geschaffene Möglichkeit einer unmittelbaren Reaktivierung der Volkssouveränität hat gleichzeitig eine Intensivierung des „Repräsentanzverhältnisses" als dem, auch zwischen den regulären Parlamentswahlen bestehenden, Rechtsverhältnis zwischen Staatsvolk und Parlament zur Folge 88 . Infolge der vom Institut der A u f lösung erreichten, möglichen Verkürzung der Legislaturperiode und der den Wahlen innewohnenden Kontrollfunktion w i r d die „Intensität der Wechselwirkung" zwischen Regierung, Parlament und öffentlicher Meinung 8 7 erhöht und das repräsentative System plebiszitär-parlamentarisch aufgelockert. 82

Schmitt (VI), S. 339. Berichte u n d Protokolle des Verfassungsausschusses S. 233, zit. nach Schmitt (VI), S. 20 f. 84 Z i t i e r t nach Schmitt (V), S. 314. 85 Schmitt (VI), S. 339, hebt den plebiszitären Charakter der W a h l hervor; eigentlich handele es sich dabei nicht mehr u m echte Wahlen, sondern ζ. T. Plebiszite, so S. 340. 86 M i t dem Rechtsverhältnis zwischen Staatsvolk u n d Parlament hat sich bereits Jellinek, G., Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage, B e r l i n 1914, 7. Neudruck 1960, S. 581 ff. auseinandergesetzt. 87 Stein, Ekkehart, Staatsrecht, Tübingen 1969, S. 74. 83

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

373

b) Die Arten der Parlamentsauf lösung Die Auflösung des Parlaments t r i t t — je nach Regierungssystem — i n verschiedenen Gestaltungen auf und hat dann unterschiedliche Bedeutung. Auch können mehrere Arten der Auflösung i n einer Verfassung und sogar unter der gleichen Form auftreten 88 . Dabei sind — ausgehend von dem die materielle Initiative zur A u f lösung entwickelnden Verfassungsorgan — fünf verschiedene Arten der Auflösung zu unterscheiden 89 : 1. 2. 3. 4. 5.

die monarchische Auflösung das präsidentielle Auflösungsrecht die Auflösung auf Volksbegehren die parlamentarische Selbstauflösung das ministerielle Auflösungsrecht.

A d 1. Die Funktion des monarchischen Auflösungsrechts ist nur aus der Regierungsform der konstitutionellen, nicht parlamentarischen Monarchie zu verstehen 898 . I n ihr stellte der Monarch die „bewegende und leitende K r a f t des Staates" dar 9 0 ; der Volksvertretung war kein Einfluß auf den personellen Bestand der Regierung, sondern lediglich beschränkte Mitwirkungsbefugnis bei der Gesetzgebung und i m Budgetrecht eingeräumt. I m monarchisch-konstitutionellen System soll durch die Auflösung die Präponderanz des Monarchen und der i h m zugehörigen Exekutive gegenüber dem Parlament gesichert werden. Die königliche Regierung hat m i t dem Auflösungsrecht 91 eine Waffe zur Verfügung, die es ihr gestattet, durch beliebig oft wiederholte Auflösungen das Parlament „mürbe zu machen" 92 . Daher kann mit der monarchischen Auflösung und den darauffolgenden Neuwahlen keine endgültige Entscheidung des Streits erreicht werden. Diese Auflösung führt auch nicht zu einem „Appell an das Volk", w e i l das Volk als Verfassungsorgan nicht existiert.

88 Das Paradebeispiel hierfür liefert A r t . 25 W V , i n dem nach allgemeiner Ansicht présidentielles u n d ministerielles Auflösungsrecht vereint sind; aber auch i n der engl. Unterhausauflösung sind 2 A r t e n enthalten; vgl. dazu 3. Abschnitt, I 5 , 1 . Kapitel, 2. Hauptteil. 89 Vgl. dazu u n d zu folgendem Schmitt (V), S. 353 ff.; Scheuner (III), S. 360 ff. 8öa Das Recht der Auflösung der Volkskammer ist stets i n das konstitutionelle System eingefügt; siehe hierzu Härtung, Fritz, Die E n t w i c k l u n g der konstitutionellen Monarchie i n Europa, i n : V o l k u n d Staat i n der deutschen Geschichte, Leipzig 1940, S. 183; vgl. f ü r Beispiele Schmitt (VI), S. 17, A n m . 5. 90 Scheuner, Smend-Festschrift 1952, S. 259. 91 Das beliebig oft wiederholt werden kann; vgl. Schmitt (V), S. 353. 92 So der berühmt gewordene Ausspruch Hugo Preuß's, Berichte u n d Protokolle des Verfassungsausschusses der Weimarer Nationalversammlung, S. 251,

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Die bekanntesten und folgenreichsten Präzedenzfälle für den Typ des monarchischen Auflösungsrechts finden sich i m preußischen Verfassungskonflikt zwischen Regierung und Landtag i n den Jahren 1862/66. Damit trat der Charakter der monarchisch-konstitutionellen Auflösung als „une arme offensive" deutlich zutage 98 . Die Nachwirkungen dieser Vorgänge haben noch i n den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung eine Rolle gespielt und schließlich zu dem bekannten Zusatz i n A r t . 25 RV geführt, m i t dem die Ausübung des Auflösungsrechts durch den Reichspräsidenten auf den gleichen Anlaß beschränkt wird. A d 2. Das présidentielle Auflösungsrecht Die présidentielle Spielart der Auflösung ist vor dem Hintergrund der Gedanken von der Gewaltenteilung und Gewaltenbalancierung zu sehen 94 . Das zwischen Exekutive und Legislative bestehende Gleichgewicht 9 5 w i r d durch verschiedene korrelierende Befugnisse der beiden Gewalten aufrechterhalten. Das Auflösungsrecht des — zumeist plebiszitär gewählten — Staatspräsidenten w i r k t dabei auf der Seite der Exekutive als M i t t e l der Balancierung und des plebiszitären Appells an die Wählerschaft und bildet ein Gegengewicht zu den Machtansprüchen der Volksvertretung 9 6 . Der Unterschied zum konstitutionell-monarchischen Auflösungsrecht liegt i n seiner Funktion, einen echten Konflikt zwischen Staatspräsident und Parlament durch einen demokratischen Appell an das Volk endgültig zu entscheiden. Daher ist eine nochmalige Auflösung aus der gleichen Konfliktsituation untersagt 97 . Ein Rudiment der Überlegungen zum alten, monarchischen Auflösungsrecht findet sich i n der Stellungnahme des Berichterstatters Ablaß i m Verfassungsausschuß der Weimarer Nationalversammlung zum A u f lösungsrecht des Reichspräsidenten 98 : dem Reichspräsidenten soll die Möglichkeit eingeräumt werden, „das V o l k gegen den Reichstag anzurufen, wenn dieser sich auf falschem Wege befindet oder m i t dem Volks98 Esmein, Adhémar-Nézard, Eléments de droit constitutionnel français et comparé, 1927, I , S. 160; allgem. zur Stellung der Parlamentsauflösung i m konstitutionellen Staat: Pokorni, S. 18 ff.-54 m i t zahlreichen Beispielen u n d reichhaltigen Nachweisen. 94 Die Weiterentwicklung zu einer Theorie v o m Gleichgewichtssystem hat Robert Redslob i n seinen bekannten W e r k „Die parlamentarische Regierung i n ihrer wahren u n d ihrer unechten Form", Tübingen 1918, vorgenommen. 95 Redslob, S. 4. 96 Das Auflösungsrecht des Staatspräsidenten wurde v o n den Schöpfern der französischen Verfassungsgesetze v o n 1875 als besondere A r t der A u f lösung erörtert u n d hier zum ersten M a l i n einer republikanischen Verfassung v e r w i r k l i c h t . Siehe dazu die folgereichen Untersuchungen v o n Barthélémy, Joseph, Le rôle du pouvoir exécutif dans les Républiques modernes, Paris 1906, S. 629 - 750. 97 Schmitt, S. 354. 98 Berichte u n d Protokolle, a. a. O., S. 233.

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

375

empfinden i m Widerspruch ist". Tatsächlich erhielt dann der einschlägige A r t i k e l 25 RV einen komplexen Inhalt: durch die Bindung des Reichspräsidenten an die ministerielle Gegenzeichnung wurde eine Kombination von präsidentieller und ministerieller Auflösung geschaffen". A d 3. Die Auflösung auf Volksbegehren Diese A r t der Auflösung hat insbesondere Eingang i n die Verfassungen der deutschen Länder gefunden 100 . Sie ist unter zwei Gestalten denkbar. Einmal die sehr stark i m Sinne der unmittelbaren Demokratie ausgeprägte Form der Initiativabberufung des Parlaments durch das Volk 1 0 1 . Daneben findet sich noch, auf Antrag der Regierung, die Möglichkeit eines echten Wählerverdikts über einen zwischen Regierung und Parlament ausgebrochenen Konflikt. Bei für das Parlament negativem Ausgang der Volksabstimmung ist dieses aufzulösen 102 . A d 4. Die Selbstauflösung des Parlaments Als weitere A r t der Auflösung m i t eigenen Voraussetzungen hat sich die auf der Eigeninitiative des Parlaments beruhende Selbstauflösung des Parlaments herausgebildet. Sie vollzieht sich entweder auf Grund eines formalen Parlamentsbeschlusses oder m i t materiellem Einverständnis der Parlamentsmehrheit und zusätzlicher, formaler Sanktion durch ein anderes Verfassungsorgan 103 . Die majoritäre Selbstauflösung des Parlaments ist aus der b r i tischen Verfassungsgeschichte bekannt 1 0 4 , wo sie sich als Konsequenz der parlamentarischen Souveränität entwickeln konnte 1 0 5 . Sie hatte seit 1919 Eingang i n die deutschen Landesverfassungen gefunden 10®. Der „Anlaß" einer solchen Auflösung mag aus vielerlei Ursachen erwachsen. Unfähigkeit zur Regierungsbildung, parlamentarische Schwierigkeiten m i t einer radikalen Partei; vor allem aber der Versuch der Mehrheitsfraktion, sich zu einem günstigen Zeitpunkt gegen Ende der Legislaturperiode das Mandat erneuern zu lassen 107 . Das Verbot der wiederholenden Par99 Schmitt (VI), S. 20; zur parlamentarischen Auflösung i n der Weimarer Verfassung, vgl. Pokorni, S. 58 ff. - 122. 100 So z. B. A r t . 18 I I I B V , w o die Abberufung durch eine M i l l i o n w a h l berechtigter Staatsbürger vorgesehen ist. 101 A r t . 18 Abs. I I I B V . 102 Vgl. die Thüringische Verfassung 1921 § 17 u n d A r t . 14 der Bremischen Verfassung v o n 1920. 103 So Scheuner (III), S. 360. 104 So ζ. B. Low t Sidney, The Governance of England, a. a. O., S. 108. 105 Fridce, S. 211. 108 z. B. A r t . 14 der preußischen Verfassung 1920; § 16 der Thüringischen Verfassung 1920; A r t . 14 der Hamburgischen Verfassung 1921; § 31 der bayerischen Verfassung 1919; A r t . 18 Abs. 1 bayerische Verfassimg 1946. 107 Vgl. dazu näher die Ausführungen zum Auflösungsrecht des U n t e r hauses, S. 3 Abschn. 14,1. Kap., 2. Hauptteil.

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I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

l a m e n t s a u f l ö s u n g 1 0 8 ist h i e r sinnlos, da eine S e l b s t a u f l ö s u n g h i n s i c h t l i c h desselben P a r l a m e n t s n u r e i n m a l d e n k b a r i s t 1 0 9 . A d 5. D i e m i n i s t e r i e l l e A u f l ö s u n g . D i e f ü n f t e , i n der G e g e n w a r t jedoch bedeutsamste F o r m der A u f l ö s u n g ist das m i n i s t e r i e l l e A u f l ö s u n g s r e c h t . Es h a t das p a r l a m e n t a r i s c h e Regierungssystem, d. h. die f o r m e l l e u n d / o d e r m a t e r i e l l e B e s t a n d s a b h ä n g i g k e i t der R e g i e r u n g v o m P a r l a m e n t z u r b e g r i f f l i c h e n Voraussetzung, die d e m m i n i s t e r i e l l e n A u f l ö s u n g s r e c h t z u g r u n d e l i e g e n d e S i t u a t i o n ist d i e j e n i g e eines Gegensatzes zwischen R e g i e r u n g u n d P a r l a m e n t s m e h r heit110. Das I n d i z f ü r eine d e r a r t i g e M e i n u n g s v e r s c h i e d e n h e i t b i l d e t der sog. „ K a b i n e t t s f a l l " 1 1 1 , das h e i ß t , der f o r m a l e oder m a t e r i e l l e A u s s p r u c h des M i ß t r a u e n s . S e i n E i n t r i t t löst die v o m K a b i n e t t oder v o m R e g i e r u n g s chef ausgehende A u f l ö s u n g s i n i t i a t i v e aus, w o b e i i h r f o r m a l e r V o l l z u g e i n e m a n d e r e n V e r f a s s u n g s o r g a n — meistens d e m S t a a t s o b e r h a u p t — a n v e r t r a u t sein m a g . D i e M ö g l i c h k e i t e i n e r A u f l ö s u n g nach E i n t r i t t des K a b i n e t t s f a l l s b e i n h a l t e t l e t z t l i c h e i n e B e s c h r ä n k u n g des p a r l a 108 109

es etwa A r t . 25 W V ausspricht.

Siehe dazu näher Schmitt (VI), s. 22 f. 110 Schmitt (VI), S. 19. 111 Schmitt (V), S. 339 f., zählt die Reihe dieser sogen. Kabinettsfälle auf: a) Direkte Abberufung durch Parlamentsbeschluß b) Ausdrückliche Aufforderung zum Rücktritt c) Ausdrückliche Verweigerung einer Verbrauenserklärung, w e n n diese v e r fassungsgesetzlich vorgeschrieben ist d) Ausdrücklicher Tadel (vote of censure) oder M i ß b i l l i g u n g i m Ganzen (zum Unterschied von Tadel oder M i ß b i l l i g u n g einzelner Handlungen) e) Ausdrücklicher Mißtrauensbeschluß, an welchen die verfassungsgesetzliche Pflicht zum Rücktritt gebunden ist (Art. 54 RV) f) Ausdrücklicher Mißtrauensbeschluß bei Stillschweigen der Verfassung (französische u n d belgische Praxis) g) Ablehnung einer Vertrauenserklärung, die von der Regierung verlangt wird h) Ablehnung einer Vertrauenserklärung, die von einer Partei beantragt w i r d i) Ausdrückliche M i ß b i l l i g u n g einer einzelnen Handlung oder Unterlassung der Regierung k) Ablehnung eines Billigungsantrages bezüglich einer einzelnen Handlung oder Unterlassung 1) Ablehnung einer Vorlage der Regierung (setzt wie i n England voraus, daß ausschließlich die Regierung die I n i t i a t i v e ausübt, anders A r t . 68 RV) m) Ablehnung irgendeines Antrages der Regierung n) Andere Beschlüsse des Parlaments, die auf Mißtrauen oder M i ß b i l l i g u n g schließen lassen, wie Einsetzung eines Untersuchungsausschusses, Verlangen oder Vorlage von Dokumenten, Anzweiflung „der Lauterkeit oder Gesetzmäßigkeit v o n Regierungshandlungen" (vgl. Regierungsvorlage Entw. I zu A r t . 34) o) Ohne besonderen Beschluß des Parlaments aa) Neuwahlen bb) Auflösung der bisherigen, die Regierung stützende Partei-Koalition; das ist i n der heutigen deutschen Praxis des parlamentarischen Systems bisher der häufigste Fall.

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

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mentarischen Prinzips, da dank dem „Suspensiveffekt" der Auflösung der Regierungschef und sein Kabinett sich zunächst gegen den Willen der Parlamentsmehrheit an der Macht zu halten vermögen. Das auf den Appell an das Volk h i n ergehende Verdikt der Wähler entscheidet dann über den Weiterbestand der Regierung. Fällt das Urteil des Volkes negativ aus, so muß der Regierungschef m i t seinem Kabinett zurücktreten. Eine nochmalige Auflösung steht der Regierung nicht mehr zur Verfügung 1 1 2 . Das Gebot der Einmaligkeit der Auflösung bedeutet hier die Bestätigung der Volkssouveränität: die Wählerschaft hatte als letzte Instanz, „als der höhere Dritte" 1 1 3 , die Entscheidung des Konflikts zwischen Regierung und Parlament getroffen. Der von der Aktivbürgerschaft getroffene Entscheid ist dabei hinsichtlich seiner Funktion einem rechtskräftigen Urteil vergleichbar. Daraus folgt das Gebot der Einmaligkeit: eine konkrete Streitfrage findet ihre endgültige Erledigung i n höchster Instanz 114 . 5. Die Auflösung des britischen Unterhauses

Die vorstehend erläuterten Grundsätze sind nun auf die Auflösung des englischen Unterhauses anzuwenden. Dabei ist vorab die Frage zu klären, welche der oben beschriebenen Auflösungsmodelle i n der englischen Verfassungspraxis heute Verwirklichung gefunden haben. A n schließend gilt es, das sowohl für die allgemeine Bestandskraft des parlamentarischen Regierungssystems als für die rechtsvergleichende Betrachtung des Auflösungsrechts gem. A r t . 68 GG bedeutsame Problem der Beteiligung von Monarch und Regierungschef am Verfahren der Auflösung zu klären. a) Die Auf

lösungsarten

Dabei ist von den möglichen, eine Auflösung initiierenden verfassungspolitischen Situationen, dem i n Großbritannien verankerten parlamentarischen Regierungssystem sowie der dieser Regierungsform gemäßen und i n der britischen Verfassungspraxis verwirklichten Neutralitätsfunktion des Staatsoberhaupts auszugehen. Seit der die Verfassungssubstanz verändernden Kette von Wahlreformen der Jahre 1867, 1885 usw. sind nur noch unter drei Konstellationen Auflösungen des Unterhauses vorgekommen. Es waren dies die einem Kabinettsfall folgende Auflösung, weiterhin die „Mandatsauflösung", m i t der die Bevölkerung zur Stellungnahme gegenüber einer bestimmten politischen Frage, die nicht 112

Diese Regel hat sich i m Laufe der englischen Verfassungsentwicklung konventional herausgebildet, vgl. dazu Dicey (II), S. 344; Schmitt (VI), S. 19. 113 Schmitt (VI), S. 19. 114 Schmitt (VI), ebenda.

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I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Gegenstand des letzten Wahlkampfs gewesen war, veranlaßt werden sollte. Daran reiht sich noch als dritte und i n der Gegenwart als die „reguläre" A r t der Auflösung angesehene „Dissolution" gegen Ende der Legislaturperiode, ohne daß die Voraussetzungen der Typen 1 und 2 vorzuliegen hätten. Z u diesem Zweck w i r d der für die Regierungspartei am günstigsten erscheinende Zeitpunkt gewählt, u m die Mehrheit zu erhalten oder zu vergrößern. Bereits aus systematischen Gründen kann es sich bei den Auflösungen der Gegenwart nicht u m das Modell der „monarchischen Auflösung" handeln 115 . Dieses setzt das Nichtbestehen einer parlamentarischen Regierung voraus und dient dazu, die bereits an Gesetzgebung und Budget partizipierende Volksvertretung gefügig zu machen. Die repräsentative Unabhängigkeit des Abgeordneten gegenüber plebiszitären Beeinflussungsversuchen ist bisher — außerhalb der General Elections — ungebrochen. Zwar bildet die Unterstützung durch eine der beiden Großparteien bei der Kandidatennominierung und während der Wahl fast eine „conditio sine qua non" für den Erfolg, doch, einmal gewählt, ist der Einzelabgeordnete unabsetzbar. Wie an auch nach dem Zweiten Weltkrieg aufgetretenen Fällen nachgewiesen werden kann 1 1 6 , hat das Institut des „recall", d. h. die Aberkennung eines Mandats infolge des Parteiwechsels seines Inhabers, keine Aufnahme i n die englische Verfassung gefunden. I n Anerkennung eines repräsentativen Status des individuellen Mandats folgt die vor dem unmittelbaren plebiszitären Zugriff außerhalb der Wahlen geschützte repräsentative Sphäre des Unterhauses 117 . Eine Auflösung oder Abberufung des Unterhauses kraft Volksentscheid ist daher ausgeschlossen. M i t dem konstitutionell-präsidentiellen Auflösungsrecht w i r d dem Staatsoberhaupt das M i t t e l i n die Hand gegeben, kraft eigener Initiative das Volk gegen das Parlament anzurufen, wenn der Staatspräsident der Auffassung ist, daß das Parlament i m Widerspruch zur Meinung des Volkes handelt. Innerhalb der konstitutionellen-präsidentiellen Auflösung steht dem Staatsoberhaupt auch als Auflösungsrecht i m Falle eines latenten oder offen zutage getretenen Konflikts zwischen Parlament und Regierung zu. Das Staatsoberhaupt soll hier auf der Grundlage der Teilung und Balancierung der Gewalten zum Gegengewicht des Parlaments erhoben werden und bildet die Säule der Exekutive innerhalb der Gewaltenbalancierung. 115

Z u m Begriff vgl. Schmitt (VI), S. 17 f. ; derselbe (V), S. 353 f. Siehe dazu Oppermann m i t Nachweisen; u n d Leibholz (IV), S. 22. 117 Der „recall" erinnert stark an das Prinzip der jederzeitigen Abberufbarkeit eines Rats i m Rätesystem. Vgl. dazu Gottschalch, Wilfried, Parlamentarismus und Rätedemokratie, B e r l i n 1968, S. 32. 116

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

379

Von den bereits skizzierten drei Konstellationen, unter denen i n Großbritannien eine Auflösung des Unterhauses denkbar erscheint, entspricht jedoch keine den Bedingungen des präsidentiell-monarchischen Auflösungsrechts. Die dem Kabinettsfall, d. h. dem indizierten Konflikt zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung folgende Auflösung aktualisiert ebenfalls die Volkssouveränität, indem sie die Aktivbürgerschaft zur Abgabe eines endgültigen Verdikts erhebt. Streitgegenstand dieser Alternative ist jedoch nicht die Frage, ob die Annahme des Staatsoberhaupts einer zwischen Parlaments- und Volkswillen bestehenden K l u f t berechtigt ist, sondern die Auseinandersetzung zwischen Parlament und Regierung. Einer Charakterisierung der Unterhausauflösung als zur präsidentiellkonstitutionellen A r t gehörend widerspricht auch die Tatsache, daß die Initiativfunktion materiell und formell nicht mehr beim Monarchen situiert ist. Materiell liegt die Initiative auf der Seite der Regierung; dies folgt schon aus der allgemeinen Erwägung des korrelierenden Verhältnisses von Verantwortung und Befugnis. Denn die Regierung ist i n den der Auflösung folgenden Neuwahlen gezwungen, die Verantwortung für die von ihr geführte Politik und den Konflikt m i t dem Unterhaus zu übernehmen. Infolgedessen muß auch ihr die Entscheidung darüber zustehen, ob das Instrument der Auflösung defensiv zu gebrauchen ist, u m einen andernfalls notwendigen Rücktritt auflösend bedingt hinauszuschieben. Der Annahme einer monarchischen Initiative stellen sich jedoch auch formale Hinderungsgründe entgegen: grundsätzlich erfolgt jeder königliche A k t auf „advice" eines Kabinettsmitglieds. I m Falle der Auflösung ist neben dem ministeriellen Rat ein sog. „Order i n Council" sowie eine Proklamation und „writs of summons under the Great Seal" notwendig, für dessen Ausfertigung verschiedene Amtsinhaber 1 1 8 die Verantwortung übernehmen 119 . Bei Fehlen dieser Voraussetzung ist eine Auflösung verfassungswidrig, i m Sinne von gegen die Konventionalregeln verstoßend. Die restlichen, der britischen Verfassungspraxis bekannten A u f lösungsfälle, so die Auflösung am Ende der regulären Legislaturperiode und die auf die Erteilung eines Mandats zur Inangriffnahme bestimmter politischer Ziele gerichtete Auflösung, passen gleichfalls nicht i n das B i l d der präsidentiell-konstitutionellen Auflösungsform. I n beiden Fällen liegt der mit der Auflösung angestrebte Zweck i n der Erhaltung oder Vergrößerung der Regierungsmehrheit. Die Initiative liegt daher konsequenterweise auf der Mehrheitsseite. Überdies schließen — wie bei 118 119

Es sind dies der L o r d President sowie der L o r d H i g h Chancellor. Jennings (I), S. 413.

380

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

der Auflösung nach dem Kabinettsfall — formale Voraussetzungen eine Eigeninitiative des Monarchen aus. Nach Ausschluß der monarchischen und der präsidentiellen Auflösung sowie der Auflösung kraft Volksentscheid verbleiben zur Kennzeichnung des englischen Auflösungsrechts noch zwei Arten: die majoritäre Selbstauflösung sowie das ministerielle Auflösungsrecht. Die Selbstauflösung erfolgt i m Einverständnis m i t der Mehrheit des Parlaments. Der m i t der Auflösung verfolgte Zweck kann verschiedenartigster Natur sein 120 . Die Selbstauflösung kann i n Gestalt eines formellen Mehrheitsbeschlusses 121 oder — materiell — m i t Willen der Parlamentsmehrheit und formalem Vollzug durch ein anderes Verfassungsorgan auftreten 122 . Unterstellt man also den Willen der Mehrheit, nach den Wahlen i n das Unterhaus zurückzukehren und den Regierungschef zu stellen, so zeichnen sich die Auflösungen gegen Ende der Legislaturperiode jedenfalls insofern durch dieselbe Interessenlage wie i m Modell der parlamentarischen Selbstauflösung aus, wo ebenfalls der Mehrheitswille unmittelbar Ausdruck findet. Die Eigenarten der englischen Verfassung schließen ein formales Selbstauflösungsrecht allerdings aus. Der Mehrheitswille kommt auch nicht unmittelbar zum Ausdruck: Es ist die Aufgabe des Premierministers, den für seine Partei günstigsten Zeitpunkt für die Auflösung herauszufinden 123 . Obwohl der Premierminister das günstigste Datum für die Auflösung ermittelt und den entsprechenden Antrag beim Monarchen stellt, handelt es sich u m ein „verdecktes" Selbstauflösungsrecht des Unterhauses. Der Zusammenhang zwischen dem Handlungsspielraum des Premierministers und der vom Selbstauflösungsrecht geforderten Willensbestätigung des Parlaments w i r d durch das Rechtsinstitut des „ t r u s t " 1 2 4 — etwa hinsichtlich der Interessenlage der beteiligten Rechtsobjekte der Vollmacht des deutschen bürgerlichen Rechts gem. §§ 167, 168 BGB vergleichbar — hergestellt. Dies geschieht, indem der Premierminister als „trustee", als Bevollmächtigter, der Mehrheit des Unterhauses den A n trag auf Auflösung stellt. Die Erteilung der Vollmacht ist i n der Be120

Siehe dazu Schmitt (VI), S. 22. So stets i n geschriebenen Verfassungen m i t ausdrücklich verankertem Selbstauflösungsrecht des Parlaments: siehe z.B. A r t . 18 Abs. 1 B V : „Der Landtag k a n n sich v o r A b l a u f seiner Wahldauer durch Mehrheitsbeschluß seiner gesetzlichen Mitgliederzahl selbst auflösen." 122 Scheuner (III), S. 360. 123 Uber die zur E r f ü l l u n g dieser Aufgabe notwendige analytische Beobachtung der auf das Wählerverhalten einwirkenden Faktoren geben die Schilderungen ehem. Parteiführer einen eingehenden Überblick: siehe dazu v o r allem: Attlee, L o r d Clement, As i t Happened, London 1954, S. 271 f., 290 f., 189- 193; Churchill, W. S., T r i u m p h and Tragedy, London 1953, S. 585-598; Eden, Sir Anthony, F u l l Circle, London 1960, S. 298 - 301, 124 Vgl. James, S. 451 ff. 121

3. Abschn. : Plebiszitäre Abberufung

381

rufung des Prime Ministers zum Party Leader und Führer der Mehrheit stillschweigend enthalten 125 . Der durch den Prime Minister an den Monarchen gerichtete Auflösungsantrag gilt somit als Antrag der Mehrheit des Unterhauses. M i t Hilfe des trust-Gedankens ist der Fall der normalen Parlamentsauflösung gegen Ablauf der Legislaturperiode und ohne vorherigen „Kabinettsfall" tatsächlich als Spielart des majoritären Selbstauflösungsrechts erkennbar. Die bereits erwähnte Auflösung zur Erlangung eines generellen Mandats stellt sich ebenfalls als Form der Selbstauflösung dar. Die Mehrheit versucht, einen Wählerauftrag zur Regelung einer bestimmten Frage, die nicht Gegenstand des letzten Wahlkampfes war, zu erhalten. W i l l i a m G. Andrews 1 2 6 hat jedoch die geringe verfassungspolitische Bedeutung jener „Referendums-Auflösung" nachgewiesen. Er führt aus, daß während der letzten 60 Jahre nur zwei solcher Mandatsauflösungen vorgekommen seien: 1910, als die liberale Regierung Asquith u m plebiszitäre Unterstützung gegen das konservative Oberhaus gebeten habe, und 1923, als der Schutzzoll zum Gegenstand des der Auflösung folgenden Wahlkampfs gemacht worden war. Die Selbstauflösung des Unterhauses stellt zwar die normale, jedoch nicht die einzige Form der Parlamentsauflösung dar 1 2 7 . Die einem „Kabinettsfall", d. h. der formellen oder materiellen Kundgabe des Mißtrauens durch das Unterhaus folgende, das Volk zum Richter über den Streit zwischen Parlamentsmehrheit und Regierung erhebende, folgende Auflösung enthält zugunsten des Kabinetts den für die ministerielle Auflösung als Kampfmaßnahme typischen Suspensiveffekt des Rücktritts und somit eine Beschränkung des parlamentarischen Prinzips 128 . Erst die Neuwahlen entscheiden hier über den Bestand der Regierung. Bei negativem Ausgang führt das Verdikt des Volkes zum unmittelbaren Rücktritt des Kabinetts, ohne daß dem Unterhaus Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde 1 2 9 . b) Die Positionen von Monarch und Premierminister

im Auf lösungsverfahren

Die Klärung der verfassungsrechtlichen Stellung von Monarch und Regierungschef i m Auflösungsverfahren beansprucht aus mehreren Gründen hohe Bedeutung. Die Verkündung der Auflösung, ihr formaler 125 Die stillschweigende Vollmachtserteilung kennt auch das deutsche Redit, vgl. dazu Palandt, A n m . 1 zu § 167. 126 Vgl. Andrews , W i l l i a m G., Some Thoughts on the Power of Dissolution, i n : Parliamentary Affairs, vol. X I I I ; 1959 - 60, S. 286 - 296, 291 f. 127 a. A . Scheuner (III), S. 361, der die ministerielle Auflösung weder f ü r Großbritannien noch f ü r die Dominions anerkennt. 128 Z u m ministeriellen Auflösungsrecht, seinem Begriff u n d Inhalt, vgl. Schmitt (V), S. 354 f.; derselbe (VI), S. 20 f. 129 Fricke, S. 211.

382

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Vollzug, steht nach wie vor dem monarchischen Staatsoberhaupt kraft königlicher Prärogative zu 1 3 0 . Daraus ergibt sich die Frage, ob das dem Monarchen prärogativ zustehende Auflösungsrecht als Ermessensentscheidung, als strikte Verpflichtung, oder als grundsätzliche Pflicht m i t der Möglichkeit des Wiederauflebens des Ermessensspielraums i n bestimmten politischen Lagen zu interpretieren ist. Auch bedarf es einer kurzen Untersuchung des Rechts der Initiative: welches Verfassungsorgan verfügt über die Befugnis, unabhängig von der M i t w i r k u n g anderer, oberster Staatsorgane die Erforderlichkeit der Auflösung des Parlaments festzustellen und ihren Vollzug beim Monarchen rechtswirksam zu beantragen? Das Problem des Verhältnisses von Rat und Entscheidung und möglicherweise des Ubergangs vom Ratszum Entscheidungsträger w i r k t hier herein 1 3 1 . Dabei reicht die Bedeutung der Fragen nach dem materiellen Inhalt des monarchischen Auflösungsrechts weit über Gesichtspunkte der Würde oder des Ranges der partizipierenden Verfassungsorgane hinaus. Die Königin würde bejahendenfalls über wesentliche Einflußmöglichkeiten verfügen. Sie würde i m Kabinettsfall sogar zum tatsächlichen I n haber der Richtlinienkompetenz, als sie dem Prime Minister hinsichtlich der von diesem einzuschlagenden Politik personelle und sachliche Bedingungen zu stellen vermag. Gleichzeitig wäre i m Kabinettsfall zur parlamentarischen Bestandsabhängigkeit noch die konstitutionelle A b hängigkeit des Prime Ministers vom Monarchen getreten, da eine Verweigerung der Auflösung das Amtsende der Regierung bedeuten würde. Doch darüber hinaus käme das monarchische Verweigerungsermessen einem Abschneiden der hier aktualisierbaren Volkssouveränität gleich und würde teilweise das plebiszitäre Instrument der Auflösung u n w i r k sam werden lassen, woraus Spannungen und Gefahren für das parlamentarische Regierungssystem entstehen würden. aa) Das Recht der Initiative Das Recht der Initiative zur Auflösung beinhaltet faktisch die „Macht der plebiszitären Fragestellung" 132 . Diese „sehr bedeutende und seltene A r t von A u t o r i t ä t " 1 3 3 setzt, „wie alle plebiszitären Methoden, eine Re130 Hinsichtlich der formellen Voraussetzungen u n d Durchführung einer Auflösung, vgl. May (II), Bd. I I , S. 279; eine Auflösungsorder i n der F o r m der Royal Proclamation ist abgedruckt i n Wade and Phillips, S. 471, A p p e n d i x C. 131 Siehe dazu Küchenhoff, Günther, Die Betriebsräte als Räte i m Betrieb — ein Beitrag zum Ratsgrundsatz, i n : Recht der Arbeit, 1962, Heft 10, S. 370 ff., u n d die Würzburger j u r . Diss, v o n Schlötterer, W., Der Übergang v o m beratenden zum beschließenden Organ unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung der Parlamente, Würzburg 1967. 132 Schmitt (VI), S. 341. 133 Schmitt, ebenda.

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

383

g i e r u n g v o r a u s . . . die auch die A u t o r i t ä t h a t , die p l e b i s z i t ä r e n F r a g e s t e l l u n g e n i m r i c h t i g e n A u g e n b l i c k r i c h t i g v o r z u n e h m e n " 1 8 4 . D a m i t sei m i t d e n i n h a l t s s c h w e r e n W o r t e n C a r l S c h m i t t s die B e d e u t u n g des Rechts der I n i t i a t i v e gekennzeichnet. O r d n e t m a n diese I n i t i a t i v e z u r A u f l ö s u n g i n die v o n S c h l ö t t e r e r 1 8 5 e n t w i c k e l t e F o l g e der r e c h t l i c h e n Ü b e r g a n g s s t u f e n z w i s c h e n b e r a t e n d e m u n d beschließendem O r g a n , so d e u t e t die I n h a b e r s c h a f t der I n i t i a t i v e a u f die v o l l e p o s i t i v e E n t s c h e i d u n g s b e f u g n i s des Ratgebers, des I n i t i a t o r s , h i n 1 3 6 . D e r Entscheidende k ö n n t e d a n n n u r m e h r n e g a t i v a n d e r E n t s c h e i d u n g p a r t i z i p i e r e n 1 3 7 . B e i Ü b e r t r a g u n g des soeben gezeichn e t e n M o d e l l s a u f die O r g a n b e t e i l i g u n g i n der englischen P a r l a m e n t s a u f l ö s u n g stehen sich, da b e i d e r m i n i s t e r i e l l e n A u f l ö s u n g V o l l z u g s - u n d I n i t i a t i v f u n k t i o n e n g e t r e n n t sind, der m i n i s t e r i e l l e I n i t i a t o r u n d d e r die A u f l ö s u n g v o l l z i e h e n d e M o n a r c h g e g e n ü b e r 1 8 8 . D i e F e s t s t e l l u n g , daß die A u f l ö s u n g s i n i t i a t i v e i m B e r e i c h der R e g i e r u n g angelegt ist, b e d a r f jedoch der w e i t e r e n U n t e r s c h e i d u n g , w e l c h e Staatsorganträger a) d e n A n t r a g a u f A u f l ö s u n g d e m M o n a r c h e n u n t e r b r e i t e n u n d b) die E n t s c h e i d u n g ü b e r die F r a g e des „ O b " u n d des „ W a n n " e i n e r A u f l ö s u n g treffen. 134 Schmitt (VI), S. 340. iss Ubergang v o m Beratenden zum Beschließenden Organ, a. a. O., S. 73 if. 136 Schlötterer, S. 80 f.; Schlötterer kennt 5 Hauptübergangsstufen v o m bloßen Rat zur vollen Entscheidung: I. Beratung ohne Entscheidungsteilhabe. 1. F a k u l t a t i v e r Rat, 2. Übergang v o m fakultativen zum obligatorischen Rat, 3. obligatorischer Rat. I I . Negative Entscheidungsteilhabe des Ratgebers. I I I . Positive Entscheidungsteilhabe des Ratgebers. I V . N u r noch negative Entscheidungsteilhabe des Entscheidenden. V. Alleinentscheidungsrecht des Ratgebers. 137 Dies ist der F a l l bei der Verweigerung einer erforderlichen Z u s t i m mung, bei der Einlegung eines Vetos, siehe die Beispiele bei Schlötterer, S. 80 f. iss D e r K ö n i g hatte die selbständige monarchische Auflösungsinitiative — den Systemanforderungen der parlamentarischen Regierungsweise entsprechend — bereits frühzeitig eingebüßt. Dies zeigte sich, als K ö n i g i n V i c toria i m Bemühen, die Verabschiedung der Home Rule B i l l zu verhindern, m i t dem Gedanken spielte, aus eigener I n i t i a t i v e das V o l k gegen die liberalen Kabinette jener Zeit anzurufen. I n der auf diese Frage h i n entstehenden v e r fassungstheoretischen Diskussion äußerte der Verfassungs jurist Morgan die noch heute der systemkonformen Rolle des Staatsoberhaupts i m parlamentarischen Regierungssystem entsprechende u n d die Berater Victorias überzeugende Auffassung, daß eine solche freie u n d eigenverantwortliche monarchische Auflösung praktisch die Bestandsabhängigkeit der Regierung v o m K ö n i g wieder entstehen lassen, sowie eine Verletzung der neutralen Rolle des Königs beinhalten würde. Vgl. die Darstellung der verfassungspolitischen u n d verfassungstheoretischen Auseinandersetzung m i t vielen Nachweisen bei Jennings (I), S. 415 ff., 416.

384

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

Aus seiner allgemeinen Stellung als Führer der parlamentarischen Mehrheit, als Kabinettschef, ist der Premierminister zum Verbindungsglied zwischen Regierung und Monarchen erhoben. Dieses Ergebnis enthält zunächst nur die Bestätigung der Botenfunktion des Prime M i n i sters, trifft aber noch keine Aussage über die Entscheidungsträgerschaft der Auflösungsiniative. Einigkeit besteht i n der Literatur darüber, daß es bis i n die ersten Jahre unseres Jahrhunderts das Kabinett war, das die Entscheidung über den Auflösungsantrag traf 1 3 9 . K . G. Asquith 1 4 0 meinte noch, daß eine Frage von der Bedeutung der Auflösung des Unterhauses stets vom Kabinett entschieden würde. Tatsächlich scheint i n der langen Reihe von Präzedenzfällen zwischen den Jahren 1841 und 1910 die endgültige Entscheidung über die Initiative stets vom Kabinett getroffen worden zu sein. Zur ersten Bestätigung dieser Regelhaftigkeit kam es 1841, als Premier Lord Melbourne zunächst zurücktreten wollte, aber dann vom Kabinett überstimmt und veranlaßt wurde, beim König u m die Auflösung nachzusuchen 141 . Umgekehrt scheint es nach der parlamentarischen Niederlage von Lord Rosebery 1895 gewesen zu sein, als der Premierminister eher der Auflösung zuzuneigen schien, das Kabinett sich jedoch für den Rücktritt ausgesprochen hatte 1 4 2 . Dieselbe Entwicklung war 1905 unter Premier Balfour zu beobachten: auch er wurde durch Kabinettsbeschluß zum Rücktritt veranlaßt. Während sowohl den Unterhausauflösungen von 1906 als 1910 das Einverständnis des Kabinetts zugrunde lag 1 4 3 , kündigte sich bereits wesentlich früher i m Gefolge der Wahlreform 1867 eine schnell wachsende neue Entwicklung an: Disraeli hatte 1868 die Auflösung ohne vorherige Konsultation, ja sogar ohne Benachrichtigung des Kabinetts beantragt 144 . Obwohl das Kabinett 10 Tage vor dem Auflösungsantrag einen Beschluß verabschiedet hatte, der dem Premierminister für eine auf die baldige Auflösung gerichtete Politik eine Generalvollmacht erteilte, zwang der angesichts des selbständigen Verhaltens Disraelis ausbrechende Unmut einiger Minister den Premierminister, das Kabinett u m Verabschiedung eines entsprechenden Genehmigungsbeschlusses zu bitten 1 4 5 . Ebenso soll Gladstone 1874 den Auflösungsantrag nur mit einem Generalkonsens 139

ü r viele Jennings (I), S. 417; Mackintosh , S. 291. S. 195 f. 141 Life of L o r d John Russell, I., S. 372 if. 142 Asquith, S. 195. 143 Asquith, S. 196. 144 Jennings, S. 417 f. 145 Jennings (I), S. 418, so Laski (I), S. 12; a. A . Jennings schieden: Mackintosh, S. 291. F

140

(I), S. 418; unent-

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

385

des Kabinetts, aber ohne vorherige Befragung der Minister, gestellt haben 146 . Doch die Auswirkungen der Großen Reform von 1867 verstärkten den neuen Trend. Da war einmal die neue Machtposition des Prime M i n i sters, die aus vielen Faktoren gespeist wurde. Deren stärkster war wohl seine faktisch zur plebiszitären Wahl gewordene Bestellung. Bereits 1882 konnte die Times i m Hinblick auf Gladstone sagen: „ I n the eyes of the Opposition, as indeed of the country, he is the Government and he is the Liberal Party 1 4 7 ." Die darin zum Ausdruck gelangende plebiszitäre Legitimierung des Kabinettschefs mußte zum allmählichen Abzug der Entscheidungsbefugnis vom Kabinett und zu ihrer Übertragung auf den Premier führen. I m Jahre 1916 erteilte der frühere Lord Chancellor, Lord Haidane, Georg V. auf entsprechendes Ersuchen die Rechtsauskunft, daß der Premier als einziges Kabinettsmitglied eine die Auflösung herbeiführende Initiative entfalten könnte 1 4 8 . 1918 war es tatsächlich soweit: durch eine Indiskretion gerieten Auflösungspläne des Premierministers L l o y d George an die Öffentlichkeit. I n der darauffolgenden Erörterung der verfassungsrechtlichen Situation hinsichtlich der Auflösungsinitiative war man sich — ungeachtet der Reihe von entgegenstehenden Präzedenzfällen — einig, daß es ausschließlich der Premierminister sei, der die Verantwortung für eine A u f lösung zu tragen habe und der dadurch allein berechtigt sei, den Zeitpunkt für die entsprechende Initiative zu wählen14®. Tatsächlich wurde seit 1918 i n sämtlichen Auflösungen die Initiative vom Premierminister ohne vorherige Befragung und zum Teil sogar Information ergriffen oder gegen den ausdrücklichen Widerstand von Kabinett und Partei durchgesetzt 150 . Somit verfügt i n der Gegenwart der Premierminister sowohl über die Befugnis der Initiative als auch der Übermittlung des Antrags an den Monarchen. bb) Die Entscheidung über die Auflösung und der Einsatz von prärogativer Reservemacht Der Vollzug der Auflösung obliegt noch heute dem britischen Monarchen kraft Prärogativen Rechts. Die vom Premier ausgehende Initiative ist zwar Voraussetzung für die Auflösung durch den Monarchen 151 , doch liegt die ausschließliche Vollzugszuständigkeit beim König. Materiell 146

Vgl. Jennings (I), ebenda. Übersetzung u n d Z i t a t nach Mackintosh, S. 293. 148 E ) e r genaue Text des Gutachtens findet sich bei Nicolson (I), S. 289. 147

149 150 151

ist.

Siehe dazu Jennings (I), S. 419 m i t weiteren Nachweisen. So 1935 Baldwin , S. 241. Das demnach als „mitwirkungsbedürftiger Verfassungsakt" anzusehen

25 Lippert

386

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

ergibt sich hieraus eine „negative Entscheidungsteilhabe" des Entscheidenden 152 insofern, als bei Weigerung des Königs, die Auflösung zu vollziehen, das Parlament nicht auflösbar wäre und weiterbestehen würde. Das Staatsoberhaupt befände sich dabei sogar i n Übereinstimmung mit seinen tradierten Prärogativen Rechten, die ein freies Auflösungsermessen anerkennen. Doch gleichzeitig wäre grundsätzlich die von der modernen konventionalen Entwicklung gezogene Grenze überschritten und das Handeln des Königs als „unconstitutional", als verfassungswidrig, zu kennzeichnen. Gemäß den anfangs 153 èrlâuterten Systemnormen der parlamentarischen Regierungsweise, sowie der funktionalen Rolle des Staatsoberhaupts obliegt es diesem, die Kontinuität staatlicher Tätigkeit zu wahren 1 5 4 . Aus der Kontinuitätsfunktion fließt die Reservefunktion und Reservemacht sowie das Gebot parteipolitischer Neutralität. Diese Gesichtspunkte führen dazu, daß das Staatsoberhaupt den Vollzug der Auflösung der jeweiligen Exekutive zur Verfügung stellt. Erst i n bestimmten Situationen, die den Einsatz der Reservemacht zum Schutz der Verfassungsordnung erfordert, lebt ein „Verweigerungsermessen" auf. Infolge der weitreichenden Konsequenzen einer solchen Entscheidung — nicht nur für die wertmäßige Stellung der Beteiligten, sondern für die Bestandskraft des parlamentarischen Regierungssystems — sind Maßstäbe für eine Grenzziehung zwischen Normalfall und pathologischer Situation zu entwickeln 1 5 5 . Innerhalb der beiden Merkmale — Normalfall und Ausnahmesituation — ist weiter zwischen der dem „Kabinettsfall" folgenden und der Selbstauflösung zu unterscheiden, da bei letzterer die hier wirksamen Elemente der parlamentarischen Souveränität m i t zu berücksichtigen sind. c) Ergebnis: Das königliche Auflösungsrecht als konventionale Verfassungspflicht Die systemnormative Erkenntnis vom i m allgemeinen bloß formalen Vollzugscharakter des beim monarchischen Staatsoberhaupt liegenden Auflösungsrechts und damit von der letztlich aus seiner Kontinuitätsfunktion sowie dem Kompetenzcharakter dieser Prärogative zu folgernden15® Verfassungspflicht, war i n zahlreichen Präzedenzfällen, zu denen 152

s. Schlötterer, S. 80, 81. iss Vgl. d a z u Einleitung, C I . 154

Kontinuitätsfunktion. I m allgemeinen w i r d diese Grenzziehung als sehr schwierig empfunden, vgl. Heasman, D. J., The Monarch, The Prime Minister and the Dissolut i o n of Parliament, i n : Parliamentary Affairs, 1960/61, vol. 14, S. 94 f. m i t w e i teren Nachweisen. 156 Eine Kompetenz enthält stets eine Berechtigung und eine Verpflichtung: vgl. dazu oben 1. H a u p t t 1. Kap. 2. Abschn. 155

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

387

sich die vorangegangenen Auseinandersetzungen zwischen den Verfassungsorganen komprimierten, zum heutigen Stande herangereift. Freilich ist diese Entwicklung nicht als sprungloser Gang aufzufassen. Auch i m 19. Jahrhundert stemmten sich verschiedene Kräfte der Verfassungsentwicklung entweder hemmend entgegen, oder hatten die eigene, infolge der Wandlung veränderte Position nicht nachvollzogen. Zu letzerer Kategorie scheint — jedenfalls hinsichtlich ihrer vermeintlichen Position i m Auflösungsverfahren — Königin Victoria und ein Teil ihrer Berater gehört zu haben. Noch i n den auf die erste große Wahlreform 1 5 7 folgenden Jahren, zur Zeit der fortschreitenden Verankerung des parlamentarischen Prinzips, war man i m Buckingham Palace der Auffassung, daß eine Unterhausauflösung gleichzusetzen sei m i t einem persönlichen Appell des Monarchen an sein Volk. Dementsprechend wurde eine Niederlage der Regierung i n den darauffolgenden Wahlen als persönlicher Affront gegen die Königin angesehen 158 . Diese Ansicht vom „konstitutionell-präsidentiellen" 1 5 9 Charakter des königlichen Auflösungsrechts fand i n manchen zeitgenössischen Stellungnahmen beredten Ausdruck 1 6 0 . Während der Idee vom konstitutionell-präsidentiellen Auflösungsrecht i n der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts langsam durch die Verfassungsentwicklung der Boden entzogen wurde, war das freie Ermessen der Königin, den vom Premierminister gestellten Auflösungsantrag abzulehnen, unbestritten 1 6 1 . Erste Anzeichen einer das monarchische Auflösungsrecht als grundsätzliche Auflösungspflicht erkennenden Betrachtungsweise zeigten sich 1858, als die parlamentarische Niederlage der Regierung Derby bereits abzusehen war: der u m Rat gefragte Lord Aberdeen bedeutete Königin Victoria, die der Auflösung reserviert gegenüberstand, daß er nie am Vollzug einer vom Premierminister beantragten Auflösung gezweifelt habe. Gleichzeitig sei, so führte Aberdeen aus, die Hauptlast der Verantwortung für die Auflösung vom König auf den Premierminister übergegangen 162 . Damit wies Aberdeen auf den Zusammenhang von 157

1832. Jennings (I), S. 420. 159 Schmitt (V), S. 354, u n d S. 19 ff. 160 Das Verständnis der Auflösung als eines Instruments des Monarchen, ζ. B. findet sich bei Peel, Sir Robert, der jede Regierungsniederlage i n den der Auflösung folgenden Wahlen als Autoritätsverlust der K ö n i g i n ansieht; s. Peel, Memoiren, I I , London 1846, S. 295. K ö n i g i n Victoria persönlich w a r ebenfalls Anhängerin der instrumentalen Auffassimg; jede Regierungsniederlage würde der Krone u n d dem ganzen L a n d schweren Schaden bringen; s. dazu: Letters of Queen Victoria, 1st serie, I I , S. 108 f. 161 Jennings (I), S. 390, dort Schilderung u n d Nachweise zu verschiedenen Präzedenzfällen. 162 Letters of Queen Victoria, 1st serie, I I, S. 363 - 5. 158

25*

388

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

materieller Befugnis und Verantwortung hin: jeder Verantwortung steht eine entsprechende Befugnis 163 gegenüber. I n derselben Stellungnahme Lord Aberdeens 164 finden sich sogar Ansätze einer funktionalen Theorie von der veränderten Stellung der Königin i m Regierungssystem. So w i r d dem Monarchen die Verweigerung der Auflösung als gleichbedeutend m i t der Entsetzung des Premierministers geschildert und auf die der Neutralität verpflichtete monarchische Amtsführung hingewiesen, vor allem aber vor dem — i n Ermangelung eines Ablehnungsgrundes — „ungewöhnlichen und eines Präzedenzfalles entbehrenden" Schritt einer Verweigerung der Auflösung gewarnt 1 0 5 . Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß die Nachfolger Aberdeens ζ. T. anderer Auffassung waren und den Ermessensspielraum des Monarchen als wesentlich ausgedehnter annahmen 168 . I m Jahre 1910 kam es über der Frage der Auflösung zu einer Auseinandersetzung zwischen dem zunächst die Auflösung verweigernden Georg V. und dem daraufhin m i t dem Rücktritt drohenden Kabinett. Der König gab jedoch nach und folgte dem Antrag von Asquith 1 6 7 . Auch 1918 wurde das Unterhaus von einem sehr zögernden König Georg V. auf Antrag von Lloyd George aufgelöst. Der Fall ist angesichts des i n i h m vollzogenen Rollenaustausches zwischen König und Premierminister interessant. Die vor der Entwicklung der parlamentarischen Regierungsweise formell und materiell beratende Funktion des Premiers i m Auflösungsverfahren ist zur materiell entscheidenden Position erst geworden, während der König als formell und materielle alleinentscheidendes Organ für den Normalfall die materielle Entscheidungsgewalt abgeben mußte und, Nicolson 108 drückt dies deutlich aus, zum „Ratgeber" des Premierministers abgestuft wurde 1 6 9 . Der britische Monarch hat seither die Rolle des „Ratgebers" nicht mehr verlassen. Bereits 1923 aber glaubte Georg V., gegenüber dem von Baldw i n über der Schutzzollfrage gestellten Auflösungsantrag Bedenken 168 Heute ruhen V e r a n t w o r t u n g u n d infolgedessen die grundsätzliche, materielle Entscheidung über die Auflösung ausschließlich beim Premierminister. Dies betont v o r allem Heasman (I), S. 100. 184 Letters of Queen Victoria, 1 serie, I I I , S. 363 ff. 165 Letters, ebenda. lee v g l . d i e Nachweise bei Jennings (I), S. 423 f., f ü r die Ansichten von L o r d Russell, der v ö l l i g unbegrenztes Ermessen annimmt. 167 Z u m näheren Verlauf vgl. Jennings (I), S. 424, m i t nachhaltigen Quellen-Nachweisen. 168 Georg (II), S. 357 ff., insbesondere über die Unterredung zwischen Monarchen u n d Premier v o n L o r d Stamfordham aufgenommenes Memorand u m (S. 357 f.) u n d den K o m m e n t a r v o n Nicolson, S. 359 f. 169 Schlötterer, S. 81, spricht hierbei v o n der Stufe, „auf der Ratgeber u n d Entscheidender die negative u n d die positive Entscheidungsbefugnis t a u schen".

3. Abschn. : Plebiszitäre Abberufung

389

170

äußern zu müssen . Er ging jedoch nicht einmal mehr so weit, das A b lehnungsrecht nur zu erwähnen. Die Entscheidung über die politische Zweckmäßigkeit einer Auflösung fiel nicht mehr i n den monarchischen Verantwortungsbereich 171 . Der König hatte das Instrument der Auflösung jedem Premierminister zur Verfügung zu stellen. Eine andere Verhaltensweise hätte den König dem Verdacht ausgesetzt, i m Widerspruch zur Verpflichtung der parteipolitischen Neutralität persönliche, politische Ziele zu verfolgen. Die Berechtigung dieser These erwies sich bereits i m folgenden Jahr 1 7 2 , als nach der Niederlage der Regierung Macdonald i m Unterhaus der Premierminister den Antrag auf Auflösung an den König richtete. Dabei lag die Besonderheit i n der damaligen, vorübergehenden Abweichung vom Zweiparteiensystem. Die Konservativen und die vorher die Regierung tolerierenden Liberalen hatten Macdonald gestürzt. Hätte der König den Auflösungsantrag des Premierministers abgelehnt und vielleicht Baldwin als Führer der Konservativen zur Annahme des Premieramtes bewegen können, hätte er diesem das M i t t e l der Auflösung zur Verfügung stellen müssen 175 . Infolge des dadurch erweckten Eindrucks einer ungleichen Behandlung der Parteien wäre die Autorität des Königs schweren Anfechtungen ausgesetzt gewesen. U m diesen Gefahren zu entgehen, bedeutete der antragsgemäße Vollzug der Auflösung die einzige Möglichkeit für den König. Wie schmal der dem Monarchen i m Auflösungsverfahren zur Verfügung stehende Spielraum geworden war, u m den Anschein „einer anachronistischen Position" 1 7 4 zu vermeiden, zeigt der vieldiskutierte kanadische Präzedenzfall des Jahres 1925175. I m September 1925 bat Mr. King, der liberale Premierminister von Kanada, den Generalgouverneur Lord Byung 1 7 8 , das Parlament aufzulösen, was auch unverzüglich geschah. I n der darauffolgenden Wahl 170

Nicolson (I), S. 414: „Seine Majestät übte seinen ganzen Einfluß aus, u m ihn, Baldwin, v o n diesem Schritte abzuhalten." Einen deutlichen Fingerzeig bildet auch der Hinweis i n den Aufzeichnungen des Königs über seine Unterredung m i t dem Premierminister, R. Α . K . 1894, 2; abgedruckt u n d zit. nach Nicolson (I), S. 414 - 415; er (Baldwin) sagte, daß er wahrscheinlich nach der Rede, die er am Donnerstag halte, das Parlament auflösen werde. 171 Jennings (I), S. 394 f. 172 1924. 173 Jennings (I), S. 394 f. 174 So Heasman (I), S. 96. 175 s. die ausführliche Schilderung bei Nicolson (I), S. 517-521; Nicolson behandelt dabei auch die wichtige Frage, i n w i e w e i t die britischen Verfassungsgrundsätze auf die einer ganz anderen politischen Atmosphäre ausgesetzten Dominions anwendbar sind. 176 Der Generalgouverneur fungiert als Stellvertreter des englischen Königs u n d übt dementsprechende Befugnisse u n d Zuständigkeiten aus.

390

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

erzielte die oppositionelle konservative Partei eine geringe Mehrheit über die Liberalen. Premier King, i n der Hoffnung, durch Labour und andere Gruppierungen toleriert zu werden, verblieb weiterhin i m Amte. Als i m Juni 1926 Mr. K i n g ein Mißtrauensvotum drohte, bat dieser Lord Byung u m Auflösung des Parlaments. Der Generalgouverneur lehnte dies m i t der Begründung ab, daß Mr. Meighen als Führer der stärksten Partei i m Unterhaus eine Regierung bilden sollte. Daraufhin trat Premierminister K i n g zurück und die Konservativen bildeten die Regierung. Drei Tage später unterlag der neue Premierminister bei einer Abstimmung i m Unterhaus und stellte unverzüglich den Antrag auf Auflösung des Unterhauses, dem auch sofort stattgegeben wurde. I n den nun folgenden Wahlen gewann die Liberale Partei die Mehrheit und brachte Mr. K i n g wiederum i n das A m t des Premierministers. Der Generalgouverneur wurde wegen der Entscheidung, dem liberalen Premierminister die Auflösung zu verweigern, sie aber dem konservativen Regierungschef zuzugestehen, heftig kritisiert 1 7 7 . I m Gefolge dieses Zwischenfalls faßte die Reichskonferenz von 1926 den Beschluß, den Kompetenzkreis des Generalgouverneurs möglichst i n Übereinstimmung m i t dem des britischen Monarchen zu bringen. Daraus ist die Auffassung der Reichskonferenz zu entnehmen, daß dem englischen König unter gewöhnlichen Bedingungen ein Verweigerungsrecht nicht mehr zustünde. Soweit ersichtlich, hatten sich sämtliche englische Monarchen dieser Entwicklung gefügt und darauf beschränkt, gegen den Vorschlag des Premierministers Bedenken zu äußern 178 . A n eine Verweigerung der Auflösung dachte man nicht mehr. Der automatische Vollzug durch den König hat seither u m so mehr das Wesen einer Selbstverständlichkeit angenommen, als es sich bei den Auflösungen der Jahre 1931, 1935, 1945, 1951, 1959, 1964, 1968 und 1970 stets u m „verdeckte Selbstauflösungen" der Unterhausmehrheit zum Zwecke einer Stärkung der eigenen Position gehandelt hatte. Die vorzeitige Beendigung der eigenen Existenz durch die Auflösung 1 7 9 ist ebenso Ausfluß der parlamentarischen Souveränität wie die Befugnis, das eigene Leben zu verlängern 1 8 0 . I n diesen Fällen stellte bei der Königin also nicht ein Premierminister nach einer parlamentarischen Niederlage den Antrag auf Auflösung, sondern das souveräne Parlament. 177

Nicolson (I), S. 519. Benemy, S. 50, berichtet dies zu Georg V. u n d Georg V I . 179 Eigentlich schreiben der Septennial A c t v o n 1716 u n d Section 7 des Parliament A c t v o n 1911 eine Legislaturperiode v o n 5 Jahren vor, bei deren A b l a u f der K ö n i g v o n A m t s wegen das Parlament auflöst. 180 w a s das i g l ò gewählte Unterhaus tat, als es Jahr f ü r Jahr seine Lebensdauer bis 1918 verlängerte, u m den i m K r i e g stehenden Staat nicht m i t einem W a h l k a m p f zu belasten. Aus ähnlichen M o t i v e n existierte das 1935 gewählte Parlament bis 1945 (vgl. dazu Benemy, S. 51). 178

3. Abschn.: Plebiszitäre Abberufung

391

Seit Einsetzen der von der zweiten und den weiteren Wahlreformen 1 8 1 ausgehenden Wirkungen gelten, nur unterbrochen durch untaugliche Versuche Victorias, persönliche politische Wünsche zum Tragen zu bringen, i n der englischen Auflösungspraxis diejenigen Grundsätze, die gleichzeitig als systemnormative Gesetzmäßigkeiten das Modell parlamentarischer Regierungsweise bestimmen. Die Grundsituation — wenn auch i m britischen Verfassungsleben der Gegenwart nicht die häufigste — ist der Verlust der Mehrheit durch das Kabinett während einer Legislaturperiode, also der Eintritt des von Carl Schmitt 1 8 2 so bezeichneten Kabinettfalls. Eine Klärung der darin enthaltenen Streitfragen zwischen Regierung und Parlament w i r d durch das Verdikt des Volkes erreicht, das als der „höhere D r i t t e " 1 8 3 kraft Volkssouveränität zu entscheiden hat. Das M i t tel hierfür bilden Parlamentsauflösung und Neuwahlen. Obwohl formal i n der Hand des Monarchen, ist die Auflösung zu einem dem Regierungschef zugeordneten Instrument geworden. Dem König obliegt der bloße formale Vollzug der Auflösung i m Rahmen seiner Aufgabe, die Kontinuität zu wahren 1 8 4 . Würde eine Ermessensentscheidung des Königs vorliegen, so bedeutete dies die Abhängigkeit des Parlaments und seines Kabinetts vom Monarchen. W i r d einem parlamentarisch bedrohten Premierminister die Auflösung nicht von vornherein „garantiert", so kann dieser faktisch nicht über ihren Einsatz verfügen, womit die Auflösung ihre, die Regierungsmehrheit harmonisierende W i r k u n g nicht zu entfalten vermag 1 8 5 . Schließlich muß die Bedeutung der Auflösung als plebiszitäres Verfassungselement abnehmen, wenn die Automatik des Normalfalls durch Ermessensgebrauch des Königs aufgehoben wird. A u f die daraus resultierenden Spannungen und Gefahren für das Regierungssystem wurde bereits hingewiesen 186 . Diese Ergebnisse von der grundsätzlichen „Automatik der Auflösung" räumen dem Premierminister jedoch keinen i n sämtlichen Situationen wirksamen Anspruch auf Auflösung ein. Dieser Frage soll i m folgenden nachgegangen werden. 181

1867,1884,1918,1928,1949. Schmitt (V), S. 339 f. 183 Schmitt (VI), S. 22. 184 Küchenhoff, Günther (I), S. 81. 82. 185 Vgl. Kaltefleiter (I), S. 246, der auf eine Reihe von Beispielen hinweist, wo die bloße Drohung m i t der Waffe der Auflösung den Einfluß des Regierungschefs auf „seine" F r a k t i o n vergrößern half; die Regierung Wilson regierte IV2 Jahre, n u r gestützt auf eine Mehrheit v o n etwa drei Mandaten, wobei er die extremen Flügel seiner Partei m i t H i l f e des A u f lösungsrecht s zusammenhielt. Der gleiche Effekt w a r bereits 1858 zu beobachten, als die Regierung Derby v o r einer drohenden Niederlage dadurch bewahrt wurde, daß der Premierminister auf die i h m zugesicherte Auflösung hinweisen konnte; vgl. Jennings (I), S. 421 ff. 186 v g l . dazu oben, v o r allem Einleitung, C I - I I I , 182

392

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

aa) Die königliche Reservemacht als Verhinderungsermessen Es wurde sowohl i m systemtheoretischen Abschnitt als auch i n den Ausführungen zur Amtseinsetzung des Premierministers erläutert, wie i n bestimmten Krisensituationen des Verfassungslebens die Reservefunktion des Staatsoberhaupts i n Reservemacht umschlägt. Dabei erfahren die mittels der Conventions systemnormativ beschränkten Zuständigkeiten i m Rahmen der dem Monarchen kraft common law zustehenden rechtlichen Befugnisse eine Reaktivierung: Der König ist berechtigt und verpflichtet, den i h m gesetzlich zustehenden Handlungsspielraum auszuschöpfen, u m zur Uberwindung der Krise beizutragen. Für die Lösung des Problems, ob und unter welchen Umständen der König eine vom Premierminister ordnungsgemäß beantragte Auflösung abzulehnen berechtigt ist, muß ebenfalls die Unterscheidung zwischen Reservefunktion und -macht sichtbar gemacht werden 1 8 7 . Dies führt zu der abstrakten Feststellung, daß i m „Normalfall" die Reservefunktion dem König gebietet, die Auflösung des Parlaments zu vollziehen. Erst die „Krisensituation" berechtigt und verpflichtet ihn zum Einsatz der i n Gestalt der Verweigerung der Auflösung erscheinenden Reservemacht. Es gilt nun, die Situationsmodelle zu bilden, welche den Gebrauch der Verweigerungsmacht legitimieren. Hierbei ist wiederum zu unterscheiden zwischen den von einer Meinungsverschiedenheit zwischen Parlamentsmehrheit und Kabinett erzeugten Auflösungen und den auf dem ohne aktuellen Anlaß entstehenden Willen des Parlaments, seine Legislaturperiode vorzeitig zu beenden, beruhenden Auflösungen. Es sind i m Rahmen der ministeriellen Auflösungsart, d. h. teilweise i n ihrem Vorstadium, drei Situationen vorstellbar, i n denen der Monarch zur Vollzugsverweigerung berechtigt ist. Die nächstliegende Möglichkeit erwächst, wenn ein vom Unterhaus einem Mißtrauensvotum oder einer Niederlage i n einer „ v i t a l question" ausgesetzter Premier das Parlament vom Monarchen auflösen läßt, u m dann bei für ihn negativem Ausgang der Generalwahlen die nochmalige Auflösung zu verlangen 188 . Der Monarch verfügt aber auch dann über ein Ablehnungsrecht, wenn ein Premierminister und sein Kabinett während der Legislaturperiode 187 Die britische Verfassungsrechtslehre hat sich h i e r i n nicht eingehend u m eine grundlegende Abgrenzung bemüht, sondern w a r eher geneigt, einige i n den Commonwealth-Ländern auf getretene Einzelfälle zu behandeln; vgl. dazu Forsey, Eugene Α., The Royal Power of Dissolution of Parliament i n the B r i t i s h Commonwealth, Toronto, 1943. So meint Jennings (I), S. 368, 382, insbes. S. 394, daß sich das Recht des Königs zur Verweigerung einer A u f lösung unter bestimmten Umständen erhalten habe; dabei sei allerdings eine entsprechende Darstellung u n d Abgrenzung dieser Umstände sehr schwierig.

188

Vgl. Heasman (I), S. 97.

3. Abschn. : Plebiszitäre Abberufung

393

ihre Mehrheit eingebüßt haben, gleichzeitig die bisherige Opposition zu einer regierungsfähigen Mehrheit gelangt ist und zusätzlich eine A u f lösung und Neuwahlen m i t Sicherheit eine unverhältnismäßige, aus der besonderen politischen Situation folgende Belastung des öffentlichen Lebens bedeuten würden 1 8 9 . Die dritte Verweigerungssituation ist ebenfalls ein Produkt einer innen- oder außenpolitischen Bedrohung des Staats oder seiner Verfassung und insofern der Abteilung 2 vergleichbar. Der Unterschied liegt aber darin, daß i m Gegensatz zur Abteilung 2 die bisherige(n) Oppositionspartei(en) nicht an Stelle und unter Verdrängung der Regierungspartei die Macht übernehmen wollen, sondern maßgebliche Kräfte i n sämtlichen Parteien auf die Bildung eines National Government abzielen, aber an einem Wechsel i m Amte des Premierministers interessiert sind. Sollte unter diesen Umständen der amtierende Premier eine Auflösung beantragen, so wäre der König zur Ablehnung des Antrags verpflichtet 190 . Das erwähnte Ablehnungsrecht des Monarchen i m ministeriellen A u f lösungsverfahren bei nochmaligem Auflösungsverlangen hat seinen guten Grund. Bei wiederholtem Vollzug der Auflösung hätte der König, indem er versuchte, den Premierminister gegen das Begehren des Unterhauses und unter Nichtbeachtung des Wählerverdikts i m Amte zu halten, seine parteipolitisch neutrale Stellung verlassen. Vor allem aber wäre das tragende Prinzip der ministeriellen Auflösung, der Grundsatz der Einmaligkeit, verletzt worden 1 9 1 . Ist ein Premierminister i n einer „ v i t a l question" überstimmt oder von einem Mißtrauensvotum überzogen worden, so kann er m i t der Auflösung an den Volkssouverän appellieren. Der Wähler entscheidet dann zwischen Regierung und Parlament. Fällt der Appell gegen den Premierminister aus, so t r i t t er zurück und hat kein Recht, das Parlament ein zweites Mal aufzulösen 192 . Das Urteil des Volkes soll die Streitfrage endgültig entscheiden. Daher rührt die Beschränkung auf die einmalige Ausübung 1 9 8 . Die Wahrung des Prinzips der Einmaligkeit rechtfertigt den Einsatz der monarchischen Reservemacht. Die weitere, die Verweigerung der Auflösung durch den Monarchen rechtfertigende Situation, nämlich die sich während der Legislaturperiode ausbildende Regierungsfähigkeit der Opposition bei gleichzeitiger außen- oder innenpolitischer bzw. wirtschaftlicher Krise 1 9 4 , bedeu189 190 191 192 193 194

So ζ. B. Kriesgzustand, außenpolitische oder wirtschaftliche Krise. Siehe Kaltefleiter (I), S. 52. Siehe dazu Schmitt (VI), S. 21. Schmitt (VI), S. 19; Heasman (I), S. 97; Dicey (I), S. 344. Schmitt (VI), S. 52. Heasman (I), S. 95.

394

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

tet eine Ausnahme von dem Grundsatz, daß bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den vom Volk unmittelbar oder mittelbar bestellten Verfassungsorganen das Volk als der „höhere Dritte" entscheidet 195 . Die infolge der Krise durch einen Wahlkampf zu befürchtende „Lähmung der Politik" legitimiert den Monarchen zur Verhinderung der Auflösung. Er w i r d jedoch angesichts des damit verbundenen Ausfalls der plebiszitären Entscheidung die Voraussetzungen der Ablehnung besonders sorgfältig prüfen und zudem dem neuen Premierminister die Auflösung gewähren, sobald die Gefährdungen durch die Krise ausgeschlossen sind. Die dritte, i m ministeriellen Auflösungsverfahren denkbare, eine monarchische Ablehnung gestattende Konstellation setzt ebenfalls eine allgemeine Staatskrise voraus. Doch i m Unterschied zur zweiten Möglichkeit soll hier nicht eine Regierungspartei durch die bisherige(n) Oppositionspartei(en) ersetzt, sondern diese i m Gegenteil m i t i n die Regierung aufgenommen werden. Allerdings muß, wie das Beispiel des Wechsels von Chamberlain zu Churchill zeigt, i n manchen Fällen der Premierminister der bisherigen Regierung abgelöst werden 1 9 8 . Verlangt dieser eine Auflösung des Unterhauses, u m das Volk gegen seine Rivalen aufzurufen, so ist das Begehren i n Anbetracht der Staatskrise und der regierungsbereiten Parteien abzulehnen 197 . Hinsichtlich des Einsatzes der Reservemacht bei der „verdeckten" Selbstauflösung des Unterhauses sind zum Teil andere Gesichtspunkte wirksam. Zunächst lebt das monarchische Ablehnungsrecht stets dann auf, wenn die von einer Krise ausgehenden Gefahren für das Staatsleben von einem Wahlkampf intensiviert würden. Das Verbot der wiederholten Auflösung kommt hier nicht als Verweigerungsgrund i n Betracht. Wie Carl Schmitt nachgewiesen hatte 1 9 8 , folgt bereits aus dem Begriff der Selbstauflösung, „daß sie überhaupt nur einmal stattfinden kann, weil ein Parlament naturgemäß nur einmal seine eigene Existenz vernichten kann." Die Beschränkung auf einen Anlaß ist auch nicht geeignet, die jeweils neuen Anlässe der Selbstauflösung zu erfassen. Wie die geübte, bereits bestehende Praxis lehrt, wurde aus diesem Grunde selbst den längere

195 Schmitt (VI), S. 19; Fricke, S. 212. F ü r eine Erörterung der Krise v o n 1844 vgl. Barbarino, Otto, Staatsform u n d politische Willensbildung, München 1949, S. 261 ff. lee j m Faiie Chamberlains w a r die Labour Party nicht bereit, unter Chamberlain i n die Regierung einzutreten; vgl. dazu oben, Erster Hauptteil, 1. K a p i tel, vierter Abschnitt, Ι Π . 197 Vgl. hierzu auch Sainsbury, K , The Constitution, Some Disputed Points, i n : Parliamentary Ä f f airs, 1961/62, S. 229. 198 Schmitt (VI), S. 22 f.

4. Abschn.: Wiederaufleben von monarchischen Entsetzungsrechten

395

Zeit vor dem Ablauf der Legislaturperiode beantragten Auflösungen vom Monarchen kein nennenswerter Widerstand entgegengesetzt. Ergibt sich aber aus der überdurchschnittlichen Häufigkeit der A u f lösungen eine selbständige, konkrete Gefährdung für die Kontinuität der staatlichen Tätigkeit, so würde auch hieraus ein Ablehnungsrecht des Königs erwachsen.

Vierter Abschnitt

Möglichkeiten einer Wiederbelebung des monarchischen Entsetzungsrechts Die Inhalte der königlichen Prärogative bei Bestellung und Amtsbeendigung des Premierministers sind i m Laufe der systemnormativen Funktionalisierung für den „Normalfall" stillgelegt worden. Getreu der als Ausfluß der Kontinuitätswahrungspflicht des Königs zu verstehenden Vollzugsfunktion waren der formale Vollzug der von anderen Verfassungsorganen getroffenen Entscheidung über Bestellung und Entsetzung des Premiers dem Monarchen als formales Rudiment seiner Prärogativen Befugnisse vorbehalten worden. Auf dem Gebiete der Amtsbeendigung bedeutete dies die Monopolisierung der Entsetzungsbefugnis bei Unterhaus und Wählerschaft. Wie bereits am Beispiel der Amtseinsetzung sowie der Parlamentsauflösung erörtert, kennt jedes parlamentarische System Leerläufe, Lücken, ja sogar Anschläge auf die verfassungsmäßige Ordnung 1 . Hier wachsen dem Staatsoberhaupt Befugnisse i m Umfang seiner alten, konstitutionellen Rechte zu. Die Befugnisschranken werden bis an die Grenzen des common law ( = legal)-Bereichs hinausgeschoben, die Reservefunktion schlägt i n Reservemacht um 2 . Bei entsprechendem „Ausfall" der zuständigen Verfassungsorgane könnte somit die bloße Entlassungsfunktion zum Entsetzungsrecht materialisiert werden und dem britischen König die Entsetzung des Premiers obliegen. Eine solche Möglichkeit ist jedoch nur i n dem Falle denkbar, i n dem eine parlamentarische oder plebiszitäre Verantwortlichkeit des Premiers und seines Kabinetts nicht besteht oder jedenfalls nicht sanktionierbar ist. Dieser Zustand soll als „Verantwortungs1 2

Vgl. dazu die bildhaften Ausführungen Krügers i n V V D S t R L 25, S. 235 ff. Siehe dazu oben die graphische Darstellung, Einleitung C I I I am Ende.

396

I I . Teil, 1. Kap.: Das Amtsende des britischen Premierministers

vakuum" bezeichnet werden. Sein Auftreten ist nur i n einer Situation denkbar: i n der Frist zwischen der Auflösung des Parlaments und den Neuwahlen 3 . Denn die Auflösung beendet die Existenz des Parlaments; die Rechtstellung des Einzelabgeordneten und das parlamentarische Kontrollrecht erlöschen, ein die Rechte des Parlaments gegen die Regierung wahrendes Gremium, vergleichbar dem „ständigen Ausschuß" i m Sinne des A r t . 45 GG, ist der englischen Verfassung unbekannt 4 . Die bisherige Regierung bleibt dabei unverändert i m A m t . Ihre plebiszitäre Verantwortung aktualisiert sich erst i n den folgenden Wahlen. I n dem kurzen Zeitraum 5 zwischen Auflösung und Neuwahl bzw. Erstzusammentritt des neugewählten Unterhauses bestehen somit keine sanktionierbaren Konventionalbeziehungen zwischen Premier und Parlament oder Wählerschaft. Die Entsetzung eines das Vertrauen des Volkes einbüßenden oder den Verfassungsbruch anstrebenden Prime M i n i sters ist infolge des aufgelösten Parlaments und des bereits festgelegten zukünftigen Wahltermins i m Wege des parlamentarischen Sturzes oder der plebiszitären A b w a h l nicht möglich. Diese Bedingungen entsprechen jenen Voraussetzungen, die einen Einsatz der königlichen Reservemacht legitimieren 6 . I m vorgestellten F a l l wäre die „reserve power" i n Gestalt eines königlichen Entsetzungsrechts aktualisierbar, wenn bei Wegfall der Verantwortlichkeit gegenüber Volk und Parlament die alten konstitutionellen Befugnisse des Monarchen subsidiär aufleben würden. Dabei ist allerdings vorab eine Unterscheidung zu treffen. Das Band der gewöhnlich gegenüber dem Parlament bestehenden, parteipolitischen Ubereinstimmung von Premier und Kabinett vermag nicht unbesehen auf das Verhalten von Premier und Monarch übertragen werden. Es ist nämlich zu berücksichtigen, daß das Kabinett, legitimiert durch das Vertrauen des aufgelösten Parlaments, aus Gründen der Kontinuität als Geschäftsregierung weiteramtiert 7 . Verliert nun der geschäftsführende Premierminister das persönlichpolitische Vertrauen des Monarchen, so ist daraus der Einsatz der Re3 Gewöhnlich nicht bis zum Zusammentritt des neuen Parlaments, da i m Zweiparteiensystem die Entscheidung über die regierungsberechtigte Partei bereits am Wahltag fällt u n d die Konsequenzen von bisherigem u n d k ü n f tigem Premierminister binnen weniger Stunden getroffen werden. 4 Wade and Phillips, S. 88 f. unterscheiden zwischen Dissolution u n d Prorogation. 5 Dieser Z e i t r a u m währte ζ. B. i m Jahre 1929 v o m 10. M a i (Tag der V e r kündigung der Auflösungsproklamation) bis zum 25. Juni, dem Tag des Erstzusammentritts des neuen Parlaments. 6 Kaltefleiter (I),S.33. 7 Insoweit dem geschäftsführenden Bundeskanzler gem. A r t . 69 I I I GG vergleichbar; vgl. dazu Lutz, Rudolf, Die Geschäftsregierung nach dem GG; Jur. Diss. Heidelberg 1968 = Schriften zum off. Recht, Bd. 94, B e r l i n 1969,

4. Abschn.: Wiederaufleben von monarchischen Entsetzungsrechten

397

servemacht noch nicht gerechtfertigt und daher die Entsetzung des Premiers nicht möglich. Dem Vertrauen des früheren Unterhauses sowie dem einst den Premier einsetzenden Vertrauen des Volkes kommt legitimierende Funktion zu bis zu den Neuwahlen 8 . Der Verlust des persönlich-politischen Vertrauens seitens des Monarchen ist demgegenüber für den Weiterbestand der Geschäftsregierung unerheblich. Andere Maßstäbe sind anzulegen, wenn der amtierende Premierminister — allgemein formuliert — das Nichtvorhandensein eines Parlaments ausnützt, „ u m einen Verfassungsbruch anzustreben" 9 . I n einer derartigen Situation vollzieht sich der Umschlag der Reservefunktion i n Reservemacht: dem Monarchen wachsen Befugnisse zu, die es i h m gestatten, die Verfassung zu schützen. Das gegebene Instrument hierfür bieten i h m die Entsetzungsbefugnisse, m i t deren Hilfe er das Amtsende des Premiers herbeizuführen vermag 10 .

8

Das ist bedeutsam f ü r den F a l l des Ernennungsrechts des Königs. Kaltefleiter (I), S. 247, i m Zusammenhang m i t der Parlamentsauflösung. 10 Freilich ist m i t der Amtsenthebung des Premierministers eine Lücke i n der K o n t i n u i t ä t der Staatstätigkeit aufgerissen; „denn die ununterbrochene Regierungsfunktion bedeutet ein Essentiale des Staates als solchem, unabhängig von irgendwelcher entsprechenden verfassungsgesetzlichen Normier u n g " ; so Dreher, Geschäftsregierung u n d Reichsrat, Jur. Diss. Leipzig 1932, S. 45. Aus diesem Grunde steht dem Monarchen auch ein entsprechendes E r nennungsrecht zu. 9

Zweites Kapitel

Das Amtsende der deutschen Regierungschefs

A. Unter der Reichsverfassung

1871

Erster Abschnitt

Während der konstitutionellen Monarchie Die Reichsverfassung 1871 war vom Geiste des Konstitutionalismus geprägt: Die staatliche Macht teilten sich Monarch und das i m Reichstag repräsentierte Bürgertum, wobei der Kaiser an der Spitze der Exekutive stand 1 und der Reichstag vorwiegend auf dem Gebiet der Gesetzgebungen tätig war 2 . Der Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts war grundsätzlich bestrebt, m i t dem parlamentarisch-demokratischen Prinzip zu einem Ausgleich zu gelangen. Das Parlament griff m i t seinem Einfluß aus der Sphäre der Gesetzgebung und des Budgetrechts hinüber i n den bisher dem Monarchen und seinen Ministern vorbehaltenen Bereich der Exekutive. Anders die i n der Reichs Verfassung 1871 ihren Niederschlag findende deutsche Verfassungsentwicklung: hier hält sich „das konstitutionelle", obrigkeitliche Element besonders lange und beharrlich 3 . Der Reichstag hatte keinen Einfluß auf Bestellung und Entlassung des Reichskanzlers, dieser wurde gemäß A r t . 15 Abs. 1 Reichsverfassung vom Kaiser nach eigenem Ermessen ernannt und entlassen und war ausschließlich dem Kaiser verantwortlich. Die Reichsverfassung 1871 bot das B i l d einer konstitutionellen Verfassung; der Reichskanzler war Exponent und Diener des Monarchen und verdankte seine Stellung der kaiserlichen Gunst; die Einheit von Staatsoberhaupt und Regierung war noch erhalten. 1

A r t . 11 RV. A r t . 5 Abs. 1 RV. 3 Maurer, H a r t m u t , Hat der Bundespräsident ein politisches Mitspracherecht, i n : D Ö V 1966, S. 665 ff., 667. 2

2. Abschn.: Wechsel zur parlamentarischen Monarchie

399

Zweiter Abschnitt

Wechsel zur parlamentarischen Monarchie I n der Verfassungswirklichkeit machte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg ein wachsender Einfluß des Reichstags bemerkbar; Vorschläge wurden gemacht, welche die Einführung der parlamentarischen Verantwortlichkeit des Reichskanzlers sowie der Staatssekretäre zum Gegenstand hatten 1 . A m 15. 3.1910 hatte der Reichstag eine Resolution des Inhalts angenommen, daß die verbündeten Regierungen ersucht wurden, einen Gesetzentwurf vorzulegen, der die parlamentarische Verantwortlichkeit des Reichskanzlers verankert 2 . I n den folgenden Jahren wurden von den Parteien 3 ähnliche Vorschläge gemacht. Noch vor dem Ausbruch des Krieges hatte der Reichstag ein ausdrückliches Mißtrauensvotum gegen den Reichskanzler von Bethmann-Hollweg beschlossen, das jedoch ohne Wirkung blieb. Anders i m Jahre 1916, als der Reichskanzler als Reaktion auf die A b lehnung eines i m Reichstag von i h m eingebrachten Vertrauensantrags zurücktrat. Kurz darauf nahm der Reichstag eine Resolution an, „den Herrn Reichskanzler zu ersuchen, dem Reichstag baldigst einen Gesetzentwurf vorzulegen, durch welchen die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers wegen Verletzung seiner Amtspflicht geregelt w i r d " 4 . M i t dem zu Ende gehenden Weltkrieg häuften sich die Stimmen, die eine parlamentarische Verantwortung des Reichskanzlers forderten 5 . Wegen der von Stunde zu Stunde drängender werdenden außenpolitischen Situation und u m die revolutionären Bestrebungen i m Inneren abzufangen, entschloß man sich zur verfassungsrechtlichen Veränderung der parlamentarischen Regierungsweise 6 . A r t . 15 a RV regelte die Verantwortung des Reichskanzlers für die eigene Amtsführung sowie für die politisch bedeutsamen Handlungen des Kaisers gegenüber Reichstag 1

Hatschek (I), S. 3 f. Hatschek (I), S. 5. 3 Zentrum, Sozialdemokratie, Freisinnige Partei. 4 Resolution des Verfassungsausschusses, s. Hatschek (I), S. 7. 5 So etwa Piloty, Robert, Das Parlamentarische System, eine Untersuchung seines Wesens u n d Wertes, B e r l i n 1917. Weber, M a x , Parlament u n d Regierung i m neugeordneten Deutschland, München u n d Leipzig 1918. Es waren allerdings auch gewichtige Gegenstimmen vernehmbar, so Kaufmann (I), S. 81, der das parlamentarische System f ü r „das reichsfeindlichste, was m a n sich überhaupt denken könne", hielt. β Einfügung des A r t . 15 a i n die Reichsverfassung durch Gesetz v o m 28.10. 1918. 2

400

I I . Teil, 2. Kap. : Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (B)

und Bundesrat. Selbst diese tiefgreifende Verfassungsreform konnte zwar die Revolution vom 9.11.1918 nicht verhindern, schlug aber eine Brücke zur neuen Verfassung und rettete die Kontinuität des deutschen Staates 7 .

B. In der Zeit der Weimarer

Verfassung

Erster Abschnitt

Die einschlägigen Verfassungsnormen Von der Amtsbeendigung des Reichskanzlers handeln A r t . 53 und 54 WV 1 . I n A r t . 54 ist die Bestandsabhängigkeit des Reichskanzlers und der Reichsregierung vom parlamentarischen Vertrauen und damit das parlamentarische Prinzip verankert 2 . Dies ist insofern stark ausgeprägt als die Superiorität des Reichstags durch den einfach zu bewirkenden Sturz des Reichskanzlers gewahrt bleibt: dazu bedurfte es lediglich eines Mehrheitsbeschlusses nach A r t . 54 Satz 2 WV. Während A r t . 54 W V die parlamentarische Verantwortlichkeit zum Gegenstand hatte, verfügte gem. A r t . 53 W V der Reichspräsident über das Recht, den Reichskanzler zu ernennen und zu entlassen 3 . Der bloße Verfassungstext weist daher auf das W i r k e n zweier Prinzipien, des konstitutionellen 4 sowie des parlamentarischen, hin 5 . Dieser 7

Bracher (III), S. 18 ff. A r t . 53: Der Reichskanzler u n d auf seinen Vorschlag die Reichsminister werden v o m Reichspräsidenten ernannt u n d entlassen. A r t . 54: Der Reichskanzler u n d die Reichsminister bedürfen zur A m t s f ü h rung des Vertrauens des Reichstags. Jeder v o n ihnen muß zurücktreten, wenn i h m der Reichtsag durch ausdrücklichen Beschluß sein Vertrauen entzieht. 2 Anschütz, A n m . 1 zu A r t . 54 = S. 318. 3 Das gleiche g i l t f ü r die Verfassungen Österreichs (1929), Finnlands sowie f ü r die französische Verfassung v o n 1958 bzw. 1962; nach dem Buchstaben der Verfassung — A r t . 8 — k a n n der Staatspräsident die Regierung n u r nach einem Rücktrittsgesuch des Premiers oder nach einem parlamentarischen Mißtrauensvotum entlassen; Kaltefleiter (I), S. 152 weist dabei darauf hin, daß i n der Verfassungswirklichkeit aber Ermessensfreiheit des Staatspräsidenten besteht, was auch m i t dem v o n den Schöpfern der französischen V e r fassung verfolgten verfassungstheoretischen Konzept übereinstimmt; s. hierzu Haungs (II), S. 340 ff. 4 A r t . 53 W V . 5 A r t . 54 W V . 1

2. Abschn.: Der i n der Verfassung angelegte Dualismus

401

Eindruck w i r d durch die von der herrschenden Lehre der Weimarer Zeit erarbeiteten Interpretationsergebnisse bestätigt. So räumt Wolgast® dem Reichspräsidenten das Recht ein, den Reichsanzier auf die gleiche Weise, wie er ihn ernennt, auch wieder zu entlassen. Anschütz 7 begründet das gleiche Ergebnis m i t der staatsrechtlichen und dienstlichen Uberordnung des Reichspräsidenten über den Reichskanzler und stellt darüber hinaus auch eine Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gegenüber dem Reichspräsidenten fest.

Zweiter Abschnitt

Der in der Verfassung angelegte Dualismus Gegen die Ansicht der herrschenden Lehre wendet sich Starck 1 : I n ihrer Konsequenz beinhalte die von der herrschenden Lehre verfochtene Ansicht die Ausschaltung der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung und führe zur Regierungsform des Konstitutionalismus. Starck betrachtet — vom systemnormativen Standpunkt aus zu Recht — das Entlassungsrecht nach A r t . 53 W V als eine formale Funktion, die den Charakter einer Pflicht dann annimmt, wenn ein ausdrückliches Mißtrauensvotum gegen die Regierung beschlossen wurde. Der Versuch Starcks, die idealtypischen Regeln i n die entsprechenden Bestimmungen der Weimarer Verfassung hineinzuinterpretieren, muß aber an dem i n der Weimarer Verfassung angelegten Dualismus zwischen den beiden Strukturprinzipien scheitern. Die Weimarer Verfassung hatte das m i t der Revolution eingeführte parlamentarische System ausdrücklich angenommen 2 , und infolge ihrer parlamentarischen Elemente war sie auch als eine parlamentarische Verfassung i m allgemeinen Bewußtsein verankert worden 3 . Die Zentralbestimmung war A r t . 54 WV. Zugleich aber hatten andere Strömungen die Einführung der Institution eines starken Staatsoberhaupts i n die Verfassung bewirkt: einerseits waren es monarchisch-konservative und liberale Kräfte, die angeβ Die Kampfregierung, ein Beitrag zur Lehre v o n der Kabinettsbildung nach der W V , Königsberg 1929, S. 18. 7 A n m . 6 zu A r t . 53 = S. 318. 1 Einflußrechte auf die Richtlinienkompetenz des Regierungschefs, j u r . Diss., Würzburg 1962, S. 77. 2 Anschütz, A n m . 1 zu A r t . 54. 3 Haungs (II), S. 354.

26 Lippert

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs ( )

treten waren, die überkommene Sozialstruktur zu erhalten; andererseits versuchten plebiszitäre Strömungen, die repräsentativ-parlamentarische Struktur i m Sinne des unmittelbar-demokratischen Gedankens aufzulockern. Letztere fanden ihren Ausdruck i n der Volkswahl des Reichspräsidenten 4 , während die konservativen und die liberalen, der Gewaltenteilung großes Gewicht beimessenden Tendenzen zum Verständnis der präsidialen Rolle als einer „komplexen Funktion" 5 führten: das Staatsoberhaupt fungiere i m parlamentarischen System als Spitze der Exekutive, weiterhin aber auch als allen übrigen Verfassungsorganen übergeordnetes Koordinationsorgan, das bei Gefahr für das Staatswohl einzugreifen habe. Damit w i r d der Staatschef freilich i n einen Zwiespalt gedrängt: einerseits greift er als überragender Schlichter i n das politische Geschehen ein, andererseits soll er eine unabhängige Stellung über den übrigen staatlichen Institutionen einnehmen. Noch i m Jahre 1966 sieht die französische Verfassungstheorie das parlamentarische Regierungssystem i n der gemeinsamen Leitung der öffentlichen Angelegenheiten durch Parlament und Staatschef charakterisiert 6 . Dabei laufe staatliches Handeln auf zwei Ebenen ab: Das politische Tagesgeschehen i n Form des Interessenkampfes vollziehe sich auf der Ebene des „pouvoir démocratique", während auf der Ebene des „pouvoir d'Etat" durch ein handlungsfähiges Staatsoberhaupt die Schicksalsfragen der Nation entschieden würden 7 . Die dualistische A n lage der französischen Theorie räumt dem Staatsoberhaupt das Recht ein, bei Gefahr für das Staatsganze das parlamentarische System zeitweilig außer Kraft zu setzen8. Auch i n der theoretischen Konzeption der Weimarer Verfassungsschöpfer spielen ähnliche Gedankengänge mit, auf die schon hingewiesen wurde. I n der Verfassungspraxis hatte Reichspräsident von Hindenburg i n einem Wahlaufruf vom 12. A p r i l 1925 selbst ähnliche Grundsätze entwickelt. So äußert er sich über sein Verhältnis zu den Parteien: „Sie sind i n einem parlamentarisch regierten Staat notwendig, aber das Staatsoberhaupt muß über ihnen stehen und unabhängig von ihnen für jeden Deutschen walten 9 ." Anläßlich seiner Vereidigung i m Reichstag wies 4

A r t . 41 W V . Burdeau , Georges, Le régime parlementaire dans les constitutions européennes d'après guerre, Paris 1932, S. 82. 6 Burdeau (I), S. 141. 7 Burdeau (II), S. 89 ff. 8 Ebenda, S. 99. 9 Z i t i e r t bei Hubatsch, Walter, Hindenburg u n d der Staat, Göttingen 1966, S. 71. 5

2. Abschn.: Der i n der Verfassung angelegte Dualismus

403

Hindenburg noch auf die unmittelbar-demokratische Legitimation von Reichstag und Reichspräsident h i n und konstatierte folgende Rollenverteilung zwischen beiden Staatsorganen: „Während aber der Reichstag die Stelle ist, wo die Gegensätze der Weltanschauung und der politischen Uberzeugung miteinander ringen, soll der Reichspräsident der überparteilichen Zusammenfassung aller arbeitsfähigen und aufbauenden Kräfte unseres Volkes dienen 10 ." Bei Hindenburg t r i t t uns also dieselbe Auffassung von den „beiden Ebenen" entgegen wie bei Burdeau; auch er sieht i m Staatsoberhaupt die Gestalt des über den übrigen Gewalten stehenden Schiedsrichters verkörpert 1 1 . Von dieser dualistischen Konzeption aus empfängt der Staatspräsident die Legitimation, u m i n einer Krise das parlamentarische Spiel auszuschalten und das entstandene Vakuum zu füllen 1 2 . Für die Frage der Abberufung des Reichskanzlers beinhaltet dies das Recht des Reichspräsidenten, den Reichskanzler gemäß A r t . 53 dann abzuberufen, wenn durch diesen ein Verfassungsbruch droht. Doch die h. L. der Weimarer Zeit ging über die Lokalisierung des präsidialen Entlassungsrechts i m Rahmen der Reservemacht noch hinaus. So hält Anschütz 13 den Reichspräsidenten für jederzeit befugt, einen Kabinettswechsel (d. h. die Entlassung des alten und die Berufung eines neuen Reichskanzlers) vorzunehmen 14 , womit dem Reichspräsidenten die Möglichkeit eröffnet wird, „den Reichskanzler dann abzuberufen, wenn es i h m genehm oder politisch opportun erscheint" 15 . A u f dem kaltem Wege w i r d dabei sogar infolge der Verfügungsbefugnis des Reichspräsidenten über die Person des Reichskanzlers die dem Kanzler gemäß A r t . 56 W V zugesprochene Richtlinienkompetenz ausgehöhlt. Die Entlassung scheitert auch nicht am Erfordernis der Gegenzeichnung durch den Kanzler 1 6 , w e i l diese vom Amtsnachfolger vorgenommen wird 1 7 . Infolge der parlamentarischen Abberufungsmacht des Reichstages und der konstitutionellen Entlassungsbefugnis des Reichspräsidenten war die Reichsregierung i n eine zweifache Abhängigkeit gespannt, die ihren Spielraum beträchtlich einengte. Nicht nur hinsichtlich der Bestellungsregelung des Regierungschefs, sondern also auch bei seiner Abberufung t r i t t das grundsätzliche Er10

Hubatsch, S. 77. Vgl. A r t . 5 der französischen Verfassung 1958; Haungs (II), S. 345. 12 Dies bestätigen auch die v o n Pernthaler, P., V V D S t R L Heft 25, S. 202 ff., gefundenen theoretischen Ergebnisse. 13 A n m . 5 zu A r t . 53, S. 317, 318. 14 Was bereits aus seiner staatsrechtlichen u n d dienstlichen Überordnung folgt; vgl. Anschütz, A n m . 6,7 zu A r t . 53 S. 318. 15 Starck, S.77. 16 A r t . 50 WV. 17 Anschütz, A n m . 5 zu A r t . 53 = S. 317 f. 11

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs ( )

fordernis eines „konstitutionellen" Staatsoberhaupts i n den Vordergrund. I n den die Verfassung vorbereitenden Erörterungen wurde die Schaffung eines präsidialen Machtzentrums aus verfassungstheoretischen 18 und aus verfassungspolitischen Überlegungen 19 verlangt und durchgesetzt. Die Weimarer Verfassung stellte ein Musterbeispiel des „semiparlamentarischen und gleichzeitig des semipräsidentiellen Regierungstyps" 2 0 dar. Beide einander widersprechenden Strukturprinzipien, das parlamentarische und das konstitutionelle Element, waren i n einer Verfassung vereinigt. Diese „institutionelle Problematik" 2 1 hatte eine verfassungspolitische zur Folge: der Dualismus verhinderte eine verfassungspolitische Entwicklung zum idealtypischen parlamentarischen System, das die ausschließliche parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung herstellte, und bewirkte infolge des Ausfalls des Parteiensystems eine Hinwendung zum Konstitutionalismus.

Dritter Abschnitt

Die Aktivierung des konstitutionellen Verfassungselements in Reform Vorschlägen und Verfassungspraxis Das zwischen den beiden Strukturprinzipien der Weimarer Verfassung zunächst herrschende Gleichgewicht mit starker Ausformung des parlamentarischen Elements wurde i m Laufe der Zeit aufgelöst: die parlamentarische Verantwortlichkeit wurde überlagert von der durch Verfassungspraxis und theoretische Reformbemühungen um den A r t . 54 W V mit materiellem Inhalt erfüllten Abberufungszuständigkeit des Reichspräsidenten.

18 Gleichgewichtsdenken, handlungsfähige Exekutive, „optimale Führerauslese", Kaltefleiter (I), S. 151. 19 Mommsen, M. J., M a x Weber u n d die deutsche Politik, Tübingen 1959, S. 386: „ E r (Max Weber) wollte den charismatischen Führergedanken i n Staat u n d Parteien gegenüber dem Z ü n f t l e r t u m der Berufspolitiker ohne Beruf zum Durchbruch verhelfen, u m damit der deutschen P o l i t i k neue Energien zuzuführen, die dazu beitragen könnten, Deutschlands Machtstellung u n d Ansehen i n der Welt aufs neue zu begründen." 20 Haungs (II), S. 344. 21 Haungs (II), S. 347.

3. Abschn.: A k t i v i e r u n g des konstitutionellen Verfassungselements

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I. Reform des Art. 54 W V Zunächst hatte man erkannt, daß, während die Berufung eines Kanzlers und die gesamte Regierungsbildung schwierig, der Sturz einer Regierung i m Vielparteienparlament wegen des von A r t . 54 Abs. 2 W V verlangten Mehrheitsbeschlusses hingegen verhältnismäßig einfach war. U m das konsequente parlamentarische Prinzip des A r t . 54 S. 2 WV, das m i t dem eingebüßten parlamentarischen Vertrauen die sofortige Rücktrittspflicht des Kabinetts auslöste, zu entschärfen, wurden von Lehre und Parteien schon frühzeitig eine Reihe von Vorschlägen unterbreitet. Diese lassen sich i n zwei Hauptgruppen einteilen: einmal die Vorschläge, die eine Erschwerung des Regierungssturzes vor allem durch Einschaltung von bestimmten quantitativen und qualitativen Mehrheitserfordernissen anstreben und weiter die, hauptsächlich von konservativen Gruppen entwickelten, Vorstellungen, welche mit Hilfe bestimmter formaler Verfassungsänderungen oder neuartiger Interpretationen den Einfluß des Reichspräsidenten auf Bestand und Amtsende der Regierung zu erweitern trachteten. 1. Vorschläge, die eine Erschwerung des Regierungssturzes zu erreichen suchen

a) Die Deutsche Volkspartei (DVP) brachte am 14. Dezember 1928 folgenden Antrag auf Änderung des A r t . 54 W V i m Reichstag ein: A r t . 54 der Reichs Verfassung vom 11. August 1919 w i r d wie folgt geändert: Der Reichskanzler und die Reichsminister bedürfen zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstages. Bei Beginn der Amtsführung und jeder Wahlperiode ist dieses Vertrauen durch einen Mehrheitsbeschluß des Reichstags festzustellen. Eine Zweidrittelmehrheit des Reichstags ist erforderlich, wenn der Reichsregierung oder einem der Reichsminister das Vertrauen wieder entzogen werden soll. Es genügt einfache Mehrheit, wenn der Antrag auf Entziehung des Vertrauens i n Verbindung mit der Schlußabstimmung der 3. Lesung des ordentlichen Haushalts eingebracht wird 1 . Wegen der geforderten Zweidrittelmehrheit für einen wirksamen Mißtrauensbeschluß enthielt dieser Vorschlag tatsächlich die Möglichkeit einer Entschärfung des strengen parlamentarischen Vertrauenserfordernissses i n A r t . 54 WV. Von dem Gebot staatlicher Kontinuität her bedeutet der Vorschlag jedoch einen Rückschritt, w e i l die Regierungsbildung wegen des geforderten ausdrücklichen Vertrauensvotums am Beginn 1

Nach Poetzsch-Heffter

(I), Bd. 17, S. 108,

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I I . Teil, 2. Kap. : Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (B)

ihrer Amtszeit oder einer neuen Legislaturperiode äußerst erschwert worden wäre. b) Der Vorschlag Thomas 2 ging von regierungsfähigen und kompromißbereiten Parteien als den Grundlagen der parlamentarischen Regierungsweise aus und gelangte für das Weimarer Verfassungsleben zum Ergebnis, daß die politische Zerklüftung des Parteiwesens eine solide Mehrheitskoalition nicht mehr erlaube. Der große Fehler des Systems liege nun darin, daß die Reichs Verfassung jedem numerisch ausreichenden Mißtrauensvotum die Macht des Regierungssturzes beimesse; die Frage der tatsächlichen Zusammensetzung der Mehrheit werde nicht geprüft, und so könnten auch einander feindlich eingestellte Gruppierungen die Abberufung der Regierung erreichen. Aus diesen Gründen schlug Thoma eine Änderung des Art. 54 W V i n der Weise vor, daß für ein wirksames Mißtrauensvotum ein einheitlich begründeter Beschluß erforderlich sei 8 . Obwohl der Vorschlag Thomas weite Beachtung fand und zum Beispiel von Anschütz 4 unterstützt wurde, erscheint doch zweifelhaft, ob die Thomasche Lösung geeignet gewesen wäre, den Regierungssturz zu erschweren. M i t größter Wahrscheinlichkeit wäre die Einigung auf eine einheitliche Begründung auch zwischen zwei feindlichen, aber i m Ziele des Regierungssturzes geeinten Parteien möglich gewesen. c) Herrfahrdt 5 verzichtete auf formale Verfassungsänderungen und versuchte durch eine auf Wesenserforschung des A r t . 54 W V gegründete Verfassungsinterpretation, eine Neuordnung des parlamentarischen Systems zu erreichen. Die i m Verhältnis von Reichstag und Reichspräsident vorliegende echte Verfassungslücke® erfordere eine eigenständige Stellung des Reichspräsidenten gegenüber den Parteien bei der Regierungsbildung; dieser müsse wegen der Unfähigkeit des Reichstags zur Mehrheitsbildung stets die Initiative ergreifen, wobei die parlamentarische Abhängigkeit des Kabinetts zu einem Spannungsverhältnis führe. Wenn aber ein Mißtrauensvotum gegen eine solche Regierung von verschiedenen Parteien aus entgegengesetzten Gründen angenommen werde, so müsse einem solchen Votum staatsrechtlich eine andere Bedeutung zukommen als dem systemtheoretisch gedachten „Normalfall", da die das Mißtrauensvotum erteilende Mehrheit bereits eine personelle und sachliche Alternative zum amtierenden Kabinett entwickelt habe. Herrfahrdt gelangt darauf2

(I), S. 510 ff. Ebenso Marschall v. Bieberstein, S. 520 ff. 4 Kommentar der Weimarer Verfassung, S. 321. 5 Die Kabinettsbildung nach der Weimarer Verfassung unter dem Einfluß der politischen Praxis, a. a. O., B e r l i n 1927. 6 Herrfahrdt, S. 25. 8

3. Abschn. : A k t i v i e r u n g des konstitutionellen Verfassungselements

407

hin zum Ergebnis, daß auf das Erfordernis des parlamentarischen Vertrauens 7 dann verzichtet werden müsse, wenn ihre Erfüllung an der Uneinigkeit i m Reichstag scheitere. Auch seien die formalen Konsequenzen erst zu ziehen, wenn absehbar ist, wie aus der Stellungnahme des Reichstags positive Folgerungen gezogen werden könnten. Herrfahrdt 8 mißt dem Mißtrauen nur die Bedeutung einer parlamentarischen Aufforderung an den Reichspräsidenten zu, die Zusammensetzung des Kabinetts i m Sinne eines besseren Zusammenwirkens m i t dem Reichstag zu überprüfen: der Reichspräsident sei berechtigt, das Kabinett i m Amte zu belassen, bis die Bildung einer neuen Regierung gesichert sei9. Die von Herrfahrdt erarbeiteten neuen Interpretationsergebnisse stießen auf den Widerspruch der herrschenden Lehre 10 . So war es insbesondere Anschütz 11 , der trotz politischer Bedenken auf der verfassungsrechtlichen Wirksamkeit auch eines von einer heterogenen Mehrheit gefaßten Mißtrauensbeschlusses bestand. Die Pflicht der betroffenen Kabinettsmitglieder zur Einreichung des Entlassungsgesuchs sei unbedingt und unbefristet. Es sei m i t A r t . 54 W V nicht zu vereinbaren, wenn den Verpflichteten ein Recht zur Prüfung der Homogenität einer das Mißtrauensvotum unterstützenden Mehrheit eingeräumt wurde 1 2 . d) Schließlich legte noch Carl Schmitt 1 3 einen neuen Interpretationsversuch vor. Die beiden i n A r t . 54 W V enthaltenen Sätze führten, je nachdem ob S. 1 oder S. 2 betont werden, zu verschiedenen Konsequenzen. Gleichzeitig habe sich bezüglich des ersten Satzes ein Bedeutungswandel vollzogen: ursprünglich hätte „Vertrauen des Reichstags" wohl das Vertrauen der Mehrheit der Mitglieder des Parlaments bedeutet; infolge der i n der Verfassungspraxis häufigen „tolerierten Minderheitskabinette" habe sich die Betonung auf den S. 2 verschoben, wonach die Rücktrittspflicht erst m i t einem ausdrücklichen Mißtrauensbeschluß des Reichstages entsteht 14 . Wegen der Möglichkeit einer das Vertrauen der parlamentarischen Mehrheit entbehrenden Regierungsbildung sei die Bedeutung von A r t . 54 S. 1 W V zurückgetreten 15 . Auch S. 2 habe einen 7

A r t . 54, S. 1. S. 51/52. 9 Herrfahrdt, S. 58. 10 Rehn, S. 28, A n m . 77; a . A . z . T . Graf zu Dohna, Die Weimarer Reichsverfassung und die Krisis des Parlamentarismus, Karlsruhe 1927, insbes. S. 34, 35, der die faktische N a t u r der Interpretation Herrfahrdts anerkannte, jedoch rechtliche Bedenken geltend machte. 11 S. 321. " Anschütz, S. 322. 13 (V), S. 2. 14 Schmitt (V), S. 343. 15 Schmitt (V), S. 344. 8

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I I . Teil, 2. Kap. : Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (B)

Bedeutungswandel erfahren: wegen der Unwahrscheinlichkeit eines parlamentarischen Mißtrauensvotums wirke S. 2 nicht durch Anwendung, sondern wegen der ständigen Möglichkeit der Realisierung 18 . Sollte aber das Mißtrauensvotum tatsächlich zustande kommen, so handele es sich wegen der Zerspaltung des Parteiwesens u m eine i n der Obstruktion vereinte, zugleich aber zur Vornahme des actus contrarius, einer mehrheitlichen Regierungsbildung, unfähige Mehrheit. I n diesem Falle habe das Mißtrauensvotum keine Pflicht zum Rücktritt zur Folge 17 . Auch der Vorschlag C. Schmitts wurde als Anregung für eine — de lege ferenda — vorzunehmende Reform grundsätzlich begrüßt, als Weg der Interpretation aber als m i t der Verfassung unvereinbar abgelehnt 18 . 2. Vorschläge zur Stärkung der „konstitutionellen Stellung" des Reichspräsidenten

a) Zu den Versuchen dieser A r t zählt der von der Deutschnationalen Partei am 20. Februar 1926 i m Reichstag eingebrachte Antrag, „einen Ausschuß einzusetzen, der die Reichsverfassung auf Grund der bisher gemachten Erfahrungen einer Revision unterzieht, und z w a r . . . i n der Richtung,... daß A r t . 54 W V aufgehoben oder mindestens i m Sinne der Stärkung der Regierungsgewalt wesentlich abgeändert werde" 1 9 . Zwar wurde der Antrag abgelehnt, und auch der Ausschuß trat nicht ins Leben, doch — hypothetisch — hatte er die Ausschaltung oder wenigstens Beschränkung der parlamentarischen Verantwortung der Regierung zum Ziel. I n das entstehende Vakuum mußte folgerichtig der Reichspräsident treten — die konstitutionelle Verantwortung der Regierung gegenüber dem Staatsoberhaupt hatte somit das parlamentarische Prinzip abgelöst. Ein Ergebnis, das, wie es Burdeau 20 für die Verfassung der französischen Republik formuliert hat, jenen „traditionell antiparlamentarischen und antidemokratischen Strömungen" entgegenkam, „die sich ständig auf der Suche nach einem Chef befinden". Dieser Gedanke vom objektiven Koordinator, vom übergeordneten Schiedsrichter, war auch i n der Weimarer Republik lebendig: Carl Schmitt 2 1 sieht i m plebiszitär bestellten Reichspräsidenten jene Institution, die, „als ein Mann gedacht, der über die Schranken von Partei18

Schmitt, ebenda. Schmitt (V), S. 345. 18 Vgl. f ü r andere Anschütz, S. 321. 19 s. Rothenbücher, S. 329. 20 (I), S. 420. 21 Hüter der Verfassung, i n : Beiträge zum öffentlichen Recht der Gegenwart, Heft 1, Tübingen 1929, S. 135, 17

3. Abschn.: A k t i v i e r u n g des konstitutionellen Verfassungselements

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organisation ... h i n w e g . . . der Vertrauensmann des ganzen Volkes sei". Die Weimarer Verfassung bietet für Carl Schmitt den Rahmen, u m eine der Ausnahmesituation adäquaten, diktatorischen Entwicklung aus der verfassungsrechtlichen Stellung des Reichspräsidenten abzuleiten 22 . M i t dieser Aussage w i r d bereits die Grenze zwischen konstitutioneller Haltung und der „Wendung zum Führerstaat" 2 3 überschritten. b) I m Jahre 1927 veröffentlichte Graf zu Dohna 24 einen Vorschlag, der ebenfalls, allerdings mittelbar, dem Reichspräsidenten ein Ermessen über den Bestand der Reichsregierung i n die Hand gab: durch die Einschränkung der Rücktrittspflicht der Regierung i m Falle eines Mißtrauensvotums sollte die Interimszeit nicht mehr von rein negativen Mehrheiten abhängig sein. Er schlug daher die Einführung eines A r t . 54 Abs. I I vor: „Die Verpflichtung zum Rücktritt besteht nicht, wenn der Reichspräsident von seiner Befugnis, den Reichstag aufzulösen, Gebrauch macht 25 ." Nach der Lösung des Grafen zu Dohna w i r d zwar die Waffe der parlamentarischen Abhängigkeit grundsätzlich beibehalten, über ihre Wirksamkeit entschieden aber Reichspräsident und Wählerschaft. Der „konstitutionelle" A r m des auch bei der Abberufung des Reichskanzlers wirksamen Dualismus hätte auf diese Weise eine Stärkung erfahren: w i l l der Reichspräsident eine i h m politisch und personell entsprechende Regierung i m Amte halten, so hätte er den Reichstag aufzulösen; i m anderen Falle den Reichskanzler und das Kabinett zu entlassen. Der Vorschlag war jedoch m i t zwei Schwächen behaftet: nämlich einem Mangel hinsichtlich seiner Effizienz und einem strukturellen Fehler. Wie schon ausgeführt 26 , ist gerade bei Wahlen nach dem Verhältniswahlsystem keine wesentliche Veränderung der Parteienrepräsentanz i m Parlament zu erwarten, vor allem braucht sich keine Partei als eindeutiger „Gewinner" oder „Verlierer" der Wahl zu betrachten. Eine eindeutige Entscheidung der Wähler für oder gegen die Regierung wäre also kaum zu erreichen. Soweit also der allergische Punkt hinsichtlich der Praktikabilität. Gleichzeitig läge aber i n der (teilweisen) Überantwortung der Abberufungsmacht an den Reichspräsidenten ein Verstoß gegen systemnormative Regeln parlamentarischer Regierungsweise, wonach die Abberu22

Kaltefleiter (I), S. 193. Kaltefleiter (I), S. 193, A n m . 318. 24 Graf zu Dohna, Die Weimarer Verfassung u n d die Krisis des Parlamentarismus, i n : Die Krisis des deutschen Parlamentarismus, Karlsruhe 1927, S. 28. 25 Graf zu Dohna, S. 28. 26 Vgl. Hermens, F. Α., Mehrheitswahlrecht oder Verhältniswahlrecht? Berlin—München 1949, S. 728. 28

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs ( )

fungsmacht ausschließlich i n den Händen des Parlaments liegt. Die englische Entwicklung hat gezeigt, daß ein idealtypisches parlamentarisches System die dem Staatsoberhaupt von der Verfassung anvertrauten, formal einen Ermessensspielraum einräumenden Zuständigkeitsregelungen „ i m Normalfall" der amtierenden Regierung zur Verfügung stellen wird. A u f zu Dohnas Vorschlag angewandt, bedeutet dies die Pflicht des Reichspräsidenten, das Auflösungsrecht unabhängig von seiner eigenen parteipolitischen Einstellung jeder m i t einem Mißtrauensvotum überzogenen Regierung zur Verfügung zu stellen und eigentlich das Auflösungsrecht materiell zu einem Instrument der Regierung werden zu lassen. Graf zu Dohnas Vorschlag wäre also aus den beiden Gründen abzulehnen. c) Auch der von Friedrich Glum 2 7 i m Jahre 1930 gemachte Vorschlag sieht eine konstitutionelle Aktivierung der Abberufungsmacht des Reichspräsidenten vor. Die Weimarer Verfassung enthielt nach Ansicht Glums 2 8 eine echte Lücke, als für den Fall der allgemeinen Unfähigkeit zur parlamentarischen Mehrheitsbildung keine Vorsorge getroffen worden sei. Da gemäß A r t . 53/54/54 W V zwei Verfassungsorgane, Reichstag und Reichspräsident, an der Amtsbeendigung der Regierung beteiligt sind, mußte bei Ausfall eines Organs nach allgemeinen Grundsätzen das intakte Organ die Funktionen des ausfallenden mitübernehmen 29 . Die Beschränkung des parlamentarischen Vertrauenserfordernisses gemäß A r t . 54 würde dann entfallen 80 . I n der praktischen Konsequenz würde dies den Übergang der ungeteilten Abberufungsmacht auf das Staatsoberhaupt, somit eine konstitutionelle Bestandsabhängigkeit der Regierung vom Reichspräsidenten unter gleichzeitiger, zeitweiser Ausschaltung des parlamentarischen Systems, bedeuten.

Π . Die Verfassungspraxis Wie bereits erörtert 1 , vereinte die Weimarer Verfassung zwei verschiedene, ja entgegengesetzte verfassungstheoretische Konzeptionen, welche i n A r t . 53, 54 Weimarer Verfassung ihren verfassungskodifikatorischen Niederschlag fanden. Auch hinsichtlich der Frage, welches Prin27 28 29 30 1

Glum (V), Sp. 1413 ff. Glum (V), Sp. 1415. Glum (V), Sp. 1416. G l u m (I), Sp. 1417. Vgl. Hauptteil 1, K a p i t e l 2, B, Erster Abschnitt, I.

3. Abschn.: A k t i v i e r u n g des konstitutionellen Verfassungselements

411

zip sich bei der Abberufung des Reichskanzlers durchsetzen könnte, waren beide Wege offen, und den Ausschlag mußte die von der Lehre angeregte oder gerechtfertigte Verfassungspraxis geben2. Gerade diese Ambivalenz der Anlagen i m Weimarer semipräsidentiellen System übersieht Starck 3 , wenn er das Weimarer Verfassungssystem allein dann als erfüllt betrachtet, wenn die Regierung nur parlamentarisch abhängig ist, der Reichspräsident kein materielles Entlassungsrecht hat und der Reichskanzler von seiner gefestigten Stellung aus ohne Notwendigkeit der Verständigung mit dem Reichspräsidenten die Richtlinien der Politik bestimmt. Starcks Ausführungen sind w o h l maßgebend für die Regierungsweise i m idealtypischen parlamentarischen System — die Weimarer Verfassungspraxis jedoch hatte sich letztlich für den konstitutionellen Weg entschieden. Zunächst hatte tatsächlich die parlamentarische Alternative eine überwiegende Rolle gespielt. Zwar ist die Zahl der ausdrücklich verabschiedeten Mißtrauensbeschlüsse gering gewesen4, doch hatte schon die bloße Existenz der Vorschrift des A r t . 54, S. 2 Weimarer Verfassung genügt, u m den Kabinetten den Versuch des Arrangements m i t der parlamentarischen Mehrheit zu erleichtern. Angesichts eines drohenden Mißtrauensvotums zogen es dann die Regierungen vor, freiwillig zurückzutreten, u m eine öffentliche Desavouierung zu vermeiden 5 . I n dem dieser Phase folgenden Zeitabschnitt 6 hatte sich die infolge des Verhältniswahlrechts und der aus dem Kaiserreich übernommenen Struktur die von Anfang an schwierige parteipolitische Situation weiter verschärft. Die von den einzelnen Gruppierungen verfolgte Politik nahm radikalere Züge an, u m nicht noch mehr Stimmen den extremen Flügelparteien zu überlassen. Infolge der dadurch verschärften Fronten stieß die Mehrheitsbildung auf wachsende Schwierigkeiten. Nach den Reichstagswahlen von 1928 konnte ein sicheres Mehrheitskabinett nicht mehr gebildet werden 7 . Die Schwäche des Parteiwesens zwang den Reichspräsidenten zur extensiven Ausnützung seiner Rechte. Das Recht zur Ernennung des Reichskanzlers (Art. 53), zur Auflösung des Parlaments 8 und zur Ausfertigung von Notverordnungen (Art. 48) bildeten zusätzlich die Reservemacht des Reichspräsidenten 9 . 2 Kaltefleiter (I), S. 185 ff. spricht dabei v o n der Instabilität des Systems bipolarer Exekutive. 3 Starck, S. 80. 4 Rehn, S. 12, A n m . 36. 5 Rehn, S. 13, A n m . 37,38. 8 A b 1925 ; Haungs (I), S. 354. 7 Kaltefleiter (I), S. 162. 8 A r t . 25. 9 Kaltefleiter (I), S. 163.

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs ( )

Das Wort Erich Kaufmanns, daß ein zur Reprobation fähiges, aber zur Approbation unfähiges Parlament sich selbst ausschalte, wurde hier realisiert 10 . Tatsächlich verstärkte sich die Stellung des Reichspräsidenten proportional zur abnehmenden Funktionsfähigkeit des Parlaments. Die Kanzlerberufungen erfolgten ausschließlich durch den Reichspräsidenten 11 , der durch den Einsatz des Auflösungsrechts die Präsidialkabinette an der Macht hielt und einen Regierungssturz durch Mißtrauensvotum nicht mehr zuließ. Ebenso wurde die Kontinuität der Gesetzgebungsarbeit durch den Reichspräsidenten getragen 12 . Der als Stütze der Regierung wirkende Reichspräsident wurde aber gleichzeitig zum über den Bestand des Kabinetts entscheidenden konstitutionellen Machtzentrum. Die präsidiale Verantwortung der Regierung bedeutete von nun an die totale Abhängigkeit vom Staatsoberhaupt. Der Umschlag des konstitutionellen Systems i n „eine potentielle de-facto-Diktatur des Reichspräsidenten" 13 war m i t der Entlassung Brünings am 30. 5.1932 14 erreicht: der Reichskanzler war i n der Richtlinienbestimmung der Polit i k darauf angewiesen, daß i h m der Reichspräsident die M i t t e l seiner Reservemacht zur Verfügung stellte. Dabei machte Hindenburg den Einsatz dieser Reservemacht von Zugeständnissen Brünings i n verschiedenen Bereichen der Politik abhängig 15 . Die Enttäuschung Hindenburgs über die spätestens seit dem Reichspräsidenten-Wahlkampf 193216 bestehende K l u f t zur konservativen Rechten und die parlamentarische Unterstützung der Regierung durch die SPD führten dann schließlich zu Brünings Sturz und besiegelten das Schicksal des Weimarer parlamentarischen Systems. M i t Recht betont Kaltefleiter 1 7 , daß i m System der „bipolaren Exekutive", zu dem er auch die Weimarer Verfassung zählt, wegen des latenten, beide Wege offenhaltenden Dualismus bei einer Krise des Parlaments dem Reichspräsidenten ein Entscheidungsspielraum zusteht, „der m i t den Problemen unverantwortlicher Machtausübung verbunden ist", da das Funktionieren eines solchen Systems „vom persönlichen Verhalten des Staatsoberhaupts abhängt". 10

Z u r Problematik des Volkswillens, Heft 17 der Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht u n d Völkerrecht, S. 18. 11 Rehn, S. 34, A n m . 99. 12 Bracher, K . D., Parteienstaat, Präsidialsystem, Notstand, i n : PVS 1962, S. 218. 13 Bracher (III), S. 344, A n m . 18. 14 Siehe hierzu die eindrucksvolle Schilderung der Vorgänge u m seinen Sturz: Brüning, Heinrich, Memoiren 1918- 1934, Stuttgart 1970, S. 590 ff. u n d die Darstellung des Ablaufs seiner Demisson, S. 597 ff, 15 Kaltefleiter (I), S. 164; Brüning, S. 164, 18 Brüning, S. 528 ff. 17 Kaltefleiter (I), S. 166.

1. Abschn.: Die Entstehung der A r t . 67

413

C. Beendigung der Rechsstellung des Bundeskanzlers unter dem Bonner Grundgesetz Erster Abschnitt

Die Entstehung des Art. 67 Die Bemühungen der Weimarer Lehre und Praxis 1 , die Abberufbarkeit des Kabinetts zu erschweren, münden nach Kriegsende unmittelbar i n die erinnerungsträchtige Diskussion u m die Neugestaltung des Regierungssystems. Alle daran beteiligten Kräfte waren sich einig i m Bestreben, häufige Regierungswechsel während der Legislaturperiode zu verhindern und die Stabilität der Regierungspolitik zu sichern. Das Endergebnis dieser Diskussionen ist das von A r t . 67 GG normierte „konstruktive Mißtrauensvotum" 2 . Das staatliche Leben i n Westdeutschland war nach dem Zusammenbruch zunächst auf Länderebene wieder auferstanden, und bereits i n den Verfassungen jener Länder hatte man eigenwillige, neue Wege zur Drosselung des parlamentarischen Prinzips i n seiner expansiven Spielart kodifiziert. I. Gestaltungen i n den westdeutschen Länderverfassungen Die westdeutschen Länder leiteten die positivrechtliche Fortbildung des deutschen parlamentarischen Systems der Nachkriegszeit also ein. Schon i n den von den Verfassungen verlangten formellen Zulässigkeitsvoraussetzungen der Abstimmung kommt der Versuch einer Kanalisierung der vom parlamentarischen Prinzip entfesselten Kräfte zum Ausdruck: so müssen die Anträge auf Verabschiedung eines Mißtrauensvotums von einer bestimmten Zahl von Abgeordneten unterstützt werden 1 und eine bestimmte Frist zwischen Antrag und Abstimmung verstrichen sein, 2 und andererseits muß die Abstimmung innerhalb einer festgelegten Zeitspanne stattgefunden haben 8 . Doch über die dargelegten formellen Hindernisse hinaus wurden bei gleichzeitigem grundsätzlichen Festhalten am parlamentarischen System verschiedene 4 materielle Schranken des Regierungssturzes errichtet. So 1

Vgl. Ausführungen oben, Erster Hauptteil, 2. Kapitel, B, d r i t t e r Abschnitt. Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 1 zu A r t . 67. 1 Amphoux, S. 439. 2 A m p h o u x , ebenda. 8 Hess. Verfassg. A r t . 114 schreibt hierfür 10 Tage vor. 4 N u r Bayern steht an der Schwelle zur „Regierung auf Zeit", vgl. A r t . 44 Abs. 3 Β . V. 2

414

I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

etwa kennen verschiedene Länder eine „verfassungsrechtliche beigefügte Suspensivbedingung" 5 , die einem Mißtrauensvotum erst dann rechtliche Verbindlichkeit beimißt, wenn das Parlament eine neue Regierung bestellt hat oder, wie A r t . 42 der Berliner Verfassung vorschreibt, der Mißtrauensbeschluß zwar zum Rücktritt des Senats führt, aber seine rechtliche W i r k u n g auflösend bedingt ist durch die Pflicht zur Wahl eines neuen Senats innerhalb von 21 Tagen. Eine weitere, interessante Neuordnung i m Verhältnis von Parlament und Regierung findet sich i n der hessischen6 und rheinland-pfälzischen Verfassung 7 : während das überkommene Mißtrauensvotum, auch i m Falle des Scheiterns für die Regierung nachteilige Folgen zeitigte 8 , w i r d hier durch die Einführung der automatischen Parlamentsauflösung der Versuch unternommen, eine gleichmäßige Verteilung des Risikos auf Parlament und Regierung zu bewirken. Nach diesen Regelungen ist das Parlament automatisch aufgelöst, falls es nicht innerhalb einer bestimmten Frist 9 einer neuen Regierung das Vertrauen ausspricht. Die Verfassungen von Schleswig-Holstein 10 , Nordrhein-Westfalen 11 und Niedersachsen 12 , sowie des später entstandenen Baden-Württemberg 13 folgen ihrerseits dem Beispiel des Grundgesetzes: die Wirksamkeit des Mißtrauensvotums w i r d an die Voraussetzung der Bestellung einer neuen Regierung geknüpft, dem Mißtrauensvotum somit ein „positiver Gehalt gegeben" 14 . Einen ganz neuen Weg, der mangels unmittelbarer Sanktionsmöglichkeiten des Landtags die Grenzen des parlamentarischen Systems verläßt und zur „Regierung auf Zeit" führt, eröffnet A r t . 44 der Bayerischen Verfassung von 1946. Nach A r t . 44 I I I B V hat der Ministerpräsident festzustellen, ob die politischen Verhältnisse ein vertrauensvolles Zusammenarbeiten zwischen i h m und dem Landtag unmöglich machen. Sollte dies der Fall sein, so ist der Ministerpräsident zum Rücktritt verpflichtet. E i n formelles Mißtrauensvotum steht dem Landtag i n diesem System nicht zur Verfügung 1 5 , wohl aber bleibt der Weg des Verfas5

Peters, S. 81. A r t . 114. 7 A r t . 99. 8 Insbesondere werden sich Unruhe u n d Arbeitsunlust verbreiten, Peters (IV), S. 82. 9 Hessen 12 u n d Rheinland-Pfalz 28 Tage nach dem Mißtrauensvotum. 10 A r t . 30 der Landessatzung. 11 A r t . 61. 12 A r t . 23. 13 A r t . 54. 14 Peters, S. 83. 15 Nawiasky (IV), S. 101. β

1. Abschn.: Die Entstehung der Art. 67

415

sungsstreits vor dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof offen 18 . Die von Nawiasky 1 7 als „elegant und k u l t i v i e r t " bezeichnete bayerische Lösung fand jedoch keine Nachahmung i n einer anderen deutschen Länderverfassung.

I I . Vorschläge i n Parteien und Lehre Hinsichtlich des weiten Gestaltungsspielraums, der den Parteien i n diesem Bereich infolge der Zurückhaltung der Besatzungsmächte zur Verfügung stand und der i n den Grundsatzfragen der Restaurierung des parlamentarischen Systems bereits vorhandenen Übereinstimmung zwischen den großen Parteigruppierungen der Union und der Sozialdemokratie wurden bereits Ausführungen gemacht, auf die hier verwiesen werden soll 1 . 1. Konzeption der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands a) Vorschläge

des Nürnberger

Parteitages

von 1947

Während der formale Gang der geplanten Berufung des Regierungschefs unklar bleibt, hatte der vom Parteivorstand ins Leben gerufene verfassungspolitische Ausschuß, dessen Vorschläge vom Parteitag angenommen wurden, die Amtsbeendigung eingehender konzipiert. Das parlamentarische System w i r d grundsätzlich beibehalten, doch findet sich bereits hier ein Versuch zur Drosselung des Systems: die Regierung kann durch ein Mißtrauensvotum des Parlaments nur dann gestürzt werden, wenn zugleich eine neue Reichsregierung eingesetzt werden kann 2 . A n der Verklammerung von Sturz und Neubestellung einer Regierung hat die SPD auch während des Herrenchiemseer Konvents 3 und i n den Diskussionen des parlamentarischen Rates 4 festgehalten. Obwohl über den formalen Gang des Bestellungsverfahrens keine Aussage getroffen wird, ist angesichts der vom E n t w u r f vorgesehenen Beschränkung des Staatspräsidenten auf das „Gebiet der formellen Repräsentation" 5 anzunehmen, daß sie durch formelle, parlamentarische W a h l geschehen soll.

16 17 1 2

3 4

A r t . 64 Β. V. i. Verb, m i t A r t . 2 Br, 4 sowie A r t . 42. Verf. GHG. Ebenda. Vgl. Ausführungen oben, 1. Hauptteil, 2. Kapitel, C Erster Abschnitt I I . B-4/5.

Meder, Erl. 11 zu Art. 67, a. a. O. z. B. HA Sten.Ber. S. 33, Abg. Walter.

5 Sörgel, Werner, Konsensus und Interessen. Eine Studie zur Entstehung des Grundgesetzes für die BRD, Stuttgart 1969, S. 67.

416

I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

b) Entwurf für eine Westdeutsche Satzung = Entwurf

Menzel I vom 16.8.1948

führt i n ihrem § 24 tatsächlich die parlamentarische Wahl des leitenden Direktors ein. § 28 beinhaltet den Kernsatz des parlamentarischen Systems und gleichzeitig das suspensive Mißtrauensvotum: ein Mißtrauensvotum w i r d erst dann wirksam, „wenn sie 6 einem anderen neugebildeten Direktorium oder einem anderen neuernannten Direktor 7 das Vertrauen ausgesprochen hat". c) Entwurf

für ein Grundgesetz = Entwurf

Menzel II

A m 2. September 1948 wurde dieser Entwurf veröffentlicht und lag dem Parlamentarischen Rat als Drucksache 8 vor. A n die Spitze der Exekutive stellt der Entwurf das Direktorium, das aber nicht mehr aus dem „leitenden Direktor" und den „Direktoren", sondern dem „ersten Minister und mehreren weiteren Ministern" besteht 9 . Wie i m ersten Menzel-Entwurf wurde auch hier das Grundprinzip des parlamentarischen Systems, die parlamentarische Bestandsabhängigkeit des Direktoriums, verwirklicht 1 0 . Das Mißtrauensvotum hat ebenfalls eine suspensive Ausgestaltung erfahren, d. h. seine Rechtsverbindlichkeit ist aufschiebend bedingt durch eine Vertrauenserklärung gegenüber dem neugebildeten Direktorium oder neuernannten Minister 1 1 . Überdies wurde es durch Zulässigkeitsvoraussetzungen formeller A r t erschwert. So bestimmt § 34, daß der Antrag auf Verabschiedung eines Mißtrauensvotums der Unterstützung eines Vertreters der gesetzlichen Mitgliederzahl bedarf, über sie erst ab dem zweiten Tag nach der Aussprache abgestimmt werden kann und binnen 10 Tagen „zur Erledigung" kommen muß. 2. Vorschläge der Unionsparteien

Die Schwierigkeiten, die zunächst die Union daran hinderten, ein einheitliches, offizielles Verfassungsprogramm vorzulegen, wurden bereits dargelegt 12 . Überhaupt scheinen die i m übrigen äußerst aktiven, lokalen Gruppierungen der Union der Frage des föderalistischen Aufbaues des neuen Staates und der Entwicklung gesellschaftsreformerischer Vorstel8

Die Versammlung (der Verf.). W e i l jedes einzelne M i t g l i e d des Direktoriums des parlamentarischen Vertrauens bedarf. 8 Drucksache, Parlamentarischer Rat Nr. 53. 7

9

10 11 12

§28. §34. § 34. Vgl. Ausführungen oben 1. Hauptteil, 2. Kap. C, Erster Abschn. I I 2 .

1. Abschn.: Die Entstehung der A r t . 67

417

lungen größeres Gewicht beigemessen zu haben, als der eher technisch anmutenden Diskussion über die Ausgestaltung des Regierungssystems 13 . Erst der Ellwanger Freundeskreis setzte sich eindringlich m i t Fragen der parlamentarischen Regierungsweise auseinander; die von i h m verabschiedeten „Grundsätze" lagen als einziger, offiziöser Entwurf von CDU und CSU dem Parlamentarischen Rat vor 1 4 . Das Verfahren zur Bestellung des Regierungschefs erweckt auf den ersten Blick den Eindruck einer „konstitutionellen" Prägung. Tatsächlich war aber das Ernennungsrecht des Bundespräsidenten 15 , da die Regierung schon bei ihrem Amtsantritt des Vertrauens des Bundestags bedurfte, bloß formaler Natur. Sollte sich dieser als zur Regierungsbildung unfähig erweisen, so war eine Regierungsbildung durch Zusammenwirken von Bundespräsident und Bundesrat vorgesehen. Über die Abberufung trifft nur I I I 12 d die Aussage, daß der Bundespräsident die Bundesregierung entläßt. Doch kann angesichts der Weimarer Erfahrungen m i t latent vorhandenen, dem parlamentarischen Prinzip konkurrierenden, konstitutionellen Verfassungselementen auch die Entlassungsfunktion des Bundespräsidenten keine materielle Auffüllung erfahren 16 : I I I 13 verankert nämlich, ohne eine scharfe Formulierung vorzunehmen, eine Spielart des konstruktiven Mißtrauensvotums, wobei der Bundespräsident dann den manifest werdenden Willen einer Mehrheit zu vollziehen, den alten Bundeskanzler zu entlassen und den neuen zu ernennen hätte. Dem Bundespräsidenten wächst — getreu der parlamentarischen Systemnormativität — erst dann die Reservemacht zu, wenn eine regierungsfeindliche Legislativmehrheit dennoch nicht über die K r a f t zur schleunigen, eigenen Regierungsneubildung verfügt. Dann hat der Bundespräsident auf Antrag des Bundesrats die Möglichkeit, m i t Hilfe der Auflösung die Entscheidung der Wähler über den Streit zwischen Bundestag und Bundesregierung herbeizuführen. Dabei erscheint allerdings einerseits die Betrauung des Bundesrats m i t richterlichen Funktionen über das Verhältnis Bundestag — Bundesregierung als problematisch, andererseits gelingt es den Grundsätzen, indem sie dem Bundespräsidenten laut Entwurfstext bei der Auflösung des Parlaments einen Ermessensspielraum einräumen, trotz Bekenntnis zu einem auf seine repräsentativen Funktionen begrenzten Bundespräsidenten, nicht 17 , das Staatsoberhaupt vorurteilslos i n die bekannten Spielregeln des parla13

K o m m t auch bei Sörgel, S. 73 zum Ausdruck. Sörgel, S. 79. 15 I I I 12 d. 16 Die Bundesregierung w i r d v o m Bundespräsidenten ernannt u n d entlassen; vgl. I I I d: Organisation der Bundesgewalt, entnommen Sörgel, S. 299. 17 Sörgel, S. 86. 14

27 Lippert

418

I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

mentarischen Systems einzufügen. Überhaupt hielten die Ellwanger Grundsätze zwar die Spielregeln des idealtypischen parlamentarischen Systems ein, aber unterließen es, diese i n einer den Anforderungen der Rechtssicherheit genügenden Prägnanz zu normieren.

I I I . Die endgültige Ausarbeitung des Art. 67 im Konvent von Herrenchiemsee und im Parlamentarischen Rat 1. I m Herrendiiemseer Konvent

Das heiße Bemühen, zur Schaffung einer die Stabilität der Regierung gewährleistenden Verfassungsregelung beizutragen, hatte auch die Diskussion des Herrenchiemseer Konvents beherrscht. Man war fest entschlossen, das Abhängigkeitsverhältnis Regierung — Parlament i. S. des „echten parlamentarischen Systems" verfassungsrechtlich auszugestalten und den „Mißtrauensbeschluß als einen A k t bloßer Obstrukt i o n " 1 zu verbannen. Als positiv-rechtliches Anschauungsmaterial dienten dabei die 2 i n den deutschen Länderverfassungen erarbeiteten Lösungen. Der Gedanke, daß ein Mißtrauensvotum nur bei Unterstützung durch eine zur Regierungsbildung bereite Mehrheit zum Ziele führen könne, wurde von den Teilnehmern des Herrenchiemseer Konvents begrüßt, jedoch wurden zugleich Zweifel an einer befriedigenden positiv-rechtlichen Ausgestaltung dieser Idee i n den Verfassungen laut 3 . Insbesondere sprach sich die Mehrheit des Konvents entschieden gegen die Übernahme eines „MißtrauensVotums m i t Suspensivwirkung" 4 aus. Solche Überlegungen führten schließlich zur Verabschiedung des A r t . 90 HChE 5 . Diese Bestimmung bekennt sich i n der parlamentarischen Bestandsabhängigkeit der Regierung zum parlamentarischen System, doch errichtet sie ein J u n k t i m zwischen Mißtrauensvotum und Neubestellung eines Bundeskanzlers. Gegenüber dem A r t . 54 Weimarer Verfassung liegt eine bedeutungsvolle Neuerung i n der Konzentration des Mißtrauensvotums auf den Bundeskanzler®; nur er ist einer „unmittelbaren Mißtrauenskundgebung" 7 des Parlaments ausgesetzt. Diese Lösung läßt die Bundesmini1 2 8 4 5 6 7

Darstellender Teil, S. 44. Vgl. Ausführungen oben, 1. Hauptteil, 2. Kap. C, Erster Abschnitt I . Darstellender Teil, S. 44. Vgl. Amphoux, S. 440. Benennung eines Nachfolgers. A r t . 901 HChE. Maunz, i n Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 3 a zu A r t . 67.

1. Abschn.: Die Entstehung der A r t . 67

419

8

ster parlamentarisch unabhängiger werden . Gleichzeitig w i r d die Solidarität des Kabinetts erhöht, w e i l u . U . das Parlament den Rücktritt eines Bundesministers nur u m den Preis einer Demission der Regierung erzwingen kann. Dem Bundespräsidenten wurde i n A r t . 90 I I HChE die der Systemnormativität entsprechende Rolle der Vollzugsfunktion zugedacht; alleiniger Entscheidungsträger ist der Bundestag, dessen Entlassungsgesuch bei Wiederholung verpflichtende W i r k u n g erlangt. Dennoch erscheint es als eine Reminiszenz der i m übrigen ausgeschlossenen konstitutionellen Verfassungstheorie, wenn dem Bundespräsidenten immerhin ein Einspruchsrecht gegen den Beschluß des Bundestags und damit ein potentielles Instrument zur Verzögerung der Regierungsbildung i n die Hand gegeben wird. 2. I m Parlamentarischen Rat

Die i m Parlamentarischen Rat hinsichtlich der Gestaltung des heutigen A r t . 67 GG angestellten Überlegungen kreisten, nachdem die Anträge auf Einführung eines Präsidialsystems oder einer Regierung auf Zeit 9 abgelehnt worden waren, u m Fragen der technischen Ausgestaltung des den grundsätzlichen Problemen unserer Zeit am ehesten gerecht werdenden parlamentarischen Systems. Die parlamentarische Abhängigkeit des Bundeskanzlers und somit des Kabinetts hatte man grundsätzlich bejaht und brauchte sich daher nur noch u m die „konstruktive" Ausgestaltung des Kanzlerwechsels während der Legislaturperiode zu bemühen. Begleitet wurden diese Bestrebungen von der Überzeugung, daß vor allem eine „autoritäre Kanzlerentlassung" durch das Staatsoberhaupt ausgeschlossen werden müsse 10 . Noch weitergehend, war sich der Hauptausschuß i n der 2. Lesung 11 auch darüber einig, daß bei der parlamentarischen Abberufung des Bundeskanzlers dem Bundespräsidenten kein Mitwirkungsrecht eingeräumt werden sollte; die alleinige Entscheidungsgewalt müsse dem Bundestag 12 vorbehalten bleiben. Diese Überzeugung fand ihren positiven Nieder8

Maunz, ebenda. Z u r Regierung auf Zeit. Die Vertreter der F D P (Dr. Becker u n d Dr. Dehler) hatten solche Vorschläge i m Organisationsausschuß (Organisationsausschuß, 5. Sitzung, Stenoprot. S. 25, 40 w . 45 ff.) unterbreitet, hatten damit aber keinen Erfolg, w e i l ein Präsidialsystem f ü r deutsche Verhältnisse unbrauchbar wäre (Stenoprot. S. 56) u n d die „Regierung auf Z e i t " den Regeln des parlamentarischen Systems nicht entspräche (Abg. Dr. F echt, CDU, Dr. Katz, SPD, S. 31, 34 u n d 37). Einem weiteren A n t r a g v o n Dr. Dehler (FDP) auf E i n f ü h rung einer Regierung auf Zeit stand wiederum eine Mehrheit des Organ.Ausschusses gegenüber, die auf der Beibehaltung des parlamentarischen Systems bestand (v. Doemming—Füßlein—Matz, S. 443). 10 Org.-Ausschuß, Stenoprot. S. 17, 28. Sitzung v o m 16.12. 48. 11 Stenoprotokoll, S. 413 - 415, 33. Sitzung v o m 8.1.49. 12 Stenoprotokoll, S. 415. 9

27*

420

I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

schlag i n der vom Hauptausschuß i n der 3. Lesung 18 akzeptierten Neuformulierung des A r t . 90 14 . Schon vorher hatte der Organisationsausschuß 15 den Vorschlag abgelehnt, dem Bundespräsidenten das Recht der Gegenvorstellung gegen den neugewählten Bundeskanzler zu gestatten. Aus dem Versuch, dem Bundespräsidenten gegenüber dem Weimarer Staatsoberhaupt eine Kontraststellung zuzuweisen, hat sich schließlich eine eindeutige Absage an immerhin i m Herrenchiemseer Konvent noch vorhandene, „konstitutionelle Rudimente" entwickelt: dem Bundespräsidenten wurde die autoritäre Kanzlerentlassung, die Möglichkeit, den amtierenden Bundeskanzler gegen den Willen des Parlaments zeitweise i m Amte zu halten, sowie das Recht der Gegenvorstellung gegen den neuen, vom Parlament präsentierten Bundeskanzler versagt, und damit den vom parlamentarischen System an die vom Staatsoberhaupt zu erfüllende Funktion gerichteten Erwartungen, grundsätzlich entsprochen 1*. Einen weiteren Beratungsgegenstand bildete die Frage des „suspensiven Mißtrauensvotums". Der Abgeordnete Walter brachte i n der 21. Sitzung des Organisationsausschusses 17 einen Antrag ein, der die Bundesregierung bei negativem Mißtrauensantrag für den Fall i m A m t belassen wollte, daß der Bundestag nicht innerhalb einer Frist von drei Wochen einer neuen Regierung das Vertrauen ausspricht 18 . Während über die von den Abs. I, I I I festgelegten Grundsätze Einigkeit bestand, wurde Abs. I I des Grundsatzes wegen der Gefahr einer „negativen Abstraktion" abgelehnt 19 . Damit war man sich auch endgültig über die heute verwirklichte Form des „konstruktiven Mißtrauensvotums" einig geworden. Eine wesentliche Konkretisierung des bereits i m HChE 2 0 verankerten Neubenennungsrechts des Bundestags wurde schon i n der ersten Lesung des Hauptausschusses21 erreicht: das Benennungsrecht w i r d durch formelle Wahl ausgeübt. 13

49. Sitzung v o m 9.2.1949, Hauptausschuß, Steno-Protokolle, S. 644 f. von Doemming—Füßlein—Matz, S. 446. 15 11. Sitzung v o m 7.10.1948, S. 118 ff. 16 Eine Ausnahme davon bildet die Stellung, die dem Bundespräsidenten gemäß dem Wortlaut des A r t . 68 GG i m Auflösungsverfahren zugewiesen ist. Der dabei festzustellende „ S t r u k t u r f e h l e r " w i r d i n den Ausführungen zum Minderheitenkanzler, vgl. 2. Hauptteil, 2. Kapitel, D r i t t e r Abschnitt, näher behandelt. 17 V o m 10.11.1948, Sten.-Ber. S. 22 - 43. 18 von Doemming—Füßlein—Matz, S. 443. 19 von Doemming—Füßlein—Matz, S. 444; Frau Wessel, Zentrum, Stenoprot. S. 42. 20 A r t . 90 u n d von Doemming—Füßlein—Matz, S. 442. 21 3. Sitzung v o m 16.11.1948, HA-Steno, S. 33 f. u n d 4. Sitzung v o m 17.11. 1948, Stenoprot. S. 43 - 45. 14

2. Abschn. : Die heutige verfassungsrechtliche Situation

421

Vom Plenum unverändert als A r t . 67 übernommen wurde schließlich die vom Allg. Redaktionsausschuß dem Hauptausschuß vorgelegte und von diesem verabschiedete 22 Neuformulierung des A r t . 90 28 : I. Der Bundestag kann dem Bundeskanzler das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er m i t der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen. II. Zwischen dem Antrag und der Wahl müssen 48 Stunden liegen.

Zweiter Abschnitt

Die heutige verfassungsrechtliche Situation I. Beendigungsgründe der Amtszeit des Bundeskanzlers Das Grundgesetz unterläßt die Aufzählung der möglichen Beendigungsgründe der Amtszeit des Bundeskanzlers 1 . I n A r t . 69 I I GG ist als Beendigungsgrund nur der Zusammentritt eines neuen Bundestages aufgeführt; die Wendung „ i n jedem Falle" läßt aber erkennen, daß noch weitere Beendigungsgründe bestehen. 1. Zusammentritt eines neuen Bundestages

M i t der positiv-rechtlichen Festlegung des Amtsendes eines Bundeskanzlers m i t dem Zusammentritt eines neugewählten Bundestags hat das GG zwar „keine unabweisbare Folgerung aus dem parlamentarischen System" 2 verankert, w o h l aber dem neuen Parlament die — wenn auch nur bis zum Rücktritt oder Sturz — notwendige Auseinandersetzung m i t dem Bundeskanzler und diesem eine offene A b w a h l erspart und gleichzeitig „das Prinzip der Homogenität zwischen Volksvertretung und Regierung" verankert 8 . Das Amtsverhältnis des alten Bundeskanzlers endete dabei erst „automatisch" 4 m i t dem Zusammentritt 22

3. Lesung v o m 9. 2.1949,49. Sitzung; H A - S t e n o - P r o t o k o l l S. 644/645. von Doemming—Füßlein—Matz, S. 446. 1 Dem Parlamentarischen Rat lag allerdings eine A r t . 95 a vor, der die Endigungsgründe systematisch aufführte; Münch, S. 182. 2 Münch, S. 185. 3 Nawiasky (IV), S. 98. 4 Münch, S, 184» 23

422

I I . Teil, 2. Kap. : Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

des neugewählten Bundestags, nicht bereits m i t der letzten Sitzung des alten Bundestags, seiner Auflösung gem. A r t . 68 GG, A r t . 63 I V GG oder der Neuwahl. Das Amtsverhältnis endet automatisch insofern, als es irgendwelcher formaler Entlassungsakte nicht bedarf 5 . Wegen der zwischen der ersten Sitzung des neuen Bundestags und der Wahl des Bundeskanzlers sowie dessen formeller Ernennung üblicherweise verstreichenden Frist w i r d gewöhnlich der Bundeskanzler gem. A r t . 69 I I I GG vom Bundespräsidenten m i t der Weiterführung der Geschäfte beauftragt®. 2. Der Rücktritt des Bundeskanzlers

Der freiwillige Rücktritt des Bundeskanzlers w i r d vom Grundgesetz nicht erwähnt und es enthält auch keine ausdrückliche Pflicht zum Rückt r i t t . Eis besteht auch kein Anlaß für den früher i n Monarchien, teilweise auch i n Republiken, üblichen protokollarischen Rücktritt anläßlich eines Wechsels i m Amte des Staatsoberhaupts. Dieser fand seinen Grund i n der „konstitutionellen" Verfügungsbefugnis des Staatsoberhaupts über den Regierungschef und die Minister. Wegen der vom Grundgesetz statuierten ausschließlichen parlamentarischen Abhängigkeit der Regierung ist ein solcher protokollarischer Rücktritt undenkbar geworden 7 . Dennoch ist i h m der freiwillige Rückt r i t t jederzeit möglich 8 ; der Parlamentarische Rat 9 hat wegen der Selbstverständlichkeit des Rechts auf Rücktritt von einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Verankerung abgesehen. Dabei ist unerheblich, ob der Rücktritt aus persönlichen Gründen — Differenzen m i t eigener Partei, Fraktion oder Kabinett 1 0 genommen wird. Der Bundespräsident als Adressat der Rücktrittsverklärung ist nicht berechtigt, die Entlassung zu verweigern 1 1 ; dies folgt bereits aus den A r t . 63 und 67 GG, die dem Bundespräsidenten keine Entscheidungsmöglichkeit über Berufung und Entlassung des Bundeskanzlers zubilligen. Münch 1 2 verwendet hier überdies das treffende Argument, daß schon „aus der Fassung 5

So hat auch die Urkunde, die dem Bundeskanzler gem. § 10 i. V. m i t § 2 I B M i n i s t e r G v o m Bundespräsidenten i n allen Fällen überreicht w i r d , n u r deklaratorische Bedeutung — so Lechner—Hülshoff, Parlament u n d Regierung, 2. v ö l l i g neu bearbeitete Auflage, München—Berlin 1960, A n m . 1 zu § 10 BMinisterG; Münch, F., S. 184. 6 So z.B. Lutz, Rudolph, Die Geschäftsregierung nach dem Grundgesetz, j u r . Diss., Heidelberg 1968, S. 19. 7 Vgl. Münch, S. 189. 8 Vgl. die W V Anschütz, A n m . 78 zu A r t . 53 u n d § 11 R M i n G v o m 27. 3.1930. 9 21. Sitzung des Organisations-Ausschusses v o m 10.11.1948, Stenoprotok o l l S. 49. 10 s. Nawiasky (IV), S. 98. 11 Jellinek, G., D Ö V 1949, S. 383; Amphoux, S. 144. 12 Münch, S. 188.

2. Abschn. : Die heutige verfassungsrechtliche Situation

423

des parlamentarischen Prinzips die Verbindlichkeit der Rücktrittserklärung für das Staatsoberhaupt" folgen würde, denn die zum Rücktritt verpflichtende Warnung des Mißtrauensvotums würde keinen Erfolg haben, wenn nicht der Rücktritt wiederum die rechtliche Konsequenz der Entlassung hätte. Ein Recht des Bundespräsidenten zur Verweigerung der Entlassung folgt auch nicht aus A r t . 58 S. 2 GG, der die Entlassung für gegenzeichnungsfrei erklärt. Diese Bestimmung ist als formale Formregelung und nicht als materielle Ermächtigung zu verstehen 18 . Hier bedarf noch die Frage der rechtlichen Bedeutung dieser Rücktrittserklärung einer Erörterung 1 4 . Während Nawiasky 1 5 und Münch 1 8 i n der Rücktrittserklärung den Antrag auf Entlassung erblicken und das Amtsverhältnis erst durch die Entlassung beendet werde, rechnet Meder 17 den Rücktritt bereits zu den Endigungsgründen der Amtszeit des Bundeskanzlers. Klemmert 1 8 schließlich mißt der Rücktrittserklärung „konstitutive W i r k u n g " bei. Lutz 1 9 gelangt zu dem sowohl praktikablen als auch m i t den Regeln der parlamentarischen Regierungsweise übereinstimmenden Ergebnis, daß das Amtsverhältnis des Bundeskanzlers wegen der §§ 9 und 10 Bundesminister-Gesetz tatsächlich erst m i t der Entlassung enden könnte. Lutz nimmt jedoch eine Unterscheidung zwischen der Entlassung und der Entbindung von Amtspflichten und der parlamentarischen Verantwortlichkeit vor: aus dem Wesen parlamentarischer Verantwortlichkeitsfolge i m Unterschied zur dienstrechtlichen Verantwortlichkeit, daß man sich ihrer m i t sofortiger W i r k u n g entledigen könne. Nur so sei die Entscheidung über die Entlastung von parlamentarischer Verantwortung und die Möglichkeit, einem Mißtrauensvotum zuvorzukommen, i n die Hände des Bundeskanzlers gelegt; i m anderen Falle verfüge der Bundespräsident über die tatsächliche Möglichkeit, den Zeitpunkt dieser Entbindung von parlamentarischer Verantwortung hinauszuschieben. Der Bundeskanzler ist also ab dem von i h m bestimmten Rücktrittstermin nicht mehr zur Amtsführung verpflichtet, sein Amtsverhältnis m i t der Entlassung beendet2®. 13 Nawiasky (IV), S. 99 u n d 111; ders., Der Einfluß des Bundespräsidenten auf B i l d u n g u n d Bestand der Bundesregierung, D Ö V 1950,162; Münch, S. 182 f. 14 Wegen des Zeitpunkts, v o n dem ab die Einsetzung eines geschäftsführenden Kanzlers erforderlich ist. 15 Nawiasky (IV), S. 98. 16 Münch, S. 188 f. 17 Erl. I I 5 zu A r t . 67. 18 Klemmert, Oskar, Die B i l d u n g u n d Veränderung der Bundesregierung nach dem Bonner Grundgesetz, j u r . Diss., Würzburg 1952, S. 138. 19 S. 25 f. 20 Vgl. den Wortlaut der Erklärungen Adenauers u n d Erhards bei Lutz, S. 24.

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C) 3. Tod des Bundeskanzlers

I m Gegensatz zu § 6 I I BBG findet der Tod als Amtsbeendigungsgrund keine Erwähnung i m Bundesminister-Gesetz. M i t i h m endet die Amtszeit, ohne daß ein besonderer Entlassungsakt erforderlich wäre. 4. Das Mißtrauensvotum

Den seit der Geltung des Grundgesetzes noch nicht zum Erfolg gelangten 1 1 — aber doch für das parlamentarische System am kennzeichnendsten und bedeutendsten — Amtsbeendigungsgrund stellt das Mißtrauensvotum nach A r t . 67 GG dar. Gemeinsam m i t den Art. 68, 81 GG bildet diese Bestimmung die Kernsätze der „Bonner Version" 2 2 des parlamentarischen Systems, einer bisher bewährten Ordnung, der jedoch ein noch darzulegender Strukturmangel 2 8 anhaftet.

I I . Das Verfahren nach Art. 67 1. Der Bundeskanzler als Adressat des Verfahrens

a) Während A r t . 54 Weimarer Verfassung dem Reichstag die Möglichkeit eröffnete, durch Beschluß den Reichskanzler, einen oder mehrere Reichsminister zum Rücktritt zu zwingen, kennt das Grundgesetz diese Möglichkeit nicht. Die durch das Grundgesetz geschaffene verfassungsrechtliche Lage zeichnet sich zunächst dadurch aus, daß der Bundeskanzler und die Bundesminister durch bloßen Mehrheitsbeschluß nicht zum Rücktritt gezwungen werden können. A r t . 67 trifft eine gänzlich neuartige Regelung, als zur Abberufung des Bundeskanzlers eine Nachfolgerwahl abzuhalten ist. Erst m i t der wirksamen Wahl eines Nachfolgers ist zugleich i n konkludenter Form das Mißtrauen gegen den bisherigen Amtsinhaber ausgesprochen 1. Freilich bleibt trotz der dadurch vollzogenen „Drosselung des parlamentarischen Systems" 2 das Grundgesetz dieser Regierungsweise treu: die parlamentarische Bestandsabhängigkeit des Bun21 Doch hat erst i n jüngster Zeit, am 27.4.1972, ein fast erfolgreicher V e r such der CSU-CDU-Opposition i m deutschen Bundestag stattgefunden, i m Kanzlertauschverfahren nach A r t . 67 GG den Abg. Dr. Barzel zum Kanzler zu wählen. Dr. Barzel erreichte jedoch n u r 247 Stimmen u n d verfehlte damit knapp die erforderliche absolute Mitgliedermehrheit von 249 Stimmen. 22 Loewenstein, S. 92 ff. 28 Ausführungen zum Minderheitenkanzler, ebenda. 1 von Mangoldt—Klein, I I I , 3 a, zu A r t 67 GG; Maunz, S. 306, 307; Münch, S. 174. 2 Loewenstein (VII), S. 92 ff,

2. Abschn. : Die heutige verfassungsrechtliche Situation

425

deskanzlers wurde nicht angetastet 5 . Dennoch stützt sich die „Bonner Version" 4 der parlamentarischen Regierungsweise auf diese durch A r t . 67 bewirkte „Durchbrechung des Mehrheitsprinzips" 5 , die gleichzeitig interessante strukturelle Folgerungen zeitigt: A r t . 67 sowie die ihn ergänzende Bestimmung des §98 Geschäftsordnung des Bundestages bezeichnen i n ihrem Wortlaut eindeutig den Bundeskanzler als den allein i n Frage kommenden Adressaten des i n A r t . 67 GG monopolisierten verfassungsrechtlichen Abberufungsverfahrens. Als Korrelat zur alleinigen parlamentarischen Wahl des Bundeskanzlers gem. A r t . 63 GG konzentriert das Grundgesetz i n A r t . 67 die parlamentarische Abhängigkeit der Regierung i n rechtlicher Beziehung auf den Bundeskanzler®. Die Stellung des Bundeskanzlers als des einzigen mit unmittelbarer parlamentarischer Legitimation versehenen und der parlamentarischen Verantwortlichkeitssanktion ausgesetzten Kabinettmitglieds bewirkt den interessanten Einheitseffekt des Kabinetts; die Bundestags-Mehrheit könnte Änderungen beschränkterer Natur i n personeller und politischer Hinsicht nur mehr durch das „fundamentale" 7 M i t t e l des Kanzlerwechsels durchsetzen. Fast herausfordernd spitzt das Grundgesetz „jede Kabinettskrise auf eine Kanzlerkrise zu" 8 . Durch diese Konzentration parlamentarischer Prinzipien i m Bundeskanzler w i r d ein mögliches „Herausschießen" einzelner Minister und die ständige Störung der Regierungsarbeit vermieden und tatsächlich infolge einer „Mediatisierung" der Bundesminister durch den Bundeskanzler® das von der britischen Verfassung entwickelte Ergebnis einer „collective responsibility" 1 0 des Kabinetts erreicht. Auch i m britischen Verfassungsleben stellte zunächst die Verantwortung des Einzelministers 11 , sei es gegenüber der Krone oder dem Parlament, den Typ der ministeriellen Verantwortung überhaupt dar. Erst i n einer langen Entwicklung t r i t t diese individual responsibility hinter die nur über den Sturz des Premiers aktualisierbare collective responsibility zurück. 8

A r t . 69 I I GG i n Verbindung m i t § 9 Bundesminister-Gesetz. Loewenstein (VII), S. 92 fï. 5 Seifert—Geeb, Das deutsche Bundesrecht, Sammlung der Gesetze u n d Verordnungen der Deutschen Bundesrepublik m i t Erläuterungen u n d einem Überblick über das Landesrecht, F r a n k f u r t , Baden-Baden, Jahrgang 1949, S. 65. • Friesenhahn, Heft 16, S. 58; Maunz, T., i n Maunz—Dürig—Herzog, Rdn. 16 zu A r t . 62. 7 Starck, S. 110. 8 Schneider, Kabinettsfrage u n d Gesetzgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz, i n : V V D S t R L , Heft 8,1950, S. 28. 9 Maunz—Dürig—Herzog, Rdn. 16 zu A r t . 62. 10 „ K o l l e k t i v - V e r a n t w o r t u n g " , s. auch Amphoux, J., Le Chancelier, S. 443. 11 I n d i v i d u a l responsibility. 4

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

Infolge der ausdrücklich i n A r t . 67 GG sowie i n § 98 Geschäftsordnung des Bundestages 12 normierten Voraussetzungen der Wahl eines neuen Bundeskanzlers kann bloßen Mißbilligungsbeschlüssen gegen den Bundeskanzler keine Rechtsfolge zukommen. Anträge auf Verabschiedung eines Mißtrauensbeschlusses gegen den Bundeskanzler sind wegen § 98 I I Geschäftsordnung des Bundestages 13 bereits unzulässig. Den vom Mißtrauensbeschluß zu scheidenden, bloßen Mißbilligungsbeschlüssen gegen den Bundeskanzler können — abgesehen von politisch nicht auszuschließenden Folgen — wegen der durch A r t . 67 gNG i n Verbindung m i t § 98 Geschäftsordnung des Bundestages keine Rechtsfolgewirkungen zukommen 14 . b) I n diesem Punkte zeigt sich auch ein Unterschied zu der i n Großbritannien herrschenden Übung: während dort parlamentarischen A b stimmungsniederlagen i n bestimmten Fragen — „ v i t a l questions" 15 — die Wirkung eines Mißtrauensvotums zukommt, hat das deutsche Verfassungsrecht i n A r t . 67 GG und § 98 Geschäftsordnung des Bundestages einen höchstformalisierten Zustand erreicht, der infolge der den Beteiligten möglichen Antizipation der Rechtsfolge das Gebot verfassungsrechtlicher Rechtssicherheit i n hohem Maße verwirklicht. Das sich i n bloßen Abstimmungsniederlagen der Regierung verkörpernde Mißtrauen der Parlamentsmehrheit — auch i n Fragen, die i m Unterhaus bereits als „ v i t a l questions" angesehen wurden — wie zum Beispiel Ablehnung von Gesetzesvorlagen der Regierung, Streichen von Etatposten, sogar das Verweigern eines Vertrauensvotums, werden, solange 12 § 98 Geschäftsordnung des Bundestags 1. Der Bundestag k a n n dem Bundeskanzler das Mißtrauen n u r dadurch aussprechen, daß er m i t der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger w ä h l t u n d den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. 2. Der A n t r a g hierzu bedarf der Unterstützung von einem Viertel der M i t glieder des Bundestags u n d k a n n n u r i n der Weise gestellt werden, daß dem Bundestag ein namentlich bekannter Kandidat als Nachfolger zur W a h l vorgeschlagen w i r d . Anträge, die diesen Voraussetzungen nicht entsprechen, dürfen nicht auf die Tagesordnung gesetzt werden. 3. E i n Nachfolger ist, auch w e n n mehrere Wahlvorschläge gemacht sind, i n einem Wahlgang m i t verdeckten Stimmzetteln zu wählen. E r ist n u r dann gewählt, w e n n er die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags auf sich vereinigt. 4. Zwischen dem A n t r a g u n d der W a h l müssen achtundvierzig Stunden liegen. 13 So etwas u n k l a r Seifert—Geeb, Abs. 1 der Erl. zu A r t . 67, S. 140 u ; a. A . von Mangoldt—Klein, A n m . I I I i zu A r t . 67 GG = S. 1295. 14 Diese sind jedoch zulässig, da sie eine bloße M i ß b i l l i g u n g beinhalten, was gegenüber dem Mißtrauen ein Minus darstellt, so f ü r viele von Mangoldt—Klein, A n m . I V , zu A r t . 67 = S. 1301; Koellreutter (II), S. 207; Schweitzer, G. B., A k t u e l l e Probleme des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts, i n N J W 1956, S. 84 ff., Α . A. Münch, S. 178 - 180. 15 Welche das sind, liegt n u r zum T e i l fest u n d w i r d zum T e i l v o n der Regierung bestimmt.

2. Abschn. : Die heutige verfassungsrechtliche Situation

427

m i t ihnen nicht eine die Tatbestandsvoraussetzungen des A r t . 67 GG erfüllende Wahl verbunden wird, ohne Rechtswirksamkeit bleiben 16 . c) Mißbilligungsanträge gegen Bundesminister E i n ausdrückliches Mißtrauensvotum gegen Bundesminister, mit oder ohne den Versuch der Neuwahl, ist wegen Unvereinbarkeit m i t A r t . 67 und § 98 Geschäftsordnung des Bundestags unzulässig. Ob einfache Mißbilligungsvoten gegen Bundesminister zulässig sind, ist umstritten. Nach Meinung einiger Abgeordneter des Parlamentarischen Rates habe die Einführung des konstruktiven Mißtrauensvotums die Folge, daß grundsätzlich alle Arten von Mißtrauensvoten außerhalb des Verfahrens nach A r t . 67 unzulässig sind. Die Rechtsauffassung der Bundesregierung zu dieser Frage kommt i n zwei vom Bundesminister der Justiz erstellten Gutachten 17 und i n einem Schreiben des Bundeskanzlers Adenauer an den Präsidenten des Deutschen Bundestags 18 zum Ausdruck. Der Bundesjustizminister gelangt dabei zum Ergebnis, daß das Grundgesetz sich nicht nur gegenüber der Zulässigkeit eines formalen Mißtrauensvotums gegen Bundesminister, sondern auch gegen jede rechtliche Möglichkeit des Bundestags, den Rücktritt eines Ministers zu verlangen, verschlossen habe. M i t der Zuständigkeit des Parlaments sei — so der Bundesminister der Justiz i n seinem Gutachten vom 29.3.1951 — zwar die allgemeine Mißbilligung der Geschäftsführung des Ministers vereinbar, nicht aber ein Beschluß weitergehenden Inhalts, der auf die Entfernung des Ministers aus seinem A m t abzielt. Der Bundeskanzler berief sich i n seinem Brief auf die durch A r t . 67 GG getroffene, abschließende Regelung des Mißtrauensvotums. Die Einführung eines weiteren Mißtrauensvotums ohne Abgangspflicht sei unzulässig. I m Rechtsausschuß des Deutschen Bundestags, der sich i m November 1951 m i t der Frage des Mißtrauensvotums auseinandersetzte, bestand nur Einmütigkeit über die Unzulässigkeit eines echten Mißtrauensvotums m i t Rücktrittspflicht. Hinsichtlich der Frage der mißbilligenden Beschlüsse gegen Bundesminister oder des Ersuchens an den Bundeskanzler, dem Bundespräsidenten die Entlassung eines Ministers vorzuschlagen, war eine Einigung nicht zu erzielen 19 ; gleichzeitig brachte der Ausschuß die Meinung 18

von Mangoldt—Klein, S. 1298. von Mangoldt—Klein, S. 1297/1298. 18 Welche das sind, liegt n u r zum T e i l fest u n d w i r d zum T e i l v o n der Regierung bestimmt. 19 Vgl. Kiesinger, Merkatz; Gespräch m i t H e r r n Ministerialrat W. Blischke von der V e r w a l t u n g des Deutschen Bundestags. 17

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

zum Ausdruck, daß die endgültige Entscheidung dem Bundestag vorbehalten bleiben müsse. Die Lehre vertritt fast einhellig 2 0 den Standpunkt, daß Mißbilligungsvoten i n der Form des allgemeinen Mißbilligungsbeschlusses, als auch i n der Gestalt eines Ersuchens an den Bundeskanzler, dem Bundespräsidenten die Entlassung eines Bundesministers vorzuschlagen, zulässig seien. Die vom Bundestag geübte Praxis hat sämtliche, bisher gestellten Anträge 2 1 zur Abstimmung zugelassen; wobei diese allerdings von der Mehrheit abgelehnt worden waren. Bei der Entscheidung der Frage ist von A r t . 67 GG auszugehen, der seinem Wortlaut nach nur auf den Bundeskanzler anwendbar ist. Gleichzeitig werden die Bundesminister durch den Bundeskanzler „mediatisiert" und der unmittelbaren, parlamentarischen Sanktion bewußt entzogen 22 . Wegen des vom Grundgesetz eingeführten parlamentarischen Systems kann aber auf eine unterhalb der Schwelle des Kanzlersturzes28 ansetzende Kontrolle nicht verzichtet werden, w i l l man nicht den parlamentarischen Spielraum des Bundestags erheblich einschränken 24 . Der Bundestag sollte nicht auf die sonst von der parlamentarischen Geschäftsordnung zur Verfügung gestellten Mittel, wie Anfragen, Interpellationen o. ä. beschränkt bleiben, sondern i n Form eines entsprechenden Beschlusses bestimmten Regierungsmitgliedern namentlich die Mißbilligung aussprechen können. Solche Anträge sind daher, soweit sie nicht einen m i t einem Mißtrauensvotum gemeinsamen Sinn aufweisen, zulässig. 2. Der Mißtrauensantrag

Die Initiative zur Herbeiführung eines Mißtrauensvotums liegt naturgemäß beim Bundestag. Die Einleitung eines solchen Verfahrens setzt einen Antrag voraus, was i n der Weimarer Verfassung infolge seiner Selbstverständlichkeit keine Erwähnung fand. Heute ergibt sich seine Notwendigkeit bereits aus dem Grundgesetz, w e i l m i t dem Einbringen des Antrags die zwingend vorgeschriebene 48-Stunden-Frist i n Lauf gesetzt wird 2 5 . Ergänzt w i r d A r t . 67 GG dabei durch § 98 I I Geschäftsordnung des Bundestags. § 98 Geschäftsordnung des Bundestages stellt auch hinsichtlich des Antrags die Untrennbarkeit von Mißtrauenskundgabe und 10

Gespräch m i t H e r r n Blischke. Gespräch m i t H e r r n Blischke. 22 Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 3 zu A r t . 67, Rdz. 16 zu A r t . 62. 28 U n d Regierungssturzes. 24 Vgl. hierzu Hereth, Michael, Parlamentarische Opposition i n Deutschland a m Beispiel der sozialdemokratischen Bundestagsfraktion v o n 1949 bis 1966, Phil. Diss., Erlangen—Nürnberg 1968, insbes. S. Χ , X I I , 162,166, 25 A r t . 67 I I GG. 21

2. Abschn.: Die heutige verfassungsrechtliche Situation

429

Wahlvorschlag fest oder besser: der Antrag auf Erlaß eines Mißtrauensvotums kann nur i n Form eines auf einen bestimmten Namen lautenden Wahlvorschlags gestellt werden. Neben dieser Junktimklausel nennt §98 I I 2 Geschäftsordnung des Bundestags als weitere Zulässigkeitsvoraussetzung die Unterstützung des Antrags durch mindestens ein Viertel der Mitglieder des Bundestags. Damit w i r d eine Beschleunigung und Konzentration des Verfahrens erreicht, andererseits aber die Einflußmöglichkeit des einzelnen Abgeordneten zugunsten der Fraktionen als den Trägern der parlamentarischen Willensbildung weiter verringert. Der „Mißtrauensvorschlag" aus der Mitte des Bundestags ist insoweit dem Wahlvorschlag aus der Mitte des Bundestags gem. A r t . 63 I I I GG i n Verbindung m i t § 4 V Geschäftsordnung des Bundestags gleichgestellt. Der Mißtrauensantrag kann grundsätzlich jederzeit eingebracht werden, sofern nicht aus dem geschäftsordnungsmäßigen Betrieb des Parlaments Beschränkungen erwachsen. Hinsichtlich der Form verlangt § 76 I Geschäftsordnung des Bundestags die Verteilung des Antrags i n gedruckter Form an alle Mitglieder des Bundestags, des Bundesrates und die Bundesministerien. Schließlich ist noch die Frage zu klären, welche Folgen der Rücktritt des bedrohten Bundeskanzlers für die Weiterbehandlung des Antrags hat. Wenn der Bundeskanzler u m seine Entlassung bittet, bevor der Mißtrauensantrag 28 gestellt ist, so wäre der Bundespräsident verpflichtet, die Entlassung zu vollziehen. Der Antrag auf eine i m Verfahren des A r t . 67 GG vorzunehmende Neuwahl wäre unzulässig; die Amtseinsetzung erfolgt i m Wege des § 63 GG, eingeleitet durch den Vorschlag des Bundespräsidenten gem. A r t . 63 GG. Problematischer ist der umgekehrte Fall, i n dem der Bundeskanzler erst u m seine Entlassung nachsucht, wenn der Mißtrauensantrag bereits eingebracht wurde. Gebührt dann dem Oppositionsvorschlag gem. A r t . 67 GG oder dem des Bundespräsidenten gem. A r t . 63 I GG das Privileg des Vortritts? Die Lösung wäre auf eine bloße Formfrage reduziert, wenn für den Bundespräsidenten die Verpflichtung bestünde, den Oppositionsvorschlag zu berücksichtigen. Eine solche Bindung besteht aber jedenfalls i n rechtlicher Hinsicht nicht. Der Bundespräsident sollte dabei den Bundeskanzler bis zum Ergebnis der Wahl nicht entlassen. Von der Abstimmung hinge es dann ab, ob der Bundespräsident den Bundeskanzler entläßt und den Neugewählten ernennt oder von seinem Vorschlagsrecht gem. 63 I GG Gebrauch macht und den bisherigen Bundeskanzler zur Weiterführung der Geschäfte ersucht. 26 Bei E r f ü l l u n g der Zulässigkeitsvoraussetzung des § 98 I I Geschäftsordnung des Bundestags.

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

Die Ansicht Münchs erweist sich wegen ihrer Berücksichtigung des Prinzips staatlicher Kontinuitätswahrung als optimaler Lösungsvorschlag. Warum sollte der Bundespräsident durch seinen Vorschlag einen i n der Mehrheitsbildung befindlichen und hierzu anscheinend auch befähigten Bundestag stören? Dem Bundespräsidenten ist die Kontinuitätsfunktion übertragen, die auch teilweise durch Passivität nach außen erfüllt werden muß 2 7 . Schon der Rücktritt des von einem Mißtrauensvorschlag bedrohten Bundeskanzlers w i r d oft als ein Zeichen für die Erfolgsaussichten des oppositionellen Angriffs dienen. Sollte dieser nicht zum Ziele führen, so w i r d der Bundespräsident gem. 631 GG Gelegenheit haben, seinen Vorschlag zu unterbreiten. 3. Das Mißtrauensvotum als Wahl eines Nachfolgers

Während über die Länge des dem Bundestag für seine Stellungnahme zur Verfügung stehenden Zeitraums keine Aussage getroffen wird, bestimmt A r t . 67 I I GG i n Verbindung m i t § 98 I V Geschäftsordnung des Bundestags, daß eine Abstimmung nicht vor Ablauf von 48 Stunden stattfinden darf. Dadurch hat das Grundgesetz, ausländischer Verfassungstradition 28 und den Regelungen deutscher Länderverfassungen folgend, ein „spatium deliberandi" eingeführt, welches überstürzte und emotional bestimmte Mißtrauensbeschlüsse des Parlaments verhindern soll 29 . Gleichzeitig ist den Fraktionen Gelegenheit zu Verhandlungen und zur Herbeirufung möglichst vieler Abgeordneter gegeben. Bei der Berechnung der 48-Stunden-Frist ist § 124 I Geschäftsordnung des Bundestags zu beachten. Danach ist der Tag, an dem der gem. § 75 I Geschäftsordnung des Bundestags gedruckte Antrag verteilt wird, beim Lauf der Frist nicht mitzuberechnen. Dieser beginnt — nach der eintägigen Verschiebung — zur Stunde des ersten, eingebrachten Antrags 3 0 . Münch betont zu Recht die ansonsten bestehende Gefahr der Obstruktion, indem ständig neue Gegenvorschläge von Freunden des Kanzlers vorgebracht werden. Von der Verfassung nicht beantwortet ist die Frage nach der Zulässigkeit einer Aussprache über den Antrag vor der Wahl des neuen Bundeskanzlers 31 . Meder 32 begründet seine Ansicht ausschließlich m i t dem 27 D a r i n liegt das Verbot f ü r den Bundespräsidenten, bei der Regierungsb i l d u n g persönliche politische Ziele zu verfolgen. 28 Französische Verfassung v. 13.10.1946, A r t . 50 I I , S. 1. 29 Meder, Erl. I I 6 zu A r t . 67; Maunz—Dürig—Herzog, Rdn. 7 zu A r t . 67. 30 Münch, S. 176, u n d i h m folgende Amphoux, S. 446. 31 Eine Aussprache halten f ü r zulässig: Maunz—Dürig—Herzog, Rdn. 5 zu A r t . 67; Meder, Erl. I I 2 zu A r t . 67; Ritzel—Koch, A n m . 3 zu §98, u n d Amphoux, S. 446; Münch, S. 176; von Mangoldt—Klein, S. 1299, unterscheiden zwischen zulässiger Debatte über Mißtrauensvotum u n d W a h l ohne Aussprache. 32 I n Bonner Kommentar, Erl. I I 2 zu A r t . 67, S. 4.

2. Abschn.: Die heutige verfassungsrechtliche Situation

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Schweigen des Grundgesetzes i n A r t . 67 I GG i m Gegensatz zur ausdrücklichen Regelung i n A r t . 63 GG. Aus dem Schweigen einer Verfassung dürfen jedoch ähnlich weitreichende Folgerungen wie bei der Interpretation einfacher Gesetze nicht ohne weiteres gezogen werden 38 . Doch ein weiteres Argument zugunsten der Zulässigkeit einer Aussprache ist dem das Ausspracheverbot des A r t . 631 GG tragenden Schutzgedanken zu entnehmen. I m ersten Wahlgang nach A r t . 63 I GG w i r d ausschließlich über den Vorschlag des Staatsoberhaupts abgestimmt. U m den Bundespräsidenten nicht einer möglichen K r i t i k des Parlaments auszusetzen, besteht hier ein Verbot einer Aussprache, das i m zweiten und dritten Wahlgang jedoch aufgehoben ist 8 4 . I m Falle des A r t . 67 liegt jedoch die gesamte Wahlgewalt i n den Händen der Parteien und Fraktionen des Bundestags. Das Ansehen und die Würde des Bundespräsidenten können also durch eine Aussprache über Politik und Person des künftigen Kanzlers nicht verletzt werden. Ein weiteres Argument zugunsten der Zulässigkeit einer Aussprache gewinnt Maunz 35 aus den Erfordernissen der parlamentarischen Praxis: eine Aussprache sei „vielfach sogar empfehlenswert", w e i l sie Gelegenheit für den bisherigen Bundeskanzler biete, die Ergebnisse seiner Regierungspolitik nochmals darzulegen und überdies die Antragsteller die Mißtrauenserklärung begründen können. Eine Aussprache ist i m Falle des A r t . 67 I also zulässig. Falls sie stattfindet, hat sie unmittelbar nach der Einbringung des Antrags zu erfolgen 38 . Sie hält auch nicht den Beginn der 48-Stunden-Frist des A r t . 67 I I GG auf, weil sie als M i t t e l der Überlegung Teil des „spatium deliberandi" ist 3 7 . Auch für den Wahlgang gem. A r t . 67 gilt das Gebot der verdeckten Stimmzettel 3 8 — es handelt sich also, wie i m Verfahren nach A r t . 63 GG i n Verbindung mit § 4 I I Geschäftsordnung des Bundestags, u m eine „geheime Wahl". Bei dem Wahlgang handelt es sich nicht u m eine Abstimmung, sondern u m eine Neuwahl des Bundeskanzlers 89 . Ein Vorschlagsrecht des Bundespräsidenten gem. A r t . 63 I GG besteht i m „Kanzleraustauschverfahren" nach A r t . 67 wegen der durch § 98 Geschäftsordnung getroffenen Ausführungsregelung nicht 40 . Wegen A r t . 67 I GG und § 98 I, I I I Geschäftsordnung des Bundestages ist nur ein Wahlgang zulässig. Dies gilt auch dann, wenn mehrere Wahlvorschläge unter33 34 35 36 37 38 39 40

Jellinek, W., V V D S t R L , Heft 8, S. 9. Vgl. Ausführungen oben 1. H., 2. Kap., C, 2, Abschn. 13. Maunz—Dürig—Herzog, Rdn. 5 zu A r t . 67 G.G Ritzel—Koch, § 99 I. So Münch, S. 177; a. A . Meder, Erl. I I 6 zu A r t . 67. Ritzel—Koch, § 98 I I I . Ritzel—Koch, A n m . 1 zu § 98, S. 171. von Mangoldt—Klein, A n m . I I I 3 b, S. 1298.

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I I . Teil, 2. Kap. : Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

breitet wurden 4 1 . Auch die Beschränkung auf einen zulässigen Wahlgang verringert wegen der sofort notwendigen Konzentration der Stimmen auf einen Kandidaten die Erfolgsaussichten eines Mißtrauensvotums4®. Während nach der Weimarer Verfassung 43 sowie nach A r t . 63 I I GG für die Annahme eines Mißtrauensvotums die schlichte absolute Mehrheit, also die Abstimmungsmehrheit, genügte, verlangt A r t . 67 zur wirksamen Wahl die Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl des Bundestages 44 . Erreicht der i n dem Mißtrauensantrag bezeichnete Kandidat die erforderliche Mehrheit nicht, so gilt der Mißtrauensantrag als abgelehnt und erledigt. Weitere Wahlgänge finden dann nicht mehr statt 4 6 . Das Grundgesetz w i l l m i t dieser Regelung sicherstellen, daß die Auswechslung eines Kanzlers und seiner Führungsgruppe nur durch den unmittelbaren E i n t r i t t einer regierungsfähigen Mannschaft geschehen kann4®. Nur wenn der Bundestag den Kandidaten eine entsprechende Mehrheit zur Verfügung stellt, ist ein Amts Wechsel möglich; die Amtsübernahme durch einen Minderheitenkanzler ist daher selbst i n dem Falle ausgeschlossen, daß dieser bei einem größeren Teil der Abgeordneten Unterstützung finden könnte als der angefochtene Bundeskanzler 4 7 . 4. Die Entlassung

Wurde ein Nachfolger m i t der erforderlichen Mehrheit gewählt, so hat der Bundestag gem. A r t . 67 I GG den Bundespräsidenten zu ersuchen, den Bundeskanzler zu entlassen. Die Verfassung selbst schreibt für das Ersuchen keine bestimmte Form vor, jedoch fordert die Geschäftsordnung des Bundestages 48 die Protokollierung aller Parlamentsbeschlüsse, zu denen auch das Ersuchen gem. A r t . 67 I GG zählt. Der Präsident des Bundestages sowie die Schriftführer vollziehen das Protokoll, das darauf i n Analogie zu § 123 Geschäftsordnung des Bundestags an den Bundespräsidenten übersandt wird.

41 Mehrere Wahlvorschläge sind wegen § 98 I I I Geschäftsordnung des B u n destages zulässig, Eschenburg (III), S. 597. 42 Münch, S. 176. 43 A r t . 54 I I . 44 A r t . 671. 45 Münch, S. 176; Eschenburg (III), S. 598; Ritzel—Koch, A n m . 4 b zu §98. 46 ÄTomit sich faktisch eine ähnliche Situation w i e die der collective responsibility i n Großbritannien herausgebildet hat. 47 Amphoux, S. 446. 48 Ritzel—Koch, % 1211.

2. Abschn. : Die heutige verfassungsrechtliche Situation

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Der Bundespräsident ist nunmehr verpflichtet, dem Ersuchen zu entsprechen und den amtierenden Bundeskanzler zu entlassen 49 . Der Wortlaut des A r t . 67 bringt m i t hinreichender Klarheit den Willen des Grundgesetzes zum Ausdruck, den Bundespräsidenten nur i n Ausübung seiner Kontinuitätsfunktion „formal" 5 0 an einem Kanzlerwechsel während der Legislaturperiode zu beteiligen. Aber auch die Formalbefugnisse des Staatsoberhaupts setzen erst ein, nachdem das Parlament die Entscheidung getroffen hat 5 1 . Hat es sich i n unserem Falle für das vom Mißtrauensantrag verfolgte, personelle Ziel entschieden und einen Nachfolger des Bundeskanzlers gewählt, so hat der Bundespräsident tatsächlich nur mehr die Zuständigkeit 5 2 zur Entlassung des Bundeskanzlers 53 . Die Entlassungsverfügung für den bisherigen Bundeskanzler bedarf wegen A r t . 58, S. 2 GG nicht der Gegenzeichnung. M i t der Entlassung endet das Amtsverhältnis des Bundeskanzlers 54 . Diese w i r d m i t der Aushändigung der Entlassungsurkunde oder — ersatzweise m i t der amtlichen Veröffentlichung — wirksam 5 5 ; der Urkunde kommt konstitutive Wirkung z u M . 5. Ernennung des neuen Bundeskanzlers durch den Bundespräsidenten

Die Ernennung des vom Bundestag neugewählten Bundeskanzlers ist von A r t . 67 I 2 GG ebenfalls als präsidiale Zuständigkeit m i t dem Charakter einer Pflicht statuiert worden. Für sie gilt das oben 57 zur Entlassung Ausgeführte. Die Ernennungsverfügung ist ebensowenig wie der entsprechende Entlassungsakt der Gegenzeichnung bedürftig 5 8 . Die Übergabe der Ernennungsurkunde zeitigt dieselben Rechtswirkungen wie bei der Ernennung i m Rahmen des A r t . 63 GG 5 9 . 49

A r t . 67 12. Giese—Schunck, Erl. I I 3 zu A r t . 67, S. 113. 51 Kaltefleiter (I), S. 240, weist i n diesem Zusammenhang auf das v o n der engl. Verfassungstheorie entwickelte, dem Monarchen v o r der Parlamentsentscheidung auferlegte Handlungsverbot hin. 52 M i t Pflichtausgestaltung. 53 Während die heutige Lehre tatsächlich an das Ersuchen eine Bindungsw i r k u n g knüpft, vgl. Hamann, Erl. C 2 Abs. I zu A r t . 67, S. 273/274; Nawiasky (IV), S. 110; ders.: der Einfluß des Bundespräsidenten auf B i l d u n g u n d Bestand der Bundesregierung, D Ö V 1950, S. 162 — gebraucht von Mangoldt—Klein, S. 1300, eine etwas mißverständliche Formulierung. 54 § 9 I Nr. 1 Bundesminister-Gesetz. 55 § 10 i n Verbindung m i t § 2 1 Bundesminister-Gesetz. 56 Münch, Tabelle S. 183. 57 Vgl. 2. H, 2. Kap. C, 2. Abschn. I I 4. 58 A r t . 58 S. 2. 59 § 2 I I Bundesminister-Gesetz. 50

28 Lippert

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

Umstritten aber ist die Frage, ob für den Bundespräsidenten die verfassungsrechtliche Verpflichtung besteht, die Entlassung des bisherigen Bundeskanzlers sowie die Ernennung des neuen Bundeskanzlers unverzüglich, innerhalb einer bestimmten Frist oder i m Rahmen eigenen Ermessens vorzunehmen. Letztere Meinung w i r d von Merk 8 0 vertreten, der an das dem Staatspräsidenten zustehende Vertrauen appelliert, das durch den Bundespräsidenten zu stark reglementierende Vorschriften eingeschränkt werden könnte. Der Fall einer Hinauszögerung werde i n praxi wohl kaum vorkommen, weil die schleunige Ernennung des neuen Kanzlers wegen der grundsätzlichen Gegenzeichnungspflicht der Präsidialakte i m Interesse des Bundespräsidenten läge. Merk berücksichtigt aber dabei nicht, daß gerade infolge der durch A r t . 67 i n Verbindung mit 69 I I I GG eingebauten Sicherungen stets eine „gegenzeichnungsfähige" Regierung vorhanden sein wird. Daher sieht sich der Bundespräsident nicht gezwungen, für einen besonders schnellen Vollzug der Entlassungsund Ernennungsformalitäten zu sorgen. I m Gegenteil, es erscheint der Gedanke nicht abwegig, daß der Bundespräsident die Entlassung des bisherigen Bundeskanzlers hinauszögert, u m die gleiche Wirkung bei der Ernennung eines i h m mißliebigen, vom Parlament bestellten Bundeskanzlers zu erzielen. Daher erscheint bereits ein Bedürfnis nach einer zeitlichen Begrenzung für die Vornahme von Entlassung und Bestellung als berechtigt. Eine Anzahl von Autoren 8 1 läßt i n der Tat für die Ernennung des nach A r t . 67 gewählten Bundeskanzlers unter Berufung auf 63 I V S. 2 GG eine Frist von sieben Tagen gelten. Demgegenüber vertreten von Mangoldt—Klein 8 2 die zutreffende A n sicht, der Bundespräsident habe dem Ersuchen des Bundestages unverzüglich nachzukommen, von Mangoldt—Klein weisen auf die den A r t . 63 I I I 2 sowie A r t . 67 GG zugrundeliegenden, unvergleichbaren Situationen hin. Schon wegen der i n 63 I V GG möglichen Wahl mit bloßer Abstimmungsmehrheit und der dem Bundespräsidenten eingeräumten Entscheidungsalternative sei eine Übertragung der 7-Tage-Frist auf die eine Mitgliedermehrheit erfordernde Wahl nach 67 GG nicht notwendig. Das Beispiel des A r t . 63 V 1 GG, der auch i m Falle des von der Mehrheit der Mitglieder gewählten Kandidaten dem Bundespräsidenten eine Ernennungsfrist von sieben Tagen zugesteht, kann wegen unterschiedlichem Tatbestand nicht als Grundlage eines Analogieschlusses dienen. 60

I n V V D S t R L , Bd. 8, S. 59. Jellinek, G., i n D Ö V S. 383 u n d V V D S t R L , Heft 8, S. 11; Hamann, Erl. C 2 Abs. 2 zu A r t . 67 (S. 274); Meder, Erl. I I 4 zu A r t . 67; Münch, S. 177, 146, der Jellinek folgt. 62 von Mangoldt—Klein, S. 1300; so auch Seifert—Geeb, Bundesrecht, Abs. 2 der Erl. zu A r t . 67, S. 140. 61

2. Abschn. : Die heutige verfassungsrechtliche Situation

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Es ist ein wesentlicher Unterschied, ob eine Kanzlerwahl am Beginn oder während der Legislaturperiode stattfindet; der Gedanke der Regierungskontinuität legt i m zweiten Fall wohl strengere Maßstäbe an. Vom Zeitpunkt der Wahl abgesehen, ist beiden qualifizierten Wahlakten die verpflichtende W i r k u n g gegenüber dem Bundespräsidenten eigen; diesem steht kein Ermessensspielraum zur Verfügung,... er prüft ausschließlich den formalen Ablauf der vorangegangenen Verfahrensabschnitte. Aus diesem Grunde wurde bereits oben 63 das Ende der 7-Tage-Frist eher als zulässige Grenze angesehen, bei deren Überschreiten eine Vermutung für eine Verfassungsverletzung bestehen würde, die Pflicht zum unverzüglichen Vollzug aber unberührt bleibt. Die gleichen Überlegungen führen auch bei A r t . 67 des Grundgesetzes zur Annahme einer Pflicht zur unverzüglichen Entlassung des alten und Ernennung des neuen Bundeskanzlers 64 . Sollte der Bundespräsident sich weigern, die Formalakte vorzunehmen, so stehen dem Bundestag die Verfahren nach A r t . 931 Nr. 1 oder 61 GG zur Verfügung. I I I . K r i t i k der Lehre an A r t . 67 und seine Bedeutung für das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland 1

Obwohl A r t . 67 bereits i m Parlamentarischen Rat das Prädikat des „eigentlichen Kerns des neuen Regierungssystems" 2 erhalten hatte und inzwischen unter allen Bestimmungen des organisatorischen Teiles der Verfassung zum berühmtesten und am häufigsten zitierten A r t i k e l 3 geworden ist, seine Konstrukteure vom Glauben erfüllt waren, m i t ihrer modernen Schöpfung zu einem „positiven parlamentarischen System" 4 vorgestoßen zu sein, wurde seine Einführung von verschiedenen Vertretern der Lehre kritisiert. Nicht nur sahen manche Autoren die m i t der Neugestaltung des Abberufungsrechts verfolgten Ziele als m i t diesem M i t t e l nicht erreichbar an — auch die gegenwärtig i n der BRD herrschende Stabilität sei keine Folge der neuen Spielart des parlamentarischen Systems — sondern es wurde gleichzeitig auf sogar nachteilige Auswirkungen des konstruktiven Mißtrauensvotums hingewiesen. Häufig w i r d die Ansicht vertreten 5 , daß von den Verfassungsvätern i n ihrem Bestreben, die Wiederholung Weimarer Regierungskrisen durch 63

Siehe 1. H., 2. Kap. C, 3. Abschnitt I I . § 121 B G B : spätestens also nach 7 Tagen. 1 Oder: a) f ü r das deutsche parlamentarische Regierungssystem; b) f ü r das parlamentarische Regierungssystem des Grundgesetzes. 2 Abg. Katz, 33. Sitzung H A , 8.1.1949. 3 Amphoux, S. 448. 4 Küchenhoff, Günther u. Erich, S. 176. 5 Insbesondere u n d f ü r andere Glum (I), S. 366. 64

28*

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I I . Teil, 2. Kap. : Das Amtsende der deutschen Regierungschef s (C)

die Neugestaltung des Mißtrauensvotums zu verhindern, vollkommen übersehen wurde, daß die Ursachen jener Mißstände nicht i n A r t . 54 WV, sondern ausschließlich i n der Zersplitterung des Parteienwesens und den sonstigen verfassungspolitischen Zeitbedingungen zu suchen seien; durch eine bloß rechtliche Neukonstruktion könne eine dauernde Stabilisierung nicht erreicht werden. Wie schon erörtert, hat die ausdrückliche Anwendung des A r t . 54 i n der Verfassungspraxis der Weimarer Zeit tatsächlich keine bedeutende Rolle gespielt 8 . Richtig ist ebenso, daß der innere Zerfall der Koalition — eine oder mehrere Koalitionspartner traten aus der Koalition aus und und zogen ihre Minister aus dem Kabinett zurück 7 — die meisten Regierungen der Weimarer Zeit zum Rücktritt gezwungen hatte. Dennoch ist zu bedenken, daß ein Kabinett, das durch einen fast „zufälligen", nur der Mehrheit der Abstimmenden bedürfenden, Beschluß des Parlaments jederzeit abberufen werden kann, ständig besorgt sein muß, die Gegensätze zwischen den einzelnen Koalitionspartnern nicht offen aufbrechen zu lassen. Die Folge w i r d sein, daß eine zielbewußte Regierungspolitik wegen der Rücksichtnahmen auf verschiedene politische Interessen nicht mehr durchführbar ist. Diese Unentschlossenheit des Kurses stärkt die radikalen Parteien i m Parlament, was wiederum einige der Koalitionspartner veranlaßt, aus wahltaktischen Überlegungen sich programmatisch den radikalen Parteien anzunähern und die Mitarbeit i n der Regierung aufzukündigen. Das Kabinett wartete i n den meisten Fällen das drohende Mißtrauensvotum gar nicht erst ab, sondern bat vorher u m seine Entlassung 8 . Die Möglichkeit der einfachen Mißtrauenskundgabe gegen jedes Kabinettsmitglied, an die sich die Rechtsfolge des sofortigen Rücktritts knüpfte, bedeutete eine Mitursache der häufigen Regierungskrisen 9 . Demgegenüber erreicht A r t . 67 des Grundgesetzes doch ein gewisses Maß an Stabilisierung: die Voraussetzung einer mit Mitgliedermehrheit zustandegekommenen Neuwahl schließt bereits den „Zufall" eines überraschenden Regierungssturzes aus und verhindert den Rücktritt einer von einer heterogenen, zu produktiver Arbeit unfähigen Mehrheit i n die Minderheit gedrängten Regierung 10 . 6 V o n 23 Reichsregierungen w u r d e n n u r 2 durch V o t u m des Reichstages gestürzt, so Hermens (II), S. 452; n u r i n einem einzigen F a l l w a r eine negative Beantwortung der Vertrauensfrage zu verzeichnen; diese hatte — ohne v e r fassungsrechtliche Regelung — den Rücktritt der Regierung zur Folge; Nachweis bei Poetzsch-Heffter, Bd. X I I I , S. 266. 7 Hermens (II), ebenda; i h m folgend Kaltefleiter, S. 240. 8 Vgl. hierzu die Schilderung der Kabinettsbildung unter Hermann M ü l l e r bei Kaltefleiter (I), S. 163. 9 Siehe Schneider, Hans (III), S. 22; Koellreuther (II), S. 207. 10 Dreher, E., Geschäftsregierung u n d Reichsrat, j u r . Diss., Leipzig 1932, S. 131.

2. Abschn. : Die heutige verfassungsrechtliche Situation

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Kommt es zum Rückzug einer Koalitionspartei aus der Regierung, so steht dem Kanzler die Möglichkeit offen, an Stelle der zurückgetretenen Koalitionsminister andere Persönlichkeiten zu berufen; wegen der Konzentration der parlamentarischen Verantwortlichkeit auf den Bundeskanzler ist dies solange möglich, als der ausscheidende Koalitionspartner zusammen m i t der bisherigen Opposition sich nicht auf einen neuen Bundeskanzler einigt. A u f diese Weise w i r d auch die Stabilität der Bundesregierung i n ihrem Innenverhältnis gefördert. Zweifel werden laut, ob das Ziel, die Einrichtung einer geschäftsführenden Regierung hinfällig zu machen, m i t den i n A r t . 67 kodifizierten Mitteln erreichbar ist 1 1 . Das Ziel des A r t . 67, die Einsetzung eines geschäftsführenden Bundeskanzlers nach einem erfolgreichen Mißtrauensvotum zu vermeiden, hängt vom Zeitpunkt ab, mit dem der abgewählte Bundeskanzler seine Amtsstellung verliert; t r i t t der Amtsverlust ein, bevor der neugewählte Bundeskanzler vom Bundespräsidenten ernannt ist, so wäre gemäß A r t i k e l 69 I I I des Grundgesetzes die Bestellung eines geschäftsführenden Bundeskanzlers notwendig. Der Wortlaut des A r t . 67 I des Grundgesetzes 12 scheint diese Frage offenzulassen. Während A r t . 54 S. 2 W V ausdrücklich eine Rücktrittspflicht festgelegt hatte, fehlt ein solcher Anspruch i m Grundgesetz. Doch zeigt A r t . 69 I I des Grundgesetzes, daß anläßlich der automatischen Amtsbeendigung eine Entlassung durch den Bundespräsidenten nicht notwendig ist 1 3 , während A r t . 67 eine Entlassung ausdrücklich statuiert 1 4 . Der Amtsverlust des Bundeskanzlers t r i t t also erst m i t seiner Entlassung ein 15 . Diese w i r d wiederum m i t der Aushändigung der Entlassungsurkunde wirksam 1®. Weiter wurde oben 17 ausgeführt, daß der Bundespräsident verpflichtet ist, die Entlassung des alten Bundeskanzlers unverzüglich auszuspre11 Meder, i n : Erl. I I 5 zu A r t . 67; von Mangoldt—Klein, S. 1292; Meder, ebenda: A r t . 67 schließt keinesfalls die Möglichkeit einer Geschäftsregierung aus; a. Α.: Giese—Schunck, Erl. I I 2 zu A r t . 67, „Dieses Ziel (des A r t . 67) werde jedoch nicht i n vollem Umfange e r r e i c h t . . . da . . . eine bloß geschäftsführende Regierung möglich sei." 12 Der Bundestag k a n n dem Bundeskanzler das Mißtrauen n u r dadurch aussprechen, daß er m i t der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger w ä h l t u n d den Bundespräsidenten ersucht, den Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen u n d den Gewählten ernennen. 13 Der Entlassungsurkunde k o m m t n u r deklaratorische Wahrung zu, Münch, Tabelle S. 183. 14 Entlassungsurkunde f ü r den Bundeskanzler ist konstitutiv, Münch, ebenda. 15 Amphoux, S. 144; Münch, S. 177; von Mangoldt—Klein, S. 1299/1300. 16 § 10 i. V. m i t § 2i B M i n G . 17 Vgl. H. 2 Kap. C, zw. Abschn. I I , 4.

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I I . Teil, 2. Kap. : Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

chen und ebenso — schon die i h m zugedachte Rolle als Kontinuitätswahrer verpflichtet i h n hierzu — die Ernennung des neuen Bundeskanzlers zu vollziehen, so daß man faktisch zu einer Gleichzeitigkeit der beiden Akte gelangt. M i t dieser Auslegung ist die Kontinuität bei einem Kanzlerwechsel gemäß A r t . 67 des Grundgesetzes gesichert und die Berufung eines „geschäftsführenden Bundeskanzlers" nicht notwendig. Theoretisch möglich ist die Einsetzung einer Geschäftsregierung aber dennoch: nach der Entlassung des alten und der Ernennung des neuen Bundeskanzlers ist letzterer zum Amtsantritt aus persönlichen Gründen — wie Krankheit — nicht i n der Lage 18 . Doch dürfte dieser Fall — schon wegen der von Nawiasky, H. 1 9 angeführten Gründe — kaum einmal eintreten. Der zu ernennende gewählte Bundeskanzler steht i m Mittelpunkt des politischen Lebens und ist Zentrum höchster A k t i v i t ä t . Ein i n seiner Handlungsfähigkeit beschränkter Politiker könnte diese Aufgabe nicht meistern und daher nicht als Kandidat i n Frage kommen. I m Ergebnis w i r d also ein geschäftsführender Kanzler wohl kaum i n Verfahren nach A r t . 67 notwendig werden. Zahlreiche Autoren halten nicht nur die Bestimmung des A r t . 67 als für die Erreichung der angestrebten Ziele ungeeignet, sondern befürchten überdies, daß die i n A r t . 67 des Grundgesetzes gefundene Regel weitere Nachteile mit sich bringen würde. a) Koellreutter 2 0 erblickte i n der durch A r t . 67 des Grundgesetzes verstärkten Bestandssicherung des Bundeskanzlers gegenüber dem Parlament die Gefahr einer allmählichen Erstarrung des parlamentarischen Systems; die für den echten Parlamentarismus erforderliche Dynamik i m Verhältnis von Volksvertretung und Staatsführung werde gedrosselt; man müsse sich darüber klar sein, daß die ständige parlamentarische Bedrohung der Regierung, wie sie i n England und Frankreich bestehe, zum Wesen des echten Parlamentarismus gehöre. I n Wirklichkeit bewegt sich die neuentwickelte Spielart des „positiven parlamentarischen Systems" durchaus i m Rahmen der Grenzen parlamentarischer Regierungsweise; es räumt dem Parlament durchaus die Möglichkeit ein, den Bundeskanzler zu stürzen, wenn ein neuer Mehrheitskandidat zur Verfügung steht. Nur die mißbräuchliche Anwendung des parlamentarischen Abberufungsrechts soll vermieden werden. Auch überschätzt Koellreutter die Bedeutung des Mißtrauensvotums i m parlamentarischen System. Seine Anwendung ist nicht das einzige Mittel, u m die „Dynamik" i n die Beziehung zwischen Regierung und Parlament 18

Diesen F a l l hatten anscheinend auch von Meder, Erl. I I 5 zu A r t . 67, i m Auge. 19 (IV), S. 100. 20 (II), S. 208.

Mangoldt—Klein,

S. 1300;

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zu bringen 21 . Diese Aufgabe der Dynamisierung, insbesondere aber der „Rückkoppelungsfunktion" 2 2 zwischen Parlament 2 3 und V o l k besorgt i m System des Grundgesetzes die Parlamentsauflösung nach A r t . 68 des Grundgesetzes. Das Mißtrauensvotum kann nicht als Gradmesser dieser besprochenen Dynamik angesehen werden. Das Mißtrauensvotum ist i m Laufe der Entwicklung — dies beweist deutlich die englische Verfassungsgeschichte — zu einem würdigen Verfassungsteil i m Sinne Walter Bagehots geworden. Dieser Weg war auch notwendig, u m die Kontinuität politischen Handelns i n der Stabilität des Kabinetts zu sichern; das Grundgesetz zeugt auch insoweit „von einer neuen Geisteshaltung" 24 . b) Es wurde auch befürchtet, daß die Erschwerung des Kanzlersturzes durch A r t . 67 Grundgesetz den Vorgang der Regierungsbildung hemmen würde 2 5 : der Kanzler sei schwieriger auszuwechseln und daher letztlich ein Sturz i m Verfahren nach A r t . 67 unwahrscheinlich 28 ; aus diesem Grunde befinde er sich i n einer von den Parteien unabhängigeren Situation als der Reichskanzler der Weimarer Verfassung. Da die Parteien jedoch als die eigentlichen Wähler des Bundeskanzlers gem. A r t . 63 I I Grundgesetz fungierten 27 , könnten sie natürlich Bedingungen hinsichtlich der von diesem vorzuschlagenden Bundesminister 28 sowie der von i h m zu bestimmenden Richtlinien 2 9 der Politik stellen. Die vom Bundeskanzler erteilten Richtlinien wären, soweit sie sich i m Einklang m i t der öffentlichen Wählermeinung befinden, infolge der Sicherung durch A r t . 67 Grundgesetz nur schwer und nur unter der Globalsanktion des Kanzlersturzes abänderbar. Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß i n allen Staaten, wo infolge der Struktur des Parteiensystems ein Zwang zur Koalitionsregierung besteht, sich die Regierungsbildung schwieriger als i m Zweiparteienparlament gestaltet 30 . Aber dem von A r t . 67 Grundgesetz statuierten, verfassungsrechtlichen Bestandsschutz des Bundeskanzlers und seiner Regierung ist ein „Verstei21

s. dazu Nawiasky (IV), S. 101 u n d dortige Beispiele. s. hierzu Stein, E., Lehrbuch des Staatsrechts, Tübingen 1969, S. 71 ff. 23 U n d Regierung. 24 Amphoux, S. 453. 25 Schneider, H., Kabinettsfrage u n d Gesetzesgebungsnotstand nach dem Bonner Grundgesetz i n V V D S t R L , Heft 8, S. 21 ff., 29; Nawiasky (IV), S. 94. 26 Siehe die Konstituierung der westdeutschen Bundesorgane AöR 75 (1949), S. 342. 27 Eschenburg (III), S. 173/174; 679/680. 28 A r t . 64i. 29 A r t . 65. 30 Sternberger (I), S. 61, verweist auf das Beispiel der Regierungsbildung Scelba i m Februar 1954 i n Italien, wo Regierungsprogramm u n d Regierungskoalition bei der W a h l Scelbas längst abgesprochen waren u n d andererseits Englands, wo ein reines innerparteiliches Ringen der Kandidaten v o r i h r e r Nominierung stattfand. 22

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fungseffekt" bei der Regierungsbildung nicht abzusprechen, der i n der Verfassungspraxis der BRD bereits Wirkungen gezeitigt hatte 31 . c) Eine andere Auffassung 32 kritisiert an der von A r t . 67 getroffenen Regelung, daß infolge der Notwendigkeit, sich vor der Abwahl des alten Kanzlers auf einen neuen zu einigen, das geheime Opponieren innerhalb des Regierungslagers begünstigt werde. Ein Intrigenspiel hinter dem Rücken des amtierenden Kanzlers sei die Folge 33 . Aber darüber hinaus würde das stets mögliche und von der Verfassung geradezu vorgeschriebene „Spiel hinter den Kulissen" 3 4 einen Unsicherheitsfaktor inmitten des Kabinetts erzeugen. U m dem möglichen, untergründigen Zerfall der Koalition entgegenzuwirken, sei dann der Kanzler gezwungen, den zur Dissentierung neigenden Parteien größere Konzessionen zu machen, als er verantworten könne. A r t . 67 Grundgesetz vermöge daher den Bundeskanzler auch in starke Abhängigkeit von anderen Koalitionspolitikern zu bringen. Diesen Befürchtungen dürfte jedoch keine große Bedeutung beizumessen sein. Derartige Anfechtungen werden i n jeder A r t von parlamentarischen Regierungssystem auftreten und der Versuch, m i t rechtlichen Mitteln ähnliche Erscheinungen zu verhindern, würde entweder die Grenzen der Normierbarkeit überschreiten oder zur Aufhebung des parlamentarischen Systems führen. A r t . 67 läßt i m Gegenteil den Bundeskanzler von Koalitionskrisen unabhängiger werden; er kann auch von den Koalitionsparteien abgezogene Minister durch andere Persönlichkeiten ersetzen und sich eventuell eine neue parlamentarische Mehrheit suchen. Er kann die überhöhten Forderungen der Koalitionspartner unbeachtet lassen und versuchen, m i t Hilfe der A r t . 68 und 81 Grundgesetz den Kampf gegen einen obstruierenden Bundestag aufzunehmen oder seinen freiwilligen Rücktritt sachlich und zeitlich von dem Vermögen seiner politischen Gegner abhängig machen, einen Mehrheitskandidaten hervorzubringen. A r t . 67 des Grundgesetzes gewährt dem amtierenden Kanzler also einen gegenüber der Weimarer Verfassung 81 So 1961, wo es i n dem Koalitionsabkommen zwischen CDU/CSU u n d der F D P v o m 20.10.1961 hieß: „Die Koalitionspartner gehen davon aus, daß der Vorsitzende der Christlich-Demokratischen Union, Dr. K o n r a d Adenauer, das A m t des Bundeskanzlers entsprechend seiner v o r der F r a k t i o n der CDU/ CSU am Dienstag, dem 17.10.1961, abgegebenen E r k l ä r u n g nicht f ü r die ganze Dauer der Legislaturperiode bekleiden w i r d . " Diese die Amtsdauer des Regierungschefs betreffende Abmachung ist aus der i n A r t . 67 GG gefestigten Stellung des Kanzlers zu erklären. Vgl. dazu Weber, Harald, Der Koalitionsvertrag, Bonn 1967, S. 160 ff. Dort ist auch der Text des Koalitionsabkommens v o n 1961 abgedruckt. Einen Überblick über den Meinungsstand i m Schrifttum zu diesem Problem gibt Weber, Harald, S. 158 ff. ~ Schneider, Hans (III), S. 29 f.; Nawiasky (IV), S. 100. 33 So bereits die Abgeordneten Dr. von Mangoldt u n d Walter i m Parlamentarischen Rat, H A 3. Sitzung v o m 16.11.1948, Sten.-Prot, der H A S. 33/34. 34 Schneider, Hans (III), S. 29 f.

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erweiterten Spielraum und Schutz, ohne die parlamentarische Willensbildung zu knebeln. d) Der Einwand Werner Webers 85 , A r t . 67 w i r k e einseitig zugunsten der Parteien der Mitte, weil die Flügelparteien nicht i n der Lage wären, einen gemeinsamen Kandidaten hervorzubringen, übersieht, daß es einer solchen extremen Partei nach Eroberung der absoluten Mehrheit oder nach Zusammengehen m i t einer Partei der Mitte ebenso möglich ist, einen eigenen Kandidaten i m Wege des A r t . 67 Grundgesetz ins Kanzleramt zu bringen. Solange eine solche Flügelpartei jedoch den Sturz des Kanzlers nur m i t Hilfe der entgegengesetzten Flügelpartei erzwingen kann, lag es i n der als Reaktion auf die Weimarer Verfassung deutlichen Absicht des Parlamentarischen Rates, einen solchen Sturz m i t Hilfe des A r t . 67 zu vermeiden. Ebenso wie die englische Verfassungspraxis ist auch das Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland gegenüber den extremen Parteien mißtrauisch eingestellt. Bei ihnen spricht eine Vermutung gegen ihren Willen zum Kompromiß i m Rahmen der für alle geltenden verfassungsmäßigen Ordnung. Seinen beredten Ausdruck findet dieser Selbstschutzgedanke i n der Möglichkeit, eine verfassungsgerechte Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit von Parteien herbeizuführen 86 sowie i n dem Versuch, extremistische Parteibildungen i m Wege der Fünf-Prozent-Klausel des Wahlrechts schon i m Keime zu ersticken 87 . e) Es waren auch dahingehende Befürchtungen geäußert, daß A r t . 67 Grundgesetz den Parteien die Möglichkeit des Mißbrauchs durch formale Erfüllung der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen nicht verwehren würde. So diskutieren Koellreutter 8 8 und Schneider 89 den Fall, daß eine i n ihren politischen Zielen heterogene, aber doch i n der Absicht des Kanzlersturzes geeinte Opposition, sich auf eine beliebige Persönlichkeit als Kanzlerkandidat einigen könnte, u m formal die Voraussetzungen des A r t . 67 Grundgesetz erfüllen zu können. Damit sei dem Grundgedanken des A r t . 67 Grundgesetz widersprochen, als das Prinzip staatlicher Kontinuität unerfüllt bleibe. Das Kabinett sei von Anfang an durch den Zerfall bedroht, aber die Opposition hätte ihr Ziel, den Kanzlersturz herbeizuführen, gleichzeitig die Neubildung einer arbeitsfähigen Regierung zu verhindern, erreicht. Schneider 40 bedauert es, daß das 35

(II), S. 23/24. A r t . 21 I I , I I I GG. 37 Die gesetzliche Grundlage hierfür bildet § 6 Abs. 4 B W a h l G v o m 7. 5. 1956, BGBl. I I I , Nr. 111. Die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung wurde festgestellt durch Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts; vgl. B V E r f G E 6,90 ff. 38 (II), S. 207. 39 Schneider, Hans (III), S. 29. 4 0 Schneider, Hans (III), S. 29. 36

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

Grundgesetz den Bundespräsidenten ausdrücklich verpflichtet 41 , den vom Bundestag Gewählten zum Kanzler zu ernennen. Die Befürchtungen der genannten Autoren hinsichtlich der Möglichkeit eines „pseudokonstruktiven" Mißtrauensvotums könnten dann Bedeutung erlangen, wenn — wie es während der Weimarer Verfassung schließlich der Fall war — die parlamentarische Situation 4 2 eine Zerklüftung des Parteienwesens bei gleichzeitiger Bildung von starken extremen Flügeln gekennzeichnet wird. Wie bereits ausgeführt, würde der Fall einer obstruierenden heterogenen Mehrheit, die den Tatbestand des A r t . 67 Grundgesetz i n der Weise erfüllt, daß zwar ein Kandidat m i t absoluter Mehrheit gewählt wird, aber dieser seine Ernennung durch den Bundespräsidenten ablehnt, kaum zur Entlassung des i m A m t befindlichen Bundeskanzlers führen. Dies gilt jedenfalls dann, wenn aus den Begleitumständen der Wille der Opposition ersichtlich wird, „einen verfassungsmäßigen Minderheitenkanzler durch eine Dauerkrise zu ersetzen" 43 . Der Bundespräsident verfügt hier über die Möglichkeit, die obstruierenden Scheinwahlvorgänge zu ignorieren und — als Ausfluß der i n einer solchen Kontinuitätskrise aktivierten Reservemacht — 4 4 den alten Bundeskanzler i m A m t zu halten 4 5 . Bereits die wörtliche Auslegung bestätigt dieses Ergebnis: Der Bundespräsident kann eine Ernennung gegen den Willen des zu Ernennenden nicht i n rechtswirksamer Weise vornehmen. Infolge der Ablehnung der Ernennung dürften aus der Wahl resultierende Rechte des Kandidaten gemäß §§ 242, 226 BGB als v e r w i r k t anzusehen sein. Dann verbleibt dem Bundespräsidenten nur, den entlassenen Amtsinhaber zum geschäftsführenden Bundeskanzler zu ernennen. Fraglich ist aber, ob die bei der Behandlung des Falles einer Obstruktion entwickelten Maßstäbe auch bei einem „pseudokonstruktiven" Mißtrauensvotum anwendbar sind. Während es sich bei der Obstruktion u m „Scheinwahlen" handelt und der dabei gewählte Kandidat das A m t des Kanzlers nicht anzutreten beabsichtigt, soll hier der Weg bis zur rechtswirksamen Ernennung beschritten werden und erst m i t vollzogener Amtseinsetzung w i r d von den beteiligten Parteien das Scheitern der Koalition i n Kauf genommen. Die von A r t . 67 des Grundgesetzes statuierten Voraussetzungen sind hier i n Wahrheit nicht geschaffen, sondern von einer heterogenen Parteimehrheit unter Umgehung der ratio legis herbeigeführt worden. 41 42 43 44 45

A r t . 67 12 GG. s. Poetzsch-Heffter, Bd. X X I , S. 72. Münch, S. 177. Vgl. die Ausführungen oben, Einleitung, C I I I . s. Münch, S. 177; u n d diesem folgend von Mangoldt—Klein,

S. 1299.

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Wegen des eindeutigen Wortlautes i n A r t . 67 I 2, „der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen", kann der Bundespräsident von der Pflicht zur Entlassung des bisherigen und Ernennung des gewählten Bundeskanzlers nicht befreit werden. Die dem Staatsoberhaupt i n der Situation einer Krise oder — wie hier — des Verfassungsbruchs eigentlich funktional zustehende und i n A r t . 67 fehlende Reservemacht könnte dem Bundespräsidenten daher nur de lege ferenda verliehen werden. Dieses Vorhaben stößt aber, wollte man das Eingriffsrecht des Bundespräsidenten tatbestandsmäßig umschreiben, auf die Schwierigkeit, daß solche Situationen eben nicht ex ante konstruierbar und vor allem nicht normierbar sind4®. Angesichts des pseudokonstruktiven Mißtrauensvotums w i r d nun sichtbar, daß „das Eingreifen des Staatsoberhauptes i m Gegensatz zu sämtlichen Verfassungsregeln i n bestimmten Situationen sinnvoll sein kann, u m das demokratische Regierungssystem zu erhalten" 4 7 . Soweit die systemnormative Begründung der Reservemacht. Der Jurist ist aber auf der Suche nach einer rechtlich normativen Begründung. Eine solche verlangt eine Formulierung, die einerseits den Pflichtcharakter der formalen präsidialen Entlassungs- und Ernennungsfunktion i n A r t . 67 Grundgesetz betont und andererseits stillschweigend Spielraum läßt für den vielleicht einmal notwendig werdenden Einsatz der Reservemacht. Daher w i r d vorgeschlagen, den bisherigen A r t . 67 I 2 Grundgesetz durch folgenden Text zu ersetzen: „Der Bundespräsident entspricht dem Ersuchen und ernennt den Gewählten."

IV. Verfassungspraxis Eine unmittelbare erfolgreiche Anwendung hat die Neukonstruktion des A r t . 67 Grundgesetz i n der Geschichte der BRD bisher nicht gefunden 1 . 46

F ü r das englische Verfassungsleben siehe Kaltefleiter (I), S. 49. Kaltefleiter (I), S. 49. 1 Z u m Versuch der CDU/CSU-Fraktion, i m Wege des A r t . 67 den Bundeskanzler Brandt abzulösen, vgl. oben (III). A u f Länderebene ist das konstruktive Mißtrauensvotum bereits zweimal i n Nordrhein-Westfalen zur A n w e n d u n g gekommen: dort w u r d e n Ministerpräsident K a r l A r n o l d i m Februar 1956 u n d Franz Meyers i m Dez. 1966 gem. Art. 61 Abs. 1 der Landesverfassung dadurch gestürzt, daß der Landtag Nachfolger gewählt hatte. Die Staatspraxis v o n Nordrhein-Westfalen zeigt, daß die dort verwirklichte Spielart des konstruktiven Mißtrauensvotums infolge der Abschwächung der Wahlerfordernisse gegenüber A r t . 67 GG — A r t . 61 der Landesverfassung fordert f ü r die Nachfolgerwahl n u r einfache Mehrheit — sowie des Fehlens einer dem A r t . 68 GG entsprechenden Regelung keine starke Sicherung f ü r den 47

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Der Antrag der Fraktion der SPD, gestellt i n der 253. Sitzung des Ersten Deutschen Bundestags am 5. 3. 1953, Sten.Ber. S. 12158 C bis 12168 D: „Der Bundestag mißbilligt, daß der Bundeskanzler... bei dem Herren Bundespräsidenten vorstellig wurde . . . usw." war ein bloßer Mißbilligungsantrag, der schon aus formalen Gründen den Anforderungen des A r t . 67 nicht entsprach. Anlaß zu näherer Betrachtung bieten aber der Rücktritt Adenauers i m Herbst 1963 und derjenige L u d w i g Erhards vom Herbst 1966 als einzige Beispiele eines Kanzlertausches während der Legislaturperiode. Adenauer wurde 1961 mit den Stimmen der CDU/CSU sowie der FDP zum Bundeskanzler gewählt, nachdem sein Rücktritt nach Ablauf von zwei Jahren i m zwischen den Parteien geschlossenen Koalitionsvertrag festgelegt worden war. Die FDP war schon i m Wahlkampf 1961 für eine Regierung unter Ausschluß einer Kanzlerschaft Adenauers eingetreten und hatte damit Erfolge i n den Bundestagswahlen erzielt, während CDU/CSU die Mitgliedermehrheit einbüßten, was einem allgemeinen Popularitätsverlust Adenauers bei der Bevölkerung angelastet wurde 2 . Dem Rücktritt Adenauers lagen demnach zwei Motivationen zugrunde: einmal die Befürchtung der FDP, durch gänzliches Nachgeben ihren neuerrungenen Kredit beim Wähler wieder einzubüßen und die Sorge der CDU/CSU, i n angemessener Frist vor den nächsten Bundestagswahlen einen populären Kanzler präsentieren zu können. Bei dem Wechsel von Adenauer zu Erhard handelte es sich primär u m einen „an den Wahlchancen orientierten Führungswechsel" 3 . Ebensolche Beweggründe veranlaßten den Rücktritt Erhards vom 1.12.1966. Zunächst hatte der Bundeskanzler seine Partei wesentlich gestärkt aus den Bundestagswahlen 1965 herausführen können 4 . Dann war die Regierungsmehrheit L u d w i g Erhard so lange gefolgt, als sie vermuten durfte, daß die von Erhard betriebene Politik i n breiten Wählerkreisen auf Zustimmung stoßen würde. Der Bundeskanzler selbst Bestand der Regierung bildet. Die v o m Grundgesetz v e r w i r k l i c h t e K o m b i nation von absolutem Mitgliedermehrheitserfordernis u n d mittelbarer A u f lösungsbefugnis des Bundeskanzlers ist w e i t eher i n der Lage, dem Zerfall der Mehrheit entgegenzuwirken. Das von A r t . 35 der Landesverfassung eingeräumte Selbstauflösungsrecht vermag an der schwächeren Stellung des Ministerpräsidenten nichts zu ändern, da, w i e das Beispiel des Regierungschefs A r n o l d zeigt, ein evtl. A p p e l l an das Parlament, sich selbst aufzulösen, aus verschiedenen Gründen meist erfolglos bleiben w i r d . 2 Über den W a h l k a m p f v o n 1961 u n d seine Erbebnisse s. Loewenberg, S. 270 ff. 3 Kaltefleiter (I), S. 30, A n m . 31. 4 Ders. Konsens ohne Macht? Eine Analyse der Bundestagswahl v o m 19. September 1965, i n : Verfassung u n d Verfassungswirklichkeit, Bd. 1 Jahrbuch 1966, K ö l n u. Opladen, S. 15/16.

2. Abschn. : Die heutige verfassungsrechtliche Situation

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war bestrebt, sich dieser Zustimmung ständig durch unmittelbare Kontakte zur Bevölkerung zu versichern und gab auf diese Weise dem Schlagwort von einer „Volkskanzlerschaft" Nahrung 5 . Als sich jedoch Schwierigkeiten wirtschaftlicher A r t bemerkbar machten und verschiedene Landtagswahlen eine Popularitätskrise des Kanzlers anzeigten, begann die FDP ihre Oppositionsrolle i n der Regierung zu verstärken, was schließlich dazu führte, daß sie die Koalition verließ. M i t dem Wechsel zu Kiesinger und der Bildung einer Großen Koalition versuchte die CDU/CSU, den Grundstein für einen Wahlerfolg i n den kommenden Bundestagswahlen zu legen; demnach bedeutete auch der Wechsel von Erhard zu Kiesinger parallel demjenigen von Eden zu MacMillan und MacMillan — Lord Home wiederum „einen an den Wahlchancen orientierten Führungswechsel". I n rechtlicher Sicht lag i n diesen Vorgängen vom Herbst 1966 die Verwandlung der Regierung Erhard i n eine Minderheitenregierung. Der Auszug der FDP aus der Regierung hatte dem Kanzler die absolute Mehrheit genommen. Gleichzeitig hatte der Bundestag m i t den Stimmen von SPD und FDP beschlossen, vom Kanzler zu verlangen, den Vertrauensantrag gemäß A r t . 68 Grundgesetz zu stellen®. Während Kaltefleiter 7 daraus die mangelhafte Wirksamkeit des Mißtrauensvotums ableitet und den einzigen Unterschied zwischen „Bonn und anderen Ländern darin erblickt, daß i n Bonn ein Minderheitskabinett amtierte und i n den Ländern ohne konstruktives Mißtrauensvotum die gestürzte Regierung die Geschäfte weiterführte", hat tatsächlich gerade die Regelung des A r t . 67 Grundgesetz die staatliche Kontinuität gewahrt: die Voraussetzung des konstruktiven Mißtrauensvotums erlaubte es Erhard, i m Amte zu bleiben und, wohl wissend, daß sich eine notwendige Zahl von FDP-Abgeordneten nicht zu einer formellen Wahl eines SPD-Kanzlers herbeilassen würde, seinen Rücktritt von der Bedingung einer neuen Mehrheitsregierung abhängig zu machen 8 . Damit war zwar der Kanzlerwechsel nicht i m formellen Verfahren gemäß A r t . 67 abgewickelt worden, wohl aber hatte der durch das konstruktive Mißtrauensvotum erzeugte Bestandsschutz9 den Grundsatz 5

So auch unzählige Pressekommentare, vgl. f ü r viele: Gaus, Günter, i n : Sonntagsblatt, Hamburg, v. 11.10.1964; Flach, K a r l - H e r m a n n , i n : F r a n k f u r ter Rundschau, v. 16.10.1964; Schreiber, Hermann, i n : Der Spiegel, v. 8. 9. 1965; Rexhausen, Felix, i n : Kölner Stadt-Anzeiger, v. 2./3.10.1965. β Vgl. den A n t r a g der S P D - F r a k t i o n v o m 31.10.1966: „ D e r Bundestag wolle beschließen: Der Bundeskanzler w i r d ersucht, dem Bundestag gem. A r t . 68 des GG alsbald einen A n t r a g vorzulegen, i h m das Vertrauen auszusprechen." 7 (I), S. 240 f. 8 Kaltefleiter (I), S. 219, A n m . 88. β i. V. m i t den A r b e i t s m i t t e l n des Minderheitenkanzlers, vgl. A r t . 68 u n d 81 GG.

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I I . Teil, 2. Kap. : Das Amtsende der deutschen Regierungschef s (C)

der staatlichen Kontinuität gewahrt und beschleunigt. I m Ergebnis ist festzuhalten, tannien, eine formelle parlamentarische während der Legislaturperiode äußerst ist.

die neue Regierungsbildung daß, ebenso wie i n GroßbriAbberufung der Regierung unwahrscheinlich geworden

Diese Tatsache ist i n Großbritannien i n der Parteidisziplin, i m Zweiparteiensystem und i n der Überlegung begründet, daß keine Partei es wagen wird, i m offiziellen Verfahren den eigenen „Leader" abzuberufen. Die Abberufung auf Grund wahltaktischer Rücksichten w i r d i n das Gewand eines Rücktritts des Führers gekleidet — aber auch dieser erfolgt erst, nachdem die unmittelbare Amtsübernahme durch einen unumstrittenen 10 Nachfolger gesichert ist. I n der BRD w i r d A r t . 67 Grundgesetz wohl keine erfolgreiche Anwendung finden, w e i l sich eine zur Opposition offiziell überlaufende und den Wechsel durch eine Kanzlerwahl gemäß A r t . 67 Grundgesetz dokumentierende Regierungspartei wohl für längere Zeit als „koalitionsunfähig" erweisen würde, und gleichzeitig eine formale A b w a h l für die Kanzlerpartei aus denselben Gründen wie i n Großbritannien nicht i n Frage kommt. A r t . 67 zählt insofern zu den „dignified parts of the constitution", den würdigen Teilen der Verfassung. Dem konstruktiven Mißtrauensvotum wächst allerdings dann Bedeutung zu, wenn bei einem wahlchancen-orientierten Kanzlerwechsel während der Legislaturperiode die bisher den Kanzler stellende Partei an der Regierung bleibt. Das konstruktive Mißtrauensvotum stellt dann infolge der aus verschiedenen Gründen bestehenden Hemmung der Parteien zum formalen Vollzug des A r t . 67 einen wenigstens den Amtsverlust des Kanzlers verhindernden Schutz her, der die Parteien schon frühzeitig zur Einigung über einen Nachfolger zwingt.

V. Ergebnis Wie versucht wurde nachzuweisen, ist die gegenüber der i n A r t . 67 entstandenen Neuschöpfung geübte K r i t i k durchaus beachtenswert. I n der Tat verdankt die deutsche Verfassungspraxis ihre vielgerühmte Regierungsstabilität wohl auch dem Vorhandensein von zwei großen verfassungstreuen Parteien und dem sich anscheinend doch konsolidierenden Drei-Parteiensystem. Gleichzeitig wäre es jedoch verfehlt, die stabilisierenden Möglichkeiten der mit dem A r t . 67 Grundgesetz eingeführten, modernen Spielart eines „positiven parlamentarischen Systems" 1 zu übersehen. Daß die 10 1

Formell gewählten. Küchenhoff, Günther u n d Erich, S. 176.

2. Abschn. : Die heutige verfassungsrechtliche Situation

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vom Grundgesetz verwirklichte Abhängigkeit des Kanzlerrücktritts von der Neuwahl eines Regierungschefs für die Kontinuität staatlicher Regierungstätigkeit sorgt, hat sich i m Kanzleraustausch des Jahres 1966 gezeigt, als zwar A r t . 67 keine unmittelbare Anwendung fand, wohl aber i n der dem Rücktritt vorhergehenden Einigung auf einen Nachfolger das materielle Anliegen dieser Bestimmung zur Wirkung kam. Diese geläuterte Form des Mißtrauensvotums ist aber gleichzeitig von großer Bedeutung für die Solidarität des Kabinetts und das Innenverhältnis von Kanzler und Bundesminister. Die Konzentration der Waffe des Mißtrauensvotums gegen den Kanzler führt zu einem ähnlichen Ergebnis wie das i n England herrschende Prinzip der „collective responsibility" : der Sturz eines oder mehrerer Minister ist rechtlich nur über den Bundeskanzler und das gesamte Kabinett zu erreichen. Gleichzeitig stärkt sie die Stellung des Bundeskanzlers i m Kabinett; die parlamentarische Verantwortung der Minister ist überlagert durch eine Verantwortung gegenüber dem Bundeskanzler, was den Zusammenhalt des Gesamtkabinetts verstärkt 2 . Amphoux 3 glaubt i n A r t . 67 des Grundgesetzes sogar eine „neue Geisteshaltung" zu erkennen, welche die grundsätzliche Ubermacht irgendeiner Mehrheit gezügelt habe und durch die Betonung der Regierungsmacht den Weg zur deutschen Tradition wieder gefunden hätte. Während das Grundgesetz i n A r t . 67 GG die Vorbereitungen für einen Kanzlerwechsel aus dem Parlament i n die Fraktionszimmer und i n den Bereich des Geheimen abdrängen mag, erreicht es gleichzeitig eine Stärkung der allgemeinen Partei- und Fraktionsdisziplin, ein Effekt, auf den insbesondere Amphoux 4 hinweist: das Erfordernis der Mitgliedermehrheit bei Sturz und Neuwahl stärke die Neigung zu kompromißbereiter Haltung, einige die Fraktionen und schließe „Zufälle" aus. I m übrigen ist jeder parlamentarische Angriff auf den Bundeskanzler geeignet, i m Falle des Scheiterns einen Bundeskanzler i m Amte zu sehen, der überdies noch über die Waffen der A r t . 68 und 81 Grundgesetz verfügt und m i t Hilfe der Wählerschaft die Zusammensetzung des Parlaments zu verändern vermag. Aus der Sicht der funktionalen Argumentation erscheint die von A r t . 67 selbst vorgenommene Gestaltung unproblematisch. Das Parlament verfügt über das Amtsende des Bundeskanzlers und somit 5 der Regierung i n einer Weise, die infolge des erschwerten Regierungssturzes gleichzeitig die Gebote der staatlichen Kontinuität beachtet. Auch die 2 3 4 5

Amphoux, S. 453. Amphoux, S. 158. S. 454. A r t . 68 I I GG.

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Ï Ï . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

i m Verfahren des A r t . 67 Grundgesetz dem Bundespräsidenten zugewiesene, auf das Formale beschränkte Rolle entspricht der dem Staatsoberhaupt systemnormativ zugedachten Kontinuitäts- und Reservefunktion. Der Bundespräsident vollzieht nur die Entlassung des alten und die Ernennung des neuen Bundeskanzlers, ohne dabei über einen Ermessensspielraum zu verfügen, was „seine Ausschaltung aus dem Prozeß der Regierungsumbildung während der Legislaturperiode" 6 bedeutet. Erst nach dem deutlich artikulierten Willen des Parlaments w i r d der Bundespräsident aktiv, hat aber nicht — wie während der Weimarer Verfassung — materiell die Kanzlerernennung durchzuführen, sondern sanktioniert durch formalen Vollzug den Willen des Parlaments 7 . Allerdings ist hier nochmals auf den i n A r t . 67 Grundgesetz fehlenden Spielraum für den Gebrauch der präsidialen Reservemacht hinzuweisen. Nur dieser ermöglichte es dem Bundespräsidenten, i m Falle eines drohenden Verfassungsbruchs die staatliche Kontinuität zu sichern.

Dritter Abschnitt

Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages gemäß A r t 68 GG Aus dem Prinzip des konstruktiven, „positiven" Mißtrauensvotums folgt die Notwendigkeit, gewisse Vorrichtungen auszuschalten, u m dem zwar i m A m t verbliebenen, aber doch der parlamentarischen Mehrheitsunterstützung verlustig gegangenen Bundeskanzler ein Weiterarbeiten zu ermöglichen 1 . I m Bestreben, einem sich einem feindlichen Bundestag gegenübersehenden Bundeskanzler 2 solange Waffen zur Durchführung seines Regierungsprogramms i n die Hand zu geben, bis das Parlament zu neuer, konstruktiver Mehrheitsbildung befähigt ist, hat das Grundgesetz, ζ. T. unter Abwandlung des klassischen parlamentarischen Instrumentariums 3 , ζ. T. unter Heranziehung neuartiger Lösungen 4 , eine posi8

Kaltefleiter (I), S. 240. Die F u n k t i o n des Bundespräsidenten ähnelt damit derjenigen des b r i tischen Monarchen, der ebenfalls bei erfolgreichem V o t u m das Parlament auflöst oder — i n bestimmten Situationen — den Oppositionsführer zum Premierminister beruft. 1 Kehlenbeck, S.38. 2 Besser Exekutive. 3 A r t . 68 GG. 4 A r t . 81 GG. 7

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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tive aufgeklärte Weiterentwicklung des parlamentarischen Systems auf normativem Wege veranlaßt 5 . Findet die vom Bundeskanzler zu stellende Vertrauensfrage keine positive Antwort, so eröffnet A r t . 68 Grundgesetz die Möglichkeit einer Auflösung des Parlaments, während A r t . 81 der i n die Minderheit gedrängten Regierung legislativen Spielraum gewährt. Das Grundgesetz folgt bis hierher den i m parlamentarischen Regierungssystem systemnormativ gebotenen Regeln, die bei einer derartigen Parlamentsauflösung eine „Klärung der Situation" erwarten®. Die genannten Bestimmungen beteiligen i n — relativ verwickelten — Verfahrensabläufen an diesem „Gegenangriff der Exekutive" 7 auch den Bundespräsidenten auf Antrag des Bundeskanzlers 8 sowie den Bundesrat 0 . Dabei sind beide Behelfe, der Vollzug der Auflösung sowie die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands, formal als „Rechte" des Bundespräsidenten ausgestaltet. Angesichts des den systemnormativen Gesetzmäßigkeiten konformen britischen Verfassungsentwicklungsstands, wo die Auflösung des Unterhauses i n der Form der königlichen Proklamation vom Monarchen vollzogen wird, würde dies zunächst keinen weiteren Bedenken begegnen, wenn nicht der Wortlaut der A r t . 68 und 81 GG Anlaß zu m i t den Grundregeln parlamentarischer Regierungsweise und der funktionalen Rolle des Staatspräsidenten unvereinbaren Interpretationen geben würde 1 0 . Auch Amphoux 1 1 glaubt, daß der Bundeskanzler „die i h m von der Verfassung verliehenen, ausgedehnten Befugnisse m i t einer noch größeren Abhängigkeit von anderen Verfassungsorganen bezahlt", und hat daher die Beispiele der A r t . 68 und 81 GG i m Auge. I n der Tat muß es ein Anliegen sein, unter Heranziehung der i m Wege der Programmierung erarbeiteten Ergebnisse eine Interpretation dieser Grundnormen des parlamentarischen Systems zu verhindern helfen, die mit Sicherheit der parlamentarischen Regierungsweise widersprechen würde, i m Krisenfall die Gefahr der Instabilität bedeuten und nicht zur Erhaltung des Systems beitragen würde.

5

Amphoux, S. 456; Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 1 zu A r t . 68. Kaltefleiter (I), S. 244. 7 Kehlenbeck, S. 37. 8 Gem. A r t . 68 löst der Bundespräsident den Bundestag auf. 9 E r k l ä r u n g des Gesetzgebungsnotstands durch den Bundespräsidenten auf A n t r a g der Bundesregierung m i t Zustimmung des Bundesrats — A r t . 81. 10 So spricht etwa Kehlenbeck, S. 37 i n Verkennung der ratio legis des A r t . 68 v o m präsidentiellen Auflösungsrecht; vgl. dazu näheres i m 2. H a u p t teil, 2. Kap., 3. Abschnitt I I I , 2 b. 11 S. 456. 6

Lippert

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I I . Teil, 2. Kap. : Das Amtsende der deutschen Regierungschef s (C)

Die Parlamentsauflösung gem. A r t . 68 GG ist die einzige, vom Grundgesetz ausdrücklich vorgesehene Auflösungsmöglichkeit 12 neben dem Fall des A r t . 6 3 I V GG, der die Auflösung des Bundestages anläßlich der Wahl eines Minderheitenkanzlers ins Ermessen des Bundespräsidenten stellt 1 3 . Die Auflösung nach A r t . 68 GG ist ihrem Grundcharakter nach der „Parlamentsauflösung nach abgegebenem Mißtrauensvotum" 1 4 zuzurechnen, obwohl es sich eigentlich nicht u m ein ausdrückliches Mißtrauensvotum handelt 15 , sondern u m einen vom Bundestag abgelehnten Vertrauensantrag des Bundeskanzlers. M i t der Ablehnung verbindet A r t . 68 GG dann die Auflösungsmöglichkeit, die wiederum durch die Fähigkeit des Bundestages zur qualifizierten Mehrheitsbildung auflösend bedingt ist1®.

I. Der Vertrauensantrag als Initiative des Bundeskanzlers 1. Bedeutung des Antrags

Der i n A r t . 681 GG erwähnte „Antrag" stellt die Voraussetzung dar für die Abstimmung über das dem Bundeskanzler auszusprechende parlamentarische Vertrauen. Die Weimarer Verfassung enthielt zwar keine ausdrückliche Regelung der Vertrauensfrage, doch hatte die damalige Verfassungspraxis derartige Fälle entwickelt. Die Ablehnung einer solchen Vertrauensfrage hatte nicht die staatsrechtliche Rücktrittspflicht des Betroffenen zur Folge 1 , w e i l damit dem Erfordernis des A r t . 54, S. 2 Weimarer Verfassung nicht genügt worden war 2 , konnte aber politisch die Regierung wohl zum Rücktritt veranlassen. Hier w i r d der Charakter der Vertrauensfrage als eines Instruments deutlich, das zwar dem Kanzler zur Verfügung stand, dessen Wirkungen aber auf die Regierung beschränkt waren. 12 Z u r Frage der Geltung der Mandatstheorie i m deutschen Staatsrecht vgl. die Ausführungen Schaetzel's, i n : Der K a m p f u m den Wehrbeitrag, 1. Halbband, München 1952, S. 123 ff. 13 Ob eine Auflösung des Bundestages i n anderen als den i n A r t . 63 I V GG u n d 68 GG genannten Fällen zulässig ist, ist streitig; hierzu u n d insbesondere zur Mandatstheorie vgl. Fell, Carl, Plebiszitäre Einrichtungen i m gegenwärtigen deutschen Staatsrecht, j u r . Diss., Bonn 1964, S. 146 ff., 179. 14 Kehlenbeck, S. 37. 15 Das n u r i m Wege des Kanzleraustauschverfahrens gem. A r t . 67 möglich ist. 16 A r t . 68 12 GG. 1 Thoma, Rudolph, Die rechtliche Ordnung des parlamentarischen Regierungssystems, Handbuch des deutschen Staatsrechts, Bd. I, Tübingen 1930, S. 507. 2 Meder, Erl. I I I zu A r t . 68, erläutert das Beispiel des Rücktritts der Regierung Stresemann v o m 23.11.1923 nach Ablehnung eines Vertrauensvotums.

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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Ganz anders der Antrag des Bundeskanzlers an den Bundestag, i h m das Vertrauen auszusprechen: bereits der i n A r t . 68 GG gewählte Wortlaut weist — für den Fall der Verweigerung — auf mögliche Sanktionen hin. Dabei geht das Grundgesetz über den Gedanken einer Rücktrittsdrohung hinaus. Der Vertrauensantrag w i r d vom Bundeskanzler weniger deshalb gestellt, u m einen Konsens über die verfolgte oder zu verfolgende Politik zu erhalten 3 , sondern primär, um den Bundestag zu einer offenen Stellungnahme zu veranlassen 4 , bei deren negativem Ausgang die Legitimationsgrundlage für die i n A r t . 68 GG vorgesehenen Maßnahmen gegen den Bundestag zu gewinnen und damit die Krise der parlamentarischen Mehrheitsbildung zu überwinden 5 . I n der Überbrückung derartiger Krisen liegt der Sinn des Vertrauensantrags, was darin zum Ausdruck kommt, daß das Recht zur Auflösung mit der regenerierten Fähigkeit des Bundestages zur qualifizierten Mehrheitsbildung erlischt 6 . Der Vertrauensantrag m i t den eben beschriebenen Rechtsfolgen hat eine Neuverteilung des Risikos auf Regierung und insbesondere das Parlament bewirkt und stellt ein erhebliches Druckmittel des Bundeskanzlers gegenüber den eigenen Regierungsparteien dar. Sein Risiko ist insofern geringer, als er auch bei negativer Beantwortung des Antrags i m A m t verbleibt und nur noch vom Bundestag i m Wege der Kanzlerwahl m i t qualifizierter Mehrheit gestürzt oder bei den der Bundestags-Auflösung folgenden Neuwahlen seine Mehrheit einbüßen und damit die Wiederwahl nach A r t . 63 GG verfehlen kann. Es gibt allerdings Stimmen 7 , die glauben, eine rapide schwindende verfassungspolitische Bedeutung des Instituts der Vertrauensfrage feststellen zu können. I m heutigen System der Herrschaft von festgefügten Parteiblöcken i m Parlament habe der Premierminister den i h m i m Frühstadium des parlamentarischen Systems eingeräumten Spielraum verloren, welcher i h m erlaubt hatte, noch m i t Hilfe wechselnder Gruppierungen der Abgeordneten zu regieren. Solange der Regierungschef m i t seiner Partei über die absolute Mehrheit verfügt, sei das Vertrauensvotum von sehr geringer Bedeutung. Das gleiche gelte auch für den Fall einer Koalitionsregierung. Diese sei durch die Drohung der Vertrauens-

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von Mangoldt—Klein, S. 1304. Wegen der Möglichkeit, die Vertrauensfrage m i t einer Gesetzgebungsvorlage zu verbinden, soll dem opportunistischen Scheinentgegenkommen des Bundestags ein Riegel vorgeschoben werden. 5 Seifert—Geeb, S. 140; Küchenhoff, Günther u n d Erich, S. 176, sprechen von „Bumerangwirkung". 6 s. A r t . 68 I 2 GG; Küchenhoff, Günther u n d Erich, S. 176, sprechen hier v o n abwendbar-resolutiver Mißtrauenslage. 7 Glum (III), S. 47 - 64. 4

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

frage schon deshalb nicht zusammenzuhalten 8 , w e i l dem Bundeskanzler der Nachweis seiner Fähigkeit zur Bildung einer anderen Koalition schwerfallen dürfte. Demgegenüber ist die Erfahrungstatsache anzuführen, daß, ungeachtet der strengen Parteibindungen, keine moderne Partei von Spaltungserscheinungen befreit bleibe 9 . Auch soweit eine Partei die Mehrheit i m Parlament stellt, droht, wie insbesondere das englische Beispiel zeigt 10 , die Gefahr von dissenters dann, wenn die öffentliche Meinung einen Kurswechsel zu verlangen scheint und die Regierung diesen nicht zu vollziehen bereit ist. U m einen drohenden Wechsel i n der Führung zu vermeiden, verbleibt dem Regierungschef nur noch die Möglichkeit, auf die mögliche Auflösung des Unterhauses hinzuweisen. Für eine Koalitionsregierung gelten ähnliche Gesichtspunkte. Der zum Verlassen der Regierung bereite Koalitionspartner 1 1 w i r d sich sehr überlegen, einen kostspieligen Wahlkampf zu bestreiten, i n dessen Verlauf überdies auch der ständig latent vorhandene Vorwurf des Verrats entkräftet werden muß. I n den Händen des Bundeskanzlers ist der Vertrauensantrag auch ein Werkzeug, u m die Vorbereitungen eines konstruktiven Mißtrauensvotums entweder zu zerschlagen, solange sie noch nicht weit gediehen sind, oder an das Licht der Öffentlichkeit zu bringen 12 . Obwohl auch die deutsche Verfassungspraxis den Vollzug des A r t . 68 bislang nicht kennt, widerspricht sie insoweit den Auffassungen Glums von der zurückgetretenen Bedeutung dieses Instituts, da schon mehrere Male die Möglichkeit eines Vertrauensantrags des Bundeskanzlers diskutiert und gefordert wurde 1 3 . Die Bedeutung des Vertrauensantrags für das zukünftige deutsche Verfassungsleben sollte angesichts der Funktion der Parlamentsauflösung i m Rahmen des parlamentarischen Systems, der praktischen Auswirkungen und der Aktualität dieses Instituts, nicht unterschätzt werden 14 . 8

Glum (III), S. 60. Amphoux, S. 458, unter Berufung auf Friesenhahn, S. 16,20 ff. 10 So ging Chamberlain nach dem Scheitern des britischen Expeditionskorps i n Norwegen knapp an einer Abstimmungsniederlage i m Unterhaus vorbei. 11 Meistens die kleinere Partei. 12 s. Amphoux, S. 458. 13 So insbesondere während der Auseinandersetzungen über die deutsche Wiederbewaffnung, der Regierungskrise v o m Herbst 1966 u n d der Frage der von Bundeskanzler Brandt seit seiner W a h l i m Herbst 1969 eingeschlagenen deutschen Ostpolitik. 14 Damit ist das Problem, ob das Grundgesetz weitere Möglichkeiten zur Auflösung des Bundestags bietet, noch nicht geprüft; vgl. hierzu die Ausführungen von Fell, K , Plebiszitäre Einrichtungen i m gegenwärtigen deutschen Staatsrecht, iur. Diss., Bonn 1964, S. 59 ff. 9

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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2. Formale Fragen

A r t . 68 I GG und die ergänzende Regelung des § 103 I Geschäftsordnung des Bundestags sprechen vom „Antrag des Bundeskanzlers". Dem Sinn dieser Vorschrift und der auf den Bundeskanzler konzentrierten parlamentarischen Verantwortung entsprechend, muß die Initiative zum Vertrauensantrag materiell beim Bundeskanzler liegen, der Antrag von diesem ausgehen 15 . Umstritten ist, ob es als Zulässigkeitsvoraussetzung des Vertrauensantrags erforderlich ist, daß der Bundeskanzler den Antrag selbst stellt 1 8 . Dabei ist das „strenge Prinzip" vorzuziehen: der Bundeskanzler stellt selbst den Antrag, wobei es i h m unbenommen bleibt, i h n mündlich oder schriftlich einzubringen. Auf diese Weise w i r d verhindert, daß der Bundeskanzler — auch von seinen politischen Freunden — vor „vollendete Tatsachen" gestellt werden kann. Die Möglichkeit des schriftlichen Verfahrens sichert den Zugang des Antrags auch dann, wenn der Bundeskanzler am persönlichen Erscheinen verhindert sein sollte. Ist der Antrag schriftlich gestellt worden, so w i r d er gedruckt und an die Mitglieder des Bundestags als Drucksache verteilt 1 7 . Die Literatur ist sich darin einig, daß der Bundeskanzler i n seiner Entscheidung darüber, ob und wann er von dem Institut des Vertrauensantrags Gebrauch macht, frei ist und rechtlich nicht verpflichtet werden kann, die Vertrauensfrage zu stellen 18 . Diese richtige Auffassung w i r d durch einen Vergleich der von den A r t . 68 und 81 GG getroffenen Initiativregelungen bestätigt: i m Gegensatz zur Einleitung des Verfahrens zur Verkündung des Gesetzgebungsnotstands, die einen Antrag der Bundesregierung voraussetzt, spricht Art. 68 ausdrücklich von einem „Antrag des Bundeskanzlers". Die Konzentration der parlamentarischen Verantwortlichkeit auf den Regierungschef und die i h m anvertraute Richtlinienkompetenz 19 machen 15 I n der die Geschlossenheit des Kabinetts u n d die überragende Stellung des Bundeskanzlers zum Ausdruck k o m m t ; Nawiasky (IV), S. 99; von Mangoldt—Klein, S. 1307; Nawiasky, ebenda; Giese—Schunck, Erl. I I 1 zu A r t . 68; Hamann, S. 274; so auch Schneider, Harald, i n : V V D S t R L , Heft 8, S. 27, der i m Unterschied zur überkommenen „Kabinettsfrage" die Bezeichnung „ K a n z l e r frage" einführt. 16 So Giese—Schunck, ebenda; Hamann, Abs. I der Erl. zu A r t . 68, S. 274; Seifert—Geeb, S. 140 f.; a. A . von Mangoldt—Klein, S. 1307, der meint, daß der Bundeskanzler den A n t r a g nicht selbst i m Bundestag stellen muß; eine Mittelmeinung vertreten Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 2 i n A r t . 68 GG, ein Vertrauensantrag aus der M i t t e des Bundestages hätte n u r dann Rechtsfolgen, w e n n der Bundeskanzler den A n t r a g — etwa seiner F r a k t i o n — als „seinen eigenen" legitimieren würde. 17 §§ 75, 76 Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags. 18 von Mangoldt—Klein, S. 1307; Schneider, Hans. V V D S t R L , Heft 8, S. 27; Hamann, Abs. I der Erl. zu A r t . 68, S. 274; Ritzeh-Koch, A n m . 1 zu § 103, S. 177; „jederzeit" Küchenhoff, Erich, i n : D Ö V 1967, S. 116 ff., 118; Amphoux, S. 459. 19 Art.65S.lGG.

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den Bundeskanzler 20 zum Gestalter des politischen Programms, auch gegenüber dem Bundestag, der allerdings mehrheitlich das Programm des Bundeskanzlers i n Gesetzesform sanktioniert. Wie bereits dargelegt, zieht der Vertrauensantrag gewisse Rechtsfolgen nach sich, deren Voraussetzungen zu schaffen dem Bundeskanzler aufgrund seiner soeben umschriebenen Befugnisse überlassen bleiben muß. So kann er sogar durch eine der Verwirklichung seines Legislativprogramms dienende Gestzesvorlage, gegen deren Verabschiedung der Bundestag Widerstand leistet 21 , das Parlament zu einer klaren Stellungnahme zwingen. Eine weitere Bestätigung erfährt die Ansicht von der Ermessensfreiheit des Bundeskanzlers hinsichtlich des Vertrauensantrags durch die deutsche Verfassungspraxis. Auf dem Höhepunkt der Regierungskrise 1966 hatten SPD und FDP einen Beschluß des Bundestags 22 herbeigeführt, i n dem Bundeskanzler Erhard ersucht wurde, „dem Bundestag gem. A r t . 68 . . . alsbald einen Antrag vorzulegen, i h m das Vertrauen auszusprechen" 23 . Richtigerweise wurde daraus keine Rechtspflicht gefolgert und der Antrag wurde vom Bundeskanzler nicht gestellt. Gleichzeitig entbrannte aber ein Streit u m die Zulässigkeit eines solchen Antrags 2 4 . Die damaligen Ereignisse zeigen, daß es sich bei einem derartigen Beschluß nicht mehr u m eine bloße Mißbilligungsäußerung des Bundestags handelte. Da dem Bundeskanzler die Stellung des Vertrauensantrags offensichtlich i n der Erwartung nahegelegt wurde, daß er das geforderte Vertrauen nicht erhalten würde, kann immerhin nicht ausgeschlossen werden, daß m i t dem Beschluß der nicht aussichtsreiche Weg i m Verfahren nach A r t . 67 umgangen und ein faktisches Mißtrauensvotum erreicht werden sollte. Ein solches Verfahren wäre aber wegen der Monopollösung des A r t . 67 m i t der Verfassung nicht zu vereinbaren. Ein parlamentarisches Ersuchen an den Bundeskanzler m i t der über eine politische Willensäußerung hinausreichenden Zielsetzung, wie es der Beschluß des deutschen Bundestags am 8.11.1966 enthielt, dürfte damit unzulässig sein 25 . 20

Z u m H e r r n des politischen Programms, Starck, S. 108. Friesenhahn, S. 36,48 f. 22 V o m 8.11.1966. 23 Küchenhoff, Erich. Mißtrauensantrag u n d Vertrauensfrageersuchen — zwei zulässige M i t t e l parlamentarischer Regierungskontrolle i n unterschiedlichen Funktionen, i n D Ö V 1967, S. 116 ff. 24 So auch die Ansicht der Bundesregierung — Bundeskanzler Erhard — am Ende der Sachdebatte i n dieser Sitzung, Sten.-Berichte S. 3303 C u n d D, der CDU/CSU — Abgeordneter Barzel; i n der Sachdebatte ebenda, S. 3300 D bis 3301 A , u n d einige Publizisten; vgl. Küchenhoff, Erich, S. 117, A n m . 5; a. A . Abgeordneter Mommer i n der Begründung der Antragsteller auf E r gänzung der Tagesordnung, Steno-Bericht S. 3280 B/C; Genscher, ebenda, Sten.-Ber. S. 3281 C; Wehner, ebenda, Sten.-Ber. S. 3296 D, 3297 B, 3298 Β undD. 25 Nämlich der tatsächliche Rücktritt des Bundeskanzlers. 21

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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I I . Reaktion des Bundestags

1. Die Abstimmung Das Grundgesetz sieht ebenso wie i n seinem A r t . 67 I I auch i n Abs. I I des A r t . 68 sowie § 103 I Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags ein „spatium deliberandi" vor, u m emotional betonte Beschlüsse zu vermeiden und dafür zu sorgen, daß eine größtmögliche Anzahl von Abgeordneten an der Abstimmung teilnehmen kann 1 . Für die Berechnung der 48-Stunden-Frist ist hier ebenfalls die vom BGB getroffene Regelung 2 maßgebend; der Tag, an dem der Antrag gestellt wurde, w i r d daher gem. § 187 I BGB nicht mitgerechnet. Ist der Antrag schriftlich gestellt worden, so kann die Abstimmung wegen § 187 I BGB erst am Tage nach der Verteilung der Drucksache stattfinden; dieses Ergebnis steht auch i m Einklang m i t § 77 I I Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags, wonach Beratungen grundsätzlich erst am dritten Tage nach Verteilung der Drucksache beginnen. Neben der einzuhaltenden Mindestfrist des A r t . 68 I I GG ist ein Höchstzeitraum für die Herbeiführung der Abstimmung nicht festgelegt. Jellinek 3 , der auf die 4-Wochen-Frist des § 81 I I 2 GG verweist, nach deren Ablauf das passive Verhalten des Bundestags als Ablehnung gilt, hält es für zweckmäßig, dem Bundestag für die Stellungnahme zum A n trag des Bundeskanzlers durch die Geschäftsordnung ebenfalls eine Frist zu setzen; sein dahingehender Vorschlag 4 lautet: „Findet ein A n trag des Bundeskanzlers, i h m das Vertrauen auszusprechen, nicht innerhalb einer angemessenen, durch die Geschäftsordnung des Bundestags bestimmbaren Frist die Z u s t i m m u n g . . . " . Die Gedanken Jellineks w u r den zwar von anderen Vertretern der Lehre übernommen 5 , haben aber bislang keinen Eingang i n die Geschäftsordnung des Bundestags gefunden. Die Jellineksche Lösung berücksichtigt, daß es sich beim Recht des Bundestags zur Stellungnahme gleichzeitig u m eine Pflicht zur Wahrnehmung der Zuständigkeit handelt. Die Gleichbehandlung von Ablehnung und Passivität m i t den Rechtsfolgen der Auflösung oder des Gesetzgebungsnotstandes ist daher gerechtfertigt. Uber den Vertrauensantrag ist eine Aussprache zulässig®. Von Mangoldt-Klein betont rich1 Giese—Schunck, Erl. I I 5 zu A r t . 68 GG; Seifert—Geeb, goldt—Klein, S.1308.

2

3

S. 140; von

Man-

§186 ff.

ff), S.11. 4 Jellinek, Walter (II), S. 12. 5 Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 2 i n A r t . 68; Meder, Erl. I I i n A r t . 68; Amphoux, S. 640. β Giese—Schunck, Erl. I I c zu A r t . 68; Meder, Erl. I I 2 zu A r t . 68; Amphoux, S. 461; Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 6 zu A r t . 68 GG.

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

tigerweise die Unterrichtungsfunktion 7 einer öffentlichen Parlamentsdebatte und erinnert an „das Recht der Öffentlichkeit, über die Beweggründe für eine so wichtige politische Entscheidung unterrichtet zu werden". Die Aussprache kennt den Lauf der Frist nicht. Die Rechtslage entspricht i n diesem Punkt derjenigen i n A r t . 67 I I ; insbesondere w i r d dadurch verhindert, daß der Bundestag seine Stellungnahme und die dadurch entstehenden Folgen w i l l k ü r l i c h hinausschieben kann. Für die Annahme eines Antrags des Bundeskanzlers, i h m das Vertrauen auszusprechen, ist die Zustimmung der Mehrheit der gesetzlichen Mitglieder des Bundestags erforderlich 8 . Da eine dem § 4 I I Geschäftsordnung des Bundestags entsprechende Bestimmung, die die Wahl des Bundeskanzlers m i t verdeckten Stimmzetteln vorschreibt, hinsichtlich der Abstimmung über den Vertrauensantrag fehlt, ist, soweit nicht namentliche Abstimmung 9 beantragt wird, wegen des Erfordernisses der qualifizierten Mehrheit die Beschlußfähigkeit vom Präsidenten des Bundestages durch ausdrückliche Erklärung festzustellen 10 . 2. Entwicklungsmöglichkeiten nach der Abstimmung

I m Gegensatz zur Verfassung von Weimar, wo vom verfassungsgewohnheitsrechtlich entwickelten Institut der Vertrauensfrage keine unmittelbaren, rechtlichen Wirkungen ausgingen 11 , verbindet das Grundgesetz m i t der Abstimmung über den Vertrauensantrag des Bundeskanzlers unmittelbar i n A r t . 68 und 81 geregelte Rechtsfolgen. Dem Bundestag stehen, da das „Schweigen" des Parlaments als Ablehnung gewertet wird, zunächst zwei Verhaltensalternativen zur Verfügung, die sich bei negativem Ausgang der Abstimmung allerdings vermehren. a) Die Annahme Findet der Antrag des Bundeskanzlers die vorgeschriebene Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl, so hat dies zwei A r t e n von Folgen, rechtliche und politische: Politisch erfährt der Bundeskanzler einen Prestigegewinn, der vielleicht schon angeschlagen scheinende Regierungschef w i r d „rehabilitiert" und findet einen Rückhalt für seine amtliche Tätigkeit 1 2 , der wegen der Möglichkeit eines Junktims zwischen Vertrauensfrage und Gesetzesvorlage nicht bloß vordergründiger Natur zu sein braucht. 7 8 9 10 11 12

Bagehot, S. 152. A r t . 68 I i n Verbindung m i t A r t . 121 GG. § 57 der Geschäftsordnung des Bundestags. § 49 I I Geschäftsordnung des Bundestags. Amphoux, S. 461. Nawiasky (IV), S. 101,

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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I n rechtlicher Hinsicht sind — da das Tatbestandsmerkmal „nicht die Zustimmung finden" des A r t . 68 nicht erfüllt worden ist — die von A r t . 68 und 81 dem Bundeskanzler oder der Bundesregierung eröffneten Wege abgeschnitten. b) Die Ablehnung Sollte der Vertrauensantrag vom Bundestag negativ verbeschieden worden sein — sei es, daß i h n die Mitgliedsmehrheit ablehnte, sei es, daß der Antrag nur die Unterstützung der bloßen „Abstimmungsmehrheit" fand, so sind folgende Alternativen denkbar: Rücktritt des Bundeskanzlers, Möglichkeit der Bundestagsauflösung, Abstandnahme davon oder Erlöschen des Auflösungsrechts infolge Neuwahl des Bundeskanzlers, und schließlich die Erklärung des Gesetzgebungsnotstands. 1. Die NichtZustimmung des Bundestags stellt kein „Mißtrauensvotum" dar, das den Bundeskanzler zum Rücktritt verpflichten würde. Dem Bundeskanzler steht es aber frei, jederzeit, also auch i n dieser Situation, zurückzutreten. Der Bundespräsident kann i h n daraufhin u m Weiterführung der Geschäfte gemäß Art. 69 I I I GG ersuchen 13 . T r i t t der Bundeskanzler aber nicht zurück, so bleibt er „ m i t ungeschmälerter verfassungsrechtlicher Stellung" 1 4 weiterhin i m Amt. 2. Der Bundeskanzler kann — gemeinsam m i t den übrigen Mitgliedern des Kabinetts — gemäß A r t . 81 GG den Antrag auf Erklärung des Gesetzgebungsnotstands herbeiführen. 3. Der Bundeskanzler hat nach A r t . 68 1 1 GG das Recht, dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestags vorzuschlagen 15 . Die Befugnis zur Auflösung des Bundestags erlischt nach Ablauf einer kurzen Frist von 21 Tagen 18 . Die Bedrohung durch die Auflösung soll befristet sein 17 . Der Tag der Abstimmung w i r d dabei nicht mitgerechnet 18 . Das Recht zur Auflösung des Bundestags erlischt auch, wenn der von der Ablehnung seines Vertrauensantrags betroffene Bundeskanzler zurückgetreten ist 1 9 . 13 Nawiasky, Der Einfluß des Bundespräsidenten auf B i l d u n g u n d Bestand der Bundesregierung, D Ö V 1950, S. 161 u n d 162. 1966 wurde der Vertrauensantrag zwar nicht gestellt, aber w o h l durch das Vertrauensfrage-Ersuchen v o n SPD u n d F D P „ a n t i z i p i e r t " ; Erhard w a r auf diese Weise zum Minderheitenkanzler geworden, wurde aber erst am Tage der W a h l seines Nachfolgers entlassen. 14 von Mangoldt—Klein, S. 1309. 15 Die rechtliche Stellung v o n Bundespräsident u n d Bundeskanzler bei der Entscheidung über die Auflösung w i r d eingehend auf 2. Teil, 2. Kap. C, 3. A b schnitt (III), besprochen; die diesbezügliche Auslegung des A r t . 68 hat sehr weitgehende Folgen. 16 A r t . 681 GG. 17 Eschenburg (III), S. 643. 18 Entsprechend der Regelung des § 187 I BGB, vgl. auch Maunz—Dürig— Herzog, Rdz. 5 zu A r t . 68. 19 von Mangoldt—Klein, S. 1310.

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I I . Teil, 2. Kap. : Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

Die ratio legis des A r t . 68 GG hat zum Ziel, einem amtierenden M i n derheitenkanzler die Möglichkeit des Appells an die Wählerschaft zu verschaffen und damit die Chance zu gewähren, wieder zum Mehrheitskanzler zu werden, mindestens aber ein Weiteramtieren bis zum Zusammentritt eines neuen Bundestags zu ermöglichen 20 . Es ist auch vorstellbar, daß ein i n der eben geschilderten Weise zurückgetretener Bundeskanzler wiedergewählt w i r d ; das Wahl verfahren bestimmt sich dann nach A r t . 63 GG 2 1 . Das Recht zur Auflösung ist dann bereits mit dem Rücktritt des Bundeskanzlers erloschen 22 . Das Auflösungsrecht erlischt aber vor allem dann, „sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler w ä h l t " 2 3 . A r t . 68 enthält dabei keine Vorschriften über das bei dieser Wahl anzuwendende Verfahren. Dem Bundestag ist hier das M i t t e l i n die Hand gelegt, u m durch eine „parlamentarische Krisenlösung" 2 4 die Auflösung abzuwenden. Letztlich soll damit ein Anreiz für das Parlament geschaffen werden, einen nochmaligen Versuch zur Wiedererlangung der parlamentarischen Arbeitsfähigkeit zu unternehmen. Maunz—Dürig—Herzog 25 sprechen von zwei Neuwahlmöglichkeiten, die nebeneinander liefen und nicht miteinander identisch seien: einmal die Abberufung des Bundeskanzlers nach A r t . 67 GG, zum anderen die Neuwahl des Kanzlers gemäß A r t . 6812 GG. Daß beide Möglichkeiten nebeneinander bestehen, gehe nicht zuletzt auch aus der verschiedenen Bezeichnung, „Nachfolger" i n A r t . 67 und „anderer Bundeskanzler" i n A r t . 68, hervor 2 8 . Die den A r t 68 GG insoweit ergänzende Bestimmung des § 103 I I Geschäftsordnung des Bundestags 27 verweist über §98 I I I Geschäftsordnung des Bundestags auf das für den „Kanzleraustausch" i m Wege des A r t . 67 vorgesehene Verfahren, das somit für beide Möglichkeiten einer Kanzlerwahl i m Rahmen des A r t . 68 Geltung hat und auf dessen verfahrensrechtliche Einzelheiten hier verwiesen werden kann 2 8 . Der Unterschied der beiden Neuwahlmöglichkeiten liegt also nicht i n ihrem A b lauf, sondern i n dem mit ihnen verfolgten Ziel: jede Neuwahl gemäß 20

von Mangoldt—Klein, ebenda. Meder, Erl. I I 7 zu A r t . 68. 22 von Mangoldt—Klein, S. 1311; a. A. Meder, ebenda. 23 A r t . 6812. 24 Seifert—Geeb, Abs. I der Erl. zu A r t . 68, S. 140. 25 Rdz. 5 zu A r t . 68 GG. 26 Ebenda. 27 „Findet der A n t r a g nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestags, so k a n n der Bundestag binnen 21 Tagen auf A n t r a g v o n einem Viertel der Mitglieder des Bundestags gemäß § 98 Abs. 3 einen anderen Bundeskanzler wählen." 28 Vgl. die Ausführungen oben 2. Teil, 2. Kap., 2. Abschnitt, 21

3. Abschn. : Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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A r t . 68 I 2 GG stellt sich wegen §§ 193 I I i n Verbindung m i t 98 I I I Geschäftsordnung des Bundestags als ein Kanzlertausch-Verfahren und damit als eine Anwendung des A r t . 67 GG dar, soweit nicht der bisherige Bundeskanzler mit der Mehrheit der gesetzlichen Mitgliederzahl wiedergewählt ist 2 9 . Während i n den genannten beiden Fällen das Auflösungsrecht erlischt, hat eine Bestätigung des alten Bundeskanzlers mit bloß relativer Mehrheit nur politische, aber keine rechtlichen Folgen; das Auflösungsrecht und die Möglichkeit der Erklärung des Gesetzgebungsnotstands bestehen unverändert weiter. I n diesem Zusammenhang ist die Frage umstritten, ob der Bundestag auch dann sofort aufgelöst ist, wenn i h m die Auflösungsverfügung während der Wahlhandlung zugeht. Von Mangoldt 3 0 w i l l die Auflösung nur bis zum Beginn des Wahlakts zulassen. Er entnimmt dies der Formulierung: „ sobald der Bundestag... w ä h l t " i n A r t . 68 I 2 GG und der Konzeption des Grundgesetzes. Die Auflösung sei nur als letztes M i t t e l gedacht 31 , wenn sich eine Regierungskrise nicht mehr auf anderem Wege lösen lasse. Auch Jellinek 3 2 lehnt die Zulässigkeit der Auflösung während des Wahlakts scharf ab und erinnert an das „unwürdige Schauspiel" zwischen Papen und Göring bei der Reichstags-Auflösung vom 12. September 193233. Es sei nicht fair, den Bundestag durch Auflösung daran zu hindern, einen neuen Bundeskanzler zu wählen oder dem alten das Vertrauen nachträglich auszusprechen, wenn er sich dazu schon einmal angeschickt habe. Tatsächlich ist die von A r t . 68 I 2 GG gebrauchte Formulierung: „sobald der Bundestag m i t der Mehrheit seiner Mitglieder wählt" mißdeutbar und kann auf den Beginn, den Verlauf und das Ende der Wahlhandlung bezogen werden. Gleichzeitig statuiert die Bestimmung aber, indem sie das Erlöschen des Auflösungsrechts dann eintreten läßt, „so29 Was wegen der unterschiedlichen Formulierungen i n A r t . 67 u n d 68 möglich ist, so Meder, Erl. I I zu A r t . 68 GG; u n d Jellinek, W., S. 65; Maunz— Dürig—Herzog, Rdz. 5 zu A r t . 68 GG. 30 von Mangoldt, S. 362. 31 So auch Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 7 zu A r t . 68, „die Auflösung des Bundestags sei nach dem W i l l e n des Grundgesetzes ,ultima ratio 4 , es solle ein Wettlauf zwischen dem Bundestag einerseits u n d Bundeskanzler u n d Bundespräsident andererseits ausgeschlossen werden". 32 Jellinek, Walter (I), S. 11/12; (II) S. 383. 33 Von Papen hatte v o m Reichspräsidenten eine Auflösungsverfügung (RGBl. I, S. 441) e r w i r k t u n d diese i n der Reichstagssitzung v o m 12. September auf den Tisch des Reichstagspräsidenten gelegt, während das Plenum über den Mißtrauensantrag abstimmte, wodurch der Reichstag aufgelöst war, bevor das Mißtrauen rechtswirksam ausgesprochen werden konnte. Z u den dabei berührten verfassungsrechtlichen Fragen siehe Fricke, H., „Die Reichstags-Auflösungen des Jahres 1932 u n d das parlamentarische System der W e i marer Republik", i n : Der Staat, 1. Bd. 1962, Heft 1/4, S. 199 - 224.

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

bald der Bundestag m i t der Mehrheit seiner Mitglieder wählt", eine Bedingung, die erst nach Feststellung des Wahlergebnisses erfüllbar ist 3 4 . I m übrigen verfolgt der Vertrauensantrag nach dem Willen des Grundgesetzes auch den Zweck, den Bundestag zu einer klaren Stellungnahme zu veranlassen und bei negativem Ergebnis der Exekutive M i t tel gegen den Parlamentsabsolutismus zu verschaffen. Zwar fordert das Grundgesetz die Fähigkeit des Parlaments zur Mehrheitsbildung; da diese aber während des Wahlgangs i m Rahmen des A r t . 68 I 2 nicht erkennbar ist, fragt Koellreutter 3 5 zu Recht, warum die Möglichkeit der Auflösung hier zurücktreten solle. Das Auflösungsrecht erlischt somit erst mit Verkündung des positiven Wahlergebnisses durch den Präsidenten des Bundestages 36 . Desgleichen t r i t t m i t der rechtswirksamen Auflösung die Unzulässigkeit sämtlicher Abschnitte einer Wahlhandlung ein 37 . Die Auflösungsverfügung 38 w i r d wirksam, sobald sie nach Gegenzeichnung durch den Bundeskanzler 39 vom Bundestag empfangen wurde, i h m also i n der Regel i n einer Plenarsitzung mündlich mitgeteilt oder dem Präsidenten des Bundestages schriftlich zugestellt worden ist 4 0 . M i t dem Wirksamwerden der Auflösungsverfügung endet die Wahlperiode des Bundestages vorzeitig. Alle Rechte des Bundestages erlöschen, es beginnt die Frist von 60 Tagen zu laufen, welche für die Neuwahlen zur Verfügung steht. Nach dem Grundgesetz können nach der Auflösung des Bundestages immerhin über 90 Tage verstreichen, bevor der neugewählte Bundestag zusammentritt 41 . Zur Uberbrückung der Frist zwischen zwei Wahlperioden bestellt der Bundestag einen ständigen Ausschuß 42 als „parlamentarisches Hilfsorgan" m i t beschränkter Wirkungsdauer 4 3 zur Wahrung der Rechte des Parlaments gegenüber der Bundesregierung. 34 So siehe Meder, Erl. I I 6 zu 68, der betont, daß während der W a h l noch nicht übersehen werden könne, ob die vorgeschriebene Mehrheit zustande kommt. 35 (II), S. 209. 36 E i n solches Ergebnis schneidet dem Bundestag insofern ein M i t t e l der Obstruktion ab, als die Auflösung nicht abhängig ist v o n der Beendigung des Wahlganges, welche j a hinausgezögert werden kann. 37 von Mangoldt—Klein, S. 1312. 38 Z u r Rechtsnatur vgl. die Ausführungen oben 1. Teil, 2. Kap., C, 3. A b schnitt I I , 1. 39 A r t . 58, S. 1 GG. 40 Dieser F a l l wurde bedeutsam i n der Auflösung des deutschen Reichstags v o m 12. 9.1932, als Reichskanzler v o n Papen durch Niederlegung der präsidialen Auflösungsorder auf den Tisch des Reichspräsidenten die A u f lösung des Reichstags b e w i r k t hatte. 41 A r t . 3913; I I GG. 42 A r t . 45 GG. 43 Maunz—Dürig—Herzog, Rdz. 4 zu A r t . 45 GG.

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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Dabei stellt A r t . 45 I I GG durch seine nicht vollständige, exemplarische Aufzählung der dem Ständigen Ausschuß nicht zustehenden Befugnisse klar, daß dieser die Rechte des Bundestages nur zu wahren, aber nicht zu verändern hat, und der Ausschuß einem „generellen Verbot irreparabler Maßnahmen unterworfen ist" 4 4 . Da dem Ausschuß ausdrücklich die Wahl des Bundeskanzlers entzogen ist, muß aus den systematischen Zusammenhängen der Verfassung gefolgert werden, daß dem Ausschuß das Recht des Mißtrauensvotums 45 und die Entscheidung über einen Vertrauensantrag 4® nicht zur Verfügung steht. Wie dargelegt, entsteht m i t der Auflösung gemäß A r t . 68 ein Vakuum i n der parlamentarischen Kontrolle: die Rechte des Bundestages sind erloschen, und die Möglichkeit der Abberufung des Bundeskanzlers, die dem Parlament i n A r t . 67 GG zur Verfügung steht, ist vom Ausschuß nicht realisierbar. Das Grundgesetz kennt Anklageverfahren zwar gegen den Bundespräsidenten 47 und gegen Bundesrichter 48 , nicht aber gegen den Bundeskanzler. Das Problem w i r d deutlich, wenn man die Möglichkeit eines Verfassungsbruchs durch den Bundeskanzler i n der Zeitspanne zwischen Auflösung und Neuzusammentritt des Bundestages betrachtet: auf den ersten Blick scheint das Grundgesetz für diesen Fall keine Möglichkeit einer Amtsenthebung des Bundeskanzlers anzubieten. Wie i n den Ausführungen zur entsprechenden Frage i n der englischen Verfassungstheorie sowie zu der durch die Systemnormativität des parlamentarischen Systems gebotenen funktionalen Rolle des Staatsoberhaupts dargelegt worden ist, wächst dem Staatsoberhaupt i n den Situationen Reservemacht zu, wo ein Krisenfall das Zusammenwirken der Staatsorgane lähmt oder ein Verfassungsbruch die staatliche Ordnung bedroht. Für Großbritannien bedeutet dies, daß bei einem Verfassungsbruch durch den Premierminister i m Zeitraum zwischen Auflösung des Unterhauses und dessen Neuzusammentritt die alte, konstitutionelle Abhängigkeit des Regierungschefs vom Monarchen i m ursprünglichen Rahmen wieder auflebt und das durch den Wegfall parlamentarischer Kontrolle entstandene Vakuum füllt. Die Reservemacht schiebt den Ermessensbereich des Monarchen bis zu den äußersten Grenzen des legalen Bereichs hinaus. I n konstitutioneller Weise ist jetzt der Monarch berechtigt, den Premierminister — materiell — zu entlassen und gleichzeitig verpflichtet, unverzüglich einen Amtsnachfolger zu berufen; letzteres Recht ist dabei allerdings zum Formalakt ausgehöhlt, da sämtliche Parteien i n einem formalen Wahlgang ihren Kandidaten bestellen. 44 45 46 47 48

Maunz—Dürig—Herzog, A r t . 67 GG. A r t . 68 GG. A r t . 61 GG. A r t . 98 GG.

Rdz. 10 zu A r t . 45 GG.

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsencie der deutschen Regierungschefs (C)

Der Kandidat der regierungsberechtigten Partei w i r d daraufhin vom Monarchen ernannt. Die Ernennung nach Vollzug der konstitutionellen Entlassung unterscheidet sich dadurch nicht von der Ernennung nach einem freiwilligen Rücktritt des Premiers während der Legislaturperiode. Das deutsche Grundgesetz sucht die Systemnormativität parlamentarischer Regierungsweise möglichst zu verwirklichen. Aus diesem Bestreben heraus hat auch die präsidiale Reservemacht Eingang i n die Verfassung gefunden 49 . Die Entscheidungsgewalt über das Amtsende des Bundeskanzlers wurde jedoch ausschließlich dem Parlament vorbehalten 5 0 ; der Bundespräsident handelt hier i m Rahmen seiner Vollzugsfunktion, wenn er die Entscheidungen des Bundestags vollzieht; ein eigenes Ermessen ist i h m dabei nicht eingeräumt. I m Gegensatz zum konstitutionellen Prinzip hat der Bundespräsident den Kanzler also dann zu entlassen, wenn die übrigen Voraussetzungen 51 erfüllt sind. M i t der Auflösung des Bundestages fehlen also parlamentarische und sonstige, den Bestand der Regierung berührende Sanktionsmöglichkeiten — eine von der Verfassung nicht (ausdrücklich) geschlossene Lücke, die wegen der relativ langen Zeit von maximal 90 Tagen gefährliche Entwicklungen beinhalten könnte. Zur Schließung der Lücke kommen zwei Wege i n Frage, deren Verfassungskonformität zu prüfen ist: Einmal wäre denkbar, dem Bundespräsidenten für die „parlamentslose" Zeit ein durch die reaktivierte Reservemacht legitimiertes materielles Kanzlerentlassungsrecht für den Fall eines von Seiten des Bundeskanzlers drohenden Verfassungsbruchs zuzusprechen. Diese konstitutionelle Lösung scheitert jedoch an dem ausdrücklich verankerten Abberufungsmonopol des Bundestages und dem klaren Wortlaut der die bloße formale Vollzugsfunktion der bei der Bundeskanzler-Entlassung begrenzenden Bestimmung. A r t . 67 ist keine „konstitutionell auffüllbare" Rahmenbestimmung, wie es A r t . 53 W V 5 2 war, dessen Wortlaut bei bloßer philologischer Interpretation nicht behilflich sein konnte, u m formelle Zuständigkeit und materielle Befugnis zu unterscheiden. Eine Lösung i m oben beschriebenen Sinne scheidet daher, w e i l verfassungswidrig, aus. Ihre Einführung de lege ferenda wäre wegen der Schwierigkeit, sie verfassungsmäßig zu formulieren, schwer durchführbar. Eine weitere Möglichkeit w i r d durch die Einschaltung des nach A r t . 45 Grundgesetz zwischen zwei Legislaturperioden zu bestellenden, ständigen Ausschusses, eröffnet: § 63 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes 49

Siehe das Hauptbeispiel A r t . 63 I V GG. A r t . 67 GG. Tatbestand des A r t i k e l 67 GG. 52 Der Reichskanzler, u n d auf seinen Vorschlag die Reichsminister, werden v o m Reichspräsident ernannt u n d entlassen. 50

51

3. Abschn. : Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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bezeichnet den Ausschuß nach A r t . 45 Grundgesetz als fähig, Antragsteller und Antragsgegner i n den Fällen des § 13 Nr. 5 BVerfGG — Organstreitverfahren nach A r t . 93 I x GG — zu sein. Schwierigkeiten bereitet dabei zunächst § 63 BVerfGG, der nicht den Bundeskanzler, sondern nur die Bundesregierung als parteifähig bezeichnet, und es unterläßt, die Geschäftsordnung der Bundesregierung neben den Geschäftsordnungen von Bundestag und Bundesrat aufzuführen, damit aber den Kreis der Parteifähigen des § 93 GG einschränken 53 und gleichzeitig der die Aufzählung des Grundgesetzes wiederholenden Bestimmung des § 12 Nr. 5 BVerfGG widersprechen würde. Da der Bundeskanzler einen i n der Geschäftsordnung der Bundesregierung 54 mit eigenen Rechten ausgestatteten Teil des obersten Bundesorgan darstellt, ist er i m Organstreitverfahren parteifähig. Die Entscheidung ergeht als verfassungsgerichtliches „Feststellungsurteil" 5 5 und ist gemäß § 35 BVerfGG vollstreckbar. I n Anwendung des Rechtsgedankens des §894 ZPO gilt m i t verkündetem Urteil die an den Bundespräsidenten zu richtende Rücktrittserklärung als abgegeben5®. Der Bundespräsident ist daraufhin — wie beim freiwilligen Rücktritt des Bundeskanzlers — verpflichtet, den Rücktritt anzunehmen und den Bundeskanzler zu entlassen 57 . Dabei stellt sich das Problem, wie die m i t der Entlassung des Bundeskanzlers entstandene Verwaisung i m A m t des Bundeskanzlers beseitigt werden kann. Eine Wahl nach A r t . 63 des Grundgesetzes ist infolge des aufgelösten Bundestages und mangels Befugnis des ständigen Ausschusses58 nicht möglich. Dem Bundespräsidenten steht aber auch wegen A r t . 63 kein materielles Benennungsrecht zu; i h m sind nur der Vorschlag und die formale Ernennung nach der Wahl übertragen. Ein Ersuchen des verfassungsgerichtlich zum Rücktritt gezwungenen Bundeskanzlers u m Weiterführung der Geschäfte gemäß A r t . 69 I I I des Grundgesetzes wäre sinnwidrig. U m die hier aufgetauchte, weitere Verfassungslücke zu schließen, bietet sich als einzige Lösung an, dem Bundespräsidenten eine außerordentliche, materielle Ernennungsbefugnis ohne vorherige parlamentarische Wahl anzuvertrauen 59 . Seine Rechtfertigung findet dieser Weg zum Teil bereits i n A r t . 63 I V des Grundgesetzes, wo dem Bundespräsidenten Reservemacht zuwächst, u m die teilweise nicht zu erzeugende, quali58

Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans. §§ 63, 67, 65, 64, 68 GG; insbesondere §§ 1 - 7, 22 I GeschOBT. 55 §67 BVerfGG. 56 Nawiasky (IV), S. 98. 57 Jellinek, Georg, Kabinettsfrage und Gesetzgebungsnotstand DÖV 1949, S. 383; Münch, S. 183; Amphoux, S. 144. 58 Vgl. A r t . 45 Abs. 2 GG. 59 Vgl. von Mangoldt—Klein, A n m . V 3 = S. 1321 f. 54

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. Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

tative parlamentarische Legitimation durch die Benennung zu ersetzen. Da hier die Störung der staatlichen Kontinuität auf parlamentarischem Wege nicht zu beseitigen ist, muß die Reservemacht des Bundespräsidenten zu höchster Entfaltung kommen. Aus ihr fließt das Recht des Bundespräsidenten, einen Bundeskanzler für die Ubergangszeit bis zum Amtsantritt des neuen Bundeskanzlers und zur Neuwahl gemäß A r t . 63 des Grundgesetzes zu ernennen 60 . Es bleibt noch die Frage nach einem möglichen Auswahlermessen und seinen Begrenzungen. Auch wenn ein Bundestag i m Augenblick der Benennung des Bundeskanzlers nicht vorhanden ist, so ergeben sich doch unter Heranziehung der Ergebnisse der englischen Theorie folgende Gesichtspunkte: Das aufgelöste Parlament hatte den entlassenen Bundeskanzler gewählt, und, obwohl sich Bundestag und Bundeskanzler zunehmend entfremdet hatten, war der offene Kanzlersturz nach A r t . 67 des Grundgesetzes nicht gelungen, die Regierung also vom Parlament noch „geduldet". Das Auswahlermessen des Bundespräsidenten ist nun i n politischer Hinsicht i n der Weise eingeengt, als diese parlamentarische „Duldung" bis zum Zusammentritt des neuen Bundestags unterstellt wird, woraus folgt, daß der Bundespräsident den Kanzler den bisherigen Koalitionspartnern entnehmen wird. Eine weitere Beschränkung ist i n personeller Hinsicht anzunehmen: Die Regelung des A r t . 69 des Grundgesetzes sieht 61 grundsätzlich vor, daß die Geschäftsregierung personell aus der bisherigen Regierung entsteht 62 . Aus diesem und auch aus dem Grund der politischen Erfahrung w i r d es oft angebracht sein, den bisherigen Vizekanzler zu berufen, der dann, soweit möglich, die alten Kabinettsmitglieder dem Bundespräsidenten wieder zur Ernennung vorschlagen w i r d 6 8 . I I I . D i e Entscheidung über die Auflösung — Positionen von Bundespräsident und Bundeskanzler

1. Problemstellung Das Grundgesetz sieht i n zwei Bestimmungen — A r t . 63 I V und A r t . 68 — die Möglichkeit einer Auflösung des Bundestages vor. Die Auflösung gemäß A r t . 63 I V des Grundgesetzes kann bei der Wahl des Bundeskanzlers realisiert werden: erreicht i m letzten Wahlgang der 60 Auch 69 I I I GG ist hier Ausfluß der K o n t i n u i t ä t s f u n k t i o n des Bundespräsidenten. 61 Aus den obengenannten verfassungsrechtlichen Gründen. 62 Die ursprüngliche parlamentarische Legitimation w i r d weiter u n t e r stellt. 88 A r t . 64 1, GG.

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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Gewählte nicht die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so steht dem Bundespräsidenten ein Alternativermessen zu zwischen der Ernennung des Gewählten 1 und der Auflösung des Parlaments. Neben der Parlamentsauflösung anläßlich der Wahl eines Minderheitenkanzlers gemäß A r t . 63 I V regelt das Grundgesetz eine weitere A r t der Auflösung i n A r t . 68: Lehnt der Bundestag einen Antrag des Bundeskanzlers ab, i h m das Vertrauen auszusprechen, und wählt er keinen neuen Bundeskanzler, so kann der bisherige Bundeskanzler dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen. Die Frage nach dem eigentlichen Träger der Entscheidung über die Auflösung stößt insofern auf Schwierigkeiten i n der Beantwortung, als das Recht der Auflösung gemäß dem Wortlaut des A r t . 68 dem Bundespräsidenten i n die Hand gegeben ist und damit an einen dem Bundespräsidenten eingeräumten Ermessensspielraum gedacht werden könnte. Wie verschiedene andere Bestimmungen des Grundgesetzes, welche die Zuständigkeiten des Bundespräsidenten regeln, hat auch A r t . 68 des Grundgesetzes keine eindeutige Formulierung gefunden 2 . Während bei der Auflösung nach A r t . 63 I V des Grundgesetzes der Bundespräsident Initiator wie Entscheidungsinhaber und Vollstrecker ist, übernimmt er bei der Auflösung nach abgelehntem Vertrauensantrag des Bundeskanzlers nach dem Wortlaut des A r t . 68 neben dem formalen Vollzug der Auflösung noch die Rolle des „negativen Entscheidungsteilhabers" 3 . Es sind folgende Hauptübergangsstufen vom beratenden zum beschließenden Organ, zwischen dem bloßen Rat und der vollen Entscheidungsgewalt, zu unterscheiden: I. IL III. IV. V.

Beratung ohne Entscheidungsteilhabe Negative Entscheidunsgteilhabe des „Ratgebers" Positive Entscheidungsteilhabe des „Ratgebers" Negative Entscheidungsteilhabe des „Entscheidenden" Alleinentscheidungsrecht des „Ratgebers" 4

Das bedeutet, daß der Antrag des Bundeskanzlers die „conditio sine qua non" bildet für die Auflösung durch den Bundespräsidenten. Die Auflösung aus eigener Initiative ist dem Bundespräsidenten i m Rahmen des A r t . 68 verwehrt; die Regelung des Grundgesetzes gleicht hier der eng1 Die Ernennung durch den Bundespräsidenten w i r k t hier als „ L e g i t i m a tionssurrogat" der teilweise fehlenden parlamentarischen Unterstützung des Kandidaten. 2 So betont Seidl-Hohenveidern, i n V V D S t R L , 25, S. 212: „Die positiv-rechtlichen Bestimmungen über die Macht des Bundespräsidenten sind so zweideutig, daß man n u r m i t rechtstheoretischen Überlegungen ihnen einen k o n kreten Sinn schenken kann."

3 4

3

Schlötterer, S. 7. Schlötterer, S. 73 ff.

Lippert

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I I . Teil, 2. Kap.: Das Amtsende der deutschen Regierungschefs (C)

lischen Verfassung: seit 1834 hat es dort keinen Fall gegeben, i n dem der König aus eigener Initiative das Parlament aufgelöst hat 5 . Bei der Entscheidung über die Frage des Antrags auf Auflösung übt der Bundeskanzler unbeschränktes Ermessen aus; er ist weder verpflichtet, dem Bundestag den Vertrauensantrag vorzulegen®, noch nach dessen Ablehnung den Auflösungsantrag zu stellen. Infolge des Erfordernisses der Gegenzeichnung kann der Bundeskanzler sogar den Vollzug der von i h m beantragten Auflösung noch vermeiden, indem er sich weigert, den entsprechenden Präsidialakt gegenzuzeichnen. Insoweit ist die vom Grundgesetz getroffene Regelung unproblematisch. Erhebliche Schwierigkeiten und tiefere Überlegungen erfordert die Frage, ob dem Bundespräsidenten oder dem Bundeskanzler die Entscheidung über die Auflösung zusteht. Da dem Bundeskanzler das Initiativmonopol übertragen ist, das Auflösungsrecht formal durch den Bundespräsidenten ausgeübt w i r d und A r t . 68 eine „Kann-Bestimmung" enthält, konzentriert sich das Problem auf das Vorhandensein und bejahendenfalls den Spielraum präsidialen Ermessens. Wie aus den übrigen Zusammenhängen — so etwa dem Initiativrecht des Bundeskanzlers sowie aus dem Wortlaut des A r t . 68 des Grundgesetzes — erkennbar, kann es sich nur u m ein „Verhinderungsermessen", ein „Recht zum Veto", handeln. Aber auch die Entscheidung darüber, ob der Bundespräsident verpflichtet ist, auf Antrag des Bundeskanzlers bei Vorliegen der sonstigen Tatbestandsvoraussetzungen des A r t . 68 den Bundestag aufzulösen, oder ob er die Auflösung verweigern kann, letztlich also die Frage der Auflösungsbefugnis, ist von überragender Bedeutung für das parlamentarische System 7 . Die Gründe hierfür lassen sich i n zwei Gruppen — den verfassungsinstitutionellen und den verfassungssozialstrukterellen — zusammenfassen. Erstere betrifft die aus der Entscheidung des Grundgesetzes zugunsten des parlamentarischen Regierungssystems 8 folgende A r t des Zusammenwirkens zwischen den Verfassungsorganen: ein parlamentarisches System liegt nur dann vor, wenn die parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung und als Korrelat ihre Bestandsabhängigkeit vom Parlament gesichert ist®. Diese Grundprämisse bedingt einen Inbegriff von Regelhaftigkeiten, welche die Voraussetzung für die Arbeitsfähigkeit des Systems bilden 5

Fraenkel (I), S. 53. Amphoux, S. 466. 7 Schmitt (V), S. 353, bezeichnet diese als den „ A n g e l p u n k t des heutigen parlamentarischen Systems". 8 Diese Entscheidung findet ihren Ausdruck v o r allem i n den A r t . 63, 67, 68 GG. • So z. B. Anschütz, S. 310 ff. 8

3. Abschn. : Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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und als „Systemnormativität" 1 0 entweder wenigstens teilweise, i n die geschriebene Verfassung normativ aufgenommen oder — i n der ungeschriebenen Verfassungsordnung — kraft Konvention das Zusammenw i r k e n der Verfassungsorgane regeln. Sie sichern die Prädominanz des parlamentarischen Prinzips und bewirken damit gleichzeitig eine entsprechende Beschränkung der Befugnisse anderer Verfassungsorgane, insbesondere des Staatsoberhaupts. Ein materielles Abberufungsrecht des Staatspräsidenten i m Sinne der Entsetzungsbefugnis des konstitutionellen Monarchen wäre m i t dem parlamentarischen Prinzip unvereinbar, da es m i t der parlamentarischen Ministerverantwortlichkeit konkurrieren würde. Die Erfahrungen aus der Endphase der Weimarer Republik verdeutlichen die Gefahr, die der Stabilität des parlamentarischen Systems von Seiten eines „konstitutionellen" Abberufungsrechts zu drohen vermag 11 . A n dieser Stelle w i r d die Bedeutung der Auflösungsbefugnis für die Arbeitsfähigkeit des Regierungssystems der Bundesrepublik deutlich: handelte es sich u m eine Ermessensentscheidung des Bundespräsidenten, so würde dieser i m Falle einer i m Sinne des A r t . 68 des Grundgesetzes tatbestandsmäßigen Regierungskrise über wesentliche Einflußmöglichkeiten verfügen, die denen des Weimarer Reichspräsidenten vergleichbar wären. Er könnte seine Zustimmung zur Auflösung von der personellen Zusammensetzung des Kabinetts oder der vom Bundeskanzler verfolgten Politik abhängig machen. Die Verweigerung der Auflösung würde den Bundeskanzler zum Rücktritt zwingen. Ein freies präsidiales Ermessen hinsichtlich der Auflösung würde demnach i m Krisenfall einem autoritären Kanzlerentlassungsrecht nahekommen. Wie bereits erwähnt, erstreckt sich die Bedeutung der Regelung der Auflösungsbefugnis auch auf den Bereich, dessen bestimmende Faktoren verfassungsrechtlich schwer kodifizierbar sind und sich „aus dem sozialen Substrat der parlamentarischen Regierung ergeben" 12 . Davon soll i m Hinblick auf die vom Grundgesetz getroffene Grundentscheidung zugunsten eines äußerst stark ausgeprägten repräsentativen Systems 13 auf 10

So Kaltefleiter (I), S. 16. So stellte A r t . 53 W V die Einbruchsstelle dar f ü r die „autoritäre" K a n z lerentlassung Brünings durch Hindenburg u n d schließlich die Beseitigung des parlamentarischen Systems. 12 Beyme, K . von, Die parlamentarischen Regierungssysteme i n Europa, München 1970, S. 43 ff. nennt i h n den sozialstrukturellen Bereich. 18 s. dazu Fraenkel (I), S. 5: „Repräsentation ist die rechtlich autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen durch verfassungsmäßig bestellte, i m Namen des Volkes, jedoch ohne dessen bindenden A u f t r a g handelnde Organe eines Staates oder sonstiger Träger öffentlicher Gewalt, die ihre A u t o r i t ä t mittelbar oder u n m i t t e l b a r v o m Volke ableiten u n d m i t dem Anspruch legitimieren, dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen u n d dergestalt dessen wahren W i l l e n zu vollziehen" ; u n d v o r allem Weber, Werner (II), S. 19 ff. 11

30*

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den „plebiszitären" Effekt 14 des Instituts der Auflösung 1 5 hingewiesen werden. E i n freies Ermessen des Bundespräsidenten über den Vollzug der Auflösung läßt einen selteneren Einsatz der Auflösung wahrscheinlich werden, was i n bestimmter verfassungspolitischer Situation für den Bestand der Verfassungsordnung gefährlich werden könnte. 2. Lösungsvorschläge

Die vorstehenden Ausführungen versuchen, die politischen und strukturellen Konsequenzen bestimmter Interpretationsweisen aufzuzeigen und damit die Gefahren einer Auslegungsweise zu verdeutlichen, die bei der isolierten Normanalyse verharrt. Zunächst soll daher die präsidiale Ermessensproblematik i n A r t . 68 aus der Sicht der weitaus herrschenden Lehre und, anschließend, i n Form eines Alternativvorschlags, die vom Verfasser erarbeitete Lösung dargestellt werden. a) der Lehre Die Vertreter der Lehre nehmen nahezu einhellig, getreu dem Wortlaut des Grundgesetzes, ein Ermessen des Bundespräsidenten i n A r t . 68 an. Dem Bundespräsidenten stehe es frei, ob er den Bundestag auflöse oder „das weitere der Entwicklung überlasse" 18 . Bei der Entscheidung über die Auflösung bewege sich der Bundespräsident i m einzigen i h m verfassungsgemäß eingeräumten „Spielraum politisch freien Ermessens" 17 . Ebenso betonen von Mangoldt—Klein 1 8 sowie Maunz—Dürig— Herzog 19 das alleinige Ermessen des Bundespräsidenten, und auch Amphoux 2 0 beruft sich auf den einen Ermessensbereich enthaltenden Ausdruck „kann", u m daraus einen der „seltenen Fälle" abzuleiten, i n denen der Bundespräsident aktiv ins politische Geschehen eingreift. Nawiasky H. 2 1 glaubt, daß dem Bundespräsidenten m i t dem Auflösungsrecht „eine Machtposition gegen den gesetzgebenden Körper eingeräumt

14

Dazu Fraenkel (I), S. 7, „dem plebiszitären System entspricht dagegen eine Verfassung, i n der das V o l k unmittelbar als handelndes Subjekt der Staatsgewalt auftritt, u n d i n der i h m eine unmittelbare E i n w i r k u n g auf die Staatsgestaltung i n F o r m v o n Sachentscheiden zugestanden ist". 15 Krüger, Herbert, A r t i k e l „Parlamentarismus", i n : Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, 8. Band, Tübingen, Göttingen 1964, S. 212. 16 Seifert—Geeb, S. 140 f. 17 Meder, Erl. IIa zu A r t . 63. 18 S. 1310. 19 Randziffer 5 zu A r t . 68. 20 S. 467. 2 . 2.

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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ist", bezweifelt allerdings anschließend 22 , „ob es zweckmäßig ist, dem Bundespräsidenten ein Recht zuzuerkennen, dessen Gebrauch i h n notwendigerweise i n Konflikt bringen muß m i t dem Parlament und den politischen Parteien". U m sich nicht zu exponieren, würde, so fährt Nawiasky fort, der Bundespräsident den Gebrauch des Auflösungsrechts unterlassen. Nawiasky übersieht hier, daß für den Bundespräsidenten, wie oben ausgeführt, die Gefahr, die neutrale Haltung und damit Autorität und Prestige zu verlieren, nur dann besteht, wenn er tatsächlich bei der Auflösung freie Hand hätte. I m umgekehrten englischen Fall, von der Praxis betrachtet, wo das Staatsoberhaupt über die Auflösung als ein Formalrecht verfügt und den Regierungswillen vollzieht, steht das Auflösungsrecht jedem Premier zu; es ist i h m „garantiert", was jede Möglichkeit einer parteiischen Haltung des Monarchen ausschließt. Doch war die Ansicht vom freien Ermessen des Bundespräsidenten auch i n der deutschen Verfassungsrechtslehre auf — vereinzelten — Widerspruch gestoßen. So meint Carl Joachim Friedrichs 23 , „dem deutschen Bundeskanzler sei ein echtes und nicht nur ein embryonales A u f lösungsrecht eingeräumt worden", womit incidenter ein Ermessen des Bundespräsidenten ausgeschlossen sein muß 2 4 . Eine eindringende Erörterung des Problems unternimmt Friesenhahn 25 , der über die isolierte, wortgetreue Interpretation des A r t . 68 weit hinausgeht und dabei bereits funktionale Argumente heranzieht: „...Bestimmungen einer Verfassung, die politische Rechte sind, müssen stärker aus dem Gesamtzusammenhang heraus interpretiert werden, als aus dem bloßen Wortlaut. Aus dem System der Verfassung, aus der Ausgestaltung der einzelnen Verfassungsorgane und ihrer Zuordnung zueinander kann sich ergeben, daß das Wort ,kann' ein politisches ,muß' verschleiert 26 ." Die Stimme Friesenhahns bleibt jedoch trotz seiner überzeugenden Argumentation isoliert: die fast einhellige Lehrmeinung hält am Wortlaut des A r t . 68 fest. b) Vorschlag des Verfassers Es wurde bereits versucht, den hinter der juristischen Auseinandersetzung u m das Ermessen des Staatsoberhaupts auftauchenden, aus einer möglichen Strukturwidrigkeit des Grundgesetzes geborenen, politischen 22

Ebenda. (III), S. 436. 24 Eine ähnliche Ansicht v e r t r i t t auch Bergsträsser, L., Die Entwicklung des Parlamentarismus i n Deutschland, Langheim 1954, S. 25, „ . . . ebenso hat der Bundespräsident nicht mehr das Recht, den Bundestag aufzulösen; er ist davon abhängig, daß der Kanzler i h m dies vorschlägt." 25 S. 63 f., 69. 26 Friesenhahn, S. 151. 28

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Konflikt erkennbar werden zu lassen. E i n solcher Konflikt ist i n der Verfassung schlummernd angelegt, bis er i n einer allgemeinen Krise erwachen und schließlich die staatliche Gemeinschaft gefährden und zerschlagen kann 2 7 . Hier steht der Verfassungsjurist vor der Aufgabe, den konkreten Konflikt zu bewältigen, u m die Existenz der staatlichen Gemeinschaft zu erhalten 28 , was wiederum bedingt ist durch die Zustimmung dieser Gemeinschaft 29 . U m das Problem i n seiner Breite wie Tiefe zu erkennen und lösen zu können, ist ein zweiphasiges Vorgehen angebracht: die erste Phase dient dem Ziel der Sinnermittlung der fraglichen Norm durch Interpretation, während die Aufgabe der zweiten Phase m i t „Konkretisierung" umschrieben werden soll 30 . Bei der Auslegung beschreiten w i r den überkommenen und anerkannten Weg 3 1 i n etwas veränderter Streckenführung: Es w i r d von der sprachlichen Interpretation ausgegangen und über die historische zur rechtssoziologischen, systematischen und rechtsvergleichenden Interpretation vorgestoßen. A n das Erkenntnisverfahren schließt sich die Konkretisierung an, i n deren Rahmen unter Einbeziehung der i n der Programmierung herausgearbeiteten Ergebnisse zu einer möglichst verfassungskonformen Konfliktlösung zu gelangen ist. aa) Sinnermittlung a) Die sprachliche Interpretation Beim Studium des A r t . 68 Abs. I S. 1 fällt zunächst das Wort „kann" ins Auge. „ K a n n " stellt i m allgemeinen ein Indiz dafür dar, daß mehrere Entscheidungsalternativen zulässig sind 32 . Die herrschende Lehre, die aus diesem Grunde ein freies Ermessen des Bundespräsidenten annimmt, übersieht jedoch, daß eine „kann"-Vorschrift auch die Bedeutung einer „muß"-Vorschrift anzunehmen vermag. Bezieht man A r t . 68 Abs. I S. 2 des Grundgesetzes i n die Betrachtung ein, so w i r d der erste Eindruck von einem präsidialen Ermessen zunächst durch den Wortlaut „das Recht zur Auflösung erlischt" scheinbar bestätigt. Diese Annahme w i r d jedoch weniger sicher, wenn man sich vergegenwärtigt, daß i m Verfassungsrecht m i t seinen besonderen A n 27 Vgl. die v o n Kaltefleiter unternommene Schilderung der Instabilität des Systems bipolarer Exekutive an H a n d der Weimarer Verfassungsentwicklung, Kaltefleiter (I), S. 153 ff. 28 Siehe hierzu Heydte, v. d., S. 476. 29 Integrationsfunktion, zur hier gefolgten Methode: siehe Stein, E k k e h a r d Staatsrecht, Tübingen 1968, S. 12/13. 80 Stein, E., S. 246. 31 Siehe Leisner, Walter, Betrachtungen zur Verfassungsauslegung, i n D Ö V 1961, S. 641 ff. 32 So Obermayer, N J W 63, 1177.

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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forderungen „Recht" nicht gleichbedeutend sein kann m i t dem „ A n spruch" i m Sinne des Zivilrechts 33 , sondern i m Rahmen der von der Verfassung konzipierten Rollenverteilung der Verfassungsorgane den Rang einer Zuständigkeit erlangt. Zuständigkeit erhält über „zustehen" einen gewissen Pflichtcharakter, und auch „Kompetenz" 3 4 zeigt i n seiner sprachlichen Wurzel einen Appell an das Zusammenwirken. Wolff mißt daher dem Begriff „Zuständigkeit" einen Berechtigungs- und Verpflichtungscharakter bei 35 . Folgt man dieser Ansicht, so bedeutet „Recht zur Auflösung" i m Sinne des A r t . 68 Abs. I S. 2 die Berechtigung sowie die jedenfalls grundsätzlich bestehende Verpflichtung des Bundespräsidenten, die Auflösung zu vollziehen. Damit ist die Ermessensvermutung des „kann" erschüttert; die sprachliche Interpretation ist nicht geeignet, zu einer eindeutigen Sinnermittlung zu führen. ß) Die historische

Interpretation

Bereits der Herrenchiemseer Entwurf hatte eine wesentliche Beschneidung des „weiten" Auflösungsrechts wie es i n A r t . 25 der Weimarer Verfassung verankert war, vorgesehen: der Bundestag sollte nur bei einem Scheitern der parlamentarischen Regierungsbildung aufgelöst werden 36 . Das vom Herrenchiemseer Konvent verfolgte Ziel, die Wiederauferstehung des Weimarer Reichspräsidenten zu verhindern, fand seinen Ausdruck i n der grundsätzlichen Ablehnung, den Bundespräsidenten m i t einem Auflösungsrecht auszustatten. I m Parlamentarischen Rat lehnte der Allgemeine Redaktionsausschuß die Übernahme eines allgemeinen Auflösungsrechts ab und war zugleich bestrebt, die Parlamentsauflösung tatbestandsmäßig auf den Fall einer zum „konstruktiven" Kanzlersturz unfähigen Oppositionsmehrheit zu beschränken 37 . I n diesem Vorschlag war bereits eine „kann"-Reaktion des Bundespräsidenten vorgesehen, die, wie erläutert, einen präsidialen Ermessensbereich vermuten läßt. Doch bereits bei der Behandlung i m Hauptausschuß 88 begründete der Abgeordnete Dr. Dehler (FDP) die Notwendigkeit der Auflösung damit, daß auch eine durch das konstruktive Mißtrauensvotum geschützte Regierung einer negativen Mehrheit gegenüber über die Waffe der Auflösung verfügen müsse, was sinngemäß ein ungebundenes Ermessen des Bundespräsidenten ausschließen würde. 33

Vgl. §194 B G B . Lat. competens = angemessen, passend, entsprechend. 35 Bd. I I , S. 12. 36 A r t . 88 HChE. 37 Das Ergebnis solcher Überlegungen w a r der A r t . 90 a; vgl. von ming—Füßlein—Matz, S. 447. 38 Erste Lesung v o m 16.11.1948, 3. Sitzung, HA-Stenoprot., S. 34. 34

Doem-

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Der von der SPD-Fraktion i n der 4. Sitzung 39 vorgelegte Vorschlag 40 sah eine weitere Beschränkung der Auflösung vor: sie sollte ausschließlich i n Verbindung mit der vom Bundeskanzler gestellten und vom Bundestag m i t absoluter Mehrheit abgelehnten Vertrauensfrage zulässig sein, was wiederum als ein Hinweis auf die Absicht verstanden werden mag, das Auflösungsrecht faktisch dem Bundeskanzler oder der Bundesregierung i n die Hand zu geben und damit gleichzeitig die Mehrheitsopposition als Initiator der Auflösung auszuschließen41. I n diesem Zusammenahng ist der Vorschlag des Allgemeinen Redaktionsausschusses42 interessant, wonach i m Falle eines von einer absoluten Mehrheit ausgesprochenen, aber nicht mit der Neuwahl eines Bundeskanzlers verbundenen Mißtrauensvotums dem Bundespräsidenten ein Initiativauf lösungsrecht, auch gegen den Willen des Bundeskanzlers, eingeräumt werden sollte. I n i h m sind eigentlich zwei Auflösungsarten vereint: einmal die vom Bundespräsidenten initiierte und ausschließlich seinem Ermessen unterworfene 43 , zum andern die vom Bundeskanzler beantragte Auflösung, wobei auch bei letzterer Alternative angesichts der „kann"-Formulierung ein präsidiales Vollzugsermessen angedeutet scheint 44 . Der Hauptausschuß lehnte diesen Vorschlag i n der 2. Lesung 45 m i t der Begründung ab, daß er m i t der i n A r t . 90 getroffenen Regelung des konstruktiven Mißtrauensvotums nicht vereinbar sei und das Mißtrauensvotum der Weimarer Verfassung wieder zum Leben erwecke4®. Die Verhandlungen i m zuständigen Fachausschuß des Parlamentarischen Rates, dem Ausschuß für die Organisation des Bundes, waren ebenfalls vom Willen gekennzeichnet, das Auflösungsermessen des Weimarer Reichspräsidenten erheblich einzuschränken. So hatte man sich i n der 8. Sitzung 47 auf eine Fassung geeinigt, wonach der Bundespräsident zur Auflösung dann verpflichtet ist, wenn der Bundestag dem Bundeskanzler das Vertrauen versagt. Die ausdrückliche Verpflichtung wurde jedoch i n der 11. Sitzung 48 i n eine nach Ablauf von drei Monaten 89

V o m 17.11.1948, HA-Stenoprotokoll S. 44 f. Text bei von Doemming—Füßlein—Matz, S. 448. 41 Wie es eigens v o n Dr. Dehler (FDP) sowie Dr. von Brentano (CDU) v o r geschlagen worden w a r ; vgl. HA-Stenoprot. S. 44 f. 42 Drucksache 374 v o m 16.12.1948; vgl. den Wortlaut bei von Doemming— Füßlein—Matz, ebenda. 43 Der Bundespräsident würde damit zur Regierung gehören u n d ihre Spitze bilden. Die Auflösung zählte — dem Schema Carl Schmitts folgend — zur präsidentiellen Spielart. 44 Was angesichts der Ausgestaltung dieser A l t e r n a t i v e als ministerielle Auflösung einen Widerspruch bedeutet. 45 33. Sitzung, am 8.1.1949, HA-Stenoprotokoll S. 415. 48 von Doemming—Füßlein—Matz, S. 449. 47 V o m 30. 9.1948, Steno-Protokoll S. 2. 48 V o m 27.10.1948, Steno-Protokoll, S. 4. 40

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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verfristete Berechtigung umgewandelt, da der Abgeordnete Dr. Schwalber (CSU) für den anderen Fall eine zu starke Bindung des Bundespräsidenten befürchtet hatte 49 . Die auf diese Weise entstandene Fassung wurde später als A r t . 68 i n das Grundgesetz aufgenommen. Angesichts des von der Entstehungsgeschichte offenbarten Materials lassen sich verschiedene, i n der Willensbildung des Parlamentarischen Rates wirkende Strömungen nachzeichnen. I n der Diskussion des Staatspräsidentenamtes hatte der Parlamentarische Rat gegenüber der Weimarer Verfassung eine ausdrückliche Gegenposition bezogen 50 . Gerade hier wurde das Bemühen großer Teile der Versammlung sichtbar, es „besser als damals" zu machen 51 . Für die Auflösung des Parlaments bedeutet dies, daß dem Staatsoberhaupt das Initiativermessen des Reichspräsidenten 52 entzogen werden mußte. Als Zweck der Parlamentsauflösung wurde, wie die Ablehnung eines vom Allgemeinen Redaktionsausschuß eingebrachten Formulierungsvorschlags beweist, ihre Funktion als Waffe der Regierung gegenüber einem oppositionellen, aber zur positiven Mehrheitsbildung unfähigen Parlament angesehen. Daß das Recht der Auflösung formell dennoch beim Bundespräsidenten verblieb, ist auf die Sorge einzelner Abgeordneter u m Autorität und Würde der neukonzipierten Figur des Staatspräsidenten zurückzuführen. Diesen Befürchtungen liegen sicherlich nicht u m die Schaffung eines m i t „konstitutionellen" Befugnissen ausgestatteten Staatsoberhaupts kreisende Gedankengänge zugrunde, sondern eher eine gewisse, i n der deutschen Staatslehre i m Zusammenhang m i t der Staatsspitze immer vorhandene „romantisch-monarchische" Befangenheit 58 . Immerhin waren jene Stimmen so gewichtig, daß der Parlamentarische Rat von der Aufnahme einer ausdrücklich so bezeichneten Auflösungsverpflichtung des Bundespräsidenten abgesehen hatte. Eine eindeutige A n t w o r t auf die Frage, ob dem Bundespräsidenten ein Ermessen hinsichtlich der Auflösung gemäß A r t . 68 des Grundgesetzes zusteht, kann daher auch mit Hilfe der historischen Interpretation dieser Bestimmung nicht gegeben werden. γ) Die rechtssoziologische Interpretation Nachdem auch die subjektiv-historische Betrachtung nicht zu einer eindeutigen Sinnerkenntnis geführt hat, ist nun m i t Hilfe der rechts49

von Mangoldt, H., i n : D Ö V 1950, S. 697. Fromme, F. K., „ V o n der Weimarer Verfassung zum Bonner GG", T ü b i n gen 1960, S. 9. 51 Scheuner, U., Das A m t des Bundespräsidenten als Aufgabe verfassungsrechtlicher Gestaltung, Tübingen 1966, S. 17. 52 Vgl. A r t . 25 W V . 53 Kimminich, Otto, V V D S t R L 25, S. 91 = Leitsatz 11. 50

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soziologischen Interpretation die Weiterentfaltung der Norm i n der Rechtsgemeinschaft zu verfolgen 54 . Instrumente dieser Entwicklung sind dabei die — offene und latente — Verfassungspraxis sowie die Verfassungsrechtslehre 55 . Eine Auflösung des Bundestags ist bisher i n der Verfassungspraxis der BRD erst einmal vollzogen worden. Auch ist die Anwendung des A r t . 68 bereits mehrmals erörtert worden: i m Jahre 1963, als L u d w i g Erhard zwar über große Resonanz i n der Wählerschaft verfügte, sich jedoch m i t Widerständen aus den Parteien der von i h m geführten Koalition konfrontiert sah, 1966, als der Bundestag i n einem förmlichen Beschluß den Bundeskanzler — erfolglos — ersuchte, die Vertrauensfrage an den Bundestag zu richten, sowie i n der Zeit seit der Regierungsbildung 1969, als i m Zusammenhang m i t der neuen Außenpolitik der Regierung die Frage eines vom Bundeskanzler an den Bundestag zu richtenden Vertrauensantrags erörtert wurde. A m weitesten gediehen war die Diskussion u m die Anwendung des A r t . 68 anscheinend i m Jahre 1963, als erwogen wurde, i n Verbindung m i t dem Sozialpaket die Auflösung durchzuspielen. Letztlich scheiterten derartige Pläne aber am Wissen u m die ablehnende Haltung des damaligen Bundespräsidenten Lübke 5 6 . Nicht ohne Grund befürchtet Kaltefleiter 57 , daß die damalige Diskussion das Gewicht eines Präzedenzfalles erlangen könnte, der den Einfluß des Bundespräsidenten auf das Auflösungsverfahren überdehnen und dieses als Instrument zur Stärkung des amtierenden Bundeskanzlers entwerten könnte. I n den Stellungnahmen der Lehre herrscht ein — zahlenmäßiges — Ubergewicht der Verfechter eines präsidialen Ermessens. Dabei fällt jedoch der Mangel an materiellen Begründungen auf. Teilweise widersprechen sich der von den Autoren genannte Zweck des Auflösungsrechts und das anschließend ermittelte Interpretationsergebnis. So etwa, wenn Meder 58 den Antrag des Bundeskanzlers, i h m Vertrauen auszusprechen, zwar als ein „nicht unerhebliches Druckmittel des Bundeskanzlers gegenüber dem Bundestag" betrachtet, andererseits aber an der Ermessensfreiheit des Bundespräsidenten festhält 59 und damit eine Garantie der Auflösung ausschließt. 54

Dazu Stein, S. 37. Z u r Wirksamkeit der Lehre als „Pfadfinder" einer neuen Verfassungsrechtsentwicklung s. v. d. Heydte: „ S t i l l e r Verfassungswandel u n d Verfassungsinterpretation", i n : A r c h i v f ü r Rechts- u n d Sozialphilosophie, Bd. X X X I X 1950/51, Bern—München, S. 461 - 476, insbes. S. 473 ff. 56 Kaltefleiter (I), S. 247. 57 (I), S. 247. 58 Erläuterungen I I , 9, zu A r t . 68 GG. 59 So Meder, Erl. I I , 3, zu A r t . 68. 55

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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Dennoch sind innerhalb der deutschen Staatsrechtslehre Ansätze einer Neuorientierung sichtbar, wobei bereits metajuristische Argumente i n die Diskussion eingeführt werden. Während Friedrich 6 0 und Bergsträsser 61 sich damit begnügen, eine Verpflichtung des Bundespräsidenten zum Vollzug der Auflösung ohne weitere Begründung zu bejahen, rechtfertigt Friesenhahn 62 das von i h m entwickelte Interpretationsergebnis bereits unter Heranziehung eines systemnormativen Gesichtspunkts: der m i t der Schaffung des A r t . 68 des Grundgesetzes letztlich verfolgte Zweck sei die Überwindung von Regierungskrisen gewesen. Ein Weigerungsermessen des Bundespräsidenten stünde diesem Ziel jedoch entgegen. Den vorläufigen Höhepunkt i n der Entwicklung zu einer systemorientierten Auslegung der Befugnisse des Bundespräsidenten bildet das von Otto Kimminich auf der Tagung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer 1966 i n Graz 68 gehaltene Referat „Das Staatsoberhaupt i n der parlamentarischen Demokratie". Der Referent gelangte dabei zu dem Ergebnis, daß i n der deutschen Staatsrechtslehre der Begriff des Staatsoberhaupts durch Assoziationen der organischen Staatslehre, der Romantik und der konstitutionellen Monarchei belastet sei. Das Staatsoberhaupt der republikanisch-parlamentarischen Demokratie könne weder als neutrale Gewalt 6 4 noch als „Hüter der Verfassung" aufgefaßt werden 65 . Die i h m i m parlamentarischen Regierungssystem verbliebene Restaufgabe bezeichnet Kimminich als „Kontinuitätsfunktion", als die Zuständigkeit zur Wahrung der staatlichen Kontinuität; sie sei dauernde Aufgabe und gleichzeitig als i n bestimmten kurzen Zeitabschnitten aktuell werdendes Bedürfnis anzusehen. Ausgehend von diesem Modellverständnis stellt Kimminich den Versuchen, die funktionale Rolle des Staatsoberhaupts i n der parlamentarischen Demokratie aus den positiv-rechtlichen Regelungen von präsidialen Einzelbefugnissen zu entnehmen, die Forderung entgegen, das grundlegende Verständnis der Rolle des Staatsoberhaupts i n der parlamentarischen Demokratie dazu beitragen zu lassen, unklare positivrechtliche Bestimmungen zu interpretieren 66 . 60

(III), S. 436. S. 25. 82 S. 63, 69. 63 V V D S t R L 25, S. 2 ff. B e r l i n 1967. 64 „Pouvoir neûtre". 65 s. Leitsätze I I , S. 6 sowie V , 21. ββ Ä h n l i c h die v o n Seidl-Hohenveldern auf der Tagung der Vereinigung deutscher Staatsrechtslehrer abgegebene Stellungnahme: „Die positiv-rechtlichen Bestimmungen über die Macht des Bundespräsidenten... sind so zweideutig, daß m a n n u r m i t rechtstheoretischen Überlegungen ihnen einen k o n kreten Sinn schenken k a n n " ; vgl. Seidl-Hohenveldern, V V D S t R L 25, B e r l i n 1967, S. 212. 61

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I n seiner Konsequenz würde das Rollenverständnis Kimminichs, interpretiert man die nicht eindeutig konzipierte Vorschrift des A r t . 68 i m Lichte der Kontinuitätsfunktion, zur grundsätzlichen Verpflichtung des Bundespräsidenten zum Vollzug der Auflösung führen. Doch kann i m Wege der verfassungssoziologischen Auslegungsstufe ein solchermaßen klares Ergebnis nicht gefunden werden: I n der Verfassungspraxis hat A r t . 68 bisher erst einmal offene Anwendung gefunden und es andererseits den jüngsten Bestrebungen der Lehre der für eine Rechtsfortbildung notwendigen „allgemeinen Motivationskraft" ermangelt 67 . ô) Die systematische Interpretation Diese Auslegungsstufe dient allgemein der Erkenntnis des Bedeutungszusammenhangs verschiedener Normen eines Gesetzes. Sie hat bei mehreren sprachlich möglichen Bedeutungsalternativen derjenigen den Vorzug zu geben, „die i m Gseamtzusammenhang der betreffenden Regelung einen durchgehenden, verständlichen Sinn ergibt" 6 8 , denn die Rechtsordnung ist nicht nur „eine Summe von Rechtssätzen, sondern eine einheitliche Regelung" 69 . Hinsichtlich der systematischen Stellung des A r t . 68 des Grundgesetzes fällt zunächst auf, daß diese Verfassungsbestimmung nicht i n dem die verfassungsrechtliche Position des Bundespräsidenten beschreibenden Abschnitt V 7 0 , sondern unter Abschnitt V I 7 1 Platz gefunden hat. Ob aber bereits daraus eine Vermutung für eine materielle Übertragung der Auflösungsentscheidung auf den Bundeskanzler und gegen ein Verhinderungsermessen des Bundespräsidenten abgeleitet werden kann, erscheint fraglich. Denn die weitere Auflösungsmöglichkeit nach A r t . 63 IV, die dem Bundespräsidenten ein eindeutiges Ermessen über die Auflösung einräumt, ist ebenfalls i m Abschnitt „Bundesregierung" geregelt. Aus dem systematischen Standort der Bestimmung allein ist eine Beantwortung der gestellten Frage nicht möglich. E i n weiteres Entscheidungskriterium könnte aber i n der vom Grundgesetz vorgenommenen Überantwortung der Initiative zur Auflösung auf den Bundeskanzler liegen: Nur dieser ist gemäß A r t . 68 berechtigt, den Vertrauensantrag einzubringen, bei negativem Ausgang der A b stimmung den Auflösungsvorschlag an den Bundespräsidenten zu richten und damit teilweise die tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des A r t . 68 zu erfüllen. Eine Kompetenznorm ist meistens i n die Bestandteile der Verteilung von Zuständigkeiten zur Initiative sowie zum Vollzug zerlegbar. Die 67 68 69 70 71

Stein, S. 245. Larenz, S. 244. Larenz, S. 245. A r t . 5 4 - 6 1 GG. A r t . 62 - 69 GG, „Die Bundesregierung".

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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Zuständigkeit zur Initiative ist dabei als der „normative K e r n " 7 2 der Kompetenzgesetze anzusehen, der Teil, i n dem die materielle Entscheidungsbefugnis angesiedelt ist 7 3 . Es ist daher denkbar, daß dem Bundeskanzler als dem Inhaber der Initiative i m Rahmen des A r t . 68 auch das Entscheidungsermessen anvertraut ist. Die zugunsten eines Junktims zwischen Initiative und Entscheidungsträgerschaft bestehende Vermutung w i r d durch die Fälle erschüttert, i n denen die Initiative einer anderen Stelle übertragen ist und der Bundespräsident dennoch über — allerdings nur i m engen Rahmen wirksame — Entscheidungsalternativen gebietet 74 . Aus diesem Grunde ist auch der Sitz der Initiative i m Verfahren des A r t . 68 nicht geeignet, als eindeutiger Maßstab für die Beantwortung der Frage nach dem präsidialen Ermessen zu dienen; die systematische Auslegung kann daher nicht zu einer eindeutigen Entscheidung führen. ε) Die rechtsvergleichende

Interpretation

Schließlich verbleibt noch die Möglichkeit, die vom Grundgesetz und der Weimarer Verfassung getroffenen Auflösungsregelungen systematisierend zu vergleichen und aus den sichtbar werdenden verschiedenen Entscheidungen Folgerungen abzuleiten. Den Ausgangspunkt dieser Untersuchung bildet notwendigerweise die Darstellung der möglichen und — je nach der Ausgestaltung des konkreten Systems — verschiedenen Auflösungsarten 75 : des monarchischen, präsidentiellen, ministeriellen Auflösungsrechts sowie der parlamentarischen Selbstauflösung und der Abberufung des Parlaments auf Volksbegehren. Davon interessieren i n unserem Zusammenhang nur die ersten drei Spielarten. Die „monarchische" Auflösung i n einer konstitutionellen Monarchie erfüllt primär den Zweck, der monarchischen Regierung gegenüber der Volksvertretung das Ubergewicht zu erhalten. Der Monarch kann die Auflösung beliebig oft wiederholen, u m das Parlament „mürbe zu machen". Die dieser Auflösungsart folgenden Neuwahlen können daher auch keine endgültige Entscheidung erbringen. Bekannte Anwendungsfälle des monarchischen Auflösungsrechts enthält der preußische Verfassungskonflikt zwischen Regierung und Landtag von 1862 bis 1866 m i t mehrfachen Landtagsauflösungen 76 . Die 72 So Barfuß, W., Ressortzuständigkeit u n d Vollzugsklausel — Eine v e r fassungs- u n d verwaltungsrechtliche Untersuchung zur Zuständigkeit der Bundesminister, Wien—New Y o r k 1968, S. 78 f. 73 A u f die Untrennbarkeit v o n Regierungstätigkeit u n d I n i t i a t i v e weist unter Berufung auf Larenz insbesondere Schmitt (V), S. 241, hin. 74 Vgl. ζ. B. die A r t . 60, 64, 82 GG. 75 Vgl. hierzu u n d zu den folgenden Ausführungen Schmitt (V), S. 353 ff.; derselbe ( V I I ) , S. 17 ff. 78 Nähere Einzelheiten zum monarchischen Auflösungsrecht siehe bei Pokorni, S. 51 ff.

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Nachwirkungen dieser Vorgänge haben noch i n den Beratungen der Weimarer Nationalversammlung eine Rolle gespielt und schließlich zu dem bekannten Zusatz i n A r t . 25 RV geführt, m i t dem die Ausübung des Auflösungsrechts durch den Reichspräsidenten auf den gleichen Anlaß beschränkt wird. Die présidentielle Spielart der Auflösung ist vor dem Hintergrund des Redslobschen Gleichgewichtssystems 77 zu verstehen: das zwischen Exekutive und Legislative bestehende Gleichgewicht 78 w i r d durch verschiedene, korrelierende Befugnisse der beiden Gewalten aufrechterhalten. Das Auflösungsrecht des Staatspräsidenten w i r k t dabei auf der Seite der Exekutive als M i t t e l der Balancierung und des plebiszitären Appells an die Wählerschaft. Zumeist liegt es i n den Händen eines volksgewählten Staatsoberhauptes. Das Auflösungsrecht des Staatspräsidenten wurde von den Schöpfern der französischen Verfassungsgesetze von 1875 als besondere A r t der Auflösung erörtert und hier zum ersten M a l i n einer republikanischen Verfassung verwirklicht 7 9 . Wie alle Bestrebungen, die zum präsidentiellen Auflösungsrecht führen, auf dem Gewaltenverteilungsschema und Gleichgewichtssystem beruhen, so versuchten auch die Weimarer Verfassungsväter, beim plebiszitär gewählten Reichspräsidenten 80 ein Gegengewicht zur Macht des Reichstages zu schaffen 81. Doch die Weimarer Nationalversammlung hatte den Weg der präsidentiellen Auflösung nicht zu Ende beschritten: ein an der Spitze der Exekutive stehender Staatspräsident, der m i t Hilfe des Auflösungsrechts seine Unabhängigkeit gegenüber dem Parlament bewahren soll 8 2 , muß i n der Entscheidung über die Auflösung frei sein. Demgegenüber hatte die Weimarer Verfassung den Reichspräsidenten hinsichtlich der Ausübung des Auflösungsrechts an die Gegenzeichnung der parlamentarischen Minister gebunden 83 und damit ein Element der „ministeriellen" Auflösungsart eingebracht 84 . Diese Anleihe aus der „ministeriellen" Auflösung findet ihren Höhepunkt i m Wortlaut des 77 Das grundlegende W e r k w a r Redslob, R., Die parlamentarische Regierung i n ihrer wahren u n d ihrer unechten Form, Tübingen 1918. 78 Redslob, S. 4. 79 Siehe dazu die folgenreichen Untersuchungen v o n Barthélémy, Joseph, Le rôle d u pouvoir exécutif dans les Républiques modernes, Paris 1906, S.629 - 750. 80 A r t . 41 W V . 81 A r t . 25 W V : Der Reichspräsident k a n n den Reichstag a u f l ö s e n . . . 82 Schmitt (VI), S. 20. 88 s. dazu die Berichte u n d Protokolle des Verfassungs-Ausschusses, 23. Sitzung; Sitzungsberichte v o m 5. J u l i u n d 30. J u l i (1339, 2113), Pohl, H., Die Auflösung des Reichstags, Stuttgart 1921, S. 18 f. 8 4

Schmitt

(VI), S. 20 f.

3. Abschn. : Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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A r t . 25 Abs. I, 2. Halbsatz, Weimarer Verfassung: „ . . . jedoch nur einmal aus dem gleichen Anlaß." Damit sind die wesentlichsten Grundlagen des „ministeriellen" A u f lösungsrechts erfaßt: bei dieser A r t der Auflösung ist vorausgesetzt, daß die parlamentarische Regierung i n einen Gegensatz zum Parlament gerät 8 5 . Die Auflösung ist dann das letzte M i t t e l des Kabinetts, u m — ungeachtet der feindlichen Mehrheit des Parlaments — an der Regierung zu bleiben. Sie stellt sich dar als plebiszitärer Appell an das Volk, das aufgerufen ist, den Streit zwischen Regierung und Parlamentsmehrheit als „höherer Dritter" zu entscheiden. Fällt das Verdikt der Wähler gegen die Regierung aus, so muß diese zurücktreten und ist nicht befugt, das Parlament ein zweites Mal aufzulösen 86 . Aus der Natur der ministeriellen Auflösung als einem Appell an die Entscheidungsgewalt des Volkes resultiert die Einmaligkeit der A u f lösung: eine konkrete Streitfrage findet ihre endgültige Erledigung i n höchster Instanz. Weiterhin folgt aus der Interessenlage der beteiligten Verfassungsorgane die Notwendigkeit, die materielle Entscheidung über die A u f lösung dem Kabinett oder dem Regierungschef i n die Hände zu legen, ungeachtet der i n den verschiedenen Verfassungen häufig vorgenommenen Übertragung der formalen Auflösungsbefugnis auf das Staatsoberhaupt 8 7 . Subsumiert man den tatsächlichen Hintergrund der Auflösung gem. A r t . 68 unter die Merkmale der erläuterten Auflösungsarten, ergibt sich die Klassifizierung des A r t . 68 als einer der ministeriellen Auflösung zumindest am nächsten stehenden Spielart 8 8 . A r t . 68 regelt den Fall eines zum Kanzlerwechsel i m Wege des konstruktiven Mißtrauensvotums gem. A r t . 67 nicht fähigen, dem Bundeskanzler feindlichen Bundestages. Das Volk ist — nach Erfüllung der tatbestandsmäßigen Verfahrensvoraussetzungen des A r t . 68 89 — aufgerufen, sich den Stand85 Was dadurch zum Ausdruck kommt, daß einer der „Kabinettsfälle" eint r i t t ; vgl. dazu Schmitt (V), S. 339. 86 Diese Regel hat sich i m Laufe der englischen Verfassungsentwicklung konventional herausgebildet, vgl. dazu Dicey (II), S. 344. 87 So vollzieht der britische Monarch die Auflösung auf A n t r a g des Premierministers, vgl. auch A r t . 20 des Gesetzes über den Reichstag u n d A r t . 27 der Regierungsform Finnlands, sowie A r t . 29 der österreichischen Bundesverfassung. 88 Anders die hinter der Bestimmung des A r t . 63 I V GG stehenden Sachgesichtspunkte: hier k a n n das V o l k keine Entscheidung über eine Meinungsverschiedenheit zwischen Parlament u n d Regierung treffen, sondern die W ä h ler sind aufgerufen, einen Bundestag zu wählen, der zur qualifizierten M e h r heitsbildung u n d K a n z l e r w a h l fähig ist. Die Sachgesichtspunkte der ministeriellen Auflösung treffen hier demnach nicht zu. 89 1. Vertrauensantrag des Bundeskanzlers gegenüber dem Bundestag; 2. A n t r a g des Bundeskanzlers auf Auflösung; 3. Vollzug der Auflösung durch den Bundespräsidenten.

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punkt des Minderheitenkanzlers oder der parlamentarischen Mehrheit zu eigen zu machen. E i n zweites Indiz für ein ministerielles Auflösungsrecht liegt i n der Initiativbefugnis des Bundeskanzlers (Verh. zu A r t . 81): nur er bestimmt, ob und wann der Vertrauensantrag an den Bundestag zu richten ist, sowie — bei negativem Ausgang der Abstimmung — ob er dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages vorschlägt 90 . Aus dem Ermessen des Bundeskanzlers, den Kabinettsfall zu provozieren, folgt für den Regierungschef die Notwendigkeit, auch über den Einsatz der Waffe „Auflösung" zu gebieten. Die rechtsvergleichende Interpretation führte somit zum Ergebnis einer grundsätzlichen Verpflichtung des Bundespräsidenten, die beantragte Auflösung zu vollziehen. A m Schluß des Abschnitts a — Sinnermittlung — stehen sich also das m i t der rechtsvergleichenden Auslegung gewonnene Gebot der grundsätzlichen Verfügungsbefugnis des Bundeskanzlers über den Einsatz der Auflösung sowie der nicht völlig hinwegzuinterpretierende, ein präsidiales Ermessen andeutende Wortlaut des A r t . 68 Abs. I GG gegenüber: Die von der Sinnermittlung gelassene K l u f t muß nun i m Verfahren der „Konkretisierung" geschlossen werden 91 . Zunächst gilt es, auf Stufe 1 — Konfliktanalyse — die Interessen oder Sachgesichtspunkte herauszuarbeiten, die i m ministeriellen Auflösungsverfahren miteinander i n Konflikt stehen. I n einem weiteren Arbeitsgang sind die möglichen Lösungsmodelle zu entwickeln, woran sich die Lösungsbewertung anschließt, i n der die faktischen Auswirkungen der verschiedenen Modelle auf die beteiligten Interessen untersucht und eine verfassungsrechtliche Wertung der Lösungstypen vorgenommen wird. bb) Konkretisierung a) Konfliktanalyse Unter den beteiligten „Interessengesichtspunkten" sind nicht die Machtinteressen konkreter Verfassungsorganträger, sondern der Komplex systemgebundener, hinter den Verfassungsorganen stehender Sachgesichtspunkte zu verstehen 92 . Die Entscheidung über die Auflösung des Bundestages gem. A r t . 68 GG berührt insgesamt vier Interessensphären — diejenigen von Bundesvolk, Bundestag, Bundespräsident und Bundeskanzler — wobei nur die beiden letzteren von unmittelbarem Interesse für die vorgegebene Fragestellung sind 98 . 90 Demgegenüber steht die I n i t i a t i v e zur Einleitung des Verfahrens gem. A r t . 81 GG der Gesamtregierung zu. 91 Siehe dazu Stein, S. 246. 92 Stein, S. 87. 93 Das Interesse des Staatsvolkes richtet sich auf die m i t der Auflösung u n d den Neuwahlen stattfindenden Aktualisierung der i n A r t . 20 I I GG v e r ankerten Rechte. Das Interesse des Bundestags ist n u r eindeutig feststellbar, indem man Bundestag gleichsetzt m i t der Mehrheit des Parlaments.. Diese

3. Abschn.: Minderheitenkanzler u n d Auflösung des Bundestages

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Die hinter dem Bundeskanzler stehenden Sachgesichtspunkte zerfallen i n ein an der faktischen „Garantie des Vollzugs" der Auflösung bestehendes Interesse und ein Interesse an der „plebiszitären Rückkoppelung" und damit letztlich am Amtsverbleib. Das Interesse an der Vollzugsgarantie folgt aus der für den Bundeskanzler zwecks Durchsetzung seines politischen Programms bestehenden Notwendigkeit, den Zusammenhalt von Koalitionsfraktionen bzw. Parteiflügeln zu sichern. Diese harmonisierende Wirkung vermag m i t Hilfe der — besonders den kleineren Koalitionspartner berührenden — latenten Auflösungsdrohung nur insoweit erzielt werden, als der Regierungschef tatsächlich über den Einsatz der Auflösung gebieten kann und der Bundespräsident daher i m Normalfall zum Vollzug der Auflösung verpflichtet ist. Das Interesse des Bundeskanzlers an der „plebiszitären Rückkoppelung" stellt das Korrelat dar zu den hinter dem Bundestag stehenden Sachgesichtspunkten: der durch seine parlamentarische Wahl mittelbar demokratisch legitimierte Bundeskanzler sucht die Unterstützung der Wählerschaft gegen sein unmittelbar demokratisch legitimiertes Kreationsorgan Bundestag. Nur eine Entscheidung des Volkes zugunsten des Regierungschefs vermag diesen i m Amte zu bestätigen 94 . M i t dem Amte des Bundespräsidenten sind i h m verschiedene Interessenverbindungen möglich. Menzel 95 unterscheidet rechtliche, staatsund parteipolitische Gesichtspunkte. U m zu einer Aussonderung der i n A r t . 68 wirksamen „präsidialen" Interessen zu gelangen, ist an der vom Staatsoberhaupt i m parlamentarischen Regierungssystem wahrzunehmenden, funktionalen Rolle anzuknüpfen. Wie bereits berichtet, erschöpft sich diese i m funktionierenden System i n der „Kontinuitätsfunktion", schlägt jedoch bei Störungen i m Zusammenwirken der Verfassungsorgane i n die den präsidialen Handlungsspielraum erweiternde Reservemacht um. Zur Beachtung von rechtlichen Gesichtspunkten ist der Bundespräsident, abgesehen von konkreten, aus dem Grundgesetz fließenden Befugnissen, bereits kraft des von i h m nach A r t . 56 geleisteten Eides verpflichMehrheit w i r d i m allgemeinen durch A n t i z i p a t i o n der öffentlichen Meinung zur regierungsfeindlichen Haltung, zur „backbenchrevolution", veranlaßt; s. dazu u n d zur Antezipation der Wählerstimmung Kaltefleiter (I), S. 30 f. I h r Interesse ist es, i n den Neuwahlen v o n den Wählern bestätigt zu werden u n d die Regierung abzulösen. Staatsrechtlich formuliert, liegt das Interesse der Mehrheit damit i n einer Verdichtung der rechtlichen Beziehung zwischen Wählern u n d Gewählten, i m Wege der „Rückkoppelung" ; auf die i m Rahmen des Repräsentanzverhältnisses bestehenden Rechtsbeziehungen hatte bereits Jellinek, Georg, hingewiesen: (I), S. 581 ff. 94 Was wegen A r t . 69 I I GG i n Verbindung m i t A r t . 63 GG n u r i m Wege der N e u w a h l durch den Bundestag möglich ist. 95 I n D Ö V 1965, S. 581 ff. 31 Lippert

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tet; er hat sich daher vor Vollzug der Auflösung von der Erfüllung der i n A r t . 68 GG normierten Voraussetzungen zu überzeugen 96 . Unter parteipolitischen Gesichtspunkten ist die Verfolgung politischer Ziele durch den Bundespräsidenten i n der Weise zu verstehen, daß durch die Entscheidung des Staatsoberhauptes einzelne Parteien gefördert oder benachteiligt werden. Eine Realisierung des parteipolitischen Interesses könnte auch i n der Verweigerung der vom Bundeskanzler beantragten Auflösung durch den Bundespräsidenten liegen: da der Bundeskanzler dadurch zum Rücktritt gezwungen wird, ist eine Benachteiligung der bisherigen Regierungspartei eingeschlossen. ß) Lösungsentwurf Die Konfliktanalyse eröffnet drei verschiedene Lösungsalternativen. Diese werden i n der Reihenfolge der i n ihnen stattfindenden Reduzierung des dem Bundespräsidenten zu Gebote stehenden Ermessens angeordnet: a) Der Bundespräsident darf einen Vorschlag des Bundeskanzlers auf Auflösung des Bundestags ohne weiteres ablehnen. — Dem Bundespräsidenten stehen die formelle und materielle Entscheidungsteilhabe zu — b) Der Bundespräsident darf einen derartigen Vorschlag aus rechtlichen und staatspolitischen, aber nicht aus parteipolitischen Gründen ablehnen. — Der Bundespräsident ist stets formell Entscheidungsbeteiligter; seine materielle Entscheidungsbeteiligung lebt i n gewissen Fällen i m Rahmen der Reservemacht wieder auf — c) Der Bundespräsident darf einen entsprechenden Vorschlag aus keinerlei Gründen ablehnen. — Der Bundespräsident ist ausschließlich formell Entscheidungsbeteiligter— γ) Die Lösungsbewertung aa) Faktische Auswirkungen der Lösungsalternativen auf die beteiligten Interessen Alternative a: Nach dieser Möglichkeit kann der Bundespräsident i n vollem Umfang von dem i h m nach dem Wortlaut des A r t . 68 GG zustehenden Ermessen Gebrauch machen, Richtlinien für den Ermessensgebrauch bestehen nicht. Die hinter dem Bundespräsidenten stehenden Sachgesichtspunkte sind v o l l gewahrt. Diese Alternative verletzt aber gleichzeitig die institutionellen Interessen des Bundeskanzlers. Dieser hat gegen den — möglicherweise sogar ausschließlich parteipolitisch motivierten — Willen des 96 Der Bundespräsident übt also hier eine dem formellen Prüfungsrecht sehr ähnliche Befugnis aus.

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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Bundespräsidenten keine Gelegenheit, seinen Konflikt m i t der Mehrheit des Bundestags vom Volke entscheiden zu lassen. Dies beinhaltet eine weitere Folge, die zwar nicht als dem Bundeskanzler zugeordnetes Sachinteresse zu werten ist, aber für die Erhaltung des repräsentativ-parlamentarischen Systems von überragender Wichtigkeit ist: das mit der Auflösung i n den repräsentativen Charakter der Verfassung eingefügte Element einer plebiszitär-parlamentarischen Gegenstruktur kann vom Bundespräsidenten faktisch eliminiert werden. Als weiteres institutionelles Sachinteresse des Bundeskanzlers w i r d hier seine Richtlinienkompetenz 07 i n ähnlicher Weise wie zur Zeit der Weimarer Verfassung 98 dadurch überlagert, daß der Bundespräsident den Einsatz der Auflösung vom Inhalt der vom Bundeskanzler gesetzten Richtlinien abhängig machen kann. Vor allem aber kann der Bundespräsident über die von i h m nach E i n t r i t t des i n A r t . 68 GG als A n knüpfungspunkt der Auflösung übernommenen Kabinettfalls 9 9 mobilisierbaren Einflußmöglichkeiten den Rücktritt eines i h m unliebsamen Bundeskanzlers zwar nicht rechtlich, aber tatsächlich erzwingen. Alternative b: I n der Alternative b steht dem Bundespräsidenten ein Ermessensspielraum unter staatspolitischen und rechtlichen Gesichtspunkten zu. Bei verfahrensrechtlichen Verstößen gegen die Vorschrift des A r t . 68 GG sowie bei Gefahr eines m i t Hilfe der Auflösung angestrebten Verfassungsbruchs 100 , ist der Bundespräsident berechtigt, die Auflösung zu verweigern — sein staatspolitisches sowie rechtliches Interesse bleiben also gewahrt. Hingegen ist sein „parteipolitisches Interesse" verletzt. Der Bundespräsident wäre nach dieser Alternative verpflichtet, jedem Bundeskanzler die Auflösung dann zu garantieren, wenn sein staatpolitisches sowie rechtliches Interesse nicht verletzt sind. Die Verweigerung der Auflösung aus Gründen einer parteipolitischen Präferenz des Bundespräsidenten wäre ausgeschlossen. Der Bundeskanzler ist zur Wahrung der Verfassung und des Rechts verpflichtet; seine Interessen wären unter der Alternative b nicht tangiert. Alternative c: Diese Möglichkeit würde dem Bundeskanzler einen bedingungslosen „Anspruch" auf die Auflösung einräumen. Dem Bundespräsidenten wäre nur die formale Befugnis anvertraut, die Auflösung zu verkünden. Seine Interessensphäre wäre i n parteipolitischer Hinsicht verletzt; er wäre sogar angesichts eines drohenden Verfassungsbruchs zur Auflösung ver97 98 99 100

A r t . 65 GG. Dort A r t . 56 Weimarer Verfassung. Schmitt (V), S. 339 f. Kaltefleiter (I), S. 247.

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pflichtet. Eine tatsächliche Hemmungsmöglichkeit verbliebe dem Bundespräsidenten aber insoweit, als eine Ablehnung der Auflösung deren Vollzug jedenfalls bis zur Erklärung seiner Amtsverhinderung gem. A r t . 61 I I 2 GG verhindern würde. Dieser tatsächliche Spielraum ändert aber nichts an der Interessenverletzung, da der Bundespräsident von dieser Möglichkeit nur unter dem Opfer des Amtsverlustes Gebrauch zu machen vermag. ßß) Rechtliche Bewertung der Lösungsalternativen Wie zum Abschluß der Sinnermittlung festgestellt werden mußte, kann m i t den herkömmlichen Auslegungsmethoden eine zweifelsfreie Klärung der Frage des präsidialen Ermessens bei der Entscheidung über die Auflösung des Bundestages nicht erfolgen. M i t Hilfe der Konfliktanalyse sowie dem Lösungsentwurf wurde versucht, die hinter den Verfassungsorganen stehenden Interessengesichtspunkte darzustellen, sowie Modelle möglicher Lösung zu formen. I n der Stufe I der Lösungsbewertung sollten die faktischen Auswirkungen auf die „institutionellen Interessen" dargestellt werden, während nun mit der Stufe I I die verfassungsrechtliche Bewertung durchzuführen ist. Hierbei w i r d die Heranziehung eines objektiven Maßstabs nötig, weil die rechtliche Interpretation mehrere Lösungen nebeneinander bestehen läßt, ohne sich der m i t einem Teil der Alternativen verbundenen Verstöße gegen die i n einem arbeitsfähigen parlamentarischen System vorauszusetzenden systemnormativen Gesetzmäßigkeiten bewußt zu werden. Jene aus der Systemnormativität abzuleitenden Folgerungen für die Entscheidungsteilhabe der i n Frage kommenden Verfassungsorgane an der Auflösung vermögen den objektiven — metajuristischen — Maßstab zu bilden für eine Entscheidung zwischen den verschiedenen, rein rechtlich denkbaren Alternativen. Das Hauptproblem hierbei stellt sich durch das Erfordernis, Systemprobleme i n Entscheidungsprobleme zu übersetzen. Ein Hilfsmittel dabei ist die „funktionale Methode" 1 0 1 . Sie geht aus von den Grundregelhaftigkeiten, die i n einem Regierungssystem beachtet werden müssen, u m dieses funktionsfähig zu erhalten 1 0 2 . Sodann w i r d aus dem System von Gesetzen die an ein bestimmtes Organ zu richtende Rollenerwartung entwickelt und schließlich i n einem Vorgang der Programmierung die aus dieser Gesamtrolle fließende Par101 s. dazu die grundlegende A b h a n d l u n g von Luhmann, Niklas, F u n k tionale Methode u n d juristische Entscheidung, i n : AöR Bd. 94, 1969, S. 1 H ; sowie Beyme, Klaus von, Möglichkeiten u n d Grenzen der vergleichenden Regierungslehre i n PVS 1966, S. 63 - 96. 102 Dieser Inbegriff v o n Regeln w i r d hier als „Systemnormativität" — Kaltefleiter (I), S. 19 — bezeichnet; er wurde i n der britischen Verfassungspraxis konventional entwickelt.

3. Abschn.: Minderheitenkanzler u n d Auflösung des Bundestages

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tizipation des Verfassungsorgans an konkreten verfassungsrechtlichen Vorgängen herausgestellt. Da die Interpretation des A r t . 68 „die Bedingungen bestimmter Entscheidungen nicht eindeutig definieren" 103 konnte, ist an dieser Stelle die Einführung solcher Entscheidungshilfen zulässig. Folgt man dem Erkenntnisweg Systemnormativität — funktionale Rolle — Programmierung —, so ist von der Grundregel des parlamentarischen Regierungssystems: Monopolisierung der Bestandsabhängigkeit der Regierung beim Parlament, auszugehen. Hinzu kommt die Übertragung der „ministeriellen Auflösung" auf die Regierung bzw. den Regierungschef. Aus der Systemnormativität wurde m i t Kimminich als Rolle des Staatsoberhaupts die Kontinuitätsfunktion ermittelt, die wiederum die — parteipolitische — Neutralität einschließt. M i t der Feststellung der Neutralitätspflicht des Staatsoberhaupts entfällt jedoch das „parteipolitische Interesse" des Bundespräsidenten, so daß dem Bundespräsidenten nur das rechtliche und staatspolitische Interesse verbleiben. Die ausschließlich parlamentarische Verantwortlichkeit der Regierung führt zum Ausschluß jeder staatsrechtlichen, sowie zur Forderung, die faktische, konstitutionelle Abhängigkeit der Regierung vom Bundespräsidenten zu vermeiden. Die Kontinuitätsfunktion ihrerseits symbolisiert einmal die Einheit des Staates und sorgt, i n ihrem politischen Aspekt, dafür, daß „ein ständig funktionierendes Organ" 1 0 4 vorhanden ist, das dem authentischen Staatswillen Ausdruck zu verleihen vermag. Diese Kontinuitätsfunktion schlägt erst i m Falle einer Krise oder eines Verfassungsbruchs u m i n die „Entstörungsfunktion" 1 0 5 kraft Reservemacht. Aus den geschilderten systemnormativen Voraussetzungen der Rolle können hinsichtlich der Beteiligung des Staatsoberhaupts folgende Schlüsse gezogen werden: Die Monopolisierung der Abberufungskompetenz beim Parlament, die grundsätzliche Entscheidungsträgerschaft der Regierung oder des Regierungschefs hinsichtlich der „ministeriellen" Auflösung, sowie die dem Staatsoberhaupt vorbehaltene Kontinuitätsfunktion reduzieren grundsätzlich die Beteiligung des Staatsoberhaupts an der Auflösung auf den formalen Vollzug. Erst i m Falle eines infolge der von der Regierung verlangten Auflösung drohenden Verfassungsbruchs 108 oder einer anderen, bereits kon103 Luhmann, Niklas, Funktionale Methode u n d juristische Entscheidung, i n : AöR, Bd. 94, Tübingen 1969, S. 5. 104 Küchenhoff, Erich, i n V V D S t R L Heft 25, S. 212. 105 Küchenhoff, Erich, i n V V D S t R L Heft 25, S. 224. loe Dieser läge vor, w e n n die Regierung nach der Niederlage i n den der ersten Auflösung folgenden Neuwahlen bei Rücktrittweigerung eine neue Auflösung beantragen würde.

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kretisierten Gefahr für das Verfassungsleben 107 wurde der Staatspräsident zum Einsatz der Reservemacht und zur Verhinderung der A u f lösung befugt. Dieses Programmierungsergebnis ist nun zur Bewertung der o.a. Lösungsalternativen heranzuziehen. A d Alternative a): Die Sachgesichtspunkte des Bundespräsidenten sind hier v o l l gewahrt; die institutionellen Interessen des Bundeskanzlers jedoch verletzt. Diese Lösung widerspricht dem i n der Programmierung gefundenen Maßstab i n mehrfacher Hinsicht. Zunächst würde diese Alternative, indem sie dem Bundespräsidenten ein unbegrenztes Ermessen einräumt, den infolge der Neutralitätspflicht eingetretenen Wegfall der parteipolitischen Interessen unbeachtet lassen und die Stellung des Bundespräsidenten als des zur parteipolitischen Neutralität verpflichteten Repräsentanten „staatlicher Dignität" 1 0 8 verletzen. Vor allem aber würde die damit dem Bundespräsidenten i n die Hand gegebene, faktische Möglichkeit, durch die Ablehnung der Auflösung den Bundeskanzler zum Rücktritt zu zwingen, der Norm von der ausschließlichen parlamentarischen Bestandsabhängigkeit der Regierung widersprechen. A d Alternative b) : Die Interessen des Bundespräsidenten wären hier i n parteipolitischer, rechtlicher und staatspolitischer Hinsicht verletzt. Die Verletzung parteipolitischer Gesichtspunkte kollidiert nicht m i t den systemnormativen Vorschriften. Die Lösung c) verstieße jedoch gleichzeitig gegen den i n der Programmierung gewonnenen objektiven Maßstab insofern, als sie die dort vorgesehene Möglichkeit zur Reaktivierung der Reservemacht ausschalten und den Bundespräsidenten zum Vollzug der Auflösung verpflichten würde. A d Alternative c): Nach diesem Lösungsmodell hat der Bundespräsident den Bundestag auf Antrag des Bundeskanzlers grundsätzlich aufzulösen. E i n Ablehnungsrecht erwächst kraft Reservemacht nur innerhalb der von den Fällen des Verfassungsbruchs und sonstiger konkreter Gefahrensituationen vorgegebenen engen Grenzen, sowie aus dem Fehlen der tatbestandsmäßigen Voraussetzungen des A r t . 68 GG gem. der aus A r t . 56 GG folgenden Verpflichtung des Bundespräsidenten zur rechtmäßigen Amts107 So z.B., w e n n während einer Wirtschaftskrise die Auflösung beantragt würde oder sichere Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß die Neuwahlen eine weitgehende Aufsplitterung des Parteisystems zur Folge hätten. 108 Menzel, E., D Ö V 1965, S. 591.

3. Abschn.: Minderheitenkanzler und Auflösung des Bundestages

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führung. Der geleistete Eid verpflichtet den Bundespräsidenten zur A b lehnung der Auflösung dann, wenn durch diese dem Volkswohl ein offenkundiger Schaden drohen würde. Damit sind sowohl rechtliches als staatspolitisches Interesse des Bundespräsidenten gewahrt. Ebenso bleiben unter b) die Interessen des Bundeskanzlers unangetastet; i m Sinne der Programmierung ist dem Bundeskanzler die A u f lösung grundsätzlich garantiert; an einer unter Bruch der Verfassung vollzogenen Auflösung kann der Bundeskanzler kein legitimes Interesse haben. c) Ergebnis Als einziges Lösungsmodell ermöglicht die Alternative b) systemkonforme Ergebnisse der Analyse des A r t . 68 GG. Sie garantiert dem Bundeskanzler i m Regelfall die Auflösung und schafft gleichzeitig Raum für die Verhinderung der Auflösung durch den Bundespräsidenten i m Rahmen der Reservemacht. Das Ergebnis der funktionalen Betrachtungsweise w i r d durch die Tatbestandsfassung des A r t . 68 bestätigt. Die äußeren Grenzen präsidialen Ermessens werden i n A r t . 68 GG durch das Wort „kann" angezeigt. Der Ermessensbereich zwischen dem „Normalfall" des automatischen Vollzugs und dem „Notstandsfall" der Verhinderungsmacht w i r d i n diesem Wort ausgedrückt. Kaltefleiter 1 0 9 lehrt richtig, daß A r t . 68 GG den Versuch darstelle, Reservemacht verfassungsrechtlich zu kodifizieren. Wegen der Unbestimmtheit der Krisenfälle müsse „das Recht des Bundespräsidenten, wie das des englischen Königs, weit formuliert sein, zugleich aber sichergestellt werden, daß es vom Bundespräsidenten i m Regelfall nicht ausgeübt w i r d " . d) Vorschlag für eine Neufassung des Art 68 GG Obwohl bisher unternommen wurde, eine Neuinterpretation des A r t . 68 m i t rechtlichen und systemtheoretischen Argumenten zu stützen, wäre eine vom Verfassungsgesetzgeber vorzunehmende Neufassung des A r t . 68 zu begrüßen. Diese könnte etwa lauten: „Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, i h m das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so löst der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auf." Damit wäre die grundsätzliche Verpflichtung des Bundespräsidenten zur Vornahme der Auflösung klargestellt, ohne daß damit die Möglichkeit eines Verhinderungsermessens beseitigt w i r d 1 1 0 . 109

(I), S. 247. Wie etwa das Beispiel des A r t . 64 Abs. I GG zeigt, w o ebenfalls dem Bundespräsidenten i n gewissem Rahmen ein Ablehnungsrecht zusteht. 110

Schlufi Die vom Grundgesetz getroffene Regelung der Amtseinsetzung des Bundeskanzlers insgesamt, vor allem die Beteiligung der Verfassungsorgane Parlament und Staatsoberhaupt an der Investitur, hat sich als materiell übereinstimmend m i t den auf deduktivem Wege gewonnenen, an ein funktionierendes, arbeitsfähiges parlamentarisches System zu richtenden institutionell-systemnormativen Anforderungen sowie der diese Gesichtspunkte i n der Verfassungspraxis verwirklichenden b r i t i schen Verfassungsordnung erwiesen. Die formale „Wahl" des Bundeskanzlers durch den Bundestag ist dabei nicht Erfordernis und Merkmal der parlamentarischen Regierungsweise, vielmehr dient sie als symbolischer Hinweis auf die Suprematie des Parlaments, und es ist vorstellbar, daß sie zu einer gewissen „psychologischen" Selbstbindung, einer Hemmung des Bundestages führen mag, den selbstgewählten Bundeskanzler wieder abzuberufen. Überdies bedeutete die unmittelbare parlamentarische Einsetzung des Bundeskanzlers durch den Bundestag eine Abkehr vom sowohl i n parlamentarischer als auch i n konstitutioneller Weise interpretierfähigen A r t . 53 Weimarer Verfassung. Von ähnlichen Zielen geleitet, war der Parlamentarische Rat auch an die Gestaltung der Amtsende-Regelung gegangen. Das Ergebnis war auf den ersten Blick die i m A r t . 67 GG verkörperte, positive Spielart des parlamentarischen Systems: die Wirksamkeit des Mißtrauensvotums wurde von der Neuwahl eines Bundeskanzlers abhängig gemacht. Dem Bundespräsidenten verblieb dabei nur noch die Aufgabe des Vollzugs entsprechender parlamentarischer Entschlüsse. Dennoch hatte sich der Verfassungsgeber von 1949 nicht ganz von tradierten Vorstellungen vom „Staatsoberhaupt" zu lösen vermocht: A r t . 68 GG stellte die Schale dar, u m derartige systemfremde Erwartungen an den Staatspräsidenten i n das Grundgesetz aufzunehmen 1 . Die zweideutige Formulierung dieser Bestimmung ist geeignet, die eigentlich dem A r t . 68 zugedachte Funktion, Regierungskrisen mit Hilfe der aktualisierten Volkssouveränität zu überwinden, zumindest zu erschweren. Der Bundespräsident würde dann zur eigentlichen politischen 1 Kimminich spricht sogar v o n der monarchistisch-romantischen Befangenheit der deutschen Staatsrechtslehre; vgl. Kimminich, S. 12.

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Schluß

Führungspersönlichkeit werden: der könnte die Auflösung des Bundestages von durch den Bundeskanzler zu erfüllenden politischen und personellen Bedingungen abhängig machen. Eine Verweigerung der Auflösung würde den Bundeskanzler faktisch zum „Rücktritt zwingen — ein Ergebnis, das einem materiellen", konsitutionellen Entsetzungsrecht des Bundespräsidenten gleichkäme. Die Bedeutung des A r t . 68 GG ist jedoch nicht auf den institutionellen Bereich beschränkt, sondern beinhaltet i n der sozialstrukturellen Sphäre einen, zugunsten einer bestehenden einseitigen Ausrichtung zugunsten des repräsentativen Systems wirkenden Verstärkungseffekt. I n Großbritannien wuchs die Auflösung des Unterhauses zum M i t t e l des Parlaments und vor allem des Premierministers heran, das „Verantwortungsverhältnis" 2 zwischen Regierung und Volk, ja zwischen Premier und V o l k lebendig werden zu lassen. Gleichzeitig wurde damit die Voraussetzung für die Aufnahme und Entschärfung systemgefährdender, unmittelbar-demokratischer, plebiszitärer Gegenbilder i n die Verfassung hergestellt. Inzwischen hat das britische Regierungssystem — dank des durch die „Constitutional Conventions" ermöglichten Verfassungswandels — die Züge einer gemischten Verfassungsordnung angenommen, die ein zukunftsträchtiges Modell eines parlamentarischen Systems darstellt. Die Institution des Auflösungsrechts hat dort eine wesentliche Rolle bei der Erhaltung und Fortentwicklung des Systems erfüllt. Anders die vom Grundgesetz vorgenommene Verbannung der A k t i v Bürgerschaft i n die „Mediatisierung" 3 . Seine deutlich ausgeprägte Orientierung zum rein repräsentativen System ist ebenfalls als Reaktion auf die i n der Weimarer Zeit wirkenden plebiszitären Kräfte zu verstehen. Die Parteien sind an die Stelle des Volkes getreten, ja, sie „sind" das V o l k 4 ! Daß die institutionellen Möglichkeiten, die öffentliche Meinung hinsichtlich personeller oder sachlicher Fragen der Verfassungspolitik zum Tragen kommen zu lassen, äußerst beschränkt sind, birgt verschiedene Gefahren i n sich 5 . Einmal ist das Faktum der sich i n zunehmendem Maße pluralisierènden Gesellschaft® mit dem damit verbundenen Einflußzuwachs der ständischen Sozialkräfte zu nennen. Das bereits erwähnte Verantwortungsverhältnis zwischen Volk, parlamentarischen Repräsentanten und Re2

Beyme (II), S. 48. Weber, Werner (II), S. 19. 4 Leibholz i n DVB1.1951, S. 4. 5 Die einzige Möglichkeit bietet die Auflösung des Bundestages nach A r t . 63 I V , 68 GG. 6 Beyme (II), S. 48. 3

Schluß

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gierenden w i r d dadurch ebenfalls mediatisiert, das B i l d des Staates verblaßt. Die Vielfalt sozialer, kommunaler, „ständischer" Autorität und Konkurrenz müßte m i t Hilfe demokratischer Legitimation i n staatliche Autorität münden. Doch droht eine weitere Gefahr. Das Grundgesetz hat — so scheint es — i n einseitiger Weise darauf verzichtet, sich von der „plebiszitären Legitimation" tragen zu lassen7, hat es versäumt, durch Einbeziehung eines Stücks der unmittelbar-demokratischen Gegenstruktur die lebendigen Kräfte der Gegenwart 8 dienstbar zu machen. Wie die i n den letzten Jahren erhobenen Forderungen nach „Demokratie an der Basis", die Ansprüche auf Formen der unmittelbaren Demokratie sowie der Rückgriff auf den Rätegedanken veranschaulichen, ist das parlamentarisch-repräsentative System zum Ziel einer Welle von Angriffen und Protesten geworden 9 . Das Grundgsetz bietet nun i n A r t . 68 GG selbst eine zwar verklausulierte, doch realisierbare Möglichkeit, u m die Entscheidung der A k t i v bürger auch vor dem Ende der regulären Wahlperiode zum Tragen kommen zu lassen. Das von uns erarbeitete Interpretationsergebnis gewährt hier größeren Spielraum, während eine „Konstitutionalisierung" des A r t . 68 GG rein numerisch eine Verringerung der Zahl potentiell möglicher Auflösungen bewirkt. I m Bewußtsein von der wahrscheinlichen, verfassungspolitischen Unzulänglichkeit der von uns gefundenen Interpretationsergebnisse soll auf die — de lege ferenda vorzunehmende — Ausbaufähigkeit der i n A r t . 68 liegenden Ansatzmöglichkeiten für einen engeren Kontakt zwischen Volk und Regierung hingewiesen werden. Das Ziel w i r d dabei von der Bestandskraft des Systems und damit vor allem vom Anliegen der Verfassungstreue gegeben 10 .

7

Schmitt (VI), S. 312 ff. Hesse,S.U. 9 s. dazu die bereits zitierten Arbeiten v o n Agnoli, J. u n d P. Brückner, Transformation der Demokratie, B e r l i n 1967; sowie Gottschalch, W., Rätesystem, B e r l i n 1968. 10 Grundlegend zum Ziel, Institutionen m i t Hilfe soziologischer Methoden zu stabilisieren, Schelsky, Helmut, über die Stabilität von Institutionen, insbesondere Verfassungen, i n : I n s t i t u t i o n u n d Recht, Darmstadt 1968. 8

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