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German Pages 301 [304] Year 1997
Sturm und Drang
Sturm und Drang Geistiger Aufbruch 1770-1790 im Spiegel der Literatur Herausgegeben von Bodo Plachta und Winfried Woesler
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1997
Die Drucklegung dieses Bandes wurde gefordert durch den Landschaftsverband Osnabrück e. V.. die Stiftung der Oldenburgischen Landesbank und die Möser-Dokumentationsstelle.
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Sturm und Drang : geistiger Aufbruch 1770-1790 im Spiegel der Literatur / hrsg. von Bodo Plachta und Winfried Woesler. - Tübingen : Niemeyer, 1997 ISBN 3-484-10766-9 © Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1997 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Druck: Allgäuer Zeitungsverlag GmbH, Kempten Einband: Heinrich Koch, Tübingen
Inhalt
Vorwort Hans Reiss Literatur und Politik in Deutschland 1 7 7 0 - 1 7 8 9
VII
1
Anne Saada Diderot und der Sturm und Drang
23
Peter Skrine »Die Nacht schuf tausend Ungeheuer«. Zur Klagen- und Nachtgedankenthematik im deutschen und britischen Sturm und Drang
41
Lothar Jordan Stichworte zur deutschen Shaftesbury-Rezeption 1 7 7 0 — 1 7 9 0
57
Sven-Aage j0rgensen Hamanns Streitkultur
67
Wolfgang Braune-Steininger Implizite Theoreme des Sturm und Drang in Herders Journal meiner Reise im Jahr 1769
79
Heinrich Mohr Der Extremist Wilhelm Heinse
91
Winfried Woesler Rechts- und Staatsauffassungen in Goethes Götz von Berlichingen
105
Wolfgang Martens Goethes Clavigo und Hases Gustav Aldermann. Aufsteigertum und Schuld
121
VI
Inhalt
Bodo Plachta »Erwache Friedericke« - Sesenheimer Sturm und Drang
. . .
135
Volkmar Hansen Sinnlichkeit in Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar ( 1 7 7 9 ) oder Der Engelssturz
149
Paola Barbon Spätaufklärung, Neoklassik, Präromantik. Notizen zur italienischen Literatur 1 7 7 0 - 1 7 9 0 und zu ihrer Periodisierung . . . .
157
Peter Altena Die holländischen Himmelsstürmer. Sturm und Drang in der niederländischen Literatur 1 7 7 0 - 1 8 0 0
183
Renate Stauf » . . . und meine Hand paradiert so gut in unserm Kassenbuche als die seinige...«. Justus Mosers pragmatisches Frauenbild im Spiegel philosophischer und literarischer Weiblichkeitsentwürfe zwischen Aufklärung und Sturm und Drang
199
Ortrun Niethammer »Unser Körper ist als Ganzes und als Werkzeug der Seele nur ein Aggregat vieler Teile«. Zum Verhältnis von »Leib« und »Empfindung« in Autobiographien um 1 7 8 0 am Beispiel der Lebensbeschreibung von Margarethe Elisabeth Milow
215
Hans-Dietrich Dahnke Intentionen und Resultate des Jahrgangs 1 7 7 2 der Frankfurter Gelehrten Anzeigen
233
Henning Buck »Jeder Hofgesessene sollte glauben, die öffentlichen Anstalten würden auch seinem Urteil vorgelegt«. Geistiger Aufbruch im Osnabrückischen Intelligenzblatt
249
Jean Moes Geistiger Aufbruch - Politischer Aufbruch. Die Amerikanische Revolution im Spiegel deutscher zeitgenössischer Zeitschriften
265
Vorwort
Zur Erinnerung an den 200. Todestag des Osnabrücker Staatsmannes, J u risten und Literaten Justus Moser ( 1 7 2 0 — 1 7 9 4 ) weniger eine neuerliche wissenschaftliche Bestandsaufnahme zur Epoche des deutschen Sturm und Drang als vielmehr eine die europäischen Nachbarliteraturen miteinbeziehnde Sichtung der Zeit zwischen 1 7 7 0 und 1 7 9 0 — auch unter der besonderen Perspektive von Person und Werk Mosers — vorzunehmen, bedarf der Erläuterung. So wichtig Anregungen Mosers, der wie Lichtenberg England besucht hatte und ein sehr guter Kenner der französischen Literatur war, für die junge Generation von Sturm und Drang-Autoren auch gewesen sein mag — man denke nur an seine poetologische Schrift Harlekin oder Verteidigung des Groteske-Komischen ( 1 7 6 1 ) oder an seine auf Friedrich II. antwortende Streitschrift Über die deutsche Sprache und Literatur ( 1 7 8 1 ) - , er gehörte in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts nicht zur Generation der in den 40er und 50er Jahren Geborenen, die den persönlichen, künstlerischen und politischen Aufbruch suchten. Während die Bundesbrüder des Göttinger Hain Klopstock wie einen Gott verehrten, dagegen aber aus Anlaß von dessen Geburtstag am 2. J u l i 1 7 7 3 in einem weinseligen Autodafé Wielands Idris ( 1 7 6 8 ) und das Porträt des Autors »zerrissen« und »verbrannten«, 1 stand der Osnabrücker 1
Ü b e r diese Feier zu Klopsrocks G e b u r t s t a g berichtet J o h a n n Heinrich Voß an Ernst Theodor J o h a n n Brückner: »Seinen G e b u r t s t a g feierten w i r herlich. G l e i c h nach M i t t a g kamen wir auf Hahns Stube, die die größte ist (es regnete den Tag) zusammen. Eine lange Tafel war gedeckt, und m i t B l u m e n geschmückt. Oben stand ein Lehnstuhl ledig, für K l o p s t o c k , mit Rosen und Levkojen bestreut, und auf ihm K l o p s t o c k s sämtliche Werke. Unter dem Stuhl lag Wielands Idris zerrissen. J e z t las C r a m e r aus den T r i u m f g e sängen, und H a h n etliche sich auf Deutschland beziehende Oden von Klopstock vor. U n d darauf tranken wir Kafife; die Fidibus waren aus Wielands Schriften g e m a c h t . Boie, der nicht raucht, mußte doch auch einen anzünden, und auf den zerrissenen Idris stampfen. Hernach tranken w i r in R h e i n w e i n Klopstocks G e s u n d h e i t , Luthers A n d e n k e n , Hermanns A n d e n k e n , des B u n d s G e s u n d h e i t , dann Eberts, Goethens (den kennst du wol noch nicht?), Herders u . s . w . K l o p s t o c k s Ode der R h e i n w e i n ward vorgelesen, und noch einige andere. N u n war das Gespräch warm. W i r sprachen von Freiheit, die H ü t e
VIII
Vorwort
»Patriarch« 2 fest auf dem Boden der Aufklärung und abseits von solchen radikalen Demonstrationen. Dennoch kommt Moser, das immer wieder gerühmte Paradigma eines »aufgeklärten und aufklärend tätigen Bürgers und Patrioten«, 3 eine gewisse Vermittlerfunktion zwischen den Generationen zu, denn seine Wortmeldungen erfolgten häufig dann, »wenn es darum geht, Einfluß auf die E n t w i c k l u n g zu nehmen, die die nationale Literatur in einer ganz bestimmten
zeitgeschichtlichen
Konstellation
nimmt oder zu nehmen droht.« 4 Mosers Abrechnung mit den rigorosen N o r m e n und moralischen Prinzipien der Aufklärungsästhetik Gottschedscher Provenienz in der Harlekin-Schrift
bereitete die Hinwendung zur
schöpferischen Kraft des Genies vor. 5 Die Betonung des Individuellen, die Bevorzugung des »kleinen Schauplatzes« und die Verteidigung der provinziellen
»Mannigfaltigkeit«, 6 in der sich gerade die Einheit der
Nation im Individuellen zeige, waren die Pfeiler von Mosers unverwechselbarem geschichtlichen Denken, das Herder veranlaßte, Auszüge aus der »Vorrede« zur Osnabrückischen
Geschichte
( 1 7 6 8 ) in der Programm-
schrift Von deutscher Art und Kunst ( 1 7 7 3 ) nachzudrucken. Die Verteidig u n g von Goethes Götz
von Berlichingen
( 1 7 7 3 ) in der Erwiderung auf
den preußischen K ö n i g als »ein[es] edle[n] und schöne[n] Produkt[s] unsres Bodens« 7 erweiterte die Zurückweisung einer klassizistischen Poe-
1
4
5
6 7
auf dem K o p f , von Deutschland, von Tugendgesang, und du kannst denken, wie. Dann aßen wir, punschten, und zulezt verbrannten wir Wielands Idris und Bildnis. Klopstock, er mag's gehört oder vermutet haben, hat geschrieben, wir sollten ihm eine Beschreibung des Tags schicken« (Briefe von Johann Heinrich Voß. Hrsg. von Abraham Voß. 3 Bde. Halberstadt 1 8 2 9 - 1 8 3 3 , hier Bd. 1 , S. 1 4 4 O . Goethe an J e n n y von Voigts, Mosers Tochter, im J u n i 1 7 8 1 : »Es ist gar löblich von dem alten Patriarchen, daß er sein Volk auch vor der Welt und ihren Großen bekennet; denn er hat uns doch eigentlich in dieses Land gelokt und uns weitere Gegenden mit dem Finger gezeigt, als zu durchstreichen erlaubt werden wollte. W i e oft habe ich bei meinen Versuchen gedacht, was möchte wohl Moser denken oder sagen« (Justus Moser. Briefwechsel. N e u bearbeitet von William Sheldon in Zusammenarbeit mit Horst-Rüdiger J a r c k , Theodor Penners und Gisela Wagner. Hannover 1 9 9 2 , S. 6 0 1 ) . Rudolf Vierhaus: J u s t u s Moser und die Aufklärung. In: Möser-Forum 2, 1 9 9 4 , S. 3 — 2 0 , hier S. 6. Renate Stauf: J u s t u s Mosers Konzept einer deutschen Nationalidentität. Mit einem Ausblick auf Goethe. Tübingen 1 9 9 1 , S. 2 9 5 . V g l . Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1 7 5 0 - 1 9 4 5 . Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Darmstadt 1 9 8 5 , S. i 2 Ö f . Stauf 1 9 9 1 , vgl. A n m . 4, S. 1 2 . J u s t u s Mosers Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe in 1 4 Bdn. Hrsg. von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Oldenburg u.a. I 9 4 3 f f . , hier Bd. 3, S-75-
IX
Voruort
tik zu einer neuen, originalen kulturellen Orientierung, die nicht mehr ausschließlich die französische Sprache, Literatur und K u l t u r als Maßstab anerkannte. Die etwa ab 1 7 5 0 zu datierende Krise in der gesellschaftlichen und künstlerischen Orientierung, die der B e w e g u n g des Sturm und Drang schließlich den Boden bereitete, nannte Goethe rückblickend in Dichtung und Wahrheit (Zweiter
Theil,
Siebentes
Buch)
zunächst
eine
»Ge-
schmacks- und Urteilsungewißheit«: Für den, der etwas Productives in sich fühlte, war es ein v e r z w e i f l u n g s v o l l e r Zustand. Betrachtet man g e n a u , was der deutschen Poesie fehlte, so war es ein G e h a l t , und zwar ein nationeller; an Talenten war niemals M a n g e l . K
Die
begeisterte
Lektüre
Shakespeares,
der vermeintlich
ossianischen
Volkspoesie, Rousseaus und Klopstocks wurde so zu einem Bildungserlebnis, das antihöfische Z ü g e hatte und den desolaten Zustand des alten Reichs in politischer, gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht offenbarte. Bereitete sich aber wirklich eine »deutsche Revolution des G e i stes« vor, die »der politischen Revolution in Frankreich entsprechen sollte«? 9 Trotz allem radikalen A u f b r u c h und allen literarischen Fehden gelang es der jungen Literatengeneration nicht, die etablierten Festungen der Aufklärung zu stürmen. O b w o h l der junge Goethe, dem nach eigenem Bekunden »aller Z w a n g verhaßt« w a r , 1 0 nach den Straßburger Studienjahren nur schwer wieder unter die väterliche Autorität und in die soziale und kulturelle Enge Frankfurts zurückfinden konnte, söhnte er sich doch 1 7 7 4 mit den Jacobis in Düsseldorf aus und machte in den ersten W e i m a rer Tagen seinen Frieden mit Wieland. Auch andere Protagonisten des Sturm und Drang bemühten sich um ein Gespräch mit den Vertretern spätaufklärerischer Positionen. Der Sturm und Drang wird auch von Zeitgenossen nicht mehr nur als » G e g e n b e w e g u n g « gesehen, sondern als »Fortführung, E n t w i c k l u n g , A u s w e i t u n g aufklärerischer T ä t i g k e i t «
H
9
10
Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abt. 1, Bd. 27. Weimar 1889, S. 8 1 . Fritz Martini: Von der Aufklärung zum Sturm und Drang. 1 7 0 0 — 1 7 7 5 . In: Annalen der deutschen Literatur. Eine Gemeinschaftsarbeit zahlreicher Fachgelehrter. Hrsg. von Heinz Otto Bürger. 2., überarb. Aufl. Stuttgart 1 9 7 1 , S. 4 0 5 - 4 6 3 , hier S. 449. Goethes Gespräche. Eine Sammlung zeitgenössischer Berichte aus seinem Umgang auf Grund der Ausgabe und des Nachlasses von Ftodoard Freiherrn von Biedermann ergänzt und hrsg. von Wolfgang Herwig. Bd. 1. Zürich, Stuttgart 1 9 6 1 , S. 6 1 .
Vorwort
X
erklärbar g e m a c h t . " S o greift eine Interpretation des S t u r m und D r a n g als » V o l l e n d u n g der A u f k l ä r u n g « 1 2 k a u m mehr, w e n n auch trotz aller Differenzierung in der A u f k l ä r u n g s f o r s c h u n g nach w i e vor gelten kann, daß die A u f k l ä r u n g m i t d e m S t u r m u n d D r a n g »in ein neues d y n a m i sches S t a d i u m « ' 3 eingetreten war. A u s einer späten, m i t d e m Titel Deutsche Literatur
versehenen A u f z e i c h -
n u n g G o e t h e s w i r d d e u t l i c h , daß der S t u r m und D r a n g der Versuch einer allgemeinen P o s i t i o n s b e s t i m m u n g war, die w e d e r auf einzelne O r t e und Personen beschränkt blieb und auch nicht nur auf ein knappes halbes J a h r z e h n t zwischen 1 7 7 0 - 1 7 7 5 Von 5 0 - 7 0 ruhig emsig geist- und herzreich würdig beschränkt fixirt pedantisch respecktvoll antik-gallische C u l t u r formsuchend
zu datieren i s t : ' 4
Von 7 0 — 9 0 unruhig frech ausgebreitet leichtfertig redlich A c h t u n g verschmähend und versagend engl. C u l t u r Form w i l l k ü h r l . herstörend und besonnen h e r s t e l l e n d ' 5
G o e t h e s S c h e m a g e h t nicht von einer fest begrenzten S t u r m und D r a n g E p o c h e aus, er sucht vielmehr den K o n t r a s t , betont die Unterschiede zur älteren Literatur und betrachtet den literarischen und kulturellen
Auf-
bruch der letzten drei J a h r z e h n t e des 1 8 . J a h r h u n d e r t s aus der Perspektive einer historischen G e s a m t e n t w i c k l u n g , die i m Formideal der Klassik aufzugehen s c h e i n t . ' 6 S t u r m und D r a n g ist zu R e c h t i m m e r als ein w e i t 1
' Karl Otto Conrady: Zur Bedeutung von Goethes Lyrik im Sturm und Drang. In: Walter Hinck (Hrsg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Durchges. Neuaufl. Frankfurt/Main 1989, S. 9 7 - 1 1 6 , hier S. 100. i: Werner Krauss: Zur Periodisierung Aufklärung, Sturm und Drang, Weimarer Klassik. In: Sturm und Drang. Hrsg. von Manfred Wacker. Darmstadt 1985 (Wege der Forschung. Bd. 559), S. 6 7 - 9 5 , hier S. 8 1 . - Der Aufsatz erschien zuerst in: Sinn und Form 12, 1 9 6 1 , H. 1/2, S. 3 7 6 - 3 9 9 . 13 Krauss 1985, vgl. Anm. 1 2 , S. 76. M Die große Ausstellung zum Sturm und Drang des Freien Deutschen Hochstifts konzentrierte sich auf den Zeitraum 1 7 7 0 - 1 7 7 5 und die geographischen Zentren Göttingen, Straßburg, Frankfurt, Zürich, Darmstadt und Mannheim: Sturm und Drang. Hrsg. von Christoph Pereis. Frankfurt/Main 1988. ' ' Goethes Werke, vgl. Anm. 8, Abt. 1, Bd. 42, 2, S. 5 i 2 f . ,f> Vgl. Sven Aage Jörgensen, Klaus Bohnen, Per 0hrgaard: Aufklärung, Sturm und Drang, Frühe Klassik. 1 7 4 0 - 1789. München 1990 (Geschichte der deutschen Literatur
XI
Vorwort
oder enggefaßter B e g r i f f verstanden, die B e d e u t u n g des A u f b r u c h s unterschiedlich prononciert gesehen worden. In anderen europäischen Ländern, aber auch in A m e r i k a hat die A u f b r u c h s t i m m u n g im letzten Drittel des 1 8 . Jahrhunderts erheblich größere politische Veränderungen hervorgerufen als in den Territorien des deutschen Reichs, w o sie trotz einer Vielzahl von Antworten auf die Herausforderungen der Z e i t gesellschaftlich und politisch zunächst folgenlos blieb, so daß zahlreiche Vertreter dieses A u f bruchs resignierten und sich später sogar von ihm distanzierten. Trotz der Z u r ü c k w e i s u n g des französischen Literatur- und Sprachparadigmas erhielten sich die Vertreter des S t u r m und D r a n g im Zeitalter des Reisens eine kosmopolitische O f f e n h e i t f ü r andere Literaturen und K u l t u r e n . Das letzte Drittel des J a h r h u n d e r t s brachte einen neuerlichen H ö h e p u n k t in der Rezeption europäischer Literatur und initiierte zahlreiche Übersetzungen.17 Der vorliegende B a n d v e r s a m m e l t die Beiträge eines
literaturwissen-
schaftlichen K o l l o q u i u m s an der Universität Osnabrück, die aus unterschiedlichen Perspektiven den Spuren eines A u f b r u c h s in der Literatur zwischen
1 7 7 0 und 1 7 9 0 nachgehen. D i e literaturgeschichtliche
Ent-
w i c k l u n g in E n g l a n d , Frankreich, Italien und den Niederlanden wird ebenfalls in den B l i c k g e n o m m e n , u m die B e w e g u n g des Sturm und D r a n g in Deutschland als ein im K o n t e x t der gesamteuropäischen aufgeklärten L i t e r a t u r e n t w i c k l u n g 1 8 stehendes Phänomen zu begreifen. Übergreifend oder den Einzelfall betrachtend gehen die Beiträge Fragen der Periodisierung, der Rezeption und W i r k u n g nach, diskutieren die Bedeutung neuer literarischer Inhalte, Formen und Ausdrucksweisen, beleuchten die zeitgenössische Diskussion über die Geschlechterdifferenz oder
17
,H
von den Anfängen bis zur Gegenwart. Begründet von Helmut de Boor und Richard Newald. Bd. 6), S. 4 2 7 f. V g l . hierzu Weltliteratur. Die Lust am Übersetzen im Jahrhundert Goethes. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach am N e k kar. 2., durchges. Aufl. Marbach 1 9 8 9 . V g l . Walter Hinck: Europäische Aufklärung (I. Teil). Frankfurt/Main 1 9 7 4 (Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus von See. Bd. 1 1 ) , S. V: »Für die Konzeption [des Handbuchs] ist die Einsicht bestimmend, daß nur eine komparatistische Darstellung die Verflochtenheit der nationalen Literaturen (gerade im Zeitalter der Aufklärung) sichtbar zu machen vermag. [ . . . ] Auch wenn nationale und regionale Differenzierungen [im Handbuch] zu berücksichtigen sind, so gehört doch das vorwiegende Interesse den Literaturen, in denen die Gedanken der Aufklärung zuerst hervortreten, und jenen literarischen Entwürfen, die als Modelle in die gesamteuropäische Literatur hineinwirken.«
XII
Vorwort
untersuchen programmatische Lebensentwürfe und den Stellenwert publizistischer Äußerungen im zeitgenössischen Diskurs. Einmal mehr entsteht dadurch das Bild einer Epoche, das vielfältig gebrochen ist und von den Zeitgenossen auch in dieser Weise wahrgenommen wurde. Gerade diese Vielfalt machte den Sturm und Drang zu einer Epoche des A u f bruchs und des Übergangs, deren D y n a m i k allerdings vor der der Französischen Revolution schnell verblaßte. In gewisser Hinsicht klingt diese Skepsis schon in einer >Patriotischen Phantasie« Mosers mit dem Titel Also sind die Regeln nicht zu verachten an. In diesem Text setzt Moser dem Autonomie-Konzept der Sturm und Drang-Generation Grenzen, weil ihm die Abkehr von alten, nicht mehr plausiblen Autoritäten, Bindungen und Regeln zwar einleuchten und er die Loslösung von ihnen letztlich mitbefördert hat, aber diesen Aufbruch durch die Verpflichtung auf >neue< Regeln begrenzt sieht: Niemand verwehret es dem Genie, alle vor ihm gewesene Regeln zu überschreiten, und man kann mit Recht sagen, das Genie sei gar nicht gebunden, und es gebe gar keinen Gesetzgeber für das Genie. Aber - aber, indem der Adler solchergestalt seinen eignen kühnen Flug nimmt, so muß er sich doch in einer Bahn halten, wo ihn die Sonne nicht verbrennet; dann nennt man es eine richtige und glückliche Erfahrung, wenn ihm hierin auch kein Adler vorgeflogen ist oder nachfliegen kann; und diese Erfahrung ist seine Regel. Sie sehen also liebster Freund, daß auch der höchste Flug sein Maß und seine Regel habe; und daß einer sich nicht leicht davon entfernen kann, ohne Fehler zu begehen.' 9
Bodo Plachta Winfried Woesler
Mosers Sämtliche W e r k e , vgl. A n m . 7 , B d . 1 0 , S. 2 9 9 ^
Hans Reiss
Literatur und Politik in Deutschland 1 7 7 0 - 1 7 8 9
D a s T h e m a , das ich heute hier behandle, ist ein weites Feld. Es ist ein W a g n i s , so weit vorzupreschen. Beschränkung auf einige G r u n d l i n i e n ist u n u m g ä n g l i c h . Doch wird es, so hoffe ich, eine lebhafte Diskussion und v e r m u t l i c h auch Widerspruch in G a n g bringen. Deswegen habe ich es g e w ä h l t . N a c h dieser Vorbemerkung, also zum T h e m a . Im Jahre
1 7 7 0 , am A n f a n g der Zeitspanne, der unser K o l l o q u i u m
g i l t , war das H e i l i g e Römische R e i c h , wie es damals schon seit ein paar J a h r h u n d e r t e n hieß, fast 1 0 0 0 J a h r e alt, oder wenn man es nicht unberechtigterweise als Fortsetzung des Römischen Reiches ansieht und den A n f a n g auf die Schlacht von A c t i u m 3 1 v. Chr. setzt,' dann waren sogar 1 8 0 0 J a h r e seit seiner G r ü n d u n g vergangen. Seine Mängel waren unverkennbar. A b e r sah man 1 7 7 0 voraus, daß eine Generation später, in Wien am M o r g e n des 6. A u g u s t 1 8 0 6 der Reichsherold, von anderen Herolden begleitet, alle in Prachtgewänder gekleidet, zu der K i r c h e zu den Engeln von den N e u n Chören reiten würde, um vom Balkon dieser K i r c h e die vom letzten römischen Kaiser Franz II. verfassungswidrig beschlossene, aber realpolitisch verständliche A u f l ö s u n g des Heiligen Römischen R e i ches zu verkünden? N i c h t im geringsten! Verübeln wir Moser, dessen wir hier heute gedenken, und seinen Zeitgenossen diese mangelnde Voraussicht nicht. Politische Voraussagen großen Stils sind schwierig und selten richtig. D e n k e n wir an die Ereignisse unseres eigenen Jahrhunderts zurück. W e r hätte A n f a n g 1 9 1 4 die Machtergreifung Hitlers, die Schrekken des Dritten Reiches und den Holocaust prophezeit?! U n d wer hat M i t t e der f ü n f z i g e r J a h r e oder sogar A n f a n g der achtziger J a h r e den Fall der M a u e r und den Zerfall des S o w j e t i m p e r i u m s vorausgesehen?!
Die
meisten jedenfalls nicht. So war es auch um 1 7 7 0 . D i e Existenz des
' V g l . J a m e s (Viscount) Bryce: The Holy Roman Empire ( 1 8 6 4 ) . 4. A u f l . London 1 8 8 9 , S. 1 , der diese Ansicht vertritt.
Hans Reiss
2
Reiches wurde, da von der Geschichte sanktioniert, als Gegebenheit angesehen. Ich will hier keine Historie treiben, sondern nur betonen, wie aktuell die politischen Anschauungen Mosers, die im Kontext des Heiligen Römischen Reiches entstanden sind, waren. Sonst hätten sich nicht ein so kluger Kopf wie Goethe und ein so geistig wacher, politisch interessierter junger Fürst wie Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach an seinen Schriften begeistert. Moser kritisiert freilich alle Forderungen, die darauf zielten, Kaiser und Reichstag mehr Macht einzuräumen. Dies erschien ihm nicht zeitgemäß, wie dies seine Rezension der Schriften Friedrich Karl von Mosers 2 zu diesem Thema, die Renate Stauf mit Recht »Reichspublicistik« genannt hat, 3 bezeugt. Ob diese Auffassung Mosers durch seine Einsicht in die Gegebenheiten, die für ihn immer wesentlich waren, oder durch seine Vorstellung vom »Urstaat«, von dem Ideal des politischen Zusammenlebens freier Landeigentümer, beeinflußt war, soll dahingestellt bleiben. Beides mag eine Rolle gespielt haben. Sicherlich konnte für ihn nur der Partikularismus der Vielfalt des Lebens gerecht werden, da dieser allein die Entfaltung der individuellen Kräfte ermöglichen konnte. Auch glaubte Moser, die kulturelle Entwicklung Deutschlands erfordere eine Abwendung von der Kultur der Höfe, an denen die französische Sprache und Literatur dominierten. 4 Eine Stärkung der Zentralmacht und damit des Kaisers, war aus diesem Grund schon abwegig, und aus der Perspektive der nationalen Kultur war das, was sich historisch entwickelt hatte — das war in Deutschland die Kleinstaaterei — allein den Realitäten angemessen. Aber das heißt nicht, daß Moser Vorschläge zur Abschaffung des Reiches entworfen hätte. Nur plädierte er nicht für einen Nationalstaat, der damals auch gar nicht auf der Tagesordnung stand. Sein Wunsch war es, Nationalliteratur und Nationalkultur zu fördern. Was
1
J u s t u s Moser: Rezension von Friedrich Karl von Moser, Von dem deutschen Nationalgeiste. Sämtliche Werke. Historisch-Kritische Ausgabe in 1 4 Bdn. Hrsg. von der A k a d e m i e der Wissenschaften in Göttingen. Oldenburg u.a. 1 9 4 3 f r (weiterhin zitiert als S W ) , B d . III, S. 2 4 7 - 2 4 9 ; vgl. auch Rezension von J o h a n n J a k o b Bülau, Noch etwas zum deutschen Nationalgeiste, S W , B d . III, S. 2 5 0 - 2 5 5 und Rezension von J o h a n n J a c o b Moser, Neueste Geschichte der unmittelbaren Reichsritterschaft; SW, B d . III, S. 2 8 6 - 2 9 1 .
* V g l . Renate Stauf: J u s t u s Mosers Konzept einer deutschen Nationalidentität. M i t einem Ausblick auf Goethe. T u b i n g e n 1 9 9 1 , S. 9 3 . 4 V g l . Stauf 1 9 9 1 , vgl. A n m . 3, S. 7 9 - 9 3 , die Mosers Einstellung zu diesem T h e m a in ihrem sehr informativen und gediegenen Buch (vgl. meine Rezension in: A r b i t r i u m 1 9 9 3 , S. 1 8 7 - 1 8 9 ) eingehend behandelt.
Literatur und Politik m Deutschland
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3
aber die Politik anging, so galt es die regionale Vielfalt zu wahren. Nur so konnten kulturelle Einheit und Stärke erzielt werden. Es war also damals realistisch, an eine Weiterentwicklung des Partikularismus zu denken. Moser war Pragmatiker. Seine politischen Anschauungen fußen auf einer genauen Kenntnis der politischen Gegebenheiten. Es wäre verwegen, hier in Osnabrück die politischen Vorstellungen Mosers im Detail rekapitulieren zu wollen. So kann ich mich kurz fassen: 5 Moser ging es vor allem darum, den Einwohnern des Fürstbistums Osnabrück die Grundlage für ein erträgliches Leben zu sichern. Er hielt es für schädlich, wenn man die Stimme der Geschichte und der Natur nicht vernähme, wenn man nicht erkennen würde, daß die Geschichte lokalen Gebräuchen und Institutionen ein Existenzrecht verliehen hat. Es sei bare Anmaßung, dies zu verkennen und zu glauben, man könne aufgrund theoretischer Überlegungen ohne Kenntnis der Sachlage neue Gesetze und Verfassungen schaffen, die sich über alles Altetablierte rücksichtslos hinwegsetzten, und annehmen, auf diese Weise gute politische Verhältnisse schaffen zu können. Aufklärer wie auch Theoretiker des Naturrechts vereinfachten Gesellschaft und Politik. Sie schadeten der Vielfalt des Lebens, und damit Gesellschaft und Kultur, weil sie alles über einen K a m m zu scheren suchten. Deswegen trat Moser gegen Kants berühmten Aufsatz Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis von 1 7 9 3 auf den Plan und betonte in seinem eigenen Aufsatz Über Theorie und Praxis/' in seinem letzten Lebensjahr verfaßt, es sei unvergleichlich besser, von der Erfahrung als von einer hohen Theorie auszugehen. Aber man würde Moser mißverstehen, wenn man annähme, er wende sich gegen die liberalen Vorstellungen Kants, weil ihm nicht am Wohlergehen oder der individuellen Entwicklung des Einzelnen gelegen gewesen wäre. Davon kann keine Rede sein. Aufgrund einer aus praktischer Erfahrung gewonnenen Analyse des aufgeklärten Absolutismus, wie er in Preußen praktiziert wurde, befürchtete er, alte wohletablierte Rechte würden durch Vereinfachung und Rationalisierungsmaßnahmen mit den Füßen getreten. Denn schon zwanzig Jahre vor seinem Aufsatz Über Theorie und Praxis hatte er sich 1 7 7 2 in Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen ist der gemeinen Freiheit gefährlich gegen die Tendenz des aufgeklärten Absolutismus gewandt, alles aufgrund ^ V g l . meinen Aufsatz: J u s t u s Moser und Wilhelm von H u m b o l d t . Konservative und liberale Ideen im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts. In: Politische Vierteljahresschrift 8, 1 9 8 7 , S. 2 2 - 3 9 , insbesondere S. 2 3 - 2 7 . 6
S W . Bd. X ,
141-157-
4
Hans Reiss
allgemeiner Prinzipien zu beurteilen und zu entscheiden zu suchen. Sowohl der aufgeklärte Absolutismus wie auch die aufgeklärte Demokratie befänden sich im Irrtum, wenn sie glaubten, man könne einen Staat mit Berufung auf eine akademische Theorie regieren, anstatt daß man auf die Stimme der Erfahrung hörte. Diese Auffassung bedeutet nicht, daß Moser Theorien überhaupt verwarf. Er wußte, daß alles Denken und Handeln auch eine Theorie impliziert, denn: »jeder Erfahrne legt unstreitig eine Theorie zum Grunde. Aber der Empiriker hat das im Griffe, womit sich der Theoretiker im Kopfe quält«. 7 Theorien sollten sich deshalb aus dem konkreten Leben ergeben. Ähnliches gilt für Mosers Traditionalismus. Wenn er auch immer wieder betont, daß man Altes nicht unbefragt verwerfen solle, so heißt das keineswegs, daß er Reformen ablehnt. Reformen sind immer dann notwendig, wenn alte Gebräuche und Gesetze dem Wohlergehen der Menschen im Wege stehen. Aber das bedeutet nicht, daß alle Menschen gleiche Rechte und Privilegien haben sollen. Moser findet die Existenz von Ständen nicht unberechtigt, wenn er auch eine Vermischung von Adel und Bürgertum für angemessen hält. Aber der reine Egalitarismus, die Gleichmacherei seien gefährlich. Überhaupt sei jegliche Vereinfachung des gesellschaftlichen Lebens verfehlt. In seiner Schrift Der jetzige Hang zu allgemeinen Gesetzen und Verordnungen ist der gemeinen Freiheit gefährlich wettert er gegen Tendenzen des aufgeklärten Absolutismus, der zum Despotismus ausartet: In der Tat aber entfernen wir uns dadurch [durch allgemeine G e s e t z b ü c h e r ] von dem wahren Plan der N a t u r , die ihren R e i c h t u m in der M a n n i g f a l t i g k e i t zeigt, und bahnen den W e g zum Despotismus, der alles nach wenigen R e g e l n zwingen will und darüber den R e i c h t u m der M a n n i g f a l t i g k e i t verlieret."
Er zitiert Montesquieu (ohne Quellenangabe), wenn er weiterhin sagt: »je einfacher die Gesetze und je allgemeiner die Regeln werden, desto despotischer, trockner und armseliger wird ein Staat«. 9 Moser sieht in der Pyramide ein adäquates Modell für eine Gesellschaftsordnung.' 0 Er findet, es sei richtig, daß es Bürger und Nicht-Bürger (Bewohner und Nebenbewohner, wie er sie nennt) 1 1 in einem Staat gebe. Diese Anschau7
SW, Bd. X , S. 149. SW, Bd. V, S. 22. y SW, Bd. V, S. 23. K ' Vgl. Der Staat mit einer Pyramide i'erglichen. Eine erbauliche Betrachtung (1773), SW, Bd. V, S. 2 1 4 - 2 1 7 . 1 ' Vgl. V«« den Einflüssen der Bevölkerung durch Nebenbeuohner auf die Gesetzgebung. SW, 8
Literatur und Politik in Deutschland 7 7 7 0 - / 7 8 9
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ung war im 18. Jahrhundert keineswegs ungewöhnlich. Soziale Unterschiede und politische Differenzierung wurden bedauerlicherweise damals in Deutschland, und nicht nur in Deutschland, weitgehend für vertretbar gehalten. Was Moser schrieb, war also damals keineswegs veraltet, sondern traf in den Kern der damaligen politischen Welt Deutschlands. Über Politik des 18. Jahrhunderts selbst will ich hier nichts sagen. Im modernen Sinne des Wortes gab es sie damals kaum in Deutschland. Die Politik wurde von den Herrschern, von ihren Ministern und Beamten und in den Städten von der herrschenden Oligarchie betrieben. In keinem Fürstentum, selbst in Württemberg, besaßen die Stände die Macht, die das britische Parlament ausübte. Moser irrte sich, wenn er anderes glaubte.' 2 Großbritannien wurde zwar damals noch oligarchisch regiert, aber der letzte Versuch eines Monarchen, der Georgs III., ein persönliches Regiment auszuüben, scheiterte gerade zu dieser Zeit. An der Schwächung der Krone hatte Edmund Burke, mit dem Moser oft verglichen wurde, Anteil. Burke ist ein bedeutender Denker. Seine Wirkung auf England, auf die Welt überhaupt, war viel größer als die, welche Moser selbst in Deutschland vergönnt war. Es lohnt sich, einen Blick auf sein Denken zu werfen, selbst wenn er als politischer Denker in Deutschland erst nach 1 7 9 0 , dafür dann aber nachhaltig gewirkt hat. Anders als Moser, der außerhalb Deutschlands faktisch unbekannt ist und auch heute in Deutschland kaum noch wirkt, ist er nicht an der Peripherie der Geschichte der politischen Philosophie angesiedelt. Deshalb kann ein Resümee von Burkes Einstellung zur Politik die Gültigkeit von Mosers politischen Anschauungen untermauern. Burke ist in Deutschland meist als Reaktionär aufgrund seiner gegen die Französische Revolution gerichteten Polemik, die er in Reflections on the Revolution in France entfaltete, bezeichnet worden. Dieses Werk er-
Bd. V, S. 1 1 - 2 2 ; vgl. auch Der Bauerhof als eine Aktie betrachtet. SW, Bd. VI, S. 2 5 5 270. »Die Engländer sind Sklaven der Freyheit [ . . . ] ihre Unwissenheit ist in diesem Stück [der Kenntnis auswärtiger Verfassungen] so gros, daß sie es als ein Mährgen ansehn, wenn man ihnen sagt, daß in den besten Staaten eine gleiche Freyheit herrsche, daß die Landes-Ordnungen und Steuren von den Landständen bewilliget werden, daß der Fürst nur die ausübende Macht habe, und daß man um deswillen dort nicht viel Lärm um Freyheit mache, weil man sie, wie das tägliche Brot ohne viel Kosten längst habe.« Justus Moser. Briefe. Hrsg. von Ernst Beins und Werner Pleister. Hannover 1 9 3 9 , S. 147 (zitiert bei Stauf 1 9 9 1 , vgl. Anm. 3, S. 1 3 9 , die auch Mosers Einstellung zum englischen Verfassungsleben erörtert. Vgl. ebenda, S. 1 3 7 - 1 4 1 ) .
6
Hans Reta
schien am i . November 1 7 9 0 , also zu einer Zeit, als man meinen konnte, die Revolution sei in ein ruhiges Fahrwasser geraten, er sagte jedoch damals schon den Tod des Königspaares, die Schreckensherrschaft (Robespierres) und die Militärdiktatur (Napoleons) hellsichtig voraus. Aber er war keineswegs der Schurke, auf den Heine mit absichtlichem Falschaussprechens seines Namens r e i m t e ; 1 ' er war ein W h i g , ein Reformator, der zwar offiziell Anglikaner war, aber aus einer irischen katholischen Familie stammte und mit einer Katholikin verheiratet war. 1 4 Daher wußte er, wie es Unterdrückten zumute war. Denn damals war nur Anglikanern der Zutritt zum Parlament und damit zur Macht gestattet. Außerdem war die Herkunft aus Irland (Burke sprach dazu noch unverkennbar mit einem prononcierten irischen Akzent) nicht gerade ein Vorteil im öffentlichen Leben Englands. Burke suchte mit kleinen Schritten, die ihm allein politisch sinnvoll erschienen, die Emanzipation der Katholiken in die Wege zu leiten; aber gegen Rechtsbeugung und Rechtsbruch ging er unerbittlich und konsequent vor. Es gelang ihm, das Unterhaus zu überreden, den mächtigen Generalgouverneur von Indien, Warren Hastings, der Korruption vor dem Oberhaus anzuklagen. Wenn auch Hastings freigesprochen wurde, so wirkte Burkes Kampagne. Der Korruption und Rechtsbrechung (darunter waren auch Justizmorde) in Indien wurde ein Ende gesetzt. Er, später der Gegner der Französischen Revolution, bekämpfte die nordamerikanische Politik Georgs III. und seines Premierministers Lord North und verteidigte die Amerikanische Revolution; denn diese war historisch gerechtfertigt, da bewährte historische Rechte von der englischen Regierung unterdrückt wurden. Wäre Burke 1 7 8 9 gestorben, so würde er heute als Liberaler, als Radikaler gefeiert werden.' 5 11
14
15
Vgl. Einem Abtriinningen: »O, das tut das viele Lesen/Jener Schlegel, Haller, Burke - / Gestern noch ein Held gewesen,/ Ist man heute schon ein Schurke«. Heinrich Heine. Sämtliche Werke. Hrsg. von Hans Kaufmann. Berlin 1961 f., Bd. II, S. 303. V g l . Conor Cruise O'Brien: The Great Melody. A Thematic Biography of Edmund Burke. London 1992. Diese vorzügliche Biographie gewährt eine einsichtsvolle Darstellung von Burkes Familiengeschichte und Einstellung zum Katholizismus. V g l . O'Brien 1 9 9 2 , Anm. 1 4 , S. 5 9 5 , der diese Ansicht vertritt. Es gibt sehr viele Aussagen Burkes, die seine Freiheitsliebe bekräftigen. Zwei Beispiele, fast ein Vierteljahrhundert von einander getrennt, müssen hier genügen, z.B.: »The Practical Idea of the Constitution of the British Empire to be deduced from the general and relative Situation of its parts. The purposes for which they were formed. The Law of England and Examples of other countries not applicable here. It must be governd upon the Principles of Freedom«. Notiz am 3. Februar 1766. Edmund Burke. Writings and Speeches. Hrsg. von Paul Langford. Oxford 1 9 8 1 ff., Bd. II, S. 47; und: »The [glorious] revolution [of 1 6 8 8 ] was made to preserve our ancient indisputable laws and liberties, and that ancient constitution of government which is our only security for law and
Literatur und Politik
in Deutschland
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7
Doch es war seine P o l e m i k g e g e n die Französische R e v o l u t i o n , die vor allem Schule gemacht hat. A b e r jedesmal b e k ä m p f t e B u r k e die Ü b e r g r i f f e der Mächtigen, wenn sie g e g e n etablierte Rechte verstießen; denn er war ein überzeugter K ä m p f e r für Freiheit und Recht. Er handelte konsequent, als er die Revolution in Frankreich a n g r i f f , weil seiner M e i n u n g nach dort a u f g r u n d abstrakter, historisch nicht vertretbarer T h e o r i e n , Staat und Gesellschaft u m g e m o d e l t w u r d e n . ' 6 Das war Unrecht. Das m u ß t e zwangsläufig eine Katastrophe bewirken. A h n l i c h wie Moser dachte B u r k e pragmatisch. Doch deswegen war er genau wie Moser noch längst kein O p p o r t u n i s t . A u c h er hatte Prinzipien, aber sie waren nicht ohne K e n n t n i s der politischen Realität am Schreibtisch erdacht worden, sondern e n t s t a m m t e n der politischen und sozialen Welt, die er als Politiker vorfand. Anders als Moser agierte er jedoch nicht in einem Kleinstaat, sondern in einem der mächtigsten Staaten der Welt, dem Vereinigten K ö n i g r e i c h von Großbritannien und Irland. So war sein B l i c k zwangsläufig weiter als der Mosers, und deshalb konnten seine Schriften eher ein vernehmbares Echo erhalten. Er konnte als O p p o sitioneller in der englischen Politik tätig sein, gerade weil die Opposition schon damals zum politischen Leben E n g l a n d s gehörte. B u r k e b e k ä m p f t e abstrakte Theorien, da sie seiner A n s i c h t nach nur die Stabilität und Kohärenz der Gesellschaft untergruben und das Wohlergehen und die Freiheit des Einzelnen beeinträchtigten. O h n e diese Stabilität
müßten
Staat und Menschen leiden. D i e Stabilität ließe sich aber nur bewahren, wenn etablierte Institutionen bewahrt würden. R e f o r m e n sind
immer
notwendig, aber dabei sollte man i m m e r sacht und vorsichtig vorgehen, um die Kohärenz des G a n z e n nicht zu untergraben. B u r k e hielt R e f o r men f ü r u n u m g ä n g l i c h , ' 7 aber er war G r a d u a l i s t . N u r bei Rechtsbrechung und K o r r u p t i o n war er radikal. Vor allem war es f ü r B u r k e in der Politik n o t w e n d i g , realistisch zu verfahren. Man solle auf die G e g e b e n h e i t e n achten. A u f sie k o m m e es
liberty«. E d m u n d Burke. Reflections on the French Revolution. E v e r y m a n Ausgabe. London 1 9 1 0 , S. 2 9 . Diese Z i t a t e belegen auch die Konsequenz von Burkes Einstellung zu Freiheit, Gesetz und Verfassung. "" V g l . z . B . die folgende Aussage Burkes: »I feel an insuperable reluctance in g i v i n g my hand to destroy any established institution of g o v e r n m e n t , upon a theory, however plausible it may be«. In: Speech on 1 D e c e m b e r 1 7 8 3 on Charles J a m e s Fox's East India Bill. Burke 1 9 8 1 ff., vgl. A n m . 1 5 , B d . V, S. 3 8 7 . 17
V g l . z . B . : » A state without the means of some change is without the means of its conservation. Without such means it m i g h t even risk the loss of that part of its constitution which it wished most religiously to preserve«. B u r k e 1 9 1 0 , v g l . A n m . 1 5 , S. 1 9 f .
8
Hans Retss
vor
allem
solle m a n im
an.'8
luftleeren
sondern
Nur
das
sei
wünschenswert,
sich auf die Vernunft Raum
oder
schwebe
sie sei e i n T e i l d e r
und den Gegebenheiten
daher
gefährlich.
Wie
frei
Natur.
Natur
was
realisierbar
berufen; aber die Vernunft über
den
Der Glaube,
sei.
Zwar
agiere
nicht
Ereignissen die Vernunft
der
Welt,
könne
der
v o r s c h r e i b e n , w a s s e i n s o l l , sei f a l s c h
und
läßt sich a b e r das W i r k e n d e r N a t u r in der P o l i t i k e r k e n n e n ?
Zugang
zu dieser Erkenntnis verschafft allein die Geschichte.
die Affinität zu Moser deutlich.
Die Geschichte
bestimmt
Er
wird
auch das
sen des Staates. B u r k e verwirft die Vertragstheorien eines H o b b e s , oder Rousseaus.
Den
Hier
We-
Lockes
schreibt:
S o c i e t y is i n d e e d a c o n t r a c t .
S u b o r d i n a t e c o n t r a c t s for o b j e c t s o f m e r e -
sional interest m a y be d i s s o l v e d at p l e a s u r e
occa-
but the state o u g h t not to
be
c o n s i d e r e d as n o t h i n g b e t t e r t h a n a p a r t n e r s h i p i n a t r a d e o f p e p p e r a n d c o f f e e , calico or
t o b a c c o , or s o m e o t h e r such l o w c o n c e r n , to b e t a k e n u p for a little
t e m p o r a r y i n t e r e s t , a n d t o b e d i s s o l v e d b y t h e f a n c y o f t h e p a r t i e s . It is t o b e l o o k e d o n w i t h o t h e r r e v e r e n c e ; b e c a u s e i t is n o t a p a r t n e r s h i p i n t h i n g s servient
only
to
the
gross
animal
existence
of a temporary
and
sub-
perishable
n a t u r e . It is a p a r t n e r s h i p i n e v e r y v i r t u e a n d i n a l l p e r f e c t i o n . A s t h e e n d s o f such
a partnership
partnership
cannot
not only
be
between
obtained
in
many
generations,
t h o s e w h o are l i v i n g ,
but
are l i v i n g , t h o s e w h o are d e a d , a n d t h o s e w h o are to be Deshalb fen,
müsse m a n ein anderes Bild v o m
als es
in
vielen
Aufklärungsschriften
it
becomes
between
those
born.19
Staat, von der N a t i o n gang
und
gäbe
war.
entwerWas
d e n Staat u n d die N a t i o n gilt, trifft auch auf die Verfassung eines zu. Sie hat i m m e r darin
18
Vgl.
z.B.:
»Circumstances
a
who
für
Staates
bestanden:
[...]
give
in
reality
to
every
political
principle
d i s t i n g u i s h i n g colour, and d i s c r i m i n a t i n g effect. T h e c i r c u m s t a n c e s are w h a t
its
render
every c i v i l and p o l i t i c a l s c h e m e beneficial or n o x i o u s to m a n k i n d « . B u r k e 1 9 1 0 , v g l . A n m . 1 5 , S. 6. V g l . A l f r e d C o b b a n : E d m u n d B u r k e and the R e v o l t a g a i n s t t h e E i g h t e e n t h C e n t u r y . 2. A u f l . L o n d o n i 9 6 0 f ü r eine k o n z i s e D a r s t e l l u n g der p o l i t i s c h e n A n schauungen Burkes. B u r k e 1 9 1 0 , v g l . A n m . 1 5 , S. 9 3 . V g l . auch d i e f o l g e n d e A u s s a g e B u r k e s in Speech on a Motion to inquire into the State of the Representation of the Commons in Parliament
(7. M a i
1 7 8 2 ) : » A nation is not an idea only o f local e x t e n t and i n d i v i d u a l m o m e n t a r y a g g r e g a tion, b u t it is an idea of c o n t i n u i t y w h i c h e x t e n d s in t i m e as w e l l as in n u m b e r s and in space. A n d t h i s is a c h o i c e not o f one day or one set o f p e o p l e , not a t u m u l t u a r y and g i d d y c h o i c e ; it is a d e l i b e r a t e e l e c t i o n o f ages and g e n e r a t i o n s ; it is a c o n s t i t u t i o n m a d e by w h a t is ten thousand t i m e s b e t t e r than choice; it is m a d e by the p e c u l i a r c i r c u m s t a n c e s , occasions, t e m p e r s , d i s p o s i t i o n s , and m o r a l , c i v i l , and social h a b i t u d e s o f the p e o p l e , w h i c h disclose t h e m s e l v e s only in a l a n g space o f t i m e « . T h e W o r k s of the R i g h t H o n o u r a b l e E d m u n d B u r k e . 8. A u f l . B o s t o n 1 8 8 4 , B d . V I I , S. 95.
Literatur und Politik in Deutschland 1770-
(789
9
to claim and assert our liberties, as an entailed inheritance derived to us from our forefathers, and to be transmitted to our posterity, as an estate specially belonging to the people of this kingdom, without any reference whatever to any other more general or prior right.'"'
Seiner Ansicht nach war die Glorious Revolution von 1 6 8 8 , anders als die Französische Revolution, rechtmäßig, weil sie die Verfassung, die sich bewährt hatte und damit die etablierte Parlamentsherrschaft bestätigte, die Karl I. und Cromwell zu Unrecht angegriffen bzw. beseitigt hatten. Und diese Glorreiche Revolution, die J a k o b II. absetzte und Wilhelm III. von Oranien und dessen Gattin Maria auf den Thron brachte, ging auf die Magna Charta und damit auf das Mittelalter zurück. Burke war eine weitere Wirkung als Moser vergönnt, weil seine Politik auf der großen Bühne des Welttheaters vor sich ging und der englische Parlamentarismus für liberale Denker und Politiker in der ganzen westlichen Welt richtungsweisend war. Burke gilt heute noch als der Philosoph des Reformkonservativismus. Ein Beispiel für seine Wirkung muß als Beleg genügen. Im Vorwort zu seinen Gesammelten Werken schreibt Disraeli, der englische Premierminister und Begründer der modernen Konservativen Partei, daß die Politik dieser Partei sich auf »the use of ancient forms and the restoration of the past« 2 1 und nicht auf »political resolutions founded on abstract ideas« 22 gründen solle. Derartige Vorstellungen sind auch heute noch in England wirksam. So kann man Spuren von Burkes Denken bei konservativen Denkern und Politikern, und nicht nur konservativen Denkern, unserer Zeit finden. Selbst Politiker der britischen Linken vertreten manchmal, vielleicht ohne sich dessen bewußt zu sein, Ansichten, die denen Burkes entsprechen. 23 Dann fallen Worte wie: »That may be done abroad but we don't do that sort of thing in Britain; we never have, we never shall, and we never should«. Bei Bismarck, Konrad Adenauer und Helmut Kohl, geschweige denn bei Willy Brandt oder Helmut Schmidt, bin ich jedoch nie auf Hinweise oder Anspielungen auf Moser gestoßen; doch mag ich derartiges übersehen haben.
2
"
" Burke 1 9 1 0 , v g l . A n m . 1 5 , S. 3 1 . Benjamin Disraeli ( i s t Earl of Beaconsfield): General Preface zu Collected Works [Hupenden Ausgabe]. London 1 8 7 0 - 1 8 7 1 . In: Bradenham Edition of the Novels and Tales. Hrsg. von Philipp Guedalla. London 1 9 2 6 ^ , Bd. I, S. X I I . Ebenda, S. X I I . Ich hörte z . B . Tony Benn (früher Anthony W e d g w o o d - B e n n , Viscount Stansgate genannt), ein auf dem linken Flügel der Labour Partei angesiedelten Politiker, anläßlich einer Diskussion nach einem Vortrag in Bristol derartige Worte aussprechen.
IO
Hans Reiss
W e d e r Moser noch Burke liefern eine grundlegende
philosophische
B e g r ü n d u n g der Kriterien, auf denen politisches Handeln basieren soll. Derartiges findet sich jedoch in den politischen Schriften Kants. Z w a r wurden nicht alle diese Schriften vor 1 7 9 0 publiziert, aber es ist sinnvoll, auf K a n t s Denken im Ganzen einzugehen, da die G r u n d z ü g e seines politischen Denkens schon vor 1 7 9 0 aufgezeichnet wurden, vor allem in zwei 1 7 8 4 publizierten Schriften: Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weit bürgerlicher Absicht und Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?
Der Kern
seiner politischen A n s c h a u u n g ist sogar schon in der Kritik
der reinen
Vernunft von
1781
zu finden. Dort spricht K a n t von einer Verfassung
»von der größten menschlichen Freiheit nach Gesetzen, welche machen, daß jedes Freiheit mit der andern ihrer zusammen bestehen
kann«.24
K a n t s politische Vorstellungen unterscheiden sich prinzipiell von denen Mosers und Burkes. O b w o h l Moser viele Aufsätze in der Berlinischen Monatsschrift,
der K a n t auch bedeutende politische Arbeiten beisteuerte,
veröffentlichte, setzte K a n t sich erst 1 7 9 8 nach der von Friedrich Nicolai im selben J a h r veranlaßten postumen Publikation von Uber Theorie und Praxis25
mit Moser auseinander. Dies geschah in einer in Briefform ver-
faßten und gegen
Nicolai
gerichteten
Schrift
Ueber die
Buchmacherey
( 1 7 9 8 ) . Nicolais A n g r i f f e auf die kritische Philosophie 2 6 hatten
Kant
erzürnt. Besonders fand er dessen Versuche, »Sachen die wichtig waren
J4
K r i t i k der reinen Vernunft. In: G e s a m m e l t e Schriften. Akademieausgabe. Berlin i c j o o f f . (weiterhin abgekürzt als A A ) , B d . IV, S. 2 0 1 ( A , S. 3 1 6 ) ; B d . III, 2 4 7 (B, S. 3 7 } ) . Für eine Erörterung der politischen Anschauungen Kants vgl. mein Buch: K a n t s politisches Denken. Bern, Frankfurt/Main, Las Vegas 1 9 7 7 , und auch meine Ausgabe: K a n t . Political W r i t i n g s . 2. A u f l . C a m b r i d g e 1 9 9 1 , die eine ausführliche B i bliographie enthält. Mosers fragmentarischer A u f s a t z erschien zuerst in: Berlinischen Blätter, II. J a n u a r 1 7 9 8 , S. 1 1 6 - 1 2 6 , dann etwas später in: J u s t u s Moser. Vermischte Schriften. Berlin, Stettin I 7 9 7 f . , B d . II., 8 6 - 1 0 5 .
2Ä
V g l . Friedrich Nicolai: Geschichte eines dicken Mannes. Berlin, Stettin 1 7 9 4 . Ders.: Leben und M e i n u n g e n Sempronius Gundibert's, eines deutschen Philosophen. Berlin, Stettin 1 7 9 8 . Ders.: Beschreibung einer Reise durch Deutschland und die Schweiz im J a h r e 1 7 9 1 . B d . X I . Berlin, Stettin 1 7 9 6 . Möglicherweise hatte auch Kant Nicolais Vorrede zu den anonym erschienenen (der Verfasser war Johann Christoph Schwab): N e u n Gespräche[n] zwischen W o l f und einem Kantianer. Berlin, Stettin 1 7 9 8 und seine Vorrede zu Mosers: Ueber Theorie und Praxis. In: Moser 1 7 9 7 f., vgl. A n m . 2 5 , S. 8 6 8 8 , vor A b f a s s u n g von Ueber die Buchmacherey gelesen. Z u dem Verhältnis zwischen Moser und K a n t v g l . den vorzüglichen Aufsatz von Reinhart Brandt: K a n t und Moser. In: Möser-Forum 1 , 1 9 8 9 , S. 1 7 7 - 1 9 1 , und in: A u f k l ä r u n g , 3, 1 9 8 8 [ 1 9 8 9 ] , S. 8 9 - 1 0 4 . V g l . auch zu diesem T h e m a meinen Aufsatz »Moser, K a n t und Nicolai«, der im MöserForum 3 (voraussichtlich 1 9 9 8 ) erscheinen wird.
Literatur und Politik in Deutschland 1770-1
789
ins Lächerliche« 2 7 zu ziehen, widerwärtig. Für Moser selbst findet er zwar freundliche Worte, lehnt aber dessen vom Empirismus bestimmte Vorstellung von einer Erbaristokratie mit Hinweis auf seine eigene a priori g ü l t i g e transzendentale »Rechtslehre« mit Bemerkungen und Beispielen, die mit Ironie, ja sogar mit Sarkasmus gewürzt sind, entschieden ab. Auf B u r k e gibt es in seinen politischen Schriften möglicherweise einen Hinweis in Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis.2*
aber da K a n t keinen N a m e n nennt, ist
dieser Beleg nicht gesichert. Die Ablehnung von Burkes Empirismus in seiner Kritik der Urteilskraft
( 1 7 9 0 ) 2 9 bezeugt jedoch unverkennbar, daß
er mit einer jeglichen auf Erfahrung beruhenden politischen Theorie wie der Burkes nicht hätte einverstanden sein können. A b e r das ist jedem Leser Kants bekannt. In einem freilich waren sich K a n t , B u r k e und Moser einig. Keiner von ihnen wünschte eine plebiszitäre Demokratie. Dies wäre selbst für Kant eine Herrschaft der Menge, der Masse gewesen. Denn er fordert eine repräsentative Demokratie, wobei K a n t , der unter »Demokratie« Herrschaft der Masse versteht, in diesem Kontext dieses Wort nicht verwendet. Er spricht von einer republikanischen Verfassung, die aber eigenartigerweise eine Monarchie zuläßt. Im Z u g e der allgemeinen Vorstellungen der Zeit verficht K a n t auch nicht die G e w ä h r u n g des Stimmrechtes an alle Staatsangehörige. A b e r das forderten nicht einmal die J a k o b i n e r in Frankreich. Die Grundeinstellung Kants ist prinzipiell anders als die Mosers und Burkes. In seiner Geschichtsphilosophie geht er nicht auf die realen historischen Gegebenheiten ein, sondern konstruiert eine grundlegende Hypothese der historischen E n t w i c k l u n g der Menschheit, die den G a n g der Geschichte sinnvoll erscheinen läßt. A u s dem Naturzustand heraus entfaltet sich dieser G a n g , nicht durch die Vernunft, sondern durch die »ungesellige Geselligkeit
der M e n s c h e n « . 3 0 D a
es absolut notwendig ist, der natürlichen Zwietracht zu entkommen, muß der beschwerliche W e g zu einem Verfassungsstaat begangen werden. Kants Darstellung ist in erster Linie nicht auf die Praxis, die seinem
A A . Bd. X X I , S. 176. Vgl. Paul Wittichen: Kant und Burke. In: Historische Zeitschrift 1 0 3 , 1904, S. 2 5 4 , der vermutet, daß mit dem dort angegebenen »über Theorien und Systeme so keck absprechende[n] Ehrenmann« (in: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. In: A A , Bd. VIII, S. 277) Burke gemeint ist. In: A A , Bd. V, S. 277. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. In: A A , Bd. VIII, S. 20.
Hans
Rens
scharfen Blick übrigens keineswegs fremd war, bezogen. Es ist eine Theorie, die auch auf die Praxis zutrifft, weil sie, wie er behauptet, philosophisch gerechtfertigt werden kann. Das Ziel der Geschichte ist ein durch den Rechtsstaat gesicherter »Ewiger Friede«, der allein die Freiheit des Einzelnen durch Gewährleistung der Freiheit aller andern sichern kann und der die Existenz eines Staates garantiert, in dem ein jeder »zu der Stufe eines Standes [ . . . ] gelangen« dürfe, »wozu ihn sein Talent, sein Fleiß und sein Glück hinbringen können«,' 1 Worte, die übrigens John Major in der Downing Street sprach, bevor er seinen Amtssitz zum ersten Mal als britischer Premierminister betrat. Ob er wußte, daß sie von Kant stammten, steht auf einem andern Blatt. Kant sucht die Grundprinzipien einer rationalen Politik zu entwerfen, die es jedem erlaubt, aufgeklärt zu handeln, d. h. mündig zu sein und seine eigenen Entscheidungen zu treffen. Die Ethik verpflichtet den Menschen, aufgeklärt zu handeln, die Geschichte zwingt ihn letztlich dazu, da sonst Anarchie und Chaos herrschen. Moralisches politisches Verhalten fußt nicht auf dem Befolgen eigener Interessen, sondern auf den Prinzipien einer aufgeklärten Politik, welche die Freiheit, Gleichheit und Unabhängigkeit des Einzelnen garantieren soll. Zur Bewahrung der Freiheit, auf die es in erster Linie ankommt, ist es unumgänglich, daß wir uns der Vernunft ungehindert und öffentlich bedienen können. Dies erfordert also Publizität; denn, wie Kant dies eindrucksvoll in ZÄW Euigen Frieden formuliert, es ist ein »transzendentales und bejahendes Prinzip des öffentlichen Rechts [ . . . ] alle Maximen, die der Publizität bedürfen (um ihren Zweck nicht zu verfehlen), stimmen mit Recht und Politik vereinigt zusammen«. 3 2 N u r so kann der Weg zum »Ewigen Frieden«, der das Ziel jeglicher vernünftiger Politik sein soll, beschritten werden. Und es ist unsere moralische Aufgabe, diesen Weg zu beschreiten, eine Pflicht also, der wir uns nicht entziehen dürfen. Es ist also eine »offene Gesellschaft«, die Kant fordert, um das Wort Karl Poppers, 3 3 der Kant verpflichtet ist, zu verwenden. So überzeugend Kants Prinzipien der Politik auch sind, die Anwendung dieser Prinzipien in der Realität ist schwierig, weswegen auch manches für Burke oder Moser spricht.
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Ü b e r den G e m e i n s p r u c h : D a s m a g in der T h e o r i e richtig sein, t a u g t aber nicht f ü r die
w
In: A A , B d . V I I I , S. 3 8 6 .
Praxis. In: A A , B d . V I I I , S. 2 9 2 . u
K a r l R . P o p p e r : T h e O p e n Society and Its E n e m i e s
2 B d e . L o n d o n 1 9 4 5 (Die O f f e n e
G e s e l l s c h a f t und ihre Feinde. Übersetzt von Paul Feyerabend. 2 B d e . Bern 1 9 5 7 t ).
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Die Anschauungen von Moser, Burke und Kant, dieser drei für ihre Zeit repräsentativen Denker, auf die ich mich beschränken mußte, sind also keineswegs von rein historischer Bedeutung. Was war aber die Einstellung von Dichtern zu den politischen Tendenzen ihrer Zeit? Auch hier kann ich nur über zwei Dichter sprechen: Goethe und Schiller. Es ist bedauerlich, daß dies für andere, besonders für Lessing, die für diesen Vortrag bemessene Zeit nicht gestattet. Goethe erwähnt Burke nirgends. Zumindest ist mir kein Hinweis bekannt. Mosers Darstellungsweise war jedoch für ihn ein »gutes Muster«/ 4 wie er es selbst nannte; dieser »treffliche Mann«"45 hatte einen »sehr großen Einfluß«^' auf seine Bildung gehabt, denn er war der »tüchtige Menschenverstand selbst«." Er war überzeugt, daß »die Äußerungen eines solchen Geistes und Charakters gleich Goldkörnern und Goldstaub denselben Wert haben wie reine Goldbarren und noch einen höheren als das Ausgemünzte selbst«/" Mosers Schriften gewährten Goethe die Einsicht, daß die Zersplitterung des Reiches kein Nachteil, sondern ein Vorteil war. Goethes bekannte Worte über Mosers Patriotische Phantasien aus Dichtung und Wahrheit treffen in den Kern von Mosers Denken: Mosers Darstellung [im ersten Teil der Patriotischen Phantasien], so dem Inhalt and der Form nach, muß einem jeden Deutschen höchst interessant sein. Wenn man sonst dem Deutschen Reiche Zersplitterung, Anarchie und Ohnmacht vorwarf, so erschien aus dem Möserischen Standpunkte gerade die Menge kleiner Staaten als höchst erwünscht zu Ausbreitung der Kultur im einzelnen, nach den Bedürfnissen, welche aus der Lage und Beschaffenheit der verschiedensten Provinzen hervorgehn: und wenn Moser von der Stadt, vom Stift Osnabrück ausgehend und über den westfälischen Kreis sich verbreitend, nunmehr dessen Verhältnis zu dem ganzen Reiche zu schildern wußte, und bei Beurteilung der Lage, das Vergangene mit dem Gegenwärtigen zusammenknüpfend, dieses aus jenem ableitete und dadurch, ob eine Veränderung lobens- oder tadelnswürdig sei, gar deutlich auseinander setzte: so durfte nur jeder Staatsverweser, an seinem Ort auf gleiche Weise verfahren, um die Verfassung seines Umkreises und deren Verknüpfung mit Nachbarn und mit dem Ganzen aufs beste kennen zu lernen, und sowohl Gegenwart als Zukunft zu beurteilen. 1,9 41
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Goethes als H A ) , H A , Bd. H A , Bd.
Werke. Hrsg. von Erich Trunz. H a m b u r g 1 9 4 8 - 1 9 6 4 (weiterhin abgekürzt Bd. 1 0 , S. 53: Dichtung und Wahrheit, Teil 3, Buch 1 5 . 1 2 , S. 3 2 0 ; »Justus Moser«. 1 2 , S. 3 2 0 .
H A , B d . 1 2 , S. 3 2 0 . H A , Bd. 1 2 , S. 3 2 0 . H A , B d . 1 0 , S. 5 2 ; Dichtung und Wahrheit, Teil 3, Buch 1 5 .
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Es dürfte kaum ein Zufall gewesen sein, daß bei der entscheidenden Begegnung zwischen Carl August von Sachsen-Weimar-Eisenach und Goethe der erste Band von Mosers Patriotischen Phantasien im Roten Haus in Frankfurt, wenn auch unaufgeschnitten, auf dem Tische lag und daß sich das Gespräch der beiden Mosers Vorstellungen zuwendete, denn Goethe konnte sehr diplomatisch im Umgang mit hohen Personen sein. Goethe war kein politischer Schriftsteller, aber Politik spielt in vielen seiner Werke eine bedeutende Rolle, wenn auch seine Aussagen zur Politik vor der Französischen Revolution wesentlich spärlicher sind. 40 Sicherlich ist die dichterische Gestaltung von Goethes politischen Anschauungen weitgehend durch Aufklärungsdenken geprägt, wie überhaupt viel mehr Ideen der Aufklärung bei Goethe aufzufinden sind, als oft zugegeben wird. Von Die Leiden des jungen Werthers und Wilhelm Meisters theatralischer Sendung will ich nicht im Detail sprechen. Werther begeht meiner Ansicht nach keineswegs Selbstmord aus politischen oder sozialen Gründen, er erschießt sich nicht, weil er sich als Bürgerlicher in der Feudalwelt frustriert fühlt, sondern weil er aus seelischen Gründen mit dem Leben nicht zurecht kommt. Ob Wilhelm ein Nationaltheater, das eine kulturelle Erneuerung in Deutschland bewirken könnte, gründen wird oder nicht, ist am Ende der Sendung noch offen. Bei den vor 1789 verfaßten Dramen Goethes ist es anders. Zwar sind sie keine politischen Dramen im strikten Sinne des Wortes, aber die politische Dimension von Götz von Berlichingen und Egmont, von Iphigenie auf Tauris und Torquato Tasso ist unverkennbar. Den Urfaust möchte ich hier ausklammern, da dort anders als in Faust II von Politik nur peripher die Rede ist. Wenden wir uns zunächst Götz von Berlichingen zu. Götz selbst ist der Protagonist einer rühmlichen, aber im Untergange begriffenen Welt, des Reichsrittertums. Ob dies den historischen Tatsachen von 1 7 7 0 entsprach, ist nicht leicht zu entscheiden. Zwar waren die Reichsritter im Vergleich zu den Territorialfürsten schwach, aber es gab sie im Südwesten Deutschlands, wo Götz lebte, in Hülle und Fülle. Auch gab es genug Bestrebungen, der Zentralgewalt des Reiches mehr Macht zukommen zu lassen, was vermutlich auch den Reichsrittern zugute ge40
V g l . auch meine Aufsätze in: Formgestaltung und Politik. Goethe Studien. Würzburg 1 9 9 3 wie auch: Goethe und die Politik. Französische Revolution. Napoleon. Restauration. In: Evolution des Geistes. Jena um 1800. Hrsg. von Friedrich Strack. Stuttgart 1 9 9 4 , S. 1 7 5 — 196, in denen ich mich mit diesen Fragen befaßte. Zu Werther vgl. auch meine Bücher: Goethes Romane. Bern 1 9 6 3 , S. 1 4 - 7 1 , und Goethes Novels. London 1 9 6 9 (Miami 1 9 7 1 ) , S. 1 0 - 6 7 .
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kommen wäre. Ob diese Bestrebungen realistisch waren, ist eine andere Frage, die wir dahingestellt sein lassen müssen. Wie dem auch sei, Götz ist kein Politiker. Seine Intention ist es nicht, den Reichsritterstand oder gar das Reich zu stärken. Er kämpft für sich selbst allein. Auch glaubt er wie viele Aufklärungsdenker, daß, wenn nur die Herrscher tugendhaft wären, alle in Frieden und Eintracht leben könnten. Goethe deutet unterschwellig an, daß dieser Glaube naiv ist. Aber Weislingen, der ein Plädoyer für die Rechte der Fürsten ausspricht, verwendet ebenfalls Argumente der Aufklärung. Die Forderung nach dem Machtmonopol des Staates zur Etablierung und Durchsetzung von Recht und Ordnung entspricht dem Denken vieler Aufklärer. Weislingens Verhalten und Argumente sind jedoch umstritten. Denn Götz kritisiert ihn, aber nicht aus der Perspektive Mosers, sondern aus der Sicht der Aufklärung, wie es sich für einen »Selbsthelfer« 4 1 (ein Aufklärungsbegriff) ziemt. Er fragt, ob Weislingens Verhalten im Lichte des Tages (ein anderer Aufklärungsbegriff) bestehen kann. In Egmont greift die Politik viel stärker ins Geschehen ein als in Götz. Egmonts Tod ist ein Politikum. Er wird zum Opfer der spanischen Politik. Seine Hinrichtung ist ein Justizmord. Aber täuschen wir uns nicht! Egmont stirbt nicht für die Freiheit, wie sie Kant definiert hat, sondern für die Freiheiten, die die Niederländer seit Jahrhunderten genossen haben. 42 Diese Freiheiten ähneln denen, die Moser schätzte und die Burke, als die dreizehn nordamerikanischen Kolonien Englands rebellierten, verteidigte. Alba ist ein Tyrann, dessen Einstellung manchen Anschauungen des aufgeklärten Absolutismus, etwa denen Josephs II., entspricht. Aber es ist nicht die einzige Stimme der Aufklärung, die im Drama erklingt. Denn die Aufklärung ist vielstimmig. So sprechen Oranien, Machiavell und selbst Egmont, wenn auch nicht immer, mit den Zungen der Aufklärer und klagen die theologische Politik Philipps II. an. Denn selbst E g mont betont, daß der König kein Recht habe, Entscheidungen zu treffen, wenn sie gegen allgemeingültige moralische Prinzipien verstoßen. E g monts Traumvision weist nicht nur auf die Befreiung der nördlichen sieben Provinzen vom spanischen Joch hin, sondern bezieht sich auch,was bis vor kurzem übersehen wurde, auf die Wiederherstellung der alten, etablierten Rechte in den südlichen Provinzen, einschließlich Brüssels,
41 42
So nennt ihn Goethe in Dichtung und Wahrheit, Teil 2, Buch 10; H A , Bd. 9, S. 4 1 3 . Vgl. Peter Michelsen: Egmonts Freiheit. In: Euphorion 63, 1 9 7 1 , S. 280, der dies überzeugend darlegt.
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des Ortes der Handlung, und Flanderns, dessen Gouverneur Egmont war, die unter der Herrschaft der Habsburger blieben. Egmont ist ein ausgewogenes Drama. Konservative Ideen, die auf Moser zurückgehen, wie auch Ideen, die dem Aufklärungsgut entspringen, bestehen nebeneinander oder sind im Widerstreit. In Iphigenie auf Tauris ist es anders. Hier wird dargestellt, daß althergebrachte Sitten, wie das Ritualopfer der Fremden, vor humanen Vorstellungen der Gastfreundschaft, deren Bedeutung auch Kant betont hat, weichen. Aber es wird zugleich deutlich, daß Humanität immer gefährdet ist und nur unter günstigen Voraussetzungen realisiert werden kann. In Torquato Tasso halten sich Vorstellungen der Aufklärung und Mosers die Waage. Die Sitten des Hofes, vom Herzog und der Prinzessin verkörpert, werden keineswegs verworfen, da sie von Humanität geprägt sind. Auch rebelliert Tasso nicht gegen die Feudalordnung. Er empört sich nur, wenn er als Dichter nicht seiner Selbsteinschätzung gemäß, sondern nur als ein Mittel zur Vergrößerung des Ansehens des Hofes behandelt wird; dies ist ein Verhalten, das Kant ausdrücklich als unmoralisch verwarf. Sich von seinem Herrn vorschreiben zu lassen, dessen höheren Rang er bisher ohne weiteres akzeptiert hatte, wie er dichten und fühlen soll, ist für Tasso unerträglich. 43 Hier spricht und handelt er als Aufklärer und ist nicht bereit, sich althergebrachten Sitten und Gebräuchen unterzuordnen. Alfons begreift dies nicht. Er spricht wie ein aufgeklärter, aber immer noch absolutistischer Erbmonarch des 18. Jahrhunderts, dessen Aufgeklärtheit durch seine Vorstellung von den Rechten und Aufgaben eines absoluten Herrschers untergraben wird. Dieses Ineinander von entgegengesetzten geistigen Positionen entspringt Goethes Erkenntnis, daß das Leben des Einzelnen wie auch die ganze Gesellschaft vielschichtig sind. Goethe wußte, daß es genau so verfehlt ist, auf althergebrachte Rechte und Gebräuche zu pochen wie zu versuchen, abstrakte Ideen ohne Verständnis für die Gegebenheiten durchzusetzen. Es gilt, in der Praxis gut abzuwägen, was realisierbar ist — die Affinität zu Burke und Moser ist deutlich sichtbar —, ohne dabei moralische Kriterien, wie sie Kant verfocht, zu opfern. Aber moralisches Handeln in der Sphäre der Politik ist immer schwierig. Goethes
43
Vgl. T. J . Reed: Tasso und die Besserwisser. In: Texte, Motive und Gestalten der Goethezeit. Festschrift für Hans Reiss. Hrsg. von J . L. Hibberd und H. B. Nisbet. Tübingen 1989, S. 1 0 3 — 1 0 8 , für eine Darstellung dieses Themas.
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Einsicht in diese Problematik steuert zur Komplexität seiner Werke bei. Eine gute Lösung eines politischen Konfliktes, wie es z. B. in Iphigenie aufTauris aufgrund der nahen, langen Beziehung zwischen Iphigenie und Thoas möglich ist, ist zwar ein Musterfall, aber wie Egmont und Tasso andeuten, keineswegs das, was wir meistens von der Politik zu erwarten haben. Denn glückliche Ereignisse treten in der Politik selten ein. Bei Schiller ist die Lage anders. Mit Mosers politischen Anschauungen setzte er sich anscheinend nicht auseinander. Burke rezipierte er erst nach Ausbruch des Terrors in Frankreich, also nach dem Ende der Periode, mit der sich dieses Kolloquium befaßt, aufgrund seiner Lektüre der von Friedrich von Gentz 1 7 9 3 besorgten deutschen Übersetzung der Reflections on the Revolution in France.44 Seine grundsätzliche Einstellung zum Verhältnis zwischen Politik und Dichtung sprach er jedoch in seiner vor der kurpfälzischen Gesellschaft zu Mannheim 1784 gehaltenen Rede Die Schaubühne als moralische Anstalt aus. Dort sagt er: »Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt«. 4 5 Deshalb legt er den Mißbrauch der Macht, der nicht geahndet wird, bloß. Doch wenn damit der Gehalt seiner Dramen erschöpft sein würde, dann wären sie schon längst vergessen. Seine Werke sind vielschichtig. Schiller war der Aufklärung sehr verpflichtet. Aber er war kein blinder Aufklärer, denn er kannte nicht nur die Macht und die Güte aufgeklärten Denkens, sondern auch die Gefahren, die sich aus Mißverständnissen und Mißbrauch des Aufklärungsgutes ergeben. Die Räuber erschienen manchen Zeitgenossen eine Anklage des Absolutismus. »In Tirannos« war begreiflicherweise das Motto, das dem Drama in Mannheim, wenn auch nicht von Schiller selbst, sondern ohne sein Wissen und gegen seinen Willen in der zweiten Ausgabe (des Schauspiels) gegeben wurde. 46 Franz Moor ist zweifelsohne ein Tyrann und ein Bösewicht schlimmster Art. Karl Moor ist ein Rebell, dessen Intentionen 44
45
46
Dieter Borchmeyer: Rhetorische und ästhetische Revolutionskritik. Edmund Burke und Schiller. In: Klassik und Moderne. Walter Müller-Seidel zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Karl Richter und Jörg Schönert. Stuttgart 1 9 8 3 , S. 5 6 - 7 9 . An Cotta schrieb Schiller am 2. Oktober 1 7 9 4 »und ich schlage Ihnen vor, etwa Burkes Schrift über die französische Revolution von Genz übersetzt zum typographischen Muster zu nehmen« (Schillers Werke. Nationalausgabe. Hrsg. von Julius Petersen und Hermann Schneider. Weimar 1 9 4 3 ff. (weiterhin abgekürzt mit N A ) , Bd. 2 7 , 1 9 5 8 , S. 60). Schillers Werke, N A , Bd. 20, S. 92 (Der eigentliche Titel des Vortrags, den Schiller am 26. Juni 1 7 8 4 vor der kurpfälzischen deutschen Gesellschaft zu Mannheim hielt, war: Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?). V g l . die Ausfuhrungen zu dieser Frage von Herbert Stubenrauch, dem Herausgeber von Die Räuber, N A , Bd. 3, S. 342.
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zwar gut sind, dessen Taten aber gegen das Gesetz verstoßen. Der alte Moor ist ein schwacher Herrscher ohne Menschenkenntnis, ein charakteristisches Beispiel dieses von Aufklärern oft kritisierten Herrschertyps. Aber anders als Shakespeares Richard III., sein Vorläufer, sucht Franz sein Handeln philosophisch zu begründen. Dazu verwendet er Aufklärungsgut. Er sucht seine Untaten mit Berufung auf den reinen Materialismus, wie ihn Helvetius und La Mettrie entworfen hatten, zu rechtfertigen. Sein Irrglaube, klüger als alle andern zu sein, macht ihn zu einem Sprecher des sozialen Darwinismus vor Darwin. Auch ist er ein gelehriger Schüler des Machiavelli. Daß er ihn gelesen hat, wird nicht gesagt, und von Schiller selbst ist die Lektüre des Florentiner Denkers nicht belegt. Er wird nur einmal von ihm in einem Brief erwähnt. 47 Aber Schiller hatte eine erstaunliche Einsicht in Machtverhältnisse und Machtausübung. Franz Moor ist Machiavellist. Er ist jedoch kein reiner Zyniker, sondern überzeugt, das Recht der unbegrenzten Machtausübung, ihm von der Natur durch die Gabe seiner Intelligenz verliehen, stünde auf seiner Seite. Aber dieser Glaube an eine vermeintliche Berechtigung ist ein Irrglaube, fast einer Ideologie ähnlich. Er täuscht sich über seine eigenen Motive, über seine Machtbesessenheit. Franz Moors Vorstellungen sind wildgewordener Säkularismus. Franz verkennt, daß das Leben zu komplex ist, um total geplant zu werden. Er verwirft patriarchalische Vorstellungen vom gesellschaftlichen Leben, aber nicht auf die akzeptable Art und Weise, mit der John Locke die Patriarcha Sir Robert Filmers, der diese Anschauung verficht, in seiner ersten Treatise of Government kritisiert, sondern er verspottet sie rücksichtslos und brutal. Aufklärungsdenken bestimmt auch vieles in der Einstellung und im Handeln Karl Moors. Seine Vorstellungen vom Selbsthelfertum, von der Notwendigkeit, Recht walten zu lassen, sind aufklärerisch. Uber die Untaten der Regierenden, seien es die seines Bruders oder die anderer Herrscher, sich zu empören, ist richtig. Nur die Art und Weise, wie er Abhilfe schaffen will, ist Unrecht. Niemand hat das Recht, sich als Richter und Henker aufzuspielen. Eigenmächtige Verletzung der Gesetze, selbst wenn
47
An Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 1 2 . [und 13.?] Mai 1 8 0 1 , N A , Bd. 3 1 , S. 34. Schiller schreibt dort wie folgt: »Fichte mußte den Ur- und Grundcharakter des Philisters [in: Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinung. Tübingen 1 8 0 1 ] zeichnen und ihn ganz zum Genus erheben, dieß mußte mit der Miene des höchsten philosophischen Ernstes, ja mit der Würde geschehen, etwa wie Machiavell de Principe geschrieben, und auf die treuherzigste Weise eine furchtbare Satyre auf die Fürsten gemacht hat«.
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man gesetzwidriges Verhalten zu ahnden sucht, schafft auch Unrecht. Karl mißversteht die Aufklärung. Nicht nur die Zwecke, sondern auch die Mittel sind heilig. Er erkennt nicht, daß die Selbstverwirklichung des Einzelnen nur im Kontext seiner Beziehungen zu andern, im Rahmen der Gesellschaft praktikabel ist. Erst am Ende erkennt er seinen tragischen Irrtum und sieht ein, daß eine gerechte Ordnung nie auf Rechtsbruch begründet sein kann. Uber Die Verschwörung des Fiesko zu Genua ließe sich in diesem Kontext manches sagen. Zeitmangel erlaubt mir nur darauf hinzuweisen, daß in diesem vielschichtigen Werk Machtstreben und Machtmißbrauch gestaltet werden. Die Ausübung der Macht gleicht oft einem Spiel, dem Gesinnungen zum Opfer fallen. Aber zugleich wird auch deutlich, daß es die Kräfte des Menschen überschreitet, dieses Spiel richtig einzuschätzen und alle Möglichkeiten und Gefahren zu berechnen. Denn politisches Geschehen ist inkalkulabel. Kabale und Liebe erscheint auf den ersten Blick als ein Drama der Politik wie auch der Liebe. Was die Politik angeht, so wird zweifelsohne die Rechtsbrechung absolutistischer Herrscher angeprangert. Der Fürst und sein erster Minister, der Präsident von Walter, übertreten die Gesetze. Der Präsident ist ein Machiavellist reinster Prägung. U m die Macht zu gewinnen und zu behalten, verfährt er ruchlos. Sein Sohn Ferdinand ist jedoch von Aufklärungsideen begeistert. Deshalb haben für ihn Standesunterschiede keine Berechtigung mehr. Er hat sich neuen Ideen verschrieben. Aber Idealismus allein reicht nicht aus. Wie Karl Moor verkennt dies Ferdinand. Es fehlt ihm an Realismus, an Menschenkenntnis. So scheitert er, genau wie sein Vater scheiterte, der wie manche Aufklärer glaubte, alles im Leben ließe sich planen. Ferdinand kann die Ideale der Aufklärung nicht realisieren. Das Zeug dazu fehlt ihm. So wird er zum Schwärmer. Auch verkennt er die Gefühle Luisens und mißversteht die Sachlage. Aber auch die Pläne des Präsidenten von Walter werden durch die Unberechenbarkeit des Lebens vereitelt werden. Ähnlichem begegnen wir in Don Carlos. Auch hier sprechen die jungen Menschen, Don Carlos selbst und der Marquis von Posa, die Sprache des 18. Jahrhunderts. Der Appell des Posa an den König, Gedankenfreiheit zu gewähren, entstammt dem Vokabular und den Vorstellungen der A u f klärung. Aber der Versuch, den König zur Toleranz zu überreden, scheitert nicht nur an der Liebe des Carlos für die Königin, an der Bigotterie des Königs oder den Machenschaften des Alba und des Domingo oder der Eifersucht der Eboli. Sie scheitern vor allem daran, daß Posa glaubt,
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er könne andere wie Figuren auf einem Schachbrett behandeln. Dies ist ein Mißbrauch der Macht. Er wird zum Intriganten. »Posas Mittel verderben seine Zwecke«. 48 Er verfällt dem »Despotismus der Aufklärung«, 49 wie es schon Körner genannt hat. Schiller selbst spricht in seiner glanzvollen, aber umstrittenen Deutung des Dramas in seinen Briefen über Don Carlos von Posas Nähe zum Illuminatenorden, dem Geheimbund, der die Rechte der Menschheit durch gefährliche Mittel durchsetzen wollte. 50 Wie dem auch sein mag, seine Dramen aus der Periode vor der Französischen Revolution lassen deutlich werden, daß Aufklärungsideen immer realistisch eingesetzt werden sollten. Worte allein genügen nicht. Aufklärer haben allzu oft die Macht der Worte überschätzt und die Grenzen, die menschlichem Planen gesetzt sind, ignoriert. Im Leben geht es irrationaler zu, als es manche, allzu naive Aufklärer wahr haben wollten. Auch ist die Macht des »Ewig Gestrigen« 5 ' meist zu stark. Philipp II. ist letztlich gar nicht imstande, sich seiner konventionellen Einstellung zu entledigen. So stellt Schiller Fehler und Schwächen aufklärerischen Denkens dar. Dies bedeutet aber nicht, daß er ein Gegner der Aufklärung ist. Nur weist seine Menschenkenntnis auf die Gefahren hin, die sich auch hinter guten Vorstellungen verbergen und leicht bei mangelndem Realismus ausbrechen. Auch erkennt er, daß Machtstreben und menschliche Unzulänglichkeit gute Intentionen zunichte machen können. Die unheilvolle Entwicklung der Revolution in Frankreich sollte dies nur allzu deutlich beweisen. Sie zwang Schiller zum Umdenken. Er tendierte nun dazu, Burkes Kritik zu akzeptieren. Kant blieb aber seiner Begeisterung für die Gefühle, die die Revolution inspirierten, treu, wenn er auch den Terror und vor allem die Hinrichtung Ludwigs XVI. auf das schärfste verurteilte. 52 Seine Prinzipien der Politik sind aber heute noch aktuell, 48
So formuliert es Hans-Jürgen Schings: Freiheit in der Geschichte. Egmont und Marquis von Posa im Vergleich. In: Geschichtlichkeit und Gegenwart. Festschrift für Hans Dietrich Irmscher zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Hans Esselborn und Werner Keller. Köln, Weimar, Wien 1 9 9 4 , S. 1 8 4 (Nachdruck in: Goethe-Jahrbuch i i o , 1 9 9 3 , S. 69). Vgl. das sehr anregende Buch von Schings: Die Brüder des Marquis Posa. Schiller und der Geheimbund der Illuminaten. Tübingen 1996, das jedoch erst nach Abfassung meiner Arbeit erschien. «» An Schiller. N A , Bd. 3 3 / 1 , S. 1 4 5 . 50 Diese Deutung vertritt Schings 1 9 9 4 ; vgl. Anm. 48, S. 1 8 4 , bzw. S. 69. V g l . auch Briefe an Don Carlos, 10. Brief. N A , Bd. 2 2 , S. 168. >' Wallensteins Tod, I, 4, N A , Bd. 8, S. 1 8 5 . Kant meint in Die Metaphysik der Sitten ( 1 7 9 3 ) : »die formale Hinrichtung [eines Monarchen, d.h. also eines Staatsoberhauptes, wie etwa die Karls I. oder Ludwigs X V I . ] erregt
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da sie grundlegende Prinzipien des Rechtsstaates und der Demokratie betreffen. Doch bedeutet das nicht, daß Burkes und Mosers Anschauungen prinzipiell veraltet sind. Burke wirkte durch seine Reden und Schriften auf die politischen Ereignisse seiner Zeit. Auch auf Mosers Schrifttum mag es zumindest im politischen Leben Osnabrücks einen Widerhall gegeben haben. Aber den Dichtungen Goethes und Schillers und selbst den Theorien Kants war im Deutschland des 18. Jahrhunderts keine unmittelbare Wirkung in der Welt der Politik vergönnt, so gerne wir Germanisten und Ideenhistoriker auch anderes glauben möchten. Sie wirkten erst in späteren Zeiten, oft unterirdisch stärker als direkt. Aber gerade weil ihre Aussagen und G e staltungen heute noch von Brisanz sind, ist es sinnvoll, sich damit zu befassen. Das historische Verfahren zahlt sich immer wieder auf neue Weise aus. Sogar unser eigenes Denken und Handeln kann daraus Nutzen ziehen.
das Gefühl der gänzlichen Umkehrung aller Rechtsbegriffe. Es wird als ein Verbrechen, was ewig bleibt, und nie ausgetilgt werden kann (crimen immortale, inexpiabile), angesehen« und »scheint demjenigen ähnlich zu sein, was die Theologen diejenige Sünde nennen, welche weder in dieser noch in jener Welt vergeben werden kann« AA, Bd. 6, S. 3 2 1 .
Anne Saada
Diderot und der Sturm und Drang
Im ersten Teil meiner Überlegungen möchte ich zeigen, weshalb das Werk Diderots eine Ausnahme in der radikalen antifranzösischen Kritik des Sturm und Drang darstellt. Als Ausgangspunkt dienen mir hierfür die Bemerkungen, die Goethe im elften Buch von Dichtung und Wahrheit dem Beginn des Sturm und Drang widmet: dort heißt es nämlich, die >deutsche literarische Revolution sei eine Bewegung, welche sich nicht zuletzt als Antwort auf die französische Literatur verstand. Goethes antifranzösische Kritik führt mich zurück zur Kritik Herders, weiter zu der Lessings bis hin zu ihrer ersten Formulierung bei Diderot selbst. Die Rekonstruktion der Genese dieser >kulturellen Aversion< verdeutlicht, daß eine der zentralen programmatischen Positionen der Stürmer und Dränger in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts letztlich bloß eine (freilich produktive) Neuauflage der von Diderot schon fünfzehn Jahre zuvor artikulierten Kulturkritik war. Allein somit läßt sich die Ausnahmestellung begreifen, die Diderot in der Rezeption des Sturm und Drang zukam. Nachdem der einundzwanzigjährige Goethe mit großen Erwartungen zum Studium nach Straßburg aufgebrochen war, erlebte er dort eine gewaltige Enttäuschung. Anstelle der erwünschten Annäherung an die französische Literatur und Kultur entwickelte er eine tiefe Abneigung, als deren Folge sein Engagement in der entstehenden deutschen literarischen Bewegung verstanden werden kann. Aus der rückblickenden Distanz des Alters schreibt er: Die französische Sprache war mir von Jugend auf lieb; ich hatte sie in einem bewegteren Leben, und ein bewegteres Leben durch sie kennen gelernt. Sie war mir ohne Grammatik und Unterricht, durch Umgang und Übung, wie eine zweite Muttersprache zu eigen geworden. Nun wünschte ich mich derselben mit größerer Leichtigkeit zu bedienen, und zog deswegen Straßburg zum abermaligen akademischen Aufenthalt anderen hohen Schulen vor; aber leider sollte ich dort gerade das Umgekehrte von meinen Hoffnungen erfahren, und von dieser Sprache, diesen Sitten eher ab- als ihnen zugewendet werden. 1
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Anne Saaäa
Im Rahmen der Polemik gegen Kultur und Sprache Frankreichs bildet die französische Literatur den Hauptgegenstand der Antipathien des jungen Goethe: »so hatte die französische Literatur an sich selbst gewisse Eigenschaften, welche den strebenden Jüngling mehr abstoßen als anziehn mußten.« 2 Goethe begründet diese Antipathie mit dem Gegensatz zwischen der Beschaffenheit der zeitgenössischen französischen Literatur und den kulturellen Bestrebungen der jungen deutschen Intellektuellen. Gegen den >Mangel an Geschmack< bei den schreibenden französischen Zeitgenossen setzten die (an der Kategorie der »Natur« orientierten) »Glieder unserer kleinen akademischen Horde« konsequent »Wahrheit und Aufrichtigkeit des Gefühls, und den raschen derben Ausdruck desselben«. 5 Die französische Literatur schien demgegenüber künstlich und affektiert. Vor allem aber war sie - so Goethe - »bejahrt und vornehm, und durch beides kann die nach Lebensgenuß und Freiheit umschauende Jugend nicht ergetzt werden«. 4 Der Protagonist all dieser negativ gezeichneten literarischen Attribute ist zweifelsohne Voltaire: U n s J ü n g l i n g e n , denen, bei einer deutschen N a t u r und Wahrheitsliebe, als beste Führerin im Leben und Lernen, die Redlichkeit g e g e n uns selbst und andere immer vor A u g e n schwebte, ward die parteiische Unredlichkeit Voltaire's und die Verbildung so vieler w ü r d i g e n G e g e n s t ä n d e i m m e r mehr z u m Verdruß, und wir bestärkten uns täglich in der A b n e i g u n g g e g e n ihn. [ . . . ] Bejahrt also und vornehm war an sich selbst und durch Voltairen die französische Literatur. 5
Die vom alten Goethe wiedergegebene antifranzösische Haltung der jungen Deutschen ist freilich so allgemein und unpräzise, daß naheliegt, hier werde nur das erzählerisch nachvollzogen, was — so Goethe — »zu jener Zeit, als Ruf des Augenblicks, [ . . . ] unzusammenhängend und unbelehrend in unseren Ohren [tönte]«. 6 In Anlehnung an Herbert Dieckmanns Aufsatz zu Goethe und Diderot läßt sich jener »ewig zwiespältige Mißklang« 7 denn auch mit relativer Sicherheit als ein Echo auf die da' Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hrsg. von Karl Richter u.a. München 1985fr., Bd. 16, S. 5 1 2 (= MA Bd. 16, S. 512). 2 MA Bd. 16, S. 516. » MA Bd. 16, S. 516. 4 MA Bd. 16, S. 516. 5 MA Bd. 16, S. 5 1 8 f. 6 MA Bd. 16, S. 519. 7 MA Bd. 16, S. 519.
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mals durchaus >belehrende< Stimme Herders identifizieren. 8 Die Ideen des fünf Jahre älteren Herder, dessen »unerwartete Bekanntschaft« für den jungen Goethe »das bedeutendste Ereignis« 9 nicht nur der Straßburger Zeit werden sollte, spielten jedenfalls eine herausragende Rolle für die Genese der literarischen Programmatik des Sturm und Drang. Goethe selbst berichtet vom enormen (und positiv gezeichneten) Einfluß, dem er sich seit seiner Begegnung mit Herder ausgesetzt sah: was seit einigen Jahren in der weiten literarischen Welt vorgegangen, war mir meistens fremd geblieben. N u n wurde ich auf einmal durch Herder mit allem neuen Streben und mit allen den Richtungen bekannt, welche dasselbe zu nehmen schien. 1 0
Im Kontext der für Goethes literarische Sozialisation so wichtigen Herderschen Perspektive ist es offensichtlich, daß auch Goethes Haltung gegenüber der französischen Kultur in Herders ähnlichen Anschauungen gründet, zumindest aber mit ihnen einen gemeinsamen gedanklichen Hintergrund hat. So erweisen sich die einschlägigen Bemerkungen Goethes auch mehr oder weniger als Kondensat der Herderschen Thesen. Herder selbst allerdings arbeitete nicht ohne Voraussetzungen: seine Polemik gegen die Franzosen ist kaum denkbar ohne die intensive Auseinandersetzung mit der Kritik am französischen Klassizismus, die Lessing in den Briefen die Neueste Litteratur betreffend11 ( 1 7 5 9 - 1 7 6 5 ) sowie in der Hamburgischen Dramaturgie ( 1 7 6 7 / 1 7 6 8 ) entwickelte. Herders erstes publiziertes Werk Ueber die neuere deutsche Litteratur (1766/67) trägt sogar den Untertitel Eine Beilage zu den Briefen die neueste Litteratur betreffend. In seinem (freilich unveröffentlichten) Journal meiner Reise im Jahr 1769 attackierte er scharf die »demüthige Herabkunft des Landes«, die sich in der französischen Literatur spiegle, insbesondere aber in ihrem »Mangel an Original werken«. 1 2 Mitten im 18. Jahrhundert (!), lange, bevor Goethe sagen hörte, daß sie »schon vor hundert Jahren [ . . . ] in ihrer vollen Blüte gestanden« habe und »die größten Talente des achtzehnten Jahr-
8
Herbert Dieckmann: Diderot und Goethe. In: Ders.: Diderot und die Aufklärung. Stuttgart 1 9 7 2 , S. 1 9 6 - 2 1 8 , hier i9Öf. 9 MA Bd. 16, S. 433. 10 MA Bd. 16, S. 4 3 7 . 11 Ein Hinweis auf Herders intensive Auseinandersetzung mit Lessings Literaturbriefen findet sich etwa in seinem Brief an Hamann vom 2 1 . Mai 1 7 6 5 , vgl. Herders Briefe in einem Band. Ausgewählt u. erläutert von Regine Otto. Berlin, Weimar 1983, S. 7. " Johann Gottfried Herder. Sämmtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. 33 Bde. Berlin 1 8 7 7 - 1 9 1 3 , Bd. IV, S. 4 1 3 .
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Anne Snoda
hunderts sich nur bescheidentlich mit einer Nachlese begnügen müssen«,' 3 erklärte Herder den definitiven Tod der französischen Literatur: »Frankreich: Seine Epoche der Litteratur ist gemacht.« Lapidar, doch apodiktisch formuliert heißt es: »die große Ernte ist vorbei.«' 4 Den Grund dafür sieht er in der Unterwerfung unter die »kältere gesunde Vernunft«, unter die Forderungen des »Geschmack[s]« und des »Wohlstandfs]«. 15 Daraus ergeben sich folgende programmatische Oppositionen: 1. Anstelle des kreativen Genies stehe der normative Geschmack: »Geschmack ist Hauptsache und tausendmal mehr als Genie, dies ist verbannt oder wird verspottet, oder vor dem Geschmack verkleinert.«' 6 2. Anstelle von »Wahrheit und Aufrichtigkeit des Gefühls« 1 7 stehe dessen verfälschende Wiedergabe: »Aus Italien und Spanien haben ihre größten Geister viel her, das ist unleugbar«;' 8 indes: Die zu hitzige Einbildungskraft der Spanier und Italiener ward in der kältern Sprache und Denkart der Franzosen gemildert: das gar zu Feurige der Liebe verschwand; es ward gemildert, aber mit dem Abentheuerlichen ging auch das wahrhaftig Zärtliche weg: es war endlich frostige Galanterie, die nur Adel in Gedanken, Franchise in Worten und Politesse in Manieren sucht. So wird also keine wahre zärtliche Liebe mehr die Scene eines Franzosen von Geschmack sein. 1 9
3. Anstelle des »raschen derben Ausdruck[s]« 2 ° des Gefühls stehe eine affektierte, komplizierte und um Konventionen bemühte Ausdrucksweise: Die Wendungen »sind immer gedreht, sie sagen nie was sie wollen«; 21 eine deformierte, gesellschaftlich entstellte Sprache also, die »aus Wohlstand immer verschoben ist, daß sie sich nie recht und gerade ausdrückt«. 22 Hier liege der Grund für den widernatürlichen Charakter der französischen Literatur und der französischen Nation insgesamt: Ihr Lachen ist mit Wohlstand verbunden; daher wenig von dem süßen beseligenden Lachen, das uns der Genuß der Natur zu fühlen gibt [ . . . ] . Daher hat ihre Komödie so große Schranken, und schildert nichts als Auftritte des
13 14 15 ,6 17 18 19 30 21 22
MA Bd. 16, S. 516. Herder, Sämmtliche Herder, Sämmtliche Herder, Sämmtliche MA Bd. 16, S. 516. Herder, Sämmtliche Herder, Sämmtliche MA Bd. 16, S. 516. Herder, Sämmtliche Herder, Sämmtliche
Werke, vgl. Anm. 12, Bd. IV, S. 4 1 3 . Werke, vgl. Anm. 12, Bd. IV, S. 4 1 5 passim. Werke, vgl. Anm. 12, Bd. IV, S. 426. Werke, vgl. Anm. 12, Bd. IV, S. 4 1 3 . Werke, vgl. Anm. 12, Bd. IV, S. 414. Werke, vgl. Anm. 12, Bd. IV, S. 428. Werke, vgl. Anm. 12, Bd. IV, S. 413.
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bürgerlichen Lebens, oder Komplimencenscenen, oder Wohlstandsübungen. [ . . . ] Das wahre Lachen ist überdem aus der neuen französischen Comödie so ausgestorben, als der wahre Affekt von ihrem Trauerspiel. Alles wird Spiel, Schluchzen, Händeringen, Deklamieren, Scene, Bindung der Scenen u.s.w. Von diesem letzten und von dem was Wahrscheinlichkeit des Orts, Zeit, u. s. w. ist, haben sie ein Gefühl, von dem der Deutsche weniger, der Engländer nichts fühlt. Und es ist auch in der Tat nichts als Etiquette des Theaters, woraus sie das Hauptwerk machen. Man lese alle Voltairische Abhandlungen über das Theater und in seinen Anmerkungen über Corneille gleich die erste Anmerkung von Schweren und Wesentlichen des Theatralischen Dichters, und man sollte schwören, den Ceremonien Meister, nicht den König des Theaters zu lesen. 23
Wie schon erwähnt, läßt sich die Kritik Goethes und Herders an der mondänen Kultur Frankreichs als Weiterentwicklung dessen verstehen, was Lessing in seinen kritischen Schriften der klassizistischen französischen Literatur vorhält. Bezeichnenderweise orientiert sich Lessing in seiner Frankreich-Kritik stark an den Arbeiten Diderots; mehr noch: er beruft sich sogar ausdrücklich auf den Franzosen: »Diderot gestehet, daß ihre Dichter und Schauspieler noch weit von der Natur und Wahrheit sind; daß beider ihre Talente, guten Teils, auf kleine Anständigkeiten, auf handwerksmäßigen Zwang, auf kalte Etiquette hinauslaufen etc.« 24 Diderot war der erste große Kritiker der >tragedie classique< und bediente sich dabei einer Begrifflichkeit, welche die kritische Terminologie Herders und Goethes aus den siebziger Jahren vorwegnimmt. Schon 1748 hatte Diderot im achtunddreißigsten Kapitel seiner Bijoux indiscrets, dem Entretien sur les Lettres, am französischen Theater die fehlende Natürlichkeit bemängelt: 1. Die Intrigen seien zu kompliziert, deshalb unwahrscheinlich; der Handlungsverlauf zu gezwungen. 2. Die Dialoge seien künstlich (ich zitiere nach Lessings Übersetzung im 85. Stück der Hamburgischen Dramaturgie)-. »Das Gesuchte, das Witzige, das Spielende, das darin herrscht, ist tausend und tausend Meilen von der Natur entfernt.« 25 3. Die Darstellung auf der Bühne sei übertrieben: »[.. .] hat man wohl jemals so gesprochen, wie wir deklamieren? Pflegen die Prinzen und Könige wohl anders zu gehen, als sonst ein Mensch, der gut geht?« 26 2
' Herder, Sämmtliche Werke, vgl. Anm. 1 2 , Bd. IV, S. 432 f. Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner u.a. Frankfurt 1985 ff., Bd. 5/1, S. 15. 25 Lessing, Werke und Briefe, vgl. Anm. 24, Bd. 6, S. 605. 26 Lessing, Werke und Briefe, vgl. Anm. 24, Bd. 6, S. 606. 24
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Lessing hatte als erster die Brisanz dieser ästhetischen Postulate gesehen und sie dem deutschen Publikum 1 7 6 8 durch die Aufnahme in die Hamburgische Dramaturgie (85. Stück) bekanntgemacht. So scheint es mehr als wahrscheinlich, daß Herder und Goethe davon wußten. Der zweite Angriff Diderots auf das Theater seiner Zeit erfolgte 1 7 5 7 mit der Veröffentlichung der Entretiens sur le Fils Naturel. In diesen (von Lessing später im Theater des Herrn Diderot übersetzten) Unterredungen analysiert Diderot unter anderem die Faktoren, welche das Theater von der >Natur< entfernen; des weiteren entwickelt er ein ganzes Bündel von programmatischen Vorschlägen im Sinne der Orientierung an der Kategorie der >Wahrheit«: In der Kunst aber hängt alles, so wie in der Natur, zusammen; sobald man sich dem Wahren auf einer Seiten nähert, nähert man sich ihm zugleich auf verschiednen andern. Alsdenn werden wir auf der Szene eine Menge natürlicher Stellungen erblicken, welche die Wohlanständigkeit, diese Feindin des Genies und aller großer Wirkungen, davon verbannt hat. Ich will unsern Franzosen unablässig zurufen: die Wahrheit! die Natur! die Alten! Sophokles! Philoktet! 27
Diese Passage erinnert in wesentlichen Punkten an die berühmten Worte aus Goethes emphatischem Panegyrikus Zum Schäkespears Tag, an dessen Berufung auf die Natur und auf die griechischen Seelenc Ich kann mich nicht erklären was das heißt, aber ich fühls, und berufe mich der Kürze halben auf Homer und Sophokles und Theokrit die habens mich fühlen gelernt. Nun sag ich geschwind hinten drein: Französgen, was willst du mit der griechischen Rüstung, sie ist dir zu groß und zu schwer. Drum sind auch alle Französche [sie] Trauerspiele Parodien von sich selbst. [ . . . ] Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Schäkespeares Menschen. 28
Obwohl Diderots Diagnose der Mängel des französischen Klassizismus große Ähnlichkeiten aufweist zu den Bestrebungen der Stürmer und Dränger, deutet die von ihm vorgeschlagene >Therapie< - nämlich »[d]as häusliche oder bürgerliche Trauerspiel« 29 — in eine völlig andere Richtung. Ich werde später noch auf diesen Punkt zurückkommen. Vorerst geht es mir jedoch um seinen letzten Angriff auf den Klassizismus, um die Abhandlung De la poesie dramatique ( 1 7 5 8 ) bzw. Von der dramatischen Dichtkunst, wie Lessing übersetzt. Mit den Worten von Jacques Chouillet 27
28 29
Das Theater des Herrn Diderot. Aus dem Französischen übersetzt von G . E. Lessing. Anmerkungen und Nachwort von Klaus-Detlef Müller. Stuttgart 1986, S. 1 2 5 . M A Bd. 1 . 2 , S. 4 1 2 f. Das Theater des Herrn Diderot, vgl. Anm. 2 7 , S. 1 2 5 .
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kann die emphatische Proklamation der Überlegenheit des Genies über alle Regeln als »pierre angulaire«, 30 als »Eckstein« dieser dramatischen Dichtkunst bezeichnet werden: Oh ihr Verfertiger allgemeiner Regeln, wie wenig verstehet ihr die Kunst, und wie wenig besitzt ihr von dem Genie, das die Muster hervorgebracht hat, auf welche ihr sie bauet, und das sie übertreten kann, so oft es ihm beliebt!' 1
Die Abhandlung enthält zahlreiche Vorschläge zur Reform des Theaters. Da diese aber nicht die Aufmerksamkeit der Stürmer und Dränger auf sich gezogen haben, sollen sie hier nur erwähnt werden. Stattdessen scheint es angebracht, ein wenig beim Begriff des >Genies< (bzw. des >GeniusGenie< und erlerntem >GeschmackGemachten< darf ihr nicht anzusehen sein, Anm. d. Verf.]. Um genial zu sein, muß sie manchmal nachlässig sein, ein unregelmäßiges, schroffes, wildes Aussehen haben. Das Erhabene und das Genie glänzen in Shakespeare wie Blitze in einer langen Nacht, und Racine ist immer schön [;] Homer ist voll von Genie und Vergil von Eleganz.' 6 Der Hinweis auf Shakespeare und Homer als beispielhafte Genies kann nicht überbewertet werden: Während nämlich Shakespeare das allgemeine Idol der Stürmer und Dränger darstellt, ist Homer auf ganz charakteristische Art das Idol Werthers. Nicht uninteressant scheint in diesem Kontext, daß in der später veröffentlichten Version des Artikels von Saint-Lambert, an der Diderot sicherlich unbeteiligt war, die Inkarnation des Genies nicht mehr von Shakespeare, sondern vielmehr vom klassizistischem Corneille repräsentiert wird. A m Ende dieses knappen Überblicks über die antiklassizistische Kulturkritik des 18. Jahrhunderts erweist sich die starke Affinität der Konzeptionen, welche Diderot, Herder und Goethe der höfischen > tragédie classique< entgegensetzten. Die negative Übereinstimmung läßt erkennen, weshalb Diderot der radikalen Ablehnung aller französischen Literatur durch den Sturm und Drang entkommen konnte, 37 mehr noch, sie ermöglichte erst seine Ausnahmestellung in der deutschen Rezeption fran-
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înspiré l'article, mais nous pensons qu'il a fait sa toilette. Nous prendrions ainsi sur le vif Diderot éditeur, butinant partout, corrigeant l'oeuvre d'aucrui avec d'autant moins de scrupule que l'auteur tenait à rester anonyme.« V g l . dazu den Abschnitt »Ursachen des gesunknen Geschmacks« im Kommentar von Jürgen Brummack und Martin Bollacher zu Johann Gottfried Herder: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Günter Arnold u.a. Frankfurt/Main 1 9 8 5 f f . , Bd. 4, S. 8 9 8 - 9 2 9 , bes. S. 904. Artikel Génie. In: Jean Le Rond d'Alembert, Denis Diderot u.a., Enzyklopädie. Eine Auswahl. Hrsg. von Günter Berger. Frankfurt/Main 1989, S. 1 4 8 - 1 5 5 , hier S. 1 5 0 . Auch bei Lenz, Klinger, Wagner und Leisewitz finden sich keine Angriffe gegen die Werke Diderots.
Diderot und der Sturm und Drang
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zösischer Aufklärung im späten 1 8 . Jahrhundert. Angefangen von Diderots enormer Bedeutung für Lessing' 8 läßt sich mithin eine Linie ziehen über Herder 3 9 bis zu Goethe, der seinerseits soweit geht, den Franzosen aus Frankreich auszubürgern, ihn sozusagen »entnationalisiert« und nachgerade für den eigenen Sprachraum reklamiert: »Diderot
war nahe genug
mit uns verwandt; wie er denn in alle dem, weshalb ihn die Franzosen tadeln, ein wahrer Deutscher ist.« 4 0 A u s dieser Logik ergibt sich -
wenn
auch nicht explizit formuliert - ebenfalls eine konsequente »Entnationalisierung« des Sturm und Drang. Mit Goethes Worten: So war er es denn auch, der, wie Rousseau, von dem geselligen Leben einen Ekelbegriff verbreitete, eine stille Einleitung zu jenen ungeheuren Weltveränderungen, in welchen alles Bestehende unterzugehen schien. Uns ziemt jedoch, diese Betrachtungen noch an die Seite zu lehnen und zu bemerken, was genannte beide Männer auf Kunst gewirkt. Auch hier wiesen sie, auch von ihr drängten sie uns zur Natur. [ . . . ] Alles dieses und manches andere, recht und törigt, wahr und halbwahr, das auf uns einwirkte, trug noch mehr bei, die Begriffe zu verwirren; wir trieben uns auf mancherlei Abwegen und Umwegen herum, und so ward von vielen Seiten auch jene deutsche literarische Revolution vorbereitet, von der wir Zeugen waren, und wozu wir, bewußt oder unbewußt, willig oder unwillig, unaufhaltsam mitwirkten. 4 ' Diese (hier freilich verkürzt wiedergegebene) Passage scheint mir aus mehreren Gründen wichtig: zum einen belegt sie ausdrücklich, daß Diderot (und nicht bloß Rousseau) eine Rolle spielte für die Entstehung des Sturm und Drang; überdies zeigt sie die Bedeutung, welche Diderot und Rousseau gemeinsam für eine ganze Generation von deutschen Dichtern hatte; nicht zuletzt indes geht aus ihr hervor, wie Goethe die literarische ,H
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40 41
Noch im Jahr 1800 stellt ein Journalist der Décade philosophique (Bd. 25, Jahr VIII, S. 4 6 9 - 4 8 5 , hier S. 470) in der Rezension einer französischen Ausgabe von Schillers Theater nicht ohne Häme, aber — was Lessing betrifft — mit gewisser Berechtigung fest: »Diderot seul a trouvé grâce aux yeux de M. Lessing, qui donne gravement pour un chef d'oeuvre de poétique, ... [sic] un chapitre des Bijoux indiscrets'.« (In einer Fußnote heißt es dazu übrigens erläuternd: »Roman ordurier de Diderot, et très indigne de l'auteur du Père de Famille.») In den Jugendschriften Herders begegnet der Name Diderots - anders als der Rousseaus — vergleichsweise selten, doch zeichnet et sich in den wenigen Fällen seines Auftretens durch eine herausragende, singulare Stellung aus. Zudem figuriert Diderot und keineswegs Rousseau in Herders Brief an Nicolai vom 30. November 1769 als »der beste Philosoph in Frankreich« (Johann Gottfried Herder. Briefe. Bd. 1. Weimar 1977, S. 1 7 5 - 1 7 7 , 176). Unter den Personen, die Herder in Paris zu treffen wünscht, steht wiederum Diderot an zweiter Stelle, direkt nach dem Kupferstecher Johann Georg Wille (Herder, Sämmtliche Werke, vgl. Anm. 12, Bd. IV, S. 435). MA Bd. 16, S. 520. MA Bd. 16, S. 5 2 1 - 5 2 3 .
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Anne Saada
B e w e g u n g b z w . >Epoche< b e z e i c h n e t e , d i e seit d e m 1 9 . J a h r h u n d e r t als S t u r m u n d D r a n g b e k a n n t ist: e r s p r i c h t g a n z s e l b s t v e r s t ä n d l i c h v o n d e r >deutschen literarischen R e v o l u t i o n ^ N u n ist es an d e r Z e i t , sich g e n a u e r m i t Diderots B e d e u t u n g für den S t u r m und D r a n g auseinanderzusetzen; dies soll in e i n e m (hier n o t w e n d i g k n a p p e n ) Ü b e r b l i c k ü b e r d i e D i d e r o t Rezeption i m Sturm und D r a n g geschehen.
W e d e r d i e p h i l o s o p h i s c h e n W e r k e D i d e r o t s n o c h die Encyclopédie eine g r o ß e R o l l e in d e r R e z e p t i o n des S t u r m h a b e n . W e n n sie ü b e r h a u p t eine W i r k u n g
scheinen
und Drang gespielt
auslösten, d a n n k a u m
p r o d u k t i v e , sondern v i e l m e h r eine g e g e n s ä t z l i c h e , eine >Reaktion
Lehrer< Herder äußerte sich gegenüber seiner Freundin Caroline Flachsland euphorisch: »Diderots zwei Erzählungen sind mehr werth, als der ganze Geßner!«' 6 Anders als in seinen moralisierenden Theaterstücken, die den bürgerlichen Wertekatalog mehr oder weniger ungebrochen wiedergaben, handelt Diderot in Les deux amis de Bourbonne auf mitfühlende und bewegende Weise vom Schicksal zweier gesellschaftlich unangepaßter Brüder. Die Stimmung der Erzählung erinnert an Goethes Götz. Goethe selbst gibt übrigens einen deutlichen Hinweis auf 52 53 54
" 56
Wie oben Anm. 43. Frankfurter gelehrte Anzeigen, Nr. XLIV, 2. Juni 1 7 7 2 , S. 3 5 2 . Frankfurter gelehrte Anzeigen, Nr. LXIII, 25. August 1 7 7 2 , S. 540. Dieckmann 1 9 7 2 , vgl. Anm. 8, S. 197. Herders Briefwechsel mit Caroline Flachsland. Bd. 2. Hrsg. von H. Schauer. Weimar 1928, Brief 1 2 2 , S. 1 7 2 ; auch Brief 1 2 4 , S. 1 7 5 ; Brief 1 2 6 , S. 1 9 2 und Brief 1 4 3 , S. 244.
Didero! und der Sturm und Drang
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die produktive Rezeption des Diderotschen Textes, wenn er feststellt: »dieses Gesindel hat in der Folge auf dem deutschen Parnaß nur allzu sehr gewuchert«, und es ist nicht besonders schwierig zu erraten, worauf hier angespielt wird: unter anderem jedenfalls mit Sicherheit auf Schillers Räuber,''1 die den nach-italienischen Goethe wegen der »ethischen und theatralischen Paradoxen« — so heißt es in Glückliches Ereignis mit kompromißloser Nachdrücklichkeit — »äußerst anwiderten«. 58 Tatsächlich erinnern gewisse Züge des Räubers Moor an den Landstreicher Felix. Ganz generell ist der Erzählung von Diderot und den beiden Dramen von Goethe und Schiller die (seinerzeit sicherlich auffallende) stoffliche Innovation gemein, daß gesellschaftlich geächtete Protagonisten auf sympathische und nachvollziehbare Arten dargestellt werden. An dieser Stelle müßten eingehendere Untersuchungen die Parallelen und Unterschiede zwischen den Texten des Sturm und Drang und Diderots herausarbeiten. Noch weitaus stärker als in den Räubern manifestiert sich der Einfluß der Deux amis de Bourbonne auf Schiller in der >wahren Geschichte< Verbrecher aus Infamie (1786). Die Analogie ist hier nicht allein eine Frage des Plots, sondern erstreckt sich auch auf die Ebenen der metafiktionalen Reflexion 59 sowie des Stils. So hat Roland Mortier eine stilistische Annäherung Schillers an Diderot konstatiert: Der Verbrecher aus Infamie sei über ein Jahr nach Schillers Übersetzung einer Episode aus dem Jacques le Fataliste entstanden. In Anlehnung an Karl Berger versteht Mortier diese Übersetzung »nicht nur als die aufrichtige Huldigung, die ein Bewunderer seinem verehrten Meister entgegenbringt, sondern auch als Stilübung, aus der Schillers Kunst insgesamt bereichert hervorgehen sollte«. 60 Ein Vergleich von Schillers Prosa vor und nach der Teilübersetzung des Diderotschen Romans belege dementsprechend: »der nüchterne, trockene Realismus steht nicht mehr im bedrückenden Schatten empfindsamer oder moralischer Absichten, der Stil ist frei von nichtssagenden Ornamenten, die psychologische Feinzeichnung hat an Genauigkeit und Kraft 57 58 59
60
Vgl. dazu Eggli 1 9 2 1 , vgl. Anm. 5 1 , S. 84f. MA Bd. 12, S. 86. Wie Diderot in Lei deux amis de Bourbonne handelt auch Schiller in seinem Verbrecher aus Infamie ausfuhrlich über erzähltechnische und erzähltheoretische Probleme. Mortier 1967, vgl. Anm. 45, S. 198. Karl Berger: Schiller. Sein Leben und seine Werke. Bd. 1. München 1905, S. 425, hatte schon zu Beginn des Jahrhunderts festgestellt: »Von Diderot hat er erzählen gelernt, der Franzose ward ihm ein Lehrer knappen, sachlichen, gemässigten Stils.« Vorsichtiger dagegen Gonthier-Louis Fink: Schiller et >Jacques le Fataliste«. In: Hommage ä Maurice Marache 1 9 1 6 - 1 9 7 0 . Paris 1972, S. 2 3 1 - 2 5 3 .
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Anne Saada
gewonnen. Es sind dabei nicht nur eine gewisse Grausamkeit der Darstellung, eine Objektivität und fast wissenschaftliche Distanziertheit, die an die beste Art Diderots erinnern.«6' Jacques le Fataliste ist mit relativer Sicherheit das letzte Werk des Franzosen, das vor 1790 im deutschen Sprachraum einem breiteren Publikum zugänglich war. Der Roman ist in mehreren Lieferungen (vom November 1778 bis zum Juni 1780) der handschriftlich verbreiteten Correspondance Littéraire erschienen. Schiller übersetzte daraus eine Episode unter dem Titel Merkwürdiges Beispiel einer weiblichen Rache (aus einem Manuskript des verstorbenen Diderot gezogen), die dann 1785 im ersten Heft seiner Zeitschrift Die Rheinische Thalia herauskam. Die Veränderungen in der Narrativik des jungen Schiller sind ein Indiz für die Begeisterung, die von Jacques le Fataliste auf die zeitgenössischen deutschen Dichter ausgehen mußte. Goethes Tagebuch notiert am 3. April 1780: Von 6 Uhr bis halb 12 Diderots Jacques le Fataliste in der Folge durchgelesen, mich wie der Bei zu Babel an einem solchen ungeheuren Mahle ergötzt. Und Gott gedankt, daß ich so eine Portion mit dem größten Appetit auf einmal, als wär's ein Glas Wasser und doch mit unbeschreiblicher Wollust verschlingen kann.62
Eine eingehendere rezeptionsästhetische Analyse der Gründe für diese Begeisterung möchte ich an anderer Stelle vornehmen. Hier sei nur hervorgehoben, daß die Zeit der Rezeption des Jacques le Fataliste auch die Zeit der Abwendung Goethes vom Sturm und Drang bedeutet. Am Ende meiner Ausfuhrungen steht das Paradox, daß in den sechziger und siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts fast sämtliche Voraussetzungen für eine produktive Diderot-Rezeption in Deutschland erfüllt waren, eine breite Kenntnis der Schriften des Franzosen jedoch vor allem aus vertriebstechnischen Gründen höchst unwahrscheinlich ist; demgegenüber wurden gerade die Werke Diderots, welche tatsächlich in der Zeit des deutschen Sturm und Drang entstanden, von den Stürmern und Drängern erst dann entdeckt und zum Teil auch übersetzt, als die Zeit des Sturm und Drang schon längst vergangen war. Dazu zählen die Salons ( 1 7 5 9 - 1 7 8 1 ) , die Essais sur la peinture (1765) - deren erste zwei Kapitel 1798 von Goethe übersetzt und kommentiert wurden — sowie Le neveu de Rameau (1774), den Goethe erst 1805 übersetzte. Reizvoll ist vor diesem 61 62
Mortier 1 9 6 7 , vgl. Anm. 4 5 , S. 1 9 7 . Johann Wolfgang Goethe. Werke. Weimarer Ausgabe. Weimar 1887 ff., III. Abt., Bd. I, S. 1 1 5 . Die Orthographie wurde dem heutigen Usus angeglichen.
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Hintergrund Robert Minders freilich spekulative Frage, die er dem alten Goethe in den Mund legt: 63 »Was wäre aus dem deutschen Sturm und Drang geworden [...], hätte er einen solchen Mann zur rechten Zeit in seiner vollen Größe erkannt?« (Aus dem Französischen übersetzt von Norbert Christian Wolf)
63
Robert Minder: der Gesellschaft. 1 9 6 6 , S. 3 4 - 5 1 und in Goethes existieren.
Diderot, ein stürmischer Freund der Menschen. In: Ders.: Dichter in Erfahrungen mit deutscher und französischer Literatur. Frankfurt/Main (Anm. 3 4 3 - 3 4 6 ) , hier S. 4 5 f . Minder g i b t keine genaueren Angaben, Schriften selbst scheint ein derart ausdrücklicher Hinweis nicht zu
Peter Skrine
»Die Nacht schuf tausend Ungeheuer« Zur Klagen- und Nachtgedankenthematik im deutschen und britischen Sturm und Drang
Die Nachtgedanken Eduard Youngs zählen zu den einflußreichsten und symptomatischsten literarischen Werken des 18. Jahrhunderts. Die erste Nacht erschien bei Robert Dodsley in London, ohne den Namen des Verfassers zu nennen, im Jahre 1 7 4 2 : im Januar 1 7 4 6 lagen die neun Einzelteile — die neun Nächte also — bereits vor. Erst 1 7 5 0 wurde die vom Dichter genehmigte Gesamtausgabe der neun Nächte von Samuel Richardson herausgebracht, vom Autor also des an europäischer Bedeutung die Nachtgedanken noch übertreffenden Briefromans Clarissa; or the History of a Young Lady, der knapp zwei Jahre vor dem Erscheinen der vollständigen Erstausgabe der Nachtgedanken veröffentlicht worden war. Mit diesen beiden Werken gewann die englische Literatur ihre führende Rolle in der literarischen Entwicklung Europas: mit beiden Werken vollzog sich ein Stimmungswandel, der diese Entwicklung, die bis in die Romantik reicht, weitgehend wie auch wesentlich bestimmen sollte. Elemente dieser an und für sich grundverschiedenen Werke lassen sich mit Deutlichkeit etwa in den Leiden des jungen Werthers erkennen, in einem Werk also, in welchem die bahnbrechende Erzähltechnik Richardsons mit der düsteren Thematik Youngs genial miteinander verschmolzen ist — es war eine für die Generation des Sturm und Drang berauschende Verbindung, der der wohl bedeutendste Roman nicht nur des Sturm und Drang, sondern auch der europäischen Vorromantik zu einem erheblichen Teil seine höchst originelle stilistische und emotionelle Beschaffenheit zu danken hat. »Lieber Wilhelm«, so schreibt Werther am 12. Dezember 1 7 7 2 , »ich bin in einem Zustande, in dem jene Unglücklichen gewesen sein müssen, von denen man glaubt, sie würden von einem bösen Geiste umher getrieben. Manchmal ergreift's mich; es ist nicht Angst, nicht Begier — es ist ein inneres unbekanntes Toben, das meine Brust zu zerreißen droht, das mir die Gurgel zupreßt! Wehe! wehe! und dann schweife ich umher in den furchtbaren nächtlichen Szenen dieser menschenfeindlichen Jahres-
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Peter Strine
zeit.« Ossian mag in Werthers Herzen den Homer verdrängt haben, doch sind solche Stellen, doch ist diese angstvolle Selbstbesessenheit nicht vom distanzierten, wenn auch wehmütigen Ossian, sondern vielmehr von Young abzuleiten. Das ganze Ausmaß dieser literaturgeschichtlichen oder besser gesagt dieser kulturellen Entwicklung kann man eigentlich erst richtig einschätzen, wenn man in der Lage ist, die Spuren von Youngs Nachtgedanken nicht zu überhören, was aber heute im Hinblick auf die meisten Leser leider nur selten der Fall ist. Die Bewunderung, die den Nachtgedanken von der damaligen Leserschaft im englischen wie auch im deutschen Sprachraum gezollt wurde, gilt heute als Zeitphänomen, d. h. als Symptom eines Geschmackwandels, für welchen es dem heutigen Durchschnittsleser an Verständnis fehlt. Youngs The Complaint: or, NightThoughts on Life, Death, & Immortality, ein Werk, das einst als glänzendste Hochleistung der menschlichen Einbildungskraft von der großen Mehrheit der führenden Bildungsschichten in Großbritannien und in Deutschland begrüßt und als poetisches Wunderwerk gefeiert wurde, ist inzwischen in Vergessenheit geraten. Am Ende des 20. Jahrhunderts zählt Youngs Gedicht zu den verschollenen Meisterwerken der europäischen Kultur: es hat also das literarhistorische Schicksal erfahren, welches Robert Birley in seiner faszinierenden Studie Sunk Without Trace feinfühlig zu ergründen versucht hat. 1 Von diesem im ganzen 9749 Verse zählenden Gedicht ist nur ein winziges Bruchstück, ein einziger Vers, als geflügeltes Wort im Gedächtnis seiner Landsleute lebendig geblieben: »Procrastination is the thief of time« oder wie es in deutscher Fassung heißt: »Der Aufschub ist ein Dieb der Zeit«. Die allgemeine Beliebtheit der Nachtgedanken auch außerhalb Großbritanniens fiel schon im 18. Jahrhundert auf. Die Freundin Dr. Johnsons, Mrs Hester Lynch Thrale, notierte zum Beispiel in ihrem Tagebuch: »Young's Night Thoughts seem to strike the Foreigners more than any other of our Poetry.« Was die deutschsprachige Leserschaft Youngs betrifft, ist diese Wirkung vor allem der deutschen Übersetzung der Night Thoughts zu verdanken. Sie wurde von dem aus Hamburg gebürtigen 1
»Edward Young has the most unusual position in English literary history. Except by those who have a professional interest, as teachers or students, his poetry is never read.« So Robert Birley in seinem Young-Aufsatz »Edward Young: Night Thoughts«. In: Robert Birley: Sunk Without Trace. Some Forgotten Masterpieces Reconsidered. London 1962, S. 7 6 — 1 0 9 . Youngs Gedicht wird nach den Ausgaben von G. Wright (London 1 7 7 7 ) und von Stephen Cornford (Cambridge 1989) zitiert.
»Die Nacht schuf tausend Ungeheuer«
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Leipziger Theologiestudenten Johann Arnold Ebert ( 1 7 2 3 - 1 7 9 5 ) , dessen begeistertes Interesse fur die englische Poesie von Hagedorn angeregt worden war, schon im Alter von etwa zwanzig Jahren begonnen. 2 Die deutsche Fassung der ersten Nächte wurde bereits 1 7 5 1 veröffentlicht: 1 7 6 0 bis 1 7 6 3 erschien Eberts schöne mehrbändige zweisprachige Ausgabe von Dr Eduard Youngs Klagen, oder Nachtgedanken über Leben, Tod, und Unsterblichkeit mit ausfuhrlichen Anmerkungen und Kommentar versehen, die 1 7 6 9 mit der Veröffentlichung der 9. Nacht vollendet wurde. Die letzte vom Übersetzer verbesserte Ausgabe in 5 Bänden erschien 1 7 9 1 — 1 7 9 4 in Leipzig. Aus diesen wenigen bibliographischen Daten ist sofort zu ersehen, daß die Entstehungs- und Druckgeschichte der Ebert schen Übersetzung gerade in den Jahren vorsichging, als sich die Vorzeichen des Sturm und Drang zu melden anfingen, ja, daß die Vollendung dieser Glanzleistung der Übersetzungskunst im 18. Jahrhundert gerade mit jenem Jahrzehnt zusammenfällt, in welchem die Voraussetzungen des großen Stilwandels in der deutschsprachigen Literatur geschaffen wurden. Bezeichnenderweise werden die Anfangsverse der ersten Nacht schon vom Übersetzer mit Worten begrüßt, die ihre zukunftsschwangere Bedeutung vorahnen. »Der Anfang«, so Ebert, »muß nothwendig jeden Leser zum wenigsten eben so aufmerksam machen, und mit keiner geringem Erwartung erfüllen, als der pathetische Anfang eines schönen Trauerspiels [ . . . ] thun könnte.« Wie fängt aber eigentlich Youngs großangelegtes Lehrgedicht an? A b Vers 6 — die ersten fünf Verse dürfen als kurzes Exordium betrachtet werden - lautet der englische Originaltext wie folgt: From short, (as usual) and disturb'd Repose, I wake: How happy they that wake no more! Yet that were vain, if Dreams infest the Grave. I wake, emerging from a sea of Dreams Tumultuous; where my wreck'd, desponding Thought From wave to wave of fancy'd Misery, At random drove, her helm of Reason lost; Tho' now restor'd, 'tis only Change of pain, A bitter change; severer for severe: The Day too short for my Distress! and Night Even in the Zenith of her dark Domain, Is Sun-shine, to the colour of my Fate. Night, sable Goddess! from her Ebon throne, In rayless Majesty, now stretches forth 2
Josef Leighton: Ebert. In: Literatur Lexikon. Hrsg. von Walther Killy. Gütersloh, München 1989, S. 1 5 5 - 1 5 7 .
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Her leaden Scepter o'er a slumbering world: Silence, how dead? and Darkness, how profound? Nor Eye, nor list'ning Ear an object finds; Creation sleeps. 'Tis, as the general Pulse Of life stood still, and Nature made a Pause; An aweful pause! prophetic of her End. And let her prophecy be soon fulfill'd; Fate! drop the Curtain; I can lose no more. ( 6 - 2 7 ) In der Ebereschen Übersetzung lesen wir: Ich erwache, wie ich pflege, von einem kurzen und unruhigen Schlummer: wie glücklich sind doch die, welche nicht mehr erwachen! Allein auch dieses wäre vergebens, wofern Träume das Grab beunruhigen. Ich erwache, und komme aus einem ungestümen Meere von Träumen empor; wo mein scheiternder verzweiflungsvoller Geist von Wellen zu Wellen eines eingebildeten Elends in der Irre herumtrieb, weil er das Steuer der Vernunft verlohren hatte. Die Göttin, Nacht, streckt itzo von ihrem schwarzen Throne, in strahlenloser Majestät, ihren bleyernen Zepter über eine schlummernde Welt aus. Welche eine todte Stille! Welche eine tiefe Finsterniß! Weder das Auge, noch das horchende Ohr, findet einen Gegenstand; die Schöpfung schläft. Es ist, als wenn der allgemeine Puls des Lebens still stünde, und die Natur eine Pause machte; eine fürchterliche Pause! die ihr Ende prophezeit. Und laß nur ihre Prophezeyung bald erfüllt werden; o Verhängniß! laß den Vorhang fallen; ich kann nichts mehr verlieren. Was gibt es beim Lesen dieser Anfangsverse nicht alles zu bemerken! Schon die antithetische Verkettung der Begriffe läßt aufhorchen. Schlaf Träume — Grab -
Erwachen — Vernunft — Nacht — Leben — Stille
-
Finsternis: das sind Schlüsselbegriffe, die immer wieder im Text auftauchen, die aber schon von Anfang an die Aufmerksamkeit des Lesers bzw. des Hörers auf eine das ganze Gedicht durchziehende Problematik lenken. Als Kenner der englischen Literatur weist Ebert in seinen Anmerkungen daraufhin, daß gerade diese Schlüsselbegriffe schon in der älteren englischen Literatur und vor allem bei Shakespeare zu finden sind; für die englische Leserschaft wäre ein solcher Hinweis wohl kaum nötig, da der Text des Gedichts unzählige Formulierungen enthält, die den Eindruck machen, daß sie keine ungewollten Anspielungen seien. Die immer wiederkehrenden
Ähnlichkeiten
mit
bekannten
Textstellen
z. B.
in
Shakespeares Sturm ( » W e are such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded with a sleep«) oder in seinem Hamlet (»To die, to sleep; to sleep, perchance to dream«) werden noch schärfer durch die poetologische Tatsache betont, daß Youngs Gedicht in ungereimten fünfhebigen Jamben — im Versmaß der shakespeareschen Dramen, im söge-
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nannten blank verse also — und nicht, wie eigentlich zu erwarten wäre, in den für die didaktische Dichtung der Zeit üblichen Reimpaaren geschrieben ist. In dieser Hinsicht also bedeutet der englische Text der Night Thoughts eigentlich keine sprachlich-stilistische Neuentwicklung, sondern eher eine sich nach der Blütezeit der englischen Literatur am Anfang des 17. Jahrhunderts zurücksehnende Nostalgie. 3 Aus guten stilistischen und sprachhistorischen Gründen überhört Eberts Übersetzung diese Anklänge: andererseits aber schlägt sie eine stilistische Brücke zu einem anderen Phänomen, das für das unmittelbar vor dem Sturm und Drang ablaufende Jahrzehnt typisch ist, nämlich die poetisch-gesteigerte Prosa, d. h. jene stilistische Ebene, die vor allem durch die ossianischen Gedichte identifiziert ist, die um dieselbe Zeit zur vorübergehenden Mode auch im deutschen Sprachraum wurden. Die fingierten Gedichte Ossians des schottischen Autors James Macpherson erschienen 1 7 6 2 in einer deutschen Teilübersetzung. Auch hier sind >NachtDunkelheitTod< usw. vorherrschende Begriffe, doch sind sie bei Ossian eher wirkungsvolle Staffage, die vor allem dem Zweck dient, düstere Stimmungsbilder hervorzurufen. Bei Young tragen sie im Gegenteil dazu bei, eine ganze Weltanschauung bzw. eine persönliche Lebensphilosophie anschaulich-greifbar zu machen, die vom Dichter selbst als »Nature's system of divinity« beschrieben wird, d.h. als »ein System der Gottesgelahrtheit, welche die Nacht uns lehrt«, und woraus jeder fleißige Student der Nacht mit »himmlischen Eingebungen begeistert wird«. Dies wird zum Beispiel an folgender Stelle in der neunten Nacht deutlich: Night opes the noblest Scenes, and sheds an Awe, Which gives those venerable Scenes full Weight, And deep Reception, in th' intender'd Heart: While Light peeps thro' the Darkness, like a Spy; And Darkness shews its Grandeur by the Light: Nor is the Profit greater than the Joy, If human Hearts at glorious Objects glow, And Admiration can inspire Delight. (IX, 7 2 2 - 7 3 4 ) Die Nacht eröffnet uns die erhabensten Scenen, und schüttet ein heiliges Grauen aus, welches diesen ehrwürdigen Scenen das rechte Gewicht giebt, und sie in das erweichte Herz tief eindringen läßt; wann das Licht, wie ein Kundschafter, in die Finsterniß hereinblickt, und die Finsterniß durch das Licht ihre Pracht zeigt. Die Freude ist nicht geringer, als der Nutzen, wofern menschliche Herzen bey glorreichen Gegenständen in Gluth geraten, und die Bewunderung sie mit Vergnügen begeistern kann. ä
Die zu erwartenden Anklänge an Miltons Paradise Lost sind relativ selten.
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Aus Youngs zum Teil weitschweifigen, man könnte fast sagen barocken Häufungen von lose aneinandergereihten Bildern oder besser gesagt von Wortgebilden, die sich immer wieder traumartig auflösen oder voneinander verdrängt werden, entsteht ein charakteristisches Schema, das zweckbewußt auf das dem ganzen Gedicht zugrundeliegende Ziel hindeutet. Dieses Ziel wird schon im Titel des Werkes ausdrücklich angegeben: Youngs poetisches Vorhaben besteht letzten Endes darin, Leben und Tod, die großen unausweichlichen Tatsachen, die den Stoff der traditionellen Totenklage ausmachen, durch das in der dunklen Stille der Nacht wie ein Himmelskörper immer heller und deutlicher leuchtende Mysterium der Unsterblichkeit auszugleichen und womöglich auch zu erklären, wobei Leben und Tod als Symptome der allgemeinen Vergänglichkeit sowie der Vergänglichkeit des Einzelnen, die Unsterblichkeit aber als ein den Menschen unmittelbar angehender Aspekt der Ewigkeit des Universums verständlich und damit auch annehmbar gemacht werden. Damit wirft Youngs dichterische Strategie eine gesteigerte surrealistische Klarheit auf eine ihr zugrundeliegende Dunkelheit, ohne aber das Unergründliche durch oberflächliche Exegese vereinfachend aufzuklären. So konnte noch André Breton in seinem Manifeste du surréalisme (1924) mit gewissem Recht behaupten, daß »les nuits de Young sont surréalistes d'un bout à l'autre«. An dieser Stelle ist es aufschlußreich, die moralisch-geistliche Strategie Youngs vom Gesichtspunkt seines besten Kenners im damaligen Deutschland zu untersuchen, d. h. vom Blickpunkt seines Übersetzers, der mit den Details eines Textes, dessen Bedeutung für die Zeitgenossen wohl der Hauptgrund für sein ganzes mühsames Unternehmen ausmachte, wie sonst keiner vertraut war. In der schon zum Teil zitierten Anmerkung, die am Anfang der ersten Nacht steht, drückt sich Ebert wie folgt aus: [Der Anfang] öffnet uns eine sehr feyerliche Szene. Wir befinden uns auf einmal, mitten in der Dunkelheit und Stille der Nacht, vor der Kammer eines schlaflosen Unglücklichen, und hören die wehmüthigsten Klagen eines betrübten Freundes, Vaters, und Witwers, der alles, was der Menschlichkeit am Theuersten ist, und dem Leben seine größte Anmuth giebt, verlohren hat, und nun auch das einzige, so ihm nicht übrig geblieben, das Leben selbst, mit zu verlieren wünscht, weil es ihm durch jenen Verlust überflüßig, oder vielmehr zu Last geworden. Unsre Seele wird dadurch so erschüttert, wie die Seele des Poeten selbst [...]. Wir stehen, wie er, staunend und bebend, — wie bey der geweihten Flamme des mitternächtlichen Altars. — Aber es ist auch hier Religion, weiter zu gehen. Laßt uns zitternd in den Tempel seines Gegen-
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standes hineintreten, welchem dieser prächtige Eingang zum Vorhofe dient. Diese Kammer ist sein Heiligthum; sie ist nahe an der Gränze des Himmels; und wir werden bald sehen, wie auch er sich da aus dem schwachen muthlosen Menschen zu einem weisen und heldenmüthigen Christen, — zu einem Gotte erhebt. (Bd. I, 7 - 8 )
Aus diesen Erörterungen ist Wichtiges zum Thema dieses Aufsatzes zu ersehen. Youngs Gedicht kann nämlich als grandioser Versuch verstanden werden, in anschaulich-wirkungsvollen Bildern Abstraktes auszudrücken, um seiner an und für sich unaussprechlichen Thematik sprachliche Gestalt zu geben. Dieses Vorhaben wurde dann später vor allem von Wordsworth in der Ode Intimations of Immortality, from Recollections of Early Childhood (1807) weiterentwickelt. Doch ist die von Young behandelte Thematik teilweise schon bei Klopstock zu finden: man denke etwa an die Ode Der Vorhof und der Tempel aus dem Jahre 1 7 6 5 , dem Todesjahr Youngs, die Eberts Deutung der ersten Nacht als Vorhof — und des Sinnes des ganzen Gedichts als eine Art Tempel — aufgreift, d. h. als Gleichnis oder Metapher für die jenseitige Bestimmung des Menschen. In Klopstocks Ode lesen wir: [ . . . ] Ich steh hier im Vorhof der Gottheit. Beflügelt von dem Tod' eil mein Geist einst in den Tempel! Mitternacht, höre du meinen Gesang, Morgenstern, Finde du preisend mich, danken mich, Thränen im Blick, Bote des Tags! Wirst du darauf Abendstern, find' auch dann Über Gott, den erstaunt, welcher sein Heil nie ergreift!
Oder wie es bei Wordsworth heißt: The innocent brightness of the new-born Day Is lovely yet; The Clouds that gather round the setting sun Do take a sober colouring from an eye That hath kept watch o'er man's mortality.
Die beiden Gedichte heben sich zwar deutlich voneinander ab, auch wenn sie von einer tiefen innigen Ehrfurcht vor ihrem gemeinsamen Gegenstand durchdrungen sind: doch bei beiden hat Young wohl Pate gestanden. Mit Klopstock ist die wohl zentrale Gestalt erreicht, was die schöpferische Frührezeption der Nachtgedanken in der deutschen Literatur betrifft, doch von einem Einfluß im üblichen Sinne des Wortes läßt sich nur mit Vorbehalt sprechen. Einmal sind thematische Einflüsse in solchen Fällen leicht zu überschätzen. Aus Parallelen, Ähnlichkeiten und Anklängen
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läßt sich zwar auf Abhängigkeiten schließen, doch weisen textliche Parallelen dieser Art meistens auf eine rein äußerliche Form der Beeinflussung hin. Als bedeutendster Zeitgenosse Youngs hat der um vierzig J a h r e jüngere Klopstock (er wurde erst 1 7 2 4 geboren, Young hingegen schon 1 6 8 3 ) die Vorliebe des Engländers für die nächtliche Grübelei als A u s gangspunkt für die literarische Schöpfung geteilt, wobei aber schwer zu sagen ist, ob wir es mit einem eigentlichen schöpferisch religiösen Erlebnis zu tun haben oder ob die nächtliche Grübelei nicht letzten Endes eher als wirksames rhetorisches Mittel zu verstehen ist, das dem Z w e c k dient, den vollen Ernst des poetischen Vorhabens oder des erhabenen dichterischen Gegenstandes zu betonen. Es kann aber mit einiger Sicherheit behauptet werden, daß die Verwandtschaft von Young und K l o p stock ohne die Vermittlung E b e r n , ja ohne Eberts Übertragung der Nachtgedanken
kaum zustande g e k o m m e n wäre. Klopstocks
Englisch-
kenntnisse hätten wohl kaum ausgereicht, Youngs sprachlich anstrengenden und an manchen Stellen schwer verständlichen Text zu verstehen. Es gehört nämlich zum biographisch-sprachlichen Hintergrund der literarischen Beziehungen zwischen England und Deutschland im 1 8 . J a h r h u n dert, daß Klopstocks Englischkenntnisse ebenso gering waren wie die Deutschkenntnisse Wordsworths, was zur großen Enttäuschung des englischen Dichters anläßlich des Zusammentreffens der beiden Young-Liebhaber führte: Wordsworth mußte stumm dabeisitzen, während Coleridge sich lateinisch mit Klopstock unterhielt! In diesem Zusammenhang ist das sonst wenig beachtete Gedicht von Klopstock mit dem Titel An Ebert ganz besonders aufschlußreich, was die Nachtgedanken-TYitmatWi
betrifft. Das Gedicht wurde im Jahre 1 7 4 8
geschrieben, zu einer Zeit als Klopstock und Ebert noch in Leipzig studierten oder aber im Begriffe waren, die sächsische Universitätsstadt zu verlassen. Der Freundeskreis g i n g auseinander, was f ü r Klopstock der Anlaß war, teils scherzend, teils aber in vollem Ernst, die Unausweichlichkeit der Z u k u n f t vorauszusehen: [ . . . ] so traf der Gedanke Meinen erschütterten Geist, Daß mein Auge sich dunkel verlor, und das bebende Knie mir Kraftlos zittert', und sank. Ach, in schweigender Nacht, ging mir die Todtenerscheinung, Unsre Freunde, vorbey! Ach in schweigender Nacht erblickt' ich die offenen Gräber, Und der Unsterblichen Schaar! [...]
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B i n dann ich der Einsame, bin allein auf der Erde, W i r s t du, ewiger Geist, Seele zur Freundschaft erschaffen, dann die leeren Tage Sehn, und fühlend noch seyn? O d e r wirst du betäubt für Nächte sie halten, und schlummern U n d gedankenlos ruhn? Aber wenn du bisweilen erwachest zu fühlen dein Elend, Banger, unsterblicher Geist? Rufe, wenn du erwachst, das Bild vom Grabe der Freunde, Das nur rufe zurück! O ihr Gräber der Todten! ihr Gräber meiner Entschlafenen! W a r u m liegt ihr zerstreut? W a r u m liegt ihr nicht in blühenden Thalen beysammen? Oder in Hainen vereint? Leitet den sterbenden Greis! Ich will m i t bebendem Fusse G e h n , auf jegliches G r a b Eine Cypresse pflanzen, die noch nicht schattenden B ä u m e Für die Enkel erziehn, O f t in der N a c h t auf biegsamen Wipfel die himmlische Bildung Meiner Unsterblichen sehn, Zitternd mein Haupt gen H i m m e l erheben, und weinen, und sterben! Grabet den Todten dann ein Bey dem Grabe, bey dem er starb! N i m m dann, o Verwesung! Meine Thränen, und mich! . . . Finstrer Gedanke, laß ab! laß ab in die Seele zu donnern! W i e die Ewigkeit ernst, Furchtbar, wie das Gericht, laß ab! die verstummende Seele Faßt dich, Gedanke, nicht mehr.
Die geniale Auflösung von Klopstocks >Nachtgedanke< wird ganz im Sinne und im Stile Youngs ausgedrückt; doch ist auch etwas anderes in diesem Gedicht nicht zu überhören, nämlich die besonders häufige Vorwegnahme beliebter Merkmale der Lyrik des Göttinger Hains. Klopstock darf man also als Vermittler zwischen Eberts Ubersetzung von Youngs Gedicht und den ihn bewundernden jungen Dichtern des Hainbundes ansehen, auch wenn der Beitrag Youngs zur Entwicklung seines poetischen Ausdrucks eher auf eine innere Verwandtschaft als auf die Annahme einer vorübergehenden literarischen Manier zurückzuführen ist: gerade deshalb fällt das an Ebert gerichtete Gedicht mit seinen krassen Youngismen als Ausnahme in Klopstocks lyrischem Werk auf, auch wenn es in unserem heutigen Kontext als interessanter Beleg für die frühe Youngrezeption in Deutschland vorübergehend an Wichtigkeit gewinnt. Einen weniger tiefgreifenden Einfluß haben die Nachtgedanken auch auf Autoren und Werke mittleren Ranges ausgeübt: das ist um so leichter
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zu verstehen, da Young von bedeutenden Zeitgenossen überschwenglich bewundert und als Modell empfohlen wurde. In Deutschland wird er z. B. von Ebert als feurig, von Heinrich Wilhelm von Gerstenberg in den Briefen über Merkwürdigkeiten der Litteratur als mystisch und von Herder als philosophisch, prächtig und erhaben begrüßt. In einem Johann Arnold Ebert gewidmeten Gedicht von Johann Peter Uz aus dem Jahre 1 7 5 5 treffen wir sogar auf eine Stelle, an der der kritische Punkt berührt wird, was die Rezeption der Nachtgedanken in Deutschland betrifft: in einem Vers wird das Young-Bild der Empfindsamkeit und des Sturm und Drang elegant zusammengefaßt: »Young, der männlich singt, auch wann er zärtlich weint.« 4 Doch wird auch mit diesem Vers die Reichweite von Youngs Wirkung im deutschen Sprachraum nur teilweise erfaßt. Die literarische Tragweite der Nachtgedanken hatte ihr volles Ausmaß noch nicht erreicht. Um diese ganze Tragweite einschätzen zu können, muß man Youngs Gedicht auch als wichtigen Beitrag zu einem anderen literarischen Phänomen verstehen, nämlich als Beitrag zur anhaltenden Begeisterung für die Nacht-, Grab- und Kirch- oder Friedhofspoesie. Die erste Nacht war 1742 erschienen. Schon im folgenden Jahr wurde The Grave, das Hauptwerk des schottischen Dichters Robert Blair ( 1 6 9 9 - 1 7 4 6 ) veröffentlicht. Diesem Gedicht fehlt zwar der mystisch-rhapsodische Sprachund Gedankenduktus, der die Eigenart des Youngschen Stils ausmacht, doch läßt es einen andern wichtigen Aspekt der Nachtgedankenthematik mit voller Klarheit erkennen, nämlich die Kunst, eine wirksame Gruselstimmung heraufzubeschwören. Dies gelingt Blair, indem er im Gegensatz zu Young die Möglichkeiten der erzählenden Dichtung mit großer Kunstfertigkeit ausschöpft, um das schauerliche Potential der Nachtgedanken-Thematik zur Entfaltung zu bringen: hier berühren sich sozusagen Gedankenlyrik und Schauergeschichte — eine Innovation, die für die zukünftige Entwicklung der Romantik von kaum übersehbarer Bedeutung werden sollte. Eine herrliche Episode aus Blairs The Grave mag als Beispiel dienen: Oft, in the lone church-yard at night I've seen, By glimpse of moonshine chequering through the trees, The schoolboy with his satchel in his hand, Whistling aloud to bear his courage up, And lightly tripping o'er the long flat stones (With nettles skirted, and with moss o'ergrown), 4
Johann Peter Uz: An Herrn Pr. E. [Ebert]. In: Sämtliche Poetische Werke. Hrsg. von A. Sauer. Stuttgart 1890, S. 376.
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That tell in homely phrase who lie below. Sudden he starts! and hears, or thinks he hears, The sound of something purring at his heels; Full fast he flies, and dares not look behind him, Till out of breath he overtakes his fellows; Who gather round, and wonder at the tale Of horrid apparition, tall and ghastly, That walks at dead of night, or takes his stand O'er some new-open'd grave, and, strange to tell! Evanishes at crowing of the cock. ( 5 6 - 7 1 )
Auch hier muß der deutsche Leser oder Zuhörer aufhorchen: sind hier Vorklänge eines beliebten Goethe-Gedichts herauszuhören? Um Mitternacht ging ich, nicht eben gerne, Klein, kleiner Knabe, jenen Kirchhof hin Zu Vaters Haus, des Pfarrers; Stern am Sterne, Sie leuchteten doch alle gar zu schön. [...] Die Glocke Glocke tönt nicht mehr, Die Mutter hat gefackelt. Doch welch ein Schrecken hinterher! Die Glocke kommt gewackelt. Sie wackelt schnell, man glaubt es kaum; Das arme Kind im Schrecken, Es läuft, es kommt als wie ein Traum: Die Glocke wird es decken.
Oder sind beide Dichter — also Goethe und Blair — bloß auf ein allgemein-menschliches Erlebnis gestoßen, welches erst jetzt zur Zeit der allerfrühesten Vorromantik seinen adäquaten Ausdruck finden konnte? In der britischen Literatur der Sturm und Drang-Zeit stößt man immer wieder auf diese Kirchhofsthematik in abwechslungsreicher Vielfalt, bei Thomas Gray vor allem (Grays Elegy in a Country Church-Yard war schon 1751 erschienen) doch auch etwa in den Totengedichten oder »elegischen Klaggedichten« des jungen Bristoler Wunderkindes Thomas Chatterton, der sich im August 1770 im Alter von siebzehn Jahren das Leben nahm, dessen frühreifes Werk aber viele Aspekte der englischen Romantik vorwegnimmt, wie an den folgenden zwischen empfindsam-klassischer Wehmut und vorromantischer Phantasie schwebenden Strophen aus der Elegie auf den Tod des Herrn John Tandy zu ersehen ist: Ye virgins of the sacred choir, Awake the soul-dissolving lyre, Begin the mournful strain;
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To deck the much-loved Tandey's urn, Let the poetic genius burn, And all Parnassus drain. Ye ghosts! that leave the silent tomb, To wander in the midnight gloom, Unseen by mortal eye: Garlands of yew and cypress bring, Adorn his tomb, his praises sing, And swell the gen'ral sigh. Ähnliches ist immer wieder in der deutschen elegischen Dichtung zwischen Empfindsamkeit und Sturm und Drang und bei den weniger bekannten Autoren der Goethe-Zeit, wie z. B. bei Friedrich von Matthisson zu beobachten. Was aber auffällt, ist das relative Nichtvorhandensein einer richtigen vollentwickelten Nacht-, Grab- und Kirchhofspoesie in der deutschen Literatur des späteren 18. Jahrhunderts. In vielen anderen europäischen Literaturen kommt sie als wichtiger, ja frappanter Bestandteil der Vor- und Frühromantik immer wieder zum Vorschein: man denke zum Beispiel an Het Graf, das großangelegte Grabgedicht des Niederländers Rhijnvis Feith aus dem Jahre 1 7 9 5 oder an die noch späteren Auswirkungen dieser und anderer Aspekte der Nachtgedankenthematik in den Cimiteri von Ippolito Pindemonte und im berühmten Gedicht Dei Sepolchri des italienischen Young-Verehrers Ugo Foscolo aus dem Jahre 1 8 0 7 . Es ist wohl kein Irrtum, in Youngs Gedicht den Ansatzpunkt auch fur dieses Phänomen sehen zu wollen. Schon in der ersten Nacht stoßen wir auf folgendes: Ev'n silent Night proclaims my Soul immortal: Ev'n silent Night proclaims eternal Day: For human Weal, Heav'n husbands all Events, Dull Sleep instructs, nor sport vain Dreams in vain. Why then their Loss deplore that are not lost? Why wanders wretched Thought their Tombs around, In infidel Distress? Are Angels there? Slumbers, rak'd up in Dust, Ethernal Fire? They live! they greatly live a Life on Earth Unkindled, unconceiv'd, and from an Eye Of Tenderness, let heav'nly Pity fall, On me, more justly number'd with the Dead: This is the Desart, this the Solitude: How populous! how vital, is the Grave! This is Creation's melancholy Vault, The Vale funereal, the sad Cypress gloom; The Land of Apparitions, empty Shades!
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All, all on earth is Shadow, all beyond Is Substance; the Reverse is Folly's creed. (Night I, 1 0 2 - 1 2 1 ) Die Ubersetzung bei Ebert lautet: Selbst die stille Nacht verkündet die Unsterblichkeit meiner Seele; Selbst die stille Nacht verkündet den ewigen Tag. Der H i m m e l lenkt alle Begebenheiten zum Besten der Menschen; der sinnlose Schlaf unterrichtet, und eitle Träume gaukeln nicht umsonst. Warum sollte ich also den Verlust derer beweinen, die nicht verlohren sind? Warum irrt der unglückselige Gedanke, in ungläubiger Betrübniß, um ihre Gräber herum? Können dort Engel seyn? Schlummert, in Staub verscharrt, ein ätherisches Feuer? Nein! Sie leben; sie leben wahrhaftig ein auf Erden unentzündetes, unbegriffenes Leben; und lassen aus einem Auge voller Zärtlichkeit himmlisches Mitleiden auf mich herabfließen; auf mich den sie mit größerm Recht unter die Todten zählen. Dieses ist die Einöde, dieses ist die Einsamkeit: wie volkreich, wie lebendig ist nicht das Grab! Dieses ist die melancholische G r u f t der Schöpfung, das Leichenthal, die traurige Cypressen-Dunkelheit; das Land der Erscheinungen, nichtiger Schatten. Alles, alles auf der Erde ist Schatten, alles über ihr ist Wesen; das Gegentheil ist der Thorheit Glaubensbekenntniß. Eine
derartige
Lebensanschauung
mußte
den
jungen
lebenslustigen
Autoren des Sturm und D r a n g höchst zuwider gewesen sein. Herders J a k o b Balde-Enthusiasmus lag ihnen fern. Ihre Blicke richteten sich auf das Diesseitige: Natur, Liebe, Leben, sie wurden mit einem spontanen Enthusiasmus umarmt, der seinen, man würde fast meinen, unmittelbaren Ausdruck in Gedichten wie z. B . Goethes Willkommen und Abschied fand. A u c h hier herrscht Finsternis: Der Abend wiegte schon die Erde, Und an den Bergen hing die Nacht: Schon stand im Nebelkleid die Eiche, Ein aufgetürmter Riese, da, Wo Finsternis aus dem Gesträuche Mit hundert schwarzen Augen sah. Doch diese Finsternis lädt hier zu keinen
rhapsodisch-melancholischen
Nachtgedanken ein. Der nächtliche Schauplatz und die damit identifizierte Nachtgedankenthematik versuchen zwar den jungen Dichter und Liebhaber von seinem lebensbejahenden Vorhaben ablenken: Der Mond von einem Wolkenhügel Sah kläglich aus dem D u f t hervor, Die Winde schwangen leise Flügel, Umsausten schauerlich mein Ohr; Die Nacht schuf tausend Ungeheur,
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Doch frisch und fröhlich war mein Mut: In meinen Adern welches Feuer! In meinem Herzen welche Glut! Der junge Goethe konnte sich den Versuchungen der Youngschen Weltanschauung, denen sein empfindsamer, immer melancholischer werdende Werther nicht gewachsen ist, mit voller Entschlossenheit widersetzen. Der K a m p f , sich vom Einfluß ihres verlockenden Gemisches von pietistisch-religiöser Hingabe und labil-empfindsamer Ängstlichkeit zu befreien, war kein leichter K a m p f , da die existentielle Angst und die damit verbundenen religiösen Gefühle im Menschen tiefverwurzelt sind. Im Namen der Jugend und der Moderne mußte aber dieser Kampf gewonnen werden. In Goethes Gedicht An Schwager Chronos kommt dieser ganze Wandel des Lebensgefiihls mit äußerster Kunst zum Ausdruck: daß gerade in diesem Gedicht die Gestalt Klopstocks gebannt wurde, kann diese Interpretation nur unterstützen. Es mußte einer späteren Generation vorbehalten bleiben, die existentielle Angst und die religiöse Mystik wieder an die erste Stelle zu setzen, sowie eine Lebensphilosophie zu entwickeln, die auf der Unwirklichkeit des Irdisch-Materiellen basierte. In Werken wie dem zu seiner Zeit hochgeschätzten Lehrgedicht Urania; über Gott, Unsterblichkeit und Freiheit (Halle 1800) von Christoph August Tiedge, das schon um 1 7 7 0 begonnen wurde, oder in den sonst ganz anders gearteten Nachtwachen des Bonaventura (1804) oder aber in den Hymnen an die Nacht von Novalis (um 1 7 9 7 - 1 8 0 0 ) wird der Einfluß der Nachtgedankenthematik wieder spürbar: nur war inzwischen der Name Edward Young in Vergessenheit geraten. Die literarische Bedeutung von Edward Youngs Nachtgedanken besteht letzten Endes darin, die Aufmerksamkeit des 18. Jahrhunderts auf eine neue Thematik gelenkt zu haben. Die positive Aufnahme des Gedichts auch in seiner deutschen Fassung gerade zur Blütezeit der Aufklärung kann sogar vielleicht als Bindeglied zwischen zwei in der traditionellen Literaturgeschichte sonst weit getrennten Epochen verstanden werden, nämlich zwischen Barock und Romantik, zwischen den Kirchhofsgedanken des Andreas Gryphius und den Hymnen an die Nacht des Novalis. Die Nachtgedankenthematik ist ein handfester text- und rezeptionsbelegter Beweis dafür, daß die deutsche Literatur für eine ganz Europa überschwemmende Mode ebensosehr zugänglich und empfindlich war, wenn auch die geistig-literarischen Bedingungen in Deutschland um 1 7 6 0 — 1 7 7 0 anders aussahen als in den anderen Kulturländern Europas. Für die Briten entpuppte sich der Dichter, Dramatiker und Ästhetiker Young
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trotz seines vorübergehenden Erfolges als mittelmäßiger ShakespeareEpigone, der das Erbe eines überlebten Zeitalters mit modernen Gedankengängen und Problemen zu durchsetzen wußte. In Deutschland war es in einer Hinsicht anders bestellt: hier konnten die Nachtgedanken einen positiven, wenn auch leicht zu überschätzenden Beitrag zur Entwicklung einer modernen Literatur machen, die ihre Kräfte nicht aus der eigenen Vergangenheit, sondern vielmehr aus neuen Impulsen aus allen Zeiten und aus aller Welt schöpfte.
Lothar Jordan
Stichworte zur deutschen Shaftesbury-Rezeption 1770-17901
Shaftesburys Kanonisierung in Deutschland erfolgte zwischen 1 7 3 0 und 1 7 5 0 im Signum eines Aufklärers, der ein optimistisches, vernunftzentriertes, aber religiös aufgeladenes Menschenbild entfaltete, ein Menschenbild, das auf Toleranz und Tugend, Natur und Ästhetik orientierte. Seine Essays dienten z. B. der Dichtung von Brockes, Hallet oder Hagedorn als Anregung, unterstützten die Entfaltung einer aufgeklärten Theologie, beeinflußten Bildungskonzepte und trugen zur Entstehung einer eigenen Fachdisziplin Ästhetik bei, die spätestens 1 7 5 0 durch Baumgarten etabliert war. Was Shaftesbury im Ideal eines »virtuoso« als Synthese in der Person eines gebildeten, kunstsinnigen, aufgeklärten, auch politisch tätigen Menschen zusammendachte, wurde in Deutschland am treffendsten wohl bei Wieland und mit Wirkung über Schiller bis in das Humboldtsche Bildungsideal aufgenommen. Als um 1 7 7 0 die Schriftsteller und Ästheten, die in diesem Kolloquium zur Diskussion stehen, sich auch auf Shaftesbury bezogen, war dieser bereits eine Figur von europäischer Reputation. 2 Man muß konstatieren, daß spätestens seitdem, in der Entfaltung des modernen Literatursystems in Deutschland, zu der der Sturm und Drang, der junge Goethe, entscheidend beigetragen haben, Shaftesbury in einigen Diskursen hierzulande bereits an Bedeutung verlor. Seine Zauber banden zunehmend weniger, was die Modernisierung teilte. Sein Werk zielte auf die behutsame Emanzipation von Ästhetik und Literatur ab, nicht auf deren Autonomie. Wo Shaftesbury größere Spielräume hatte ermöglichen wollen, entstanden eigensinnige Diskurse und Konzepte, die bis in die Genese neuer wissen' Dieser Beitrag knüpft an folgenden Aufsatz an: Lothar Jordan: Shaftesbury und die deutsche Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts. Ein Prolegomenon zur Linie Gottsched-Wieland. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N.F. 44, 1 9 9 4 , S. 410— 424. 2 Der Ehrentitel eines deutschen Shaftesburys wurde Mitte der 60er Jahre bereits zum zweiten Mal vergeben, von Herder an - den vorkritischen — Kant.
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schaftlicher Disziplinen auf Dauer wirksam waren. Solche Konzepte, zu denen Shaftesbury keine relevanten Beiträge mehr leisten konnte oder zu können schien, sind die der autonomen Literatur, der radikalen Aufwertung des Künstlers, die Etablierung der (Erlebnis-)Lyrik als einer mindestens gleichwertigen Gattung, sowie der historische und der nationale Diskurs. Weiter wirkte er aber u. a. in der Disziplin Ästhetik, z. B. über Kants Kritik der Urteilskraft 1790 und Schillers philosophische und ästhetische Schriften. Der Blick der Germanistik auf die Shaftesbury-Rezeption im 18. Jahrhundert, gerade im Sturm und Drang, ist bis heute3 geprägt von der Fachgeschichte um 1900 ( ± 30), der Kombination von geistesgeschichtlicher Methode und nationaler Orientierung, die in ihren weltanschaulichen und historischen Begründungs- und Selbstbegründungsrahmen mit dem Sturm und Drang, mit der Goethezeit, auch Shaftesbury einbaute. Im folgenden möchte ich mit fünf ausgewählten Stichworten, sozusagen in Form eines Dictionnaire (très abrégé), einige neue Aspekte der Shaftesburyrezeption und ihres sich um 1 7 7 0 ankündigenden allmählichen Schwundes zur Diskussion stellen. Dabei will ich auch solche Punkte ins Gespräch bringen, die mir in jener Zeit oder aber, davon nicht immer leicht zu trennen, durch die späteren wissenschaftlichen Filter verzerrt oder gar ausgeblendet erscheinen. Dieses kurze Referat versammelt einige Bausteinchen aus einem umfassender angelegten Versuch, die Geschichte der Shaftesbury-Rezeption in Deutschland neu zu schreiben.
Anthropologisierung Unter diesem Stichwort fasse ich zusammen, was ich für den Kern der Wirkung Shaftesburys durch das g a n z e 18. Jahrhundert halte (eben auch hier, im Sturm und Drang). Es ist oft eine indirekte Wirkung, etwa über die aufgeklärte Theologie oder über die Linie Diderot — Rousseau,4 ge3
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Siehe z.B. Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt/Main, Leipzig 1994. Diderot hat Shaftesburys Inquiry Concerning Virtue or Meril bearbeitend übersetzt und unter dem Titel Essai sur le Mérite et la vertu 1745 veröffentlicht. Am 16. 3. des gleichen Jahres schenkte er Rousseau ein Exemplar. Beide diskutierten Shaftesbury in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre; s. dazu z. B. den Kommentar in Diderot: Oeuvres complètes. Edition critique et annotée. Bd. 1. Hrsg. von Paolo Casini und John S. Spink. Paris 1975, S. 2Ó9ff.
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rade in den 70er Jahren durch letzteren mit erheblicher Ausstrahlung nach Deutschland. Die Anthropologisierung entwickelt sich bei Shaftesbury immer im Blick auf eine Emanzipation von Theologie und Kirche, von einem personalen Gott: Die Menschen gestalten ihr Schicksal selbst, und sie sind sich — zu recht — selbst wichtig. Shaftesburys Argumentationsrahmen wird gebildet von einer nicht teilbaren Verschränkung von Wahrheit, Moral, Schönheit und Natur. Diese durchzieht ein teils emphatischer, jedenfalls religiös aufgeladener Optimismus im großen und im kleinen, der eine wohlwollende soziale Ader im Menschen annimmt, gute Laune (eine positive Grundeinstellung: good-humour) und Lachen forciert, das als körperliche Reaktion immer einen anti-asketischen Z u g hat. 5 Zudem werden in der Abwehr jeglichen Dogmatismus Toleranz und Selbstkritik angemahnt. Das Gespräch der Seele mit Gott wird bei Shaftesbury säkularisiert zu einem Gespräch der Seele mit sich selbst (später wird das, abstrakter, als Selbstreflexion an Bedeutung gewinnen). Der Schriftsteller, so Shaftesbury in Soliloquy, or: Advice to an Author solle mit sich selbst reden, um sich über sich selbst klar zu werden, dann sich bei etwaigen negativen Einsichten allerdings am Leitfaden der Vernunft auf den Weg der Tugend bringen und davon den anderen etwas mitteilen. Aber dies In-sich-hineinhören, das Ernstnehmen der eigenen Zustände, das bei Shaftesbury immer ein Mittel zum guten Zweck war (und nur sehr verhalten empirisch), bildet als Verfahren eine Voraussetzung für die spätere Aufwertung und Darstellung von Subjektivität, des Herzens, der Gefühle, der Phantasie — von der Psychologie bis zur Literatur, etwa der Erlebnislyrik. Es ist wichtig, daß diese Tendenz zur Anthropologisierung bei Shaftesbury emphatisch, religiös aufgeladen ist. Arnold Gehlen hat daraufhingewiesen, daß es einen prinzipiellen Unterschied macht, ob sich der Mensch »als Geschöpf Gottes versteht oder als arrivierten A f f e n « 6 (eine spätere, postdarwinistische Perspektive). In Shaftesburys Ansicht erschien der Mensch nicht nur als ein Geschöpf Gottes, sondern als mehr: der Mensch war N a t u r und die Natur war göttlich, also war auch der Mensch göttlich. Das gilt analog für die Verknüpfung von Wahrheit und Schönheit, Natur und Schönheit usw. Eine solche optimistische (und zudem partiell mit der 5
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Man beachte die in dieser Wirkung stehende Bedeutung des analogen Begriffes >Freude< für die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt. 1 2 . Aufl. Wiesbaden 1 9 7 8 , S. 9.
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Theologie 7 koalitionsfähige) Botschaft forcierte das menschliche Selbstwertgefuhl des 18. Jahrhunderts erheblich.
Genie In der Genieästhetik steigerte sich das Selbstverständnis des göttlichen Geschöpfes zu dem des göttlich schöpferischen Geschöpfes. Ich habe bereits darauf hingewiesen, 8 daß die Fixierung der Germanistik darauf, Shaftesburys Bedeutung für die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts auf die Rolle einer Quelle der Genieästhetik zu beschränken, nicht haltbar ist. So erscheint es übrigens auch aus der Perspektive eines benachbarten Faches. In seiner anglistischen Habilitationsschrift zur Romantischen Ästhetik9 äußerte Herbert Mainusch deutliche Kritik an der gängigen germanistischen These, auch wenn er vordergründig nur die Schriftsteller kritisiert: »Berühmt wurde seine [Shaftesburys] von den deutschen Stürmern und Drängern begeistert aufgenommene, aber gründlich mißverstandene Bestimmung des Dichters als eines zweiten Schöpfers, eines zweiten Prometheus unter Jupiter«. Aber ich weiß gar nicht, ob die hier aus der anglistischen Optik kritisierten deutschen Schriftsteller Shaftesbury mißverstanden haben, wenn sie einen Satz aus dem Zusammenhang seiner Argumentation isolierten. Es ist doch nicht unüblich, von einem berühmten Autor kürzeste Formulierungen zu zitieren, wenn sie Wasser auf die Mühle der eigenen Argumentation sind. Tatsächlich dürfte die deutsche >Genieästhetik< sich nicht direkt aus Shaftesbury herleiten, sondern sich allmählich mit gewichtigen Eigenanteilen entwickelt haben unter Nutzung verschiedener, auch internationaler Anregungen. Zur Vorgeschichte dieser Anregungen gehört Shaftesbury, der überhaupt den modernen ästhetischen Diskurs des 18. Jahrhunderts mit in Gang gebracht hat. Die Zitate des Prometheus-Satzes aus Shaftesburys Soliloquy etwa bei Lessing oder Herder spannen dann bloß noch beglaubigend einen bedeutenden Autor für das eigene Programm ein, ohne die Funktion dieses Satzes im Zusammenhang der Literatur- und Kunstauffassung Shaftesburys zu bedenken: Von einer stürm- und drängerischen Genie7
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Allerdings wurde hier die Frage, ob Shaftesbury Deist oder Pantheist war, auch mit kritischer oder abwehrender Tendenz gestellt. Siehe Anm. i. Romantische Ästhetik. Untersuchungen zur englischen Kunstlehre des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Bad Homburg v.d.H. u.a. 1969, S. 267.
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ästhetik kann im Kontext von Shaftesburys Essay keine Rede sein. Kurz vorher diskutiert er in diesem Essay z. B. Shakespeares Hamlet. Sein Urteil läßt sich zusammenfassen: Inhalt >gut mangelhaft«. Von hier aus kommt man allenfalls über mehrere Vermittlungsschritte zum Sturm und Drang. Was die jungen Autoren suchten, waren literarische Vorbilder: Der Künstler wurde gegenüber dem Ästhetiker aufgewertet. Der Dichter Shakespeare, von dem Shaftesbury wenig hielt, war ungleich wichtiger als jeder Theoretiker es sein konnte. Dies gilt auch für andere Autoren, im Bereich der englischen Literatur z. B. für Thompson, Gray, >Ossian , Danaus < Z w a c k > und Shaftesbury < S t e g e r > sind zu beordern per m od um imperii, daß sie unter junge Leute gehen, qu'ils tâchent épier les charactères, daß sie sich Anhang erwerben, Vorschläge machen und dann Befehle erwarten. [ . . . ] / den 19. Sept. 1 7 7 6 / Ihr Spartacus. 10
Was hier mit Agathon, bei dem, wie andere Dokumente zeigen, an Wielands Roman zu denken ist, Danaos und Shaftesbury ins Literarische zu weisen scheint, markiert doch eine politische Aktivität, nämlich die Rekrutierung des Nachwuchses für die politische Untergrundverbindung des kurz zuvor gegründeten >IlluminatenordensInitiator und Führen, der in Ingolstadt lehrende Adam Weishaupt, sich hinter »Spartacus« verbirgt. Die ursprüngliche Funktion, vor Ort Schutz vor den Jesuiten zu bieten, wurde bald erweitert, und die praxisorientierte radikalaufklärerische, im Stil einer Kaderpartei geführte Verbindung dehnte sich auf weitere Teile Bayerns aus, nach 1780, nach dem Eintritt KnigIO
Adam Weishaupt an Anton von Massenhausen. In: Die Illuminaten. Quellen und Texte zur Aufklärungsideologie des Illuminatenordens ( 1 7 7 6 - 1785). Hrsg. von Jan Rachold. Berlin 1984 (Philosophiehistorische Texte), S. 109.
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ges, auf weitere Teile Deutschlands. 1784/1785 wurde der Orden, mit maximal mehreren hundert Mitgliedern, verboten. Die Wahl des Decknamens Shaftesbury, hinter dem sich der Eichstätter Jurist Franz Anton Steger verbirgt, markiert ein Extrem der deutschen Rezeption des Engländers im Zeitraum 1 7 7 0 - 1 7 9 0 . Das Aufnahmeprotokoll Stegers, der zu den allerersten Illuminaten gehört, ist übrigens erhalten."
Nation(alismus) Geistiger Aufbruch, das meint aus einer bestimmten Perspektive auch den nationalen Aufbruch, der sich in den Werken und Ideen vieler jüngerer deutscher Schriftsteller der Zeit vollzieht. Ein Kernstück der Entfaltung der deutschen Nationalliteratur in diesem Zeitraum war die französisch-deutsche Opposition, 12 etwa deutsche Tugend und Volkstümlichkeit und sprachliche Freiheit gegen französische Tyrannei, Hofkultur und Klassizismus. Doch wird man den Aufbruch der deutschen Nationalliteratur nicht auf die Abkehr von französischer kultureller Vorherrschaft reduzieren können. In der Vielfalt der nationalen Positionen ist fast sofort auch eine nationalistische anzutreffen, die darauf abzielt, daß die deutsche Literatur alle anderen überbietet. So finden wir sie von Anfang an im Göttinger Hain. Ich zitiere verschiedene Verse aus einem im September 1 7 7 2 entstandenen programmatischen Gedicht des knapp 24jährigen Hölty: An Teuthard Trotz jedem Ausland, stürmet Begeisterung In deutschen Seelen [ . . . ] . Mit schnellern Flügeln, als der Hesperier Und Brite, flogt ihr, Barden des Vaterlands, Z u Bragas Gipfel! [ . . . ]
" "
Die Illuminaten, vgl. Anm. 10. Siehe etwa Gonthier-Louis Fink: Das Bild des Nachbarvolkes im Spiegel der deutschen und der französischen Hochaufklärung ( 1 7 5 0 - 1 7 8 9 ) . In: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hrsg. von Bernhard Giesen. Frankfurt/Main 1 9 9 1 , S. 4 5 3 - 4 9 2 ; s. auch Winfried Woesler: Die Idee der deutschen Nationalliteratur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Nation und Literatur im Europa der Frühen Neuzeit. Akten des I. Internationalen Osnabrücker Kongresses [...]. Hrsg. von Klaus Garber. Tübingen 1989, S. 7 1 6 - 7 3 3 .
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[...] Muse Teutoniens, Du bietest deiner Schwester, der Britin, Trotz Und überfleuchst sie bald!' 3 Also ein Programm der Überbietung keineswegs nur Frankreichs, sondern auch der englischen Literatur. Das Stichwort »Barden« weist die Richtung: Was Hölty an der englischen Literatur nachweislich interessierte, waren Dichtungen von Thompson, Th. Gray, Percys Reliques of Ancient English Poetry, >OssianVerfassungspatriotismus< bezeichnet: »'Tis the social league, confederacy, and mutual consent, founded in some common good or interest, which joins the members of a community and makes a people one. Absolute power annuls the public. And where there is no public [Gesellschaftlichkeit] or constituion there is in reality no mother 13
L. Ch. H . Hölty. Werke und Briefe. Hrsg. von Uwe Berger. Berlin, Weimar 1966 (Bibliothek deutscher Klassiker), S. 87.
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country or nation.« 14 Wir finden bei Shaftesbury — bereits 1 7 1 1 ! eine der schärfsten Ablehnungen von hierzulande erst später realisierten Varianten der Klimatheorie, wenn er sich explizit gegen die »patriots of the soil« ausspricht. Ein einziger Beleg aus einem längeren Abschnitt: In der Perspektive der >Patrioten des Bodens< wird das natürliche Gefühl für eine Gesellschaft und ein Land< reduziert auf das Verhältnis zwischen: »a mere fungus or common excrescence to its parent-mould or nursing dunghill«. 1 5 Der Patriot auf seinem Boden wie ein Pilz, ein Schwamm auf einem Misthaufen: Schärfer läßt es sich nicht sagen (und es ist für Shaftesburys Verhältnisse ungewöhnlich scharf). Aber auch für weniger radikale, etwa nationalkulturelle Orientierungen in der deutschen Diskussion war Shaftesburys Verfassungsorientierung wenig brauchbar. Das mag mit erklären, warum der kanonisierte Engländer in bestimmten, damals in Deutschland wichtig gewordenen Diskussionen vielfach — und erst recht in der späteren deutschen Literaturgeschichtsschreibung nicht mehr zitiert wird. Zur Verfügung gestanden hätte seine Argumentation allerdings schon.' 6
Vermischte Reflexionen Alle anderen Essays Shaftesburys haben in der (und zwar nicht nur in der germanistischen) Forschung mehr Aufmerksamkeit gefunden als die Miscellanous Reflections, die immerhin den dritten Band der Characteristics 14
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Characteristics. Hrsg. von John M. Robertson. Bd. 2. London 1 9 0 0 , S. 2 4 4 ^ , Anm. 4 CMiscellaneous Reflections). Characteristics, vgl. Anm. 1 4 , Bd. 2, S. 246. - Shaftesburys Äußerungen stehen u.a. im Kontext einer auch literarisch geführten Diskussion um die Rolle von Ausländern, die um 1 7 0 0 in England aus aktuellen Anlässen geführt wurde, s. etwa J . Tutchin: The Foreigners, D. Defoe: The True-Born Englishman. Das kann an dieser Stelle nicht ausgeführt werden; s. zum ideengeschichtlichen Hintergrund z.B. Waldemar Zacharasiewicz: Die Klimatheorie in der englischen Literatur und Literaturkritik, von der Mitte des 16. bis zum frühen 18. Jahrhunderts. Wien, Stuttgart 1 9 7 7 (Wiener Beiträge zur englischen Philologie. 57), insbesondere Kap. 3 und 4. Die Entpolitisierung der Rezeption Shaftesburys in Deutschland hat Hans-Georg Gadamer am Begriff des »sensus communis« festgestellt: »Während in England und in den romanischen Ländern der Begriff des sensus communis noch heute nicht nur eine kritische Parole, sondern eine allgemeine Qualität des Staatsbürgers bezeichnet, haben in Deutschland die Anhänger Shaftesburys und Hutchesons im 18. Jahrhundert den politisch-sozialen Inhalt, der mit sensus communis gemeint war, nicht mit übernommen.« (H.-G. Gadamer: Hermeneutik I: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik. Tübingen 1990 [Gesammelte Werke. Bd. 1], S. 32).
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ganz füllen und mit 200 Seiten die längste seiner Arbeiten sind. Für denjenigen, der sich für Prozesse literarischer Modernisierung interessiert, dürfte sie zu den interessantesten Texten Shafitesburys zählen. Sie sind modern z. B. darin, daß die Aufklärung in ihnen selbstreflexiv und selbstkritisch wird. Teils bilden sie einen kritischen, in verschiedenen Rollen artikulierten Kommentar zu den anderen Essays, teils wehren sie Kritik an ihnen ab. Dabei mischt bzw. variiert Shaftesbury in ihnen stärker als sonst die Stilebenen, etwa im detailliert ausgeführten Vergleich des öffentlichen Disputes von Philosophen mit Straßenfußballern, die solange Fensterscheiben einschießen, bis ihrem Ball die Luft ausgeht. Immerhin sind die Vermischten Reflexionen Herder besonders aufgefallen. Ich zitiere die entsprechende Stelle auch deshalb, weil sie ein Beleg zugleich für Bedeutung und — partiellen — Abbau der Rolle Shaftesburys zu Beginn der siebziger Jahre ist. Betrieben Abbt, Nicolai und Mendelssohn in der sechziger Jahren das Projekt einer Shaftesbury-Gesamtausgabe, von dem Herder wußte, so skizziert dieser 1 7 7 2 in der Allgemeinen Deutschen Bibliothek nur noch die Idee einer Auswahlausgabe. Herausbleiben könnten: »die Untersuchung über die Tugend, die überdem Sh. auszeichnendstes Werk nicht ist [. ..], die Sittenlehrer [Moralists], so vortrefflich sie sind.' 7 Aber der Enthusiasmus, und die Berichtigung desselben im Gespräch über Witz und Humor, zusammst einem Theile seinerMISCELLANIES, das würde ein Bändchen geben, für welches gewiß nicht an Lesern zu sorgen wäre. Die Folge der MLSCELLANIES, die Lehren an einen Autor u.s.w. ein zweites — «: l 8 Also zwei Bände von je gut 200 Seiten, wobei die Hälfte der Textmenge aus den Vermischten Reflexionen bestanden hätte. Ernst Behler hat kürzlich darauf hingewiesen, daß Herder in Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit ( 1 7 7 4 ) verschiedene Darstellungsformen genau getrennt nebeneinander stellt, »Spontanität und Selbstkritik«, »affirmative Erzählung und kritische Reflexion«, 1 9 und damit ein quasi-literarisches Verfahren praktiziert. Ich möchte die Beobachtung um den Hinweis ergänzen, daß Herder das bei Shaftesbury 17
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Also die beiden Liebiingswerke der Neologie, von Spalding in den 40er Jahren übersetzt, was ein Grund dafür sein könnte, daß sie nicht erneut aufgenommen werden sollen. Zitiert nach: Herder. Sämtliche Werke. Hrsg. von Bernhard Suphan. Bd. 5. Berlin 1 8 9 1 , S. 3 1 6 . Historismus und Modernitätsbewußtsein in Herders Schrift »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit«. In: Etudes germaniques 49, 1 9 9 4 , S. 2 6 7 284, hier S. 281 f.
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vorfand, in den Vermischten Reflexionen, aber erst recht im Kontrast zwischen ihnen und dem vorhergehenden Essay The Moraiists (den Horst Meyer so gründlich bearbeitet hat). 20 Ein solches literarisches Verfahren der (hier kultur- und geschichts)philosophischen Darstellung, wie es auch nach dem Muster Shaftesburys dann Herder erprobte, sollte sich in Philosophie und Wissenschaft, spätestens nach den Kritiken Kants ( 1 7 8 1 - 1 7 9 0 ) aber nicht behaupten können. In der Literatur selbst waren die Impulse der Vermischten Reflexionen bereits überbietend verarbeitet, z.B. der variabel-reflexive, spielerische Umgang mit der Erzählerrolle und der Form der Erzählung. Tristram Shandy von Laurence Sterne, der im Todesjahr von Shaftesbury, auf den er mehrfach Bezug nimmt, 2 1 geboren wurde, stellt eine lange wirksame Anregung für den modernen Roman dar. Noch vor Shaftesburys Miscelianous Reflections, deren Übersetzung, wie eben erwähnt, Herder 1 7 7 2 forderte, wurde Tristram Shandy 1 7 6 9 erstmals ins Deutsche übersetzt. Die Geister der Moderne, die Shaftesbury gerufen hatte, waren dabei, ihn loszuwerden. Und das gilt gerade im Sturm und Drang.
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° Im übrigen verweist Herder hier in einer Fußnote ausdrücklich auf die Vermischten Reflexionen Shaftesburys, kritisiert aber, ganz im Tenor des Sturm und Drang, dessen (klassizistische) Orientierung an der Antike: »der liebenswürdige Plato Europens, der nur alles zu sehr nach griechischem Urbilde modeln will«. Johann Gottfried Herder: Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Hrsg. von Hans Dietrich Irmscher. Stuttgart 1990, S. 17. " Siehe den Kommentar zu Tristram Shandy der Florida Edition of the Works of Laurence Sterne. Bd. 3. Hrsg. von Melwyn New et al. Gainesville 1984.
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Hamanns Streitkultur
Die Vokabel Streitkultur ist vielleicht etwas modisch geworden, charakter i s i e r t aber in vieler Hinsicht ein Problemfeld des späten 18. Jahrhunderts, in welchem man nicht zimperlich miteinander umging. Die Hainbündler zertraten in heiliger Empörung Wielands Schriften oder verwandten sie als Fidibusse, die Brüder Schlegel wollten ihn im Athenäum »annihilieren«. Es gab aber bekanntlich auch einen Streit um die Sache, in welchem man den Gegner zwar als Vertreter einer falschen Position, einer schiefen Ansicht angriff, aber mit ihm stritt, um in diesem Streit zur Wahrheit zu gelangen — oder ihr jedenfalls näher zu kommen. Zu den Polemikern, die solche Ziele hatten, darf man nicht nur Lessing, sondern auch getrost Hamann rechnen, obwohl seine manchmal wunderlich anmutende Polemik stärker auf den Gegner als auf die Sache bezogen scheint. Um die Eigenart dieser >unsachlichen< Polemik zu verstehen, muß man sich vergegenwärtigen, daß Hamann mit seinem Jahrhundert die Ansicht teilte, die Pope so treffsicher in Essay on Man formulierte: »The proper study of mankind is man.« Er erfuhr jedoch sehr konkret in der Einsamkeit und Fremde in London, daß »Gott und mein Nächster gehören (also) zu meiner Selbsterkenntnis, zu meiner Selbstliebe« (N Bd. I, S. 302). 1 Eine allgemeine, durch abstrakte Vernunft zu erlangende Selbsterkenntnis gibt es danach für ihn nicht, die echte Selbsterkenntnis wird vielmehr erst durch die existentiell erlebte Abhängigkeit von Gott und dem Mitmenschen möglich. Hamann nannte diesen Prozeß mit einem Ausdruck, den Kant übernahm, die »Höllenfahrt der Selbsterkenntnis«, weil in ihr die allgemeine gesunde Vernunft und die Tugend, zentrale anthropologische Bestimmungen und Werte des Jahrhunderts, denen
' Johann Georg Hamann. Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe von Josef Nadler. 4 Bde. Wien 1 9 4 9 - 1 9 5 7 . - Im folgenden zitiert mit der Sigle N sowie Band- und Seitenangabe.
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auch er in der moralischen Wochenschrift Daphne gehuldigt hatten, ihm nunmehr als Hypostasen, als hochmütige Illusion erschienen. Noch in der Neuen Apologie des Buchstaben h ( 1 7 7 3 ) heißt es: »Der Gegenstand eurer Betrachtungen und Andacht ist nicht Gott, sondern ein bloßes Bildwort, wie eure allgemeine Menschenvernunft, die ihr durch eine mehr als poetische Licenz zu einer wirklichen Person vergöttert« (N Bd. III, S. 106). Die Vernunft ist individuell, durch Triebe und Wünsche gelähmt oder beflügelt — und so schwach und schwankend wie die Tugend. Dies führt zu Konflikten mit den Freunden, die auch und erst recht seinen neuen, aber eigentlich gut lutherischen Wahrheitsbegriff nicht verstanden: Gott ist im Vollsinn des Wortes die Wahrheit, in der Begegnung mit ihm erfährt der Mensch dann die Wahrheit über sich selbst. Es geht nicht um die richtigen Meinungen über die Wahrheit, sondern um die Begegnung mit ihr, aber Hamann erfuhr, daß die direkte Mitteilung seiner Londoner Erfahrung nicht gelang, daß sie falsch verstanden wurde, was einen deutlichen Niederschlag in seinen Briefen fand. Er will, so schreibt er resigniert, »lieber gar nicht als unrecht verstanden werden«, 2 und begegnet dem Vorwurf der Unklarheit mit dem Wunsch: »Und wenn ich noch so ordentlich, noch so gründlich und bündig denken könnte und meine Gedanken aufsetzen: so wird mir Gott Gnade geben mich deßen so viel möglich zu entäußern — Soll nun meine Vernunft das Licht seyn, darnach sie sich richten sollen. Das wäre gefährlicher als da sie jetzt ihre eigene zur Richtschnur und Bleygewicht Göttlicher Wege machen.« (ZH Bd. I, S. 344). Er pocht immer wieder auf den Unterschied zwischen der Wahrheit und der menschlichen, standortgebundenen Erfahrung der Wahrheit, nennt Meinungen bloße vehicula, Hilfsmittel der Wahrheit und meint mit Augustinus, »daß die Wahrheit bestehen könne mit der größten Mannigfaltigkeit der Meynungen über eine einzige und dieselbe Sache« ( Z H Bd. I, S. 335). In Anlehnung an die Bibel heißt es weiter über die Aufnahme der Wahrheit: »Die Wahrheit ist also einem Saamenkorn gleich, dem der Mensch einen Leib giebt wie er will; und dieser Leib der Wahrheit bekommt wiederum durch den Ausdruck ein Kleid nach eines jeden Geschmack, oder nach den Gesetzen der Mode« (ZH Bd. I, S. 335). Wie kann aus einer solchen Position über Meinungen, über Wahrheiten, ja über die Wahrheit gestritten werden? Impliziert sie nicht entwe2
Johann Georg Hamann. Briefwechsel. Hrsg. von Walther Ziesemer und Arthur Henkel. 7 Bde. Wiesbaden, Frankfurt/Main 1 9 5 5 —1979. — Im folgenden zitiert mit der Sigle Z H sowie Band- und Seitenangabe.
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der einen reinen Subjektivismus oder die Verwandlung der diskutablen Wahrheit einer Meinung in die nicht anzufechtende Wahrhaftigkeit einer Gesinnung? Hamann würde dies verneinen und behaupten, daß er, gerade weil er nicht über die Wahrheit verfügt, die Freunde verunsichern muß, die sie zu besitzen glauben. Er muß diese Lüge, die intellektuelle und moralische Selbstgefälligkeit der Freunde erschüttern, damit sie der Wahrheit begegnen können. Dabei muß und kann er sehr wohl gegen weltanschauliche Positionen philosophisch argumentieren. Als Beispiel sei erwähnt, daß er in seiner >Metakritik< des Kantschen Kritizismus diesem vorwirft, daß er die Abhängigkeit der Erkenntnis von Anschauungsformen zwar analysiere, die Sprachabhängigkeit der Vernunft jedoch nicht beachte, daß er also nicht darüber reflektiert habe, daß die Kontingenz der Vernunft, ihre Abhängigkeit von einer zufälligen, empirischen Sprache unaufhebbar ist, daß sie folglich in ihrer Begriffsbildung durch historisch bedingte Metaphern bestimmt ist. O b er damit Kants Intention gerecht wird, sei dahingestellt. Hamann kann und will nicht Christus predigen, sondern ihm den Weg bereiten, weshalb Sokrates und Johannes der Täufer beliebte Rollen werden. Sokrates wußte nichts, konnte seine Freunde keine Wahrheiten lehren, sprach aber gern von der Hebammenkunst, der Maieutik, die er von seiner Mutter gelernt hatte. In der Sokratesnachfolge stehend, benutzte Hamann noch drastischer das metaphorische Potential der Baderkunst des Vaters. Als er eine Gesamtausgabe seiner kleinen kritischen Schriften erwog, wollte er die Bände Metakritische Wänncben oder Saalbadereyen nennen und spielte mit dem Gedanken, als Motto die von ihm beliebte Zote anzubringen: »Der Bader und die Hur, / baden den reichsten Mann, den schlechtesten Kerl, beständig nur / in einer Wanne.« 3 Auf die Art seiner Sokratesnachfolge werde ich näher eingehen müssen, weil sie paradigmatisch ist, sich mehr oder weniger deutlich wiederholt. Er sieht sich nicht als Apostel, sondern als Prophet, Vorläufer und Wegbereiter, benutzt deshalb gern den ihm von Friedrich Karl von Moser verliehenen N a m e n » M a g u s in N o r d e n « , weil er wie die vorchristlichen Magi des Evangeliums den Stern gesehen hat. Die prophetischen Gestalten des Alten Testaments, Johannes der Täufer, aber auch die »apokryphische Sibylle« waren in seinem Rollenrepertoire wichtiger als die Jüngergestalten des Neuen Testaments, die fundamentale Figur in seinem Leben
' Vgl. Josef Nadler: Johann Georg Hamann. Der Zeuge des Corpus mysticum. Salzburg
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und in seiner Autorstrategie ist jedoch der Philologe, d. h. derjenige, der den Logos liebt, welcher am Anfang war, sich im Buch der Natur und der Geschichte sowie in der Fleischwerdung und im Tod am Kreuz offenbarte. Hamann macht Ernst mit der alten Buchmetapher; der erste Satz seiner Londoner Aufzeichnungen lautet: »Gott ein Schriftsteller!«, aber Metapher ist eigentlich eine falsche Bezeichnung. Gott offenbart sich in Handlungen, Begebenheiten, in den Berichten über diese Begebenheiten und, wie das erste Buch Moses zeigt, nicht in theoretisch-philosophischer Erklärung der Schöpfung, sondern in einer Erzählung, die »nach dem Begriff der Zeit abgemessen, und gewissermaßen mit den Begriffen der Zeit, in denen er [Moses] schrieb, in Verwandtnis stehen mußte« (N Bd. I, S. I i ) . Begebenheiten, Erzählungen sind aber eben mannigfacher Auslegung fähig, entfalten historisch ihre Polyinterpretabilität. Dies gilt besonders für die Worte Christi, wie Hamann es in Aesthetica in nuce mit einem langen Baconzitat (N Bd. II, S. 202) erhärtet, aber die ganze Geschichte ist, wie es in den Sokratischen Denkwürdigkeiten (N Bd. II, S. 65) heißt, Mythologie, Fabel; sie birgt einen Sinn, den es auf die eigenen Lebensumstände anzuwenden gilt, gemäß der pietistischen Maxime der Schriftauslegung: Applica te totum ad scripturam, et scripturam totam ad te. Kein Umstand ist zu geringfügig, er kann in einer bestimmten Lage Gottes Wort, Gottes Anrede an den Leser oder Hörer werden. Hamann liebte die Fabel des alttestamentlichen Propheten Nathan vom einzigen Lamm des Armen, das der Reiche ihm raubt. Er erzählt sie bekanntlich dem König David mit seinen vielen Frauen und der neu geraubten Bathseba, muß aber dem verblendeten König, der das Wesen der Gattung verkennt, ausdrücklich sagen: De te fabula narratur. Hamann sieht seine Aufgabe darin, diesen Charakter der Schöpfung als kerygmatische Anrede, als Fabel und Mythos freizulegen. Die Sokratischen Denkwürdigkeiten sind denkwürdig, weil die damaligen Konstellationen, wie Hamann schreibt, seine jetzigen spiegeln. Sokrates war eine Lieblingsgestalt der Aufklärung, bei Hamann ist er der unwissende und unnütze Spintisierer, der, häßlich und ohne bürgerlichen Beruf, den aufgeklärten Bürgern von Athen fundamentale und einfache Fragen stellt, die sie mit all ihrer Sophisterei nicht beantworten können. Sie nennen ihn deshalb einen Schwärmer, der neue Götter einfuhren und die Jugend verführen will — und in diese Rolle schlüpft der berufslose Hamann, den die fleißigen Freunde faul schalten. Durch diese Inszenierung läßt er jedoch die Freunde Berens und Kant nicht lediglich die Rolle der Sophi-
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sten übernehmen, denn Sokrates ist ein Christustypos, präfiguriert den Erlöser! Sokrates überfuhrt in der Schrift Hamanns die philosophischen Athener ihrer Unwissenheit so wie Christus die gesetzesstolzen Juden ihrer Sündhaftigkeit, und sie lassen ihn in ihrer Wut wegen Blasphemie hinrichten — wie die Juden den gotteslästerlichen Jesus. Nach seinem Tod erscheint Sokrates einem armen Handwerker usw. Hamann aktualisiert, wie zu ersehen ist, nicht nur mehr oder weniger zutreffend eine historische Parallele. Sein Geschichtsverständnis war typologisch, d. h. die ganze Geschichte, auch die sogenannte profane, bezieht sich auf ihre Mitte, die Fleischwerdung Gottes und seinen Tod am Kreuz. Für das rechte Verständnis der Schriften Hamanns ist es wichtig, daß alle Geschichte und alle Überlieferung so zu interpretieren ist. Die Typologie ist also nicht nur eine Art erbaulicher Exegese, sondern eine Gtschichtstheologie, die sich nicht auf die biblische Geschichte beschränkt, und so tritt etwa neben Jonas, der im Bauch des Walfisches Christi Höllenfahrt präfiguriert, schon öfter vor Hamann auch der Heide Sckrates.4 Die Inkarnation hebt natürlich die typologische Struktur der Geschichte nicht auf, und deshalb will Hamann den Streit mit Berens und Kint figural deuten, aus dem postfiguralen Bezug auf Sokrates und Christus verstehen. Die Freunde folgen den verstandesstolzen Sophisten und den gesetzesstolzen Pharisäern nach, die sokratische Inszenierung soll eine typologische, eine prophetische Tiefendimension des sich 1759 in Königsberg abspielenden Streites zwischen Hamann, Berens und Kant öffnen. Sokrates als prophetische Gestalt — mit dieser Ansicht stand Hamann nLht allein. Aber ist Hamann in seiner Nachfolge eine prophetische Gtstalt? Wollte er als eine solche gesehen werden? Ist aus einer solchen Btrufung seine eigentümliche >Streitkultur< abzuleiten, die eigentümliche und im 18. Jahrhundert singuläre Mischung von polyhistorischer Polenik, philosophischer Kritik, christlichem Zeugnis und Strafreden, die sene Schriften kennzeichnet?
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In der Forschungsliteratur zu Hamann grundlegend: Karlfried Gründer: Figur und Geschichte. Johann Georg Hamanns »Biblische Betrachtungen« als Ansatz einer Geschichtsphilosophie. Freiburg, München 1 9 5 8 . Vgl. außerdem Erich Auerbach: Mimesis. Bern 1 9 4 6 , und Friedrich Ohly: Halbbiblische und außerbiblische Typologie. In: Simboli e simbologia nell'alto medioevo. Spoleto 1 9 7 5 , und in Friedrich Ohly: Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung. Darmstadt 1 9 7 7 , S. 3 6 1 - 4 0 0 .
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Eine Antwort gibt seine Reaktion auf die Rezensionen der Sokratischen Denkwürdigkeiten in der kleinen Antikritik Die Wolken. Ein gut rationalistischer Rezensent der Hamburgischen Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit hatte in Hamanns Schrift deutliche Anzeichen von Irrsinn und Schwärmertum festgestellt und wollte ihn »zum besten seines kranken Körpers und Kopfes in ein Spinn- oder Raspelhauß bringen« (N Bd. II, S. 87). Als Antwort erläutert Hamann, den Text der Rezension glossierend, seinen Geniebegriff. Er hatte Sokrates' Dämon teils mit Genie (ingenium, genius), teils mit prophetischer Inspiration gleichgesetzt, jetzt geht er provozierend auf die »Gränzstreitigkeiten des Genies mit der Tollheit« (N Bd. II, S. 104) ein und listet eine Reihe von Gestalten auf, die alle von der >gesunden Vernunft < Tollhäusler gescholten wurden — von dem Propheten Elisa und dem König David über Orestes, Paulus und die Apostel am Pfingstage bis Ariost. Hamann unterscheidet hier den furor poeticus des Dichters nicht von der Inspiration des Propheten, ja er assoziert beide mit der paulinisch verstandenen göttlichen Torheit des Glaubens (1. Kor. 1,15). In Centos, in Montagen aus heiliger und profaner Literatur bringt er dies zum Ausdruck: Sucht keine Blonde also unter den Gespielinnen des Apolls. Urit enim fulgore suo Jede von ihnen kann sagen: Seht mich nicht an, daß ich so schwarz bin, denn das Genie hat mich so verbrannt. Ist aber die Torheit des Genies reich genug die Weisheit zu ersetzen, die durch den Zusammenhang allgemeiner Wahrheiten in die Sinne fallt? Dies ist der Hauptknoten — - D e u s intersit! - dignus vindice nodus! ( N Bd. II, S. 1 0 7 ) '
Hamann reiht sich unter die wahren Dichter und Propheten ein oder läßt vielmehr seine Gegner ihm diese Rolle übertragen. Er läßt sie wider Wissen und Willen die Wahrheit künden, wie schon früher so viele falsche Propheten. Ein beliebtes Beispiel eines solchen Dichters und Propheten ist ihm Voltaire, den er mit Kaiphas vergleicht, der (Joh. 1 1 , 50) sagte, es sei »uns besser, ein Mensch sterbe für das Volk, denn das ganze Volk verderbe. (Solches redete er aber nicht von sich selbst, sondern weil er desselben Jahres Hoherpriester war, weissagte er. Denn Jesus sollte sterben für das Volk.)«
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Die Anspielung auf das blendende Licht des Sonnengottes Apollon, der als Musagetes dem Dichter die Gabe des Genies verleiht, verbindet sich unmittelbar mit dem Zitat aus dem Hohenlied Salomonis 1,6: »Seht mich nicht an, daß ich so schwarz bin, denn die Sonne hat mich so verbrannt.«
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Die Gegner, in casu Die Hamburgiscben Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit, zeugen also von seinem prophetischen Auftrag, aber diese anscheinende Beantwortung unserer Frage läßt sich vielleicht vor dem Hintergrund einer der zentralen Polemiken differenzieren - der Polemik anläßlich der Preisschrift Herders Über den Ursprung der Sprache (1772), die eine 1 7 7 0 gestellte Preisfrage der Berliner Akademie beantwortete: »Haben die Menschen, ihren Naturfähigkeiten überlassen, sich selbst Sprache erfinden können?« Die ursprüngliche, französische Formulierung ist in ihrer Intention deutlicher: »En supposant les hommes abandonnés à leurs facultés naturelles, sont-ils en état d'inventer le langage? Et par quel moyens parviendront-ils à cette invention? On demande une hypothèse qui explique la chose clairement et qui satisfait à toutes les difficultés.« Es ist ein gutes Beispiel friderizianischer Kulturpolitik: Ein Akademiemitglied, der Theologe und Statistiker Johann Peter Süßmilch, hatte den übernatürlichen Ursprung der Sprache beweisen wollen, indem er mit folgendem Argument die Aporie der bisherigen Thesen herausstellte: Die Sprache ist ein so kompliziertes System, das ihre Erfindung eine ausgebildete Vernunft voraussetzt. Die Bildung der menschlichen Vernunft setzt ein Zeichensystem, eine Sprache voraus. Also müssen wir auf einen übernatürlichen Ursprung der Sprache und ihre erste Vermittlung durch Gott schließen. Nach Süßmilch wird die Heteronomie des Menschen am Problem des Sprachursprungs augenfällig. Herders Lösung ist bekanntlich die gleichzeitige Entstehung von Vernunft und Sprache in einem Apperzeptionsakt; mit der ersten Namengebung, mit dem Akt, in welchem Wiedererkennen Wort wird, konstituiert sich der Mensch selber als Vernunftwesen. Herder hat in Hamanns Sicht die geforderte Lösung der Aufgabe geliefert — sie kann ja nach dem Wortlaut auch nur von einem Anhänger des natürlichen Ursprungs der Sprache gelöst werden. Er hat die Autonomie des Menschen den Wünschen des Königs gemäß proklamiert und empfängt dafür seinen Preis. Hamann sieht in der ganzen Sache einen Kniefall seines Schülers vor den »esprits forts« in Berlin und geht zum Angriff über. Er verfaßt drei kleinere Schriften auf deutsch und eine weitere auf französisch, direkt an Friedrich den Großen gerichtet — Au Salomon du Nord. Für eine deutsche und für die französische Schrift fand er keinen Verleger, was nicht verwunderlich ist. Hamann argumentiert zuerst einmal philosophisch, indem er Herders Begrifflichkeit untersucht und seine Argumentation auf ihre Stimmigkeit
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hin prüft. Er spielt dabei begriffsstutzig und will die Frage der Akademie, in welcher die »Naturfähigkeiten« ja die entscheidende Rolle spielt, so verstehen: »ob die erste, älteste und ursprüngliche Sprache dem Menschen auf eben die Art mitgetheilt worden, wie noch bisher die Fortpflanzung der Sprachen geschieht?« (N Bd. III, S. 20). Eine andere natürliche Art des Spracherwerbs kennen wir nicht, und so heißt es weiter: »welche Hülfsmittel können uns wohl zu statten kommen, uns nur auch zu einem Begriff von dem Ursprung einer Erscheinung zu verhelfen, wenn solcher Ursprung dem gewöhnlichen Kraislauf der Natur gar nicht gleichförmig ist? Und wie wird es möglich seyn, auf die rechte Spur einer solchen Untersuchung zu gerathen?« (N Bd. III, S. 29). Hamann sieht in Herders These eine philosophisch unzulässige Grenzüberschreitung, denn >natürlich< ist nur der »Kreislauf« der heutigen Natur. Wenn Herder — und nun setzt die Parodie ein — diese Grenze nicht sieht oder sehen will und deshalb die »höhere Hypothese« (N Bd. III, S. 19), den göttlichen Ursprung als »mystisch« verwirft, bleibt als >natürliche< Erklärung nur, daß der Mensch die Sprache von den Tieren gelernt haben muß - und die Genesis nennt ja tatsächlich auch die sprechende Schlange am Baum der Erkenntnis als eine zweite Sprachmeisterin, die dem Menschen die Autonomie verspricht, an die Herder glaubt (N Bd. III, S. 22). Die fehlende Stichhaltigkeit der Argumentation Herders sucht Hamann durch eine raffende und umstellende Wiedergabe der Hauptthesen zu zeigen und lächerlich zu machen. Als Vertreter einer »höheren Hypothese« - jedoch nicht der von Süßmilch — paraphrasiert er den Genesisbericht und verbindet ihn mit dem Logosgedanken des Johannesevangeliums; Hamann tritt in dieser Inszenierung als Verteidiger der Bibel auf, Herder muß als Widerpart die Rolle eines Gegners der Offenbarung übernehmen. Da Hamann nun den Übergang Herders in das Lager der Berliner nicht akzeptieren will, spielt er als krönendes Argument die These aus, Herder habe diese unsinnige Hypothese, die jetzt preisgekrönt worden ist, gar nicht im Ernst aufstellen können. Deshalb gibt es zwei mögliche, nicht besonders schmeichelhafte Erklärungen: entweder habe er sich lediglich über die Königliche Akademie in Berlin lustig machen wollen an einem Höhepunkt heißt es mit einem Voltairezitat aus La Pucelle d'Orleans: »Courage, allons, prends ta harpe benie / Et moque toi de son Academie« (N Bd. III, S. 46). Oder er habe sich, um leidlich leben zu können, klüglich angepaßt: »Als ein kluger Haushalter des ungerechten
Hamanni Streitkultur
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Mammons hat er nichts anderes als die Offenbarungen und Überlieferungen seines Jahrhunderts zum Grund seiner Abhandlung legen und seinen Beweis auf Sand, Stückwerk, Holz, Heu, Stoppeln bauen können« (N Bd. III, S. 50; vgl. Lukas 16,8). Das hat Hamann selber nicht getan, weshalb er auch bitterarm ist und »dem Würdigsten aller meiner Freunde« seine Kinder vermacht. Hamann hinterfragt also zuletzt Herder, um eine jetzt nicht mehr gebräuchliche modische Vokabel zu benutzen, aber gleichzeitig trägt er damit die ganze Auseinandersetzung aus der Sphäre der akademischen Diskussion in die der Politik. Um vom König verstanden zu werden, schreibt er seine letzte Schrift in dieser Angelegenheit auf französisch mit einem Voltairezitat Au Salomon de Prusse als Titel, wobei er nicht nur an die Weisheit dieses Königs denkt, sondern auch und vor allem daran, daß dieser den Götzen seiner vielen Frauen Tempel baute, mit einem biblischen Ausdruck Götzen nachhurte. Die Polemik gegen die »warmen Brüder des menschlichen Geschlechts, die Sophisten von Sodom-Samaria« (N Bd. III, S. 29), d.h. Sans-Souci, ist gröber in der deutschen Polemik, aber in der französischen Schrift wird Friedrich mit schneidender Ironie gebeten, den gesegneten Tag über Preußen aufgehen zu lassen, wo er die Milde seinen Untertanen gegenüber zeigt, die er als »Etre Supreme de la Terre« ihnen schuldig ist, sie aus der Not erlöst, die er verschuldet hat. Friedrich der Große war kein Landesvater, der sich liebevoll um die Belange und die Rechte seiner Untertanen kümmerte, er mußte vielmehr sehen, daß er aus ihnen so viel Einnahmen durch indirekte Steuern herauspreßte, daß er die Eroberungskriege bezahlen konnte, die er um Schlesien geführt hatte. Die Folgen werden in Hamanns französischen Schriften nicht verschwiegen. Hamann ist des Königs Untertan und Gegner, der ihn vor dem Hintergrund seines alttestamentlichen Königsbildes als harten Herrscher angreift und ihn auch einer gotteslästerlichen Usurpation beschuldigt; in Hamanns Augen zielte die Kulturpolitik Friedrichs auf die Beseitigung des Christentums und die Apotheose der weltlichen Macht in der Gestalt des absoluten Herrschers — trotz aller Beteuerungen, er sei nur ein Diener des Staates: Mais Sire! Vous n'avez point regardé comme usurpation la forme d'un Etre supreme, qui peut perdre les âmes et les corps jusqu'au feu de la Gehenne et vous êtes anéanti jusqu'à Vous faire vous-meme la ressemblence de ca Roi des Juifs, qui est le Roi des Rois et qui néanmoins a été mis au rang des malfaiteurs, des brigands et des pendards. Vous vous etes abaissé Vous
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Sven-Aage Jtrgensen meme, et étant trouvé en figure comme un malheureux Prussien. ( N Bd. III, S. 58)
Hamann montiert wichtige neutestamentliche Stellen, v. a. Phil. 2,6 über die Herunterlassung, die Kenosis Gottes und Matth. 10,28 samt 1. Tim. 6 , 1 5 zu einem Cento, der mit bitterböser Ironie das Selbstverständnis des absoluten Herrschers persifliert, der sich der ersten Diener seines Volkes nannte. Er beschließt seinen Brief mit einer Klage über wirtschaftliche Not und einem Gebet an den ewigen Gott, ihn wie den blinden Samson zu stärken, daß er sich an den politischen Rechenkünstlern des Königs, der französischen Zollverwaltung räche, der er wie Samson den Philistern dienen muß. Eine solche Kritik an einem König, der Jahwe untreu geworden war, gehörte zu den Aufgaben der Propheten, die sie unter dem Einsatz ihres Lebens zu erfüllen hatten. Hamann aktualisiert den >Tonästhetischen Revolution wesentliche theoretische Implikate einer rein literarischen Jugendbewegung 2 herausgearbeitet, die sich bewußt tatkräftig gerierte. Von einer scharfen Epochentrennung wird mittlerweile abgesehen. Ulrich Karthaus schreibt in der Einleitung seiner Textsammlung: »Die Verstandeskultur der Aufklärung wird nicht durch den Gefühlskult der empfindsamen Stürmer und Dränger ersetzt, sondern ergänzt.« 3 Ehrhard Bahr kommt nach der kritischen Sichtung der literaturwissenschaftlichen Epochenabhandlungen besonders in bezug auf Herder zu der Forderung, den Sturm und Drang als Fortsetzung der Hochaufklärung anzusehen, »so daß man bei der Generation der Stürmer und Dränger mit Recht von Spätaufklärung sprechen kann«. 4 Unter diesen Aspekten wird das erst 1 8 4 6 von seinem Sohn Emil G o t t fried vollständig publizierte Reisejournal Herders aus dem Jahr 1 7 6 9 von Katharina Mommsen zu Recht »als frühestes Dokument des >Sturms und 1
2 1
4
Vgl. Klaus Gerth: Die Poetik des Sturm und Drang. In: Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Hrsg. von Walter Hinck. Kronberg/Ts. 1 9 7 8 , S. 5 5 - 8 0 , hier S. 58. V g l . auch Manfred Wacker: Einleitung. In: Sturm und Drang. Hrsg. von Manfred Wacker. Darmstadt 1 9 8 5 (Wege der Forschung 559), S. 1 - 1 6 . Vgl. Walter Hinck: Einleitung. In: Hinck 1 9 7 8 , vgl. Anm. 1 , S. V I I - X I I , hier S. VIII. Ulrich Karthaus: Einleitung. In: Sturm und Drang und Empfindsamkeit (Die deutsche Literatur in Text und Darstellung 6). Hrsg. von Ulrich Karthaus. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 1 9 7 9 ( 1 . Aufl. 1976), S. 9 - 2 8 , hier S. 1 5 . Ehrhard Bahr: Aufklärung. In: Geschichte der deutschen Literatur in 3 Bänden. Kontinuität und Veränderung. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Bd. 2: Von der Aufklärung bis zum Vormärz. Hrsg. von Ehrhard Bahr. Unter Mitarbeit von Wulf Köpke u.a. Tübingen 1 9 8 7 , S. 1 - 1 2 8 , hier S. 84. Hinsichtlich einer theoretischen Fundierung von Epochen müßten die - von der Forschung bisher weitgehend ignorierten - Arbeiten von Walter Falk herangezogen werden. Vgl. u.a. Walter Falk: Handbuch der literaturwissenschaftlichen Komponentenanalyse. Theorie, Operationen, Praxis einer Methode der Neuen Epochenforschung. In Zusammenarbeit mit den Mitgliedern eines Mar-
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Wolfgang Braune-Steininger
DrangsEtwas zur Polizei der Freuden für die Landleuterasende Reporters soll im Elsaß eine hochbetagte Großnichte der Friederike Brion interviewt haben.4 Eigentlich war es keine Neuigkeit, ein Kapitel aus einer Künstlerbiographie auf der Bühne des populären Musiktheaters darzustellen; 1 9 1 6 hatte Heinrich Bertés Operette Das Dreimäderlhaus Franz Schubert als Interpreten seiner eigenen Melodien auftreten lassen,5 und nun sang Goethe selbst das Lied vom Heidenröslein, Passagen aus Willkommen und Abschied oder aus dem Maifest. Sicherlich steht in diesem Singspiel einmal mehr die ergreifende Liebesgeschichte zwischen Friederike Brion und Goethe im Mittelpunkt, wobei der Effekt des Wiedererkennens Goethescher Verse in erster Linie biographische Assoziationen provoziert und damit auch das Textverständnis in dieser Hinsicht steuert. Goethes eigene Schilderungen im zehnten und elften Buch von Dichtung und Wahrheit haben über lange Zeit solchen Darstellungen Vorschub geleistet, denn bis zu den Librettisten Ludwig Herzer und Fritz Beda-Löhner hatte sich die Veröffentlichung von weiteren Goethe-Texten aus dem schmalen Nachlaß Friederike Brions durch den Studenten Heinrich Kruse 1838 im Deutschen Musenalmanach nicht herumgesprochen. Das im Singspiel Friederike verwandte Textcorpus aus der Sesenheimer Zeit beschränkt sich allein auf die von Goethe selbst publizierten 3
4
5
Vgl. Schneidereit 1984, vgl. Anm. 1 , S. 2 34 f., und den Artikel Friederike von Elisabeth Rockenbauer in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper, Operette, Musical, Ballett. Hrsg. von Carl Dahlhaus [...]. Bd. 3. München, Zürich 1989, S. 459Î. Das Interview ließ sich allerdings weder unter den veröffentlichten Arbeiten Kischs noch in seinem Nachlaß im Literarischen Archiv des Museums für tschechische Literatur (Prag-Strahov) nachweisen. Die Information stammt aus der von Karl Schumann verfaßten Textbeilage zur Schallplatteneinspielung der Operette durch EMI Electrola 1981 (Dirigent: Heinz Wallberg). Volker Klotz (Operette. Porträt und Handbuch einer unerhörten Kunst. München, Zürich 1 9 9 1 , S. 426) schreibt dazu: »Wo immer Operette mit nichtfiktiven, historischen Figuren liebäugelt, hat sie früh schon neben Männern und Frauen, die vorgeblich Geschichte machen, auch Kunstheroen ins Treffen geschickt. Zunächst nur vereinzelt und nichts als heiter. Wie etwa Suppés lockeren Dichterhelden Boccaccio (1879) oder Strauß' alchimistischen Tausendsassa Cagliostro (1875). Später dann, je fragwürdiger individuelle Größe seit dem Ersten Weltkrieg wurde, desto massiver und leider auch würdevoller. Bertés Schubert-Stück vom Dreimäderlhaus (1916) hat da Schule gemacht, die ihre Musterschüler in Lehärs Paganini (1925) und Friederike (1928) fand.«
» Erwache Friedericke« — Sesenheimer Sturm und Drang
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Texte Mit einem gemalten Band, Willkommen und Abschied und Maifest, während die übrige Lyrik dieser Zeit außer acht bleibt. 6 Der Erfolg des Singspiels lag vor allem in Lehärs Musik begründet, die nicht nur musikalische Formen des späten 18. Jahrhunderts, sondern insbesondere die Landschaft und Atmosphäre des Oberrheins und seine volksmusikalischen Traditionen einfing und von daher einen Kontrapunkt zum frivolmondänen französischen und ungarisch-österreichischen Kolorit der Pariser und Wiener Operette setzte. 7 Doch das Libretto ignoriert keineswegs die Bedeutung der Sesenheimer Zeit für Goethes dichterische Entwicklung oder persönliche Ichfindung und betont seine hier von 1 7 7 5 auf 1 7 7 1 vordatierte Entscheidung, der Berufung nach Weimar zu folgen, gleichermaßen als Resultat der durch Friederike Brion ausgelösten Persönlichkeitsentwicklung sowie als »Schicksalswende« 8 für die deutsche Literatur: »Er muß nach Weimar!... Ich s e l b s t hab' es gewünscht!« 9 begründet Friederike ihren Entschluß, auf Goethe zu verzichten.
2. Als Goethe 21 jährig im Oktober 1 7 7 0 erstmals nach Sesenheim kommt, ist von Aufbruch wenig zu spüren. Der Familie Brion begegnet er - alte Leipziger Traditionen aufnehmend - in der Maskerade eines Theologiestudenten, und noch in der Alterserinnerung von Dichtung und Wahrheit wird das Sesenheimer Pfarrhaus als Lektürereflex von Oliver Goldsmith' Idylle The Vicar of Wakefield geschildert. Doch Straßburg und Sesenheim bedeuteten für Goethe sehr bald etwas Neues, obwohl er sich als Student an einer in deutscher Hochschultradition stehenden Universität kaum in der Fremde befand. 1 0 Aber die Erkundungen des Elsaß im Sommer 1 7 7 0 6
7
s 9
Angereichert wird das Libretto mit verschiedenen späteren Texten, darunter Nähe des Geliebten oder Mit Mädeln sich vertragen und Liebe schwärmt auf allen Wegen aus Claudine von Villa Bella. Zehn Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs stellte der elsässische Schauplatz auch ein Politikum dar, denn das Singspiel Lehärs betont überaus deutlich die deutschen Traditionen in Elsaß und Lothringen. So wird Friederikes Kostüm bei ihrem ersten Auftritt als »elsässische Nationaltracht« bezeichnet (Lehär, Friederike, vgl. Anm. 2, S. 9). Lehär, Friederike, vgl. Anm. 2, S. 50. Lehär, Friederike, vgl. Anm. 2, S. 60. Vgl. Christoph Pereis: Die Sturm und Drang-Jahre 1770 bis 1 7 7 6 in Straßburg. In: Sturm und Drang. Hrsg. von Christoph Pereis [Ausstellungskatalog]. Frankfurt/Main 1988, S. 4 7 - 6 2 , hier S. 48.
i38
Bodo Plachta
und die in Dichtung und Wahrheit genau registrierten Charakteristika von Landschaft und Kultur beinhalten bereits Elemente einer anderen Wahrnehmung, die auch das Sesenheimer Leben der Familie Brion zunehmend in einem neuen, sich von der anfänglichen Literarisierung Goldsmithscher Prägung entfernenden Blickwinkel einfängt. Das einfache und unspektakuläre Leben der Brions mußte dem weitgehend ohne Selbstzweifel aufgewachsenen Frankfurter Bürgerssohn fern von seiner gewohnten Alltagserfahrung als fremdartig, alternativ und anziehend erschienen sein, denn ohne jeden künstlerischen Anspruch dichtet Goethe völlig ungeschützt seine Wünsche ausdrückend: Ich k o m m e bald, ihr goldnen K i n d e r , Vergebens sperret uns der W i n d e r In unsre warmen Stuben ein W i r wollen uns zum Feuer setzen U n d tausendfaltig uns ergötzen U n s lieben wie die Engelein W i r wollen kleine Kränzgen winden W i r wollen kleine Sträußgen binden U n d w i e die kleinen K i n d e r s e i n "
Der krasse Unterschied dieser Äußerung zu dem Straßburger Umgang, den Goethe etwa in der Tischgesellschaft der Lauthschen Damen pflegte und der ihm die Charakterisierung Johann Heinrich Jung-Stillings einbrachte, Goethe habe »die Regierung am Tisch, ohne daß er sie suchte«, 12 liegt auf der Hand. Sich Goethe als jemanden vorzustellen, der eben nicht wie noch in Leipzig gesellschaftlichen Konventionen gehorchend, sondern eigener Überzeugung folgend »Blinde Kuh« oder andere Pfänderspiele spielte, der Kränze flocht, Blumensträuße arrangierte, ländliche Tanzveranstaltungen genoß und überhaupt den schlichten Familienkreis der Brions als anregend empfand, paßt nur bedingt in das Bild seiner Sturm und Drang-Zeit mit seinen bedeutenden literarischen Äußerungen. Verschiedentlich ist diesem Mißverhältnis, wenn es denn überhaupt eines ist, nachgegangen worden, sei es, um in den weniger bekannten Texten jene Motive ausfindig zu machen, in denen das lyrische Ich eine »selbst erfahrene Situation zum Inhalt« des Gedichts mache, 13
'2 11
Johann Wolfgang Goethe. Gedichte 1 7 5 6 - 1 7 9 9 . Hrsg. von Karl Eibl. Frankfurt/Main 1987, S. 1 3 1 . Johann Heinrich Jung-Stilling: Lebensgeschichte. Vollständige Ausgabe. Mit Anmerkungen hrsg. von Gustav Adolf Benrath. Darmstadt 1984, S. 264. Helmut Brandt: Goethes Sesenheimer Gedichte als lyrischer Neubeginn. In: GoetheJahrbuch 108, 1 9 9 1 , S. 3 1 - 4 6 , hier S. 33.
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'Eruache Friedende« — Sesenheimer Sturm und Drang
oder sei es, um in der Differenz zwischen N e u e m und Konventionellem jenes Charakteristikum zu erkennen, das die B e w e g u n g des Sturm und Drang nicht als »Gegenbewegung«, sondern erst als »Fortführung, E n t wicklung, Ausweitung aufklärerischer T ä t i g k e i t « erklärbar m a c h e , ' 4 indem sich G e f ü h l und Leidenschaft gemeinsam mit reflexiver Vernunft zu einem ganzheitlichen Bild menschlicher Existenz fügen. N o c h am 7 . Februar 1 8 0 1 erinnert Goethes Mutter den Sohn brieflich an dessen erste Straßburger Eindrücke: Vermuthlich ist dir aus dem Sinne gekommen was du bey deiner Ankunft in Straßburg - da deine Gesundheit noch schwanckend war in dem Büchlein das dir der Rath Moritz als Andencken mitgab, den ersten Tag deines dortseyn drinnen aufschlugs - du schriebst mirs und du warst wundersam bewegt ich weiß es noch wie heute! Mache den Raum deiner Hütten weit, und breite aus die Teppige deiner Wohnung, spahre sein nicht - d e h n e d e i n e S e i l e l a n g u n d s t e c k e d e i n e N ä g e l f e s t , denn du wirst aus brechen, zur rechten und zur lincken. Jesaia — 54. v. 3 . 4 . ' 5 Persönlichkeitsfindung und -entwicklung waren neben dem
Abschluß
eines juristischen Studiums die zentralen Erwartungen, die die Familie an Goethes Straßburger Aufenthalt knüpfte, wohl auch darauf hoffend, daß der Sohn nach verschiedenen Ausbruchsversuchen in Leipzig, schwerer Krankheit und extrem empfundenem Selbstzweifel wieder in die althergebrachten Bahnen eines geregelten Frankfurter Bürgerlebens
finden
würde. Doch die Fragwürdigkeit solch unausgesprochener Abgrenzungen, wie weit dieses Erwachsenwerden gehen dürfe, wird zunehmend zu einem bestimmenden Element in Goethes Selbsterfahrung. Allein der Kontrast zwischen den Lebensverhältnissen in Straßburg und Sesenheim hat in Goethes Werk signifikante Spuren hinterlassen, die sein » W i d e r streben gegen Festlegung und E n d g ü l t i g k e i t « 1 6 belegen und für sein zukünftiges Lebensverständnis prägend werden.
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Karl Otto Conrady: Zur Bedeutung von Goethes Lyrik im Sturm und Drang. In: Walter Hinck (Hrsg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch. Durchges. Neuaufl. Frankfurt/Main 1989, S. 9 7 - 1 1 6 , hier S. 100. Die Briefe der Frau Rath Goethe. Gesammelt und hrsg. von Albert Köster. 2 Bde. Leipzig 1 9 1 1 , hier Bd. 2, S. 82. Roy Pascal: Der Sturm und Drang. Autorisierte deutsche Ausgabe von Dieter Zeitz und Kurt Mayer. 2. Aufl. Stuttgart 1977, S. 30.
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Bodo Plachta
3I n dieser Z e i t hat sich i n s b e s o n d e r e G o e t h e s F ä h i g k e i t Selbsterfahrung und individuelle Wandlungsmöglichkeit
herausgebildet, lyrisch auszu-
d r ü c k e n u n d i m M e d i u m des G e d i c h t s jenen Prozeß n a c h z u z e i c h n e n , d e r s o w o h l t a t s ä c h l i c h e als a u c h m ö g l i c h e E r f a h r u n g e n eines I c h s e x p e r i m e n tell m i t e i n a n d e r v e r k n ü p f t . A u f diese W e i s e w e r d e n L ö s u n g e n k e l t , o b w o h l ü b e r sie erst n a c h g e d a c h t w i r d , b e v o r sie
entwik-
Konsequenzen
a u c h f ü r d i e L e b e n s r e a l i t ä t d e s A u t o r s haben k o n n t e n . 1 7 E i n f r ü h e s B e i s p i e l 1 8 in d i e s e m Prozeß ist das G e d i c h t Balde
seh ich Rickgen
wieder,
ein
T e x t , in d e m e i n l i e b e n d e s I c h sich daran erinnert, w i e seine L i e d e r in G e g e n w a r t d e r G e l i e b t e n g e k l u n g e n h a b e n , w ä h r e n d ihrer A b w e s e n h e i t v e r s t u m m t e n u n d n u n in d e r i m a g i n i e r t e n G e w i ß h e i t des W i e d e r s e h e n s von neuem erklingen. Balde seh ich Rickgen wieder Balde bald umarm ich Sie Munter tanzen meine Lieder N a c h der süßten Melodie, A c h wie Schön hats mir geklungen W e n n Sie meine Lieder sang Lange hab ich nicht gesungen Lange liebe liebe lang Denn mich ängsten tiefe Schmerzen W e n n mein Mädchen mir entflieht U n d der wahre gram im Herzen G e h t nicht über in ein Lied
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Vgl. Klaus Weimar: Goethes Gedichte 1 7 6 9 - 1 7 7 5 . Interpretationen zu einem Anfang. Paderborn, München, Wien, Zürich 1 9 8 2 , S. 19. Es kann hier nicht erörtert werden, ob die Gedichte Balde seh ich Rickgen wieder und Erwache Friedericke überhaupt von Goethe stammen, oder ob sie nicht vielmehr Lenz zugeschrieben werden müssen. V g l . zu dieser Diskussion folgende Publikationen: Edward Schröder: Die Sesenheimer Gedichte von Goethe und Lenz mit einem Excurs über Lenzens lyrischen Nachlaß. In: Nachrichten von der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen. Phil.-Hist. Klasse 1 9 0 5 , S. 5 1 - 1 1 5 ; Theodor Maurer: Die Sesenheimer Lieder. Eine kritische Studie. Straßburg 1907; G . Schaaffs: Zwei Friederikenlieder. In: The Modern Language Review 7, 1 9 1 2 , S. 4 6 9 - 4 8 7 ; Edward Schröder: Sesenheimer Studien. In: Jahrbuch der Goethe-Gesellschaft 6, 1 9 1 9 , S. 8 2 - 1 0 7 ; Heinrich Spiess: Erwache Friederike! In: Zeitschrift für deutsche Philologie 56, 1 9 3 1 , S. 195 — 206. Vgl. auch: Der junge Goethe. Neue Ausgabe in sechs Bänden besorgt von Max Morris. Leipzig 1 9 0 9 - 1 9 1 2 , hier Bd. 2, S. 5Öf., Bd. 6, S. 1 5 5 - 1 6 0 , und Der junge Goethe. Neu bearbeitete Ausgabe in fünf Bänden. Hrsg. von Hanna Fischer-Lamberg. Berlin 1 9 6 3 - 1 9 7 4 , hier Bd. 2, S. 2 9 - 3 1 , 2 9 0 - 2 9 3 .
'Erwache Friedericke« — Sesenheimer Sturm und Drang
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Doch jetzt Sing (ich) und ich habe Volle Freude süß und rein Ja, ich gäbe diese gäbe Nicht für aller Klöster Wein." 9
Worin liegen nun Ansätze zur neuen poetischen Gestaltung von Lebensmöglichkeiten, denn dieses Gedicht ist doch noch stark von der »abstrakten Rhetorik über Schönheit, Qual oder Beschwernis der Liebe« 20 gekennzeichnet, zudem wird es noch mit einer wenig originellen Pointe beendet, die sich auch bei manch anderem Gedicht modisch anakreontischen Zuschnitts wiederfinden läßt. Doch gerade die von Peter Müller bemängelte »Disproportion von Lebensanspruch und seiner poetischen Bewältigung«, die daraus resultiere, daß »die auf Gegenseitigkeit beruhende Partnerbeziehung noch unentwickelt bzw. überhaupt noch nicht hergestellt« ist, 21 macht die Substanz dieses Gedichts aus und deutet an, inwiefern traditionelle Schemata gesprengt werden können. Mit welcher Überraschung Goethe diese Ablösung von traditionellen Mustern selbst empfunden hat, zeigt trotz aller Ironie die im Gedicht Erwache Friedericke an die Geliebte gerichtete Bemerkung: Die Nachtigall, im Schlafe Hast Du versäumt: So höre nun zur Strafe Was ich gereimt Schwer lag auf meinem Busen Des Reimes Joch. Die schönste meiner Musen, Du - schliefst ja noch. 22
Die poetische Äußerung enthält zunächst noch nicht jenes befreiende Element, das so charakteristisch für Willkommen und Abschied oder das Maifest ist, auch die Metaphorik ist kaum originell zu nennen. Die neue Lebenserfahrung und der Wille, sie zu äußern, haben noch nicht zu einer Ubereinstimmung und zu einer adäquaten Form lyrischer Darstellung gefunden, sie erscheinen hier noch als belastendes »Joch« für Sprecher und Angesprochene.
19 2C
21 12
Goethe, Gedichte 1 7 5 6 - 1 7 9 9 , vgl. Anm. 1 1 , S. 1 3 3 f. Peter Müller: Zwei Sesenheimer Gedichte Goethes. Zur Interpretation von »Willkomm und Abschied« und »Mayfesc«. In: Weimarer Beiträge 1 3 , 1 9 6 7 , H. 1 , S. 20 — 4 7 , hier S. 20. Müller 1 9 6 7 , vgl. Anm. 20, S. 2of. Goethe, Gedichte 1 7 5 6 - 1 7 9 9 , vgl. Anm. 1 1 , S. 1 3 3 .
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Bodo Plachta
Das Gedicht Balde seh ich Rickgen wieder dokumentiert aber schon deutliche Tendenzen, dieses »Joch« abzulegen. Erstaunlich ist an diesem Text allein schon das Tempo, mit dem sich das lyrische Ich verschiedene, insgesamt recht extreme Situationen seiner Liebeswahrnehmung vergegenwärtigt. Vorfreude wechselt strophenweise mit trauriger Erinnerung, »gram im Herzen« und neuerlicher Freude ab, wobei ein Eindruck der Gleichzeitigkeit dieser gegensätzlichen Empfindungen entsteht. Klaus Weimar hat bei seiner Interpretation des Gedichts darauf hingewiesen, daß sich das lyrische Ich von Strophe zu Strophe verändert und damit verschiedene, der jeweiligen Gefiihlslage entsprechende »Rollen« annimmt, ohne daß dabei, wie vielleicht zu erwarten wäre, eine Distanz zwischen den einzelnen Ich-Positionen entstünde. 23 Die daraus resultierende »Lebensechtheit« distanziert sich damit auch von konventionellen Formen geselligen und geistreichen Sprechens und befreit den Text aus den Zwängen der Kasuallyrik. Die erste und die zweite Strophe schildern zunächst die Gefühls- und Stimmungslage des lyrischen Ich aus gegenwärtiger und vergangener Perspektive. Diese mündet in die melancholische Einsicht der dritten Strophe, daß die Verzagtheit über die abwesende Geliebte eigentlich keinerlei kreative Kräfte freisetzen könne, der »gram im Herzen« das »Lied« unmöglich mache. Die vierte Strophe hält dann allerdings eine überraschende Wende bereit, die schon in dem adversativen »Doch« zu Strophenbeginn Signalwirkung hat. Der Gegensatz besteht nun darin, daß das lyrische Ich trotz aller vorgebrachter Einwände und seiner entgegengesetzten Stimmungslagen »singen« will und davon überzeugt ist, dabei ein Gefühl süßer und reiner »Freude« zu empfinden. Diese neue Empfindung zu bewahren ist das Resultat der lyrischen Reflexion. Der Überraschungseffekt dieser Strophe ist groß, auch wenn sich das »Lied« als Äußerung von Liebesempfindungen von Anfang an mit den Attributen »munter«, »tänzerisch« und »schön« als stabiles Element erwiesen hat. Es bleibt offen, wie das lyrische Ich dazu gekommen ist, den Widerspruch zwischen dem drohenden Verstummen in der dritten Strophe und der spontanen Sangesfreude in der vierten Strophe so plötzlich zu ignorieren bzw. von ihm zu abstrahieren, indem frühere Aussagen nun einer neuen Einsicht weichen müssen. Deutlich wird aber, daß das Ich durch einen Reflexionsprozeß zu einem anderen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart vermittelnden Umgang mit seinen Empfindungen gefunden 23
Weimar 1 9 8 2 , vgl. A n m . 1 7 , S. 1 7 .
*Erwache Friederkke- — Sesenheimer Sturm und Drang
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hat. Auch das Ich hat sich dadurch verändert, die melancholische Gefühlslage wandelt sich zu einer wesentlich unbekümmerteren, ohne daß sich die Ausgangssituation, die Sehnsucht nach der Geliebten, verändert hätte. Daraus ergibt sich ein experimenteller Umgang mit Modellen von Lebens- und Gefühlssituationen unter Einschluß der Realisation verschiedener Ich-Perspektiven, der die sprachliche und formale Konventionalität dieses Gedichts konterkariert.
4Während in dem Gedicht Balde seh ich Rickgen wieder noch ausschließlich das lyrische Nachdenken über die Situation eines Ichs im Mittelpunkt stand, gibt es auch andere Texte aus der Sesenheimer Zeit, in denen das Ich in der Auseinandersetzung mit einem Du geschildert wird oder seine emotionale Verfassung Kräfte für die Projektion seiner Wünsche und Ängste in die Natur freisetzt. Das Gedicht Ein grauer trüber Morgen / Bedeckt mein Liebes Feld gehört wiederum zu den abseits stehenden Sesenheimer Texten, obwohl es sich als eine elegische Kontrafaktur 24 auf das strahlende und jubelnde Maifest lesen ließe. Ein grauer trüber Morgen Bedeckt mein Liebes Feld, Im Nebel tief verborgen, Liegt um mich her die Welt O Liebliche Fridricke Dürft ich nach Dir zurück In einem Deiner Blicke Liegt Sonnenschein und Glück Der Baum in dessen Rinde Mein N a m bei Deinem Steht, Wird bleich vom rauhen Winde Der jede Lust verweht Der Wiesen grüner Schimmer Wird trüb wie mein gesicht Sie Sehen die Sonne nimmer Und ich Fridricken nicht, Bald geh ich in die Reben Und herbste trauben ein 24
Vgl. den Kommentar Karl Eibls in Goethe, Gedichte 1 7 5 6 - 1 7 9 9 , vgl. Anm. 1 1 , S. 845.
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Bodo Plachta Umher ist alles Leben Es strudelt neuer Wein, Doch in der öden Laube Ach, denk ich war Sie hier, Ich brächt ihr diese traube, Und Sie — was gab Sie m i r 2 5
Anders als im Gedicht Balde seh ich Rickgen wieder monologisiert das lyrische Ich in diesem Text nicht mehr ausschließlich, dem Text liegt vielmehr eine dialogische Struktur zugrunde, wenn auch die angesprochene »Fridricke« wiederum abwesend ist. Es ist häufig über den Anlaß dieses Gedichts spekuliert worden. Ist es als Zeugnis der Trennung Goethes von Friederike Brion im Herbst 1 7 7 1 zu lesen? Oder ist die Herbstund Abschiedsstimmung nur als jahreszeitlicher Reflex zu verstehen? Von biographischen Erwägungen einmal abgesehen, zeigt der Text zunächst, daß das lyrische Ich die Natur als herbstlich wahrnimmt und seine eigene Stimmung damit gleichsetzt, während die abwesende und nicht erreichbare Geliebte für »Sonnenschein« und glückhafte Stimmung steht. Damit ist auch in diesem Gedicht eine Ausgangssituation beschrieben, die in den nächsten Strophen wiederum auf einen reflexiven Prüfstand gestellt wird. Die zweite Strophe variiert diese Ausgangssituation mit Hilfe eines konkreten Beispiels: Die in den Baum eingeritzten Namen der beiden Liebenden sind ebenfalls den herbstlichen Unbilden des Wetters ausgesetzt, und ebenso wie jahreszeitlich bedingt der Sonnenschein schwächer geworden ist, meint auch das lyrische Ich, die »Sonne« und damit »Fridricke« nicht mehr sehen zu können. Bislang hat das lyrische Ich nur eine Bestandsaufnahme seiner Stimmungslage gemacht, und die abwesende Geliebte verbleibt im Zustand statuarischer Unerreichbarkeit. In der dritten und letzten Strophe macht sich nun erneut ein aktives Moment bemerkbar. Das Ich berichtet von seiner Absicht, an der herbstlichen Weinlese teilzunehmen und diese als Symbol für Lebenskraft und Neubeginn zu begreifen: »Umher ist alles Leben / Es strudelt neuer Wein«. Dieser positive Stimmungsumschwung wird nun auch auf das Verhältnis der beiden Liebenden projiziert, wobei das lyrische Ich sich in die herbstlich verlassene Laube begibt und sich vorstellt, die Geliebte sei ebenfalls anwesend. Die anfängliche melancholische Gemütsverfassung wird nun endlich am Schauplatz früherer Liebesschwüre überwunden, indem das Ich der Geliebten die bei der Weinlese gepflück-
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Goethe, Gedichte 1 7 5 6 - 1 7 9 9 , vgl. Anm. 1 1 , S. 134.
»Eruache Friedericke* — Sesenheimer Sturm und Drang
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ten Trauben als Geschenk mitbringt und damit unterstreicht, daß auch der Herbst Lebensfreude und Liebesgewißheit bereithält, sofern die Geliebte dieser Kontinuität auf ihre Weise entspricht: »Ich brächt ihr diese traube, / Und Sie — was gab Sie mir«. Das Gedicht endet wie viele Gedichte der Sesenheimer Episode mit einer pointierten Formulierung, die dem Text insgesamt einen gleichermaßen emphatischen wie programmatischen Gestus verleiht. Doch hier aktualisiert sich nicht mehr die »Kultur des Scherzes« 26 einer anakreontischen Tradition, nach deren Konventionen die Gedichtpointe wohl als ein Kuß aufzulösen wäre. Die spielerische Naivität dieser Rokoko-Kultur ist einer Ernsthaftigkeit gewichen, die sich nun auch andere und beständigere Lebensformen vorstellen kann. Ebenso wie in Willkommen und Abschied hat das Ich einen Sieg über die Natur errungen, dem dortigen »Ritt durch die Landschaft der Seele« 27 entspricht in dem Gedicht Ein grauer trüber Morgen die sinnfällige Auseinandersetzung zwischen Ich und herbstlicher Natur, wobei das Ich in diesem Kräftespiel eine ihm gemäße Handlungsfähigkeit erwirbt und auch das geliebte Gegenüber zur Aktivität ermuntert. Parallel zu diesem Prozeß einer neuen Ich-Findung hat sich auch die Gestalt der Natur verändert. Die Wirklichkeit des Herbstes mit seinen winterlichen Vorboten hat seine Schrecken in dem Maße verloren, wie das lyrische Ich als selbstbewußtes Subjekt »seinem Wünschen und Wollen« 28 gemäß agiert. Sicherlich existiert die Naturwirklichkeit nur als gebrochene Wahrnehmung eines von Liebessehnsucht bestimmten Subjekts, doch widerstreitende Gefühle und unerfüllte »Lust« werden zu einem Antrieb für konkretes Handeln, zu einem Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben sowohl in der Literatur als auch in der Realität.
5Der Wille und die konkreten Bestrebungen des Subjekts, die wie auch immer definierten Begrenzungen seines Erfahrungsbereichs aufzubre26
27
28
Herbert Zeman: Die deutsche anakreontische Dichtung. Ein Versuch zur Erfassung ihrer ästhetischen und literarhistorischen Erscheinungsformen im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1 9 7 2 , S. 178. Peter Michelsen: »Willkomm und Abschied«. Beobachtungen und Überlegungen zu einem Gedicht des jungen Goethe. In: Zum jungen Goethe. Hrsg. von Wilhelm Große. Stuttgart 1982, S. 3 4 - 4 8 , hier S. 43. Brandt 1 9 9 1 , vgl. Anm. 1 3 , S. 40.
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Bodo Plachta
chen, ist kennzeichnend fiir Goethes A u f b r u c h in den Sturm und Drang, der biographisch so markant mit Sesenheim und Friederike Brion verbunden ist. 2 9 Doch es ist ebenso bezeichnend, daß der sich in den Gedichten aus den Jahren 1 7 7 0 / 7 1 spiegelnde A u f b r u c h weitgehend privat bleibt, allenfalls im Kreis der Straßburger Freunde bekannt wird. Das Erleben eines eigenen Lebensanspruches und der W u n s c h , den Horizont bislang gelebter Wirklichkeit, sei es in der Liebesempfindung, sei es in der W a h r nehmung von Natur, Landschaft und Lebensformen zu überschreiten, fuhrt in den Sesenheimer Gedichten zu neuartigen, von der lesenden zeitgenössischen Öffentlichkeit als unerhört empfundenen Äußerungen. Goethe selbst hat später von den Jahren des Sturm und Drang kritisch als einer »Epoche der genialen A n m a ß u n g « gesprochen: »Die Individuen wurden von allen Banden der Critik befreyt und jeder konnte seine Kräfte schätzen und überschätzen, wie ihm beliebte.« 3 0 So sehr aber Goethe, Herder, Lenz, W a g n e r oder Klinger ein neues persönliches und dichterisches Selbstverständnis propagierten, das deutlich über das von der bürgerlichen A u f k l ä r u n g vorgesehene hinausging, blieben die Ideen und M o delle doch zunächst einmal gesellschaftlich wirkungslos; eine Erfahrung, die viele Autoren des 1 8 . Jahrhunderts bereits machen mußten. 3 1 A u c h 29
Vgl. Gerhard Sauder: Willkomm und Abschied: wortlos. Goethes Sesenheimer Gedicht »Mir schlug das Herz«. In: Gedichte und Interpretationen. Bd. 2: Aufklärung und Sturm und Drang. Hrsg. von Karl Richter. Stuttgart 1983, S. 4 1 2 - 4 2 4 , hier S. 422. 3 ° Dabei handelt es sich allerdings nur um einen von fremder Hand überlieferten Zusatz zum 15. Buch von Dichtung und Wahrheit. Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Bd. 28. Weimar 1890, S. 374. 31 Theodor W. Adorno hat in einer Huldigung an Zerlina - der »Bäuerin« in Mozarts Don Giovanni (1787) - auch die Parallele zu Friederike Brion gezogen und am Beispiel dieser Frauenfiguren einen gesellschaftlichen und kulturellen Auf-/Umbruch beschrieben: »Zerlinas Musik klingt, als dränge sie durchs offene Flügelfenster in den weiß und goldenen Saal des 18. Jahrhunderts. Sie singt noch Arien, aber deren Melodien sind schon Lieder: Natur, deren Hauch den Bann des zeremonialen Wesens löst und doch noch von den Formen umfangen ist, geborgen beim verblassenden Stil. Im Bild Zerlinas hält der Rhythmus von Rokoko und Revolution inne. Sie ist keine Schäferin mehr und noch keine citoyenne. Sie gehört dem geschichtlichen Augenblick dazwischen, und an ihr geht flüchtig eine Humanität auf, die unverstümmelt wäre vom feudalen Zwang und geschützt vor bürgerlicher Barbarei. Manche Gedichte und manche Gestalten des jungen Goethe haben etwas davon. >Und so tritt sie vor den Spiegel / All in ihrer Munterkeit ist ihr Miniaturportrait, und wie Friederike steht sie >auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien fiir die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und so hatte ich das Vergnügen sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehen und
• Erwache Friedericke« — Sesenheimer Sturm und Drang
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Goethe nutzte die neu gewonnenen Erfahrungen nur ansatzweise für seine weitere Lebenspraxis und sein gesellschaftliches Selbstverständnis. Die Sesenheimer Gedichte bleiben daher in ihrer Ambivalenz nach wie vor ein Gegenstand von »Anziehung und Distanzierung« }2 und provozierten eben solche Haltungen, die im heutigen Sessenheim ein Memorial Goethe zur Folge hatten, unter dessen Inschriften Napoleons am 2. Oktober 1808 an Goethe gerichtete Worte »Vous etes un h o m m e « " den Blickfang bilden. An Friederike Brion wird dagegen in einem kleinen Museum erinnert, in das man erst gelangt, nachdem man die Gaststube der Auberge au Boeuf durchquert hat. Lehärs Librettisten waren im Singspiel Friederike zu ähnlichen Ergebnissen gelangt: Goethe und der Weimarer Herzog kommen im September 1 7 7 9 nach Sesenheim, um »Mamsell Brion« zu besuchen. Vom Herzog auf das große Opfer angesprochen, Goethe nach Weimar gehen zu lassen und damit auf seine Liebe zu verzichten, antwortet Friederike: »Durchlaucht. .. Goethe gehört der ganzen Welt, also auch mir!« 3 4
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zu erkennen. < [Zitat aus dem 10. Buch von Dichtung und Wahrheit] Die, ohne sich etwas Arges zu denken, den Liebhaber für ihre Treulosigkeit entschädigt, indem sie ihn ermuntert, sie zu schlagen, und die rustikale Roheit zum Raffinement verklärt - sie nimmt den utopischen Zustand vorweg, in dem der Unterschied von Stadt und Land aufgehoben ist« (Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften. Bd. 17: Musikalische Schriften IV. Hrsg. von Rolf Tiedemann. Frankfurt/Main J982, S. 34f.). Sauder 1983, vgl. Anm. 29, S. 423. Goethes Gespräche. Gesamtausgabe. Neu hrsg. von Flodoard Frhr. von Biedermann. 2., durchges. und stark verm. Aufl. Leipzig 1 9 0 9 - 1 9 1 1 , hier Bd. 5, S. 76. Lehar, Friederike, vgl. Anm. 2, S. 79.
Volkmar Hansen
Sinnlichkeit in Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar ( 1 7 7 9 ) oder Der Engelssturz
Mit Montesquieus Lettres persanes liegt im 18. Jahrhundert ein Schema bereit, um den vergleichenden Blick des Fremden kulturkritisch gegen die Gesellschaft, der man selber angehört, wenden zu können. Das für das Deutschlandbild folgenreichste Buch hat daraus Madame de Staël De l'Allemagne entwickelt. Oppositionelle gegenüber dem napoleonischen Frankreich auf dem Höhepunkt von dessen kontinentaleuropäischer Hegemonie, hat sie Deutschland zweimal bereist, 1803/04 und 1807/08, und dabei einen Eindruck gewonnen, der in ihr Buch eingegangen ist, das 1 8 1 0 zunächst unterdrückt wird, ehe es 1 8 1 3 in London und 1 8 1 4 in Frankreich und Deutschland Sensation macht, und aus dem Kontrast mit einem materialistisch orientierten Land lebt. Die Wahrhaftigkeit menschlicher Beziehungen und die Philosophie sind die Kennzeichen ihres Deutschlandbildes, dessen wesentliche Eigenschaften für sie in Schiller zusammengefaßt sind: Schiller était le meilleur ami, le meilleur père, meilleur époux; aucune qualité ne manquait à ce caractère doux et paisible que le talent seul enflammait; l'amour de la liberté, le respect pour les femmes, l'enthousiasme des beauxarts, l'adoration pour la divinité, animaient sont génie.'
Innerhalb dieser idealisierenden Kontrastierung fällt Friedrich Heinrich Jacobi, der von 1807 bis 1 8 1 2 der wiedererrichteten Bayerischen Akademie der Wissenschaften als Präsident vorgestanden hat, eine wesentliche Rolle zu. Er verkörpert einen Kernbereich ihres mentalitätsgeschichtlichen Programms, nämlich die Fähigkeit zur Religiosität und zum Enthusiasmus. Er ist zudem, zusammen mit Schiller, der Kronzeuge gegenüber dem Rigorismus Kants, gegen dessen Wertbegriff ethischer Pflichtentscheidung das Gefühl ins Feld geführt wird, so daß eine objektiv »gute« Tat nicht der sittlichen Erprobung bedürfe. Vor diesem Hinter1
Germaine de Staël: De l'Allemagne. Hrsg. von Simone Balayé. 2 Bde. Paris 1968, hier Bd. I, S. 194 (11,8).
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Volkmar Hansen
grund ist doppelt bemerkenswert, daß sie in einem eigenen Kapitel (III,i7) den Roman Woldemar als nur im Norden mögliche Unnatur angreift und die sinnliche Geftihlsleidenschaft als gottgegeben verteidigt. In Parallele zu Goethes Stella rückt fur sie die Ehethematik in den Mittelpunkt, und sie gibt als Inhalt wieder: Woldemar empfindet eine lebhafte Freundschaft für eine Person, die ihn nicht heiraten will, wiewohl sie sein Gefühl teilt. Er verheiratet sich mit einer Frau, die er nicht liebt, weil er in ihr einen nachgiebigen und sanften Charakter zu finden glaubt, der für die Ehe paßt. K a u m hat er sie geheiratet, so ist der Augenblick gekommen, sich der Liebe zu überlassen, die er fur die andere empfindet. Diese, welche sich nicht mit ihm vereinigen wollte, liebt ihn zwar noch immer, aber sie ist empört über die Idee, daß er Liebe für sie empfinden könnte; und doch will sie an seiner Seite leben, seine Kinder pflegen, seine Frau als Schwester behandeln, und die Naturgefiihle nur durch die Sympathie der Freundschaft kennen. 2
Als »froideur maniérée« erscheint ihr dieser »héroïsme de sentiment«, als Überspanntheit eines Landes, in dem es »plus d'imagination que de sensibilité« gebe. 3 Widerlegt diese differenzierende Sicht Madame de Staëls das Bild einer simplifizierenden Reduktion, das die jüngere Forschung gerne zeichnet, und macht verständlich, welche stiftende Kraft von dem Buch ausgegangen ist, so ist zugleich auf ein Problem hingewiesen, das nur unzureichend gelöst ist: die Frage, auf welche Fassung sich Madame de Staël bezieht. In der eben zitierten Übersetzung heißt es im Kommentar lapidar: »>Woldemar< (1777); vgl. die Rezensionen von F. Schlegel und W. v. Humboldt«. 4 Offenkundig bezieht sich Germaine de Staël aber auf die abgeschlossene zweite Fassung der Jahre 1794/96, die die Rückkehr Allwinas und die begeisterte Vereinigung kennt: »O, Ihr guten köstlichen Gesichter miteinander! — Du [Woldemar], und Henriette, und Alle — Alle, wie ich Euch verließ!«5 Der Roman hat jedoch eine wesentliche Veränderung durchgemacht, die gerade auch den glücklichen Aus-
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Anne Germaine de Stael: Über Deutschland. Hrsg. von Monika Bosse. Frankfurt/Main 1 9 8 5 , S. 632. De l'Allemagne, vgl. Anm. 1 , S. 2 1 2 . Über Deutschland, vgl. Anm. 2, S. 7 7 3 . Während die Rezensionen von Wilhelm von Humboldt und Friedrich Schlegel eine prominente Rolle in der Jacobi-Forschung spielen, wird der Beitrag von Mme. de Stael übersehen. So zuletzt bei Friedrich Bechmann: Jacobis »Woldemar« im Spiegel der Kritik. Eine rezeptionsästhetische Untersuchung. Frankfurt/Main u.a. 1990. Woldemar. 2 Teile. Königsberg 1 7 9 4 , hier 2. Teil, S. 278.
Sinnlichkeit in Friedrich Heinrich Jacobis » Woldenutr« (1779)
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gang des Lebens zu dritt einbezieht. Entstanden ist die Grundschicht des Romans 1776/77 und unter dem Titel Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren in fünf Heften von Wielands Teutschem Merkur von Mai bis Dezember 1 7 7 7 veröffentlicht worden. Am Schluß dieses Abdrucks steht der Hinweis, der am deutlichsten darüber Aufschluß gibt, wie die Fortsetzung hätte aussehen können: Wahrscheinlich wäre alles gut geblieben und immer besser geworden, wenn nicht aus dem Vergangenen ein fremdes Ereignis sich unversehens entwickelt hätte, welches für Woldemar und Henriette und alle die sie liebten, von den schrecklichsten Folgen war. 6
Offensichtlich sollte die Handlung auf ein Ende wie in den Leiden des jungen Werthers zutreiben, und das Liebesthema sollte dabei eine zentrale Rolle spielen. Diese Fassung ist, nur geringfügig verändert, zur Ostermesse 1 7 7 9 mit der Einschränkung »Erster Band« unter dem Titel Woldemar. Eine Seltenheit aus der Naturgeschichte in Flensburg und Leipzig, in der »Kortenschen Buchhandlung«, als Buch ohne Nennung eines Autornamens erschienen. Die philosophische Motivierung ist hier noch etwas verstärkt, denn ein Satz aus dem Maiheft ist weggefallen: Henriette war ein wenig verwachsen, und brauchte am linken Fuß einen höhern Absatz; aber die Leichtigkeit ihrer Bewegungen, die Schicklichkeit ihres Anstandes, ihr offenes Wesen, von aller Anmaßung so fern, machte, daß man diese Gebrechen übersah; doch aber — nur übersah, denn reizend fand man Henriette nicht. 7
Ließe sich in der Journalversion die angestrebte empfindsame Seelenfreundschaft als Surrogat interpretieren, so ist dies in der Buchversion nicht mehr möglich. Die Buchversion fügt am Beginn des zweiten Teils noch einen Brief hinzu, der die Katastrophe vorbereiten kann, so daß die Variation zwischen beiden Versionen besser als stilistische Verbesserung innerhalb einer Fassung zu verstehen ist. In meiner Interpretation beziehe ich mich auf die Sturm und Drang-Fassung in der Buchversion, die Zuspruch von Lessing, von Georg Forster und Justus Moser erfahren hat. Moser, in Über die deutsche Sprache und Literatur ( 1 7 8 1 ) , jener Antwort auf Friedrich II. De la littérature allemande / Über die deutsche Literatur, geht im Zusammenhang mit »der Kunstsprache«, der durch Winckelmann, Wieland, Lavater und Sulzer ausgebildeten Sprache ästhetischer Essayi6 7
Der Ternsche Merkur vom Jahr 1777, Weimar, S. 2 4 6 - 2 6 7 ; hier S. 267. Der Teutsche Merkur vom Jahr 1777, Weimar, S. 9 7 - 1 1 7 : Freundschaft und Liebe. Eine wahre Geschichte, von dem Herausgeber von Eduard Allwills Papieren, hier S. 100.
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Volkmar Hamen
stik, auf Verfasser »empfindsamer Romane« ein, die in einzelnen Partien gezeigt hätten, daß unsre Sprache auch zum wahren Rührenden geschickt sei, und besonders das stille Große sowohl als das volle Sanfte auf das mächtigste darstellen könne. Wie stark, wie rührend, wie edel ist nicht die Sprache >Woldemars