Einführung in die Literatur des Sturms und Drang und der Weimarer Klassik 3534189396, 9783534189397

In dieser Einführung werden Sturm und Drang und Weimarer Klassik erstmals gemeinsam behandelt. Beide Epochen werden eng

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German Pages 184 Year 2010

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Titel
Impressum
Inhalt
I. Die Epochenbegriffe
1. ,Sturm und Drang'
2. ,Klassik' – ,Deutsche Klassik' – ,Weimarer Klassik'
3. Konzeption und Methode
II. Forschungsbericht
1. Literaturgeschichtliche Gesamtdarstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts
2. Literaturwissenschaftliche Einzelstudien vom Positivismus bis zur ,Poetik des Wissens'
III. Kontexte
1. Politische und soziale Rahmenbedingungen in Deutschland
2. Literarische Öffentlichkeit in Deutschland und kulturelles Leben in Weimar
3. Diskurse des Wissens: Philosophie, Anthropologie, Psychologie
4. Der europäische Klassizismus in den Künsten
IV. Aspekte und Geschichte der Literatur
1. Ästhetik und Poetik
2. Lyrik
3. Drama
4. Epik
V. Vergleichende Einzelanalysen repräsentativer Werke
1. Gottfried August Bürgers Lenore (1773) und Friedrich Schillers Kraniche des Ibykus (1798)
2. Friedrich Maximilian Klingers Trauerspiel Die Zwillinge (1776) und Friedrich Schillers Tragödie Die Braut von Messina (1803)
3. Goethes Romane Die Leiden des jungen Werthers (1774) und Wilhelm Meisters Lehrjahre (1796)
Literaturverzeichnis
Personenregister
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Einführung in die Literatur des Sturms und Drang und der Weimarer Klassik
 3534189396, 9783534189397

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Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Matthias Buschmeier / Kai Kauffmann

Einführung in die Literatur des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 201 0 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-18939-7

Inhalt I. Die Epochenbegriffe ................. .

7

1. ,Sturm und Drang' ................ .

7

2. ,Klassik'-,Deutsche Klassik'-,Weimarer Klassik' 3. Konzeption und Methode 11. Forschungsbericht ..... .

8 11 13

1. Literaturgeschichtliche Gesamtdarstellungen des 19.und 20.Jahrhunderts ............ .

13

2. Literaturwissenschaftliche Einzelstudien vom Positivismus bis

zur ,Poetik des Wissens' 111. Kontexte

. . . . . . . . . .

1. Politische und soziale Rahmenbedingungen in Deutschland

16 19 19

2. Literarische Öffentlichkeit in Deutschland und kulturelles

Leben in Weimar ............ .

21

3. Diskurse des Wissens:

Philosophie, Anthropologie, Psychologie

28

4. Der europäische Klassizismus in den Künsten

42

IV. Aspekte und Geschichte der Literatur

1. Ästhetik und Poetik

56 56

2. Lyrik . .

66

3. Drama

78 112

4. Epik . . V. Vergleichende Einzelanalysen repräsentativer Werke

131

1. Gottfried August Bürgers Lenore(1773) und

Friedrich Schillers Kraniche des Ibykus(1798) .........

131

2. Friedrich Maximilian Klingers Trauerspiel OieZwillinge(1776)

und Friedrich Schillers Tragödie Oie Braut von Messina(1803)

142

3. Goethes Romane Oie Leiden des jungen Werthers(1774) und Wilhelm Meisters Lehrjahre(1796)

155

Literaturverzeichnis

174

Personenregister

183

. .

I. Die Epochenbegriffe Es ist zu einem Gemeinplatz der Literaturwissenschaft geworden, dass histo­ rische Epochen begriffI iche Konstrukte sind, deren Bestimmungen keines­ wegs festliegen, sondern immer wieder neu verhandelt werden. Schon der Name von Epochen ist oft strittig, und auch der Zeitraum, über den sie sich erstrecken sollen, kann erheb I ich differieren. So haben Epochenbegriffe ihre eigene, je spezifisch verlaufende Geschichte.

1. ,Sturm und Drang' Die Epochenbegriffe ,Sturm und Drang' und ,Weimarer Klassik', die in der vorliegenden Einführung verwendet werden, sind auf unterschiedliche Wei­ se entstanden. Im Jahre 1776 benannte der Schriftsteller Friedrich Maximi­

Genese des Epochenbegriffs Sturm und Drang

lian Klinger sein Drama Wirrwarr in Sturm und Drang um und lieferte damit die Vorlage für zeitgenössische Kritiker, die aus dem Titel des Stücks ein po­ lemisches Schlagwort gegen den Gefühlskult und die Geniemode in der deutschen Literatur der siebziger Jahre machten. Mit wachsendem Abstand wurde daraus ein historisches Stichwort, mit dem auch ehemalige Stürmer und Dränger die zurückliegende Phase benennen konnten. Dass August Wil­ helm Schlegel im dritten Teil seiner Berliner Vorlesungen über Schöne Litera­ tur und Kunst

(1801-1804) von den "üblen Manieren der damaligen Sturm­

und Drang-Periode" (A. W. Schlegel 1884/1968, 155) sprach, war aber noch kein Durchbruch zu einem literarhistorischen Epochenbegriff. Ein solcher Durchbruch erfolgte erst 1869 in Hermann Hettners Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, deren dritter Band Das klassische Zeitalter der deutschen Literatur eine Abteilung mit dem Titel "Die Sturm- und Drangpe­

riode" enthielt. Im Fall des Sturm und Drang sind sich die meisten Literaturwissenschaftler darüber einig, dass diese Periode nach 1765 beginnt und vor 1780 endet. (Bezieht man die früheren Schriften Johann Georg Hamanns und die späte­ ren Dramen Friedrich Schillers ein, erweitert sie sich auf die Zeit zwischen

1760 und 1785.) Als programmatische Schriften gelten Heinrich Wilhelm von Gerstenbergs Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1766/67) und Johann Gottfried Herders Fragmente Über die neuere deutsche Literatur

(1767/68). Goethes Drama Götz von Berlichingen, 1771 geschrieben und 1773 gedruckt, markiert den Anfang der literarisch produktiven ,Geniezeit', die um 1776 ihren Höhepunkt erreicht und dann rasch ausläuft. Eine in der Forschung immer wieder diskutierte Frage der Periodisierung ist, ob man den jungen Schiller, der erst 1781 mit den Räubern debütierte, noch zum Sturm und Drang zählen soll oder nicht. Überwiegend betrachtet man ihn als einen einzelnen Nachzügler, der das Ende der gesamten Epoche nicht verschiebt.

Periodisierung des Sturm und Drang

8

I. Die Epochenbegriffe

2. ,Klassik' - ,Deutsche Klassik' - ,Weimarer Klassik' Genese des

Im Gegensatz zu ,Sturm und Drang' lässt sich der Begriff der ,Klassik' nicht

Epochenbegriffs

direkt aus den zeitgenössischen Diskussionen herleiten. Weder die Freunde

der Klassik

noch die Gegner von Goethe und Schiller sind auf die Idee gekommen, diese oder andere Weimaraner als Vertreter einer ,Klassik' zu titulieren. Zwar kam es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts häufiger vor, dass einzelne Dichter als ,klassisch' bezeichnet wurden, doch war damit ihre individuelle Eignung als Vorbild gemeint, sei es - im traditionellen Verständnis des Wor­ tes - für den Grammatik- und Rhetorikunterricht, sei es - so die modernere Bedeutung - für die Entwicklung einer deutschen Nationalliteratur. Vor dem inflationären Gebrauch von ,klassisch' in dem einen oder dem anderen Sinn warnte Johann Gottfried Herder 1768 in seiner Schrift Über die neuere deut­ sche Literatur:

"Überall höre ich klassisch nennen: was ist denn klassisch? klassisch für wen? klassisch in welcher Materie? Himmel! kann man denn alle diese Fragen übergehen? Und übergeht man sie nicht, wo wird man mit den meisten kanonisierten Schriftstellers bleiben?" (FAH 1, 595) Auch die von Friedrich Schlegel entwickelte Antithese ,klassisch' vs. ,roman­ tisch', die um 1800 in die literarischen Debatten einging, zielte noch nicht auf den Epochengegensatz von ,Klassik' und ,Romantik'. Ein Konstrukt von

Bei dem Epochenbegriff der ,Klassik' handelt es sich vielmehr um ein

Literaturhistorikern

nachträgliches Konstrukt von Literarhistorikern, die seit etwa 1830 die Ge­ schichte der deutschen Literatur als eine in Stufen verlaufende Entwicklung schematisierten. Diese Entwicklung sollte, analog zu den goldenen Zeital­ tern der italienischen, spanischen, englischen und französischen Literatur, eine nationalkulturelle Blütezeit hervorgebracht haben. Schon bald legte man sich auf die Periode von Goethe und Schiller fest, doch die Bezeich­ nung als ,Klassik' setzte sich erst allmählich durch. Georg Gottfried Gervi­ nus, der in seiner Geschichte der poetischen National-Literatur (1834) ein umfassendes Periodisierungsschema vorschlug, überschrieb das entspre­ chende Kapitel mit "Goethe und Schiller", während in Heinrich Laubes Ge­ schichte der deutschen Literatur

(1839) die Phase von Hagedorn bis Klop­

stock und Lessing als "Übergang zur Klassik" und die anschließende Periode von Goethe und Schiller als "Das Klassisch-Deutsche" betitelt wurde. Wie­ der einige Jahre später, nämlich in Joseph Hillebrands Werk Die deutsche Nationalliteratur seit dem Anfange des 18. Jahrhunderts

(1845), erschien

dieselbe Periode unter der Überschrift "Die nationalliterarische Klassik". Obwohl in manchen Literaturgeschichten aus der zweiten Hälfte des

19. Jahrhunderts ähnliche Bezeichnungen verwendet wurden (vgl. Becker 1970, 360; Schulz/Doering 2003, 67-80), stieg ,Klassik' erst nach der Jahr­ hundertwende zum allgemein gebräuchlichen Epochenbegriff auf. Die Rolle des Wegbereiters scheint Otto Harnacks Buch Goethe in der Epoche seiner Vollendung ,Deutsche Klassik'

(1897) gespielt zu haben (vgl. Wellek 1965, 163 f.).

Der jüngere Terminus ,Deutsche Klassik' wurde von Germanisten geprägt, die im Sinne des kulturnationalen Denkens ihrer Zeit auf eine Stiltypologie des ,deutschen Geistes' zielten. Die beiden von Fritz Strich mit dem Titel sei­ nes Buches Deutsche Klassik und Romantik (Strich 1922) eingeführten Stil-

2. ,Klassik' - ,Deutsche Klassik' - ,Weimarer Klassik'

begriffe, die von Hermann August Korff in das mehrbändige Werk Geist der

Goethezeit (Korff 1923 ff.) übernommen wurden, sollten dort zwei gegenläu­ fige Geistesbewegungen innerhalb der Gesamtentwicklung der deutschen Nationalliteratur zwischen 1770 und 1830 charakterisieren. Gegen das Korffsche Integrationsmodell der ,Goethezeit' setzten sich die Begriffe ,Deut­ sche Klassik' und ,Deutsche Romantik' im Laufe der zwanziger und dreißi­ ger Jahre als Bezeichnungen für einzelne Literaturepochen durch. Während des Dritten Reichs wurde besonders die ,Deutsche Romantik' in Richtung auf die völkische Ideologie des Nationalsozialismus umgedeutet. Nach dem Ende des Dritten Reichs vermied man in der Bundesrepublik

,Weimarer Klassik'

Deutschland die ideologisch belastete Bezeichnung ,Deutsche Klassik' und ersetzte sie überwiegend durch ,Weimarer Klassik' (vgl. Borchmeyer 1998, 39). In der DDR fand man andere, kulturpolitisch abgesegnete Sprachrege­ lungen (vgl. Ehrlich/Mai 2000 u. 2001). Eine von Hans Jürgen Geerdts he­ rausgegebene und erstmals 1965 erschienene Deutsche Literaturgeschichte

in einem Band verwendete den ebenso umfassenden wie umständlichen Epochenbegriff "Die deutsche Nationalliteratur in der Epoche ihrer klassi­ schen Ausprägung", umfassend insofern, als damit die gesamte Zeit von 1700 (Beginn der Aufklärung) bis 1848 (Ausbruch der März-Revolution) ge­ meint war (vgl. Geerdts 1968). 1981 erschien die Kurze Geschichte der deut­

schen Literatur, in der - anders als noch 1965 - Geerdts nun als zuständiger Autor für die Zeit von 1789 bis 1830 den auch im Westen gängigen Titel "Klassik und Romantik" wählte, in einem Unterkapitel titelte er sogar "Die deutsche Klassik" (Böttcher/Geerdts 1981, 271 und 293). Wahrscheinlich hängt es mit der deutschen Wiedervereinigung von 1990 und der geringeren Scheu vor nationalen Identitätskonstrukten zusammen, dass in letzter Zeit die Bezeichnung ,Deutsche Klassik' wieder häufiger gebraucht wird (vgl. Selbmann 2005a; Selbmann 2005b; Greif 2008). Dennoch gibt es gute Gründe, am Begriff ,Weimarer Klassik' festzuhalten. So bietet er den Vorteil, die im literaturgeschichtlichen Konzept der ,Klassik' immer schon vorhandene Fokussierung auf Goethe, Schiller, Herder, Wie­ land und einige andere Weimaraner explizit zu machen. Allerdings wird da­ durch der Anspruch, mit dem Begriff eine ganze Epoche der deutschen Lite­ ratur zu erfassen, noch problematischer. Nun muss man nicht nur fragen, warum die Zeit um 1800 als Epoche der Klassik betitelt wird, wenn es in denselben Jahren auch die Spätaufklärung und die Frühromantik gab, son­ dern auch, ob man von einer Klassik allein in Weimar sprechen kann. Wäre es nicht sinnvoll, nach gleichzeitig existierenden Varianten der Klassik an anderen Orten zu suchen und diese gegebenenfalls in das Epochenkonzept einzubeziehen? So gibt es inzwischen eine von Conrad Wiedemann initiier­ te Arbeitsgruppe "Berliner Klassik" an der Berlin-Brandenburgischen Akade­ mie der Wissenschaften. Die im Titel unserer Einführung verwendete Be­ zeichnung ,Weimarer Klassik' soll den Gegenstandsbereich und damit auch den Geltungsanspruch tatsächlich auf Weimarer Autoren beschränken. Im Vergleich zum Sturm und Drang gibt es bei der Periodisierung der Klas­ sik deutlich weniger Einigkeit. Die unterschiedlichen Konzepte der deut­ schen Literaturgeschichte haben gerade im Fall dieser Epoche zu stark diffe­ rierenden Grenzziehungen geführt. Die Heterogenität der Ansätze verurteilt sogar eine graphische Synopse zur Unübersichtlichkeit (vgl. Selbmann

Periodisierung der Weimarer Klassik

9

10 I. Die Epochenbegriffe 2005a, 19). Selbst wenn man sich am Leben und Werk Goethes orientiert und das ist immer noch der häufigste Lösungsversuch - gibt es mindestens fünf, auch mit geistes- oder diskursgeschichtlichen Argumenten gut zu be­ gründende Möglichkeiten, um die Epoche zeitlich zu umreißen: - Wenn man die Klassik mit Goethes Übersiedlung nach Weimar begin­ nen und mit seinem Tod enden lässt, so dauert die Epoche von 1775 bis 1832 (1). - Setzt man stattdessen Goethes Reise nach Italien als Anfangspunkt, so er­ streckt sie sich von 1786 bis 1832 (2). - Wählt man Schillers Tod als Schlusspunkt, so verkürzt sie sich auf die Jahre von 1775 bis 1805 bzw. von 1786 bis 1805 (3 u. 4). - Macht man die Zusammenarbeit von Goethe und Schiller zum Kriterium, so ist sie auf die Jahre von 1794 bis 1805 beschränkt (5).

Gruppierungen im literarischen Feld

Die vorliegende Einführung entscheidet sich nicht zuletzt aus pragmatischen Gründen für die Zeitspanne 1775-1805. Bei dieser Variante lässt sich ein fließender Übergang von der Periode des Sturm und Drang zur Periode der Weimarer Klassik herstellen, der auch genügend Flexibilität bietet, um diver­ gierende Verläufe in der Entwicklung von Autoren oder Gattungen zu be­ schreiben. Außerdem wird so die Fixierung auf die beiden ,Dioskuren' Goe­ the und Schi Iier abgeschwächt, die bei der Variante 1786-1805 am stärksten ist. So kann Wieland mit einigen seiner für die Herausbildung der Weimarer Klassik wichtigen Hauptwerke besser einbezogen werden. Bei der Variante 1775-1805 sieht man sich im Gegensatz zum Zeitraum 1775-1832 nicht genötigt, eine Vielzahl von unterschiedlichen Autoren und widersprüchli­ chen Tendenzen über mehrere Jahrzehnte hinweg zu verfolgen und sie in das Gesamtbild einer Großepoche zu integrieren, wie das in Korffs Monu­ mentalwerk Geist der Goethezeit versucht worden ist. Die hier dargestellte Periode der Weimarer Klassik umfasst also in Weimar ansässige Autoren und ihre Texte zwischen 1775 und 1805. Sowohl beim Sturm und Drang als auch bei der - so umrissenen - Weima­ rer Klassik lässt sich bezweifeln, dass es sich überhaupt um Epochen handelt. Der Begriff suggeriert a) einen längeren Zeitraum, b) charakteristische Ge­ meinsamkeiten der in diesem Zeitraum erschienenen Literatur und c) signifi­ kante Unterschiede gegenüber anderen Perioden. Epochen müssten eigent­ lich größere Einheiten der Geschichte sein. Nun dauerte der Sturm und Drang nicht viel mehr als zehn Jahre und beschränkte sich im Kern auf einige Autoren, die sich vorübergehend an Orten wie Straßburg, Darmstadt, Frank­ furt und Göttingen versammelten und ihre neuen Ideen in kurzlebigen Zei­ tungen und Zeitschriften propagierten. Deshalb hat die ältere Literaturge­ schichtsschreibung den Sturm und Drang häufig als eine ,Bewegung' be­ zeichnet, die sich einerseits gegen die vorangegangene Epoche der Aufklä­ rung gewendet und andererseits die kommenden Epochen der Klassik und der Romantik vorbereitet habe. So betrachtet, war der Sturm und Drang eine Übergangsperiode. Die neueren Literarhistoriker sehen in ihm eher eine von mehreren Strömungen innerhalb des Zeitalters der Aufklärung, das für sie das gesamte 18. Jahrhundert umspannt. Von einem literatursoziologischen Standpunkt aus erscheint es aber sinnvoller, den Sturm und Drang als ein Generations- und Gruppenphänomen im literarischen Feld (Bourdieu 1999)

3. Konzeption und Methode

der sechziger und siebziger Jahre zu begreifen. Aus dieser Perspektive waren die Stürmer und Dränger junge Schriftsteller, die, kleine Freundeskreise bil­ dend, mit dem Programm einer radikalen Genieästhetik gegen die etablier­ ten Autoren und Konventionen der Aufklärung revoltierten (vgl. Luserke

1997; Wolf 2001). Man könnte die Stürmer und Dränger als eine Gruppie­ rung nach Art der späteren Avantgarden verstehen, die sich auflöste, als ein­ zelne Mitglieder - besonders Goethe - in der literarischen Öffentlichkeit an­ erkannt worden waren. Von daher fällt auch ein neues Licht auf die anschlie­ ßende Klassik. Waren die Weimaraner doch ebenfalls eine Autorengruppe, eine Gruppe, deren Angehörige ähnliche Kunst- und Menschheitsideale ver­ traten und sich mit ihren hohen Ansprüchen von den gewöhnlichen Literaten abhoben. Freilich: Goethe, Schiller, Wieland und Herder hatten es nicht mehr nötig, sich in der literarischen Öffentlichkeit zu etablieren, sondern mussten nun umgekehrt ihre führende Position gegen alte und neue Konkur­ renten sichern. Der ,Xenienstreit' des Jahres 1797, in dem Goethe und Schil­ ler gegen Schriftsteller unterschiedlicher Richtungen, von der Aufklärung bis zur Frühromantik, persönlich polemisierten, war ein literaturpolitischer Machtkampf, der aus dem Gesamtbild der Weimarer Klassik nicht ausge­ blendet werden darf, auch wenn sich dieses Autorverhalten mit dem hehren Programm der Autonomieästhetik und des Humanitätsdenkens schlecht zu vertragen scheint.

3. Konzeption und Methode Gerade von Einführungen wird meistens erwartet, dass sie zu Beginn die all­

Aspekte des Sturm

gemeinen Epochenbegriffe definieren und dabei die typischen Merkmale an­

und Drang und

geben, die in der anschließenden Darstellung von Strukturen, Prozessen und

der Klassik

Problemen, Kontexten und Texten wieder aufgenommen und detaillierter beschrieben werden sollen. Ein solches Vorgehen kommt dem Bedürfnis von Studierenden nach einer schnellen Orientierung und einem leicht umsetzba­ ren Wissen entgegen. Dieses Bedürfnis versucht die vorliegende Einführung in die Literatur des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik soweit zu be­ friedigen, wie es den Gegenständen angemessen erscheint. Nicht nur hat der Kapitelaufbau eine deduktive Tendenz. Vielmehr werden die wichtigsten Aspekte des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik systematisch be­ schrieben und erörtert. Die Stichworte, die man mit den beiden Epochen ver­ bindet, finden sich insbesondere in den Randglossen wieder. Was etwa mit den Stichworten Genieästhetik, Volkspoesie, Individualitätsdenken, Affekt­ ausdruck (Sturm und Drang), Autonomieästhetik, Kunstdichtung, Humani­ tätsgesinnung, Formvollendung (Weimarer Klassik) gemeint ist, wird in den zugehörigen Abschnitten referiert und diskutiert. Auch die abschließenden Interpretationen repräsentativer - oder exemplarischer - Werke setzen sich mit ihnen auseinander. Die Autoren der Einführung haben jedoch bewusst darauf verzichtet,

Heuristische

einen Katalog von typischen Epochenmerkmalen zu formulieren oder, an­

Methode des

spruchsvoller, idealtypische Epochenmodelle zu konstruieren. Denn die all­ gemeinen Annahmen über die Kennzeichen des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik erweisen sich bei der Analyse der einzelnen Gegenstände

Epochen-und Textvergleichs

11

12 I. Die Epochenbegriffe oft als fragwürdig oder falsch. Besonders im Fall der Weimarer Klassik sind die literaturgeschichtlichen und -wissenschaftlichen Zuschreibungen mas­ siv, weil es hier um die zentrale Epoche in der Konstruktion der deutschen Nationalliteratur geht. Die teleologischen und ideologischen Züge dieser Konstruktion treten in der traditionellen Verknüpfung des Sturm und Drang und der Klassik deutlicher hervor, sie liegen als verdeckte Implikationen aber teilweise auch den heute aktuellen, zwischen Sturm und Drang und Weimarer Klassik stärker trennenden Modellen zugrunde. Um die üblichen Epochenbilder des Sturm und Drang und der Klassik und das vertraute Ent­ wicklungsschema der deutschen Literatur nicht einfach zu reproduzieren, setzen wir überwiegend auf die Methode des Vergleichs. Wir nutzen damit die Entscheidung der Reihenherausgeber, die beiden Epochen in einem Band zusammenzufassen, für eine Befragung der vorhandenen Konstrukte und Interpretationen. In allen Kapiteln und Abschnitten dieses Bandes wer­ den der Sturm und Drang und die Weimarer Klassik nicht schematisch hin­ tereinander abgehandelt, sondern heuristisch aufeinander bezogen. Dabei basieren auch die literatur- und diskursgeschichtlichen Überblicke auf der differenzierenden Analyse einzelner Texte. Anstatt den Band mit einer Reihe von exemplarischen Interpretationen einzelner Werke zu beschließen, ha­ ben wir uns für die größere Schwierigkeiten bereitende, aber auch mehr Er­ kenntnis versprechende Form von vergleichenden Interpretationen entschie­ den. Ein deutscher

Wie immer der Sturm und Drang und die Klassik als Epochen bestimmt

Sonderweg

werden: diese Begriffe und Konstrukte der deutschen Literaturgeschichts­ schreibung

stellen

einen

nationalen

Sonderweg dar.

Außerhalb

von

Deutschland gesteht man den Stürmern und Drängern und den Weimara­ nern keine eigene Epoche zu. So pflegen angelsächsische Literarhistoriker sowohl die frühere als auch die spätere Phase der deutschen Literatur zur eu­ ropäischen Romantik zu rechnen. Diese Etikettierung mag der Komplexität der deutschen Literatur um 1800 noch weniger gerecht werden, als es die Bezeichnungen Sturm und Drang und Klassik tun; doch kann sie einen wei­ teren Anstoß zur Reflexion der in Deutschland seit der Mitte des 19. Jahrhun­ derts verfestigten Epochenbegriffe geben.

11. Forschungsbericht 1. Literaturgeschichtliche Gesamtdarstellungen des 19. und 20. Jahrhunderts Gervinus hat seine Geschichte der poetischen National-Literatur (1834) so konzipiert, dass die Entwicklung von der Aufklärung über den Sturm und Drang zur Blütezeit von Goethe und Schiller führt. Obwohl dieses Grund­ schema von den folgenden Literarhistorikern übernommen wurde, kam es im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts doch mehrfach zu bedeutenden Um­ gruppierungen und Umwertungen der genannten Perioden. Die ersten, von der national-liberalen Gesinnung des Vormärz geprägten Literarhistoriker (Gervinus, Hiliebrand u. a.) sahen das gesamte 18. Jahrhundert als ,Zeitalter klassischer Literatur' an, in dem das rationale Denken der Aufklärung zur hu­ manistischen Bildung der Weimaraner veredelt worden sei. Für sie war der Sturm und Drang eine kurze Phase in der Entwicklung von Goethe und Schiller, deren jugendlicher Subjektivismus durch das männliche Ideal äs­ thetischer Harmonie überwunden werden musste (vgl. Huyssen 1980, 22). Im Übrigen galt der mit Goethe und Schiller erreichte Höhepunkt der deut­ schen Literatur nur als Vorbote für die noch ausstehende politische Einigung der deutschen Nation, dem sich das eigentliche Interesse der heutigen Zeit zuwenden sollte. Bei Hettner und anderen nach 1848 schreibenden Literarhistorikern be­ gann der allmähliche Ausschluss der westeuropäisch beeinflussten Aufklä­ rung aus der Blütezeit der deutschen Nationalliteratur. Der dritte Band von Hettners Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, 1869/70 unter dem Titel Das klassische Zeitalter der deutschen Literatur erschienen, umfasste nur noch Abschnitte über "Die Sturm- und Drang-Periode" und "Das Ideal der Humanität". Man konnte dort lesen: "Es kam eine neue Epoche, deren unvergänglicher Ruhm und deren ge­ schichtliche Bedeutung es ist, das trotz all seiner Größe noch beschränkte und einseitige Lebensideal des Zeitalters der Aufklärung zum Lebensideal des vollen und ganzen, reinen und freien Menschentums, zum Ideal voll­ endeter und in sich harmonischer Humanität vertieft und verklärt zu ha­ ben." (Hettner 1913, 1) In dem Maße, wie das klassische Zeitalter der deutschen Literatur auf Goe­ the und Schiller verengt wurde, gewann der Sturm und Drang an Bedeutung. Als Jugendphase von Dichtern, die einen Neubeginn gewagt hatten, wuchs er mit der Reifezeit in Weimar zu einem Gebilde zusammen. So wurde der Sturm und Drang zum integralen, wenn auch überwiegend kritisch beurteil­ ten Teil eines literaturgeschichtlichen Epochenkonzepts, das die Entwick­ lung von der Genieästhetik zu den Kunst- und Menschheitsidealen der Wei­ maraner als einen Weg der kulturellen Sublimierung beschrieb. Dieses mit

Anfänge der literatur­ geschichtl ichen Epochenkonstruktion im 19. Jahrhundert

Entstehung der deutschen ,Klassik-Legende'

14 11. Forschungsbericht starken Wertungen verbundene Epochenkonzept ist, nach der ideologiekriti­ schen Wende der Germanistik, treffend als ,Klassik-Legende' bezeichnet worden (vgl. Grimm/Hermand 1971). Die im 19. Jahrhundert geborene ,Klassik-Legende', an die im 20. Jahrhun­ dert mehrfach wieder angeknüpft wurde, übernahm zu unterschiedlichen Zeiten der deutschen Geschichte auch unterschiedliche ideologische Funk­ tionen. Nach der niedergeschlagenen 1848-Revolution diente sie dazu, über die gescheiterten Hoffnungen des national-liberalen Bürgertums hinweg­ zutrösten. Im Anschluss an die Reichsgründung von 1871 wurde sie mit der ,Hohenzollern-Legende' der politischen Geschichtsschreibung ver­ knüpft. In Wilhelm Scherers Geschichte der deutschen Litteratur (1883) geht die deutsche Klassik direkt aus dem Zeitalter Friedrichs des Großen heraus, da dieser - trotz seiner öffentlich erklärten Verachtung der ,litterature alle­ mande' - als nationaler Held den Aufschwung der modernen deutschen Lite­ ratur inspiriert habe. Das Gegenkonzept

Während die Vertreter der sogenannten ,Klassik-Legende' am Sturm und

der ,Deutschen

Drang die Maßlosigkeit des subjektiven Ausdrucks und die Formlosigkeit der

Bewegung'

ästhetischen Gestaltung kritisierten, kam nach der Wende zum 20. Jahrhun­ dert eine andere Auffassung auf, die an ihm gerade die irrationalen Tenden­ zen als Charakterzüge des deutschen Wesens schätzte und diese Tendenzen mit der Herderschen Entdeckung der nationalen Traditionen in Zusammen­ hang brachte. Herman Nohl, ein Schüler von Wilhelm Dilthey, arbeitete seit seinem Buch Die deutsche Bewegung und die idealistischen Systeme (1911) an dem Mythos einer ,deutschen Bewegung', die, beginnend mit dem Sturm und Drang, den Rationalismus und Kosmopolitismus der westeuropäischen Aufklärung überwunden habe. An Nohl schlossen sich Germanisten wie z. B. Heinz Kindermann und Paul Kluckhohn an (vgl. Gretz 2007). Sie sahen im Sturm und Drang weniger die Vorstufe der Klassik - die ihrerseits in den Verdacht eines wieder erstarkten Rationalismus und Kosmopolitismus ge­ riet -, vielmehr betrachteten sie ihn als eine Antizipation der deutschen Ro­ mantik. Deshalb ist später in Analogie zur ,Klassik-Legende' auch von einer ,Romantik-Legende' gesprochen worden (vgl. Huyssen 1980, 21-25). Seit den 1920er Jahren ließ sich eine zunehmende Polarisierung zwischen den Befürwortern der Klassik und den Anhängern der Romantik beobachten, wo­ bei letztere die Oberhand gewannen. Sogar Korffs Versuch, die Gegensätze von Rationalismus (Aufklärung) und Irrationalismus (Sturm und Drang), Hu­ manismus (Klassik) und Metaphysik (Romantik) im ,Geist der Goethezeit' miteinander zu vermitteln, tendierte zum irrationalen Pol. Der Mythos der ,deutschen Bewegung' wurde im Dritten Reich völkisch gedeutet und auf Hitlers Nationalsozialismus als Ziel ausgerichtet.

Renaissance und

Nachdem die Deutung des Sturm und Drang und der Romantik im Sinne

Kritik der

der ,deutschen Bewegung' mit dem Ende des Dritten Reichs völlig diskredi­

,Klassik-Legende'

tiert war, erlebte die ,Klassik-Legende' in den 1950er Jahren eine Renais­ sance in der literaturwissenschaftlichen Forschungsrichtung der werkimma­ nenten Interpretation. Westliche Germanisten, namentlich Wolfgang Kayser, Benno von Wiese und Emil Staiger, feierten erneut die Kunst- und Mensch­ heitsideale, die sie in den Dichtungen der Weimaraner verkörpert sahen. Ihr Klassik-Bild wurde nicht zuletzt von Goethes Maxime der ,Entsagung' ge­ prägt, die gut in die restaurative Geisteshaltung der Adenauer-Ära passte.

1. Literaturgeschichtliche Gesamtdarstellungen 15

Von daher ist es verständlich, dass Ende der 1960er Jahre nicht nur die irra­ tionalistische ,Romantik-Legende', sondern auch die idealistische, nun als restaurativ wahrgenommene ,Klassik-Legende' zum Ziel von politisch links eingestellten Ideologie- und Gesellschaftskritikern wurde (vgl. Grimm/Her­ mand 1971). Die Literaturgeschichtsschreibung zog aus der Infragestellung ihrer Epo­ chenkonzepte zweierlei Konsequenzen: Erstens löste sie den Sturm und Drang aus der Umklammerung durch die ,Klassik'- und die ,Romantik-Le­

Integration des Sturm und Drang in die Aufklärung

gende', indem sie ihn als eine von mehreren ,Strömungen' in die Großepo­ che der Aufklärung (statt in die der Goethezeit) integrierte. Seit Gerhard Kai­ sers Einführung Aufklärung Empfindsamkeit, Sturm und Drang ist diese Zu­ ordnung üblich geworden. Die Aufklärung mit ihren vernünftigen Prinzipien der Reflexion, der Kritik und der Moral erscheint als "epochale Grund­ schicht" (Kaiser 1976, 12), auf der noch die Stürmer und Dränger operierten, wenn sie gegen die bestehenden Normen der Dichtung und der Gesellschaft aufbegehrten und für die Rechte genialer Individuen eintraten. So lässt sich auch ihre Betonung leidenschaftlicher Gefühle als eine Selbstkritik und Selbstkorrektur aufklärerischer Vernunft beschreiben und damit vor der bis dahin herrschenden Deutung als Irrationalismus bewahren. Zugleich gestat­ tet dieses mit der Aufklärung verbundene Konzept des Sturm und Drang die sozialkritischen Züge, etwa bei Jakob Michael Reinhold Lenz, stärker in den Blick zu nehmen. Zweitens rückten einige der neueren Literarhistoriker die Klassik in einen anderen, nämlich in einen sozialgeschichtlichen und gesellschaftspoliti­ schen Problemzusammenhang, und machten dies durch die Titelwahl ihrer Werke deutlich. In Horst Albert Glasers Sozialgeschichte der deutschen Lite­

Deutsche Klassik im Zeitalter der Französischen Revolution

ratur hieß der entsprechende Band Zwischen Revolution und Restauration: Klassik und Romantik 1786-1815 (Glaser 1980). Gerhard Schulz nannte sei­

ne Epochendarstellung Oie deutsche Literatur zwischen französischer Revo­ lution und Restauration und definierte Aufklärung, Klassik und Romantik als

"literarische Kraftfelder und Tendenzen" innerhalb der gesellschaftspoliti­ schen Konfliktzeit zwischen 1789 und 1830 (Schulz 1983). Auffällig ist die Parallele zu der in der DDR erschienenen Geschichte der deutschen Litera­ tur von den Anfängen bis zur Gegenwart, dessen siebenter Band schlicht 1798-1830 titelt und die Kapitel "Literatur von 1789-1794" und "Literatur

von 1794-1806" enthält, deren Periodisierung von politischen Entwicklun­ gen abgeleitet wurde (Dahnke 1978). Schon bald distanzierte sich allerdings Gert Ueding mit seinem Werk Klassik und Romantik. Deutsche Literatur im Zeitalter der Französischen Revolution 1789-1815 vom Primat der Sozialge­

schichte und betonte wieder die Eigengesetzlichkeit der Literaturgeschichte mit ihren Gattungstendenzen (Ueding 1987). Die sozialgeschichtliche Wende der 1980er Jahre hat jedoch die literar­ historische Perspektive dauerhaft verändert, und zwar dergestalt, dass seit­ dem die literarischen Entwicklungen um 1800 als Teil von Modernisierungs­ prozessen gesehen werden, die sich etwa gleichzeitig in allen Bereichen der Gesellschaft - etwa der Ökonomie, der Politik und der Wissenschaften - be­ obachten lassen. Aus dieser Perspektive erscheinen die Klassik und die Ro­ mantik nicht mehr als eine Abfolge gegensätzlicher Epochen, sondern als eine Konstellation von unterschiedlichen Diskursen, die auf dieselbe Prob-

Klassik und Romantik im Zusammenhang von Modernisierungs­ prozessen um 1800

16

11. Forschungsbericht

lemlage der so genannten ,Sattelzeit' (Reinhart Koselleck) um 1800 reagier­ ten. Die neueren Forschungsansätze in der Literaturwissenschaft (System­ theorie, Diskursanalyse, Literarische Anthropologie, Poetik des Wissens) ha­ ben keinen anderen Epochenzuschnitt vorgenommen. So erklärt sich, dass Klassik und Romantik in vielen Literaturgeschichten der letzten drei Jahr­ zehnte zusammen dargestellt werden.

2. Literaturwissenschaftliche Ei nzelstudien vom

Positivismus bis zur ,Poetik des Wissens' Daten und Studien

Die literaturwissenschaftliehe Erforschung des Sturm und Drang und der

des Positivismus

Weimarer Klassik begann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und stand damit im Zeichen des Positivismus. Überwiegend wurden die biogra­ phischen und bibliographischen Daten zu den einzelnen Autoren gesam­ melt, um dann, mit psychologischer Kausallogik, aus dem Leben des jeweili­ gen Dichters seine Werke zu erklären. Hinzu kamen Studien zur Entstehung einzelner Texte und zum ,Einfluss' von älteren Autoren auf bestimmte Dich­ ter und Epochen. So publizierte der Wiener Germanistikprofessor Jakob Mi­ nor unter anderem über Hamann in seiner Bedeutung für die Sturm- und

(1881), veröffentlichte zwei Bände Schiller. Sein Leben und (1889/90) und ein Buch zu Goethes Faust. Entstehungsgeschichte und Erklärung (1901).

Drangperiode Werk

Gestalten und

Auf der Grundlage des vom Positivismus bereitgestellten Datenmaterials

Ideen der

strebte Wilhelm Dilthey, der Begründer der Geistesgeschichte, nach einer

Geistesgeschichte

Deutung großer Dichter, die Das Erlebnis und die Dichtung

-

so der Titel

einer Sammlung von älteren Aufsätzen über Lessing, Goethe, Novalis und Hölderlin (1905)

-

als Momente eines persönlichen Entwicklungs- und Ge­

staltungsprozesses verstehen und darüber hinaus die geschichtlichen Wech­ selwirkungen zwischen Individuum und Epoche erhellen sollte. Eine Gene­ ration später kam es in den Monographien des Stefan George-Kreises, die Diltheys Konzept der Geistesgeschichte von den Resten des psychologi­ schen und historischen Kausaldenkens befreiten, zu einer Monumentalisie­ rung von heroischen, ihrer Zeit weitgehend enthobenen ,Gestalten'. Leben und Werk wurden als eine ästhetische Einheit aufgefasst, die sich letztlich jeder begrifflichen Analyse entzieht. Auf Friedrich Gundolfs Goethe (1916) folgte Max Kommerells Werk Der Dichter als Führer der deutschen Klassik

(1928), das allerdings auch die um Goethe gruppierten Gestalten Herder, Schiller, Jean Paul und Hölderlin in ihrer jeweiligen Problematik schilderte und darüber sowohl den Sturm und Drang wie die Romantik in den Blick nahm. Eine andere Richtung der Geistesgeschichte bezeichnete sich selbst als Ideengeschichte. Neben Korffs Geist der Goethezeit sei Walther Rehms Hauptwerk Griechentum und Goethezeit (1936) genannt, das die "Ge­ schichte eines Glaubens" verfolgte, ohne an irgendeiner Stelle dem Irratio­ nalismus der ,deutschen Bewegung' zu huldigen. Denn die mit Winckel­ mann beginnende und in der Weimarer Klassik kulminierende Griechen­ Begeisterung war für Rehm ein humanistischer Bildungsmythos, von dem aus kein Weg zu der nationalistischen Staats- und Volksideologie des späten

19. und 20. Jahrhunderts führte.

2. Literaturwissenschaftliche Einzelstudien 17

Dass umgekehrt die Erforschung des Sturm und Drang besonders von Ger­ manisten betrieben wurde, die sich für die Entwicklung der ,deutschen Be­ wegung' interessierten, versteht sich nach dem oben Gesagten von selbst. Hatte Rudolf Unger in Hamann und die Aufklärung. Studien zur Vorge­ schichte des romantischen Geistes im 18. Jahrhundert (1911) noch sachlich die historischen Kontroversen nachgezeichnet und erst am Ende von einem "religiösen Irrationalismus" gesprochen, der in der deutschen Kultur zukünf­ tig wieder eine größere Rolle spielen müsse, so stilisierte Heinz Kindermann in}. M. R. Lenz und die deutsche Romantik seinen Autor zum Dichter der Eks­ tase, um schließlich der Literaturwissenschaft die "im Wesen unserer Zeit" gelegene Pflicht aufzuerlegen, "die überragende Bedeutung des Irrationalen in deutscher Art und Kultur zu ergründen" (Kindermann 1925b, 326). Ent­ sprechend deutete er die gesamte Entwicklung der Sturm- und Drangbewe­ gung (Kindermann 1925a) als Durchbruch zur Seele (Kindermann 1928). Als eigentlicher Wegbereiter der ,deutschen Bewegung' in Dichtung und Wis­ senschaft galt Herder, dem nach 1933 besonders Benno von Wiese größere Darstellungen im Einklang mit der völkischen Ideologie des Nationalsozia­ lismus widmete (von Wiese 1938 u. 1939). Das neue Programm der werkimmanenten Interpretation begründete Emil Staiger im Vorwort zu seinem Buch Goethe (1952), wenn er - im Gegenzug zur Geistesgeschichte mit ihren "Hauptideen und Leitgedanken" und ihrer Ausrichtung auf die Lebensbedürfnisse der Gegenwart - die Konzentration des Historikers auf die einzelnen Dichtungen in ihrer sprachlichen Form for­ derte. Sein Verfahren, die Autormonographie als eine Folge von Werkinter­ pretationen aufzubauen - die dann allerdings doch wieder auf eine vor­ bildliche "Gesinnung", nämlich die Humanität der Weimarer Klassik, hin­ führten - machte in den 1950er und 1960er Jahren Schule. Ähnlich gingen die zahlreichen, bis in die 1970er Jahre hinein erscheinenden Gattungs­ geschichten vor, z. B. zur Ballade (Hinck 1968), zum Bildungsroman Uacobs 1972) und zur Autobiographie (Müller 1976). Diese Arbeiten pflegten eine Entwicklungskurve zu zeichnen, die von den Anfängen im 18. Jahrhundert zum Höhepunkt, der klassischen Vollendung der jeweiligen Gattung bei Goethe und Schi Iler, aufstieg, um dann im 19. und 20. Jahrhundert wieder abzufallen. In ihrer werkimmanent begründeten, nicht als historische Kons­ truktion ausgewiesenen Teleologie konnten die Texte des Sturm und Drang nur den Status von Vorstufen zur Klassik erreichen. Nach der sozialgeschichtlichen Wende widmete sich ein Teil der germa­ nistischen Forschung den Strukturen der ,literarischen Öffentlichkeit' im 18. und 19. Jahrhundert, wobei allerdings die Aufklärung, das Biedermeier und der Vormärz im Fokus standen. Für die Perioden des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik wurden keine umfassenden Arbeiten zur Autorsoziolo­ gie, zum Lesepublikum, zum Buch-, Bibliotheks- und Zeitschriftenwesen ge­ schrieben (kleinere Skizzen finden sich u. a. in Glaser 1980 u. Grimminger 1980). Währenddessen konzentrierte sich eine andere sozialgeschichtliche Richtung der Literaturwissenschaft, die Wirkungs- und Rezeptionsforschung, wieder auf die Klassiker. In mehreren Bänden dokumentierte Karl Robert Mandelkow die Wirkungsgeschichte Goethes (Mandelkow 1975-84), Nor­ bert Oellers die Wirkungsgeschichte Schillers (Oellers 1976) bis zur Gegen­ wart. Ein Überblick über die Rezeption von Lenz kam aus der (französi-

Deutungen des Sturm und Drang im Sinne der ,Deutschen Bewegung'

Werkinter­ pretationen und Gattungsgeschichten im Sinne der Klassik-Legende

Sozialgeschichtliche und psychoanalyti­ sche Forschungen

18 11. Forschungsbericht schen) Auslandsgermanistik (Genton 1966). Bei den Autormonographien der 1960er und 1970er Jahre waren psychoanalytische Zugangsweisen be­ liebt, die zum größeren Teil - nach dem Vorbild einer frühen Studie über Goethe (Eissler 1963) - die Freudschen Theorien verwendeten und diese, wo es sinnvoll erschien, mit sozialgeschichtlicher Forschung verbanden. Hinge­ gen knüpften die psychoanalytischen Arbeiten der 1980er Jahre häufiger an Lacans Schriften an und schufen so einen Übergang zu poststrukturalisti­ schen Zeichen-, Diskurs- und Medientheorien. Zu den Wegbereitern ge­ hörte Friedrich A. Kittler mit seinem viel diskutierten Buch über die Auf­ schreibesysteme um 1800 und 1900 (Kittier 1985). Aktuelle

In der neuesten Sekundärliteratur zum Sturm und Drang und zur Weima­

Forschungs­

rer Klassik kreuzen sich mehrere Forschungsrichtungen, denen das Interesse

richtungen

an der literarischen Produktion, Transformation und Archivierung von Wis­ sen gemeinsam ist. Werkbezogene Untersuchungen, die etwa Goethes Ver­ fahren der Bildbeschreibung analysieren (Osterkamp 1991), berühren sich mit diskursgeschichtlichen Untersuchungen, z. B. zum Verhältnis von Litera­ tur und Philologie in der Goethezeit (Buschmeier 2008a und 2008b). Fragen zur ,I iterarischen Anthropologie' des 18. Jahrhunderts, welche unter ande­ rem die zeitgenössischen Diskurse der Physiologie (pfotenhauer 1987) und der Physiognomik (Saltzwedel 1993) betreffen, werden in Richtung einer ,Mediologie' des Körpers und der Schriftlichkeit weiterentwickelt (Koschor­ ke 1999). Und auch die Vertreter einer ,Poetik des Wissens' spüren den the­ matischen und strukturellen Wechselbeziehungen zwischen literarischen Texten und nicht-I iterarischen Diskursen des Wissens nach (vgl. Vogl 1999; Brandstetter/Neumann 2004). So hat Joseph Vogl (2004) eine Monographie zur ,Poetik des ökonomischen Menschen' vorgelegt, in der Goethes Werke eine zentrale Rolle spielen.

111. Kontexte 1. Politische und soziale Rahmenbedingungen in

Deutschland Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation stellte während des 18. Jahr­

Heterogenität der

hunderts nur noch eine verfassungsrechtliche Hülse dar. Es war in knapp

politischen und

1800 Territorien zersplittert, die allerdings durch den Reichsdeputations­ hauptschluss von 1803 auf 40 Staaten reduziert wurden. Drei Jahre später

sozialen Verhältnisse

legte Franz 11. von Österreich die deutsche Krone nieder und führte damit die juristische Auflösung des Reichs herbei. Politisch und militärisch dominier­ ten die großen Fürstentümer, besonders P reußen und Österreich sowie, in zweiter Reihe, Sachsen und Bayern. Diese Staaten haben im Laufe des 18. Jahrhunderts mehrere Kriege um die Vormachtstellung im Reich geführt. Von den zeitgenössischen Schriftstellern ist die politische Zerrissenheit des Reichs häufig beklagt und als einer der Ursachen für den kulturellen Rück­ stand namhaft gemacht worden, den Deutschland gegenüber Nationen wie Frankreich und England aufweise. Als Reaktion arbeiteten schon Aufklärer wie Lessing und Mendelssohn - nicht erst der Stürmer und Dränger Herder an der literarischen Bildung eines kulturellen Nationalbewusstseins (vgl. Wiedemann 1989 und 1991; Kauffmann 2002, 117-124). Dem standen frei­ lich die realen Verhältnisse entgegen. Denn die einzelnen Gebiete des Reichs unterschieden sich sowohl in politischer als auch in sozialer, ökono­ mischer, konfessioneller und sonstiger Hinsicht so stark voneinander, dass von einer nationalen Einheit kaum die Rede sein konnte. Aus dem gleichen Grund muss man heute als Historiker mit allgemeinen Aussagen äußerst vor­ sichtig sein. So sah die Herrschaftsform in den bürgerlichen Reichsstädten ganz anders aus als in den weltlichen oder geistlichen Fürstentümern. Ja, die Verhältnisse in der Reichsstadt Frankfurt, die der Patriziersohn Goethe in sei­ ner Autobiographie Dichtung und Wahrheit beschreibt, entsprachen nur par­ tiell denen in der Reichstadt Biberach, dem Heimatort Wielands. Und ein Vergleich zwischen dem Herzogtum Württemberg unter Karl Eugen, dessen Herrschaft sich der junge Schiller nur durch Flucht zu entziehen vermochte, und dem Herzogtum Weimar unter der Regierung von Anna Amalia und earl August, zeigt, wie groß die Differenzen innerhalb des aufgeklärten Ab­ solutismus sein konnten. Allerdings ist es richtig, dass die Gesellschaftsordnung in der Zeit des Sturm und Drang und der Weimarer Klassik noch überall auf ständischen Grundsätzen basierte. Aber auch hier muss differenziert werden. Zum einen galt die aus dem Mittelalter überkommene Dreiteilung in den ersten Stand (Klerus), den zweiten Stand (Adel) und die unteren Stände (Kaufleute, Hand­ werker, Bauern u. a. m.) nicht für die Reichsstädte, die bei ihren Bewohnern zwischen Bürgern und Nicht-Bürgern unterschieden, wobei es innerhalb des Bürgertums eine Führungselite (Senatoren, Patrizier) zu geben pflegte. Zum anderen hatte das (wieder territorial unterschiedliche) Land- oder Stadtrecht

Ausdifferenzierung und Aufweichung der ständischen Ordnung

20 111. Kontexte der Neuzeit zu einer starken Ausdifferenzierung der Stände geführt, nämlich nach Rängen im Adel und nach Berufen und Ämtern im Bürgertum. Auf die­ se Weise war das Ständesystem äußerst vielschichtig geworden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts sorgten sozioökonomische Prozesse, die teilweise von den Reformen des aufgeklärten Absolutismus unterstützt wurden, dafür, dass die Überwindung bestimmter Standesschranken leichter wurde. Das von Jo­ seph 11. 1785 in den österreichischen Erblanden eingeführte Bürgerliche Gesetzbuch erlaubte jedermann den Erwerb adeliger Landgüter, zu einer Zeit, als sich Friedrich 11. noch gegen den auch in Preußen üblich geworde­ nen Verkauf an bürgerliche Kapitalbesitzer zu stemmen versuchte. "Bürger­ liche drangen aber nicht nur in das Reservat der Adelsgüter, sondern zur gleichen Zeit auch in die staatliche Zivilverwaltung und das Gerichtswesen, gelegentlich sogar in das Offizierskorps ein, während sich der Adel vom bür­ gerlichen Erwerbsleben rechtskräftig ausgeschlossen hatte." (Wehler 1987,

151) Gleichzeitig wuchs die Zahl der meist von den Landesherren ausgespro­ chenen Nobilitierungen, für die eine nach der Ranghöhe der Adelstitel ge­ stufte Gebührenordnung existierte. "Schiller mußte 1802, als er auf Vor­ schlag earl Augusts von Weimar vom Kaiser den Adel erhielt, 228 Gulden entrichten./I (Ebd., 152.) Auf der Seite des Adels erkannten manche Gutsbe­ sitzer, die mit der wachsenden Konkurrenz bürgerlicher Kapitalbesitzer zu kämpfen hatten, die Notwendigkeit von wirtschaftlichen Reformen und wan­ delten sich ihrerseits zu Agrarunternehmern. In dieser Sphäre der ländl ichen Gesellschaft wurden die bis dahin geltenden Grenzen von Angehörigen bei­ der Stände überschritten. Dennoch darf nicht pauschal von der Auflösung des Ständesystems gesprochen werden, zumal es Gegentendenzen gab. Weil der Adel in einigen seiner rechtlichen Privilegien bedroht war, neigte er nicht selten dazu, die gesellschaftliche Distinktion gegenüber den Bürgerlichen umso stärker zu betonen. Das galt besonders für die höfische Sphäre. Lebensbedingungen

An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert lebten rund 80% der deut­

der Landbewohner

schen Bevölkerung auf dem Land. Zwei Drittel arbeiteten in der Landwirt­ schaft. Die rechtlichen und sozialen Unterschiede innerhalb des Bauern­ tums waren groß, die Spanne reichte von freien und reichen Großbauern bis zu abhängigen Kleinbauern, die als Hörige, Leibeigene oder in der Form der Erbuntertänigkeit Dienste und Abgaben an die Gutsherrschaft zu leisten hat­ ten. Hinzu kam das auf dem Hof lebende Gesinde. Zwar unternahm die Re­ formpolitik des aufgeklärten Absolutismus erste Schritte zur Aufhebung der Leibeigenschaft und der Erbuntertänigkeit, doch blieben die Lebensverhält­ nisse der meisten Landbewohner ärmlich. Von anderen Maßnahmen der so­ zialen Verbesserung, etwa der Einführung der Schulpflicht, wurden sie noch kaum erreicht. So war die Bevölkerung weitgehend analphabetisch.

Idealisierung des einfachen Volks im Sturm und Drang

Obwohl nicht wenige der Autoren der Zeit vom Lande stammten - ihre Herkunft aus dem ländlichen Pfarrhaus ist zurecht ein Topos der deutschen Literaturgeschichte geworden -, haben sie die dortigen Verhältnisse fast nie realistisch beschrieben. Die Stürmer und Dränger idealisierten das Leben des einfachen ,Volks'. Wenn Werther, auf dem Dorfplatz in Wahlheim eine Tasse Kaffee trinkend und seinen Homer lesend, den Bewohnern des Orts zuschaut, dann nimmt er die Szenerie als Idylle wahr. Maler Müllers Erzäh­ lungen - von denen Oie Schaf-Schur (1775) am bekanntesten geworden ist­ entwerfen ein ähnliches Bild vom ursprünglichen, in Natur und Tradition

2.

Literarische Öffentlichkeit und kulturelles Leben 21

verwurzelten Hirten- und Bauerntum der eigenen, pfälzischen Heimat (vgl. IV. 4). In den Werken der Weimarer Klassik spielen die ländlichen Unter­ schichten kaum eine Rolle mehr. Die Ideale der Humanität werden nicht vom einfachen ,Volk', sondern vom gebildeten Adel und Bürgertum verkör­ pert. Es wäre an dieser Stelle nicht sinnvoll, auf die soziale Lage städtischer Un­ terschichten einzugehen, weil diese weder im Sturm und Drang noch in der Weimarer Klassik zu einem eigenen Gegenstand der Darstellung werden. Sogar jene Dramen des Sturm und Drang, die soziale Konflikte in den Mittel­ punkt stellen, machen beim Kleinbürgertum halt. So konfrontiert das Stück Oie Soldaten (1776) von Lenz adelige Offiziere und bürgerliche Mädchen aus bescheidenen Verhältnissen und bleibt damit im Rahmen des bürgerli­ chen Trauerspiels - der Unterschied zu Büchners Woyzeck ist deutlich. Eine gewisse Ausnahme stellt Oie Kindermörderin (1777) von Heinrich Leopold Wagner dar, insofern dort zwei Mägde und eine Lohnwäscherin als weibli­ che Nebenfiguren vorkommen. Die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse, wie sie in Deutsch­ land bestanden, wurden durch die Auswirkungen der Französischen Revolu­ tion nicht wesentlich verändert. Direkt griff die Revolution nur auf einige linksrheinische Gebiete Deutschlands über. Nach der militärischen Okkupa­ tion durch die französische Revolutionsarmee wurde 1792 die Mainzer Re­ publik ausgerufen, welche aber weniger als ein Jahr darauf der Belagerung durch ein deutsches Koalitionsheer zum Opfer fiel. Zu einer länger andau­ ernden Umwälzung kam es an keinem Ort. Freilich wurden die Ideen (Frei­ heit, Gleichheit, Brüderlichkeit) und die Ereignisse der Französischen Revo­ lution in Deutschland intensiv diskutiert. Dabei vertraten die Schriftsteller unterschiedliche, im Verlauf der Revolution häufig wechselnde Meinungen. Ihre individuelle Haltung lässt sich selten auf einen Nenner bringen. Unter den Autoren der Weimarer Klassik (vgl. Fink u. a. 1974; Chiarini/Dietze 1978; Wilson 2004) bekannte sich Herder am deutlichsten zur Französi­ schen Revolution, deren Ideen er auch dann noch verteidigte, als die Phase des ,Terreur' einsetzte. Wieland war von Anfang an ein nüchtern abwägen­ der Realist, der die politischen Entwicklungen in Frankreich teils positiv, teils negativ beurteilte, unabhängig davon aber ihre Übertragung auf Deutsch­ land für falsch hielt. Währenddessen gehörten Goethe und Schiller spätes­ tens seit der ,Terreur' zu den politischen Gegnern der Französischen Revolu­ tion, ohne damit umgekehrt zu Lobsängern des Ancien Regime zu werden. Sie verarbeiteten die Revolutionsthematik in philosophischen und literari­ schen Werken, die einen großen Deutungsspielraum lassen.

Die deutschen Auswirkungen der Französischen Revolution

2. Literarische Öffentlichkeit in Deutschland und

kulturelles Leben in Weimar Im Zeitalter der Aufklärung war die Literatur ein integraler Bestandteil jener ,bürgerlichen Öffentlichkeit', die laut Jürgen Habermas dadurch gekenn­ zeichnet sein sollte, dass sich Privatleute zum Publikum versammeln und in literarischen Formen und publizistischen Medien über gesellschaftsrelevante Themen räsonnieren (Habermas 1962). Mit dem Sturm und Drang begann

Strukturwandel der literarischen Öffentlichkeit

22 111. Kontexte jedoch die Entwicklung der Literatur zu einem weitgehend autonomen Be­ reich der Kunstproduktion. Entsprechend verstanden sich die Autoren zu­ nehmend als freie Dichter, für die das ästhetische Gelingen ihrer Werke ent­ scheidend war. Allein vom Ertrag ihrer Feder konnten sie allerdings nicht le­ ben, sogar wenn sie sich, wie etwa Wieland und Schiller, neben der eigenen Dichtung als Herausgeber von Zeitschriften und Musenalmanachen betätig­ ten, um damit Geld zu verdienen. Weil das an Belletristik interessierte Publi­ kum in Deutschland erst einige Tausend Leser umfasste, blieben die Schrift­ steller auf einen bürgerlichen Brotberuf oder auf adeliges Mäzenatentum an­ gewiesen. Soziale Herkunft

Die Mehrheit der Autoren, die zum Sturm und Drang und zur Weimarer

der Autoren

Klassik gerechnet werden, war bürgerlicher Herkunft, wobei die meisten aus den bescheidenen Haushalten von Pastoren (Wieland, Bürger, Lenz), Leh­ rern (Herder) und Ärzten (Lavater, Schiller) stammten. Goethe, der Spross einer reichen Patrizierfamilie, stellte eine Ausnahme dar. Nicht zum bürger­ lichen Spektrum gehörten die beiden Grafen Stolberg-Stolberg auf der Seite des Adels sowie Klinger, der Sohn eines Konstablers, und Voß, das uneheli­ che Kind eines Kammerdieners, auf der Seite des ,gemeinen Volks'. Die Un­ terschiede der Herkunft verloren dadurch an Bedeutung, dass die Autoren ähnliche Bildungswege durchliefen, die in der Regel zum Studium der Theo­ logie (Herder, Bürger, Voß, Lenz), der Jurisprudenz (Wieland, Bürger, Goe­ the, Klinger, Wagner, Stolberg, auch Schiller, der dann aber zur Medizin wechselte) oder der Philosophie (Wieland) führten. Nach dem Besuch der Universität war die Mehrheit der Autoren gezwungen, eine - wenn über­ haupt - schlecht bezahlte Stelle als Haus- oder Schullehrer, als Hofprediger, Gemeindepastor oder Universitätsprofessor anzunehmen. Vor diesem Hin­ tergrund wird die besondere Stellung von Weimar deutlich. Indem die Her­ zogsfami I ie der Reihe nach Wieland als Prinzenerzieher und Goethe als Lega­ tionsrat berief, sowie Herder in das Amt des Generalsuperintendenden ein­ setzte, hat sie die materiellen Voraussetzungen für ein literarisches Zentrum geschaffen, das über Jahrzehnte bestand und in Deutschland den Ton angab. Obwohl es sich um Ämter mit ausreichender Besoldung handelte, hatten sie auch eine Schattenseite. Besonders Goethe und Herder I itten an ihren beruf­ lichen Verpflichtungen, die sie von der literarischen Arbeit abhielten.

Autorengruppen und

Anders als die Berliner Aufklärung und die Weimarer Klassik besaß der

Treffpunkte zur Zeit

Sturm und Drang kein Zentrum, mit dem er dauerhaft verbunden gewesen

des Sturm und Drang

wäre. Doch bildeten sich an einigen Orten literarische Gesprächszirkel und Freundeskreise gleich gesinnter Autoren, die freilich nicht als feste Einrich­ tungen angelegt waren und selten über eine längere Zeit bestanden. In letz­ terer Hinsicht war der 1772 von Göttinger Studenten gegründete Dichter­ bund des ,Göttinger Hains' eine Ausnahme. Seine Mitglieder - unter ihnen Heinrich Christian Boie, Johann Friedrich Hahn, Christoph Heinrich Hölty, Johann Anton Leisewitz, Johann Martin Miller, die Brüder Christian und Friedrich Leopold von Stolberg sowie Johann Heinrich Voß - sammelten sich um den Göttinger Musenalmanach und blieben durch dieses Gemein­ schaftsorgan auf Jahre und Jahrzehnte untereinander verbunden. Seine feste Gruppenstruktur, die sich noch an den Geselligkeitsformen der Empfindsam­ keit orientierte, ist einer der Gründe dafür, dass der Göttinger Hain nur mit Schwierigkeiten in die Epoche des Sturm und Drang eingeordnet werden

2.

Literarische Öffentlichkeit und kulturelles Leben 23

kann. Straßburg gilt als der wichtigste Treffpunkt der Stürmer und Dränger. Hier unterhielt der Aktuarius Salzmann eine Tischgesellschaft von Studen­ ten, der zeitweilig Goethe, Lenz, Wagner und Johann Heinrich Jung (ge­ nannt Jung-Stilling) angehörten. In diesem Rahmen konnte man nicht nur über literarische Themen sprechen, sondern, wenn sich die Gelegenheit er­ gab, auch eigene Texte vortragen. In seiner Autobiographie Dichtung und

Wahrheit betont Goethe, dass der sechzigjährige Salzmann als Vorsitzender auf das schickliche Benehmen der jungen Studenten geachtet habe (MA 16,

400), mithin ein genialisch freies Treiben gar nicht möglich gewesen wäre. Unabhängig von der Tischgesellschaft lernten sich 1770/71 Goethe und Her­ der kennen, als dieser wegen einer Augenoperation in Straßburg weilte. An­ dere Schriftsteller kamen für einige Tage zu Besuch. Zusammen unternahm man Spaziergänge in der Stadt und Ausflüge in die Umgebung. Besonders die Ausflüge kamen den Vorstellungen der Stürmer und Dränger vom ge­ meinsamen Ausleben der eigenen Individualität am Busen der Natur nahe. Auch nachdem Goethe und Herder die Stadt verlassen hatten, bot sich Straß­ burg als Versammlungsort an. Eine Inschrift auf dem Turm des Straßburger Münsters bezeugt, dass hier an einem Tag des Jahres 1776 einundzwanzig Autoren der jungen Generation weilten, unter ihnen Goethe, Herder, Lenz, Wagner, Schlosser, Lavater, Kaufmann und die Brüder Stolberg. Neben Straßburg waren Frankfurt, Darmstadt, Gießen, Düsseldorf und Zü­ rich wichtige Treffpunkte. Aus einem Frankfurter und einem Darmstädter Kreis - hier lernte Herder seine spätere Frau Caroline Flachsland kennen sowie einem Gießener Zirkel rekrutierten sich die meisten Mitarbeiter der

Frankfurter gelehrte Anzeigen. Diese Zeitung wurde 1772 von Johann Georg Schlosser - Goethes Schwager - und Johann Heinrich Merck neu gegründet und war genau einen Jahrgang lang das literaturkritische Hauptorgan der Stürmer und Dränger, in dem die selbst impulsiv schreibenden Rezensenten für die Freiheit des Künstlergenies eintraten. Die damit einhergehende Op­ position gegen die Regelpoetik (und das Autorenkartell) der Aufklärung wur­ de schon in der Ankündigung der Zeitung deutlich: /lEine Gesellschaft Män­ ner, die ohne alle Autorfesseln und Waffenträgerverbindungen im stillen bis­ her dem Zustand der Litteratur und des Geschmacks hiesiger Gegenden, als Beobachter zugesehen haben, vereinigen sich, um dafür zu sorgen, dass das Publikum von hieraus nicht mit unrichtigen, oder nachgesagten, oder von den Autorn selbst entworffenen Urtheilen getäuscht werde./I (Frankfurter ge­ lehrte Anzeigen, Neudruck 1883, XXXI) Dass die spontan entstandene Ge­ sellschaft der Beiträger nach einem einzigen Jahrgang ihr Unternehmen auf­ gab, zeigt das Desinteresse der Stürmer und Dränger an festen Strukturen. Zu den wenigen Zeitschriften, die sich für die Ideen der Stürmer und Drän­ ger öffneten, gehörten der von Matthias Claudius redigierte Wandsbecker

Bote (1771-75), die von Johann Georg Jacobi in Düsseldorf herausgegebene Iris (1774-76) sowie Christian Friedrich Daniel Schubarts in Augsburg er­ scheinende Deutsche Chronik (1774-77). Doch handelte es sich bei ihnen um keine gemeinsamen Projekte der Stürmer und Dränger. Für deren Kom­ munikation waren öffentliche Publikationsorgane ohnehin weniger wichtig als die persönliche Briefkorrespondenz und Reisetätigkeit. Wie über ge­ meinsame Reisen und wechselseitige Besuche ein Netzwerk von Freund­ schaften entstand, die aber im Unterschied zur empfindsamen Geselligkeit

Publikationsorgane der Stürmer und Dränger

24 111. Kontexte als intime Gefühls-, ja Liebesbeziehungen zwischen individuellen Persön­ lichkeiten aufgefasst wurden, lässt sich in Dichtung und Wahrheit nachlesen - Goethes Autobiographie berichtet unter anderem von seiner Schweizreise mit den Brüdern Stolberg und der Rheinreise zu jacobi. Wandlungen von

Bezeichnenderweise nahmen diese Reiseaktivitäten ab, nachdem sich

Goethes Lebens­

Goethe und Herder in Weimar fest etabliert hatten. Dass die dortigen Besu­

konzept und Dichtungs­ verständnis in der Weimarer Zeit

che von Lenz und Klinger (1776) jeweils mit einem Zerwürfnis endeten, hing mit dem Rollenwechsel von Goethe zusammen, der nicht länger an in­ dividuellen Dichterfreundschaften im Zeichen des Geniekults interessiert war. Stattdessen versuchte er in Weimar ein anderes Lebenskonzept zu ver­ wirklichen, in dem die dichterische Tätigkeit mit der gesellschaftlichen Rolle des Höflings und den beruflichen Funktionen des Staatsbeamten vereinbart werden sollte. Wie wenig dieses Konzept im ersten jahrzehnt seiner Weima­ rer Zeit aufging, ist bekannt: Trotz der Nähe zu Herder und Wieland, von der man eine künstlerische Befruchtung hätte erwarten können, blieb die eigene Dichtung auf der Strecke. Erst nach der Rückkehr von der italienischen Reise gelang Goethe der Durchbruch zu neuer P roduktivität. Das hatte nicht allein mit der weitgehenden Entlastung von Amtspflichten, sondern auch mit einer veränderten Auffassung der Künstlerrolle zu tun. Statt seine Dichtung in den ,Dilettantismus' der höfischen Kreise zu integrieren, nahm Goethe für sich die Autonomie der Kunst in Anspruch und intensivierte die Zusammenarbeit mit anderen in Weimar oder jena lebenden Künstlern und Gelehrten - die

1794 entstehende Partnerschaft mit Schiller war Teil eines dichten Bezie­ hungsnetzes. Durch die professionelle Zusammenarbeit bekannter Künstler, Wissenschaftler und sonstiger Fachleute wurde Weimar um 1800 zum wich­ tigsten Zentrum der deutschen Literatur, das fortan jüngere Autoren wie ein Magnet anzog, sei es, dass diese sich ebenfalls in Weimar niederließen (Jean Paul, Kotzebue) oder eine Weile bei einem der Weimaraner wohnten (so Kleist) oder aber die bewunderten Vorbilder für einige Tage und Stunden be­ suchten (so Hölderlin, Grillparzer, Heine u. v. m.). Gesellschaftliche

Wie sich das gesellschaftliche und kulturelle Leben in Weimar zur Zeit

und kulturelle

der Klassiker gestaltete, ist von der literaturwissenschaftlichen Forschung

Verhältnisse in Weimar

detailliert untersucht und beschrieben worden (Zusammenfassungen bei Barth 1971; Oellers/Steegers 1999; Steinfeld 2003). Die Stadt war die Resi­ denz der ernestinischen Herzöge von Sachsen-Weimar und damit der Mit­ telpunkt eines kleinen Fürstentums, zu dem auch die Universitätsstadt jena gehörte. Weimar selbst hatte in den siebziger jahren ca. 6 000 Einwohner

(1801 zählte man 7 500, 1829 rund 10 000) und besaß, abgesehen von eini­ gen höfischen Gebäuden, einen fast dörflichen Charakter (vgl. Herders Brief an Knebel vom 28. August 1785, Herder 1979, 135). Die kulturellen Impul­ se gingen zunächst allein von der Fürstenfamilie aus. Zwar fehlten ihr die finanziellen Mittel für eine repräsentative Hofhaltung, doch fand sie einen Ersatz in weniger aufwändigen Geselligkeitsformen mit musischer Ausrich­ tung. Vor allem Herzogin Anna Amalia (1739-1807), die bereits mit 19 jah­ ren Witwe geworden war und 1775 die Regierung an ihren Sohn Carl Au­ gust übergab, war intellektuell und künstlerisch interessiert. Besonders wichtig waren die regelmäßigen Tischgesellschaften, die Anna Amalia in ih­ rem Weimarer Wittumspalais und auf den Sommerschlössern Ettersburg und Tiefurt abhielt. Sie entsprachen dem Typus des Salons, insofern sich

2.

Literarische Öffentlichkeit und kulturelles Leben 2S

hier - jenseits der höfischen Etikette - Angehörige unterschiedlicher Stände zur musischen Unterhaltung versammeln konnten. Allerdings hat die For­ schung in den letzten Jahren zeigen können, dass die Rolle Anna Amalias und die mit ihr verbundene Rede vom ,Musenhof Weimar' nicht überbe­ wertet werden darf, da es sich um ein literaturgeschichtliches Konstrukt des

19. Jahrhunderts handelt. In diesem Zusammenhang ist auch vom ,Musen­ hof-Mythos' gesprochen worden (vgl. Berger 2003; Berger/Berger 2006). Auf Goethes Initiative ging die ,Freitags-Gesellschaft' zurück, die von 1791 bis ca. 1796 im Wittumspalais zusammenkam. Seit 1805 lud Goethe zur ,Mittwochs-Gesellschaft', die über eine längere Zeit - möglicherweise bis in die zwanziger Jahre hinein - Bestand hatte. Hier berichtete der Hausherr von seinen eigenen naturwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Stu­ dien. Betrachtet man diese und andere Formen des kulturellen Lebens in Weimar, so fällt auf, dass sie immer wieder von denselben, teils aus dem Hofadel, teils aus dem Bildungsbürgertum stammenden Personen getragen wurden. Das galt auch für die Anfänge des Weimarer Theaters. Anna Amalia hatte 1772 die Seylersche Schauspielgesellschaft engagiert, die ihre Stücke in einem Saal des Stadtschlosses aufführte, bis dieses 1774 abbrannte. Für einige Zeit existierten nur noch zwei Amateurgruppen: Aus Mitgliedern der Hof­ gesellschaft formierte sich 1775 ein Ensemble, das im ersten Jahr von Ober­ hofmarschall Graf Putbus geleitet wurde. Anlässlich von Hoffesten spielte es vorwiegend französische Stücke in der Originalsprache. Etwa zur selben Zeit organisierte Friedrich Justin Bertuch eine bürgerliche Amateurgruppe, von der Dramen - meist Lustspiele - in deutscher Sprache dargeboten wurden. Ein Festsaal im Haus des Hofjägers Hauptmann diente als provisorischer Theaterraum. Als Goethe gegen Ende des Jahres 1775 nach Weimar kam, spielte er sofort in dem höfischen Ensemble mit und studierte mit Bertuchs Truppe neue Stücke ein, so das eigene Singspiel Erwin und Elmire. Er trug maßgeblich dazu bei, dass nach dem Tod des Grafen Putbus im Herbst

1776 die Trennung von adeligen und bürgerlichen Amateuren aufgeben wurde und ein gemeinsames Liebhabertheater mit gemischtem Programm entstand. Ende 1778 übernahm er auf Vorschlag des Herzogs die Leitung. "Das Repertoire des Weimarer Liebhabertheaters war vielseitig; mit Rücksicht auf den Geschmack des Publikums mußten auch Stücke niederen Genres, Possen und Rührseligkeiten mit auf die Bühne gebracht werden. Neben Stücken von Voltaire, Lessing, Destouches, Legrand, Moliere standen Lustspiele von Ayrenhoff, Cumberland, Goldoni, Gozzio, Gotter und Singsspiele deutscher, französischer und italienischer Autoren. Nicht selten wurden die Stücke erst in Weimar übersetzt und in Musik gesetzt [ . . ]." (Barth 1971, 108) Aus literaturgeschichtlicher Sicht erscheint die Uraufführung der Iphigenie auf Tauris (6. April 1779), in der Goethe die Rolle des Orest verkörper.

te, als Höhepunkt des Weimarer Liebhabertheaters. Eine neue Theaterära begann mit dem Bau eines eigenen Komödien- und Redoutenhauses, das 1780 eröffnet und ein Jahrzehnt lang von der Bello­ mosschen Theatertruppe bespielt wurde. Nach der Erhebung zum Hofthea­ ter übernahm Goethe die Intendanz und stellte ein festes Ensemble von pro­ fessionellen Akteuren zusammen, die er im Sinne seiner späteren Regeln für

Schauspieler schulte. Unter seiner Direktion fand mehrmals pro Woche eine

Theater

26 111. Kontexte Aufführung vor bis zu fünfhundert Zuschauern statt. Für eine kleine Resi­ denzstadt war dies eine einzigartige Kulturleistung. Da sich das Theater zu zwei Dritteln aus Eintrittsgeldern finanzierte, musste das Programm aller­ dings auf das Unterhaltungsbedürfnis der meisten Zuschauer eingehen. "So wurden unterhaltsame Stücke, die Sitten- und Familiengemälde der Zeit und Singspiele ebenso gegeben wie Dramen Shakespeares und Opern Mozarts. Goethe wählte eine Mischung, die Zerstreuung und anspruchsvolle Kunst bot. [ . . ] In der Zeit seiner Intendanz von 1 791 bis 1 81 7 blieben immerhin 1 1 8 von den insgesamt 601 Inszenierungen Stücken Ifflands und Kotzebues vorbehalten, während nur 37 Einstudierungen seinen und Schillers Werken galten." (Conrady 2006, 556) Wie viel Wert auf die Inszenierung dieser Werke gelegt wurde, bezeugt freilich die intensive Zusammenarbeit der bei­ den Dichter am Weimarer Theater. So kümmerte sich Goethe selbst um die Uraufführungen des Wallenstein und der Braut von Messina und vertraute Schiller umgekehrt die Regie bei eigenen Stücken an. Abgesehen vom Bereich des Theaters, vollzog sich die Zusammenarbeit der Weimarer Autoren in drei Hauptformen: .

Zusammenarbeit der Weimarer Autoren

- in der geselligen Konversation der oben erwähnten Zirkel - im persönlichen Gesprächsaustausch und Briefwechsel - in öffentlichen Almanachen und Zeitschriften

Zeitschriftenorgane und Musen-Almanach

Was die erste Form betrifft, so ist bemerkenswert, dass von den Schriftstellern noch unveröffentlichte Werke im geselligen Kreis vorgelesen wurden. Ein­ wände und Anregungen der Zuhörer konnten dann bei der endgültigen Fas­ sung berücksichtigt werden. Üblich war es auch, unfertige Manuskripte an die literarischen und wissenschaftlichen Freunde zu verschicken, um sich von diesen ein professionelles Urteil einzuholen. Die am Ort lebenden Au­ toren besuchten sich in ihren Häusern, um Werkstattfragen zu diskutieren. Mindestens ebenso sehr nutzen sie das schriftliche Medium des Briefes zu diesem Zweck. Berühmt geworden ist der 1 794 begonnene Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, den die beiden sogar dann noch fortsetzten, als Schiller 1 799 von Jena nach Weimar umgezogen war. Das professionelle Gespräch beschränkte sich nicht auf die Dichter und andere Künstler, son­ dern bezog - seit den neunziger Jahren zunehmend - auch Wissenschaftler ein, von denen viele an der Universitätjena lehrten. Unter den literarischen und publizistischen Gemeinschaftsprojekten der Weimaraner besaß Das Journal von Tiefurt (1 781 -83) eine Sonderstellung, weil dieses von Anna Amalia und ihrem Freundeskreis herausgegebene Pe­ riodikum nur in elf handschriftlichen Exemplaren kursierte. Die Weimaraner waren jedoch auch als Herausgeber und Mitarbeiter öffentlicher Zeitschrif­ ten aktiv. Wieland rief 1 773 den Teutschen Merkur ins Leben, eine Literatur­ und Kulturzeitschrift, die in vier (später drei) Bänden pro Jahr erschien und unter wechselnden Umständen bis 1 81 0 fortbestand. Der Anteil von Weima­ rer und Jenaischen Beiträgern war hoch, selbst wenn sich der Teutsche Mer­ kur, darin der Tradition der aufklärerischen Publizistik verpflichtet, als ein allgemein zugängliches Organ der deutschen Öffentlichkeit verstand. Zu­ sammen mit dem Weimarer Unternehmer Bertuch, der eine ganze Reihe von bedeutenden Zeitschriften unterschiedlicher Art verlegte, gehörte Wie­ land im Jahr 1 785 auch zu den Mitbegründern der Allgemeinen Literatur-

2.

Literarische Öffentlichkeit und kulturelles Leben 27

Zeitung. Das in jena herausgegebene Blatt brachte sechsmal wöchentlich

Artikel und Rezensionen mit wissenschaftlichem Anspruch. Zu seinen pro­ minenten Beiträgern zählten unter anderem Schiller, Kant, Fichte und die Brüder Schlegel. "Als 1803 die Redaktion nach Halle verlegt wurde [ . . l, .

setzte sich Goethe mit Erfolg für eine Fortsetzung in der Universitätsstadt jena ein, übernahm selbst die Oberleitung, gewann den Altphilologen Hein­ rich Karl Eichstädt als Herausgeber und konnte die neue, so genannte )enai­ sche Allgemeine Literatur-Zeitung' zu hoher Blüte bringen.

fI

(Barth 1971,

87) Ein ganz anderes Gepräge gab Schiller seinen Zeitschriften Thalia (1785; 1786-91, 1792-93) und Die Horen (1795-97), die beide der philosophi­ schen Reflexion der Künste und darüber vermittelt der ästhetischen Erzie­ hung des Menschen dienen sollten. Besonders die monatlich erscheinenden Horen waren von Schiller als Programmschriften der von Weimar und jena

ausgehenden Kunstauffassung und Humanitätsgesinnung geplant. Zwar ge­ wann er für die bei Cotta in T übingen verlegte Zeitschrift hervorragende Mit­ arbeiter - allein das erste Heft versammelte Beiträge von Goethe, Herder, Fichte, Wilhelm von Humboldt, August Wilhelm Schlegel und johann Hein­ rich Meyer - und erreichte zu Beginn auch eine beachtliche Auflage, die sich mit 2000 Exemplaren den ehemaligen Erfolgszahlen des Teutschen Mer­ kur näherte. Doch das hohe Reflexionsniveau der Artikel überforderte das

größere Lesepublikum, während der elitär vorgetragene Kunst- und Erzie­ hungsanspruch all jene Literaturkritiker verärgerte, die noch den Prinzipien der Populäraufklärung anhingen. So mehrten sich die öffentlichen Angriffe auf die Horen und trugen zum Misserfolg der Zeitschrift bei, was Schiller und Goethe ihrerseits zu der heftigen, die persönliche Diffamierung der Gegner nicht scheuenden Polemik der Xenien veranlasste. Aus ähnlichen Gründen scheiterte Goethe mit seiner jährlich erscheinenden Zeitschrift Pro­ pyläen (1798-1800), die sowohl die Produzenten als auch die Rezipienten

der bildenden Künste zum Klassizismus hinführen sollte. Die verkaufte Auf­ lage der Propyläen blieb so gering, dass Schiller sein verächtliches Urteil über den Geschmack des deutschen Publikums, das er vor dem Versuch der Horen ausgesprochen hatte, noch verschärfte (vgl. den Brief an Fichte vom 4. August

1795 und den Brief an johann Friedrich Cotta vom 5. juli 1799,

NA 28, 20ff. und NA 30, 66). Erfolgreicher waren die fünf jahrgänge des von Schiller redigierten Musen-Almanachs (1796-1800). Die Taschenbüchlein enthielten eine Anthologie von neuen Gedichten verschiedener Autoren. Zum ersten Musen-Almanach steuerten neben Schiller unter anderem Goe­ the, Herder, Hölderlin, Matthisson, Kosegarten, Tieck und die Brüder Schle­ gel bei. Der zweite jahrgang konzentrierte sich auf die von Schiller und Goethe verfassten Xenien, der dritte auf ihre Balladen (daher spricht man vom ,Xenien-Almanach' und vom ,Balladen-Almanach/). Nach der Zeitschrift Die Horen und dem Musen-Almanach übernahm Cotta auch die Einzel- und Gesamtausgaben von Schillers Werken in seinen Verlag, die zuvor bei Göschen erschienen waren. Da er sich, vermittelt durch Schiller, 1806 zudem die exklusiven Rechte an Goethes Guvre si­ chern konnte und darüber hinaus einzelne Schriften von Herder und Wie­ land im Programm hatte, wurde er zu dem wichtigsten Verleger der Weima­ rer Klassik.

28

111. Kontexte

3. Diskurse des Wissens:

Philosophie, Anthropologie, Psychologie Der Sturm und Drang und die Weimarer Klassik sind keine isoliert zu be­ trachtenden Epochen. Vielmehr reichen Entwicklungen des 17. und 18. Jahr­ hunderts - den Jahrhunderten der Aufklärung - weit in das 19. Jahrhundert hinein. Diskurse

Dies gilt vor allem für die Ausbildung der verschiedensten Wissensdiskur-

des Wissens

se. Die Rede von ,Diskursen des Wissens' meint dabei nicht nur einzelne wissenschaftliche Disziplinen - etwa die Physik, Chemie oder Biologie -, die sich erst langsam etablierten (vgl. Stichweh 1994), sondern das insge­ samt für den Menschen verfügbare und relevante Wissen. Dieses Wissen kann sowohl in philosophischen und primär wissenschaftlichen Texten als auch in literarischen und anderen nicht-fiktiven Texten und Praktiken seinen Ausdruck finden. Erkenntnistheorie, Anthropologie und Psychologie sind entsprechend auch nicht als Einzeldisziplinen abzuhandeln, sondern be­ zeichnen eher thematische Felder, denen sich die Denker verstärkt zuwen­ den. Auch wenn man diese Felder nicht isoliert voneinander betrachten kann, so zeugen sie dennoch vom Bemühen, im verfügbaren Wissen Gebie­ te abzustecken, die anschließend einer genauen Prüfung unterworfen wer­ den. Ein solcher Wandel kann nicht an einem Datum oder einem singulären Epochenumbruch festgemacht werden. Vielmehr vollzieht sich in der Neu­ zeit, also etwa nach 1500, ein Prozess der zunehmenden Systematisierung von Wissensgebieten (vgl. Blumenberg 1974).

Rationalismus

Der Rationalismus in der Nachfolge des französischen Philosophen, Mathematikers und Naturwissenschaftlers Rene Descartes (1596-1659) reagier­ te auf die "logische Verlegenheit" (Blumenberg 1974, 10), in die er bis zum 17. Jahrhundert geraten war, weil aufgrund des großen Zuwachses an Wis­ sen, dessen Systematisierung durch Klassifizierung immer unübersichtlicher wurde. Der Rationalismus stellte deswegen bald von der Systematik der Be­ stände auf die Systematisierung und Methodisierung des Wissenserwerbs um, bei der die Vernunft und der Verstand zu den leitenden Erkenntnisver­ mögen wurden. Diese beiden Vermögen sollten es ermöglichen, alle Felder menschlichen Wirkens anzuleiten. Die rationalistische Aufklärung hielt mit Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1717) lange daran fest, dass die Welt von Gott als beste aller möglichen Welten vernünftig eingerichtet wurde und die Vernunft daher selbst ein regulatives Prinzip der Natur, auch des Menschen, darstellt. Gemessen an diesem Regulativ war dem Menschen geboten, jene vernunftwidrigen Tendenzen seines Daseins zu zügeln, also Triebe, Gefühle und Unbewusstes als irrational abzuwerten. Es wäre allerdings gänzlich falsch, diesen Rationalismus vorschnell mit der Aufklärung insgesamt zu identifizieren. Lange Zeit wurde auch in der Forschung ,Aufklärung' vorschnell mit einem solchen an Vernunft, Verstand und Logik orientierten Verständnis von Rationalität gleichgesetzt. Seit den 1980er Jahren aber wird im Irrationalen, dem Sinnlichen und Wahnhaften auch die andere Seite der Vernunft als wichtiger Aspekt der Aufklärung gese­ hen (vgl. Kondyles 1981; Böhme/Böhme 1983).

Empirismus

Spätestens mit John Locke (1631-1704) war die empiristische, also erfahrungsgeleitete Aneignung der Welt eine ebenbürtige Option, ja sie geht so-

3. Diskurse des Wissens

gar aus dem Rationalismus mit hervor. Zu unterscheiden sind also ein er­ kenntnistheoretischer und ein empiristischer Rationalismus. Ersterer be­ hauptet vermittels der oberen Erkenntnisvermögen Verstand und Vernunft sich die Natur unterwerfen zu können, letzterer hingegen versteht die Er­ kenntnisvermögen selbst als Elemente von Natur und naturalisiert bzw. bio­ logisiert sie, z. B. im Rahmen der psychologischen Anthropologie, ohne des­ halb natürlich in seiner methodischen Vorgehensweise auf Rationalität ver­ zichten zu können. Beide Richtungen, und darin erweisen sie sich als auf­ klärerisch, führen zu einer "Autonomisierung von Natur, d. h. ihre völlige Emanzipation von Gott" (Kondyles 1981, 59). Die Beherrschung der Natur setzt dabei ein weitgehend mechanistisches Naturverständnis voraus, das die physikalische Welt gänzlich durch das Ursache-Wirkung-Prinzip deter­ miniert sieht. Am radikalsten formulieren ein solch mechanistisch-materialistisches Na­

Französischer

tur- und Menschenbild der französische Philosoph und Arzt Julien Offray de

Materialismus

La Mettrie (1709-1751) in seiner Abhandlung L'hommeMachine(1748),dt. Oie Maschine Mensch, sowie der deutschstämmige Philosoph Paul-Henri

Thiry Baron d'Holbach (1723-1789) mit seinem zweibändigen Werk Sys­ teme de la nature ou des loix du monde physique & du monde moral(1770),

dt. Das System der Natur: Oder von den Gesetzen der physikalischen und moralischen Welt, das aufgrund des darin begründeten Atheismus in Frank­

reich verboten und öffentlich verbrannt wurde. Einer allzu materialistischen ,Entseelung der Natur', wie sie auch Schiller noch in seinem philosophi­ schen Gedicht Der Spaziergang beklagt, versuchen die Autoren des Sturm und Drang einen anderen Naturbegriff entgegenzuhalten, indem sie die menschliche Seele und ihre Leidenschaften zum Modell für Natur machen. Versuchte etwa La Mettrie auch die menschliche Seele mit seinem mecha­ nistischen Naturbegriff zu domestizieren, so streben die Stürmer und Drän­ ger danach, die Natur durch die ,wilde Seele' zu anthropomorphisieren. Goethe beschreibt seine eigene und die Enttäuschung seiner Freunde über die rationalistisch-materialistische Naturauffassung rückblickend in Dich­ tung und Wahrheit: "Ich gedenke statt aller des Systpme de la Nature, das

wir aus Neugier in die Hand nahmen. Wir begriffen nicht, wie ein solches Buch gefährlich sein könnte. Es kam uns so grau, so cimmerisch, so totenhaft vor, daß wir Mühe hatten, seine Gegenwart auszuhalten, daß wir davor wie vor einem Gespenste schauderten. [ . . ] System der Natur ward angekündigt, .

und wir hofften also wirklich etwas von der Natur, unserer Abgöttinn, zu er­ fahren." (MA 16, 523 f.) Goethe nimmt mit Holbach sogleich die gesamte französische Kultur in Haftung, die als starr und tot charakterisiert wird. Der Sturm-und-Drang-Forscher Matthias Luserke hat gegen diese rückblickende Abwertung Holbachs durch Goethe vorgeschlagen, das im System der Natur liegende Anregungspotential näher zu untersuchen, da auch Holbach z. B. über den Naturbegriff eine politische, religiöse und individuelle Emanzipa­ tion befürwortet habe (vgl. Luserke-Jaqui 1997,57-59). Für Goethe, wie auch Herder, wird aber in der Konsequenz England zur neuen Leitkultur. Nicht nur Shakespeare im Bereich der Dichtung konnte ihnen als Gegenmodell zur französischen Tradition dienen, sondern auch die englische, sensualistisch-anthropologische Philosophie mit der Aufwer­ tung von "fancy" und "imagination" schon Anfang des 18. Jahrhunderts

Englischer Senusalismus

29

30

111.

Kontexte etwa bei Shaftesbury (1671-1713), David Hume (1711-1776) oder joseph Addison (1672-1719). In dessen Essay on the Pleasures of the Imagination (1712) sprach er sich wie schon Shaftesbury gegen die alleinige Beschrän­ kung der Erkenntniskräfte auf Verstand und Vernunft aus und erkannte der visuellen Wahrnehmung im Zusammenspiel mit der Einbildungskraft eine, wenn auch qualitativ zu unterscheidende, so doch unmittelbare und eviden­ te Erkenntnisleistung (des Ästhetischen) zu.

Erfahrung: Wahrnehmung! Experiment

Mit England konnte auch ein empiristisches Wissenschaftsmodell in Ver­ bindung gebracht werden, das kaum mehr Einschränkungen seiner Gegen­ standsbereiche kennt, ist es doch erklärtes Ziel, alle Phänomene zuerst zu registrieren und dann induktiv zu ergründen, anstatt sie deduktiv zu erklä­ ren. Der Erfahrungsbegriff erfährt aber sehr bald eine weitere Ausdifferen­ zierung. Unterschieden wird nämlich zwischen Wahrnehmung und Beob­ achtung auf der einen Seite und Experiment auf der anderen. Wahrnehmung meint dabei die unmittelbare Sinneswahrnehmung,

Beobachtung eine

durch Instrumente vermittelte. So konnten die Sterne durch das Auge wahr­ genommen, aber durch ein Fernrohr beobachtet werden. Im Experiment hingegen wird das Objekt der Erfahrung bewusst aus seinem Normalzu­ stand gebracht und unter diesen neuen Bedingungen beobachtet (Zelle 2001, 93-97).

Empirie vs. Theologie

Unbestreitbar gibt es seit dem 17. jahrhundert durch die Empirisierung des Wissenserwerbs einen exponentiell ansteigenden Zugewinn an wichti­ gen Erkenntnissen über die Natur, die mit dazu beitrugen, dass die theologi­ sche Systematik der Welt zunehmend in Erklärungsnöte geriet. Die langsame Infragestellung von religiösen Dogmen, vor allem der Auffassung, in Gott lie­ ge der Zusammenhang der Ordnung der Dinge (letzt)begründet, bedeutet zugleich eine größere Selbstverantwortung des Menschen für sich. So war es eine geradezu notwendige Folge, dass die oft wiederholte Leitforderung der Aufklärung nach der Selbstbestimmung des Menschen nicht nur die emanzi­ patorische Befreiung aus metaphysischen und politischen Herrschaftsver­ hältnissen meinte. Das "Sapere aude!" (Habe Mut zu denken/zu wissen!), das Immanuel Kant in seinem berühmten Aufsatz Was ist Aufklärung? (1784) den Zeitgenossen zurief, sollte zunächst die Aufmerksamkeit des Menschen auf sich selbst, seine Möglichkeiten, Vermögen, Rechte und Pflichten, len­ ken. Der Mensch wurde damit zugleich Subjekt und Objekt seiner Erkennt­ nis. An die Stelle der Letztbegründung aller Existenz durch Gott setzte sich nun der Mensch selbst mit seiner reflexiven Vernunft. Eine Setzung, die sich dadurch legitimiert, dass sie die Erlösungserwartung der Religion in ein in­ nerweltliches Fortschrittversprechen verwandelte. Die Aufklärung verspricht die PerfektibiI ität, d. h. die Vervollkommnung des Menschen in der Ge­ schichte. Die Selbstaufklärung des Menschen ist für diesen Prozess keines­ wegs nur ein reflexives Moment, sondern die vorwärtstreibende Kraft. In die­ ser doppelten Funktion, reflexiv und zugleich progressiv zu sein, liegt der ra­ sante Aufstieg der Humanwissenschaften im 18. jahrhundert begründet, denen Kant in der Kritik der reinen Vernunft (1781) drei Grundfragen zur Be­ antwortung aufträgt: 1. Was kann ich wissen? 2. Was soll ich tun? 3. Was darf ich hoffen? (Kant 1977b, 677 f.).

3. Diskurse des Wissens

Der französische Philosoph Michel Foucault hat Recht, wenn er - wie Kant übrigens selbst in einem Brief vom 4. Mai 1793 an den Göttinger Theologen Carl Friedrich Stäudlin - festhält, dass die eigentliche Frage, auf die Kant zie­ le, die Grundfrage des 18. und 19. Jahrhunderts sei: Was ist der Mensch? (Foucault 1974,410). Diese Grundfrage führt Ende des 18. Jahrhunderts zu einer neuen Mo­ dewissenschaft: der Anthropologie (die Lehre vom Menschen), so dass Her­ der - etwa in Humes Treatise of Humane Nature (1739) - die Philosophie

Die neue Wissenschaft: Anthropologie

bereits als Leitdisziplin in Frage gestellt sieht, "wenn unsre ganze Philoso­ phie Anthropologie wird" (FAH 1, 134). Die unterschiedlichen Ansätze las­ sen sich dabei kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Gemeinsam aber ist ihnen doch, dass der Mensch als Ganzes in den Blick genommen wurde. Anthropologie war zunächst vor allem empirische Psychologie als "Wissenschaft von den allgemeinen Prädikaten der Seele", wie sie schon Alexander Gottlieb Baumgarten (1714-1762) in seiner Metaphysica (1739) bestimmt hatte (Baumgarten 1983, 3). 1772 publiziert der philosophische Arzt Ernst Platner (1744-1818) seine Schrift Anthropologie für Aertze und Weltweise, in der er das seit Leibniz und Christian Wolff (1679-1754) dis­

kutierte Verhältnis von Seele und Körper als eine psychophysiologische Wechselbeziehung von Leib und Seele (commercium mente et corporis) in­ terpretiert und die Anthropologie zu einer Leitdisziplin ausbaut. Weil der Empirismus, auch als methodisches Verfahren der Naturwissen­ schaften, vor allem auf die menschliche Wahrnehmung angewiesen ist, ent­

Hierarchie der Erkenntnisvermögen

wickelt sich von hier aus in mehreren Stufen eine Anthropologie, die die alte hierarchische Einteilung der Erkenntnis in obere (Vernunft, Verstand) und un­ tere Vermögen (Sinne, Begehren, Einbildungskraft) ablehnt. Lange war näm­ lich den unteren Erkenntnisvermögen allenfalls ,dunkle' bzw. ,undeutliche' Erkenntnis zugestanden worden, wohingegen das Licht der Vernunft (Auf­ klärung!) für klares und deutliches Wissen sorge. In Deutschland ist es der Philosoph Alexander Gottlieb Baumgarten, der die systematische Aufwer­ tung der unteren Erkenntnisvermögen in seiner Schrift Aesthetica (1750/58) vornimmt. Er rechtfertigt sein Unternehmen damit, dass ein Philosoph "ein Mensch unter Menschen" sei, "und es ist nicht gut, wenn man glaubt, ein so bedeutender Teil der menschlichen Erkenntnis vertrage sich nicht mit seiner Würde" (Baumgarten 1988,5). Anders als noch Baumgarten, der die unteren Erkenntnisvermögen als

Rehabi I itierung

Analogon der oberen beschreibt, weil beide "Vorstellungen" erzeugten,

der Sinnlichkeit

wird bereits einige Jahre später durch Johann Georg Sulzer (1720-1779) der Bereich der Vorstellungen und des Denkens ganz vom Bereich der "Empfin­ dungen" getrennt, wie bereits der Titel der 1763 erscheinenden Schrift An­ merkung über den verschiedenen Zustand, worinn sich die Seele bey Aus­ übung ihrer Hauptvermögen, nämlich des Vermögens, sich etwas vorzustel­ len und des Vermögens zu empfinden, befindet deutlich wird. Herder nimmt

in der Beantwortung einer Preisfrage der Berliner Akademie der Wissen­ schaften zum Verhältnis von Erkennen und Empfinden, der er den Titel Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele (1778) gibt, diese Tren­

nung dann auf, leitet nun aber das Erkennen aus der Empfindung ab, nicht umgekehrt. Damit zielt er erneut auf eine Einheit der Seelenkräfte, "die jetzt von unten nach oben aufgebaut wird" (Riedel 1994, 416). Sulzer aber hatte

31

32 111. Kontexte mit der Trennung von Erkennen und Empfinden das Problem des freien Wil­ lens aufgeworfen. Empfindungen haben ist ein passiver Vorgang, der auf den Mensch wirkt und ihn beeinflusst, ohne dass er selbst in der Lage wäre, diese zu steuern. In der Schrift von 1763 bestimmt er sie als "uneigentliche Hand­ lungen der Seele", kurz "Leidenschaften" (ebd., 419). Dies betrifft aber kei­ neswegs nur den Bereich der Seele, denn die Anthropologie des 18. Jahrhun­ derts ist (fast) immer Psychophysiologie, d. h. sie beschäftigt sich mit den Auswirkungen körperlicher Prozesse auf den Nervenapparat sowie die Seele und umgekehrt (Influxionismus). Je stärker die Sinneseindrücke sind - Sulzer etwa spricht von ,Schlägen' und ,Stößen' - je stärker wird das Nervensystem und in der Folge der ganze Körper in Mitleidenschaft gezogen und die Frei­ heit der eignen Handlung in Frage gestellt. J. G. Krügers Experimental­ seelenlehre

Den Zusammenhang zwischen seelischen und körperlichen Prozessen macht der philosophische Arzt, Professor für ,Artzneygelahrtheit und Welt­ weisheit' in Halle, Johann Gottlob Krüger (1715-1759) mit seiner Schrift

Versuch einer Experimental

=

Seelenlehre (1756) zu einer eigenen Disziplin,

der "Erfahrungsseelenkunde". Krüger plädiert entsprechend der verfügbaren Bestimmung von "Experiment" für eine absichtsvolle Veränderung der im Normalzustand ausgewogenen Einheit von Körper und Seele. Durch eine außerordentliche Veränderung des körperlichen Zustandes, können, so Krü­ ger, Phänomene der Seele beobachtet werden, die sonst verborgen blieben. Da Krüger aber vor Menschenversuchen warnt, schlägt er vor, diese entwe­ der an Kriminellen, denen damit das Menschenrecht abgesprochen wird, an Tieren oder mittels von Fallstudien zu betreiben, für die ein Magazin, eine Datenbank aufgebaut werden müsse, um an extraordinären Seelenzustän­ den den Zusammenhang mit der physischen Konstitution erforschen zu kön­ nen. Krügers eigene ethische Bedenken gegen eine rein experimentelle See­ lenkunde lassen ihn letztlich für die Methode der Fallstudien argumentieren. Damit aber räumt Krüger der (literarischen) Darstellung dieser Krankheitsfäl­ le einen gewichtigen Platz ein. Körperzeichen: Lavaters Physiognomik

Im Schlagschatten der anthropologischen Wende der Aufklärung entwirft der Schweizer Pfarrer Johann Caspar Lavater (1741-1801), der früh Kontakt zum Straßburger Kreis um Herder und Goethe knüpft, eine seit der Antike bekannte Disziplin neu, die sogenannte Physiognomik. Wie bereits die em­ piristische Psychophysiologie von Krüger, so behauptet auch die Physiogno­ mik einen Zusammenhang zwischen seelischen und körperlichen Prozes­ sen, geht sogar noch einen Schritt darüber hinaus, indem sie postuliert, See­ lenzustände ließen sich direkt aus der menschlichen Mimik ablesen, das menschliche Antlitz sei sogar ein lesbares Zeichen für die individuelle Cha­ rakterdisposition einer Person. Mit seiner vierbändigen Schrift Physiognomi­

sche Fragmente (1775-1778), zu der auch Goethe eine Zugabe beisteuert, versucht Lavater die bei den Aufklärern in Misskredit geratene Lehre einer Entzifferung innerlicher Gemütszustände anhand der äußerlichen Gestalt des Körpers (Lineamenten-Lehre) auf eine neue Grundlage zu stellen. Der genuine und vielleicht für den Sturm und Drang entscheidende Beitrag Lava­ ters besteht in seiner Theorie des Individuums (Pabst 2007, 24). Für Lavater ist es der "erste, tiefste, sicherste, unzerstörbarste Grundstein der Physiogno­ mik, daß bey aller Analogie und Gleichförmigkeit der unzähligen mensch­ lichen Gestalten, nicht zwo gefunden werden können, die, neben einander

3. Diskurse des Wissens 33

gestellt und genau verglichen, nicht merkbar unterschieden wären." (Lavater

1968,45). Gleiches gilt für den "Gemüthscharakter". Lavater will nun die äußere und innere Individualität in ein Entsprechungsverhältnis setzen. Lavater nimmt an, dass der innere Körper vom Moment der Zeugung an

Präformationslehre

die Gestalt präformiert, also bestimmt. Der äußere Körper ist Ausdruck der Entfaltung des inneren Körpers und so wesentlich präformiert. Damit be­ hauptet er eine physische Repräsentation der Seele und schafft die Voraus­ setzung für ihre Lesbarkeit über die Körpergestalt. Konnte Lavater über die Präformationstheorie zwar die Individualität des Menschen als Urgesetz seiner Existenz verstehen, so bildet sie keine Brücke für eine moralische Bewertung dieser Individualität bzw. eine moralische Hierarchisierung von Körperzeichen. Dazu übernimmt er von Leibniz die Idee einer Stufenleiter der Wesen, die ihnen in der Schöpfung ihren Platz zu­ weist. Diese Leiter führt auf einen höchsten Punkt zu. Da die Stufenleiter der Wesen als Ausdruck des Schöpfungsplanes Gottes gedeutet wird, kann Lava­ ter nun physische Differenzen auch moralisch differenzieren: je niedriger die Stufe, auf die ein Individuum gesetzt wird, desto zweifelhafter seine Mo­ ralität. Die Stufenleiter der Wesen wirft aber für das Individuum zugleich ein Problem auf. Denn bei entsprechend präformierter Anlage, die sich in der individuellen Gestalt zeigt, bleibt wenig Spielraum für persönliche Freiheit. Wer ganz in seinem Wesen bestimmt ist, dem kann diese Bestimmung auch als Entschuldigung für amoralisches Handeln dienen. Muss Lavater also einerseits eine Systematisierbarkeit und Rubrizierung von Gestalt- und Mo­ raltypen vorschlagen, um die Physiognomik als Wissenschaft im Sinne der Naturgeschichte konzeptualisieren zu können, so hebelt eine solch starke Determination des Individuums andererseits die moralische Klassifizierung aus, weil Moral nicht ohne Freiheit zu denken ist. Lavater versucht dem Problem zu entgehen, indem er die wissenschaftli­ che Physiognomik nur als einen Schritt zu einem ganz neuen Verständnis der Menschen untereinander sieht. Ist einmal das Geschäft der physiognomi­ schen Klassifizierung abgeschlossen und den Menschen in Fleisch und Blut übergegangen, so kann sie als Wissenschaft abgelöst werden von einer so­ zialen Utopie, in der Gefühl und Empfindung das gegenseitige Verstehen ga­ rantieren. "Je mehr indeß die Beobachtung sich verschärft; die Sprache sich berei­ chert; die Zeichnungskunst fortschreitet; - der Mensch, das Nächste und Beste dieser Erden, den Menschen studiert- desto wissenschaftlicher, das ist, desto bestimmter, desto lernbarer, und lehrbarer wird die Physiogno­ mik. - Sie werden die Wissenschaft der Wissenschaften, und dann keine Wissenschaft mehr seyn - sondern Empfindung, schnelles Menschenge­ fühl !" (Lavater 1968, 55) Die Einsetzung des Gefühls als zentrales Verstehensvermögen, die Theorie des Individuums und die Zurückweisung einer rationalen Wissenschaftlich­ keit boten für die Stürmer und Dränger zentrale Anknüpfungspunkte, so wenn etwa im ungefähr zeitgleich entstehendem Urfaust von Goethe sich die Gelehrtenkritik mit einer Theologie des individuellen Gefühls verbindet. Der seinem dunklen Studierzimmer entflohene Faust antwortet auf die Gret­ chen-Frage: "Wie hast du's mit der Religion?" (Y. 1107): "Und wenn du im

Physiognomik als Verstehenslehre des Gefühls

34 111. Kontexte Gefühle seelig bist, / Nenns Glük! Herz! Liebe! Gott! / Ich habe keinen Nah­ men / Dafür. Gefühl ist alles" (Vv. 1144-1148).

Kar! Philipp Moritz

Karl Philipp Moritz kritisierte 1782 mit seiner Rede Aussichten einer Expe­ rimentalseelenlehre Lavaters Ansatz zur Entzifferung der Seele, denn: "Daß das Gepräge der Seele von dem Gesichte des Menschen schon früh ver­ wischt wird, daß sein Ton und seine Mienen schon so früh die selige Über­ einstimmung mit Gedank und Empfindung verlernen; dies ist es, was den Blick des Beobachters hemmt." (Moritz 1981, 87) Moritz sah in dem Schei­ tern des physiognomischen Ansatzes bei Lavater die Notwendigkeit einer Ex­ perimentalseelenlehre begründet, die sich zunächst aller Interpretation zu enthalten habe und rein beschreibend verfahren müsse. Er knüpfte also im Begriff und im Ansatz an Krügers Seelenlehre an. Da auch er, wie Krüger, moralische Bedenken gegen tatsächliche Menschenversuche hatte, nahm er dessen Anregung auf, ein Magazin zu gründen, in dem alle möglichen Arten von Fallgeschichten, idealerweise "Beobachtungen aus der wirklichen Welt" (ebd., 90) zu versammeln seien. Ein solches Magazin wäre "dem Seel­ sorger, dem Richter, dem Arzt und vorzüglich dem Schriftsteller des mensch­

I ichen Herzens unentbehrlich" (ebd., 91). Magazin für

Moritz setzte seinen Plan bald in die Tat um. 1783 gründet er die Zeit­

Erfahrungs­

schrift Gnothi sauton oder Magazin zur Erfahrungsseelenkunde. Das griechi­

seelenkunde

sche "Erkenne dich selbst!" stellte das Projekt ganz in den Rahmen der auf­ klärerischen Anthropologie. Beachtung verdient auch der Begriffswechsel zu "Erfahrungsseelenkunde", zu dem der Philosoph Moses Mendelssohn ge­ raten hatte, trifft doch dieser auf den Aspekt von Erfahrung als Beobachtung weit besser zu als die zuvor verwendete Bezeichnung Experimentalseelen­ lehre. Das Magazin "soll das Mannigfaltigste von den äußern Erfahrungen unsers Wesens sammeln, und es für den Denker und Forscher aufbewahren". Moritz zielte auf eine wechselseitige Befruchtung von Erfahrung und Refle­ xion: "die Erfahrungen sollen freilich durch Nachdenken geleitet, das Nach­ denken aber auch wechselseitig durch die Erfahrung berichtigt werden" (Moritz 1986b, 9). Wenn Moritz die Rubriken seines Archivs einteilt in "See­ lennaturkunde", "Seelenkrankheitskunde", "Seelenzeichenkunde", "Seelen­ diätätik" und "Seelenheilkunde" und "Sprache in psychologischer Hinsicht", dann deutet sich ein weiteres Ziel an. Nicht nur die Sammlung und Analyse von Seelenphänomenen war beabsichtigt, sondern auch die Behandlung ,kranker' Seelen. Eine Heilung "muß das verletzte Verhältnis zwischen See­ lenfähigkeiten, wo möglich, wieder herzustellen suchen" (ebd., 31).

Psychophysiologie und Ästhetik

Die Psychophysiologie oder auch Psychopathologie, wie sie im 18. Jahr­ hundert entworfen wurde, hatte auch für die Ästhetik Konsequenzen, weil es Grundüberzeugung des 18. Jahrhunderts war, dass Dichtung Affekte erzeugt. Hier konvergieren u. a. Aristoteles' Katharsis-Lehre mit einer elaborierten Af­ fektenlehre im 18. Jahrhundert (Rothschuh 1978). Dabei wird die Regel übernommen: Je heftiger, je unverhältnismäßiger diese Affekte auf den Rezi­ pienten einwirken, desto "gefährlicher" werden sie. Andersherum lässt sich ein ästhetisches Programm, das auf Symmetrie, Einheit und Form zielt, wie jenes der Klassik, auch als Versuch einer Diätetik der Seelenkräfte lesen, die in einem Equilibrium gehalten werden sollen. Eine ähnliche Gedankenfigur findet sich auch in Moritz' ästhetischer Hauptschrift Über die bildende

Nachahmung des Schönen (1788).

3. Diskurse des Wissens

Sind die Bezüge zwischen wissenschaftlichem Diskurs und Literatur auch kaum zu übersehen, so ist es doch ein Dichter und politischer Philosoph, der

Jean-Jacques Rousseau

zum Gewährsmann für die Aufwertung von Dichtung als Erkenntnis der affektiven Vermögen sowie einer politischen Interpretation des Naturbegriffs wurde. Mit seinen Romanen Julie ou La Nouvelle Heloise: ou lettres de deux amants, habitants d'une petite ville au pied des Alpes (1761) und Emile ou de I'education (1762) hatte der in Genf aufgewachsene Philosoph, Dichter

und Pädagoge Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) der Entfesselung der Gefühle und Leidenschaften (unter moralischer Begleitung) bereits literarisch vorgearbeitet. Sein philosophisches Werk enthält eine grundlegende Kritik an der aufgeklärten Zivilisation, die nach Rousseau die Natur des Menschen in starre Verhaltenskonventionen zwinge und die Ausbildung zum ganzen Menschen verhindere. Der Mensch ist, darin besteht die Grundprämisse der Rousseauschen Anthropologie, von Natur aus gut. Erst die Errungenschaften der Zivilisation, die (notwendige) Gesellschaft­

Kulturkritik

lichkeit des Zusammenlebens verwandeln ihn in ein am Eigennutz orientier­ tes und sich beständig verstellendes Wesen (vgl. Bollenbeck 2007, 22-76). Rousseau hatte hier offenbar das gesellschaftliche Treiben unter der Etikette am französischen Königshof vor Augen. Er forderte daher eine ,Rückkehr zur Natur', was zunächst hieß, Begriffe wie Herz, Gefühl und Leidenschaft neben der Vernunft und dem Verstand zu rehabilitieren. Natur kann dann kein allein durch Ursache und Wirkung bestimmter Mechanismus mehr sein, wie noch bei La Mettrie und Holbach. Die Seele des Menschen ist Natur und die Natur wird zur Projektionsfläche der menschlichen Seele. Rousseaus Idealbild der Natur wurde bald aus seinem konkreten Verwendungszusammenhang gelöst und zur Formel all jener, die in Natur und Gefühl die Erlösungsutopie einer durch Kultur verstellten und depravierten Menschheit sahen. In seinem Hauptwerk Du contrat social ou Principes du droit politique

(1762), dt. Vom Gesellschaftsvertrag oder Prinzipien des Staatsrechtes, konstruiert Rousseau einen Naturzustand, in dem alle Menschen frei und gleich leben. Um überleben zu können, ist der Mensch als Mängelwesen darauf angewiesen, Gemeinschaften zu bilden. Ist der Zustand natürlicher Freiheit aber auch durch das Recht des Stärkeren gekennzeichnet, so muss es Aufgabe einer Gesellschaftstheorie sein, eine Form der Gemeinschaft zu begründen, die den Einzelnen "verteidigt und schützt und durch die doch jeder, indem er sich mit allen vereinigt, nur sich selbst gehorcht und genauso frei bleibt wie zuvor" (Rousseau 2006, 17). Eine solche Form wird durch den sogenannten Gesellschaftsvertrag (contrat social) begründet. Der Vertrag gründet sich auf den Gemeinwillen (volonte generale), der das Wohl aller will und daher mehr ist als die Summe der Einzelinteressen, aber auch über den Begriff der demokratischen Mehrheit hinausgeht. Da niemand sicher sein kann, stets selbst der Stärkste zu sein und so im Stande der natürlichen Freiheit seine Interessen durchsetzen zu können, treten alle dem Vertrag freiwillig bei, da er die natürliche Freiheit nicht aufhebt, sondern in die Rechtsform einer idealen bürgerlichen Gesellschaft überführt. Dies war auch der Grund, warum die Schrift in Frankreich sofort verboten wurde. Anders als in der politischen Philosophie des John Locke gibt es bei Rousseau keinerlei Legitimationsbasis mehr für eine absolutistische Monarchie, wie sie in Frankreich, aber auch in Teilen Deutschlands herrschte.

Natur als Politikum

35

36 111. Kontexte Es war die Verbindung von Natursehnsucht einerseits und politischer Emanzipation in der Idee eines freien und gleichen Bürgertums andererseits, die für die Stürmer und Dränger anschlussfähig war. Der Name Rousseau wurde zur "Kristallisationsfigur des Naturenthusiasmus und Exempelfigur für Lebensreform und moralische wie gesellschaftlich-politische Erneuerung", so dass man auch vom "Rousseauismus" am Ende des 18. Jahrhunderts spricht (Link-Heer 1992, 1088). In seiner Ode Rousseau (1. Fassung 1778) präsentierte Schiller diesen vermittels eindeutiger Schlagworte (Genie, Pro­ metheus, das Titanenhafte) denn auch geradezu als Stürmer und Dränger. Die Hinwendung zu und das Interesse der Stürmer und Dränger an patholo­ gischen Figuren mit ihren Wahnzuständen, ihren Gewaltexzessen, der Auf­ wertung des Ästhetischen jenseits moralisierender Instrumentalisierung poe­ tischer Rede, all dies ist ohne die "Rehabilitierung der Sinnlichkeit" (Kondy­ les 1981, 19) nicht zu verstehen. Zeigt sich aber bei Rousseau bereits eine anthropologische Dialektik von Gefühl und Vernunft, so gilt dies auch für seine Rezeption im Sturm und Drang. Rousseau wie die Denker des Sturm und Drang stehen nicht außerhalb der Aufklärung, wie die ältere Forschung meinte, sondern sind im Bemühen, das Verhältnis von Vernunft und Sinn­ lichkeit, von Moral und Gewalt, von Liebe und Trieb neu auszuloten, selbst ein genuiner Teil der Aufklärung als ,polemische Epoche' (vgl. ebd., 19-35) und nicht ihr Gegenpart. Der Sturm und Drang ist mit einer Formulierung des Literaturwissenschaftlers Gerhard Sauder zugleich "Dynamisierung und Binnenkritik der Aufklärung" (Sauder 1984, 332). Natur und

Die Rousseau entwendete Formel vom "Zurück zur Natur" führte auch zu

Geschichte

einer intensiven Auseinandersetzung, ob es überhaupt möglich sei, vom Standpunkte der reflektierten Kultur wieder in einen naiven Naturzustand zurückzukehren bzw. ob es einen solchen Naturzustand je gegeben habe und wenn, wann dieser historisch anzusetzen sei. Dabei wurde übersehen, dass der Naturzustand bei Rousseau eher den Status eines fiktiven Gedan­ kenspiels hat, um seine Vertragstheorie zu rechtfertigen. In seinem ge­ schichtsphilosophischen Gedicht Oie Götter Griechenlands, wie auch in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtkunst erteilte Schiller der Möglichkeit einer realen Rückkehr in diesen Idealzustand eine klare Ab­ sage. Die Kunst wird für ihn aber zum Medium, in dem dieser Zustand erin­ nert werden kann. In der Moderne, so Schiller, kann nur durch die ästheti­ sche Erziehung der ,zerstückte' Mensch sich wieder zum ganzen Menschen ausbilden, da nur die Kunst sowohl höhere als auch niedere Erkenntnisvermögen, Vernunft und Sinne, gleichermaßen anspricht und in Bewegung setzt.

Schillers

Dabei steht auch der junge, angehende Mediziner Friedrich Schiller wäh­

Anthropologie und

rend seiner Ausbildung an der Hohen Karlsschule in Baden von 1773 bis

die Philosophischen Briefe

1780 unter dem Einfluss psychophysiologisch argumentierender Ärzte und Philosophen. Seine Dissertationen (1779/80t wie auch seine Philosophischen Briefe (1786) sind wesentlich vor diesem Hintergrund zu sehen (Rie­ dei 1985). In den Philosophischen Briefen, die 1786 in der von Schiller ge­ gründeten Zeitschrift Thalia in der Form eines philosophischen Briefromans erschienen, aber nicht fortgesetzt wurden und deren Entstehung wohl bis

1778 in die Entstehungszeit der Räuber zurückreicht, sehen wir den jungen Friedrich Schiller mit den Konsequenzen der Anthropologie-Diskussion rin­ gen, wenn gegen den französischen Materialismus eines La Mettrie und ge-

3.

Diskurse des Wissens 37

gen eine gänzlich antimetaphysische Bestimmung des Menschen Stellung bezogen wird. Die Briefe bilden gleichsam ein ideengeschichtliches wie auch werkgeschichtliches Scharnier zwischen Sturm und Drang und Klassik. Ohne dass es hier wie in den Kallias-Briefen (1793) oder in Über die ästhe­ tische Erziehung des Menschen (1795) schon ausbuchstabiert würde, so

wird in den Philosophischen Briefen die Idee einer , Vervollkommnung durch Schönheit' vorbereitet. Am Ende der Abhandlung fragt einer der beiden briefwechselnden Jüng­ linge, Julius: "Was ist die Summe von allem bisherigen?" (FAS 8, 228) Seine Antwort markiert nun prägnant die Scharnierfunktion des Textes zwischen

Übergang zur Philosophie der Weimarer Klassik

der Anthropologie des Sturm und Drang und der späteren Klassik. "Laßt uns Vortrefflichkeit einsehen, so wird sie unser. Laßt uns vertraut werden mit der hohen idealischen Einheit, so werden wir uns mit Bruder­ liebe anschließen an einander. Laßt uns Schönheit und Freude pflanzen, so ernten wir Schönheit und Freude. Laßt uns helle denken, so werden wir feurig lieben. Seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkom­ men ist, sagt der Stifter unsers Glaubens. Die schwache Menschheit er­ blaßt bei diesem Gebote, darum erklärte er sich deutlicher: liebet euch unter einander." (Ebd., 228) Die Philosophischen Briefe zeigen Schiller einerseits noch tief verwurzelt in der psychophysiologischen Diskussion des 18. Jahrhunderts und sind ande­ rerseits der Versuch, den Sturm-und-Drang-Schlagworten Natur, Genie, Ge­ fühl eine philosophische Begründung zu geben, um damit dem rein theti­ schen Gestus zu entkommen. Mit dieser reflektierenden Geste aber markiert er bereits den Unterschied zu den Stürmern und Drängern der ersten Gene­ ration und ihrer dezidierten Theoriefeindlichkeit. Dem entspricht die Zwit­ terform des Briefromans, der hier zugleich literarische Gattung und philoso­ phische Abhandlung sein will. Auch werkgeschichtlich bilden die Briefe den - leider oft übersehenen oder unterschätzten - Übergang zur philosophi­ schen Phase Schillers in den 1790er Jahren, in der er die hier angelegte Theorie der Bildung durch Schönheit und Form ausbaut und damit die theo­ retische Grundlage für die Weimarer Klassik legen will. Die Autonomieästhetik der Weimarer Klassik ist letztlich eine konsequen­ te Weiterführung der anthropologischen Wende des 18. Jahrhunderts, indem

Autonomieästhetik und Anthropologie

sie Sinnlichkeit und die Vernunftbegabung des Menschen, aus der seine Frei­ heit hervorgeht, zusammenzudenken versucht. Der Mensch, darin sind sich Goethe und Schiller einig, darf weder auf seine Naturhaftigkeit, seine Triebe oder seine Sinne reduziert werden, weil er dann Sklave der Natur bliebe, noch die Vernunft dazu gebrauchen, sich die Natur gewalttätig zu unterwer­ fen. In den Briefen findet Schiller letztlich noch keine befriedigende Lösung für das Vermittlungsproblem von Sinnlichkeit einerseits und Rationalität an­ dererseits. Unmittelbar darauf wendet er sich zu Beginn der 1790er Jahre den Schriften Immanuel Kants zu, von denen er entscheidende Impulse für seine theoretischen Schriften zur Ästhetik erhält. Die epochemachende Leistung Kants besteht in seinen drei großen Kriti­ ken. Mit der Kritik der reinen Vernunft (1781/87), der Kritik der praktischen Vernunft (1788) und der Kritik der Urteilskraft (1790) hat er die Philosophie

Immanuel Kants kritische Philosophie

38 111. Kontexte neu begründet und einen Ausweg aus der Gegenüberstellung von Rationalis­ mus und Empirismus/Skeptizismus gefunden. Einheit

Ziel Kants ist die Philosophie als systematische Wissenschaft zu konzipie­

der Vernunft

ren, die einheitlich ist und in der Verstand und Sinne ergänzende Vermögen der einen einheitlichen Vernunft sind. Vernunft ist für Kant zunächst einmal das Vermögen, sich unabhängig vom Bereich der sinnlichen Welt zu ma­ chen, sich nicht durch sie determinieren zu lassen. ,Kritik der reinen Ver­ nunft' heißt dann nach Prinzipien zu suchen, die unabhängig, also rein, von aller Erfahrung sein können bzw. diese überhaupt erst begründen können. Kant stellt also die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfah­ rung überhaupt. Die ,Kritik der praktischen Vernunft' ist hingegen auf den praktischen Gebrauch der Vernunft für das Handeln ausgerichtet und sucht nach von anderen Bestimmungsgründen wie Trieben, Leidenschaften und Bedürfnissen unabhängigen, durch die Vernunft selbst gegebenen Gesetzen, die unser moralisches Handeln leiten sollen. Das Vermögen nach Gesetzen zu handeln, nennt Kant "Wille", der den Menschen vom Tier trenne. In sei­ nem System der Philosophie können daher verschiedene Zuständigkeitsbe­ reiche angegeben werden. Die einheitlich gedachte Vernunft hat zwei Hauptgegenstände: Natur und Freiheit. Mit dem Begriff Natur meint Kant eine Erkenntnis, die sich auf alles richtet, "was da ist", Freiheit hingegen be­ zeichnet das Gebiet der Moralphilosophie, das Sittengesetz, das angibt, "was sein soll" (Kant 1977b, 701). Damit übernimmt Kant die übliche Eintei­ lung der Philosophie in eine theoretische und eine praktische. Hatte Kant die Bedingungen für jene in der Kritik der reinen Vernunft dargelegt, so für diese in der Kritik der praktischen Vernunft.

Kritik der

In der ersten Kritik widerspricht Kant der rationalistischen These, dass zur

reinen Vernunft

Erkenntnis allein der Verstand nötig sei, weil so die große Bedeutung der Sin­ ne für die Erkenntnis geleugnet werde. Zugleich aber weist er die empiristi­ sche Annahme zurück, die nicht nur behauptete, die Erkenntnis ginge aus den sinnlichen Erfahrungen hervor, sondern sei selbst sinnlich, also wahr­ nehmbar. Diese Ansicht, so Kant, sei in sich widersprüchlich, da sie selbst ein Ergebnis eines kognitiven Aktes sei. Der Empirismus sei ohne Begriffe des Verstandes, die aller Erfahrung vorausgehen - er nennt diese Begriffe a

priori im Gegensatz zu Begriffen a posteriori - schlicht nicht denkbar. Kant gesteht also der Sinnlichkeit zu, ein eigenständiges Erkenntnisvermögen zu sein, das aber ohne die reinen, von Erfahrung unabhängigen Verstandesbe­ griffe und -kategorien nicht auskommt. Kant prägt dafür die Formel: "Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Be­ griffe sind blind. [ . . ] Nur daraus, daß sie sich vereinigen, kann Erkenntnis .

entspringen." (Kant 1977b, 97 f.) Transzendentale

Kant zeigt nun in der ersten Kritik, dass eine reine Erkenntnis unabhängig

Fragestellung

von der Erfahrung schlechterdings unmöglich ist. Zugleich legt er aber auch die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung - Kant nennt diese "trans­ zendental" - offen, die eine Erkenntnis von Dingen an sich unmöglich ma­ chen. Alle Erfahrung folgt den Formen unserer Anschauung, Raum und Zeit, die selbst unabhängig von Erfahrung sind, also Prinzipien a priori darstellen.

Kritik der praktischen Vernunft

In der zweiten Kritik, die insbesondere auf der Schrift Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) aufbaut, wiederholt Kant die Unterscheidung

3. Diskurse des Wissens 39

von empirisch Bedingtem und Unbedingtem. Der bedingte Wille lässt sich von Trieben, Wünschen, Ängsten und Bedürfnissen beeinflussen, der unbe­ dingte, reine Wille nicht. Kant insistiert darauf, dass die praktische Vernunft nur eine reine sein kann, da der Begriff der Freiheit schlechterdings unver­ träglich mit der Vorstellung empirischer Bedingtheit sei, "weil sie die Bedin­ gung des moralischen Gesetzes ist" (Kant 1977a, 108). Damit setzt sich Kant bewusst in Gegensatz zu vielen anthropologischen Denkern seiner Zeit, die ja gerade die Bedeutung und den Einfluss der unteren Seelenkräfte auf das menschliche Handeln beschrieben hatten. Kant geht es aber nicht um eine beschreibende Analyse menschlichen Verhaltens, sondern um die normative Setzung und Herleitung gültiger moralischer Prinzipien. Dieses Sittengesetz findet Kant im kategorischen Imperativ. Da der Mensch eben kein reines We­ sen ist - das gesteht er den empirischen Psychologen zu -, bedarf es eines Gebotes, das die Einhaltung des Sittengesetzes einfordert. Die Form eines solchen Gebotes nennt Kant ,Pflicht'. Nach Kant kann das Subjekt auf drei­ erlei Arten seine Pflicht erfüllen. 1. Pflichtbefolgung aus bloßen Eigeninteresse 2. Pflichtbefolgung aus Neigung und Sympathie

3. Pflichtbefolgung, weil man die Pflicht als solche anerkennt Kant erkennt nur der dritten Form das Prädikat moralisch zu. Nur wer ohne

Pflichtethik

die Verfolgung eigener oder fremder Interessen pflichtgemäß handelt, nur wer also handelt, weil er oder sie die Reinheit des Pflichtgebots als sittliches Gesetz anerkennt, der oder die handelt moralisch. Daraus ergibt sich auch, dass Kant die Folgen einer Handlung für irrelevant für ihre moralische Be­ wertung hält. Entscheidend ist allein die Maxime, aus der heraus die Hand­ lung geschieht, folge daraus, was wolle. Schi Iler, der Kant in den 1790er Jahren intensiv las, konnte sich mit diesem Punkt nie recht befreunden. Wenn er in der Xenie Gewissensscrupel (1798) ausruft: "Gerne dien ich den Freunden, doch thu ich es leider aus Neigung / Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin" (NA I, 357), dann möchte er auch für Handlungen aus Freundschaft und Liebe Moralität bean­ spruchen können. Allerdings ist diese Kritik Schillers, die er auch in seiner Schrift Über Anmut und Würde (1793) vorträgt, ein symptomatisches Bei­ spiel für die oft verkürzte Rezeption der Philosophie Kants bei Schiller, denn Kant würde ihm nur das Prädikat "tugendhaft" verwehren, wenn er allein den Freunden diente, aber gegen andere sich nicht pflichtgemäß verhielte, die Neigung also alleiniges Handlungskriterium wäre. Kant weist denn auch in Oie Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1794) den Vor­ wurf zurück. Kant gibt neben der formalen Bestimmung des pflichtgemäßen Handeins (Legalität), auch eine inhaltliche Bestimmung für die Moralität einer Hand­ lung. Er entwirft mit dem kategorischen Imperativ eine Prüfinstanz, die über das reine Handeln aus Pflicht hinausgeht. Hatte Kant noch in der Grundle­ gung zur Metaphysik der Sitten drei Varianten des kategorischen Imperativs

voneinander unterschieden, so reduziert er diese in der Kritik der morali­ schen Vernunft auf das "Grundgesetz": "Handle so, daß die Maxime deines

Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gei­ ten könne." (Kant 1977a, 140)

Der kategorische Imperativ

40 111. Kontexte Kritik der

Bald erkannte Kant, dass er durch seine bisherigen Arbeiten die Zweitei­

Urteilskraft

lung von sinnlicher und moralischer Welt eher vertieft als überwunden hatte. Hatten in der Kritik der reinen Vernunft der Verstand und seine apriorischen Erkenntnisprinzipien im Fokus gestanden, und in der Kritik der praktischen

Vernunft die Vernunft und die aus ihr herleitbare Freiheit als einziges Prinzip a priori, so fragt Kant nun nach einer vermittelnden Instanz von Verstand und Vernunft, um natürliche und moralische Welt miteinander zu verbinden und so ein einheitliches System zu erschaffen. Dieses vermittelnde Vermögen ist für Kant nun die Urteilskraft. In der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant zwar die apriorischen Begriffe, Kategorien und Schemata des Verstandes angege­ ben, aber nicht erklärt, wie denn diese nun auf die sinnlich gegebenen Ob­ jekte angewandt werden können. Genau dies leistet die Urteilskraft. Sie ist "das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu den­ ken" (Kant 1977c, 88). Kant sucht nun auch für dieses Vermögen nach einem apriorischen Prinzip, d. h. nach einem Prinzip, das nur auf Seiten des Subjek­ tes, nicht des Objektes zu finden ist. Die sogenannte reflektierende Urteils­ kraft versucht, ist das Besondere gegeben, dafür einen Allgemeinbegriff zu finden. Der reflektierenden Urteilskraft kommt daher eine wichtige Rolle bei der Suche nach Gesetzmäßigkeiten in der Welt der Erscheinungen zu. Die reflektierende Urteilskraft soll die Einheit der empirischen Welt begründen und einen Zusammenhang zwischen den mannigfachen Erscheinungen der Natur ermöglichen. Kant nennt dies auch das Prinzip der Zweckmäßigkeit der Natur. Zweckmäßigkeit ist nun aber nichts, was den Objekten selbst zu­ gehört, sondern ein subjektives Prinzip, "wie wir in der Reflexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung verfahren müssen" (ebd., 93). Insofern die Gegenstände der Natur hier bloß subjektiv vorgestellt werden, heißt die Vorstellung ästhetisch. Sie zielt nicht auf eine Erkenntnis des Objektes, sondern richtet sich ganz auf die Vorgänge im Subjekt und ist - so Kants etwas überraschende Formulierung­ mit Lust oder Unlust verbunden. Lust entsteht dabei immer dann, wenn die reflektierende Urteilskraft durch die Form des Objektes nicht auf dessen Er­ kenntnis gelenkt wird, sondern allein auf die Zusammenstimmung der Er­ kenntnisvermögen. Objekte, bei deren Wahrnehmung sich ein solch reflexi­ ves Gefühl der Zusammenstimmung der Erkenntnisvermögen einstellt, die also weder sofort unter die Verstandesbegriffe noch unter die moralischen Freiheitsbegriffe gebracht werden, nennt Kant "schön". Kants

Schönheit ist dabei keine Eigenschaft des Objekts, sondern ein rein sub­

Schönheitsbegriff

jektives Geschmacksurteil als Folge, "wie es [das Subjekt] durch die Vorstel­ lung affiziert wird, sich selbst fühlt" (ebd., 115). Insofern das Geschmacksur­ teil nur auf einen inneren Zustand absieht und gar nicht auf ein Objekt, ist es ein freies Wohlgefallen. Es ist durch nichts bedingt oder "uninteressiert", wie Kant es nennt. Wenn wir einen Gegenstand "schön" nennen, dann tun wir so, als sprächen wir über eine Eigenschaft des Objektes, obwohl wir eigent­ lich nur eine Empfindung des Zusammenstimmens der Erkenntnisvermögen, das freie Spiel der Erkenntniskräfte, artikulieren. Dies ist aber der Grund, warum wir auch von anderen verlangen, unser Urteil zu teilen. Das Ge­ schmacksurteil "schön" muss "Anspruch auf subjective Allgemeinheit" (ebd., 125) machen, weil wir von einem beim Menschen stets gleich struktu­ rierten Erkenntnisapparat ausgehen.

3. Diskurse des Wissens

Das ästhetische Urteil kann dabei aber nicht zu einer Erkenntnis führen, da dies die Unterordnung einer Vorstellung unter einen Begriff bedeutete,

Das freie Spiel der Erkenntnisvermögen

sich damit aber auf den Gegenstand der Vorstellung richten würde. Kant nennt eine Vorstellung, die zwar viel zu denken gibt, "ohne daß ihr jedoch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. ein Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann" (ebd.,

250), ästhetische Idee. Die ästhetischen Ideen setzen also die verschiedenen Erkenntnisvermögen in Bewegung, ohne aber das eine von ihnen zur ihrem Endzweck gelangt. Das Schöne ist deshalb vom Gefühl der Lust begleitet, weil hier alle Erkenntnisvermögen ihre volle Kraft auszuschöpfen suchen, weil jede ihrer Bestimmung gemäß den jeweiligen Zweck zu realisieren sucht. Obwohl sich die Vermögen in einem Wettstreit befinden, ergibt sich insgesamt ein harmonischer Gesamteindruck. Anders gesagt: In der ästhetischen Erfahrung werden wir uns unserer ganzen Möglichkeiten bewusst. In diesem autonomen Spiel der Erkenntniskräfte, die zu keiner (weder begrifflichen noch moralischen) Bestimmung führt, erfährt sich das Subjekt zugleich als ein freies. Schi Iier greift dieses Moment auf. Die Kunst, die ästhetische Erfahrung, kann so bei ihm in ein anderes Verhältnis zur politischen Freiheit führen. Als

Autonome Kunst und Freiheit bei Schi Iier

frei erfährt sich der Mensch nicht im republikanischen oder demokratischen, sondern im ästhetischen Staat, wie er in Über die ästhetische Erziehung des

Menschen in einer Reihe von Briefen (1795) ausführt. Das ist auch der Grund, warum der klassische Schiller das Politische aus der Kunst heraushalten will. Wandert es in die Kunst hinein, so wird diese an einen konkreten Zweck gebunden, ist nicht mehr interesselos. Nur aber in der autonomen Kunst kann der Mensch sich als frei erfahren. "In dem ästhetischen Staate ist alles - auch das dienende Werkzeug ein freier Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat, und der Verstand, der die duldende Masse unter seine Zwecke gewalttätig beugt, muß sie hier um ihre Beistimmung fragen. Hier also in dem Reiche des ästheti­ schen Scheins wird das Ideal der Gleichheit erfüllt, welches der Schwär­ mer so gern auch dem Wesen nach realisiert sehen möchte." (FAS 8,676) Es ist immer darüber gestritten worden, ob Schiller damit die Kunst als blo­ ßen Ersatz der politisch bedrängten Freiheit sehen wollte oder ob in der Kunsterfahrung nicht vielmehr das Versprechen einer Utopie liegt, die ihrer Einlösung harrt. Hatte Schiller Kants Schriften vor allem als Grundlage für seine Konzeption des Ästhetischen rezipiert, so bleibt Goethe in seiner Kant-Lektüre enger am erkenntnistheoretischen Gehalt orientiert, wenn er diesen für sein Wissenschaftskonzept nutzbar zu machen sucht. Dies wird deutlich in Goethes Idee einer individuellen Aneignung der Natur. In seiner naturkundlichen Schrift Erfahrung und Wissenschaft (1798) bringt er das Verhältnis beider in eine dreistufige Abfolge, in der zuerst das empirische Phänomen, "das jeder Mensch in der Natur gewahr wird", zweitens das wissenschaftliche Phänomen, das "durch Versuche erhoben wird, indem man es unter andern Umständen und Bedingungen als es zuerst gewesen" hervorbringt, und drittens "das reine Phänomen, das erst der bestimmende Geist erkennt und von allem Zufälligen der Erfahrungen befreit", erkannt wird (WA 11.2, 40). Das rei-

Goethes Wissenschaftsmodell

41

42

111. Kontexte

ne Phänomen ist also das Ergebnis einer Vermittlungsoperation zwischen untersuchtem Objekt in der Welt wie im Experiment und dem wahrnehmen­ den und beobachtenden Subjekt. Das Subjekt schreibt der Natur nicht ihre Gesetze vor, aber genauso wenig vermag die Natur allein durch bloßes An­ schauen Auskunft über sich geben. Einer allein nach dem logischen Gesetz der Serie verfahrenden Wissenschaft setzt Goethe mit der Idee des reinen Phänomens als Ziel der Erkenntnis ein letztlich ästhetisches Wissenschafts­ programm entgegen. Naturerkenntnis, darin besteht der Kern des Goethe­ schen Wissenschaftsbegriffs, ist

und Subjekt,

Der Versuch als Vermittler zwischen Objekt

wie eine andere Schrift aus dem Jahr 1793 titelt, in dem Goethe

Auskunft über seine eigene Methode der Naturaneignung gibt. Das Pro­ gramm einer durch das Subjekt idealisierten Naturanschauung kann daher von Goethe auch als poetisches Darstellungsprogramm z. B. in der

schen Reise genutzt

Italieni­

werden und zeigt die enge Verbindung an, die Goethe

immer zwischen Naturerkenntnis und Kunst gesehen hat.

4. Der europäische Klassizismus in den Künsten Klassizismen

Wenn unser Band im Titel den Begriff "Klassik" im Singular führt, dann darf dies natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass die europäische Kulturge­ schichte ganz verschiedene "Klassiken" kennt. Bereits die römische Antike spricht der Zeit der griechischen Städterepubliken den Charakter der Klassi­ zität zu. Die Renaissance (14.-17. Jh.) kann in Italien wiederum als Zeitalter der Klassik gelten, weil in ihr sowohl die griechische als auch die römische Antike als Vorbild und Muster in den Künsten wiederentdeckt wurden. Lite­ raturgeschichtlich kennt man in England eine Klassik als Augustian Age An­ fang des 18. Jahrhunderts, in der man vor allem römische Autoren, z. B. Ho­ raz und Vergil, verehrte. In Frankreich wiederum bezeichnet classicisme die Literatur- und Kulturepoche im Zeitalter Ludwigs XlV., also das ausgehende

17. und beginnende 18. Jahrhundert. Kunstgeschichtlich wird der Stil der englischen und französischen Klassik auch als Barock-Klassizismus bezeich­ net, der sich vor allem an der römischen, nicht der griechischen Antike orientierte, die weitgehend unbekannt war, weil nur wenige bau- und kunst­ geschichtliche Artefakte erhalten waren. Noch verwirrender scheint die Lage zu werden, wenn man neben den europäischen Rezeptionswegen und ihren unterschiedlichen Bezugsquellen die Differenzen in den jeweiligen Einzelkünsten berücksichtigt. Klassizismen in der bildenden Kunst, der Ma­ lerei, der Musik, der Architektur, der Druckgraphiken und schließlich der Li­ teratur können kaum auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden, au­ ßer man wählte diesen so klein, dass er nichtssagend wird. Rom als Zentrum

1738 hatten im italienischen Herculaneum (heute Ercolanol, das durch

des akademischen

den großen Ausbruch des Vesuvs 79 n. Chr. wie Pompeij verschüttet worden

Neoklassizismus

war, die ersten systematischen archäologischen Ausgrabungen stattgefun­ den. Sie brachten viele antike Decken-, Wand- und Vasenmalereien aus der römischen Antike wieder ans Tageslicht. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vergaben die Wissenschaftsakademien verschiedener europäischer Länder nach dem Vorbild des französischen Prix de Rome als höchste akademische Auszeichnung Reisestipendien nach Italien, um die jungen Künstler mit den

4. Der europäische Klassizismus in den Künsten

Meisterwerken der Antike sowie antiker Architektur vertraut zu machen. In Rom entstand der sogenannte akademische Klassizismus, der Wert auf eine exakte archäologische Rekonstruktion der antiken Vorlagen legte. Daraus resultierte u. a., dass neoklassizistische Statuen in weißem, glatt geschliffe­ nem Marmor nachgebildet wurden. Dass ein solch kühles Bild der Antike aber keineswegs den historischen Tatsachen entsprach, sondern die Statuen mit farbigen Elementen sowie Gold und Edelsteinen verziert gewesen waren, vermutete der französische Kunsthistoriker und Archäologe Antoine Quatre­ mere de Quincy (1755-1849) erst 1815 und revidierte damit das Antiken­ Bild des Klassizismus um 1800 grundlegend. Eine Zentralfigur und Wegbereiter für den (Neo-)Klassizismus in Deutsch­ land war der in Stendal geborene Antiquar Johann Joachim Winckelmann

Johann Joachim Winckelmann

(1717-1768). Mit seiner 1755 erschienenen Schrift Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst

plädierte er für eine Abkehr vom an der römischen Antike orientierten Ba­ rock-Klassizismus hin zur griechischen Antike. Paradoxerweise stand ihm dafür kaum die Anschauung griechischer Kunstwerke zur Verfügung. Erst nach der Veröffentlichung reiste er 1755 nach Rom, um bis 1768 in Italien zu bleiben. Winckelmann betreute in dieser Zeit u. a. die Antikensammlung des römischen Kardinals Albani. Zusammen mit dem deutschen Künstler Anton Raphael Mengs (1728-1779) gestaltete er die Villa Albani und arbei­ tete programmatisch an einer klassizistischen Theorie der Kunst. Mengs schuf mit dem Deckenfresko Der Parnaß (1761) in der Villa Albani ein Musterbild dieses P rogramms, Winckelmann nannte es gar ein Manifest

Anton Raphael Mengs

der Erneuerung. Es zitiert das berühmte Parnaß-Fresko in den päpstlichen Gemächern des Vatikans von der Hand des italienischen Meisters Raphael (1483-1520), bringt das Motiv aber unter die Formgesetze des von Winckel­ mann in den Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Werke ge­ forderten P rogramms. In der Schrift Gedancken über die Schönheit und über den Geschmack in der Malerei (1762) benennt Mengs als Formprinzipien

der Schönheit: Einförmigkeit, Rundheit, Harmonie, Begrenzung sowie die Konzentration auf das Wesenhafte und gibt damit einen Katalog klassizisti­ scher Gestaltungsmerkmale. Winckelmann hatte in den Gedancken ebenfalls seine Vorstellung der

Edle Einfalt,

griechischen Kunst an einer Darstellung Raphaels, der Sixtinischen Madon­

stille Größe

na, die er aus der Dresdner Gemäldegalerie kannte, exemplifiziert: "Sehet

die Madonna mit einem Gesichte voll Unschuld und zugleich einer mehr als weiblichen Grösse, in einer seelig ruhigen Stellung, in derjenigen Stille, wei­ che die Alten in den Bildern ihrer Gottheiten herrschen liessen. Wie groß und edel ist ihr ganzter Contour!" (Winckelmann 1995b, 34) Winckelmann findet in ihr die Formel wieder, unter der er die gesamte antike Formenspra­ che zu subsumieren sucht: "das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der Griechischen Meisterstücke ist endlich eine edle Einfalt, und stille Grösse, so wohl in der Stellung als im Ausdruck." (Ebd., 30) Über eine Form hinaus ist damit eine Charakteristik der griechischen Kultur von Winckelmann in­ tendiert. So ist "die edle Einfalt und stille Größe der Griechischen Statuen

[ . . ] zugleich das wahre Kennzeichen der Griechischen Schriften aus den .

besten Zeiten" (ebd.). Geläufig wird als Musterskulptur für diese Formel der von Winckelmann ebenfalls beschriebene Apollo vom Belvedere (4. Jh.

43

44 111. Kontexte v. Chr.) genannt (vgl. Winckelmann 1995a). Die Formel, die lange vor Winckelmann in England und Frankreich und auch in Deutschland bereits gebräuchlich war, hat aber in der Rezeption auch immer wieder zu Missver­ ständnissen geführt. Laokoon-Gruppe

Winckelmann zeichnet nämlich keineswegs nur ein Antikenbild, das allein Starre, Glätte und Ruhe, die oft berufene ,klassizistische Kälte', als Prin­ zipien gelten lässt. Er leitet seine Formel unter anderem aus der Beschrei­ bung und Interpretation der berühmten antiken Laokoon-Gruppe ab, die 1506 wiederentdeckt worden war. Sie zeigt den Kampf des Trojanischen Priesters Laokoons und seiner beiden Söhne mit einer mächtigen Schlange, die im Begriff ist, Laokoon in die Hüfte zu beißen. Die Episode ist u. a. bei Vergil überliefert. Winckelmann kannte die Gruppe zunächst allenfalls von Abbildungen. Nicht allein die Oberflächengestaltung sowie die symmetri­ sche Anordnung der Gruppe sind für ihn bedeutsam, sondern das Verhältnis von Fläche und Ausdruck. Seine Beschreibung könnte Schiller als Illustration der Idee des Erhabenen dienen: "So wie die Tiefe des Meers allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag noch so wüten, eben so zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bey allen Leidenschaften eine grosse und gesetzte Seele. [ . . ] Dieser .

Schmertz, welcher sich in allen Muskeln und Sehnen des Cörpers entdek­ ket, und den man gantz allein, ohne das Gesicht und andere Theile zu be­ trachten, an den schmertzlich eingezogenen Unter-Leib beynahe selbst zu empfinden glaubet; dieser Schmertz, sage ich, äussert sich dennoch mit keiner Wuth in dem Gesichte und in der gantzen Stellung. Er erhebet kein schreckliches Geschrey, wie Vergil von seinem Laokoon singet [ . . ] .

Der Schmertz des Cörpers und die Grösse der Seele sind durch den ganz­ ten Bau der Figur mit gleicher Stärke ausgetheilet, und gleichsam abgewo­ gen. Laocoon leidet, aber leidet wie des Sophokles Philoctetes: sein Elend gehet uns bis an die Seele; aber wir wünschten, wie dieser grosse Mann, das Elend ertragen zu können." (Winckelmann 1995b, 30 f.) Affekt und Form

In das kunsttheoretische Programm wird davon vor allem die Dämpfung der Affekte übernommen. Ausdrücklich wird bei Winckelmann aber die Darstel­ lung der stärksten Leidenschaften nicht kritisiert, er hebt vielmehr hervor, dass durch Form und Anordnung der Gruppe ein Gleichgewicht zwischen Leidenschaftlichkeit und Seelengröße entsteht, dessen psychologischer Wir­ kung sich der Betrachter nicht entziehen kann. Winckelmann grenzt sich da­ mit auch gegen einen geläufigen Topos der akademischen Malerei des 18. Jahrhunderts ab, der die Darstellung heftiger Schmerzen als unschicklich galt. Bei Winckelmann, wie später in Schillers Theorie des Erhabenen, ist ge­ rade die Kombination von inhaltlicher Darstellung heftiger Leidenschaft und ihrer Bindung durch die Form Voraussetzung für die erwünschte Rezeptions­ wirkung. Die Kunst geht darin, so Winckelmann, weit über die Natur hinaus. Daher kann das Ideal der Kunst auch nicht in einer bloßen Nachahmung der Natur bestehen, sondern in ihrer Gestaltung durch des Künstlers "Stärcke des Geistes" (ebd., 31). Winckelmann und Mengs bi Iden Mitte des 18. Jahr­ hunderts in Rom die Kern- und Keimzelle des europäischen Klassizismus. Goethe hat Winckelmann mit der Herausgabe der Schrift Winke/mann und

sein Jahrhundert (1805), an der enge Vertraute wie der Schweizer Kunsthisto-

4. Der europäische Klassizismus in den Künsten 4S

riker Johann Heinrich Meyer, der Altphilologe Friedrich August Wolf und Wilhelm von Humboldt mitarbeiteten, in seiner Bedeutung gewürdigt, wenngleich die Schrift auch von der Differenz der Weimarer Kunstfreunde zum römischen Klassizisten zeugt. War Rom schon immer Ziel von Malern wie von Reisenden auf ihrer

Rom

Grand Tour gewesen, so entwickelt es sich bis zur Jahrhundertwende zu dem Ausbildungszentrum für Künstler schlechthin. Bereits seit der italieni­ schen Renaissance und ihrem gesteigerten Interesse an der Antike wurden systematisch antike Kunstschätze wieder in Rom versammelt, die ohne Rücksicht auf restauratorische Gesichtspunkte auf dem Kunstmarkt europa­ weit gehandelt wurden. Es entstand sogar der Plan, Rom zu einem WeItge­ lehrtenzentrum auszubauen und Antikensammlungen anzulegen, die das antike Rom stellvertretend repräsentieren sollten (vgl. RiebeseI11994). Der Klassizismus ist also in der Tat ein "paneuropäisches Phänomen und Projekt" (Beyer 2006, 10), das sich über einen Zeitraum vom 14. Jahrhundert bis zum 20. Jahrhundert im Neoklassizismus des Wilhelminismus immer

Europäischer Klassizismus vs. Deutsche Klassik

wieder zeigt. Noch wie im frühen 20. Jahrhundert von einer ,deutschen Klas­ sik' zu sprechen, erscheint angesichts problematischer Konnotationen, die einen vom europäischen Klassizismus getrennten, deutschen Sonderweg im­ plizieren, unangebracht und zudem ideologisch bedenklich (vgl. Jauss 1987). Problematisch erscheint es überdies, die je unterschiedlich motivierten Klassizismen auf bestimmte politische Positionen festzulegen. Kann zwar

architecture de magnificence

für die tragedie c/assique des 17. Jahrhunderts in Frankreich eine große Nähe zum Absolutismus des Ancien Regime konstatiert werden, so gilt dies für die Weimarer Klassik keineswegs automatisch. Dass der Klassizismus auch für die französischen Revolutionäre musterbildend sein konnte, zeigen z. B. die oft utopischen Entwürfe der Revolutionsarchitektur, die aber auf­ grund chronischen Geldmangels fast nie realisiert wurden. Charakteristisch für diese Entwürfe war eine radikale Abstraktion durch Verwendung von geometrischen Flächen- und Linienkonstruktionen, die z. T. exzessive Ver­ wendung von Säulen sowie die Eliminierung jeden Dekors, etwa in den Ent­ würfen von Claude-Nicolas Ledoux (1736-1806) und Etienne-Louis Boullee (1728-1799). Diese Architektur zielte auf entsprechende Wirkungen beim Betrachter, bei denen die Empfindung und das Gefühl des Erhabenen ausge­ löst werden sollte. Die gigantischen Ausmaße der ,architecture de magnifi­ cence' mag Boullees Metropole, der Entwurf einer Kirche im klassizistischen Stil, verdeutlichen. Allein im Inneren wären, um die Statik zu gewährleisten, 3000 Säulen notwendig gewesen, ein Entwurf, der Fiktion bleiben musste. Insofern hat man auch von der "Poetisierung der Architektur" (Wolf 2002, 36) gesprochen, weil diese Entwürfe auf emotionale Wirkung und Überwäl­ tigung des Betrachters hin konzipiert sind, und Überlegungen zur Masse und Statik weitgehend ignorieren. Der Arzt, Wissenschaftler und Architekt Claude Perrault (1613-1688) hat­ te 1673 mit der Übersetzung des Vitruv, der einzigen aus der Antike erhalte­ nen Abhandlung Über die Architektur, begonnen und leitete daraus sein an­ tikes Idealbild ab, das mit den Schlagworten Größe, Symmetrie, Proportion und geometrische Exaktheit beschrieben ist. Wichtig ist aber, dass nicht ein­ mal im Frankreich des 17. Jahrhunderts von einem homogenen Klassizismus

Antike VS. moderne Symmetrie

46 111. Kontexte gesprochen werden kann. Dies zeigt unter anderem die Bedeutungsverände­ rung des Symmetriebegriffs bei Perrault. Perrault unterscheidet zwei Formen von Symmetrie und entsprechend zwei Formen von Schönheit. Die antike Symmetrie, so schreibt er 1683 in einer Abhandlung mit dem Titel Ordon­

nance des cinq especes de c%

nnes se/on /a methode des anciens, sei der

Struktur des menschlichen Körpers ähnlich. Dies entspricht weitgehend un­ serem Begriff von Proportion, d. h. es gibt einen konstanten Bezug aller Glie­ der untereinander und jedes einzelnen Gliedes zum Gesamtkörper. Die Vor­ stellung einer idealen Proportion impliziert, dass kein Maß eines EinzeIglie­ des verändert werden darf, da ansonsten das Verhältnis der Glieder zueinan­ der gestört und damit die Schönheit des Körpers zerstört würde. Insofern muss sich die Rationalität der Gesamtkonstruktion in jedem Einzelteil wie­ derholen. Perrault nennt diese Schönheit aber "arbiträr", weil sie nur auf Ge­ wohnheiten beruhe, wie der menschliche Geist zwei Dinge in Beziehung setze. Mit dieser Charakterisierung stellt sich Perrault gegen die vor allem vom Direktor der königlichen Akademie für Architektur, Nicolas-Fran