Strafrechtspraxis und Reform: Festschrift für Heinz Stöckel zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428531875, 9783428131877

Heinz Stöckel hat eine beeindruckende Karriere in der Bayerischen Justiz (zuletzt als Generalstaatsanwalt in Nürnberg) h

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Strafrechtspraxis und Reform: Festschrift für Heinz Stöckel zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428531875, 9783428131877

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Schriften zum Strafrecht Heft 209

Strafrechtspraxis und Reform Festschrift für Heinz Stöckel zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Matthias Jahn, Hans Kudlich und Franz Streng

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

MATTHIAS JAHN / HANS KUDLICH und FRANZ STRENG (Hrsg.)

Strafrechtspraxis und Reform

Schriften zum Strafrecht Heft 209

Strafrechtspraxis und Reform Festschrift für Heinz Stöckel zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Matthias Jahn, Hans Kudlich und Franz Streng

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Berlin Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-13187-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Als wir den Jubilar mit dem bereits weit fortgeschrittenen Projekt „Festschrift“ vertraut machten, reagierte er zunächst etwas reserviert, fast abwehrend. Eine derartige − vielleicht überraschend anmutende − Reaktion erschien uns als durchaus persönlichkeitstypischer Ausdruck der augenfälligen Bescheidenheit Heinz Stöckels im Zusammenhang mit seiner eigenen Person. Es dürfte dieser sympathische Zug ein wesentlicher Grund dafür sein, dass so viele Kollegen, Weggefährten und Freunde ohne Zögern ihre Zusage für einen Beitrag zu diesem Projekt gegeben haben. Nicht jeder, der das herausgehobene Amt eines Generalstaatsanwalts erreicht, das Bundesverdienstkreuz erhalten und eine insgesamt so beeindruckende Karriere in der Justiz gemacht hat wie der Jubilar, begleitet dies erfahrungsgemäß mit der gleichen Bescheidenheit: Im ersten Examen ein „Einser-Jurist“ (jedoch ganz ohne die von dem gleichfalls Erlanger Absolventen Ludwig Thoma diesen angedichteten Schwächen) wurde Heinz Stöckel bereits mit 26 Jahren promoviert und mit 27 Jahren Assessor. Nach verschiedenen Tätigkeiten in der bayerischen Justiz und auch im Staatsministerium wurde er mit nur 35 Jahren Oberstaatsanwalt und – nach nochmaligem Wechsel u.a. als Amtsgerichtsdirektor nach Neumarkt i.d.Opf. und als Leitender Oberstaatsanwalt an die Staatsanwaltschaft am Landgericht Nürnberg-Fürth – im Jahr 1996 schließlich Generalstaatsanwalt in Nürnberg. Das Jahr 1996 hatte es für den Jubilar auch in anderer Hinsicht in sich: Er wurde zum Honorarprofessor für Strafrecht und Kriminologie an der Juristischen Fakultät der Universität Erlangen-Nürnberg bestellt, der Orden des „Cavaliere dell’ Ordine al Merito della Republica Italiana“ wurde ihm als Anerkennung seiner Verdienste um Italien verliehen und es stand die Mitherausgeberschaft am renommierten KMR-Kommentar ins Haus. So rasch Stöckels Wechsel zwischen verschiedenen Einsatzstätten in der Justiz erfolgte, so beständig hatte er zuvor in der Lehre gewirkt und an der Erlanger Juristenfakultät seit dem Sommersemester 1978 insbesondere im Strafvollzugsrecht, daneben aber auch in Vertiefungsveranstaltungen zum Strafrecht und Strafprozessrecht gewirkt. Die Bestellung zum Honorarprofessor war somit eigentlich längst überfällig, und es ist wohl nicht nur der bereits erwähnten Bescheidenheit des Jubilars zu verdanken, dass es nicht schon früher zu dieser Ehrung gekommen war. Das wissenschaftliche Wirken Stöckels begann mit seiner bei Bruns gefertigten (und von Warda zweitbegutacheten) Dissertation über „Gesetzesumgehung

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Vorwort

und Umgehungsgesetze im Strafrecht“. Diese mit dem Spitzenprädikat bewertete Arbeit hat in der Folge auf wissenschaftlich ambitionierte Zeitgenossen erheblichen Eindruck gemacht (vgl. dazu nur die kurze Anmerkung im Beitrag von Arzt, S. 32, dort Fn. 48) und hat letztlich zeitlose Probleme aus heutiger Sicht „modern“ beantwortet (vgl. die Auseinandersetzung mit Stöckels Werk bei Kudlich, S. 93 [94 ff.]). Die vielleicht breiteste Bekanntheit im Kreis der Strafrechtler und insbesondere der Strafprozessualisten dürfte der Jubilar ab 1997 durch seine Mitherausgeberschaft beim von Kleinknecht, Müller und Reitberger begründeten StPO-Loseblattkommentar erlangt haben. Sein größtes Interesse liegt aber wohl bei den strafrechtlichen Sanktionen, welche auch Gegenstand einer weiteren Veranstaltung sind, die Stöckel an der Erlanger Fakultät abgehalten hat. Neben einer Reihe kleinerer Schriften sind hier insbesondere seine Monographie zum Thema „Strafaussetzung, Bewährungshilfe, Widerrufe“ aus dem Jahre 1981 sowie sein Referat zu „Empfehlen sich Änderungen und Ergänzungen bei den strafrechtlichen Sanktionen ohne Freiheitsentzug?“ auf dem Deutschen Juristentag 1992 zu nennen, dessen Vorschläge teilweise auch in den neuen gesetzlichen Regelungen berücksichtigt worden sind. Wurde eingangs die Bescheidenheit des Jubilars als eine prägende Tugend erwähnt, so sind gleichrangig damit seine Verlässlichkeit und seine Hilfsbereitschaft zu nennen. Wie selbstverständlich bringt sich Heinz Stöckel auch über die gesetzliche Altersgrenze für Honorarprofessoren hinaus überobligatorisch in der Lehre ein. Planungen zu Lehrveranstaltungen der Folgesemester werden von ihm stets mit einem freundlichen „Wenn Sie mich brauchen, stehe ich gerne zur Verfügung“ kommentiert, ohne dass er andererseits irgendwelche „Pfründe“ verteidigen würde. Ebenfalls wie selbstverständlich war er auch so lange, wie er durfte, als Prüfer im Staatsexamen tätig und wirkt regelmäßig in Promotionsverfahren mit. Auch jenseits dessen zeigte und zeigt er sich stets mit den Erlanger Juristen verbunden: Heinz Stöckel ist regelmäßiger Gast im „Rechtspsychologischen Kolloquium“, und es wurde aus dem „Dekanat“ (jetzt „Fachbereichsverwaltung“) den Herausgebern berichtet, dass der Jubilar des Öfteren anruft, um sich zu erkundigen, was es denn „an seiner Fakultät“ Neues gebe. Hand in Hand mit dem universitären Engagement geht seine langjährige Tätigkeit im Vorstand der „Juristischen Gesellschaft Mittelfranken zu Nürnberg“ einher, deren Erster Vorsitzender er seit dem Jahre 2002 ist. Auch auf diesem Wege setzt er sich dafür ein, dass Praxis und Wissenschaft in engem Kontakt bleiben. So ist diese Festschrift nicht nur eine Ehrung der Person und des Wirkens Heinz Stöckels, sondern auch Ausdruck der Dankbarkeit und der Verbundenheit der gegenwärtigen und auch der ehemaligen Lehrstuhlinhaber am strafrechtlichen Institut. Dankbar sind die Herausgeber der Festschrift jedoch nicht nur dem Jubilar, sondern Dank schulden sie auch den Autoren, die in einer für derartige Sammelwerke ganz ungewohnten und ungeahnten Disziplin um die Ein-

Vorwort

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haltung der zeitlichen und redaktionellen Vorgaben bemüht waren. Eine ganze Reihe von Mitarbeitern an den Lehrstühlen der Herausgeber hat das Projekt tatkräftig unterstützt, wobei Frau Suzan Durmaz und Herrn Christian Härteis besonderer Dank gebührt. Großer Dank gehört ferner dem Verlag Duncker & Humblot, namentlich dem Verlagschef Dr. Florian Simon, LL.M., und Frau Regine Schädlich in der Herstellung. Gedankt sei zuletzt auch der GermanSchweiger-Stiftung, dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft und den Erlanger Juristen-Alumni, deren finanzielle Unterstützung dieses Werk in der vorliegenden Form erst möglich gemacht hat. Erlangen, im August 2009

Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis I. Materielles Strafrecht Gunter Arzt Siemens: Vom teuersten zum lukrativsten Kriminalfall der deutschen Geschichte .............................................................................................................. 15 Wilfried Bottke Compliance – Oder: Normbefolgungsbereitschaft von und in Unternehmen. Zur Wirksamkeit von freiwilligen Selbstverpflichtungen und staatlichen Sanktionen ............................................................................................................... 43 Bernd von Heintschel-Heinegg und Manfred Dauster Strafrechtliche Durchsetzung von Exportkontrollen im Konflikt mit Europäischem Gemeinschaftsrecht ................................................................... 57 Joachim Hruschka Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts................................................. 77 Hans Kudlich „Gesetzesumgehung“ und andere Fälle teleologischer Lückenschließung im Strafrecht. Zugleich ein Beitrag zur Ermittlung der sog. „Wortlautgrenze“...... 93 Kristian Kühl Besonders hohe Grenzen für den Strafgesetzgeber ................................................ 117 Franz Streng Gerechtfertigte Aufopferung Unbeteiligter? Anmerkungen zum Defensivnotstand bei terroristischen Angriffen .................................................................... 135 II. Strafprozessrecht Reinhard Böttcher Rücksichtnahme auf Opferinteressen bei der Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO ................................................................................................... 161 Volker Erb Grund und Grenzen der Unzulässigkeit einer regelmäßigen Einholung von Glaubwürdigkeitsgutachen im Strafverfahren................................................. 181 Ralf Eschelbach Wiederaufnahmefragen........................................................................................... 199 Rainer Gemählich Das Verbot der Rügeverkümmerung in der obergerichtlichen Rechtsprechung .... 225

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Inhaltsverzeichnis

Karl Heinz Gössel Über die praktische Bedeutung des beschleunigten Verfahrens im Verhältnis zu den vereinfachten Verfahrensformen der Strafprozessordnung ........................ 245 Matthias Jahn Grundfragen und aktuelle Probleme der Beweisverwertung im Straf- und Steuerstrafverfahren. Zugleich ein Beitrag zur Fortentwicklung der Beweisbefugnislehre nach dem „Fall Liechtenstein“......................................................... 259 Ernst Metzger Verletztenhilfe, Sicherheit, Problementschärfung. Öffentliches Interesse an der Strafverfolgung heute .................................................................................. 287 Hans Christopf Schaefer Das Berufsbild des Staatsanwalts ........................................................................... 307 Jan C. Schuhr Sachentscheidungen des Revisionsgerichts in Strafsachen. Reform durch Nichtanwendung des Gesetzes?.............................................................................. 323 III. Kriminologie, Sanktionenrecht und Strafvollzug Dieter Dölling Zur Legalbewährung nach Täter-Opfer-Ausgleich im Erwachsenenstrafrecht....................................................................................... 349 Makoto Ida Der Ruf nach einem schärferen Strafrecht und die Strafrechtswissenschaft in Japan ................................................................................................................... 361 Gabriele Kett-Straub Die Einwilligung in die Strafrestaussetzung des § 57a StGB. Ein Fremdkörper im Strafensystem ........................................................................ 377 Leonidas Kotsalis Die Schuldfähigkeitsbegutachtung. Alte und neue Probleme ................................ 397 Klaus Laubenthal Deutsche Strafvollzugsgesetzgebung – eine Abfolge gescheiterter Reformversuche...................................................................................................... 415 Manfred Markwardt Aufbau forensischer Ambulanzen nach § 68b StGB in Bayern ............................. 433 Johann M. Plöd Die nachträgliche Sicherungsverwahrung im Erwachsenen- und im Jugendstrafrecht................................................................................................. 443 Andreas Quentin Welche Strafmilderung schafft Aufklärungshilfe? Ein Versuch über eine rationale Anwendung des § 31 Nr. 1 BtMG ................................................... 463

Inhaltsverzeichnis

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IV. Juristische Zeitgeschichte und Völkerstrafrecht Roland Helgerth Was kann man aus der Geschichte der Generalstaatsanwaltschaft bei dem Bayerischen Obersten Landesgericht lernen?........................................... 481 Klaus Kastner Strafrechtliche Verantwortlichkeit für administratives Unrecht: der Wilhelmstraßen-Prozess (1948/49) .................................................................. 499 Christoph Safferling Frieden durch Völkerstrafrecht? Politische und rechtliche Bedingungen für eine nachhaltige Friedenswirkung .................................................................... 521 Schriftenverzeichnis Heinz Stöckel............................................................................. 541 Autorenverzeichnis ...................................................................................................... 544

I. Materielles Strafrecht

Siemens: Vom teuersten zum lukrativsten Kriminalfall der deutschen Geschichte Von Gunther Arzt

I. Alles hat seinen Preis Ein Ehepaar ist auf seiner Yacht auf dem Bodensee unterwegs. Explosionsartig bricht Feuer aus. Das Boot sinkt. Der Mann kann sich mit relativ leichten Verbrennungen irgendwie retten. Er berichtet, er habe Würstchen auf dem Gasgrill zubereiten wollen; es sei zu einer Stichflamme gekommen. Ob unglücklicherweise Benzinkanister oder vielleicht Farbkanister in der Nähe gestanden seien und das Feuer darauf übergegriffen habe, sei ihm unklar. Jedenfalls sei alles sehr schnell gegangen. Er sei ins Wasser gesprungen; seine Verzweiflung über den Verlust von Frau und Yacht sei groß. – Der zuständige Staatsanwalt ist skeptisch. Die Frau war reich, der Mann arm. Eine Scheidung hätte den Mann in bescheidene Verhältnisse zurückversetzt. Da die Details zur Explosion und dem Sinken der Yacht ungereimt erscheinen, fasst der Staatsanwalt einen Anfangsverdacht: Mord. Um ihn zu klären, veranlasst er Fahrten mit einem kleinen U-Boot, um die Reste der Yacht und der Frau zu finden. Die Angaben des Mannes zum Ort des Dramas sind vage, das Wasser ist trüb, der Seegrund schlammig. Bald ist das Budget erschöpft; die Suche wird abgebrochen. – Der wahre Sachverhalt ist von mir leicht verfremdet worden. Natürlich hat der Staatsanwalt die Geliebte ermittelt, aber nicht herausfinden können, ob sie der Tod der Ehefrau wirklich überrascht hat; natürlich hat man dem Staatsanwalt Extramittel für die Verlängerung der Suche zugesprochen und selbstverständlich hat der Staatsanwalt auch überlegt, ob er dem des Mordes Verdächtigen wenigstens fahrlässige Brandstiftung vorwerfen könne. Alles hat seinen Preis. Der Schutz gegen Straftäter könnte mit mehr Polizeibeamten verbessert werden, aber der Staat kann sich nicht beliebig viele „Schutzmänner“ leisten. Was für die Prävention gilt, gilt auch für die Aufklärung. Der größte Fall im Bereich der Wirtschaftskriminalität im Kanton Bern, den ich in den zwei Jahrzehnten meiner Tätigkeit an der Universität Bern aus der Nähe mitverfolgt habe, stand ganz im Zeichen der Frage, ob es sinnvoll sei, wenn der Kanton, dessen Staatsbank (neben anderen Opfern) durch den Betrüger geschädigt worden war, dem schlechten Geld noch gutes Geld in Form

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Gunther Arzt

hoher Ausgaben für ein Strafverfahren nachwerfe. Der Beschuldigte hatte sich auf die Bahamas zurückgezogen.1 Weil alles seinen Preis hat, erscheint es mir sinnvoll, sich die Frage vorzulegen, welcher besonderen Zutaten es bedurfte, damit der teuerste Kriminalfall der deutschen Geschichte entstehen konnte, mit über 1 Milliarde € als Deliktsbetrag, über 1 Milliarde an Strafe und rund 1 Milliarde an Anwalts- und Wirtschaftsprüferkosten. In diesem Sinne wird anschließend nach dem Rezept für das Gericht „Siemens“ gefragt.2 Siemens ist mir aus Erlangen Ende der 70er Jahre vor allem wegen der Idee in Erinnerung, das Werksgelände mit dem Bahnhof per Schwebebahn als Vorzeigeobjekt zu verbinden. Dank Förderung durch Bayern und den Bund (niemand sah etwas Anstößiges darin, dass der zuständige Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau den Erlanger Wahlkreis repräsentierte) hätte das Projekt die Stadt nahezu nichts gekostet. Die (knappe) Ablehnung durch die Stadt am 16.11.1978 (nach einer Debatte, die mit zum Teil kuriosen Argumenten geführt wurde, etwa die Leute würden eine Schwebebahn nicht annehmen, oder man könne in fremde Schlafzimmer schauen), nannte der zuständige Bundesminister eine „kleinkarierte Entscheidung“3. Die Brüskierung kam für Siemens überraschend. Das dürfte damit zu erklären sein, dass die Firmenkultur damals noch von Ingenieuren geprägt war. Seitdem sind drei Jahrzehnte vergangen, Siemens hat in Sachen Schwebebahnen viele Erfahrungen gesammelt. Der teure Kriminalfall (dazu sofort) dürfte den Einfluss der Aufpasser auf die Firmenkultur weiter verstärken und den der Ingenieure zurückdrängen. Nicht technischer Fortschritt, sondern Compliance ist seit 2007 an die erste Stelle der Firmenkultur gerückt, „Compliance as part of corporate responsibility is our number one priority“ (so der neue Siemens CEO___________ 1

Vgl. zur Heimholung per non-stop-Flug im eigens dafür gecharterten Flugzeug Beat Schnell, Wirtschaftskriminalität – Eine Buchstabensuppe, die Sie zum Kochen bringt, 2007, S. 9 ff. 2 Im Folgenden wird der Siemens-Geschäftsbericht zitiert: Siemens GB (mit Jahr und Seite); der Siemens Corporate Responsibility Report (so lautet auch die deutsche Version) wird Siemens CR zitiert (mit Jahr und Seite). Die Siemens-Pressemitteilung vom 15.12.2008 („Erklärung … anlässlich des heutigen Abschlusses der Verfahren in München und in den USA“) wird als Siemens PM 2008 zitiert. Darin findet sich auf 31 Seiten eine vorzügliche Zusammenfassung. Zum SEC-Complaint siehe Fn. 65. – Die vom Department of Justice (DOJ) als Anklagebehörde verfolgte Strafsache USA v. Siemens AG (U.S. District Court, D.C.), Cr. No. 08. 367 betr. Foreign Corrupt Practices Act – Internal Books and Records Provisions … ist am 15.12.2008 nach einem am selben Tag von Siemens angenommenen Plea Bargain Angebot des DOJ durch die am selben Tag ergangene Entscheidung des U.S. District Ct. abgeschlossen worden. Im „Statement of Offense“ wird der von Siemens als wahr eingeräumte Sachverhalt auf 37 Seiten zusammengefasst; der unten II 2 näher behandelte Fall Enel spielt eine erhebliche Rolle, vgl. Statement Zif. 51 ff. Alle Quellen sind im Internet zugänglich. 3 So wird Bundesminister Haack zitiert in Erlanger Tagblatt, 18./19.11.1978.

Siemens: Vom teuersten zum lukrativsten Kriminalfall

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Löscher).4 Innovation nimmt den dritten (letzten) Platz in der Auflistung der Unternehmenswerte ein. Wenn vom „weltweiten Roll-out“5 gesprochen wird, geht es nicht um Technik, sondern um Neuerungen im Code of Conduct.

II. Korruptionsfall Siemens: Ein Phantom als Täter und eine Tat als Fiktion 1. Siemens als Straftäter In den nationalen und internationalen Medien wird Siemens in den Kontext eines Kriminalfalls gestellt, das nimmt der Titel meines Beitrags auf. Genau betrachtet ist Siemens als Straftäter jedoch nur ein Phantom. In Deutschland kann es kein echtes Strafverfahren gegen das Unternehmen geben. Dass gegen Unternehmen Bußgelder verhängt werden können, ist bisher vor allem im Kartellrecht praktisch ins Gewicht gefallen. Dabei ist jedoch zu beachten, dass über Kartellabsprachen normalerweise auf hoher Ebene im Unternehmen entschieden wird (und die involvierten Führungskräfte vorsätzlich handeln). Anders als in Deutschland wird in verschiedenen Staaten, so in der Schweiz und in den USA, unter bestimmten Voraussetzungen eine von Mitarbeitern begangene Korruptionstat (auch) als eine Straftat des Unternehmens betrachtet. Dabei reicht es aus, dass die Korruptionstat auf tiefer Ebene im Unternehmen erfolgt und dem Unternehmen auf der höheren Ebene nur eine Quasi-Fahrlässigkeit (im Sinne ungenügender Überwachung) vorgeworfen werden kann. Insofern kann man die amerikanische Untersuchung der Siemens-Korruption durch SEC und Justice Department als Aufsichts- und Strafverfolgungsbehörden als ein gegen Siemens als juristische Person gerichtetes Strafverfahren bezeichnen.6 Der Gesetzgeber hat die Freiheit, auch Taten, die nur vorsätzlich verwirklicht werden können, einer juristischen Person schon bei mangelhafter Kontrolle zuzurechnen. Freilich kenne ich keinen Staat, der bereit ist, diese Konzeption auf sein eigenes Versagen bei der Kriminalitätskontrolle anzuwenden. Den Anstoß für die 2007 eingeleitete Untersuchung in den USA haben Ermittlungsverfahren in Deutschland im Herbst 2006 gegeben (Sparte Kommuni___________ 4 Das Zitat oben im Text aus Siemens CR 2007 (zugänglich auch http://w1.siemens. com/reponsibility/report/07/pool/pdf/cr_report_2007_e_intenetversion.pdf); deutsche Version Siemens CR 2007, 22. 5 Siemens CR 2007, 86. 6 Die amerikanische Konzeption, was als „strafrechtlich“ anzusehen ist (und was nicht), kann hier nicht erörtert werden. Beispielsweise sind Einziehung/Verfall in den USA in civil bzw. criminal forfeiture gespalten. Nach unserem Verständnis ist auch die „civil“ forfeiture als strafrechtliche Sanktion konzipiert. Zum Verhältnis SEC/Justice Dept. vgl. Siemens GB 2007, 172 und Siemens GB 2008, 109 sowie hier Fn. 2, 65.

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kation, Com), ausgelöst durch die drohende Auflösung dieses Bereichs.7 Es ging um Schmiergeldzahlungen im Ausland aus schwarzen Kassen. Ins Zentrum der gegen Individuen geführten Ermittlungen und Strafverfahren rückte rasch die (angebliche) kriminelle Firmenkultur, nämlich bei der Auftragsbeschaffung notfalls weiter mit (den bis 1998 legalen und steuerlich absetzbaren!) Korruptionszahlungen zu arbeiten. Das Konglomerat aus diesen Ermittlungsund Strafverfahren gegen Individuen in Deutschland und aus den Bußgeld- und Gewinnabschöpfungsverfahren gegen die juristische Person in Deutschland sowie den Verfahren gegen Siemens in den USA ist gemeint, wenn hier vom Kriminalfall Siemens gesprochen wird. Der Gewerkschaftsfall in Deutschland8 ist zwar in diesem Kontext ans Licht gekommen (und hat begreiflicherweise hohe Wellen geschlagen); er bleibt hier fast ganz ausgeklammert. 2. Erpresste Korruptionszahlungen – deutsches Korruptionsstrafrecht Markenzeichen der Siemens-Korruption ist das Eingehen auf erpresserische Forderungen. In dem von der Staatsanwaltschaft als Musterprozess betrachteten und 2008 vom BGH (NStZ 2009, 95, zur Publikation in BGHSt vorgesehen) entschiedenen Fall hat der Siemens-Mitarbeiter durch seine Korruptionszahlung verhindert, dass der Erpresser seine Drohung wahr gemacht hat, die Auftragserteilung zu vereiteln.9 Erstmals wird im November 2007 für den Zeitraum von 2001 bis 2007 als Deliktssumme die Zahl von 1,3 Milliarden $10 an___________ 7 Anonyme Anzeige eines Verlierers, Ermittlungen gegen Zahlungsempfänger in Italien und der Schweiz, ZEIT online, 22.11.2006, www.zeit.de/online/2006/47/siemenskorruption-kleinfeld. 8 Im „Gewerkschaftsfall“ ist am 24.11.2008 ein erstinstanzliches Urteil durch das LG Nürnberg-Fürth (Az.: 3 KLs 501 Js 1777/08 [n.v.]) ergangen (Untreue und als Konsequenz auch Steuerhinterziehung bejaht); zu einem Detail Fn. 39. Ob die zeitgleiche dramatische Krise der drei alten Autohersteller in den USA (nach Berichten amerikanischer Medien wesentlich durch überhöhte Kosten infolge „organised labour“ verursacht) die Strafzumessung beeinflusst hat, kann ich nicht beurteilen, zu featherbedding Fn. 69, 75. 9 Bericht aus der erstinstanzlichen Verhandlung: es „hätten die beiden EnelVerantwortlichen (zuständig für die Auftragserteilung an das Konsortium, an dem Siemens maβgebend beteiligt war) Luigi G. und Antonio C. kurz vor Vertragsschluss plötzlich Geld gefordert“; Handelsblatt, 13.03.2007, www.handelsblatt.com/unternehmen/ management/_b=1239622,_p=21,_t=ftprint. 10 Die 1,36 Milliarden $ erklären sich nach Siemens PM 2008, 15 als Gesamtzahlungen von Siemens über diverse Zahlungssysteme seit Zulassung zum Handel an der NYSE (!), darunter waren 805,5 Millionen „die ganz oder zum Teil als Bestechungszahlungen an ausländische Amtsträger dienten“. SPIEGEL, 16.11.2007, spricht von 1,3 Milliarden € unter Berufung auf Angaben des CEO Löscher vom November 2007. Siemens GB 2007, 180 f., 301 ff. berichtet detailliert über nach internen Ermittlungen als „bedenklich“ eingestufte Zahlungen, zumeist an Berater (und Folgen für ihre steuerliche Behandlung). Diese Milliarde haben die Medien in den Kontext von Informationen des

Siemens: Vom teuersten zum lukrativsten Kriminalfall

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gegeben – ein Rekord. Es handelt sich dabei vor allem um „bedenkliche“ Zahlungen an Berater. Was echte Korruptionsstraftaten nach deutschem Recht betrifft, ist zu beachten, dass das vage Konzept der „Korruption“ im Tatzeitraum primär in der traditionellen Form des eng gefassten Tatbestandes der „Bestechung“ deutscher Amtsträger existierte. Deutschen Amtsträgern sind 1998 Amtsträger der EU gleichgestellt worden. Das war zwar für den Siemens-Musterprozess von Interesse, ging es doch um Zahlungen an italienische Angestellte des italienischen Enel-Konzerns (freilich waren sie entgegen der Ansicht der Staatsanwaltschaft keine Amtsträger!). Für die Deliktssumme von 1,3 Milliarden ist die Ausdehnung der Definition des Amtsträgers von Deutschland auf die EU insofern irrelevant, als die meisten Zahlungen außerhalb der EU erfolgt sind. Auf Druck der USA ist (via OECD) das skizzierte enge Bestechungsstrafrecht durch das weite Feld der „Wirtschaftskorruption“ überlagert worden. Deutschland hat sich dem durch den Transfer des (praktisch völlig bedeutungslos gebliebenen) Tatbestandes der „Bestechung im geschäftlichen Verkehr“ vom UWG ins StGB im Jahr 1998 (als § 299 StGB) und im Jahr 2002 durch dessen Ausdehnung auf Handlungen im ausländischen Wettbewerb gebeugt. Für Siemens ist auch § 299 StGB fast ganz irrelevant. Strafbar ist danach nämlich nur der Vorteilsgeber, der darauf abzielt, dass ihn der Empfänger „in unlauterer Weise bevorzuge“. Die vom Vorteilsgeber bezweckte Abwehr einer pflichtwidrigen Benachteiligung ist nicht erfasst.11 Damit richtet sich der Blick auf das ebenfalls im Kontext der internationalen Front gegen Wirtschaftskorruption 1998 in Kraft gesetzte IntBestG. Der Gesetzgeber hat in Art. 2 § 1 „Gleichstellung von ausländischen mit inländischen Amtsträgern bei Bestechungshandlungen“ angeordnet, obwohl das Beamtenethos (und dessen finanzielle Basis) beispielsweise in Nigeria oder Bangladesch (einem weiteren für Siemens besonders relevanten Staat) mit Deutschland nicht vergleichbar ist. Würde man dem Richter die Ausdehnung des Tatbestandes der ___________ LG München gestellt. Laut SPIEGEL hat das Wall Street Journal „Zugriff auf eigentlich interne Gerichtsunterlagen erhalten“. Nachdem die StA München die Verlässlichkeit dieser Informationen bestätigt hat(!), sind sie vom Journal eine Woche nach der von Löscher genannten Zahl von 1,3 Milliarden ins Internet gestellt worden (Dokumentation von schmiergeldverdächtigen 12 Millionen in 77 Fällen in 3 Ländern, fast 10 Millionen in Nigeria, 2 Millionen in Russland und zwei Empfänger kleiner Beträge in Libyen): www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,druck-517744,00.html; ähnlich www.szon.de/news/ wirtschaft/aktuell/200811050761.html. 11 Zu pflichtwidrig/unlauter LK-Tiedemann, 12. Auflage 2008, § 299 Rn. 34, 39 ff. – Kein strafrechtliches Regelungsmodell der Wirtschaftskorruption zielt auf Pönalisierung der Abwehr pflichtwidriger Benachteiligungen, Vogel, in: B. Heinrich u. a. (Hrsg.), Weber-FS, 2004, S. 395 ff. (411). Zur ganz anderen Frage des Bezugs der Pflichtwidrigkeit (auch) auf den Geschäftsherrn (oder nur auf Mitbewerber) LK-Tiedemann, 12. Auflage 2009, § 299 Rn. 2.

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Bestechung deutscher Amtsträger nach § 334 StGB auf analoge Auslandsfälle gestatten, käme die Justiz nicht auf die Idee, Ähnlichkeit mit deutschen Amtsträgern in den genannten Beispielen zu bejahen. Das gesetzgebungstechnische Detail zeigt, dass der Gesetzgeber der Versuchung erlegen ist, die Korruption mit korrupten Methoden zu bekämpfen (nämlich gleich zu stellen, was nicht vergleichbar ist). Immerhin hat der deutsche Gesetzgeber die Gleichstellung aller Amtsträger weltweit dadurch begrenzt, dass anders als bei deutschen und EU-Beamten die Vorteilsgewährung nicht per se strafbar ist. Die Gleichstellung beschränkt sich auf § 334 StGB. Auslandskorruption durch Zahlungen an ausländische Amtsträger liegt nach deutschem Recht nur vor, wenn im Gegenzug ein „unbilliger Vorteil“ erstrebt wird. Mit der Formulierung des Art. 2 § 1 IntBestG („um sich oder einem Dritten einen Auftrag oder unbilligen Vorteil … zu verschaffen oder zu sichern“) ist die Abwehr unbilliger Benachteiligungen nicht gemeint.12 Die angesichts des Druckes der amerikanischen Behörden begreiflichen Beteuerungen des neuen Managements, Siemens verstehe Compliance in einem umfassenden Sinn unter Einschluss aller firmeninternen Regeln und werde eine unabhängige interne Untersuchung seiner Verstöße gegen Antikorruptionsregeln durchführen, lässt erkennen, dass Siemens sich von vornherein nicht durch möglichst enge Begrenzung der Deliktssumme auf konkrete und zweifelsfrei strafbare Handlungen verteidigen wollte, dazu unten III. am Ende. Zur Korruption muss ich mich hier mit einigen auf Siemens zugeschnittenen Bemerkungen im Kontext der Compliance begnügen (unten IV.). Zur speziellen Problematik der Subform der erpressten Korruptionszahlungen verweise ich auf frühere Überlegungen.13 Am Rande sei bemerkt, dass bei Korruptionszah___________ 12 „Bezahlung für die ordnungsgemäβe … Behandlung … ist … (mit gutem Grund) nicht vom IntBestG erfasst“, Weigend, in: Pawlik/Zaczyk (Hrsg.), Jakobs-FS, 2007, S. 747 ff. (755) m. w. N. Wäre die Abwehr unverdienter Benachteiligung, z. B. durch Nichtvergabe eines verdienten Auftrags, erfasst, wäre die Begrenzung auf unbillige Vorteile aufgehoben. Der tiefere Grund liegt in der unterschiedlichen Zumutbarkeit der Anzeige gegen einen inländischen Beamten im Vergleich zum ausländischen Beamten, unten IV. 1. Angesichts des klaren Wortlauts und guten Sinns, die für die engere Auslegung sprechen, ist irrelevant, ob das amerikanische Recht als Vorbild weiter geht. 13 Arzt, JZ 2001, 1052 und zur völlig misslungenen Neuregelung der Schweiz (die den Unterschied zwischen Tätern und Opfern ignoriert) Arzt, recht 2001, 41; dort auch zur verrückten Welt der Auslandsbestechung, die eine sozialistische Staatswirtschaft mehr schützt als eine liberale Wirtschaftsverfassung. – Zur Drohung mit Unterlassen (Nichterteilung eines Auftrags) und Tun (Vereitelung der an sich verdienten Auftragserteilung) näher Arzt, in: Küper (Hrsg.), Lackner-FS, 1987, S. 641, doch dürfte die Subsumtion einer Zahlung unter einen Korruptionstatbestand nicht davon abhängen, ob Drohung mit Unterlassen (der verdienten Auftragserteilung) oder mit Tun (Vereitelung der Auftragserteilung) vorliegt. Die OECD-Convention on Bribery, auf die die neuen Korruptionstatbestände im nationalen Recht zurückzuführen sind, verbietet alle korruptionsspezifischen Rechtfertigungsgründe. Sogar eine Anwendung des generellen Notstandes auf das vom Beamten mit Forderungen unter Druck gesetzte Opfer wird als

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lungen, die auf den ersten Blick nicht erpresst worden sind (z. B. weil sie vom Unternehmen angeboten worden sind), die Zwangslage so selbstverständlich sein kann, dass es sich der Erpresser ersparen kann, die Drohung explizit auszusprechen. Mit Blick auf erpresste Zahlungen nur soviel: Selbstverständlich kann man das juristische Konstrukt der „notwendigen“ Teilnahme so lange modifizieren, bis es der Fiktion des Erpressungsopfers als Korruptionstäter nicht im Wege steht. Mit der juristischen Fiktion kann man jedoch an der Realität der Erpressungen nichts ändern. Steigert man den Druck (vom Auftragsverlust zu Drohungen gegen Einrichtungen der Firma oder gegen Mitarbeiter), wird Siemens als Opfer durch Nachgeben, d.h. Schutzgeldzahlung, Täter der Unterstützung krimineller oder terroristischer Organisationen. Das gilt sogar dann, wenn Siemens zahlt, um das Leben eines entführten Mitarbeiters zu retten. Die USA haben diese Konsequenz gezogen, so etwa im Falle Chiquita (Schutzgeldzahlung des Bananenexporteurs in Kolumbien an rechte und linke Terrorgruppen).14 Man wundert sich, dass die Medien, die den Freikauf ihrer von Terroristen entführten Mitarbeiter mit großem Nachdruck fordern, beim Modethema der Korruption über diese einfache Wahrheit hinwegsehen: Ein Staat, der die Opfer nicht gegen Erpresser schützen kann, wird der Erpressung auch nicht dadurch Herr werden, dass er den Erpressungsopfern Strafe androht. Es ist realitätsfremd, die Kindesentführung durch Beschlagnahme des Vermögens der Eltern bekämpfen zu wollen. Ebenso realitätsfremd ist eine „imperialistische“15 Politik, die meint, mit der Bestrafung deutscher Opfer ausländischer Erpresser könne man das Erpressungsunwesen im Ausland erfolgreich bekämpfen. Warum eine derartige Strategie trotzdem international mehrheitsfähig geworden ist, dürfte wie schon bei der Geldwäsche teils auf echtem Aberglauben und teils – schlimmer – auf dem Bedürfnis der Juristen nach Einnahmen beruhen (dazu unten V.). Speziell im Musterprozess Siemens/Enel kommt hinzu, dass nach deutschem Recht die Zahlung (auch abgesehen von der Erpressungsproblematik) allenfalls dann als Bestechung strafbar gewesen wäre, wenn es sich bei den das Bestechungsgeld fordernden Personen um EU-Beamte gehandelt hätte (so die Anklagebehörde, anders der BGH). ___________ zweifelhaft betrachtet, so Zerbes, in: Pieth/Low/Cullen (Hrsg.), The OECD Convention on Bribery, 2007, S. 118 f. Offensichtlich soll die Entlastung des zur Zahlung genötigten Opfers erst im Rahmen der Mauscheleien im nichtöffentlichen plea bargaining berücksichtigt werden. Das lohnt keine Diskussion, solange das Völkerrecht das deutsche Schuldprinzip nicht abschaffen kann; vgl. auch die nachstehende Fn. 14 Eingehend (auch zu Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgründen) im Kontext der Finanzierung des Terrorismus und der Unterstützung krimineller Organisationen Arzt, in: Schmid (Hrsg.), Kommentar Einziehung, Organisiertes Verbrechen, Geldwäscherei, Bd. 1, 2. Aufl. 2007, Art. 260ter, N 178 ff. (dort N 199c zum Fall Chiquita). Zu Lebensgefahr für Siemens-Mitarbeiter in Nigeria bei Einstellung von Zahlungen in Nigeria vgl. Süddeutsche Zeitung, 19.11.2007, www.sueddeutsche.de/wirtschaft/101/424859/text. 15 Schünemann, GA 2003, 299 (309).

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3. Erpresste Zahlungen aus schwarzen Kassen als Untreue Wie vorstehend dargelegt, fallen die erpressten Zahlungen unter keinen deutschen Korruptionstatbestand. Trotzdem sollen sich nach BGH die Siemensmitarbeiter, die Zahlungen veranlasst haben, strafbar gemacht haben. Da bei Siemens (offenbar angesichts des verbreiteten Erpressungsunwesens) für solche Zahlungen schwarze Kassen bestanden, sieht der BGH die Angestellten, die solche Kassen eingerichtet, verwaltet oder sie zu bestimmungsgemäßen(!) schwarzen Zahlungen verwendet haben, als Untreue-Täter im Sinne des § 266 StGB. Die Untreue-Konstruktion des BGH weist Mängel auf, die ich nicht als Schönheitsfehler, sondern als Risse im Fundament ansehe: Erstens kann – wie dargelegt – nur in einer verkehrten Welt das Opfer einer Erpressung zum Täter einer Korruptionstat gemacht werden.16 Zweitens wundert man sich, dass das Unternehmen das Untreueopfer seiner eigenen Korruptionstat (oder deren Vorbereitung) sein soll. Staatsanwaltschaft und Vorinstanz wollten bei Siemens als Opfer noch über 100 Millionen aus dieser Tat gezogenen Gewinn abschöpfen(!). Drittens ist die Strafzumessung unkontrollierbar gemacht worden, geht es doch um eine Untreuetat, durch die das Opfer profitieren soll. Dass damit der Spielraum für plea bargaining fast beliebig groß wird, kann man je nach Standpunkt als negativen oder positiven Nebeneffekt betrachten. Viertens haben die Medien, einschließlich der Wirtschaftspresse, das Urteil zwar ganz überwiegend begrüßt, aber mit der für das Ansehen des BGH wenig schmeichelhaften Begründung, die Justiz habe unter der Flagge der Untreue eine Verdachtsstrafe17 für Korruption verhängt. Der gemeinsame Nenner der vier Fehler dürfte im – zutreffenden – Prinzip zu suchen sein, dass juristische Personen ihr Vermögen nicht rein wirtschaftlich betrachten dürfen. Anders als eine Privatperson kann die juristische Person beispielsweise den hehlerischen Ankauf von Ware nicht als einen gewinnbringenden Vermögensvorteil bewerten. Dieser in juristische Personen eingebaute Zwang zur Redlichkeit18 stößt jedoch an Grenzen, wenn legale Märkte von Schwarzmärkten überwuchert werden. Darauf komme ich unten IV. zurück. ___________ 16 An § 266 StGB ändert sich nichts, wenn man den Fall so abwandelt, dass die Zahlung unter einen Korruptionstatbestand gefallen wäre. 17 Financial Times Deutschland, 02.09.2008, S. 29, widmet dem Thema eine ganze Seite mit der spöttischen Schlagzeile: „Der Charme der Untreue“. Das Urteil wird auf die Formel gebracht, es gehe um die Wahl zwischen schwerer Beweisbarkeit (Korruption) und leichter Beweisbarkeit (Untreue). Es sei kein Wunder, dass der BGH dem Charme erlegen sei. Meiner Ansicht nach sind schon die „echten“ Bestechungstatbestände unter dem Druck der Beweisnot verbogen, Arzt, in: Roxin/Widmaier (Hrsg.), BGH-Festgabe Bd. IV, 2000, S. 755 ff., 768 ff. Darüber sollte man nicht noch hinausgehen. 18 Arzt/B. Heinrich/Hilgendorf/Weber, Strafrecht BT, 2. Aufl. 2009, § 20 Rn. 107.

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4. Rekordhohe Deliktssumme und rekordhohe Strafe Angesichts des Volumens korruptionsverdächtiger Zahlungen überrascht es nicht, dass Siemens aus den USA eine geradezu phantastisch hohe Strafe zu erwarten hatte. Sogar eine für das Großunternehmen (ca. 70 Milliarden € Jahresumsatz, fast 400 000 Mitarbeiter) ruinöse Höhe lag offenbar auch aus Sicht von Siemens im Bereich des Möglichen.19 Am 15.12.2008 ist die Einigung von Siemens mit den amerikanischen und deutschen Behörden bekannt geworden. Zu den bisher an deutsche Behörden gezahlten 201 Millionen € (dazu unten III.) kommt „nur“ noch eine zusätzliche runde Milliarde €20 . Der Löwenanteil (800 Millionen $, etwa 620 Millionen €) fällt den amerikanischen Behörden zu (die SEC erhält umgerechnet 270 Millionen € unter dem Titel „Gewinnabschöpfung“; das Justice Department akzeptiert eine Strafe von umgerechnet 350 Millionen €). Deutsche Behörden kassieren bescheidene 250.000 € an Strafe (und eine merklich höhere Summe, nämlich 394,75 Millionen, als Gewinnabschöpfung). Das Medienecho, insbesondere das Lob für die SEC, war wohl deshalb außerordentlich gedämpft, weil am selben Tag das Platzen des Madoff-Schneeballsystems (mit mutmaßlichem Schaden von 50 Milliarden $) publik geworden ist.21 Dass mit Siemens eine neue Zeit der für die Wirtschaft extrem teuren Kriminalitätsbekämpfung angebrochen ist, zeigt ein Blick auf andere teure Kriminalfälle der deutschen Geschichte. In Schneeballsystemen (zu erinnern ist an den von der ersten Welle der Volksaktionäre getragenen Fall IOS/Cornfield)22 steckt ein hohes Schadensrisiko, doch gelingt es praktisch nie, die Ermittlungskosten den Tätern aufzubürden. Auch Madoff wird sich zu keinem lukrativen Fall für die SEC entwickeln. Andere, in den deutschen Medien als bedeutsam angesehene Fälle aus der Wirtschaft (Mannesmann oder die Schmiergeldaffä___________ 19 ZEIT online, 29.03.2007, „Lebensgefährlich für Siemens“, www.zeit.de/online/ 2007/14/korruption-interview; Wirtschaftswoche, 13.09.2008, „Das könnte tödlich treffen“ (Verteidiger Wessing im Interview mit Wildhagen), http://wiwo.de/unternehmermaerkte/das-koennte-toedlich-treffen-306846/print/; Siemens PM 2008, 9 betont, dass die in den USA ausgehandelte Strafe „nur einen Bruchteil des Möglichen darstellte“. 20 Angaben nach Siemens PM 2008 „Siemens AG erzielt Einigung …“. Diese kurze PM steht neben der PM vom gleichen Tag, einer Zusammenfassung der Erkenntnisse auf 31 Seiten; dazu oben Fn. 2. Dass das Bußgeld nur 250.000 € umfasst hat, wird in der Kurzmitteilung nicht gesagt (dort wird eine Geldbuβe von 395 Millionen € genannt, genau genommen ist alles über 250.000 € „Gewinnabschöpfung“). 21 So nimmt schon in den „Reflexen“ in Neue Zürcher Zeitung, 16. 12. 2008, S. 26, Madoff gleich viel Raum ein wie Siemens, in der Folgezeit wird nur noch über Madoff und im Kontext damit wenig positiv über die SEC reflektiert. 22 Arzt, in: Kühne (Hrsg.), Miyazawa-FS, 1995, S. 519 ff. (521). – Der Fall des European Kings Club war relativ teuer, Arzt, ebenda S. 522 und BGHSt 43, 149 (Schaden 500 Millionen DM).

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ren bei Autozulieferern) sind schon von der Größenordnung her mit Siemens nicht vergleichbar. Überdies betreffen sie den Vorwurf (an konkrete Personen), sich oder Kumpane auf Kosten der Firma bereichert zu haben. Das sind „traditionelle“ Taten. Geht man etwas zurück, wäre an den spektakulären ConterganFall23 mit ein paar Tausend schwerstgeschädigten Kindern um 1960 zu denken. Hier hat sich die Belastung für die Chemie Grünenthal in der Größenordnung von 100 Millionen DM bewegt. Auf eine Klärung der Schuldfrage ist bewusst verzichtet worden. Zweifellos teurer als der Fall Siemens war BaaderMeinhof.24 Ich habe darauf verzichtet, im Titel meines Beitrags klarzustellen, dass die Bekämpfung terroristischer Organisationen auch unter Kostenaspekten als Sonderfall25 zu betrachten ist. Freilich, wäre die Subsumtion des Systems der schwarzen Kassen unter § 266 StGB ernst zu nehmen, wäre es nur noch ein kleiner Schritt zum Vorwurf, es habe sich innerhalb der Siemens AG eine kriminelle Vereinigung nach § 129 StGB gebildet.

III. Selbstbelastungspflicht; Unschuldsgewährleistung statt Unschuldsvermutung Vorstehend war mit Blick auf den Deliktsbetrag und die Strafe vom teuersten Kriminalfall der deutschen Geschichte die Rede. Anders als in meinem Eingangsbeispiel (Mord) waren bei Siemens die auf der ersten Stufe eines Kri___________ 23 Wikipedia spricht vom „Hauptverfahren gegen Grünenthal“, eine korrekte Wiedergabe der öffentlichen Wahrnehmung, auch wenn es de jure um Anklage gegen Menschen gegangen ist, darunter den Eigentümer der Firma und eine Reihe von Mitarbeitern, http://de.wikipedia.org/wiki/Contergan-Skandal. Zur Einstellung des Verfahrens vgl. LG Aachen JZ 1971, 516. Spätere Fälle des unterlassenen Produktrückrufs waren relativ billig, vgl. BGHSt 41, 206. 24 Der Fall hat zwischen 1970 und 1977 zu 47 Toten und zu massiven Ausgaben des Staates für die Verfolgung und Strafvollstreckung geführt, vgl. Aust, Der Baader Meinhof Komplex, 1985, S. 592; zu den Ausgaben für den Ausbau des BKA ebenda S. 196 ff. (Jahresetat 1971 = 54,8 Millionen DM; 1981 = 290 Millionen DM; 1.113 besetzte Stellen 1971; im Jahr 1981 3.536 effektiv für das BKA arbeitende Beamte und Angestellte). Rückblickend wundert man sich über die damalige Zurückhaltung des BKA bei der Datensammlung. „Herzstück des elektronischen BKA-Gedächtnisses war die Datei PIOS (Personen, Institutionen, Objekte und Sachen). PIOS/Terrorismus enthielt Erkenntnisse über rund 135 Personen …“; Aust, ebenda S. 203 (wohl mit Bezug auf das Jahr 1981). Heute erwartet die Schweiz von einer Bank mittlerer Größe, dass sie allein in ihrer PEP-Datei über eine halbe Million Namen von Menschen gespeichert hat, die – sollten sie einmal als potentielle Kunden an die Bank herantreten – besonders eingehend überprüft werden müssen, weil sie im Verdacht stehen, die Bank mit einem Reputationsrisiko zu belasten, vgl. KPMG, Clarity-Magazin, 2004, 15. 25 Beim Terrorismus ist die Prävention prinzipiell möglich, bei der Korruption ist ein Ausweichen in legale oder nicht effektiv zu verhindernde illegale Begehungsformen zu erwarten, so dass die hohen Ausgaben für Prävention weitgehend leer laufen. Zur Belastung der Wirtschaft mit Präventionskosten als Folge des Falles Siemens unten V.

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minalitätskontrollsystems anfallenden Ermittlungskosten zur Klärung eines Anfangsverdachts bei den Strafverfolgungsbehörden auffallend niedrig. Aber ob Schlamm des Bodensees oder Sumpf der Korruption: Klarheit ist – wenn überhaupt – nur mit enormem Aufwand zu schaffen. An Siemens zeigt sich ein neues Modell der Verdachtsaufklärung: Der Ermittlungsaufwand ist vom Verdächtigen (also Siemens!) zu bezahlen. Es ist gelungen, eine Vorstufe ins System der Kriminalitätskontrolle einzubauen. Verdächtige müssen in dieser Vorstufe ihre Taten (und Schuld) so weit aufklären, dass es für die Behörde fast nur noch eine Formsache ist, das Resultat in ein Strafurteil umzusetzen. Die Erklärung für diese Revolution ist primär in der Höhe der Strafe zu suchen, die gegen Siemens hätte verhängt werden können. Wem (wie Siemens!) die Todesstrafe droht, wird sich überlegen, ob er auf seiner totalen oder weitgehenden Unschuld insistieren und einen Prozess riskieren soll, wenn ihm der Staatsanwalt „nur“ 5 Jahre Freiheitsstrafe (oder im Falle Siemens eine nicht existenzvernichtend wirkende Geldstrafe) unter der Bedingung offeriert, er habe Verdachtsmomente selbst zu ermitteln und die Kosten zu tragen. Strafverfahren bei klassischen Straftaten werden in den USA routinemäßig (d.h. über 90%) durch plea bargaining vereinfacht, wo das Geständnis eines weniger schweren Delikts im Zentrum steht. Das Geständnis ist attraktiv, weil unerhört harte Bestrafung für den Fall droht, dass der Verdächtige sein Recht auf ganzen oder teilweisen Freispruch (oder auf milde Strafe) im „ordentlichen“ Verfahren suchen sollte und er dann im ordentlichen Verfahren schuldig gesprochen wird26. In Wirtschaftsstraftaten kommt zu der bei mangelnder Kooperation drohenden enormen Strafschärfung hinzu, dass dem Unternehmen von vornherein kein Schweigerecht zusteht. Die Schaffung eines teuren Kriminalfalls à la Siemens ist nur deshalb möglich, weil das als Straftäter verdächtige Unternehmen sicher in den USA (vielleicht auch in Deutschland) zur Selbstbelastung gezwungen werden kann.27 Wenn juristische Personen sich auf die Verweigerung der Kooperation mit Untersuchungsbehörden als ihr Verfassungsrecht berufen könn___________ 26

Arzt, in: Schmoller (Hrsg.), Triffterer-FS, 1996, S. 527 ff., dort auch das Beispiel aus der Judikatur des Supreme Court: „verfassungsrechtlich legitim“ ist Beantragung – und Verhängung – einer lebenslangen Strafe, wenn eine Plea-Offerte von 5 Jahren abgelehnt wird, was zur „Unbequemlichkeit“ des (theoretisch) ordentlichen Verfahrens führt. 27 Arzt, JZ 2003, 456 und Arzt, in: Grafl/Medigovic (Hrsg.), Burgstaller-FS, 2004, S. 221. Dass der Staat im Prozess gegen das Unternehmen den hilflosen Angeklagten gegen missbräuchliches Schweigen durch seine Organe und Verteidiger nur schützen kann, wenn dem Unternehmen kein Schweigerecht zugestanden wird, habe ich anhand des schweizerischen Rechts detailliert dargelegt (Arzt, SZW 2004, 357, dort auch zur kuriosen Tatsache, dass das Unternehmen, hätte es ein Schweigerecht, es nicht gegen seine redenden Vertreter durchsetzen könnte). Die materialreiche Arbeit von Eidam, Die strafprozessuale Selbstbelastungsfreiheit am Beginn des 21. Jahrhunderts, 2007 zeigt, wie schwer es dem Verfassungsrecht fällt, die seiner Expansion gezogenen Grenzen einzusehen.

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ten, wäre ihnen zu empfehlen, eine gut dotierte Abteilung für Non-Compliance zu schaffen. Hält man sich vor Augen, dass Siemens28 für seine eigenen „unabhängigen“ Ermittlungen pro Jahr etwa 400 Millionen € als angemessenen Aufwand betrachtet hat, hätten sich die deutschen Strafverfolgungsbehörden Ausgaben in auch nur annähernd vergleichbarer Höhe, die mit der Abklärung der Zahlungsströme gegen ein „mauerndes“ Unternehmen verbunden gewesen wären, so wenig leisten können wie die weitere Suche im Morast des Bodensees in meinem Eingangsbeispiel29. Die deutschen Verfolgungsbehörden hätten Kooperation auch nicht mit einer den Geschäftsgang lähmenden Besetzung der Geschäftsräume zwecks Durchsuchung erzwingen können, denn ohne konkrete Hinweise, was vermutlich wo zu finden ist, wäre eine derartige Taktik schikanös. Mehr oder weniger verdächtige Manager in Untersuchungshaft zu setzen und erst bei Kooperation zu entlassen, wäre eine missbräuchliche Verdrehung des Haftgrundes der „Verdunkelungsgefahr“ in eine Aufhellungspflicht30. Wie dem auch sei, Siemens ist mit Recht gar nicht auf die Idee gekommen, den Versuch zu machen, die Kooperation mit den staatlichen Ermittlungen zu verweigern.31 Eine Kooperationspflicht juristischer Personen in einem der Sache nach gegen sie gerichteten Strafverfahren bedeutet nach der traditionellen Ordnung der Beweis- und Zwangsmittel vor allem, dass Auskünfte gegeben werden müssen und Unterlagen durch den Vertreter der juristischen Person namens des Unternehmens zu edieren sind. Das ist etwas anderes als eine Suche im Unternehmen durch das Unternehmen nach möglicherweise existierenden Beweismitteln, die für eine Ermittlungsbehörde von Interesse sein können. Nicht in der Frage der Kooperationspflicht, sondern erst im Ausmaß trennen sich die Wege zwischen Deutschland und den USA. Aus der Kooperation macht die amerikanische Praxis eine Pflicht, sich selbst zu überführen. Auch nach deutschem Recht versteht ___________ 28 Siemens GB 2007, 183 nennt 347 Millionen € für das Berichtsjahr allein für externe Berater im Kontext seiner internen Untersuchung von Korruption; Siemens GB 2008, 50 nennt 510 Millionen € für das Folgejahr; Siemens PM 2008, 9 beziffert die „derzeitigen unmittelbaren Kosten“ für die Anwaltskanzlei Debevoise auf 204 Millionen €; für Deloitte (Wirtschaftsprüfer, beauftragt von Debevoise) auf 349 Millionen €. 29 „Schlau“ bezeichnet die Süddeutsche Zeitung (Beise) den Deal der Staatsanwaltschaft mit Siemens zwecks Beendigung der Ermittlungen im Kommunikationsbereich (Com): 200 Millionen Abschöpfung plus 1 Million Buße, denn „die Behörden … ersparen sich ein möglicherweise uferloses Verfahren, das Staatsanwälte und Richter am Ende hätte überfordern können“, www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/713/136444/ print.html. 30 Dazu Fn. 39. 31 Die Formulierung in Siemens GB 2007, 42 „wir sehen uns auch selbst in der Pflicht, zur Aufklärung der Vorfälle beizutragen“, macht das Sehen der Kooperationspflicht zu einem fast mystischen Kollektiverlebnis.

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sich, dass Siemens versichert: „We are therefore doing everything in our power to assist the public authorities and the courts in clearing up these issues …“32. Nicht selbstverständlich ist aus deutscher Sicht der darüber hinausgehende Schritt: „we have also launched our own comprehensive internal investigations. For this purpose, Siemens has retained the U.S. law firm Debevoise & Plimpton LLP as an independent agent to identify any further violations of anticorruption rules“. Letztlich dürften sich in der Erwartung der amerikanischen Behörden, Siemens werde ein veritables Ermittlungsverfahren gegen sich selbst führen, amerikanische Vorstellungen über „discovery“ zwischen Prozessparteien niederschlagen. An der zitierten Stelle steckt die (auch für die befragten Mitarbeiter entscheidende) Außenwirkung der internen Untersuchung im knappen Hinweis auf die „Unabhängigkeit“ der amerikanischen Anwaltskanzlei. Gemeint ist damit, dass die Kanzlei den Behörden der USA direkt und fortlaufend über ihre Ermittlungsergebnisse Bericht erstattet.33 Auf dem Umweg über eine als intern bezeichnete Untersuchung ermitteln so die amerikanischen Behörden bei Mitarbeitern von Siemens weltweit, ohne dabei an deutsche oder amerikanische Regeln gebunden zu sein, die bei direkten Befragungen durch Strafverfolgungsbehörden einzuhalten wären. Die ermittelnden Anwälte informieren auch den Prüfungsausschuss des Aufsichtsrats, der erklärt hat, er werde die ihm von den amerikanischen Anwälten übermittelten Informationen nach freiem Ermessen an Behörden im Inland oder Ausland weitergeben. Nicht die grundsätzliche Auskunftspflicht des verdächtigen Unternehmens gegenüber Strafverfolgungsbehörden, sondern die daraus abgeleitete sekundäre Pflicht, ein als intern bezeichnetes Ermittlungsverfahren zu führen, lässt das Vorgehen aus deutscher Sicht in wichtigen Details als prozedural höchst gewöhnungsbedürftig erscheinen. Zu den Loyalitätskonflikten auf Ebene der Topleute in den USA ist vorab anzumerken, dass angesichts der ihnen theoretisch drohenden massiven Freiheitsstrafen das Interesse groß sein muss, dass nur gegen das Unternehmen vorgegangen wird und es zu einem sie entlastenden Deal kommt, notfalls auf Kosten einer harten Bestrafung des Unternehmens. Hier interessieren vor allem die Loyalitätskonflikte bei den Befragten in Deutschland: Nach deutschem Recht, wo nur natürliche Personen die Rolle des Angeklagten spielen können, ist leicht vorstellbar, dass deren Schweigerechte mit ihrer Pflicht harmonieren können, die Interessen einer juristischen Person so zu wahren, dass dem Unternehmen Strafe oder Bußgelder erspart bleiben. Wenn ein Geschäftsführer die Gesellschaft durch legale Methoden (insbesondere ___________ 32

Siemens CR 2007; Hervorhebung wie im Original. Siemens PM 2008, 5 nennt u. a. 14 Millionen gesichtete Dokumente, 38 Millionen analysierte Finanztransaktionen, 82 Millionen elektronisch durchgekämmte Dokumente im Verlauf der internen Untersuchung zu Handen der amerikanischen Behörden. 33 Siemens, GB 2007, 42; kritisch dazu Wessing, Wirtschaftswoche (wie Fn. 19); Sieg, in: Bauer u.a. (Hrsg.), Buchner-FS 2009, S. 859 ff. (862 ff.).

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Schweigen gegenüber Ermittlungsbehörden) vor Geldstrafen, Bußgeld, Verfall/Einziehung schützen kann und er sie stattdessen der Verfolgungsbehörde ausliefert, wäre er wegen Untreue zum Nachteil der Gesellschaft zu bestrafen34. Nach deutschem Recht gilt auf der Führungsebene der Satz: „Da der Aufsichtsrat in erster Linie die wirtschaftlichen Interessen der Gesellschaft im Auge behalten muss, muss er auch daran interessiert sein, rechtswidrige Handlungen des Vorstandes … zu verheimlichen“35. Das gilt entsprechend auf tieferen Stufen der Unternehmenshierarchie36. Der von der höheren Ebene ausgehende Aufruf zu „whistle blowing“ stellt deshalb jeden Mitarbeiter auf tieferer Ebene vor die Frage, ob es „oben“ um Kosmetik geht und ob – falls der Aufruf ernst gemeint sein sollte – angesichts guter Chancen, rechtswidriges Verhalten auf Dauer bei solidarischem Schweigen verheimlichen zu können, die höhere Instanz das Interesse des Unternehmens, einschließlich des Interesses des Unternehmens an seiner (Selbst-)Begünstigung, wirklich korrekt „treu“ im Sinne des § 266 StGB beurteilt. Der Beauftragung der amerikanischen Kanzlei (Dezember 2006) ist der Rücktritt des Aufsichtsratsvorsitzenden v. Pierer (April 2007) gefolgt. Zeitgleich mit diesem Rücktritt hat der Vorstandsvorsitzende Kleinfeld mitgeteilt, er stehe für eine Verlängerung seines Mandats nicht zur Verfügung (ersetzt am 1.7.2007 durch Löscher). Wenn der neue Aufsichtsratsvorsitzende von Siemens, Cromme, am Tag dieser Rücktritte mit Kritikern im Konzern am Prüfungsausschuss scharf ins Gericht geht und „Mangel an Unrechtsbewusstsein“37 beklagt, sollte bedacht werden, dass für jeden Befragten nicht nur die moralische Pflicht zur Loyalität, sondern auch die deutsche Rechtslage bezüglich der Compliance ambivalent ist. Diese Ambivalenz verstärkt sich, wenn man die Details des Befragungsverfahrens betrachtet. Die befragten (mehr oder weniger) Verdächtigen sind in ein juristisches Niemandsland versetzt worden. Darauf zielt der in den Medien wiederholt gebrauchte Vergleich mit Guantanamo.38 Auf einige dieser Details komme ich unten V. zurück. Angesichts der ___________ 34 Vgl. nur Cramer, in: Dencker u. a. (Hrsg.), Stree/Wessels-FS, 1993, S. 563 ff. (583): Es kann ein „erhebliches Interesse der Gesellschaft daran bestehen, festgestellte Straftaten oder Ordnungswidrigkeiten nicht publik zu machen oder gar den Verfolgungsbehörden zu melden“. Cramer behandelt das Verhältnis des Aufsichtsrats zum Vorstand, wenn der Aufsichtsrat von dessen Taten Kenntnis erhält. Sieg (wie Fn. 33), S. 859 beschreibt Compliance im Spannungsfeld „zwischen Zivilcourage und Denunziantentum“. 35 Cramer, ebenda S. 583. 36 Zu den Interessenkonflikten auf der Basis der schweizerischen Rechtslage oben Fn. 27. Geht man von einer Unternehmensstrafbarkeit aus, stellt sich u. a. die Frage nach der Selbstbegünstigung der AG (und Mitwirkung an dieser Selbstbegünstigung juristischer Personen durch natürliche Personen), dazu Arzt, recht 2004, 213. 37 Neue Zürcher Zeitung, 26./27.05.2007, S. 27. 38 managermagazin 7/2008, S. 40 ff., 44 schreibt diesen harten Vergleich dem Münchener Verteidiger Amelung zu; er wird auch in Wirtschaftswoche, 07.08.2008, gezogen

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amerikanischen Untersuchungen war es für die Unternehmensleitung begreiflicherweise nicht opportun, die ambivalente deutsche Rechtslage zu betonen. Dadurch verschärfen sich jedoch die Loyalitätskonflikte bei den Mitarbeitern, die mehr oder weniger vage Hinweise auf Compliance-Verstöße geben könnten oder die mehr oder weniger dubiose Zahlungen veranlasst (oder darum gewusst) haben. Da es sich bei der Befragung von Mitarbeitern im Auftrag des Aufsichtsratsausschusses formaliter um ein Selbstkontrollverfahren des Unternehmens handelt, sind die Arbeitnehmer der Unternehmensleitung (und den in deren Auftrag handelnden Personen) rechenschaftspflichtig. Von einem Auskunftsverweigerungsrecht kann auch dann keine Rede sein, wenn klar ist, dass Informationen über Verfehlungen an die staatlichen Ermittlungsbehörden weitergeleitet werden. Der Staat erreicht durch die der Form nach interne Untersuchung der Korruptionsvorwürfe, dass das Unternehmen die Ermittlungskosten trägt und den für das Unternehmen tätig gewordenen Personen eine Pflicht zur Selbstbelastung auferlegt wird. Wie eigenartig das SEC-Verfahren (unter der Flagge einer siemensinternen unabhängigen Untersuchung) mit dem normalen deutschen Verfahren verflochten ist, zeigt der Gewerkschaftsfall. Verschonung von deutscher U-Haft, wenn „vollumfängliche Kooperation“ mit den „internen“ Ermittlungen zugesagt wird (wobei das durch diese Kooperation des Beschuldigten gegen ihn gewonnene Belastungsmaterial von Siemens in das deutsche Strafverfahren eingespeist wird). Von dieser Zusage hat Siemens seine Bürgschaft (4,5 Millionen) für die Kaution abhängig gemacht, von der wiederum die Haftverschonung abhängig gewesen sein dürfte.39Auch durch Aufrufe zur Selbstanzeige (die kaum je realistisch ist, ohne dass andere denunziert werden) hat die Siemens-Führung ihren Willen zur Kooperation mit den Ermittlungsbehörden gezeigt.40 Trotzdem dürfte es schwierig sein, einem Angestellten den Willen zur Schädigung von Siemens zuzuschreiben, wenn er – anders als die Leitung – im solidarischen Verschweigen die richtige Wahrnehmung des Firmeninteresses sieht. Wo das amerikanische Recht mit zu berücksichtigen ist, werden die skizzierten Interessenkonflikte für die Betroffenen zum Irrgarten. Schließlich ist noch zu beachten, dass die Einseitigkeit der Untersuchung vorgegeben war. Obwohl Korruption zwei Seiten (Geber/Nehmer) voraussetzt, ___________ (im Interview von Wildhagen mit dem Anwalt Wastl). Zu den Faktoren, aus denen sich Korrektheit und Fairness der Untersuchung ergeben sollen, Siemens PM 2008, 5–7. 39 Siemens GB 2007, 304. 40 Siemens GB 2007, 175, verbunden mit einem Amnestieangebot (Führungskräfte ausgenommen), d. h. Siemens verspricht, auf Schadensersatzklagen und Kündigung (gestützt auf die offenbarte Verletzung von öffentlichen Antikorruptionsregeln) zu verzichten. Später hat Siemens zusätzlich noch eine (auch für Führungskräfte gedachte) „Kronzeugenregelung“ eingeführt, Siemens PM 2008, 7.

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konnten und wollten die „internen“ Ermittler die als „Nehmer“ angeschwärzten externen Personen nicht anhören. Materiellrechtlich ruhen Untersuchungen eines Unternehmens gegen sich selbst zwecks Weitergabe der Resultate an Aufsichtsbehörden auf einem prinzipiell sicheren Fundament: Bei besonders gefährlichen Aktivitäten ist im Verhältnis zu staatlichen Aufsichtsbehörden die Gewährleistungspflicht (der Harmlosigkeit, der Einhaltung aller Sicherheitsstandards etc.) nichts Neues. Der Transfer ins Strafrecht ist verlockend: Das in Verdacht geratene Unternehmen muss seine Rechtstreue (ggf. den Umfang seiner Verfehlungen) nachweisen. Das mag in den USA, wo aufsichtsbehördliche und strafrechtliche Untersuchungen miteinander eng verwoben sind, mehr oder weniger normal sein. Der deutschen Öffentlichkeit dürfte die Tragweite des Changierens von der Unschuldsvermutung zur Unschuldgewährleistungspflicht erstmals im Fall Siemens voll bewusst geworden sein. Auf die besondere Problematik, die dann entsteht, wenn die juristische Person (z. B. eine Bank) unter dem Vorzeichen, sie wolle oder müsse sich selbst untersuchen, gegen ihre Kunden ermittelt, weise ich hin41. Als Objekt solcher Ermittlungen gegen sich selbst kommt von vornherein nur ein finanzkräftiges Unternehmen in Betracht, das die hohen Kosten, die mit dieser Konsequenz der Unschuldgewährleistungspflicht verbunden sind, absorbieren und weitergeben kann. Es kommt hinzu, dass dem Unternehmen enorme Kosten auch mit Blick auf die Prävention entstehen. Pointiert gesagt, das Unternehmen muss sich hohe Standards zur Verhütung seiner Rückfälligkeit auferlegen. Damit es auch künftig viel Geld für Compliance ausgibt, ist die Unterwerfung unter einen Compliance-Monitor Teil des Deals in solchen Fällen (auch bei Siemens, Bewährungsfrist mehrere Jahre). Die damit verbundenen Kosten können nur dann auf die Kunden abgewälzt werden, wenn eine vergleichbare Belastung der großen Konkurrenten gewährleistet ist. Das Regime der Unschuldsgewährleistungspflichten begünstigt die Ausrottung kleiner Unternehmen, denn die Aufsichts- und Strafverfolgungsbehörden können bei großen Firmen auf Kooperation (mindestens eines Teils des Managements) zählen. Kleine Unternehmen werden dagegen bei Druck von außen oft enger zusammenrücken. Compliance ist nicht einfach eine dem jeweiligen Unternehmen zu überlassende Frage des angemessenen Aufwandes, sondern ist schnell ein Betätigungsfeld für halbstaatliche Zertifikations- und Ratingagenturen geworden. Sie werden sich rasch in ihren Anforderungen überbieten, wie teuer die ___________ 41

Bei Siemens sind vielleicht nicht Kunden, sondern nur Berater und andere Mittelsmänner mit betroffen; bei den Banken geht es der amerikanischen Aufsichtsbehörde dagegen primär darum, dass die juristische Person ihre Kunden „ausliefert“. Die bekannte Pointe solcher Mitbetroffener liegt in der Rechtlosigkeit in ihrer Rolle als „Dritter“.

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Compliance-Bürokratie den Unternehmen zu sein hat42. Vorbild sind die an Zahl rasant zunehmenden Examen, in denen sich Staaten daraufhin überprüfen lassen, ob sie genügend Geld ausgeben, z. B. für die Bekämpfung von Geldwäscherei etc. Wie massiv die Strafverfolgung von Kostentragungsfragen abhängig ist, zeigt das Gedankenspiel eines Straftatverdachts, der sich gegen ein großes, aber armes (u.U. durch Straftaten arm gewordenes) Unternehmen richtet. Einem solchen Täter steht die Flucht in den Bankrott (quasi in den Suizid) offen. Als Beispiel für einen neueren großen Fall denke man an Enron43. Geht das verdächtige Unternehmen pleite, wird es für die Behörde schlagartig uninteressant. Eine ins Detail gehende Sachverhaltsaufklärung unterbleibt, denn niemand will sie bezahlen. Es interessiert allenfalls eine Mitverantwortung von Firmen oder Personen, bei denen noch viel Geld zu holen ist. Was bleibt, ist das Bedürfnis nach einigen „Sündenböcken“. Es wird durch die vorstehend beschriebenen deals befriedigt, in denen Individuen, die sich mehr oder weniger wahrscheinlich schuldig gemacht haben, unter dem Druck horrend überhöhter Strafdrohungen eine relativ milde Strafe akzeptieren. Besonders milde fällt die Strafe beim „Kronzeugen“ aus, also dem Ganoven, der (aus welchen Gründen auch immer) bereit ist, andere zu belasten, die der Staatsanwaltschaft als attraktivere Ziele erscheinen (z. B. weil sie in der Hierarchie des Unternehmens höher rangieren). Auch im Falle Siemens spielen Kronzeugen eine große Rolle44. Dass Kronzeugen erfahrungsgemäß die Dinge so sehen, wie es die Staatsanwaltschaft für richtig hält, ist die crux des plea bargaining45. Das Kronzeugensystem ist eine Subform im System ausgehandelter Wahrheit. Ein Schwerverbrecher kann per plea eine mildere Strafe erreichen, wenn er fünf seiner Taten zugibt und noch zwei von ihm nicht begangene Überfälle zusätzlich auf seine Kappe nimmt (das verbessert die Aufklärungsquote), als wenn er leugnet und dann im ordentlichen Verfahren nur bezüglich drei der von ihm begangenen Taten überführt wird. Das Beispiel spiegelt die Realität des plea bargaining in den USA. Es ist denkbar, dass es sich für Siemens gerechnet hat, den amerikanischen Behörden lieber den Triumph der Erledigung eines über 1 Milliarde schweren Falles kooperativ zu verschaffen, als zu versuchen, konfrontativ die ___________ 42 Zu Siemens als benchmark unten V. 3.; zum Rating durch den Dow Jones Sustainability Index vgl. Siemens CR 2007, 85 und CR 2008, 31. 43 Arzt, in: Bucher u. a. (Hrsg.), Wiegand-FS, 2005, S. 739 ff. (751); letztlich lag Enron ein Schneeballsystem zugrunde. Was an Mitteln noch übrig war, wird von den mit der Verteilung befassten Juristen sukzessive aufgefressen, der Fall ist nach 5 Jahren immer noch pendent. 44 Vorstehend Fn. 40. Zum Kronzeugen „Reinhard S.“ im bayrischen Verfahren vgl. Süddeutsche Zeitung, 19.11.2007, www.sueddeutsche.de/wirtschaft/artikel/961/143640/ print.html. 45 Dazu oben Fn. 26.

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verdächtige Summe zu minimieren. Von außen lässt sich nicht beurteilen, ob solche taktischen Überlegungen angestellt worden sind.

IV. Compliance bei korrupten schwarzen Märkten 1. Rückzug vom Markt Korruption hat viele Gesichter. Bei Kritik an Zuständen im Ausland ist zu beachten, dass dort oft die Äquivalente für bei uns legale Formen der Korruption fehlen.46 Man kann sich das an deutschen Städten klarmachen, die ihre Infrastruktur pro forma an Geschäftspartner in die USA verschieben und von ihnen im selben Moment zurück leasen. Das Geschäft dient nur dem einen Zweck, Steuern zu sparen47. Selbstverständlich berührt sich hier mein Beitrag eng mit einer Korruption, die in der Umgehung von Gesetzen (oder Umgehung moralischer Anforderungen durch Legalität) liegt – einem besonderen Interessengebiet des Jubilars48. Die Kriminalisierung der Auslandskorruption beruht auf dem Gedankenspiel, alle Marktteilnehmer würden sich aus dem korrupten schwarzen Markt zurückziehen. Dann ist ein wunderbares Erlöschen der Kriminalität angesagt: Wie bei der Geldwäsche der Kollaps der organisierten Kriminalität prophezeit worden ist, weil die Verbrecher mit ihrem schmutzigen Geld nichts mehr anfangen können, so erlischt die Korruption, wenn niemand das geforderte Bestechungsgeld zahlt. Zahlt ab heute niemand Schutzgeld, kollabiert die Mafia nächste Woche; zahlt ab heute niemand Lösegeld, werden ab nächstem Monat keine Mitarbeiter, Touristen oder Journalisten mehr entführt. Bei der für Siemens charakteristischen Korruptionsform des Eingehens auf echt- oder quasi-erpresserische Forderungen (und Zuwendungen, um sich eine an sich verdiente Auftragserteilung zu sichern), sind die Alternativen zu bedenken. Dem mit Forderungen eines deutschen Beamten nach Bestechungsgeld ___________ 46

Zu Filz statt Kriminalität, Arzt, in: Albrecht u. a. (Hrsg.), Kaiser-FS, 1998, S. 495. Wem das Beispiel nicht gefällt, mag nach England blicken. Dort hat die Regierung mit Verärgerung auf die Meldung reagiert, dass von den 700 gröβten britischen Unternehmen gut ein Viertel im Geschäftsjahr 2005/2006 überhaupt keine Unternehmenssteuern bezahlt hat; Neue Zürcher Zeitung, 22.10.2008, S. 19. 48 Stöckel, Gesetzesumgehung und Umgehungsgesetze im Strafrecht (Strafrecht, Strafverfahren, Kriminologie, Bd. 13), 1966. – Ich bin auf diese Arbeit bald nach ihrem Erscheinen im Zuge von Vorüberlegungen über ein Habilitationsthema in Richtung Bestimmtheitsgrundsatz gestoßen. Das Projekt habe ich auch deshalb fallen gelassen, weil mir zur Auflösung der von Stöckel betonten rechtspolitischen Ambivalenz der Bestimmtheit von Verboten (je bestimmter, desto leichter zu umgehen) nichts Neues eingefallen ist. 47

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konfrontierten Bürger oder Unternehmen ist zumutbar, nicht mit Zahlung, sondern mit Anzeige des Beamten zu reagieren. Auch im Ausland haben die verantwortlichen Mitarbeiter theoretisch diese Alternative (nämlich rechtstreues Verhalten: Anzeige des Erpressers). Realistisch betrachtet wird dieser Kurs dazu führen, dass der Auftrag verloren geht. Wo der Markt vom Schwarzmarkt überwuchert ist, bildet der Rückzug vom illegalen Markt die einzige realistische und rechtskonforme Option zu illegalen Schwarzmarktgeschäften. Wer, wie ich und viele meiner Generation, nach 1945 ohne Schwarzmarkt verhungert wäre und/oder sich noch an die sozialistische Mangelwirtschaft der DDR mit ihrem Schwarzmarkt erinnert, der den legalen Markt in weiten Bereichen verdrängt hatte, empfindet die Zumutbarkeit des Rückzugs auf einen legalen Markt (also Abmagerung durch den Verzicht auf Aufträge) nicht als Selbstverständlichkeit. Ausnahmsweise wird der Rückzug vom korrupten Schwarzmarkt ernstlich dort erwartet, wo ein mächtiger Staat einen Boykott gegen einen anderen Staat aus politischen Gründen (die mit Korruption nichts zu tun haben) durchsetzen will. Aus der Sicht der USA soll das Regime des Iran boykottiert werden; Geschäfte mit dem Iran sind von den USA in die Nähe der Unterstützung des Terrorismus gerückt worden. Als im Jahr 2004 Listen der im Iran tätigen Firmen in den USA publiziert wurden, haben viele Betroffene, darunter die Großbank UBS, prompt reagiert und alle Irangeschäfte abgebrochen. Auch Siemens stand auf einer solchen Liste des schmutzigen Dutzends an Weltfirmen, die mit einem Land Geschäfte machen, das den Terrorismus fördert.49 Die politische Attraktivität von Straftatbeständen gegen Korruption dürfte wesentlich auf die Leichtigkeit zurückzuführen sein, mit der diese Tatbestände für andere Zwecke missbraucht werden können (Boykott ist nur ein Beispiel). Von solchen Ausnahmefällen abgesehen, ist je nach betroffenem Land das Eingehen auf erpresserische Forderungen bei normaler Geschäftstätigkeit eine praktisch unvermeidbare Form der Korruption. Dann ist auf Seiten der Verfolgungsbehörde Auswahl (fast) alles. Die USA haben seit 1977 das Verbot der Auslandskorruption; angewendet worden ist das Gesetz in den ersten 25 Jahren selten50. Siemens hat sich geeignet, ein Exempel zu statuieren. Dass dem Staat nach der in Deutschland ganz herrschenden Theorie bei der Anwendung des Strafrechts dieses Kalkül mit exemplarischer Härte verboten sein soll, sei am Rande vermerkt.

___________ 49

Zur Liste des U.S. Center for Security Policy von 2004 und dem Rückzug 2005 der UBS aus allen Iran-Geschäften, freiwillig (!) „in response to U.S. Government pressure“(!), Fortune, 02.04.2007, „Target Iran“; ebenda Anprangerung von Siemens im Kontext der Weltfirmen „active in countries that sponsor terrorism“. 50 Dazu und zum Übergang von einer Praxis niederer Strafen zu „aggressive pursuit“ Cullen, in: Pieth/Low/Cullen (Hrsg.), The OECD Convention on Bribery, 2007, S. 239.

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2. Export der Sauberkeit oder Import der Fäulnis Zur bedauerlichen Normalität der Geschäfte mit korrupten Regimen begnüge ich mich mit drei kurzen Bemerkungen: (1) Wie realistisch ist die Erwartung, man könne mit strafrechtlichen, also simplen, Rezepten einen Handel ohne Korruption abwickeln, wenn selbst Geschenke nur allzu oft erst verteilt werden dürfen, nachdem die Hilfswerke Bestechungsgeld bezahlt haben? (2) Bei Mischung wirtschaftlicher Interessen mit humanitären Erwägungen ist die Korruptionsanfälligkeit besonders groß (dokumentiert am Programm „Oil for Food“ der Vereinten Nationen, auch da mit Beteiligung von Siemens).51 (3) Je wichtiger das business, desto eher verstummen die Vorwürfe der Korruption. Russland sei als Beispiel für die Peinlichkeiten genannt, die die Schweiz mit internationaler Rechtshilfe bei Korruption und damit verbundenen nationalen Verfahren (insbesondere wegen Geldwäscherei) erlebt hat. Mit der Ausweitung des Bestechungsstrafrechts hat man neue völlig unrealistische Erwartungen geweckt. So wie Rechtsstaaten bei der Gewährung oder der Verweigerung der internationalen Rechtshilfe in Relation zu vielen Ländern mit wenig redlichen Argumenten auf den Boden der Realität zurückfinden müssen, wird man bei nationalen Strafverfahren wegen Auslandskorruption irgendwie der Realität „paralleler“ Märkte Rechnung tragen müssen. Mit etwas Neid und viel Spott beobachtet man in der Schweiz das deutsche Engagement in Turkmenistan52, Siemens – frisch geläutert in Sachen Korruption – ist offenbar dabei. – Wo (abgesehen vom Rückzug vom Markt) echte Compliance unmöglich ist, müssen Compliance-Anstrengungen darauf hinauslaufen, Korruption formell so abzuwickeln, dass sie nicht mehr in den Verantwortungsbereich der westlichen Firmen fällt. Da lässt sich viel machen, ohne dass in der Sache etwas gewonnen wäre.53 Ob man in puncto Korruption mit weniger Strafrecht mehr hätte erreichen können, etwa durch eine schrittweise Einbeziehung relativ korruptionsfreier Länder in ein eng definiertes Korruptionsverbot oder spezielle Maßnahmen bei Großaufträgen, ist eine Frage, die sich leider nicht mehr stellt. Die internatio___________ 51

Siemens CR 2008, 194. Schlagzeile in der Neuen Zürcher Zeitung, 15./16.11.2008, S. 5: „Merkel empfängt den Diktator Turkmenistans/Wirtschaftsinteressen überwiegen Menschenrechtsbedenken“. Im Bericht wird Turkmenistan als „menschenrechtliches Katastrophengebiet“ bezeichnet. Man könne „getrost vermuten, dass Firmen wie Daimler, die Deutsche Bank oder Siemens, die alle in Turkmenistan tätig sind“ mit ihren Geschäftsinteressen die „ausgebliebene Schelte“ erklären. Hingewiesen wird auf Platz 166 im CorruptionPerceptions-Index 2008 von Transparency International (gleichauf mit Simbabwe). 53 Siemens PM 2008, 17 spricht deutlich aus, dass der eigentliche Wandel nicht durch neue Formalien herbeigeführt werden könne, sondern durch Auslassen von Geschäften. 52

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nale Entwicklung hin zur illusionären Maximalisierung des Strafrechts ist unumkehrbar. Bei der Steuerhinterziehung ist dagegen die Konkurrenz verschiedener Modelle noch im Gange. Es existieren Systeme, die sich prioritär um Verringerung der Anreize zur Hinterziehung bemühen, neben solchen, die erst unvernünftige Versuchungen schaffen und sie dann durch extensiven Einsatz des Strafrechts bekämpfen. Al Capone54 hat die lebenslange Zuchthausstrafe wegen Steuerdelikten deshalb erhalten (nach amerikanischer Ansicht legitimerweise), weil er im Verdacht stand, Morde begangen zu haben. Der Präsident der USA hat der Steuerbehörde eine Liste seiner Gegner in den Medien zukommen lassen, in der Erwartung, man werde bei genauerem Hinsehen schon etwas Kriminelles finden. Als das publik wurde, musste sich Nixon eine genauere Untersuchung seiner Steuererklärungen gefallen lassen – und prompt sind Verfehlungen ans Licht gekommen; sein Vizepräsident (Agnew) musste wegen Steuerunredlichkeiten zurücktreten. Wenn schon im Steuerstrafrecht die Frage der Auswahl eine bedenklich große Rolle spielt, wird bei der Auslandskorruption fast alles eine Frage der Wahl (oder der Form) werden. So dringt die Fäulnis, die man im Ausland bekämpfen möchte, ins eigene System ein. Fazit: An verbreiteten Schwarzmärkten kann das Strafrecht wenig ändern. Mit seinem notwendig selektiven Einsatz steigt das Risiko seines Missbrauchs. Zahlungen, die sich aus der Teilnahme eines Unternehmens an Schwarzmarktgeschäften ergeben, führen theoretisch zur Strafbarkeit wegen des Schwarzmarktgeschäfts per se, doch ist je nach faktischer Duldung des Schwarzmarktes die Verfolgung inopportun. Dass die Zahlungen quasi denknotwendig „schwarz“ erfolgen, sollte keine Subsumtion unter § 266 StGB auslösen können.55 Erst recht gilt dies bei legalen Transaktionen, die verdeckt abgewickelt werden, um die Verletzung selbst auferlegter ethischer Richtlinien zu verschleiern.

V. Das lucrum: Die neue Droge im System der Kriminalitätskontrolle 1. Abhängigkeit von Verstößen gegen Compliance Betrachtet man die Sanktion in Höhe von 1,2 Milliarden €, die Siemens auferlegt worden ist (und die nach Ansicht von Siemens nur einen Bruchteil des Möglichen betragen hat!);56 addiert man den Aufwand von etwa 400 Millio___________ 54 Auf das Al Capone Syndrom habe ich wiederholt hingewiesen, vgl. schon Arzt, Cornell International LawJ. 12 (1979) 43 ff. (52); dort (59) auch Nachweise zu Nixon. 55 Auf der Pflicht juristischer Personen zur juristischen (statt wirtschaftlichen) Betrachtung ihres Vermögens beruht die prinzipielle Subsumtion schwarzer Kassen unter § 266 StGB, oben II. Diese Pflicht muss je nach Unzumutbarkeit des Rückzugs vom Schwarzmarkt relativiert werden. 56 Oben Fn. 19.

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nen € pro Jahr für interne Ermittlungen; bedenkt man die Siemens belastende Rekordhöhe der Korruptionszahlungen (1,3 Milliarden), eine Höhe, die zugleich auf einen Schwarzmarkt hinweist, was Siemens nach hier vertretener Ansicht massiv entlastet und betrachtet man die Fernwirkungen in Form einer neuen Aufpassermentalität mit enormen laufenden Ausgaben für Compliance (oder deren Schein) nicht nur bei Siemens, sondern in der Wirtschaft allgemein, dann müssen sich diese Ausgaben anderswo als Einnahmen niederschlagen. Wenn solche Ausgaben im Fall Siemens ein Mal erzwungen werden können, schaffen die korrespondierenden Einnahmen den Hunger nach mehr. Die 200 Millionen €, auf die sich Siemens unter dem Titel „Gewinnabschöpfung“ mit den deutschen Verfolgungsbehörden im Geschäftsbereich Kommunikation geeinigt hatte (plus 1 Million € Buße), sind vom compliancemagazin57 als eine 201 Millionen „Portokassen-Geldbuße“ apostrophiert worden. Da hört man das Eigeninteresse der Compliance-Bürokratie nur allzu deutlich heraus. Das erste, was die neue Compliance-Mentalität bei Siemens erreicht hat, ist die Gleichsetzung der hohen Bedeutung des Themas mit hohen Ausgaben durch viele Stellen, viele Reisen, Bonus-Relevanz58 (und zero tolerance, dazu V. 2.). Auch die Schar von Anwälten und Wirtschaftsprüfern, die allein in den letzten 2 Jahren von Siemens 857 Millionen € kassiert hat, wird neue Einnahmequellen brauchen. Last, but not least, für einen Staat, der von Siemens einmal eine Milliarde als Strafe kassiert hat (wegen der Selbstbelastungspflicht ohne großen Aufwand!), ist es eine ganz normale Reaktion, die nächste Milliarde ins Budget einzuplanen. In Europa ist das Unbehagen über Sanktionen, bei denen die zuständige Behörde ihre eigene Finanzierung im Auge hat, im Kontext der Wettbewerbsaufsicht59 laut geworden. Mir scheint die Entwicklung eines Filzes zwi___________ 57 www.compliancemagazin.de/markt/unternehmen/siemens051007.html, 05.10.2007. Der Kommentar in der Süddeutschen Zeitung (05.10.2007, www.sueddeutsche.de/ wirtschaft/artikel/713/136444/print.html) verblüfft aus anderen Gründen. Zwar wird anerkannt, dass so ein möglicherweise „uferloses“ Verfahren vermieden wird, „das Staatsanwälte und Richter am Ende hätte überfordern können“. Das heißt wohl, Freispruch, wenn man sich energisch verteidigt, und das kommt für den Autor (Beise), der die Schuldigen offenbar kennt, nicht in Frage: „… zu früh zu sagen, dass die kriminellen Akteure einer gerechten Strafe entgangen sind“ (Schlagzeile deshalb: „Siemens ist nicht aus dem Schneider“). 58 Siemens CR 2008, 28 (im Jahr 2008 „bereits mehr als 600 Mitarbeiter, die sich mit dem Thema Compliance im Unternehmen beschäftigen“; im Vorjahr waren es 170). Dazu ist anzumerken, dass die Zahl sich auf hauptberufliche Compliance-Offiziere beziehen dürfte, die dafür sorgen werden, dass sich die Mannschaft wie nie zuvor mit Compliance befassen muss. Zu Global-Compliance-Officer-Konferenzen und zur neuen Compliance-Komponente des Bonus ebenda 29. Nach der abschlieβenden Einigung mit den Behörden in den USA und in Deutschland führt Siemens PM 2008, 8 die milde Strafe auch auf den Stellenzuwachs bei der Compliance zurück. 59 Hofstetter (Chefjurist von Schindler), Neue Zürcher Zeitung, 29.05.2008, und ihm zustimmend Wohlmann, Neue Zürcher Zeitung, 31.07.2008, S. 25: „Die Bemessung von Buβen in europäischen Kartellverfahren lässt sich in der Tat nur noch als Ausnutzung

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schen Aufsichtsbehörden und Anwälten, die die Interessen der Opfer der Aufsicht vertreten, noch unerfreulicher: Einige Zeit relativ schlecht bezahlter Tätigkeit bei der Aufsichtsbehörde ist die beste Vorbereitung für den lukrativen Sprung in eine der Anwaltskanzleien, die die beaufsichtigten Sünder vertreten. Wo soll da der Anreiz herkommen, die enormen Bußen als prinzipielle Fehlentwicklung zu bekämpfen? Meiner Ansicht nach muss Siemens auf das Kriminalitätskontrollsystem wie der erste Schuss einer starken Droge wirken: Das System wird abhängig. Die nächste Dosis kann sich das Kontrollsystem leicht besorgen, denn Rechtsgehorsam ist auf schwarzen Märkten nicht ernstlich zu erwarten. Der nächste Täter steht immer (!) bereit. Das Ende des Falles Siemens überschneidet sich mit dem Beginn des Konkurrenten Alstom, gegen den seit Herbst 2008 in der Schweiz ermittelt wird. Genannt werden mittels fiktiver Beraterverträge zwecks Schmiergeldzahlung in Italien, Sambia und Mexiko ausgeschleuste Beträge von etwa einer halben Milliarde Franken60. Allerdings setzt sich Alstom energisch zur Wehr, auch gegen den dubiosen Informationsfluss, auf den seine Anprangerung in den Medien unter Missachtung der Unschuldsvermutung zurückzuführen ist61. Zu den vorstehend skizzierten vier Interessengruppen, die finanziell von Non-Compliance abhängig sind (firmeninterne Prävention, insbes. ComplianceOfficers; firmenexterne Prüfer in Verdachtsfällen; staatliche Aufsichts-, Ermittlungs- und Verfolgungsbehörden; Skandalisierungsorganisationen wie z. B. Transparency), kommen viele, die mittelbar von Korruptionsbekämpfung profitieren. Sogar Strafrechtsdogmatik wird lukrativ! Schon der Charme der neuen Tatbestände der Geldwäsche und des Insidertrading lag im Kontrast zu der finanziell unattraktiven dogmatischen Analyse der Massenkriminalität (z. B. Diebstahl oder Betrug). Von Siemens kann man auch die juristisch anspruchsvolle Bewältigung der Ab- und Weiterwälzung der Schäden lernen. Steuerrechtliche Konsequenzen, Schadensersatzforderungen der Konkurrenten, Klagen amerikanischer Aktionäre, Schadensersatzansprüche gegen Ex-Chefs und Haftpflichtversicherungsfragen seien genannt. Am Ende laufen die Aufsichtsbehörden Gefahr, wegen ungenügender Kontrollen haftbar ___________ einer alternativen Fiskalquelle nachvollziehen“ (ebenda auch der Vorwurf, der Behörde liege mehr an Bußen als an Compliance). 60 www.tagesanzeiger.ch/wirtschaft/unternehmenkonjunktur/story/29332501, Tagesanzeiger, 13.10.2008. In www.jusletter.ch, 03.11.2008, werden die Bundesanwaltschaft und das (nicht die Hauptsache betreffende) Urteil des Bundesstrafgerichts BB.2008.75 als Quellen genannt. 61 Die Medien berichten zwar über die Proteste des Alstom Verwaltungsratspräsidenten und Konzernchefs Kron gegen die Berichterstattung und Vorverurteilung, benutzen dies aber zur Wiederholung des Verdachts, vgl. Neue Zürcher Zeitung, 31.10.2008, S. 25 („Alstom-Chef wehrt sich“). Seit kurzem ist auch Stadler-Rail ins Gerede gekommen, vgl. Neue Zürcher Zeitung, 01.12.2008, S. 13.

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gemacht zu werden, ein Risiko, das ihnen als Alibi für ihre Geschäftigkeit dient.

2. Nulltoleranz – untaugliche Mittel in immer höherer Dosis Internationalisierung tendiert ganz allgemein aus banalen Gründen zu „maximal repressiven Lösungen für die behandelten sozialen Probleme“62. Was speziell die Korruptionsbekämpfung betrifft, folgt sie der Geldwäsche als Muster: Schockierende Fälle rufen nach strafrechtlichem Einschreiten. Ich erinnere an Banken in Florida, die 20-$-Noten (Standardwährung im Drogenkleinhandel) in Schuhkartons entgegengenommen haben und – weil sie mit dem Zählen nicht nachkamen – den Bargeldinhalt der Schachteln nach Gewicht festgestellt und gutgeschrieben haben. Mit solchen Beispielen hat eine vom damaligen Präsidenten der USA eingesetzte Kommission die Notwendigkeit einer Kontrolle des Waschens von Bargeld (aus Drogenhandel) begründet. Prophezeit hat man das Ersticken der Drogenhändler in ihrem schmutzigen Bargeld. Die organisierte Kriminalität (der mit dem schmutzigen Geld ihr Lebensblut entzogen und zugleich die Achillessehne durchtrennt werde) werde bald nach Einführung eines Geldwäschereiverbots erlöschen.63 Heute haben wir Geldwäschereiverbote weltweit; natürlich längst nicht mehr beschränkt auf Bargeld; längst nicht mehr beschränkt auf Drogenkriminalität als Quelle und längst nicht mehr beschränkt auf Banken. Wir haben alle Finanzinstitute zu einer polizeilichen Datenbank zusammengeschlossen. In dieser Datenbank sind Milliarden an völlig unverdächtigen Transaktionen zwischen Millionen ebenso unverdächtiger Personen gespeichert. Wir haben ein Denunziationssystem64 eingerichtet, schon schwache Hinweise auf Unregelmäßigkeiten müssen einer Aufsichtsbehörde gemeldet werden. Vor allem haben wir Unsummen ausgegeben, um neue Stellen für Aufpasser zu schaffen. Ein Zurück ist nicht vorstellbar, obwohl evident ist, dass es falsche (und eigensüchtige!) Propheten waren, die uns das System aufgeschwatzt haben. Ich sehe nicht, wie wir die vielen nutzlosen, aber gut bezahlten (nur allzu oft verbeamteten) Aufpasser je wieder loswerden können. Der Appetit nach solchen Stellen hält an. Wie könnte man ihn befriedigen? So kommt die nächste Runde: Korruption. Wunderbar, weil international (das ist nötig, denn auf nationaler Ebene würden sich die Leute den Unsinn nicht gefallen lassen); teuere Stellen, bezahlt – wie bei der Geldwäsche – vom Publikum, das es gar ___________ 62

Weigend, Jakobs-FS (Fn. 12), S. 752. Arzt, ZStrR 106 (1989) 160. Die von mir – vgl. Arzt, in: Wiegand (Hrsg.), Banken und Bankrecht im Wandel, 2006, S. 75 – diagnostizierte Untauglichkeit des Konzepts mit dem Paradox der Steigerung der Dosis ist wissenschaftlicher Mainstream geworden, Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 261 Rn. 4c. 64 Zu Siemens (Selbstanzeigesystem) oben Fn. 40. 63

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nicht merkt! Letztlich bezahlt nicht Siemens die Milliarden, sondern via Aktionäre, Arbeitnehmer und Kunden entrichtet die deutsche Bevölkerung eine Bürokratiesteuer. Die Bürokratie war bisher auf den Finanzsektor beschränkt, nun kann man sie endlich der Wirtschaft insgesamt überstülpen. Auch bei der Korruption dienen skandalöse Fälle dazu, die Illusion zu wecken, man könnte nicht nur solche Fälle vermeiden, sondern das Übel insgesamt ausrotten.65 Untreue – um an Siemens heranzurücken – sollte nach den Vorstellungen des deutschen Gesetzgebers 1962 durch Verdoppelung der Höchststrafe für Ehebruch eingedämmt werden66. Bei Straftaten, deren wirksame Bekämpfung aussichtslos ist (eheliche Untreue, Geldwäsche), lässt sich kein Maß entwickeln, mit dem die Verhältnismäßigkeit der Repression bestimmt werden könnte. Wir finden heute den Aufwand unbegreiflich, mit der zur Zeit Mc Carthys die Filmindustrie der USA auf sexuelle Züchtigkeit überwacht worden ist (auch da hat sie sich eifrig selbst kontrolliert). Es sind offenbar gerade die aussichtslosen moralischen Feldzüge, in denen das Potential für besonderen Eifer steckt. Massenhafte Betrügereien, Todesfälle im Straßenverkehr, Raubüberfälle – bei dieser klassischen Kriminalität operieren wir maßvoll; eine Politik der zero tolerance ist indiskutabel. Erst Geldwäsche und dann Korruption hat uns eine Politik der Nulltoleranz beschert. So erwartet auch Siemens „überall und jederzeit die Befolgung aller Bestimmungen“. 67 Damit einher geht der Abschied von Verhältnismäßigkeit und Rechtstaatlichkeit allgemein. Die Untersuchung von Siemens auf korruptive Praktiken ist nicht nur von allen Überlegungen zur Verhältnismäßigkeit des finanziellen Aufwandes gelöst. Man hat sich zudem auf eine Befragung durch amerikanische Anwälte in englischer Sprache eingelassen, obwohl von vornherein klar war, dass trotz des besten Willens und Einschaltung von Dolmetschern auf dem Hintergrund des amerikanischen Rechtsverständnisses die für Siemens und die Angestellten für Legitimität und Legali___________ 65 Besonders üble Zustände sind bezüglich der Siemens-Regionalgesellschaften in Venezuela und Bangladesch ans Licht gekommen, Siemens PM 2008, 9 ff.; SECComplaint v. Siemens AG (1:08-cv-02167; vom 12.12.2008, Ziff. 38 ff., 47 ff.). Zu Nigeria oben Fn. 14, 10. 66 Beim Internationalen Währungsfonds ist der Kontext zwischen ehelicher und sonstiger Untreue in letzter Zeit (wieder!) aktuell geworden. Der Direktor Strauss-Kahn hat sich überall (von den Mitarbeitern bis zu seiner Ehefrau) entschuldigen müssen, Neue Zürcher Zeitung, 27.10.2007, S. 21. Ob ihm bei der Abgangsentschädigung für seine Geliebte oder sonst der Missbrauch seiner Stellung vorgeworfen werden könne, soll auch beim IMF von einer Anwaltskanzlei abgeklärt werden. Zum Vergleich zwischen Korruption und Ehebruch Arzt, recht, 2001, 41; er ist auch vom Vorsitzenden von Transparency Int. im Kontext mit Siemens gebraucht worden, ZEIT online: „Wie kann man denn überhaupt gegen Korruption vorgehen?“ ELSHORST: „Was kann man gegen Ehebruch tun? Wenig!“ (29.03.2007, www.zeit.de/online/2007/14/korruptioninterview). 67 Siemens CR 2007, 22. Zu einer „Compliance-Organisation mit zero tolerance“ auch Wohlmann, Neue Zürcher Zeitung, 31.07.2008, S. 25.

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tät von Zahlungen wichtigen Unterschiede zwischen Erpressungsopfer und Korruptionstäter – mitsamt den dazu gehörenden subjektiven Vorstellungen einschließlich des Unrechtbewusstseins – nicht erfasst werden konnten. Ich traue mir angesichts von Publikationen in deutscher und englischer Sprache insoweit ein Urteil zu,68 weiß aber beispielsweise nicht, ob sich nach amerikanischem Recht ein Unternehmen wegen Unterstützung krimineller Organisationen strafbar macht, wenn es seine Bedroher als Beschützer anstellt.69 Wie fehlerträchtig diese Ermittlungen durch fehlende Kenntnis des deutschen Rechts seitens der Befrager sind, verdeutlicht ein Beispiel70: Für einen Siemensmitarbeiter ist es zweierlei, ob er Geld der Firma in deren (von ihm falsch verstandenen) Interesse ausgibt (§ 266 StGB, so der BGH) oder ob er Bargeld veruntreut (§ 246 StGB). Die Einebnung dieser Differenz durch Verwendung desselben englischen Begriffs „embezzlement“ tut dem Mitarbeiter (und Siemens) Unrecht. Dass die Mitarbeiter von Siemens am Ende des Verhörs nicht einmal Einblick ins Protokoll nehmen durften, in dem die amerikanischen Anwälte das Resultat der Befragung festgehalten haben, sollte die Protokolle in einem Rechtsstaat wertlos machen.71 Dass nach deutschen Vorstellungen über Rechtsstaatlichkeit aus über Tausend nicht verwertbaren „Vernehmungen“ weder gegen das Unternehmen verwertbare Resultate noch vom Unternehmen gegen Mitarbeiter verwertbare Informationen hervorgehen können, ist irrelevant, denn es kommt nicht auf die deutschen, sondern auf die amerikanischen Vorstellungen an. Welcher Tortur Siemens (bis hin zur Todesstrafe, oben II. 4.) ausgesetzt worden ist, dass das Unternehmen trotz solcher offenkundiger Mängel sich (und vor allem seine Mitarbeiter!) einem derartigen Verfahren unterworfen hat, kann man als Außenstehender nur erahnen.

3. Benchmark im Krieg der Sterne Nimmt man die Deliktssumme von 1,3 Milliarden, die sich aus Sicht des mit dem Talionsprinzip vertrauten Strafrechtlers in einer selten gewordenen Schönheit in der Strafe spiegelt, dann liegen zwei Fragen nahe: (1) Was entfällt ei___________ 68

Vgl. nur Arzt, The Problem of Mistake of Law, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung, Rechtsvergleichende Perspektiven, Bd. II, 1988, S. 1025 ff. 69 Die Varianten dieser Konstellation sind vielfältig; beispielsweise kann es billiger sein, wenn man auf die Drohung hin mit Geldzahlung reagiert, damit die Klientel der Erpresser anderswo angestellt oder gegebenenfalls ohne Anstellung ausgehalten wird. Wird mit Streikdrohung die Beschäftigung überflüssigen Personals erreicht, spricht man in den USA von „featherbedding“, z. B. wenn auf Diesellokomotiven Heizer aus der Kohlezeit mitfahren. 70 Sieg (wie Fn. 33), S. 862. 71 Sieg (wie Fn. 33), S. 863 f., dort zur widersprüchlichen Argumentation der amerikanischen Anwälte, das nutze dem befragten Mitarbeiter.

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gentlich von diesen 1,3 Milliarden auf echte Bestechungsstraftaten (samt deren Ausdehnung auf internationale Korruptionsstraftatbestände nach deutschem Recht) und (2) was von diesen 1,3 Milliarden hat zur Bestrafung der erpresserischen Empfänger der Gelder geführt? Ich vermute, dass unter dem an zweiter Stelle genannten Blickwinkel der Empfänger (der für die Korruptionsbekämpfung entscheidend ist) die 1,3 Milliarden auf fast Null zusammenschnurren werden. Was den erstgenannten Blickwinkel betrifft (Zahlungen zur Erlangung unbilliger Vorteile, also nicht nur zwecks Abwendung unverdienter Nachteile), dürfte es zu Verurteilungen in einigen solchen Fällen kommen. Selbst bei den total 12 Millionen betragenden Zahlungen in den oben II. 1. genannten Skandalfällen,72 über die Informationen aus Münchener Akten den Weg zur Washington Post zu einem Zeitpunkt gefunden haben, zu dem für Siemens der maximale Schaden anzurichten war, liegt die Grenze zur Abwendung befürchteter Benachteiligung nahe. Vermutlich werden nur einige wenige Sachverhalte mit Zahlungen, die Einzelpersonen als Empfängern zurechenbar sind, in einem „Erkenntnisverfahren“ aufgeklärt werden. Auch unter diesem Blickwinkel werden sich die 1,3 Milliarden zu über 90 % in heiße Luft auflösen (obwohl diese hohe Summe die öffentliche Wahrnehmung und die Strafe geprägt haben). Wenn für die Korruptionsbekämpfung in jetziger Form das Motto gilt, dass die Spesen im Vordergrund stehen, bleibt zu fragen, warum sich die großen Unternehmen nicht kritisch zur Illusion der Korruptionsbekämpfung äußern73. Das lässt sich an Hand der Geldwäsche als Vorbild einfach erklären: Die Banken sind klug genug, sich nicht über den Unsinn der Geldwäschereibürokratie zu äußern. Die Kosten können ans Publikum weitergeben werden, so what? Kritik wäre nicht gut fürs öffentliche Image, würde die Aufsichtsbehörden verärgern und überdies hat der Unsinn sogar den Reiz, dass für die großen Firmen in Relation zur Konkurrenz der mittleren Betriebe Kostenvorteile entstehen. So will Siemens „benchmark“ in Sachen Compliance werden.74 Was misst und vergleicht man, wenn nicht die Ausgaben? Auch insoweit ist die Geldwäsche Vorbild: Star Wars, die Waffen nutzen nichts, aber der Konkurrent muss sie sich auch anschaffen und hat dabei höhere Ausgaben. Siemens wird zum Aus___________ 72

Vgl. oben Fn. 10, 14. Im Gegenteil, sie versprechen sogar eine überobligationsmäßige Compliance mit ethischen Standards. Siemens war schon zu Zeiten des alten Managements sowohl beim Global Compact der UNO als auch bei Transparency dabei. Diese von Groβfirmen „freiwillig“ übernommenen Standards laufen auf Versprechungen zu Lasten Dritter (Lieferanten etc.) hinaus, die sich die Kosten der Zertifikationsbürokratie, die hinter den ethischen Standards steckt, nicht leisten können. Sie werden deshalb boykottiert, obwohl sie gegen keine gesetzlichen Vorschriften verstoßen. Die ethischen Ziele legitimieren offenbar diese Entmachtung des Gesetzgebers durch eine Offizierselite, die von internationalen Organisationen und NGOs gestellt wird. 74 Siemens GB 2008, 31 („Vorbild“); Siemens CR 2007, 10 („best in class“). 73

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gleich für die hohen Kosten seiner Abgaben wegen Non-Compliance an den Staat (und zum Ausgleich für die permanent anfallenden Kosten für seine Compliance-Bürokratie) bei seinen nächsten Anlagen für Turkmenistan oder den Irak etwas teurer kalkulieren müssen. Vor allem gilt es, Kosten zu sparen, indem man die besondere Form der Korruption in der Wirtschaft beseitigt, die darin besteht, dass man aus den Mitarbeitern nicht das Maximum herausholt, sondern ein gewisses Maß an Bequemlichkeit hinnimmt75. Bei Siemens ist Personal rigoros abgebaut worden. Alles hat seinen Preis.

___________ 75

Die Reduktion des Personals wird als Fit-for(4)-2010-Programm bezeichnet. Zum featherbedding oben Fn. 69 und zum Gewerkschaftsfall oben Fn. 8, 39.

Compliance – Oder: Normbefolgungsbereitschaft von und in Unternehmen Zur Wirksamkeit von freiwilligen Selbstverpflichtungen und staatlichen Sanktionen Von Wilfried Bottke

I. Fälle der Korruption durch Unternehmensangehörige stellen die Normtreue oder ‚compliance‘ von Unternehmen und in Unternehmen auf den Prüfstand.1 Welche Normen beeinflussen die Normtreue von Unternehmen und von Unternehmensangehörigen? Sind unternehmensinterne Absprachen und Regeln eher imstande, ‚compliance‘ sicherzustellen, als unternehmensexterne Rechtsnormen? Welche Wirksamkeit haben freiwillige Selbstverpflichtungen, um die Einhaltung staatlich vorgegebener oder unternehmensintern vereinbarter Verhaltensregeln sicherzustellen? Welche Wirksamkeit kommt staatlichen Sanktionen zu?

II. Komplianz oder neudeutsch ‚compliance‘ heißt die Normbefolgungsbereitschaft von und in Unternehmen. Sie kennzeichnet die Einhaltung staatlicher Rechtsnormen sowie die Befolgung unternehmensinterner Kodizes.2 Regeln sind generalisierte Erwartungen. Normen oder Kodizes sind zu verstehen als Regeln mit Sollenscharakter. Sie können als externe Erwartungen nationalstaat___________ 1

Jüngstes Beispiel sind die Fälle von Korruption durch Siemensangehörige. Wenn Presseveröffentlichungen nicht trügen, so gab es bei Siemens kriminogene Strukturen (etwa schwarze Kassen und entsprechende Nutzungsmaximen), die unternehmensnützliche Korruption begünstigten. Vgl. dazu Financial Times Deutschland vom 23. 11. 2006, S. 1 und vom 27. 7. 2007, S. 3; DER SPIEGEL 51/2006, S. 80; 51/2007, S. 96 und 16/2008, S. 76. 2 Zur Begriffsbestimmung von ‚compliance‘ in der neueren betriebswirtschaftlichen Fachsprache vgl. Deutscher Corporate Governance Kodex, 4.1.3., Fassung vom 6. 6. 2008.

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licher, suprastaatlicher oder internationalrechtlicher Art sein. Sie können als interne Erwartungen, gruppen- oder institutionsspezifischer Art, etwa Verhaltensregeln sein, die von und in Unternehmen formuliert werden. Externe Erwartungen gelten ihrem Adressaten ohne Rücksicht darauf, ob dieser der Erwartung zustimmt. Interne Erwartungen werden vielfach als freiwillige bezeichnet, auch wenn sie einen Unternehmensangehörigen adressieren, der keinen Einfluss auf ihre Formulierung und seine Adressierung hatte, sie ihrem Adressaten durchaus Gehorsam abverlangen und diesen mit internen Belohnungen oder Sanktionierungen befördern können. 1. Als Adressaten generalisierter Erwartungen mit Sollenscharakter taugen grundsätzlich alle Wesen, die als entsprechend ansprechbar gelten können, also fähig sind, Befehle zu befolgen und Normbefolgungsbereitschaft aufzubauen. Solche Fähigkeit besitzen jedenfalls Unternehmensangehörige, die Wesen mit Leib, also Menschen, sind. Solche Fähigkeit besitzt aber auch das Unternehmen selber. Dieses ist zwar ‚leiblos‘. Es kann auch nicht leiblich handeln. Es kann aber durch seine Unternehmensangehörigen und insbesondere, sofern ausgebildet, durch seine Organe (etwa Vorstände und Aufsichtsräte) agieren. Es ist, wie jedes Wesen, auf seinen Eigennutz bedacht.3 Es setzt sich seine Werte (etwa shareholder value) intern durch seine Angehörigen; es ist ‚selbstreferentiell‘. Es bildet seine Strukturen und andere Interna, etwa Attitüden und Verhaltensregeln, in gleicher Weise autonom; es ist ‚autopoietisch‘. Es bildet sich eine relativ stabile Attitüde zum Verwalten von Welt oder Weltteilen, insbesondere zum Agieren im Markt, aus; es formt sich eine Persönlichkeit, neudeutsch: eine ‚corporate identity‘. In der sozialen Realität wird es mit ausgebildeter Identität identifiziert. Es tritt als agierendes Wesen in Erscheinung. Es ist gegebenenfalls wirksam und ‚wirklich‘. Alltagssprache bildet sein Agieren, das sich zeigt, also sein Verhalten, ab, namentlich dann, wenn dieses externe Effekte hat und mit fremdem Gut verfährt, also fremdes Gut gebraucht oder so affiziert. Etwa: (Auch) Hypo Real Estate agierte in der Finanzkrise kritisierbar, falls es zu Lasten fremden Gutes, der Bankeigner und des Finanzsystems, suboptimale Kreditrisiken anhäufte; (auch) Siemens schuf wettbewerbsschädlich angeblich ein System der Korruption zur Erlangung von Aufträgen; Porsche strebt die Übernahme von VW an. 2. Jedem Wirtschaftssystem sind seine Ressourcen stets knapp. Jedes Wirtschaftssystem ist auf die effiziente Nutzung knapper Ressourcen und optimale Allokation von Gütern aus. Der Markt ist das Wirtschaftssystem, in dem Anbieter und Nachfrager von Gütern und Dienstleistungen ihre Interessen autonom, ___________ 3 Wesen sind Einheiten (systemtheoretisch ausgedrückt: selbstreferentielle autopoietische Systeme), denen es um ihr Da- und Wohlsein geht; sie sind sich wesentlich und heißen daher Wesen. Zum negativen Charakter vgl. Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, 1977, W II, S. 716.

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also ohne staatliche Regulierung, artikulieren und über den Preis ausgleichen. Erkennt die Rechtsordnung das Unternehmen als, sei es auch nur mit dem Recht auf weitere Berechtigungen, berechtigt an, erlangt es den Charakter einer juristischen Person. Diese kann dazu berechtigt sein (und wird in einer freien Gesellschaft mit Markt dazu berechtigt), ihre Binnenstruktur und Geschäftspolitik autonom auszubilden; weder dringe man in den Leib eines Menschen ohne besonderen Grund ein noch regiere man in die Interna einer Person (etwa ihre Gedanken und Attitüden) oder eines Unternehmens (etwa seine Geschäftsstrategie) hinein. Das Unternehmen kann als juristische Person etwa das Recht haben, sich als Marktsubjekt zu betätigen, Güter oder Dienstleistungen nach seinem Belieben anzubieten oder nachzufragen. Es hat das Recht auf Eigentum; fremde Personen haben als Rechtssubjekte seine (absoluten und, wenn besonders verpflichtet, seine relativen) Rechte zu achten. 3. Personen, die in der sozialen Realität agieren und durch ihr Verhalten mit fremden Gut verfahren können, dürfen ihre Berechtigung(en) nicht ohne Verpflichtungen haben; andernfalls wäre ihr Vermögen, zu agieren, sich zu verhalten und durch ihr Verhalten mit fremdem Gut zu verfahren, kurz: ihre Freiheit4, ohne rechtliche Begrenzung und daher verantwortungslos gebrauchbar. Dies darf in einer Gesellschaft, deren Rechtssystem als sozialer Rechtsstaat auf gleiche, real erfahrbare Freiheit aller aus ist, nicht sein. Wer rechtlich abgesicherte Freiheit als Unternehmen genießt, darf sich nicht alles herausnehmen. Er hat bei der Organisation seiner sozialen Kontakte (seines marktlichen Verhaltens) auch die Rechte und Güter anderer Personen zu achten. Er darf, wie jeder andere Marktteilnehmer auch, nicht wettbewerbswidrig zu Lasten der gleichen Freiheit aller, am Markt startgerecht chancenreich teilzunehmen, verfahren. Er darf sich nicht durch Korruption oder Absprachen startungerecht Wettbewerbsvorteile verschaffen. In exemplis: Siemens und andere Unternehmen, die als juristische Personen verfasst sind, sind Adressaten von Rechtsnormen, die zum Schutz fremder Rechte und fremder Güter formuliert sind. Sie taugen dazu, als Verhaltensurheber zu gelten. Solche Geltung hat die soziale Wirklichkeit von agierenden Unternehmen und die Gerechtigkeit für sich. Einseitige Berechtigung ohne angemessene Verpflichtung wäre eine sozial unfaire Vorteils-/Lastenverteilung. Die Geltung unternehmensexterner Rechtsnormen für und gegen Unternehmen ist für eine gerechte Gesellschaft mit sozialer Marktwirtschaft essentiell. Wer die___________ 4 Freiheit ist das Vermögen, Welt- bzw. Weltteile nach Belieben zu verwalten; Macht ist das Vermögen, sein Belieben gegen Widerstände durchzusetzen. Vgl. dazu Bottke, Straftäterschaftliche Beteiligung Übergeordneter an von Untergeordneten begangenen Straftaten im Rahmen organisierter Kriminalität, in: Dölling u. a. (Hrsg.), Gössel-FS, 2002, S. 235 (242); vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, Werke, 1968, Band V, S. 260; vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. 2002, S. 28.

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se Geltung, etwa durch Korruption oder wettbewerbswidrige Kartellabsprachen, startungerecht schändet, vergeht sich an der Gerechtigkeit und den Rechten aller anderen Marktteilnehmer auf einen fairen, startgerecht strukturierten Wettbewerb, in dem sie unverzerrt ihre Interessen artikulieren und über den Preis wettbewerbsgerecht ausgleichen können. 4. Generalisierte Erwartungen mit deskriptivem Inhalt sterben, wenn sie, überzufällig häufig beobachtet, enttäuscht werden. Beispiel: Der Satz ‚Alle Schwäne sind weiß‘ stirbt, wenn nicht nur vereinzelt, sondern wiederholt (und wiederholbar) schwarze Schwäne beobachtet werden (können).5 Generalisierte Erwartungen mit Sollenscharakter neigen dazu, gegen Enttäuschungen jedenfalls dann durchgehalten zu werden, wenn diese Enttäuschungen nicht allzu viele sind. Beispiel: Das Gebot ‚Du sollst nicht begehren Deines Nächsten Frau‘6 muss nicht sterben, auch wenn es vielfach in Gedanken, Worten oder Taten gebrochen wird. Generalisierte Erwartungen irdischer Instanzen sind, zumindest in freien Gesellschaften, grundsätzlich nicht auf Interna von Personen gerichtet. Die Gedanken sind frei, frei von Erwartungen und auch frei von Erforschungsakten, die eruieren, ob man so dachte, wie andere erwarteten. Lediglich Verhalten, also Agieren, das sich zeigt, ist regulierungsfähig. Menschliches Verhalten, also Handeln, muss das Verhalten nicht sein, um erwartet zu werden; auch das Verhalten juristischer Personen ist regulierungsfähig. a) Nicht beobachtete Enttäuschungen von Verhaltensnormen können zur Präventivwirkung des Nichtwissens (was man nicht weiß, macht einen nicht heiß) beitragen; wenn die Normtreuen wüssten, wie viele Normbrüche sich vorteilhaft ereignen, ruinierte solches Wissen wohl gemeine Rechtstreue, sprich: Normbefolgungsbereitschaft.7 Auch Ignorieren eines Verdachtes, es könne sich ein Normbruch ereignet haben, kann durch Nichtwissenwollen gemeine Normtreue erhalten; man/frau kann über Indizien, die z.B. den Verdacht der Untreue erregen, hinwegsehen. Sogar Vergessen ausgeforschter Verdachte, es habe sich ein Normbruch ereignet, mag in Bereichen möglich sein, in denen der Normbruch nur lästig war, keine nennenswerten Vorteile brachte und keine Schäden nach sich zog.8

___________ 5

Vgl. Popper, Logik der Forschung, 6. Aufl. 1976, S. 67, 377. Exodus 20, 17. 7 Vgl. zur Präventivwirkung des Nichtwissens Popitz, Soziale Normen, 2006, S. 158– 174. 8 Die Anwendung des § 153a StPO in hochkriminellen Fällen ist verfehlt. Nach einer höchstrichterlichen Feststellung, es habe sich Untreue mit einem tatgerichtlich festgestellten Nachteil von mehreren Millionen Euro ereignet, ist der Kauf von Ignoranz durch den Freikauf vom Vorwurf individueller Tatzuständigkeit unter Gerechtigkeitsaspekten indiskutabel. 6

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b) Gegebene Verdachte gravierender Normbrüche ‚nagen‘. Sie lassen sich weder übersehen noch vergessen. Sie fordern Ausforschung. Diese muss, namentlich in Fällen des Verdachtes pönalisierter Normbrüche fair vonstatten gehen: Die Person oder diejenige Institution, die einen Unternehmensangehörigen oder ein Unternehmen des Normbruchs, etwa der Korruption, verdächtigt, darf nicht diejenige Institution sein, die die Normbruchszuständigkeit rechtsverbindlich feststellt: Der Ankläger darf nicht der Verurteiler sein; der Verurteiler darf nicht der Ankläger sein; der Verurteiler darf nur tätig werden, wenn angeklagt ist. Der eines Normbruchs Verdächtigte hat das Recht auf ein gerichtliches Verfahren, das start- und chancengerecht prozediert. Er muss bis zur rechtskräftigen gerichtlichen Feststellung seiner Zuständigkeit für den Normbruch als unzuständig gelten. Er muss die Chance haben, der gerichtlichen Feststellung seiner Normbruchszuständigkeit zu entgehen. Er hat das Recht auf effektive Verteidigung. Bereits die Einleitung und Durchführung eines auf Verdachtsaufklärung gerichteten gerichtlichen Verfahrens ist geeignet, Normtreue, die durch beobachtete Normbrüche erschüttert wird, kontrafaktisch zu stabilisieren. aa) All dies gilt dann, wenn die Gesellschaft auf der Annahme basiert, alle Personen seien dazu ausnahmslos berechtigt, miteinander einen Gesellschaftsvertrag abzuschließen. Wer mit einem anderen einen Vertrag abschließt, vermutet und will Vertragstreue. Wer einen Gesellschaftsvertrag abschließt, vermutet, alle Personen seien auch dazu geneigt, sich der Gesellschaft durch normtreues Verhalten zu assoziieren. Diese Prämissen untergründen nicht nur die Vermutung normtreuen Verhaltens. Sie untergründen auch das Grundrecht auf Assoziation.9 In dieses Recht greifen jedenfalls staatliche Zuschreibungen des Verdachtes ein, sich durch normwidriges Verhalten dissoziiert zu haben. Eine Beschuldigung und eine Anklage sind Rechtseingriffe. Auch alle staatlichen Akte, die den Verdacht gegen den Verdächtigten (Beschuldigten, Angeschuldigten oder Angeklagten) erhärten sollen und ihn eventuell tatsächlich intensivieren, greifen in das Recht ein, als rechtstreues Gesellschaftsmitglied vermutet zu werden. Sie sind rechtseingreiflich. Erst recht rechtseingreiflich ist die prozesseventuelle Feststellung, es habe sich ein Normbruch ereignet und dieser Verdächtigte sei nach Beweislage und Überzeugung des Gerichts normbruchszuständig.10 Verdachtserhärtungen durch rechtswidrige Beweismittelerhebungen und -verwertungen sind illegitim. Ein Rechtstaat ist rechtstreu. Er ist fair. Er zieht keine Vorteile aus rechtswidriger Vorteilsverschaffung. Er heilt heilbare Folgen rechtswidrigen Vorverhaltens. Er entführt Verdächtigte nicht ___________ 9 Vgl. dazu Bottke, Assoziationsprävention, Zur heutigen Diskussion der Strafzwecke, Schriften zur Rechtstheorie, Heft 170, 1995, S. 42 f., 164 ff. 10 Vgl. dazu Bottke, Fairness im Strafverfahren gegen Bekannt, in: Schünemann u. a. (Hrsg.), Roxin-FS, 2001, S. 1243 (1246 f.); Bottke, Konkretisierungen strafprozessualer Fairness, in: Eser u. a. (Hrsg.), Meyer-Goßner-FS, 2001, S. 73 (79).

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völkerrechtswidrig; tat er es, ist er zur Rückstellung im Wege obligatorischer Beseitigung rechtswidriger Folgen verpflichtet.11 Er schließt an rechtswidrige Eingriffe auf das Recht auf Assoziation durch rechtswidrige Beweismittelverschaffungen, denen der Verdächtigte nicht vollzugshindernd mittels formeller Rechtsbehelfe entgegen treten konnte (sei es wegen der Heimlichkeit der Beweisgewinnung oder wegen sofortigen Vollzuges nicht angekündigter, überraschender Beweismittelverschaffung, sei es wegen rechtssystemischen Fehlens hinreichender Rechtsbehelfe), ein Beweisverwertungsverbot an.12 Dessen rechtssystemische Grundlage ist der Anspruch auf Folgenbeseitigung; das Verbot fungiert gleichsam als materieller Rechtsbehelf. bb) All dies gilt insbesondere dann, wenn der Normbruch, um dessen kontrafaktische Feststellung es geht, ein straftatlicher ist. Straftaten sind, formell betrachtet, Normbrüche, die mit Strafe bedroht sind. Straftaten sind, materiell betrachtet, sozial schädliche Normbrüche, die die Verletzung oder Gefährdung von Rechtsgütern13 beinhalten und mit Strafe bedroht sind. Ohne die Sozialschädlichkeit eines Verhaltens ist dessen Strafbarkeit nicht legitimierbar. Sozialschädlich können nur die Verletzungen oder Gefährdungen fremder Rechtsgüter sein. Es ist präsumtiv gut, dass es diese Welt und in ihr Verwaltungen von Welt und Weltteilen gibt. Gut ist Verwaltbares; Verwaltbares ist Gut. Rechtsgut ist Gut, das rechtswidrig verwaltbar ist. Fremd ist ein Rechtsgut einer Person, der es nicht gehört. Rechtsgüter können Güter einer einzelnen Person oder Güter der Allgemeinheit sein. Güter der Allgemeinheit gehören keinem Einzelnen. Gut der Allgemeinheit ist z.B. die Funktionsfähigkeit eines wettbewerbsgerecht strukturierten Marktes. Dieses Gut wird durch wettbewerbswidrige Absprachen gefährdet. Auch die Korrektheit und Rechtmäßigkeit staatlicher Tätigkeit ist Gut der Allgemeinheit. Sie wird durch Korruption gefährdet und, wenn indefinit häufig getätigt, zerstört. c) Gegen (in fairen Strafverfahren) festgestellte Straftaten gilt zugunsten kontrafaktischer Stabilisierung erschütterter Normtreue der Satz: ‚crime should not pay‘ (Verbrechen lohne nicht). Der Straftatzuständige muss der entziehbaren Vorteile, die er aus seiner Straftat zog, verlustig gehen. Alles andere wäre dem Laster eine Ermutigung, der Tugend ein Ärgernis. Der Entzug entziehbarer Straftatvorteile heißt im deutschen Recht Verfall14; er kann auch Tatbeteiligte treffen, die nicht Täter und leibliche Personen, sondern juristische Personen ___________ 11 Vgl. dazu Bottke, Das „magische Dreieck“ der Strafprozessteleologie, in: Timtikos tomos gia ta 150 chronia tu Areiu Pagu, 2007, S. 23 ff. 12 Vgl. dazu Bottke, in: Roxin-FS (Fn. 10), S. 1243 (1257 f.); Bottke, in: MeyerGoßner-FS (Fn. 10), S. 73 (95); vgl. Meyer-Goßner StPO, 51. Aufl. (2008), Einl, Rn. 19. 13 Zur Problematik der Verfassungsgerichtsrechtsprechung vgl. Bottke, Roma locuta causa finita, in: Hassemer u. a. (Hrsg.), Volk-FS, 2009, S. 93 ff. 14 Vgl. §§ 73–73e StGB.

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sind.15 Freilich bleibt problematisch, welche, etwa durch Korruption, erlangten Vorteile verfallen können. Die durch Bestechung erlangten Wettbewerbsvorteile, etwa bei öffentlichen Bauvorhaben, sind zunächst immaterieller Art. Gleichwohl wäre es wünschenswert, wenn Unternehmen mit einer korruptionsförderlichen Kollektivattitüde (etwa mit schwarzen Kassen) als ‚kriminophil‘ entlarvt, etwa unter staatliches Kuratel, gestellt werden könnten. Hierzu taugt der Verfall nicht; es bedarf der Strafe, die solches anordnen lässt. d) Gegen festgestellte Straftaten gilt sodann der Satz ‚crime be expensive‘ (Verbrechen komme teuer). Teuer kommt Aufwand für die Heilung heilbarer Folgen der Straftat. Der Tatzuständige muss revisible Schäden wiedergutmachen. Es kann so zu einem Täter-Opfer-Ausgleich kommen.16 Problematisch bleiben Fälle, in denen das Opfer die Allgemeinheit ist und/oder der Schaden in der Verletzung oder Gefährdung immaterieller Rechtsgüter liegt oder nicht wiedergutgemacht werden kann. Unternehmenskriminalität, die Umweltkriminalität großen Ausmaßes ist, versündigt sich an der Menschheit und ihrer ökologischen Grundlage. Bei wettbewerbswidrigem Verhalten eines Unternehmens liegt der gravierende Schaden in den erwirkten Wettbewerbsnachteilen, die den anderen Wettbewerbern zugefügt werden. Zudem gibt erfolgreiche Unternehmenskriminalität, etwa durch Korruption oder Absprachen, auch ohne individualisierbare Opfer und Opferschäden ein schlechtes Beispiel; gerade scheinbar opferlose Kriminalität, die Vorteile bringt, reizt zur Nachahmung. Die kriminogene Attitüde ist beobachtbar und wird von anderen erlernt. Namentlich in Fällen, in denen die Marktsituation durch ein verengtes Angebot gekennzeichnet ist (etwa: Bauten müssen vor Ort mit Menschen und Materialien errichtet werden, die dort verfügbar sind), sind wettbewerbswidrige Absprachen zur Unsitte geworden. e) Gegen festgestellte Straftaten gilt sodann der Satz ‚crime be overexpensive‘ (Verbrechen komme teurer als Vorteilsverlust und Aufwand für Heilung heilbarer Tatfolgen).17 Denn: Bloßer Vorteilsverlust ist, selbst soweit er möglich ist, verschmerzbar. Nicht alle Tatfolgen sind heilbar. Der Aufwand für die Heilung heilbarer Tatfolgen kann hoch, aber auch gering sein. Es braucht, um gemeine Rechtstreue zu erhalten, die Bestrafung individueller Tatzuständiger. aa) Strafen kosten mehr und anderes als den Verlust von Tatvorteilen und Heilungsaufwand. Sie sind retributive, weil schuldentgeltende, Mehrkostenpro___________ 15

§ 73 III StGB: „für einen anderen“. Vgl. dazu Bottke, Assoziationsprävention, Zur heutigen Diskussion der Strafzwecke, Schriften zur Rechtstheorie, Heft 170, 1995, S. 106 f., 108 f. 16 Zum Täter-Opfer-Ausgleich vgl. Pfeiffer, Täter-Opfer-Ausgleich im allgemeinen Strafrecht, 1997. 17 Vgl. zum Ganzen Bottke, Assoziationsprävention, Zur heutigen Diskussion der Strafzwecke, Schriften zur Rechtstheorie, Heft 170, 1995, S. 217 f.

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dukte. Entgeltungsgerechte Strafen sind schuldangemessen. Sie entziehen dem Tatzuständigen Güter, die er schon vor und ohne die Tat hatte. Entweder entziehen oder belasten sie ihm Eigengüter, das heißt Güter, die dem Tatzuständigen eigen, weil mit (in oder an) ihm sind, zum Beispiel sein Leben, seinen Leib oder seine Freiheit. Oder sie entziehen ihm statt eines Eigengutes ein ihm gehörendes transferibles Gut, z.B. Geld. In beiden Fällen geschieht dies mit und aufgrund des Vorwurfs, schuldhaft eine strafbewehrte Norm gebrochen zu haben. (1) Schuldhaft bricht eine Norm, wer als Normadressat normwidrig handelt, obwohl er normtreu hätte handeln können. Das Konzept individueller Schuld ist der Vorstellung einer freien Person angemessen. Zwar sind empirische Befunde der Hirnforschung geeignet, Zweifel an der Fähigkeit von Menschen zu wecken, frei (und schuldhaft) zu handeln. Denn neuronale Impulse, deren sich der Mensch nicht bewusst ist, gehen um Bruchteile einer Sekunde reflektierter Gedankenhege und allen Handlungen voraus.18 (2) Gleichwohl ist der Mensch im Stande, Verhalten zu antizipieren. In allen indogermanischen Sprachen wird der Mensch als agierfähiges Wesen konzipiert. Man sagt: Ich schreibe diesen Beitrag. Man sagt nicht: In mir herrscht ein neuronales Gewitter, das mich dazu bringt, das zu schreiben, was hier steht. Die Alltagssprache, die Sätze mit einem agierenden Subjekt bilden lässt, mag zwar irren und irrt vielfach (Der Mond scheint. In Wahrheit agiert der Mond nicht. Er ist auch kein Wesen. Er scheint auch nicht.). Indessen teilen Moral und Recht die alltagssprachliche Annahme, Personen seien zum Agieren und Verwalten von Welt befähigt; sie seien frei, sich als Normadressaten für normtreues oder für normwidriges Verhalten zu entscheiden. Dieses Konstrukt ist für Moral und für eine freie Gesellschaft essentiell. Auch das Recht braucht dieses Konstrukt. Sogar wenn es keine empirisch feststellbare Freiheit gäbe oder gibt, wäre oder ist konstruktive Freiheitsbehauptung als Konstitutivum freier Gesellschaft vonnöten. bb) Allerdings, in Deutschland herrscht die Meinung vor, nur Menschen handelten und seien fähig, schuldhaft zu handeln. Richtig ist, dass Handeln nur menschliches Verhalten meint. Verhalten von Unternehmen, die als juristische Person verfasst sind, braucht das Handeln von Unternehmensangehörigen. Ein Gehirn, in dem neuronale Gewitter toben und das, bei rechtem Funktionieren, normtreues Verhalten erzeugt, gibt es in dem leiblosen Wesen Unternehmen nicht. ___________ 18 Vgl. Bottke, Vom Wert der Bildung, in: Jehl (Hrsg.), Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Schwäbischen Tagungs- und Bildungszentrums und des Bildungswerks des Verbandes der bayerischen Bezirke in Kloster Irsee, 2006, S. 62 ff.

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(1) Gleichwohl, Unternehmen verhalten sich, auch wenn sie selbst nicht handeln können. Sie können auch eine kriminogene Kollektivattitüde bilden und kriminogene Strukturen fertigen.19 In solcher Bildung und Fertigung liegt ihre ‚personale Schuld‘ oder sozialgefährliche Disposition, die nach Feststellung straftatbelegter Gefährlichkeit eine gefahrpräventive – und mehrkostenproduktive! − Maßregel der Besserung und Sicherung rechtfertigte. Sie können auch, bedingt durch ihre kriminogene Disposition, es unterlassen, ein hinreichend straftatprophylaktisches Überwachungssystem zu etablieren und unternehmensnützliche Straftaten zu verhindern. Wer, wie angeblich Siemens, über Jahrzehnte hinweg korrumpiert und schwarze Kassen installiert, aus denen sich willfährige Unternehmensangehörige Geld für Korruption beschaffen können, hat sich kriminalitätsgeneigt gemacht. Er kontaminiert die Verwaltattitüden der Menschen, die er sich angehören lässt. Er unterlässt tatschuldhaft Straftatprävention. Werden von Unternehmensangehörigen intendiert unternehmensnützliche Straftaten begangen, deren Begehung der kriminogenen Attitüde entspricht, so sind sie dem Unternehmen zurechenbar. (2) Solche Zurechenbarkeit mag nicht Schuld genannt werden. Man streite nicht um Worte. Man streite um die Sache. Man streite um die Verantwortlichkeit des Unternehmens für unternehmensnützliche Straftaten, die durch die kriminogene Unternehmensattitüde und durch fehlende Überwachung von Unternehmensangehörigen bedingt sind. Diese Verantwortlichkeit könnte und sollte in einem europäischen Strafrecht Vorwurf zeitigen. Sie sollte (neben gefahrpräventiven auch) retributive Mehrkosten, also Strafe, ermöglichen. Strafe könnte zum Beispiel eine Sanktion sein, die das Unternehmen gleichsam unter Bewährung, d.h. unter Kuratel, stellt.20 Sie könnte die Registrierung des Unternehmens in einem Register sein, das das strafrechtlich verurteilte Unternehmen benennt.21 Ein solches Register könnte auch von supranationalen Organisationen, etwa der Europäischen Union, als Teil eines gemeineuropäischen Strafrechts, geführt werden. Denkbar ist auch ein solches Register von den Vereinten Nationen führen zu lassen, um etwa gegen global players, deren kriminelle Geschäftspraktiken die Weltwirtschaft gefährden, vorgehen zu können. Eine freie Weltgesellschaft kann nicht dauerhaft in der Lüge leben. Auch Kriminalität von global players ist nicht dauerhaft weglügbar.

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Vgl. Schünemann, in: Deutsche Wiedervereinigung, Unternehmenskriminalität, Bd. 3, 1996. 20 Vgl. Schünemann, in: Deutsche Wiedervereinigung, Unternehmenskriminalität, Bd. 3, 1996. 21 Vgl. Bottke, ‚Bestrafungen‘ von Unternehmen und Betrieben nach dem Recht der Europäischen Union in Deutschland? in: Bottke u. a. (Hrsg.), Festgabe zum 30jährigen Bestehen der Juristischen Fakultät der Universität Augsburg, 2003, S. 63–86.

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III. Die Normtreue von Unternehmensangehörigen ist deren Internum. Sie wird als Attitüde erlernt. Sie wird erlernt durch Beobachtung beobachtbarer Beispiele und durch Imitation beobachteter Attitüden.22 Nahe und besonders nahe sind einem Unternehmensangehörigen andere Unternehmensangehörige. Diese zeigen durch ihr Verhalten das, was sie als Attitüde erlernt haben. Nahe sind einem Unternehmensangehörigen auch die Werte und Standards, die unternehmensintern formuliert sind und/oder tatsächlich beachtet und beobachtet werden. Diskrepanz zwischen offiziell unternehmensintern verkündeten Kodizes und tatsächlich praktizierten Regeln ist möglich. Unternehmensinterne Belohnungen, etwa Boni oder Beförderungen, verstärken die Attraktivität unternehmensinterner Standards, auch gegen abweichende offiziöse oder externe Regeln. Gleiches gilt von unternehmensinternen Absprachen und Praktiken, die die abwälzbaren Kosten externer Sanktionen übernehmen, etwa durch Geldstrafenzahlungen oder Ersatz von Verfahrenskosten. Denn: Soziales Erlernen von Attitüden geschieht durch Exempelbeobachtung, Deutung, Imitation und Internalisation. Soziale Kontakte, die im Berufsleben geschehen, sind besonders auffällig und leicht prägsam: Doctrina docet, exempla trahunt; sage mir, mit wem Du gehst und ich sage Dir, wer Du wirst, lautet die alltags- und durchaus sozialisationstheroretisch plausible Maxime. Dabei ist der Mensch plastizistisch bis ins höchste Lebensalter verformbar; was Hänschen nicht lernt, kann Hans sehr wohl noch erfahren und sich erschließen. 1. Hans kann auch lernen, unterschiedliche Rollen zu übernehmen: Man kann privat ein rechtstreuer Bürger und treusorgender Elternteil sein. Offiziös, für das Unternehmen (oder für den Staat), kann man durch eine kriminogene Kollektivattitüde zum rechtsuntreuen willing executioner deformiert werden. Verbrecherkriminologisch sind solche Persönlichkeiten durch das multiple personality syndrome23 charakterisiert. Es gibt Unternehmensangehörige, die in ihrem privaten Leben vorbildlich sind und sich dennoch bei ihrer unternehmensbezogenen Tätigkeit kriminogenen unternehmensinternen Praktiken anpassen. Dies geschieht namentlich dann, wenn sie unternehmensintern hierfür Lob erfahren oder belohnt werden. Geringes Risiko, eine unternehmensnützliche Straftat werde entdeckt und dem Unternehmen oder einem Unternehmensangehörigen zugeschrieben, steigert die Bereitschaft, sich unternehmensinternen

___________ 22 Beobachtung und Imitation sind lerntheoretisch die entscheidenden Momente; vgl. dazu Bandura, Lernen am Modell, 1976. 23 Vgl. zum ganzen Bottke, Schwiegermüttermörder und Unternehmen. Oder: Was ist und soll Strafe? in: Hans Schlosser (Hrsg.), Bürgerliches Gesetzbuch 1896–1996, 1997, S. 133 ff. (145).

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Praktiken anzupassen und unternehmensnützliche Straftaten zu begehen. Kriminoresistent ist niemand; wir alle sind ‚Sünder‘. 2. Mit anderen Worten: Unternehmen und Unternehmensangehörige werden sowohl von unternehmensinternen Standards beeinflusst als auch von externen Rechtsnormen und deren Durchsetzung. Gerade wenn unternehmensinterne kriminogene Praktiken existieren, ist es notwendig und gerecht, dem Satz, la legge è uguale per tutti, Genüge zu tun. Das externe Gesetz muss auch gegen Unternehmen und Unternehmensangehörige effektuiert werden. Alles andere wäre sachungerecht. Es täte – wie das Verbrechen selber – der Gerechtigkeit Abbruch. Es zerstörte Normgeltung zu Lasten gleicher erfahrbarer Freiheit aller. Es ruinierte die Gesellschaft, deren Staat und deren Wirtschaft zu einer raffgierigen Räuberbande.

IV. Wer normtreu ist, zeigt durch sein Verhalten Normtreue. Er scheint externe Mittel, Normtreue zu sichern, nicht zu brauchen. Unternehmensintern beförderte Normbefolgungsbereitschaft kann wirksamer sein als staatliche Absicherung externer Rechtsnormen. Gleichwohl wäre es abwegig, von ‚compliance‘ zu reden und externen Rechtsnormen, etwa des Wettbewerbsrechts, untreu zu werden. Das Recht mag extern sein, es gilt für alle. Es gilt für und gegen alle Rechtssubjekte. Es erheischt Achtung auch von Unternehmen und Unternehmensangehörigen. Unternehmensinterne Regeln können, soweit sie das gleiche wie externe Normen fordern, die Normtreue befördern. Sie können auch über das hinaus gehen, was externe Regeln an Pflichten auferlegen. Sie können aber nicht staatliches Recht derogieren. Der globale Markt mag sich von nationalstaatlichen Eingriffen entfernen; ‚global players‘ mögen wähnen, für sie gelte staatliches Recht nicht. Solcher Wahn ist zu korrigieren, wenn und weil es sein muss, auch mit den Mitteln des Strafrechts. Dieses taugt dazu, erschütterte Normtreue aller zu restabilisieren. Es kann und muss auch gegen Unternehmen, die Straftaten ihrer Angehörigen zugunsten des Unternehmens begünstigen, eingesetzt werden.

V. Freiwillige Selbstverpflichtungen zeigen guten Willen. Sie zeichnen das Bild aktiven Kampfes gegen wertwidriges Verhalten. Sie lassen von Partnerschaft sprechen. Sie belegen Einsatz für wertgerechtes Verhalten. Es liegt im Eigeninteresse von Unternehmen, sich als rechtstreu darzustellen. Es ist ihr ‚show business‘. Jedoch, Darstellung durch freiwillige Selbstverpflichtungen ersetzt

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nicht externe Normen und strafrechtliche Sanktionen. Sicher, wer sich aus autonomen Gründen dazu verpflichtet, interne oder externe Normen zu beachten, bekräftigt seine Bereitschaft, sich normtreu zu verhalten. Dies kann probates Mittel sein. Staatliches Recht und Strafrecht sind nur ‚second best remedies‘, um Normtreue zu stiften. Indessen, der Weg zu rechtsnormwidrigem Verhalten ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Gute Vorsätze, und dies heißt auch: freiwillige Selbstverpflichtungen, sind nicht per se enttäuschungsfest. Wären die Menschen allzeit und allüberall gut, bräuchte es kein Strafrecht. Der Konjunktiv steht für Irrealität. In der Realität, so wie sie ist, verhalten sich Menschen und Unternehmen rechtsuntreu. Ohne staatliche Rahmensetzung entgleitet der Markt. Ohne staatliche Regulierung ist die gleiche Freiheit aller gefährdet. Der Staat ist Diener der Freiheit. Er dient der Freiheit auch durch ein Unternehmensstrafrecht, das nicht auf freiwillige Selbstverpflichtungen vertraut.

VI. Was die Kriminologie oder, genauer, die Poenologie von der Wirksamkeit staatlicher Sanktionen weiß, ist wenig. 1. Dabei meint Wissen begrifflich reflektierte Erkenntnis. Erkenntnis ist sprachlich gefasste Kenntnis, die durch Arbeitsaufwand, hier: durch wissenschaftlichen, gewonnen wurde. Kenntnis ist eine zutreffende, geprüfte Vorstellung von Welt. Eine Vorstellung von Welt trifft zu, wenn sie in das Bewusstsein hebt, Welt sei so und so, und die Welt ist so und so. Wissenschaftlich gewonnenes Wissen ist widerspruchsfrei systematisierbar. Es taugt zur Bildung von Theorien, mit deren Hilfe vergangene Ereignisse erklärt und zukünftige Ereignisse (etwa die Effekte strafrechtlicher Sanktionen) prognostiziert werden können. 2. Auf die Hoffnung, staatliche Sanktionen besserten den Normbrecher und stärkten so dessen Normbefolgungsbereitschaft, ist der Reif der Realität gefallen. ‚Nothing works‘24, so lautet ein ernüchternder Slogan von Kritikern strafrechtlicher Spezialprävention. Allerdings ist auch die generalpräventive Wirkung strafrechtlicher Sanktionen relativ wenig erforscht. Es spricht viel dafür, dass nicht die Sanktionsschwere, sondern die Sanktionswahrscheinlichkeit, sowie sie von potentiell Straftatgeneigten eingeschätzt wird, das entscheidende Kalkül ist: Je höher die Sanktionswahrscheinlichkeit (bei einer hinreichend hoch angenommenen Sanktionsschwere) eingeschätzt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit normtreuen Verhaltens; je geringer sie (trotz einer hinrei___________ 24

Vgl. Bottke, Assoziationsprävention, Zur heutigen Diskussion der Strafzwecke, Schriften zur Rechtstheorie, Heft 170, 1995, S. 141 ff.

Compliance − Oder: Normbefolgungsbereitschaft von und in Unternehmen

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chend hoch angenommenen Sanktionsschwere) vermutet wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit normwidrigen Verhaltens.25

VII. Fazit In einer freien Gesellschaft ist Straftatverfolgung – trotz des Defizits an Beweisen zur Wirksamkeit – dann gerecht, wenn sie fair, also start- und chancengerecht, prozediert. Legitim sind Straftaten nur zum Schutze von Gütern, die die Verfassung der Gesellschaft als schützenswert auszeichnet; Verfassung der Gesellschaft ist die nationalstaatliche Konstitution, etwaiges supranationales Recht und internationales Völker(vertrags)recht. Retributive Mehrkosten, also Strafen, sind gegen Menschen nur dann legitim, wenn sie Schuld angemessen entgelten. Gleichwohl, Bestrafungen setzen nicht begriffsnotwendig eine natürliche Person voraus. Sie sind zum Schutze gleicher erfahrbarer Freiheit aller auch gegen juristische Personen, etwa Unternehmen, möglich; die Fertigung einer kriminogenen Kollektivattitüde ist quasi die ‚Lebensführungsschuld‘ des Unternehmens. Die Möglichkeit, Unternehmen zu bestrafen, ist gerade in Zeiten zu diskutieren, in denen sich der Markt globalisiert, Teilmärkte von staatlichen Regulierungen zu emanzipieren scheinen, ‚global players‘ sich selbst steuern, Nationalgesellschaften in politischen Umbruchssituationen stehen und das Verhalten von Unternehmen gravierende Auswirkungen auf das Wohlergehen aller hat.

___________ 25

Vgl. dazu Bottke, Assoziationsprävention, Zur heutigen Diskussion der Strafzwecke, Schriften zur Rechtstheorie, Heft 170, 1995, S. 129 ff.

Strafrechtliche Durchsetzung von Exportkontrollen im Konflikt mit Europäischem Gemeinschaftsrecht Von Bernd von Heintschel-Heinegg und Manfred Dauster

Einleitung Der EG-Vertrag gibt in Art. 2, 3 lit. a, b, c, g EGV der Gemeinschaft auf, einen Gemeinsamen Markt zu errichten. Dem trägt der deutsche Gesetzgeber dadurch Rechnung, dass nach § 1 I 1 Außenwirtschaftsgesetz (AWG) auch der Außenwirtschaftsverkehr1 „grundsätzlich frei“ ist. Diese Regel des freien Exports erfasst deshalb auch die Ausfuhr in Staaten außerhalb der EU. Eine Genehmigungspflicht für solche Exporte besteht nur, wenn die Ausfuhr im Interesse der äußeren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, des friedlichen Zusammenlebens der Völker, der auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland oder im Hinblick auf zwischenstaatliche Vereinbarungen der Kontrolle bedarf.2 Zudem kann der Export im Einzelfall nach § 2 I Nr. 2 AWG durch Rechtsverordnung oder nach § 2 II AWG durch Verwaltungsakt verboten werden. Die Blanketttatbestände des § 34 I bis III AWG sichern die Genehmigungsvorbehalte und die Verbote strafrechtlich ab. Bedenklich erscheint die dem Außenwirtschaftsrecht innewohnende Tendenz, die Grenzen zwischen administrativer Sanktion – als Reaktion auf Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften – und Strafe fließend auszugestalten. Verwaltungsrechtliche Regelungen erhalten strafrechtlichen Charakter bzw. werden strafrechtlich sanktioniert. Bloßer Ungehorsam gegen Verwaltungsvorschriften des Exportkontrollrechts wird mit Strafe bewehrt. Das Außenwirtschaftsrecht vermag, da wenig präzis in seinem Unrechtskern, kaum noch seiner Appellfunktion gerecht zu werden. Seiner Eindeutigkeit beraubt, verliert es seinen präventiven Effekt.

___________ 1 Legal definiert in § 1 I 1 AWG als der „Waren-, Dienstleistungs-, Kapital-, Zahlungs- und sonstige Wirtschaftsverkehr mit fremden Wirtschaftsgebieten sowie der Verkehr mit Ausgangswerten und Gold zwischen Gebietsansässigen“. 2 Vgl. § 34 II AWG sowie BGHSt 40, 378 (384).

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Nach § 34 II Nr. 3 AWG macht sich strafbar, wer eine in § 33 I oder IV AWG bezeichnete vorsätzliche Handlung begeht, die geeignet ist, die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu gefährden, wenn die Tat nicht in § 34 I oder IV AWG mit Strafe bedroht ist. Das Merkmal der Eignung, die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu gefährden, ist sprachlich sehr weit gefasst und erstreckt sich auf eine praktisch nicht überschaubare Vielfalt von Beziehungen. Seine Verwendung ist deshalb mit Blick auf das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 II GG verfassungsrechtlich in hohem Maße problematisch. Jedoch greifen die verfassungsrechtlichen Bedenken nicht durch mit Blick darauf, dass zum einen eine konkretere Fassung der Norm durch die Komplexität der internationalen Beziehungen und die Vielfalt der Konfliktmöglichkeiten erschwert ist und zum anderen ein erhebliches öffentliches Interesse daran besteht, die gemeinsamen Interessen, welche die Bundesrepublik Deutschland mit anderen Staaten verbinden, gerade auch auf dem Gebiet der Außenwirtschaft zu wahren.3 Exportkontrollen haben aber nicht nur eine nationale, sondern wegen der gemeinsamen Handelspolitik (Art. 133 EGV) als eine einheitliche, der Gemeinschaft zur Ausübung übertragene Politik auch eine bislang wenig beachtete europarechtliche Komponente. Die gemeinsame Handelspolitik soll einerseits das reibungslose Funktionieren der Zollunion und des Binnenmarkts sicherstellen, andererseits die Gemeinschaft in die Lage versetzen, in ihren internationalen Beziehungen im Bereich der Handelspolitik einen handlungsfähigen Partner abzugeben. Aus der ausschließlichen Zuständigkeit der Gemeinschaft folgt, dass die Mitgliedstaaten autonome Regelungen der Handelspolitik nicht treffen können; es sei denn, sie sind durch den EGV oder durch einen gemeinschaftlichen Rechtsakt hierzu ermächtigt. Gestützt auf Art. 133 EGV hat der Rat der Europäischen Union am 22.6.2000 die VO (EG) Nr. 13347/2000 erlassen. Die Verordnung hat ein gemeinsames Kontrollsystem und ein harmonisiertes Konzept für die Ausfuhr von Gütern und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck geschaffen. Bei diesen sog. Dual-Use-Güter handelt es sich um Waren, die sowohl zivilen als auch militärischen Zwecken zugeführt werden können. Nationale Regelungen zur Beschränkung der Ausfuhr von Dual-Use-Gütern in Drittstaaten unterfallen der gemeinsamen Handelspolitik der Europäischen Union nach Art. 133 EGV.4 Wie sich schon aus den in Art. 133 I EGV nieder___________ 3

BGHSt 53, 128 Rn. 13; vgl. auch BVerfG NJW 2004, 2213 (2219). EuGH NVwZ 1996, 365 (366 Rn. 10); EuGH DB 1995, 2360 Rn. 7 bis 13; beide Entscheidungen jeweils zu Art. 113 EWG-Vertrag (jetzt Art. 133 EGV); Vedder, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II (Stand 2005), Art. 133 EGV Rn. 14, 101; Geiger, EUV/EGV, 4. Aufl. 2004, Art. 133 EGV Rn. 31. 4

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gelegten Zwecken, aber auch aus der der Kommission durch Art. 133 II EGV übertragenen Aufgabe ergibt, Vorschläge zur Durchführung der gemeinsamen Handelspolitik zu entwickeln, erfasst Art. 133 EGV eine in die Zukunft gerichtete dynamische Handelspolitik.5 Der Normzweck lässt es damit nicht zu, dass ein Mitgliedstaat den Wirkungsbereich der gemeinsamen Handelspolitik dadurch einschränkt, dass er nach seinen eigenen außen- und sicherheitspolitischen Bedürfnissen ihren Umfang frei bestimmt. Nationale Exportkontrollvorschriften berühren auch den in Art. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2603/69 niedergelegten Grundsatz der Ausfuhrfreiheit. Diese Vorschrift gewährleistet nach der Rechtsprechung des EuGH ein einklagbares Recht, auch Dual-Use-Güter zu exportieren, soweit gesetzliche Vorschriften nicht entgegenstehen.6 Nationale die gemeinsame Handelspolitik der Gemeinschaft einschränkende Maßnahmen bedürfen somit einer Ermächtigung durch das Gemeinschaftsrecht.7 Die die Außenhandelsfreiheit regelnde VO (EG) Nr. 13347/2000 ist unmittelbar geltendes Gemeinschaftsrecht und setzt sich deswegen uneingeschränkt gegen nationales Recht durch.8 Zwar steht es dem nationalen Gesetzgeber frei, Zuwiderhandlungen gegen verwaltungsrechtliche Verhaltensanforderungen auch im Außenhandel strafrechtlich zu sanktionieren. In Fällen aber, in denen europarechtswidrige Verhaltensanforderungen im nationalen Recht strafbewehrt sind, verlangt der europarechtliche Anwendungsvorrang die Neutralisierung der nationalen Strafnorm. Neutralisierung bedeutet, dass der deutsche Straftatbestand im konkreten Fall nicht angewandt werden darf.9 Es liegt damit ___________ 5

EuGH Gutachten 1/78, Slg. 1979, III-2871/2913, Rn. 44. U. Karpenstein, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. IV (Stand 2005), E 16 („Dual-Use-Verordnung“), Art. 1 Rn. 19 m.w.N. 7 EuGH NJW 1977, 1007 (1008); EuGH Slg. 1986, I-559/586 Rn. 31; EuGH NVwZ 1996, 365 (366 Rn. 12); alle Entscheidungen jeweils zu Art. 133 EGV; Vedder, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. II (Stand 2005), Art. 133 EGV Rn. 8; Hahn, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 133 EGV Rn. 18; Müller-Ibold, in: Lenz/Borchard (Hrsg.), EUV/EGV, 3. Aufl. 2003, Art. 133 EGV Rn. 3. 8 Ständige Rechtsprechung des EuGH; z.B. EuGHE 1964, 1251 („Costa ./. ENEL“); EuGHE 1978, 629 („Simmenthal II“); EuGHE 1979, 1629 („Ratti“). 9 Der gemeinschaftsrechtliche Vorrang wirkt als Anwendungsvorrang, nicht als Geltungsvorrang; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 1 (4) m.w.N. Für den strafrechtlichen Bereich OLG München NJW 2006, 3588 (3591); zustimmend etwa Mosbacher, NJW 2006, 3529 (3532); Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 284 Rn. 12; OLG München NJW 2008, 3151 (3152); Hecker, Europäisches Strafrecht, 2. Aufl. 2007, § 9 Rn. 10 ff.; ders., Strafbare Produktwerbung im Lichte des Gemeinschaftsrechts, 2001, S. 286; Satzger, Europäisierung des Strafrechts, 2001, S. 478 ff.; ders., Internationales und Europäisches Strafrecht, 3. Aufl. 2008, § 8 Rn. 86 ff. 6

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kein tatbestandsmäßiges Verhalten vor.10 Voraussetzung für das Eingreifen einer Neutralisierung ist eine echte Kollision zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Strafrecht: Dem deutschen Straftatbestand muss eine unmittelbar anwendbare Vorschrift des Gemeinschaftsrechts entgegenstehen. Zur effektiven Durchsetzung von Exportkontrollen richtet die Außenwirtschaftsverordnung (AWV) bestimmte Verhaltensanforderungen an den Exporteur. Ist ihm bekannt, dass Güter, die er ausführen möchte und die nicht in der Ausfuhrliste (Anlage AL) genannt sind, für eine militärische Endverwendung im Sinne des Absatz 1 bestimmt sind, und dass das Käufer- oder Bestimmungsland ein Land der Länderliste K ist, muss er das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) unterrichten; dieses entscheidet, ob die Ausfuhr genehmigungspflichtig ist (§ 5c II 1 und 2 AWV). Im Beschluss vom 19. März 200911 hat der 6. Strafsenat als Staatsschutzsenat des OLG München die strafrechtliche Absicherung von Exportkontrollen auf ihre europarechtliche Vereinbarkeit hin überprüft: Sowohl § 5c II AWV als auch § 34 II Nr. 3 AWG sind danach mit vorrangigem Gemeinschaftsrecht nicht vereinbar und können daher eine Strafbarkeit nicht begründen. Dieser Rechtsansicht ist beizutreten.

I. Unvereinbarkeit des § 34 II Nr. 3 AWG i.V.m. § 5c II AWV mit vorrangigem Gemeinschaftsrecht 1. Unvereinbarkeit des § 5c II AWV mit Gemeinschaftsrecht Nach Art. 5 I VO (EG) Nr. 1334/2000 kann ein Mitgliedstaat die Ausfuhr von nicht gelisteten Gütern mit doppeltem Verwendungszweck aus Gründen der öffentlichen Sicherheit oder aus Menschenrechtserwägungen untersagen oder hierfür eine Genehmigungspflicht vorschreiben (sog. Öffnungsklausel). Diese Verordnung ist in allen ihren Teilen verbindlich; sie gilt allgemein und unmittelbar in jedem Mitgliedstaat (Art. 249 II EGV; vgl. auch § 5c III AWV). Ein wirksames gemeinsames Ausfuhrkontrollsystem für Güter mit doppeltem Verwendungszweck soll sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten ihren internationalen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten nachkommen. Während es Art. 4 V VO (EG) Nr. 1334/2000 dem nationalen Gesetzgeber ermöglicht, nationale Sonderregelungen für Güter mit doppeltem Verwendungszweck aus dem Bereich der chemischen, biologischen oder Kernwaffen zu erlassen, ermächtigt ___________ 10 Satzger (Fn. 9) Rn. 87; vgl. auch EuGHE 1977, 1495 („Sagulo“): „… die staatlichen Stellen … wegen der Nichtbeachtung einer mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbaren Vorschrift keine Sanktion verhängen“. 11 Az.: 6 St 10/08 (noch nicht rechtskräftig).

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Art. 5 I der Verordnung zu so genannten „catch-all“-Klauseln oder zu einer gegenständlichen Erweiterung des Art. 4 I bis III VO (EG) Nr. 1334/2000. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit in Art. 5 I VO (EG) Nr. 1334/2000 umfasst sowohl die innere als auch die äußere Sicherheit eines Mitgliedstaats. In zwei vor Inkrafttreten der Verordnung ergangen Entscheidungen stellte der EuGH klar,12 dass der nationale Gesetzgeber zur Beschränkung der Ausfuhr von Dual-Use-Waren in Drittländer nationale Regelungen erlassen kann, wenn er dies für erforderlich hält, um die Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker, die die öffentliche Sicherheit eines Mitgliedstaats beeinträchtigen kann, zu verhindern. Den Ausnahmecharakter einer nationalen Sonderregelung unterstreicht der EuGH, indem er auf die Erheblichkeit der Störung abstellt. Vom Begriff der öffentlichen Sicherheit sind der Schutz des friedlichen Zusammenlebens der Völker und die störungsfreie Pflege der auswärtigen Beziehungen allerdings nur erfasst, wenn sich zumindest indirekt Rückwirkungen auf die nationale Außen- und Sicherheitspolitik ergeben können.13 In der Begründung des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung zur 13. Änderung des AWG und der AWV vom 30.10.2008 wird der gemeinschaftsrechtliche Begriff der „öffentlichen Sicherheit“ einschränkend dahingehend beschrieben, dass dieser „das Funktionieren des Staates und seiner Einrichtungen, d.h. die Sicherung der Existenz eines Mitgliedstaates gegenüber inneren und äußeren Einwirkungen, umfasst.“14 Die Öffnungsklausel wurde auf Wunsch der Bundesrepublik Deutschland in die Verordnung aufgenommen, nachdem sich eine Vereinheitlichung auf dem besonders hohen deutschen Kontrollniveau gegenüber den anderen Mitgliedstaaten nicht hatte durchsetzen lassen.15 Nutzt – wie die Bundesrepublik Deutschland – der nationale Gesetzgeber diese Öffnungsklausel, muss er die Grundsätze der gemeinsamen Handelspolitik und der Ausfuhrfreiheit mit seinen nationalen sicherheitsrelevanten Sonderinteressen abwägen und die der Abwägung zugrundeliegenden Gesichtspunkte darlegen. Eine nationale, den Export beschränkende Sonderregelung, die sich auf die Öffnungsklausel des Art. 5 I VO (EG) Nr. 1334/2000 stützt, ist damit nur zulässig, wenn der Gefahr einer erheblichen Störung der auswärtigen Beziehungen oder des friedlichen Zusammenlebens der Völker begegnet werden soll, die Einfluss auf die nationale Außen- und Sicherheitspolitik haben kann. Dies muss der nationale Gesetzgeber nachvollziehbar darlegen; diese Aufgabe kann er nicht der Rechtsanwendung durch die Exekutive oder der Rechtskontrolle durch die Gerichte ___________ 12

EuGH DB 1995, 2360 (2361 Rn. 30); NVwZ 1996, 365 (367 Rn. 28). U. Karpenstein (Fn. 6), Art. 5 Rn. 4. 14 BT-Drs. 16/10730 S. 15. 15 BT-Drs. 13/1100 S. 22/23; Reuter, NJW 1995, 2190 (2191). 13

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überlassen, etwa in dem Sinne, dass diese die Rechtfertigung für die gesetzliche Regelung nachträglich finden.16 Die Öffnungsklausel als Ausnahmebestimmung ist eng auszulegen.17 Andernfalls könnte die gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung auf dem Gebiet der gemeinsamen Handelspolitik in Frage gestellt sein. Diese einschränkende Auslegung mitgliedstaatlicher Restbefugnisse findet ihre Stütze auch in der Rechtsprechung des EuGH zur Orientierung der Auslegung des Gemeinschaftsrechts an dem Grundsatz des „effet utile“ der Verträge. Danach sind in die Auslegung einzelner Vertragsbestimmungen die Ziele und Zwecke des Vertrags in der Weise miteinzubeziehen, die Zielverwirklichung bestmöglich zu erreichen, Art. 249 II EGV.18 Weit ausgelegte Restbefugnisse der Mitgliedstaaten vertragen sich damit nicht, da sie das Risiko der Aushöhlung gemeinschaftlicher Politik in sich tragen.19 Jedoch ist einerseits auch zu berücksichtigen, dass es in Ermangelung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik prinzipiell nicht Sache der Gemeinschaft, sondern der Mitgliedstaaten ist, über die Voraussetzungen ihrer ___________ 16 Dieser europarechtliche Begründungszwang des nationalen Gesetzgebers findet seine Entsprechung in der vom BVerfG für das nationale Verfassungsrecht entwickelten Wesentlichkeitsdoktrin. Greifen staatliche Maßnahmen in wesentliche Belange des Einzelnen oder der Gesamtheit ein, muss der Gesetzgeber selbst entscheiden und seine Gründe hierfür nachvollziehbar darlegen. Hierzu hat er den für seine Regelung als maßgeblich ermittelten Sachverhalt und die im konkreten Fall angesprochenen Gemeinwohlgründe sowie die Abwägung der Vor- und Nachteile der gesetzlichen Regelung darzulegen; BVerfGE 50, 290 (333); 86, 90, (107–109). 17 EuGH NJW 1977, 1007 (1008) für Art. 115 EWG-Vertrag als Ausnahme von der gemeinsamen Handelspolitik nach Art. 113 EWG-Vertrag; EuGH Urteil vom 16.9.1999, Az.: C-414/97, BeckRS 2004, 77125 Rn. 21 unter Hinweis auf EuGH Slg. 1986, 1651 Rn. 26 für die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit in Art. 36, 48, 56, 223 und 224 EWG-Vertrag; U. Karpenstein (Fn. 6), Art. 5 Rn. 2: dürfen „nicht extensiv“ ausgelegt werden. 18 Grundlegend EuGH Slg. 1964, 125; Pernice/Mayer, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. III (Stand 2005), Art. 220 EGV Rn. 46; Borchardt, in: Lenz/Borchardt (Hrsg.), EU- und EGV, 3. Aufl. 2003, Art 220 EGV Rn. 19. 19 Einen engen Handlungsspielraum des nationalen Gesetzgebers bejaht auch die Kommission in ihrem Bericht an das Parlament und den Rat über die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1334/2000 des Rates über eine Gemeinschaftsregelung für die Kontrolle der Ausfuhr von Gütern und Technologien mit doppeltem Verwendungszweck, Oktober 2000 – Mai 2004. Gemäß dieser Klausel (Art. 4 und 5 der Verordnung) können die Mitgliedstaaten im Einzelfall gemäß den Bestimmungen dieser Artikel auch die Ausfuhr nicht in den Anhängen der Verordnung gelisteter Güter und Technologien der Kontrolle unterwerfen. Damit verfügen die für die Ausfuhrkontrolle zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten über genügend Flexibilität, um auf spezifische Situationen (Gefahr der Verbreitung in Verbindung mit rascher Innovation) oder bestimmte außen- oder sicherheitspolitische Entwicklungen, die rasches Handeln erfordern, zu reagieren.

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Sicherheit zu befinden.20 Andererseits haben die Mitgliedstaaten gerade auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik den Grundsatz der Kohärenz zu beachten (Art. 3 II EUV). In diesen traditionellen Kernbereichen nationaler Souveränität drohen mitgliedstaatliche Alleingänge besonders häufig. Effizienz und Glaubwürdigkeit der Union hängen aber entscheidend von einer kohärenten Verzahnung der einzelnen Politikfelder ab.21 Vor diesem grundsätzlichen Hintergrund bedarf eine nationale auf Art. 5 I VO (EG) Nr. 1334/2000 gestützte Regelung einer nachvollziehbaren, begründeten Abwägung dieser Gesichtspunkte durch den nationalen Gesetzgeber. Aufgabe des nationalen Gesetzgebers, der sich auf eine Ausnahme von fundamentalen Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts beruft, ist es nachzuweisen, dass seine Regelung im Hinblick auf das verfolgte Ziel notwendig und verhältnismäßig ist. Neben den Rechtfertigungsgründen, die ein Mitgliedstaat geltend machen kann, muss dieser eine Untersuchung zur Geeignetheit und Verhältnismäßigkeit der von ihm erlassenen beschränkenden Maßnahme vorlegen sowie genaue Angaben zur Stützung seines Vorbringens machen.22 Vom Bestehen einer Darlegungslast des Gesetzgebers im Bereich des nationalen Rechts geht auch das BVerfG aus, wenn dieser von einer Ausnahmevorschrift des nationalen Rechts Gebrauch macht.23 Dieser Abwägungs- und damit Darlegungslast des nationalen Gesetzgebers ist sich die Bundesregierung bewusst.24 Denn nach § 62 II 1, § 43 I Nr. 8 der Gemeinsamen Geschäftsordnung der Bundesministerien vom 1.12.2006 ist in der Begründung einer Rechtsverordnung darzustellen, ob diese mit dem Recht der Europäischen Union vereinbar ist. Macht der nationale Gesetzgeber von einer gemeinschaftsrechtlichen Ermächtigungsnorm Gebrauch, bedarf es somit ___________ 20

U. Karpenstein (Fn. 6), Art. 5 Rn. 2. Blanke, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), 2. Aufl. 2002, EUV/EGV, Art 3 EUV Rn. 14. 22 EuGH Urteil vom 16.9.1999, Az.: C-414/97, BeckRS 2004, 77125 Rn. 21/22 für eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit; EuGH Urteil vom 7.7.2005, Az.: C-147/03, BeckRS 2005, 70494 Rn. 63 m.w.N. für die Freizügigkeit; EuGH Urteil vom 5.6.2007, Az.: C-170/04, BeckRS 2007, 70389 Rn. 50 für den freien Warenverkehr; vgl. auch Schlussantrag des Generalanwalts vom 14.10.2008, Az.: C-42/07, ZfWG 2008, 323 (343 Rn. 234 ff.) zur Darlegungslast des nationalen Gesetzgebers. 23 BVerfGE 79, 311 (343 ff.). 24 Auf eine Anfrage zur Rüstungsexportkontrolle hat sie am 11.3.1998, also schon vor Inkrafttreten der VO (EG) Nr. 1334/2000 am 22.6.2000, erklärt (BT-Drs. 13/10104 S. 27): „Die Länderliste K wird angepasst, wenn dies exportkontrollpolitisch geboten ist. Bei Ausweitung der Länderliste ist auch zu berücksichtigen, dass es sich bei der Bezugsnorm für diese Liste (§ 5c AWV) um eine nationale Sonderregelung handelt, deren Erlass nach Art. 5 EG-VO den EU-Mitgliedstaaten möglich ist. Die Mitgliedstaaten müssen aber wegen der Auswirkungen auf den Binnenmarkt bei dem Erlass von Sonderregelungen jeweils zwischen der exportkontrollpolitischen Notwendigkeit einerseits und dem integrationspolitischen Interesse der EU andererseits abwägen.“ 21

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einer nachvollziehbaren Darstellung, von welchem Sachverhalt und welchen Erkenntnisquellen er ausgegangen ist und wie er die von der Rechtsverordnung betroffenen Interessen abgewogen hat. Die Begründungstiefe der Darlegungslast des Gesetzgebers richtet sich nach der Wertigkeit der betroffenen Rechtsgüter und geschützten Interessen.25 Der Bundesgesetzgeber hat die Ermächtigungsvoraussetzungen für eine nationale Sonderregelung nach Art. 5 I der VO (EG) Nr. 1334/2000 nicht hinreichend dargelegt. Sie sind auch nicht offensichtlich. § 5c II AWV widerspricht den Grundsätzen der gemeinsamen Handelspolitik nach Art. 133 EGV, Art. 5 I der VO (EG) Nr. 1334/2000 sowie Art. 1 und 11 der VO (EWG) Nr. 2603/69. Zudem genügt § 5c II AWV nicht dem gemeinschaftsrechtlich begründeten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und beeinträchtigt die Chancengleichheit deutscher Unternehmer im Außenhandelswettbewerb. Ein nationales Exportkontrollrecht für Waren mit doppeltem Verwendungszweck kann nicht auf Art. 296 I lit. b 1. Hs. EGV gestützt werden. Danach kann jeder Mitgliedstaat die Maßnahmen ergreifen, die seines Erachtens für die Wahrung seiner wesentlichen Sicherheitsinteressen erforderlich sind, soweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen. Hierzu zählen Dual-Use-Güter nicht.26 Dies ergibt sich aus dem klaren Wortlaut des Art. 296 I lit. b 1. Hs. EGV, dem Umstand, dass diese Vorschrift als Ausnahmevorschrift eng auszulegen ist,27 und aus einem Gegenschluss aus dem 2. Hs. dieser Vorschrift, wonach die Maßnahmen nach Art. 296 I lit. b 1. Hs. EGV auf dem gemeinsamen Markt die Wettbewerbsbedingungen hinsichtlich der nicht eigens für militärische Zwecke bestimmten Waren nicht beeinträchtigen dürfen. Die den Export beschränkende nationale Regelung des § 5c II AWV beruht auf der Ermächtigungsnorm des § 7 I AWG. Danach können Rechtsgeschäfte und Handlungen im Außenwirtschaftsverkehr beschränkt werden, um die wesentlichen Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland zu gewährleisten (Nr. 1), eine Störung des friedlichen Zusammenlebens der Völker zu ___________ 25 Der Ausübung eines Ermessens- oder Gestaltungsspielraums des nationalen Gesetzgebers auf der Rechtsfolgenseite hat eine Untersuchung und Darlegung der Gefahren-, Gefährdungs- und Risikolage auf der Tatbestandsseite vorauszugehen; Koenig/ Ciszewski, ZfWG 2008, 397 (399) m.w.N. 26 Mitteilung zu Auslegungsfragen bezüglich der Anwendung des Art. 296 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) auf die Beschaffung von Verteidigungsgütern vom 7.12.2006, KOM [2006] 779 endg., Ziffer 3; Reuter, DB 1991, 2577 (2578); Thietz-Bartram, wistra 1993, 201 (206); ders., RIW 1994, 839 (843); U. Karpenstein (Fn. 6), Art. 1 Rn. 10; Wegener, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Kommentar EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 296 EGV Rn. 7 Fn. 17. 27 Vgl. EuGH Slg. 1986, II 1663 (1684 Rn. 26).

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verhüten (Nr. 2) oder zu verhüten, dass die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich gestört werden (Nr. 3).28 Eine Gefahr für ein nationales Sicherheitsinteresse von erheblichem Gewicht als Grundlage für die den Export beschränkende Regelung des § 5c II AWV hat der Bundesgesetzgeber nicht dargetan. Seiner Darlegungslast ist er damit nicht nachgekommen. Die Bundesrepublik Deutschland hat deshalb in den Beziehungen zu Drittländern eine den Absichten der Gemeinschaft hinsichtlich der gemeinsamen Handelspolitik zuwiderlaufende Haltung eingenommen. Damit wird das internationale Zusammenspiel verfälscht, das Vertrauensverhältnis in die Gemeinschaft erschüttert und die Gemeinschaft gehindert, ihre Aufgaben zum Schutze des gemeinsamen Interesses zu erfüllen.29 § 5c II AWV kann deshalb keine Rechtswirkungen entfalten. Die Sicherheit von Staaten im 21. Jahrhundert hängt eng mit derjenigen der internationalen Gemeinschaft insgesamt zusammen und ist mit dieser verknüpft. Die auswärtigen Beziehungen in diesem Sinne sind als ein multilaterales Netz aufzufassen.30 Nationale Besonderheiten der Mitgliedstaaten sind keine Selbstverständlichkeiten mehr, sondern bedürfen deshalb einer auf den Ermächtigungsrahmen des Art. 5 I VO (EG) Nr. 1334/2000 bezogenen nachvollziehbaren Begründung.31 Dies folgt auch aus der fortgeschrittenen gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung der Exportkontrolle von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck. Nationale Sonderinteressen treten mit zunehmender Harmonisierung zurück.

___________ 28 BVerfG NJW 1995, 1537 (1538) hält die nationale Ermächtigungsnorm des § 7 I AWG für verfassungskonform, insbesondere für verhältnismäßig: Hinter den in § 7 I AWG genannten Zwecken stünden vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls. Es handele sich dabei durchweg um Ziele von hohem Rang und grundlegender Bedeutung für den Schutz anderer Rechtsgüter. Auch außerhalb einer internationalen Zusammenarbeit könnten sich hierauf gestützte Maßnahmen zur Zweckerreichung eignen. Dies sei etwa dann der Fall, wenn die von Ausfuhrbeschränkungen betroffenen Waren allein oder vornehmlich oder besonders gut oder preisgünstig in Deutschland hergestellt werden; ferner, wenn der Export der Waren allgemein oder in bestimmte Länder gerade der Bundesrepublik Deutschland auf Grund ihrer historischen, geographischen oder politischen Situation besondere Nachteile brächte. Schließlich könne der Gesetzeszweck auch dann gefördert werden, wenn Deutschland mit einer als notwendig erachteten Maßnahme in der Erwartung vorangehe, auf diese Weise eine internationale Zusammenarbeit herbeizuführen oder die Weltöffentlichkeit auf die Dringlichkeit von Maßnahmen aufmerksam machen zu können. – Zur Frage der Vereinbarkeit des § 5c II AWV mit dem Gemeinschaftsrecht hat sich das BVerfG nicht geäußert. 29 Vgl. EuGH Slg. 1986, I-559/586 Rn. 30. 30 EuGH NVwZ 1996, 365 (367 Rn. 26); auch EuGH DB 1995, 2360 (2361 Rn. 27). 31 Vgl. Reuter, RIW 1996, 719 (721); U. Karpenstein (Fn. 6), Art. 5 Rn. 1, der von „legitimen“ nationalen Sonderinteressen spricht.

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Durch die 51. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung vom 28.9.2000 wurde die Außenwirtschaftsverordnung an die VO (EG) Nr. 1334/2000 angepasst.32 Fraglich erscheint schon, ob sich der Bundesgesetzgeber im Zeitpunkt seines durch die Ermächtigungsnorm des Art. 5 I VO (EG) Nr. 1334/2000 eingeschränkten Handlungsspielraums und seiner daraus sich ergebenden Darlegungslast für die nationale den Export beschränkende Sonderregelung des § 5c II AWG überhaupt bewusst war. Ganz allgemein wird davon gesprochen, durch die VO (EG) Nr. 1334/2000 sei den Mitgliedstaaten die Ermächtigung eingeräumt worden, Vorschriften einzuführen oder beizubehalten, die über diese der EG-Verordnung hinausgehen. Der Gesetzgeber befindet sich damit offensichtlich auf dem Stand der Verordnung (EG) Nr. 3381/94 vom 19.12.1994.33 Nach Art. 5 I dieser Verordnung konnte ein Mitgliedstaat, um die Ziele der Verordnung hinsichtlich der Ausfuhrkontrolle wirksam zu verfolgen, die Ausfuhr von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck, die nicht in Anhang I des Beschlusses 94/942/GASP34 aufgeführt sind, ohne nähere Einschränkung untersagen oder hierfür eine Genehmigung vorschreiben. Durch Art. 5 I der VO (EG) Nr. 1334/2000 wurde der Ermächtigungsrahmen für eine nationale Sonderregelung jedoch auf Gründer der „öffentlichen Sicherheit“ oder auf „Menschenrechtserwägungen“ eingeschränkt. Für eine Beibehaltung des § 5c AWV, der mit der 14. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung vom 11.3.1991 eingeführt wurde, hätte es somit der Darlegung einer Gefahr für eine erhebliche Störung des nationalen Sicherheitsinteresses oder von Menschenrechtserwägungen bedurft. Das nationale Exportkontrollrechts hat sich nämlich nicht nur an die sich verändernden politischen Rahmenbedingungen anzupassen,35 sondern insbesondere auch an die Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts und dessen Harmonisierung. Bereits die Einführung des § 5c AWV wurde nicht mit einem solchen Interesse begründet, sondern als neue Initiative zur Verschärfung des Außenwirtschaftsrechts bezeichnet, wodurch die Bundesregierung als erste westliche Regierung ein vom COCOM unabhängiges zusätzliches Exportkontrollsystem aufbaue.36 In der Folgezeit hat die Bundesregierung im Rahmen der Beantwortung Großer Anfragen zur Exportkontrollpolitik wiederholt dargelegt, sie verfolge bei der Exportkontrolle von Rüstungsgütern und Gütern mit doppeltem Ver___________ 32

BT-Drs. 14/4166 S. 12, 15. ABl. L 367 vom 31.12.1994 S. 1. 34 ABl. L 367 vom 31.12.1994 S. 8. 35 BT-Drs. 13/5966, S. 4. 36 BMWi Runderlass Außenwirtschaft Nr. 4/91 vom 11.2.1991, BAnz. Nr. 50 vom 13.3.1991, S. 1728. 33

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wendungszweck eine international anerkannte restriktive Ausfuhrkontrollpolitik.37 Diese verstehe sich an erster Stelle als Beitrag zur Friedenssicherung und diene der Bewahrung der nationalen Sicherheitsinteressen sowie derjenigen des Bündnisses.38 Diese Politik habe ihre Wurzel in der jüngeren deutschen Geschichte und in dem klaren Bekenntnis der Bundesrepublik Deutschland in Art. 26 GG zu einer besonders vorsichtigen Rüstungspolitik.39 Die Erkenntnisse Ende der 80er Jahre über veränderte Beschaffungsmethoden einiger Länder, insbesondere auf dem Gebiet der Massenvernichtungswaffen und Raketen, führten dazu, dass das deutsche Exportkontrollsystem in mehreren Schritten einer grundsätzlichen Reform unterzogen worden sei. Um keine Zeit zu verlieren, habe die Bundesregierung die Änderungen in einer Art Vorreiterrolle zunächst in ihre nationalen Vorschriften aufgenommen.40 Allgemeine Hinweise auf geographische und politische Besonderheiten, Geschichte oder Bündnisverpflichtungen sind in diesem Zusammenhang jedoch nicht geeignet, wesentliche nationale Sicherheitsinteressen zu begründen.41 Die nationalen Sicherheitsinteressen werden in den angeführten Antworten der Bundesregierung zwar behauptet, jedoch im Einzelnen nicht überprüfbar dargelegt. Sie sind auch nicht offenkundig, zumal sie seit 1991 auch dem politischen Wandel unterworfen sind. Soweit der Bundesgesetzgeber bei der Anpassung des § 5c II AWV an die VO (EG) Nr. 1334/2000 ausführt, die reduzierte Länderliste enthalte Länder, die „national als besonders sensitiv angesehen werden“,42 handelt es sich lediglich um eine allgemeine politische Einschätzung, aus der sich nicht ergibt, aus welcher Gefahr für ein national gewichtiges Sicherheitsinteresse heraus der Export in diese Länder einer besonderen Kontrolle bedürfe. Jeglicher Nachweis diesbezüglich fehlt. Es kann so nicht überprüft werden, von welchem Sachverhalt der Gesetzgeber ausgegangen ist und ob er ihn einer vertretbaren Bewertung im Hinblick auf die Ermächtigung des Art. 5 I VO (EG) Nr. 1334/2000 und die damit vorangeschrittene Harmonisierung des Exportkontrollrechts unterzogen hat. Gerade im Hinblick auf die fortgeschrittene Harmonisierung der Sicherheitsinteressen aber auch unter Berücksichtigung deren raschen Wandelbarkeit im politischen Alltag verstehen sich nationale Sonderinteressen auch nicht mehr von selbst. ___________ 37

BT-Drs. 12/4241, 13/5966, 13/10104. BT-Drs. 13/10104 S. 2. 39 BT-Drs. 13/5966 S. 2. 40 BT-Drs. 13/5966 S. 3. 41 Vgl. Mitteilung zu Auslegungsfragen bezüglich des Art. 296 EGV auf die Beschaffung von Verteidigungsgütern vom 7.12.2006, KOM (2006) 779 endg., Ziffer 6. 42 BT-Drs. 14/4166 S. 15. 38

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Aus der amtlichen Begründung der Bundesregierung vom 28.9.2000 zur Anpassung der AWV an die VO (EG) Nr. 1334/200043 ergibt sich auch nicht, dass der Gesetzgeber hierbei den europarechtlichen Grundsatz der Ausfuhrfreiheit (Art. 1 der VO [EWG] Nr. 2603/69) bedacht hätte, da jegliche Darlegungen hierzu fehlen. Einzelstaatliche Vorschriften, die Ausfuhren von Gütern mit doppeltem Verwendungszweck betreffen, müssen aber im Rahmen der gemeinsamen Handelspolitik, insbesondere der Verordnung (EWG) Nr. 2603/69 des Rates vom 20. Dezember 1969 zur Festlegung einer gemeinsamen Ausfuhrregelung, erlassen werden.44 Diese im europarechtlichen Kontext entscheidende Darlegungslast hat in der Rechtsprechung erstmals das OLG München im bereits zitierten Beschluss vom 19. März 2009 erörtert. Andere Gerichte haben sich bislang zu diesem europarechtlichen Aspekt der Problematik noch nicht geäußert. Das KG45 und der VGH Kassel46 gehen davon aus, die Außenwirtschaftsverordnung beruhe auf der Ermächtigungsnorm des § 7 I AWG und stünde mit Gemeinschaftsrecht nicht in Widerspruch, da Art. 4 I und V sowie Art. 5 I VO (EG) Nr. 1334/2000 (KG) bzw. Art. 11 der VO (EWG) 2603/69 (VGH Kassel) eine nationale Sonderregelung ermöglichten. Beide Gerichte prüfen jedoch nicht, ob die erlassene Rechtsverordnung ihrem Inhalt nach dem Ermächtigungszweck genügt, ob sich also der Verordnungsgeber im Rahmen der gemeinschaftsrechtlichen Ermächtigung gehalten hat und seiner Darlegungslast gerecht geworden ist. Die Auffangregelung des § 5c AWV beeinträchtigt, da entsprechende Regelungen in den übrigen Mitgliedstaaten fehlen,47 die Chancengleichheit deutscher Unternehmer im Wettbewerb. Dies räumt die Bundesregierung auch ein.48 Jedoch sei dies zur Verhinderung von deutschen Beiträgen zu konventionellen Rüstungsprogrammen in einer kleinen Gruppe besonders sensitiver Staaten geboten.49 Der Gesetzgeber hat es unterlassen, zwingende Gründe des All___________ 43

BT-Drs. 14/4166. Erwägung 6 der VO [EG] Nr. 1334/2000. 45 Beschluss vom 22.7.2008, Az.: 2 AR 139/05 – 4 Ws 131/07, zit. nach juris Rn. 7. 46 NVwZ-RR 2001, 95. 47 Bieneck, wistra 2008, 208 (210); Jestaedt/Baron von Behr, EuZW 1995, 137 (141); Dolde, RIW 1992, 517 (518); Reuter, DB 1991, 2577; Schörner, in: Hohmann/John (Hrsg.), Ausfuhrrecht 2002, § 5c AWV Rn. 17. 48 BT-Drs. 13/1100 S. 22 (23); vgl. auch Rieck, RIW 1999, 115 (116). 49 BT-Drs. 13/10104 S. 15, 24/25 begründet die restriktive deutsche Ausfuhrpolitik, die deutsche Unternehmer gegenüber Wettbewerbern aus anderen EU-Mitgliedstaaten stärker belastet, mit der hohen Bedeutung, die die Bundesrepublik Deutschland einer wirksamen Kontrolle beimisst. Bei der Anpassung der AWV durch die 51. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung an die VO (EG) Nr. 1334/2000 führt die Bundesregierung aus, bisher bestehende Wettbewerbsnachteile der deutschen Exportwirtschaft durch schärfere nationale Vorschriften hätten erheblich gemildert werden können, indem die europäischen Vorschriften dem deutschen Exportkontrollniveau an44

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gemeininteresses als Rechtfertigung für die Wettbewerbsbeeinträchtigung darzulegen und die Belegung dieser Annahme durch nachvollziehbare Tatsachen zu begründen50 sowie mit dem gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Ausfuhrfreiheit abzuwägen (Art. 1 VO [EWG] Nr. 2603/69). Dass von der Beeinträchtigung des Wettbewerbs nur eine kleine Gruppe von besonders sensitiven Staaten betroffen ist, ändert an dem nicht unerheblichen Eingriff in den Grundsatz der Ausfuhrfreiheit nichts, zumal die behauptete besondere Sensitivität nicht näher dargelegt wird. § 5c II AWV genügt auch nicht dem Grundsatz der gemeinschaftsrechtlichen Verhältnismäßigkeit. Danach muss eine nationale Norm aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet sein, ihre Ziele zu erreichen; sie darf zudem nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung ihrer Ziele erforderlich ist.51 Sind diese Kriterien der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch denjenigen des nationalen Rechts gleich, so kann die Prüfung wegen gemeinschaftsrechtlicher Besonderheiten im Einzelfall zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Da das gemeinschaftsrechtliche Exportrecht noch nicht vollständig harmonisiert ist,52 obliegt es dem jeweiligen Mitgliedstaat, von dem die Beschränkung ausgeht, darzutun, dass die nationale Regelung für die Verwirklichung des verfolgten Ziels erforderlich ist und das Ziel nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen erreicht werden kann.53 Die nationale deutsche Sonderregelung ist auch nicht geeignet, ihr Ziel einer restriktiven Exportkontrolle – gemeinschaftsrechtlich betrachtet – zu erreichen, weil die Gefahr einer Ersatzlieferung aus einem anderen Mitgliedstaat besteht. Dem Gesichtspunkt der Vorbildfunktion der deutschen Sonderregelung kommt – im Unterschied zur Sichtweise des BVerfG, das sich zu der hier inmitten stehenden gemeinschaftsrechtlichen Problematik nicht geäußert hat – keine Bedeutung zu, da sich dieser Rechtfertigungsgrund ebenfalls nicht im Rahmen der Ermächtigungsnorm des Art. 5 I VO (EG) Nr. 1334/2000 hält.54 Nur in diesem gemeinschaftsrechtlichen Rahmen kann der nationale Gesetzge___________ geglichen worden seien; BT-Drs. 14/4166 S. 12. Dies ist im Hinblick darauf, dass kein Mitgliedstaat der Europäischen Union eine dem § 5c II AWV vergleichbare Regelung kennt, nicht nachvollziehbar. 50 EuGH IStR 2003, 853 (854 Rn. 25, 26); NJW 2004, 139 (140 Rn. 60 ff.). 51 EuGH NJW 2004, 139 (140 Rn. 65); Schlussantrag des Generalanwalts vom 14.10.2008, ZfWG 2008, 323 (343 Rn. 234). 52 Erwägung 4 zur VO (EG) Nr. 1334/2000. 53 Vgl. EuGH Urteil vom 5.6.2007, Az.: C-170/04, BeckRS 2007, 70389 Rn. 50. 54 Vgl. Reuter, RIW 1993, 88 (92) zur Vereinbarkeit des § 5c AWV mit der VO (EG) Nr. 2603/69.

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ber seine eigenen Vorstellungen einbringen und eine gewisse Vorbildfunktion erlangen. Dies unterscheidet den gemeinschaftsrechtlichen Kontext grundlegend von dem übrigen völkerrechtlichen Hintergrund, vor dem die vom BVerfG hervorgehobene nationale Vorbildfunktion Deutschlands besonderes außenpolitisches Gewicht erlangen kann. Wie sich aus den jahrelangen Verhandlungen um die VO (EG) Nr. 1334/2000 und in der Zeit nach deren Inkrafttreten gezeigt hat, ist dem deutschen Modell einer restriktiveren Exportkontrolle innerhalb der Gemeinschaft gerade keine Modellfunktion zugewachsen.55 Sie sich gleichwohl zuzumessen, untergräbt die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Schließlich genügt § 5c II AWV nicht den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen der Bestimmtheit, der Vorhersehbarkeit und der Rechtssicherheit. Der Rechtsunterworfene muss aus der nationalen Sonderregelung Hinweise darauf erhalten, unter welchen konkreten objektiven Umständen ihm eine Genehmigung erteilt oder versagt wird. Für den Einzelnen muss der Umfang seiner Rechte und Pflichten erkennbar sein, damit der Grundsatz der Rechtssicherheit gewahrt ist.56 Nur wenn die materiellen Kriterien, auf Grund derer eine Beschränkung – hier des Exports – erfolgen kann, objektiv und hinreichend genau sind, ist eine gerichtliche Kontrolle der Verwaltung überhaupt möglich. Hierfür genügt es nicht, dass es den Gerichten überlassen bleibt, die Voraussetzungen zu konkretisieren, unter welchen die Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit bejaht werden kann. Vielmehr muss die gesetzliche Regelung selbst hinreichend genaue Kriterien liefern, um den Gerichten die Kontrolle der Verwaltung überhaupt zu ermöglichen.57 Im Falle des § 5c II Satz 1 AWV entscheidet das Bundesamt für Wirtschaft und Ausfuhrkontrolle (BAFA) über die Genehmigungspflichtigkeit des Exports. Die Genehmigungspflicht ergibt sich aus § 5c I AWV. Die Voraussetzungen für die Erteilung einer Genehmigung ergeben sich aus den §§ 3, 7 AWG. Nach § 3 I 1 AWG ist, sofern Rechtsgeschäfte oder Handlungen nach dem AWG oder einer zu diesem Gesetz erlassenen Rechtsverordnung einer Genehmigung bedürfen, die Genehmigung zu erteilen, wenn zu erwarten ist, dass die Vornahme des Rechtsgeschäfts oder der Handlung den Zweck, dem die Vorschrift dient, nicht oder nur unwesentlich gefährdet. Nach Satz 2 dieser Vorschrift kann die Genehmigung erteilt werden, wenn das volkswirtschaftliche Interesse an der Vornahme des Rechtsgeschäfts oder der Handlung die damit verbundene Beeinträchtigung des bezeichneten Zwecks überwiegt. Die Zwecke, um deretwillen Rechtsgeschäfte und Handlungen im Außenwirt___________ 55

BT-Drs. 13/1100 S. 22/23; Reuter, RIW 1996, 719 (721). EuGH NJW 2002, 2305 (2306 Rn. 50). 57 EuGH NJW 2003, 2663 (2666 Rn. 79). 56

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schaftsverkehr beschränkt werden können, ergeben sich aus § 7 I AWG und bedürfen wegen ihrer Unbestimmtheit in besonderem Maße der Auslegung und Konkretisierung. Die nationale gesetzliche Regelung stellt damit keine klaren, präzisen und objektiven Kriterien auf, anhand derer der Rechtsunterworfene ersehen kann, ob er die ggf. erforderliche Genehmigung erhalten wird oder nicht. Es bleibt damit den nationalen Gerichten überlassen, den Genehmigungszweck zu konkretisieren. Dies widerspricht dem Gemeinschaftsrecht, da das nationale Recht nicht selbst die Kriterien aufstellt, um den Gerichten die Kontrolle der Verwaltung zu ermöglichen.58 Dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts und der damit korrespondierenden Nichtanwendungspflicht werden durch das im deutschen wie im Gemeinschaftsrecht geltende allgemeine Prinzip der Rechtssicherheit Grenzen gesetzt. Ein solcher Fall kann gegeben sein, wenn durch die Nichtanwendung des für gemeinschaftsrechtswidrig erachteten nationalen Rechts eine inakzeptable Gesetzeslücke entstünde, an deren Vorliegen jedoch hohe Anforderungen zu stellen sind.59 Eine solche Lücke entsteht jedoch nicht, da eine effektive Exportkontrolle durch die VO (EG) Nr. 1334/2000 gewährleistet ist.

2. Unvereinbarkeit des § 34 II Nr. 3 AWG mit Gemeinschaftsrecht Die gemeinschaftsrechtliche Neutralisierung des § 5c II AWV lässt bereits die nach § 33 I AWG i.V.m. § 70 I Nr. 3 AWV erforderliche Handlung i.S.d. § 34 II Nr. 3 AWG und damit eine Strafbarkeit entfallen. Aber auch § 34 II Nr. 3 AWG selbst – in der Fassung vom 9.8.1994 als auch vom 28.3.2006 – erweist sich als gemeinschaftswidrig. Der Bundesgesetzgeber hat jeweils die Erforderlichkeit der nationalen Strafsanktion des § 34 II Nr. 3 AWG nicht dargelegt; sie erweist sich als unverhältnismäßig und widerspricht damit Art. 133 EGV, Art. 5 I der VO (EG) Nr. 1334/2000 und Art. 1 und 11 der VO (EWG) Nr. 2603/69. ___________ 58

Diese Unklarheit des Gesetzes setzt sich in § 3 II 1 AWG fort. Danach kann die Erteilung der Genehmigung von – sieht man von der Zuverlässigkeit des Antragstellers ab – nicht näher beschriebenen sachlichen und persönlichen Voraussetzungen abhängig gemacht werden, die in keiner Weise näher präzisiert werden. Soweit die Bundesregierung am 25.7.2001 „Grundsätze zur Prüfung der Zuverlässigkeit von Exporteuren von Kriegswaffen und rüstungsrelevanten Gütern“ erlassen hat (www.verwaltungs vorschriften–im–internet.de/bsvwvbund_25072001_VB4500917.htm), die auch für die Prüfung der Zuverlässigkeit im Rahmen des § 3 II AWG gelten, finden diese u.a. nur auf gelistete „Dual-Use-Güter“ Anwendung und stellen zudem keine gesetzliche Regelung dar. 59 OLG München NJW 2006, 3588 (3591).

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Verordnungen des Gemeinschaftsrechts sind strafrechtlich nur dann durchsetzbar, wenn das nationale Strafrecht dies ausdrücklich vorsieht.60 Das Gemeinschaftsrecht verwehrt es den Mitgliedstaaten andererseits nicht, die Nichteinhaltung von Genehmigungsverfahren mit strafrechtlichen Sanktionen zu belegen, sofern die Strafen, die verhängt werden können, nicht außer Verhältnis zum verfolgten Ziel des Schutzes der öffentlichen Sicherheit stehen.61 § 34 I AWG in der bis zum 5.8.1990 geltenden Fassung – als Vorläufer des § 34 II AWG – war als Erfolgsdelikt normiert. Durch das 5. Änderungsgesetz zum AWG vom 20.7.199062 wurde die Vorschrift als abstraktes, die Strafbarkeit erweiterndes Gefährdungsdelikt neu gefasst. § 34 II Nr. 3 AWG in der Fassung vom 9.8.1994 und vom 28.3.2006 ist nach wie vor ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Die Fassung vom 28.3.2006 ersetzte bei im Übrigen unverändertem Tatbestand in § 34 II Nr. 3 AWG die Angabe „eine in § 33 I, IV oder V bezeichnete Handlung“ durch „eine in § 33 I oder IV bezeichnete vorsätzliche Handlung“. Die Darlegungslast, dass gerade eine strafrechtliche Sanktion in Form eines abstrakten Gefährdungsdelikts zum Schutz der öffentlichen Sicherheit erforderlich ist und mildere Maßnahmen hierfür nicht ausreichen, trägt der nationale Gesetzgeber. Er hat insbesondere dafür Sorge zu tragen und dies auch darzulegen, dass eine bestehende nationale Strafnorm sich im Einklang mit fortentwickelndem Gemeinschaftsrecht hält. Dies ist nicht geschehen. Lediglich allgemeine strafpolitische Überlegungen genügen nicht den europarechtlichen Anforderungen an eine nationale strafrechtliche Sanktionierung im Lichte des Art. 133 EGV, der VO (EG) Nr. 1334/2000 sowie der VO (EWG) Nr. 2603/69. Sie lassen nicht erkennen, dass die Strafbewehrung als solche und insbesondere die Erweiterung der Strafbarkeit in Form eines abstrakten Gefährdungsdelikts zur Beseitigung einer Gefahr für ein schwerwiegendes nationales Sicherheitsproblem erforderlich ist. Gerade im Hinblick auf die vorangeschrittene gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung der Exportkontrolle und die multilateral verknüpften Sicherheitsinteressen der Mitgliedstaaten hätte es – auch angesichts der in erheblichem Maße auslegungsbedürftigen Schutzgüter des § 34 II AWG und der Inbezugnahme von Blankettvorschriften – einer besonderen, nachvollziehbaren Begründung für die Beibehaltung der Vorverlagerung der Strafbarkeit bedurft.63

___________ 60 BGH NJW 1995, 2174 (2175); Diemer, in: Erbs/Kohlhaas Strafrechtliche Nebengesetze, Stand Januar 2009, Vorb. AWG Rn. 7; U. Karpenstein (Fn. 6), Art 19 Rn. 4. 61 EuGH DB 1995, 2360 (2362 Rn. 39 bis 42). 62 BGBl. I S. 1457. 63 Vgl. BT-Drs. 11/4230 S. 5 und 7; BT-Drs. 12/6911 S. 7; BT-Drs. 16/33 S. 10.

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II. Unvereinbarkeit der § 34 I Nr. 1 AWG mit Gemeinschaftsrecht Nach § 34 I 1 Nr. 1 AWG i.d.F. vom 11.12.1996 i.V.m. der Anlage zur 104. Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste – Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung64 – macht sich strafbar, wer ohne Genehmigung Güter des Teils I Abschnitt A oder bestimmte Güter des Teils I Abschnitt C der Ausfuhrliste ohne Genehmigung ausführt. In der Ausfuhrliste ist ausgeführt: „Abschnitt C enthält die Gemeinsame Liste der Europäischen Union für Güter mit doppeltem Verwendungszweck.“65 Diese Parallelregelung widerspricht dem unmittelbaren Vorrang (Art. 249 II EGV) der VO (EG) Nr. 1334/2000 und der EU-Güterliste als deren integraler Bestandteil. Durch die Wiederholung des Inhalts der Gemeinschaftsregelung darf ein Mitgliedstaat nicht eine Rechtslage schaffen, in der die unmittelbare Geltung der Gemeinschaftsverordnung aufs Spiel gesetzt wird. Nur im besonderen Fall des Zusammentreffens einer ganzen Reihe gemeinschaftsrechtlicher, mitgliedstaatlicher und regionaler Vorschriften kann es nicht als ein Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht angesehen werden, wenn mitgliedstaatliches Recht im Interesse seines inneren Zusammenhangs und seiner Verständlichkeit für die Adressaten bestimmte Punkte der Gemeinschaftsverordnung wiederholt.66 Eine solche Ausnahmesituation liegt nicht vor. Durch die Parallelregelung wird ferner der gemeinschaftrechtliche Charakter der VO (EG) Nr. 1334/2000 i.V.m. der Gemeinsamen Liste der Europäischen Union für Güter mit doppeltem Verwendungszweck verschleiert. Es ist nicht ersichtlich, auf Grund welcher gemeinschaftsrechtlichen Rechtsnorm die Gemeinsame Liste der Europäischen Union erlassen wurde. Soweit die nationale Ausfuhrliste in Teil I Nr. 10 die VO (EG) Nr. 1334/2000 erwähnt, betrifft dies nur die Verbringung bestimmter Güter in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union, nicht aber den Export in Drittstaaten. Damit ist der europarechtliche Geltungsgrund nicht sichtbar; der Normadressat kann den Gemeinschaftsrechtscharakter der Gemeinsamen Liste der Europäischen Union nicht erkennen.67

___________ 64

BAnz. Nr. 85a vom 7.5.2005 Anwendung der Ausfuhrliste, Teil I Nr. 1 66 EuGH Slg. 1985, II-1057, 1067/1074 Rn. 126/127; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. III (Stand 2005), Art. 249 EGV Rn. 121; Ruffert, in: Callies/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl. 2002, Art. 249 EGV Rn. 41. 67 Vgl. EuGH Slg. 1973, II-981/998 Rn. 11; Slg. 1977, I-137, 146/147 Rn. 4/7; Slg. 1988, II-2139/2148 Rn. 10; Wolffgang, in: Bieneck, Handbuch AWR, 2. Aufl. 2005, § 4 65

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Auch der Anwendungsvorrang der EU-Güterliste als integraler Bestandteil der VO (EG) Nr. 1334/2000 bleibt im Unklaren. Zwar legt § 1 II AWG fest, dass Rechtsvorschriften der Organe zwischenstaatlicher Einrichtungen, denen die Bundesrepublik Deutschland Hoheitsrechte übertragen hat, unberührt bleiben. Durch die Wiederholung der EU-Güterliste in der nationalen Ausfuhrliste wird jedoch der Geltungsgrund dieser Regelung verwischt. Es ist nicht mehr erkennbar, ob es sich dabei um eine Aufnahme dieser Güter in nationales Recht oder um eine Wiedergabe von Gemeinschaftsrecht handelt. Dies widerspricht dem Anwendungsvorrang der VO (EG) Nr. 1334/2000. Hinzukommt, dass bei einer Änderung der EU-Güterliste wegen zeitlicher Verzögerungen bei der redaktionellen Vorbereitung und der gesetzlichen Inkraftsetzung durch den nationalen Gesetzgeber eine Situation entstehen kann, in der für einen bestimmten Zeitraum zwischen der EU-Güterliste und der nationalen Ausfuhrliste inhaltliche Differenzen und damit eine erhebliche Rechtsunklarheit bestehen. Diese Unklarheit erstreckt sich, wenn auch Güter erfasst werden, die unmittelbar in § 34 I Satz 1 erwähnt sind, auch auf die Frage der Strafbarkeit. Dem Gesetzgeber ist diese Rechtslage bewusst. Aus der amtlichen Begründung zur Anpassung der AWV an die VO (EG) Nr. 1334/2000 vom 28.9.200068 ist ersichtlich, dass auch er davon ausgeht, aus dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts (Art. 249 II EGV) ergäbe sich ein Verbot, Gemeinschaftsrecht im nationalen Recht zu wiederholen.69 Dieses Verbot hat der Gesetzgeber jedoch bei der Übernahme der EU-Güterliste in die nationale Ausfuhrliste außer Acht gelassen.70

III. Ausblick Die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit des § 5c II AWV sowie des § 34 I AWG – soweit die dort in Bezug genommene nationale Ausfuhrliste die Gemeinsame Liste der Europäischen Union für Güter mit doppeltem Verwendungszweck in ___________ Rn. 57; Wolffgang/Schäfer, in: Siebel/Röver/Knütel (Hrsg.), Rechtshandbuch Projektfinanzierung und PPP, 2. Aufl. 2008, S. 24. 68 BT-Drs. 14/4166, S. 15. 69 So auch Handbuch der Rechtsförmlichkeit, BAnz. Nr. 160a vom 22.10.2008, S. 94 Rn. 288, 289. 70 Bereits 2002 stellte Wahren, in: Hohmann/John (Hrsg.), Ausfuhrrecht (2002), Erläuterungen zur Ausfuhrliste, Teil 1 Rn. 5 fest, dass zur Vermeidung der Parallelregelung beabsichtigt würde, die nationalen Regelungen direkt auf die EU-Güterliste zu beziehen. Dies sei bislang nicht realisiert worden, weil dazu nicht nur die AWV, sondern auch das AWG zu ändern wären. Dies kann als Begründung für eine unterlassene Anpassung an vorrangiges Gemeinschaftsrecht nicht hinreichen.

Strafbewehrte Exportkontrollen im Konflikt mit dem Gemeinschaftsrecht

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Teil I Abschnitt C wiederholt – und des § 34 II Nr. 3 AWG führt nicht dazu, dass Verstöße gegen Exportkontrollen völlig ohne Sanktion blieben. Die Neutralisierung nationaler deutscher Sonderregelungen durch das Gemeinschaftsrecht betrifft lediglich den Export von bestimmten gelisteten, im Übrigen ungelisteten Dual-Use-Gütern der „catch-all“-Klausel des § 5c II AWV. Der strafrechtlich sanktionierte Verstoß gegen Exportkontrollvorschriften betreffend Rüstungsgüter (§ 34 I Nr. 1 AWG n.F.) und der Embargotatbestand (§ 34 IV AWG) bleiben hiervon unberührt. Die gemeinschaftsrechtswidrige Parallelregelung in § 34 I Nr. 1 AWG a.F. ließe sich durch eine Inbezugnahme der entsprechenden Abschnitte der Gemeinsamen Liste der Europäischen Union für Güter mit doppelten Verwendungszweck als integraler Bestandteil der VO (EG) Nr. 1334/2000 durch den Gesetzgeber einfach beheben.71 Eine Strafbarkeitslücke für gelistete, weil als gefährlich eingestufte Dual-Use-Güter ließe sich damit schließen. Dabei würde es sich auch nicht um eine innerstaatlich verfassungsrechtlich problematische dynamische Verweisung handeln.72 Eine Verlagerung von Gesetzgebungsbefugnissen, die bei einer dynamischen Verweisung unter bundesstaatlichen, rechtsstaatlichen und demokratischen Gesichtspunkten als bedenklich angesehen werden mag, liegt bei einer solchen Inbezugnahme nicht vor. Der deutsche Gesetzgeber knüpft nämlich nur an Tatbestände des vorrangigen Gemeinschaftsrechts an und erfüllt dadurch seine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung, Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht mit gleichartigen Sanktionen zu ahnden wie vergleichbare Verstöße gegen nationales Recht. Damit gibt der deutsche Gesetzgeber nicht in verfassungswidriger Weise seine Kompetenzen auf, sondern berücksichtigt lediglich den auch verfassungsrechtlich abgesicherten Übergang (Art. 23 I 2 GG) von staatlichen Gesetzgebungskompetenzen auf Gemeinschaftsorgane.73 Die Sanktionsmöglichkeiten im Ordnungswidrigkeitenrecht bleiben erhalten und erscheinen gerade bei nicht gelisteten Dual-Use-Gütern ausreichend. Nach § 33 IV AWG handelt ordnungswidrig, wer vorsätzlich oder fahrlässig einer unmittelbar geltenden Vorschrift in Rechtsakten der Europäischen Gemeinschaften über die Beschränkung des Außenwirtschaftsverkehrs zuwiderhandelt, sofern eine Rechtsverordnung auf diesen Bußgeldtatbestand verweist und die Handlung nicht nach § 34 IV Nr. 2 AWG als Straftat geahndet werden kann. Diese Verweisung ist durch § 70 Va AWV erfolgt, der detailliert Verstöße ___________ 71 Zur Pflicht des nationalen Gesetzgebers bei einer „direkten Kollision“ des nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht, die ganz oder teilweise unanwendbare nationale Norm aufzuheben oder zu ändern, Horsch, ZRP 2009, 48 (50). 72 Zur Problematik der dynamischen Verweisung z.B. BVerfG Beschluss vom 1.3.1978, 1 BvR 786/70 u.a., zit. nach juris, Rn. 62. 73 Für das österreichische Recht vgl. ÖVfGH wbl 2007, 299.

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Bernd v. Heintschel-Heinegg und Manfred Dauster

gegen die Exportkontrollvorschriften der VO (EG) Nr. 1334/2000 als Ordnungswidrigkeiten ahndet. Die Sanktionsmöglichkeiten sind beträchtlich. Ordnungswidrigkeiten nach § 33 IV AWG können mit Geldbußen bis zu 500.000 € geahndet werden (§ 33 VI AWG). Die Geldbuße soll den wirtschaftlichen Vorteil, den der Täter aus der Tat gezogen hat, übersteigen. Reicht das gesetzliche Höchstmaß der Geldbuße hierzu nicht aus, kann es überschritten werden (§ 17 IV 2 OWiG). Das der Verwaltungsbehörde hinsichtlich der Einleitung der Verfolgung eingeräumte Ermessen (§ 47 I OWiG; Opportunitätsprinzip) ermöglicht flexibles Handeln.

Drei Vorschläge Kants zur Reform des Strafrechts Von Joachim Hruschka

I. Der rechtliche Zustand (Rechtsstaat) in Kants Rechtslehre Zu den bleibenden Leistungen von Kants Rechtsphilosophie gehören der Begriff des Rechtsstaats und seine erste Entwicklung.1 Das Wort „Rechtsstaat“ kennt und benutzt Kant freilich noch nicht. Kant spricht noch von „rechtlicher Zustand“ und gelegentlich von „status iuridicus“. Das Wort „Rechtsstaat“ entsteht – wohl 1797 – als eine der möglichen Übersetzungen von Kants „status iuridicus“. Kant selbst übersetzt, wie gesagt, „status iuridicus“ mit „rechtlicher Zustand“.2 Wenn im Folgenden, in Übereinstimmung mit Kants Sprachgebrauch, von einem „rechtlichen Zustand“ die Rede ist, dann ist damit der Rechtsstaat gemeint.3 Kants Begriff eines rechtlichen Zustandes ist – zunächst einmal – ein materialer Begriff (von Rechtsstaat). Ein rechtlicher Zustand ist, so heißt es in der Rechtslehre von 1797/98, „dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts teilhaftig werden kann.“4 Ein rechtlicher Zustand ist danach im Verhältnis zu meiner (menschlichen) Umgebung eine Situation, die sich dadurch auszeichnet, dass ich und alle anderen die Rechte, die wir haben, auch tatsächlich ausüben können. Das ursprüngliche Freiheitsrecht, mit dem Kant (der Sache nach) be___________ 1 Kants Werke werden, wie üblich, nach der Akademie-Ausgabe (AA) zitiert. Die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre (kurz: Rechtslehre) finden sich in AA VI. Die 1. Auflage ist 1797, die 2. Auflage ist 1798 erschienen. Die 2. Auflage enthält eine längere Stellungsnahme zu der Rezension Bouterweks der 1. Auflage. 2 Einzelheiten bei Byrd/Hruschka, ARSP 94 (2008), 70 (74). 3 Genau genommen kennt Kant drei verschiedene rechtliche Zustände, einen staatsrechtlichen, einen völkerrechtlichen und einen weltbürgerrechtlichen rechtlichen Zustand. Sein Begriff von einem rechtlichen Zustand ist danach weiter als der Begriff des Rechtsstaats. Der Rechtsstaat ist identisch mit Kants staatsrechtlichem rechtlichen Zustand. Da im folgenden von dem völkerrechtlichen und dem weltbügerrechtlichen rechtlichen Zustand nicht die Rede sein wird, können wir den rechtlichen Zustand, um den es in diesem Beitrag geht, mit dem Rechtsstaat gleichsetzen. 4 AA VI § 41, S. 305 Z. 34–S. 306 Z. 1 (Hervorhebung im Original).

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ginnt, steht mir immer zu. Werde ich (rechtswidrig) eingesperrt, dann kann ich das Recht nicht ausüben. In einem rechtlichen Zustand befinde ich mich dann, wenn ich mich in einer Situation befinde, in der ich mein Freiheitsrecht (und meine anderen Rechte) auch tatsächlich ausüben kann. Schon aus Kants Definition des rechtlichen Zustandes ergibt sich, welche Funktion ein rechtlicher Zustand (Rechtsstaat) hat. Ein rechtlicher Zustand dient der Sicherung unserer Rechte. Durch den Eintritt in einen rechtlichen Zustand gebe ich den anderen und die anderen geben mir Sicherheit mit Bezug auf ihre (meine) Rechte.5 Jedermann wird als böse vermutet, bis er diese Sicherheit geleistet hat.6 Kant wird nicht müde, die Sicherungsfunktion des Rechtsstaats zu betonen. Ausdrücklich heißt es einmal: Eine „bürgerliche Verfassung ist allein der rechtliche Zustand, durch welchen jedem das Seine ... gesichert ... wird.“7 Das entscheidende Gebot lautet: „Tritt in einen Zustand, worin jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann!“8 Die Sicherungsfunktion ist auch die einzige legitime Funktion eines rechtlichen Zustandes (Rechtsstaats). Kant verbindet mit dem Begriff des Staates keine irgendwie geartete Ideologie, die den Staat, wie etwa später Hegel, in eine höhere Sphäre hebt. Seine Analysen sind ganz nüchtern. Befinden wir uns nicht in einem rechtlichen Zustand, dann befinden wir uns im Naturzustand. Der Naturzustand ist, „wie Kant das ausdrückt, der „Zustand des Privatrechts“.9 „Privatrecht“ aber ist die Situation, in der jedermann seine Rechte verfolgt, wie es „ihm recht und gut dünkt“, nicht deswegen, weil er ein schlechter oder böser Mensch wäre, sondern deswegen, weil ihm, mangels einer (rechtsstaatlichen) Gerichtsbarkeit und einer Macht, die die gerichtlichen Entscheidungen auch durchsetzt, gar nichts anderes übrig bleibt, als seine eigenen Rechte und die Rechte anderer Leute nach seiner eigenen und daher privaten Meinung zu beurteilen.10 Deshalb und deshalb allein gibt es das an jedermann gerichtete Gebot, aus dem Naturzustand herauszugehen und in einen rechtlichen Zustand einzutreten.

___________ 5

Etwa: AA VI § 42, S. 307 Z. 14–16. AA VI § 42, S. 307 Z. 25–26: „Quilibet praesumitur malus, donec securitatem dederit oppositi.“ Wörtlich: „Jedermann wird solange als böse vermutet, bis er für das Gegenteil Sicherheit geleistet hat.“ Dazu, dass diese Vermutung der von Kant ebenfalls vertretenen Unschuldsvermutung nicht widerspricht, vgl. Byrd/Hruschka, ARSP 94 (2008), 70 (75 – 78). 7 AA VI § 9, S. 256 Z. 27–29 (Hervorhebung von mir). 8 AA VI Einleitung der Rechtslehre A, S. 237 Z. 7–8 (Hervorhebung von mir; im Original ist „tritt“ hervorgehoben). 9 Etwa AA VI § 41, S. 306 Z. 29. 10 Vgl. etwa AA VI § 44, S. 312–313. 6

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Wie bereits aus den letzten Bemerkungen ersichtlich ist, bleibt Kant bei der oben wiedergegebenen Definition eines rechtlichen Zustandes nicht stehen. Er formuliert auch drei Bedingungen, deren Erfüllung erforderlich ist, wenn von einem rechtlichen Zustand die Rede sein soll. Die drei Bedingungen sind Momente einer öffentlichen Gerechtigkeit, und sie heißen „beschützende Gerechtigkeit (iustitia tutatrix)“, „wechselseitig erwerbende Gerechtigkeit (iustitia commutativa)“ und „austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva)“. Entscheidend ist, dass die drei Gerechtigkeiten Momente einer öffentlichen Gerechtigkeit sind. „Öffentlich“ steht im Gegensatz zu „privat“, und öffentlich ist das, was offen zutage liegt und für jedermann zugänglich ist. Wir müssen die drei Gerechtigkeiten als Göttinnen verstehen, die bestimmte Institutionen eines rechtlichen Zustandes allegorisch darstellen.11 Die beschützende Gerechtigkeit (iustitia tutatrix) personifiziert die öffentliche Gesetzgebung in einem Rechtsstaat, die wechselseitig erwerbende Gerechtigkeit (iustitia commutativa) personifiziert den freien öffentlichen Markt, die austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) personifiziert die rechtsstaatliche öffentliche Gerichtsbarkeit.12 Die öffentliche Gerichtsbarkeit nennen wir auch heute noch „Justiz“ (das ist der lateinische Ausdruck für „Gerechtigkeit“!), und wir sind immer noch mit ihrer Darstellung durch eine antike Gottheit vertraut. Die öffentliche Gerechtigkeit in ihren drei Ausprägungen bezeichnet Kant als das „formale Prinzip der Möglichkeit“ eines rechtlichen Zustandes,13 was heißen soll, dass es die drei Institutionen geben muss oder das Ziel – ein rechtlicher Zustand – wird nicht erreicht. Ein rechtlicher Zustand ist nicht denkbar ohne eine öffentliche Gesetzgebung, ohne einen freien Markt und ohne eine öffentliche Gerichtsbarkeit. Die Existenz einer öffentlichen Gesetzgebung, ein freier Markt und die Existenz einer öffentlichen Gerichtsbarkeit sind notwendige (freilich noch nicht hinreichende) Bedingungen für einen Rechtsstaat.

II. Das Strafrecht im Rechtsstaat In das durch den Begriff eines rechtlichen Zustandes (Rechtsstaats) vorgegebene System ordnet sich das Strafrecht problemlos ein. Das Strafrecht ist ei___________ 11 In AA VI Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre I, S. 234 Z. 30, bezeichnet Kant „die Billigkeit“ ausdrücklich als eine „stumme Gottheit“. 12 Die Deutung der iustitia commutativa als freier öffentlicher Markt und die Deutung der iustitia distributiva als öffentliche rechtsstaatliche Gerichtsbarkeit weichen erheblich von der aristotelisch-scholastischen Tradition ab, aus der die Ausdrücke stammen. Das liegt daran, dass Kant von „öffentlicher Gerechtigkeit“ und nicht mehr von (privater) Tugend redet. Bei seiner Begriffsbildung knüpft Kant an Hobbes an. Einzelheiten bei Hruschka, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 183 passim. 13 AA VI § 41, S. 306 Z. 1–2.

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nes der Mittel, vielleicht sogar das wichtigste Mittel, das der Staat einsetzt und einzusetzen verpflichtet ist, um seine Aufgabe, unsere Rechte zu sichern, zu erfüllen. Ein Verbrechen ist, so heißt es einmal in Kants Rechtslehre, die „Verletzung der Staatssicherheit im Besitz des Seinen eines jeden.“14 Das soll heißen: Der (Rechts-)Staat sorgt dafür, dass jedem das Seine erhalten wird, und durch ein Verbrechen wird diese Sicherheit in Frage gestellt. Die gesetzlichen Strafandrohungen haben infolgedessen einen rein generalpräventiven Charakter, weshalb das Strafgesetz, wie Kant bei seiner Besprechung des berühmten BrettFalles ausführt, auch nicht angewendet werden darf, wenn es seine Abschreckungsfunktion im Einzelfall nicht erfüllen kann.15 Kant, der als erster den Rechtsstaat denkt, denkt auch die rechtsstaatlichen Aspekte des Strafrechts. Als „Verbrechen“ definiert er eine „Übertretung eines öffentlichen Gesetzes“.16 Dabei meint er, was er sagt. Von einem Verbrechen kann nur dann die Rede sein, wenn ein öffentliches Gesetz, d.h. ein von einem rechtsstaatlichen Gesetzgeber erlassenes und promulgiertes Gesetz, übertreten worden ist. Der Satz, dass der Richter keine Strafe verhängen darf, es sei denn, ein öffentliches Gesetz sei übertreten, ist für Kant (lange vor Feuerbach) eine bare Selbstverständlichkeit. Zweckmäßigkeitserwägungen, etwa wegen der behaupteten Gefährlichkeit eines Menschen, können daran nichts ändern. Ein Angeklagter „muß vorher strafbar befunden sein, ehe noch daran gedacht wird, aus dieser Strafe einigen Nutzen für ihn selbst oder seine Mitbürger zu ziehen.“17 Auch muss die Tat nachgewiesen sein. Kant ist einer der Vorkämpfer der Unschuldsvermutung, die im ausgehenden 18. Jahrhundert noch keine Selbstverständlichkeit ist. Schließlich vertritt Kant das Legalitätsprinzip. Hat sich jemand strafbar gemacht, dann muss die Tat auch verfolgt werden. „Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ!“18 Das soll heißen: Den Strafverfolgungsorganen, an die das (öffentliche) Strafgesetz sich richtet, ist kategorisch geboten, tätig zu werden, wenn sie von einer Straftat erfahren. Opportunitätsgesichtspunkte lässt Kant nicht gelten. ___________ 14

AA VI Anhang erläuternder Bemerkungen 5, S. 362 Z. 34–35. Die Notstandstat ist und bleibt ein Unrecht. Aber die gesetzliche Androhung von Strafe kann „die beabsichtigte Wirkung ... nicht haben.“ „Denn die Bedrohung mit einem Übel was noch ungewiß ist (dem Tode durch den richterlichen Ausspruch) kann die Furcht vor dem Übel, was gewiß ist (nämlich dem Ersaufen) nicht überwiegen.“ Daher kann und muss der Notstandstäter vor Gericht „Nachsicht erlangen“, auch wenn er seine Tat „selbst an sich als unrecht beurteilen muß“ und ihn sein eigenes Gewissen anklagt. AA VI Anhang zur Einleitung in die Rechtslehre II, S. 235 Z. 26–35 und S. 236 Z. 13– 14. 16 AA VI Allgemeine Anmerkung E, S. 331 Z. 7–9. 17 AA VI Allgemeine Anmerkung E, S. 331 Z. 29–31 (Hervorhebung im Original). 18 AA VI Allgemeine Anmerkung E, S. 331 Z. 31–32. 15

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Die hier angeführten und viele andere Sätze aus den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre werden in der deutschen Strafrechtsliteratur immer noch kritisiert. Aus unerfindlichen Gründen wird Kant zu einem Vertreter einer „absoluten“ Straftheorie gestempelt, obwohl er ausdrücklich das Gegenteil sagt. Das ist alles höchst erstaunlich, wenn man bedenkt, dass Kant sich gerade darum bemüht, die Grundsätze zu formulieren, die von einem rechtstaatlichen Strafrecht vorausgesetzt werden müssen. Zu Einzelheiten verweise ich auf (meine) Ausführungen an anderer Stelle.19

III. Ein Vorschlag zu zwei Privilegierungstatbeständen Das Konzept eines rechtlichen Zustandes (Rechtsstaats) und das Konzept eines rechtsstaatlichen Strafrechts liefern den Hintergrund, vor dem Kant verschiedene Vorschläge zur Reform des Strafrechts macht. Von diesen Reformprojekten ist das hier als erstes vorzustellende Projekt inzwischen abgeschlossen. Es geht um die Privilegierung der Tötung eines nicht-ehelichen Kindes durch die Mutter, die Kant zusammen mit der Privilegierung der Tötung eines Duellanten in einem Zweikampf behandelt. Die beiden Privilegierungen finden sich noch über siebzig Jahre nach Kants Rechtslehre im Reichsstrafgesetzbuch vom 15. 5. 1871,20 die Privilegierung der Tötung im Duell in § 206, die Privilegierung der mütterlichen Kindestötung in § 217. Die Privilegierung der Tötung im Duell wurde vom deutschen Strafgesetzgeber im Jahre 1969, die Privilegierung der mütterlichen Kindestötung erst in unseren Tagen, im Jahre 1998, gestrichen.21 Man muss den Weitblick bewundern, den Kant im Jahre 1797 gezeigt hat, als er eine Reform forderte, die in Deutschland erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts (in einem Punkt erst ganz gegen Ende des 20. Jahrhunderts) durchgeführt wurde. Wie bereits gesagt, behandelt Kant die Tötung eines nicht-ehelichen Kindes durch die Mutter zusammen mit der Tötung im Duell, wobei er sich, was das Duell angeht, auf den im 18. Jahrhundert in der Praxis wichtigsten Fall der Tötung eines Offiziers durch einen Mitoffizier beschränkt.22 Das erste Verbrechen heißt bei ihm „mütterlicher Kindesmord (infanticidium maternale)“, das zweite „Kriegsgesellenmord (commilitonicidium)“. Beide Verbrechen bezeichnet Kant als „todeswürdige Verbrechen“. Es ist klar, dass er dabei für die Tötung eines ___________ 19

Vgl. Byrd/Hruschka JZ 2007, 957 passim. RGBl. S. 127. 21 Durch das 1. StrRG vom 25. 06. 1969 (BGBl. I 645), Art. 1 Nr. 58, bzw. durch das 6. StrRG vom 26. 01. 1998 (BGBl. I 164), Art. 1 Nr. 35. 22 AA VI Allgemeine Anmerkung E, S. 335 Z. 36–S. 337 Z. 7. Die folgenden Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, dieser Passage entnommen. 20

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Menschen („homicidium“) die Todesstrafe voraussetzt. Die im Jahre 1949 für (West-)Deutschland abgeschaffte Todesstrafe (Art. 102 GG) erregt noch heute Emotionen. Wer sonst wenig oder nichts über Kant weiß, weiß doch, dass Kant sich für die Todesstrafe eingesetzt hat. Wir wollen an dieser Stelle von den Emotionen zur Todesstrafe und zu anderen noch anzusprechenden Punkten absehen, um stattdessen Kants Gedankengang zur Tötung eines Kindes durch die Mutter und zur Tötung eines Mitoffiziers im Duell nachzuvollziehen. Es ist keineswegs so, dass Kant kein Verständnis für die beiden Privilegierungen hätte. Im Gegenteil. Zu den beiden Verbrechen, zum mütterlichen Kindesmord wie zum Kriegsgesellenmord, „verleitet das Ehrgefühl.“ „Das eine ist das der Geschlechtsehre, das andere der Kriegsehre, und zwar der wahren Ehre, welche jeder dieser zwei Menschenklassen als Pflicht obliegt.“ Die beiden „Menschenklassen“ sind die Frauen, die ihre Kinder, und die Offiziere, die ihre Mitoffiziere töten. Probleme entstehen dadurch, dass, wie es heißt, „die Gesetzgebung“ weder „die Schmach einer unehelichen Geburt“ noch „den Fleck“ wegwischen kann, „welcher aus dem Verdacht der Feigheit auf einen untergeordneten Kriegsbefehlshaber fällt, welcher einer verächtlichen Begegnung nicht eine über die Todesfurcht erhobene eigene Gewalt entgegensetzt.“ Gemeint ist die öffentliche Gesetzgebung. Kein öffentlicher Gesetzgeber kann durch ein Gesetz verhindern, dass in der öffentlichen Meinung mit einer nichtehelichen Geburt eine „Schmach“ der Mutter und mit der Äußerung des Verdachts der Feigheit ein „Fleck“ verbunden ist, der die Ehre des Offiziers berührt. Wie die Dinge nun einmal liegen, wird (im 18. Jahrhundert) das Duell „durch die öffentliche Meinung der Mitgenossen seines Standes“, d.h. durch die öffentliche Meinung der Mitoffiziere, gefordert, und es ist eben so, dass die Leute auf der Straße die Mutter verachten. Valentin zu Gretchen: „Da du dich sprachst der Ehre los, Gabst mir den schwersten Herzensstoß.“ „Und, wenn dir dann auch Gott verzeiht, Auf Erden sei vermaledeit!“23 Die öffentliche Meinung (auch noch lange nach dem 18. Jahrhundert) ist so, wie sie ist, und daran kann auch Kant nichts ändern.24 Deshalb „scheint es,“ dass die Tat in beiden Fällen „zwar allerdings strafbar sei, von der obersten Macht aber mit dem Tode nicht könne bestraft werden.“ Mit anderen Worten: Die beiden Verbrechen sind an sich „todeswürdig“. Aber es sieht so aus, als müsse man die Tötung des Kindes durch die Mutter und die des Gegners im Duell trotzdem mit einer geringeren Strafe (als der Todesstrafe) belegen.

___________ 23

Goethe, Faust erster Teil, „Nacht. Straße vor Gretchens Tür.“ In seinen von ihm selbst nicht veröffentlichten Vorarbeiten zum „Ehrenpunkt“, AA XXIII, S. 363–370, stellt Kant nicht nur für die Duellanten, sondern für beide hier diskutierten Fallgruppen auf die „öffentliche Meinung“ ab. 24

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Damit ist freilich erst das Problem und noch nicht die Lösung geschildert. Die (von Kant) vorgefundene Situation bringt es mit sich, dass „die Strafgerechtigkeit gar sehr ins Gedränge“ gerät. Entweder sie (die Strafgerechtigkeit) erklärt den Ehrbegriff „durchs Gesetz für nichtig“ und bestraft die Täter mit dem Tode, oder sie nimmt „von dem Verbrechen die angemessene Todesstrafe“ weg, und ist damit „entweder grausam oder nachsichtig“. Sie ist „grausam“, wenn und weil sie sich über „den Ehrbegriff (der hier kein Wahn ist)“ hinwegsetzt. Oder sie ist unangemessen „nachsichtig“, wenn und weil sie es unterlässt, die eigentlich verdiente Todesstrafe anzudrohen und zu verhängen. In dieser Lage fragt Kant nicht zuerst, was zu tun sei, sondern er fragt, wie es zu dieser Lage kommt. Auf die Frage aber, wie es zu dieser Lage kommt, hat er eine klare Antwort. „Die Gesetzgebung selber ... (mithin auch die bürgerliche Verfassung)“ sei an der Lage „schuld“. Denn sie (die Gesetzgebung) sei noch nach wie vor „barbarisch und unausgebildet“. Mit „Gesetzgebung“ meint Kant hier nicht die oben (I.) angesprochene iustitia tutatrix, sondern, wie der Klammerzusatz „(mithin auch die bürgerliche Verfassung)“ zeigt, die in der preußischen, überhaupt in der deutschen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts gegebenen Gesetze, die die Verfassung dieser Gesellschaft bestimmen – „Verfassung“ nicht im Sinne von „Verfassungspapier“, sondern als die Form, in der sich eine Gesellschaft befindet, wie wir auch von einem einzelnen Menschen sagen, er befinde sich in einer bestimmten (guten oder schlechten) Verfassung. Diese Verfassung ist, was unser Problem angeht, (im 18. Jahrhundert) noch „barbarisch und unausgebildet“. Der Grund dafür kann nur darin liegen, dass die öffentliche Meinung im Volk, die die Verfassung der Gesellschaft mitbestimmt, Vorstellungen von Ehre hat, im Hinblick auf die in unseren Fällen die Todesstrafe nicht angedroht und nicht verhängt werden kann. Oder, mit Kants eigenen Worten: „Die Triebfedern der Ehre im Volk“, die „subjektiv“, d.h. zufällig und also veränderlich sind, „wollen“ mit den „Maßregeln“, die „objektiv“ gefordert sind (das sind das Gebot, für unsere Fälle die Todesstrafe anzudrohen, und das Gebot, falls der Tatbestand erfüllt ist, die Todesstrafe auch zu verhängen), nicht „zusammentreffen“. Daraus ergibt sich, dass „die öffentliche, vom Staat ausgehende Gerechtigkeit in Ansehung der aus dem Volk [hervorgehenden Gerechtigkeit] eine Ungerechtigkeit wird.“25 Es ist diese Diskrepanz, die bewirkt, dass die „Gesetzgebung“ und „mithin auch die bürgerliche Verfassung“ noch „barbarisch und unausgebildet“ sind. Kants Lösung des Problems (die „Auflösung des Knotens“) steckt in dieser Beschreibung. Denn Kant geht von dem aus, was er an der hier besprochenen Stelle den „kategorischen Imperativ der Strafgerechtigkeit“ nennt, der besagt, „die gesetzwidrige Tötung eines anderen müsse mit dem Tode bestraft wer___________ 25

Hervorhebungen von mir (im Original ist „Ungerechtigkeit“ hervorgehoben).

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den.“ Dieser Imperativ bleibt erhalten. Kant ausdrücklich: „Der kategorische Imperativ der Strafgerechtigkeit bleibt.“26 Auf dieser Seite kann nichts geändert werden. Auf der anderen Seite aber gilt, dass auch die Privilegierungen erhalten bleiben müssen, „solange“27 die bürgerliche Verfassung noch barbarisch und unausgebildet ist. Soll also die Diskrepanz zwischen der Gerechtigkeit, die vom Staat, und der Gerechtigkeit, die vom Volk ausgeht, vermieden werden, dann muss sich die öffentliche Meinung ändern. Die „Schmach einer unehelichen Geburt“ und der „Fleck“, der die Ehre des Offiziers belastet, (Produkte der öffentlichen Meinung) müssen verschwinden. Verschwinden sie, dann können auch die Vorschriften aufgehoben werden, die die Kindstötung oder die Tötung des Mitoffiziers privilegieren. Mit anderen Worten: Kant setzt auf eine Änderung der öffentlichen Meinung. Wie wir heute wissen, hat sich die öffentliche Meinung inzwischen geändert. Die ersatzlose Streichung des § 206 StGB (a.F.) und die des § 217 StGB (a.F.) wären danach in Kants Augen, hätte er die Änderung der öffentlichen Meinung miterlebt, nicht nur gerechtfertigt gewesen, sondern die Streichung der Vorschriften unter der Bedingung einer Änderung der öffentlichen Meinung ist genau das, was Kant gefordert hat.

IV. Die Einführung und die Abschaffung der Schwurgerichte in Deutschland Der zweite Vorschlag Kants, den wir hier behandeln wollen, betrifft das Prozessrecht. Das schließt das Strafprozessrecht ein, auf das wir uns hier beschränken, obwohl die maßgeblichen Gesichtspunkte auch für den Zivilprozess gelten.28 In der Rechtslehre tritt Kant für das Jury-System ein, von dem er offensichtlich einige Kenntnisse hat. Im 18. Jahrhundert hat es eine ganze Reihe von Beschreibungen des englischen Gerichts-Systems gegeben, die auf dem europäischen Kontinent, insbesondere auch in Deutschland gelesen wurden. Hervorzuheben sind Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de Montesquieu De l’Esprit des Lois von 1748 und, weniger bekannt, Gottfried Achenwall Staatsverfassung der heutigen vornehmsten Europäischen Reiche und Völker im Grundriße von 1749.29 Beide Werke berichten unter anderem über das englische Jury-System. Es ist klar, dass Kant Montesquieus Vom Geist der Gesetze kannte. Es ist aber auch zu vermuten, dass er das Buch von Achenwall kannte, weil er über Achenwalls juristisches Hauptwerk, Ius Naturae, 5. Auf___________ 26

Hervorhebung von mir. Vgl. AA VI Allgemeine Anmerkung E, S. 337 Z. 2–3. 28 Die folgende Darstellung nach Byrd/Hruschka Kant’s Doctrine of Right – A Commentary (erscheint demnächst bei Cambridge University Press), Chapter 7 Section 6. 29 Wovon mir die 5. („verbesserte“) Auflage von 1768 vorgelegen hat. 27

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lage, 1763, über Jahrzehnte hinweg Vorlesungen gehalten hat30 und infolgedessen mit dem Werk dieses Autors vertraut war. Wir gehen hier davon aus, dass Kant diese beiden Quellen verwendet hat und dass er, wenn ihm Achenwalls Buch nicht zur Verfügung gestanden haben sollte, die dort vermittelten Kenntnisse aus einer oder mehreren anderen Quellen geschöpft hat. Kants Bemerkungen zum Jury-System (er benutzt, wie Achenwall,31 das englische Wort „Jury“!) finden sich im Kontext seiner Ausführungen zur Dreiteilung der staatlichen Gewalt,32 die ihrerseits in dem Abschnitt über den „Staat in der Idee“33 enthalten sind. Kant vertritt die Auffassung, dass alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht,34 und er tritt für die Gewaltenteilung ein. Danach können weder die Legislative noch die Exekutive Richter sein. Was den Gesetzgeber angeht, so ist der maßgebliche Gesichtspunkt der, dass zwischen Gesetzgebung und Gesetzesanwendung unterschieden werden muss. Sind der Gesetzgeber und ein Gesetzesanwender personenidentisch, dann ist der Gesetzes„anwender“ an das anzuwendende Gesetz nicht gebunden, weil er (als Gesetzgeber) das Gesetz jederzeit ändern kann. Damit führt solche Personenidentität notwendig zur Despotie.35 Folglich kann der Gesetzgeber nicht zugleich Richter sein. Aber auch die Exekutive kann nicht Richter sein, und zwar deswegen nicht, weil die Exekutive als „Obrigkeit“ dem Angeklagten Unrecht tun kann. Diese Möglichkeit muss ausgeschlossen werden. Was das heißen soll, wird sogleich klar werden. Kant diskutiert das Problem unter dem Stichwort, dass die Legislative oder die Exekutive „Richter als Magistrate“ einsetzt. Die von der Legislative oder der Exekutive eingesetzten Richter aber sind, schon wegen dieser ihrer Herkunft, „Staatsverwalter“, also Beamte, die über „den Untertan, d.i. einen, der zum Volke gehört, mithin mit keiner Gewalt bekleidet ist,“ die richterliche Gewalt ausüben. Sie sind ein Teil der „Obrigkeit“, oder sie vertreten jedenfalls die „Obrigkeit“. Die Gefahr, die Kant sieht, besteht darin, dass die Richter qua Obrigkeit, wenn sie über einen Streitfall beschließen, dem Untertan ___________ 30 Eine erhalten gebliebene Nachschrift der Vorlesung im Sommersemester 1784 ist in AA XXVII.2.2 S. 1317–1394 abgedruckt. 31 A.a.O. (Staatsverfassung), S. 310. 32 AA VI § 49, S. 317 Z. 19–S. 318 Z. 3. Die folgenden Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, dieser Passage entnommen. 33 AA VI § 45, S. 313 Z. 14. 34 Vgl. etwa AA VI § 51, S. 338 Z. 22–26: „Die drei Gewalten im Staat ... sind nur so viel Verhältnisse des vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillens und eine reine Idee von einem Staatsoberhaupt, welche objektive praktische Realität hat.“ 35 Kant bringt das Argument in der Schrift Zum ewigen Frieden, AA VIII, S. 351 Z. 21–S. 353 Z. 18, für das Verhältnis von Legislative und Exekutive. Vgl. auch AA VI § 49, S. 316 Z. 34–S. 317 Z. 8.

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„unrecht tun können“. Es wäre besser, wenn man das ausschließen könnte. Mit dem Jury-System wird ausgeschlossen, dass die Entscheidung dem Angeklagten Unrecht tun kann. Um zu verstehen, wie Kant das meint, dass eine Jury dem Angeklagten nicht unrecht tun kann, ist es zweckmäßig, sich zunächst einmal dem Gesetzgeber zuzuwenden, an den Kant denkt, wenn er den „Staat in der Idee“ entwickelt. Es gibt einen Gesetzgeber, der kein Unrecht tun kann, und das ist der „vereinigte Wille des Volkes“. Kant meint, was er sagt. Er denkt an den Ideal-Fall, dass „der übereinstimmende und vereinigte Wille aller, sofern ein jeder über alle und alle über einen jeden ebendasselbe beschließen,“ Gesetzgeber ist. Vielleicht denkt er an den Fall, dass die Landsgemeinde in einem Schweizer Kanton, zu der sich alle Stimmbürger eingefunden haben, ein Gesetz einstimmig verabschiedet. In einem solchen Fall kann kein Unrecht geschehen. „Wenn jemand etwas gegen einen anderen verfügt, [ist es] immer möglich, daß er ihm dadurch Unrecht tue, nie aber in dem, was er über sich selbst beschließt (denn volenti non fit iniuria).“36 Dem Einwilligenden geschieht eben kein Unrecht. Also, so Kant, kann im Staat in der Idee nur „der allgemein vereinigte Volkswille“ Gesetzgeber sein.37 Nehmen wir diesen Gesetzgeber als Modell, und die Jury, die ihr „schuldig oder nichtschuldig“ über ihre Mitbürger ausspricht, als eine Analogie dazu. Zwei Punkte sind von Wichtigkeit. Zum ersten ist im Jury-System der Angeklagte an der Auswahl der Geschworenen beteiligt. Das führt Kant nicht ausdrücklich an, aber es wird bei Montesquieu berichtet, und Kant setzt es voraus. Denn bei einem System, in dem nur beamtete Richter tätig werden, ist es so, dass der Angeklagte als einer aus dem Volk, der „mit keiner Gewalt bekleidet ist,“ sich zur (richterlichen) Obrigkeit „bloß passiv“ verhält, und genau das wird von Kant kritisiert. Ist aber der Angeklagte an der Auswahl der Geschworenen beteiligt, dann verhält er sich nicht mehr „bloß passiv“, sondern er wirkt aktiv bei der Entscheidung darüber mit, wer über ihn zu Gericht sitzt und wer nicht. Vor allem kann er vorgeschlagene Personen ohne Begründung als Geschworene ablehnen, weshalb, wie Montesquieu schreibt, „die restlichen als Männer seiner Wahl angesehen werden können.“38 Daher kann man sagen, dass der Angeklagte in der Jury repräsentiert ist. Der zweite Punkt wird von Kant ebenfalls nicht erwähnt, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Achenwall berichtet, dass der Ausspruch der zwölf Geschworenen „einmüthig“ erfolgt sein muss, ehe der Richter ein Urteil fällen ___________ 36

Hervorhebung im Original. Die Zitate in diesem Absatz aus AA VI § 46, S. 313 Z. 19–S. 314 Z. 3. 38 11. Buch, Kapitel 6. 37

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kann.39 Bekanntlich fällen die Geschworenen ihre Entscheidung über die Wahrheit der von den Parteien aufgestellten Tatsachenbehauptungen; Achenwall spricht ausdrücklich von „verdict“. Ist für den Wahrspruch aber Einstimmigkeit erforderlich, dann bedeutet das, dass auch diejenigen unter den Geschworenen, die den Angeklagten repräsentieren, für den Spruch gestimmt haben. Unter dieser Voraussetzung können wir den Satz „volenti non fit iniuria“ gewissermaßen analog anwenden. Dem Angeklagten geschieht durch den Wahrspruch kein Unrecht, weil seine eigenen Repräsentanten für den Wahrspruch gestimmt haben. Das ist der tiefste Grund für Kants Vorschlag, das Jury-System einzuführen. Bei ihrem „schuldig oder nicht schuldig“ kann die Jury dem Angeklagten nicht unrecht tun. Bekanntlich ist das Jury-System für den Strafprozess durch das GVG vom 27.1.1877 und die StPO vom 1.2.1877 jedenfalls für die schwersten Delikte eingeführt worden.40 Seit dem Inkrafttreten dieser Gesetze gab es in ganz Deutschland Schwurgerichte, bei denen die Aufgaben zwischen der Geschworenenbank und der Richterbank in einer Weise geteilt waren, wie Kant das vorgeschwebt hat. Bei der Auswahl der Geschworenen hatte der Angeklagte Ablehnungsrechte.41 Freilich war für die Entscheidungen der Geschworenenbank eine Einstimmigkeit nicht erforderlich.42 Ebenso bekanntlich ist dieses System durch die „Emminger’sche Reform“ vom 4.1.1924 wieder abgeschafft worden.43 Nun hat zwar hat der Jurist die Aufgabe „die gegenwärtigen Gebote des Landrechts zu vollziehen“, darüber hinaus aber ist er durchaus nicht verpflichtet, „jede jetzt vorhandene gesetzliche Verfassung und, wenn diese höhern Orts abgeändert wird, die nun folgende“ immer als die beste anzusehen.44 Stattdessen muss es ihm auch erlaubt sein, über die „Gesetzgebung selbst zu vernünfteln“. Ist das aber so, dann wird man Kants Vorschlag nicht bloß wegen der Emminger’schen Reform als „überholt“ abtun können. Wie bereits gesagt, macht Kant den Vorschlag, das Jury-System einzuführen, im Kontext seiner Lehre von der Gewaltenteilung. Die Einführung der Schwurgerichte (und damit des Jury-Systems) war, auch wenn sie gemessen an ___________ 39

A.a.O. (Staatsverfassung), S. 310. GVG vom 27.01.1877 (RGBl. S. 41), StPO vom 01.02.1877 (RGBl. S. 253). Zuständigkeit der Schwurgerichte: § 80 GVG (a.F.). 41 §§ 281–285 StPO (a.F.). 42 Das Gesetz ging von zwölf Geschworenen aus (§ 282 StPO a.F.). Bei jeder dem Angeklagten nachteiligen Entscheidung war anzugeben, dass die Entscheidung mit mehr als sieben Stimmen, bei der Verneinung mildernder Umstände war anzugeben, dass die Entscheidung mit mehr als sechs Stimmen gefasst worden ist (§ 307 Abs. 2 StPO a.F.). 43 Verordnung der Reichsregierung über Gerichtsverfassung und Strafrechtspflege vom 04.01.1924 (RGBl. I S. 15). § 12: Abschaffung der Schwurgerichte des alten Stils. 44 Vgl. Kants wenig freundliche Bemerkung über die „echten Juristen vom Handwerke“ in der Schrift Zum ewigen Frieden von 1795, AA VIII, S. 373 Z. 21–26. 40

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dem Modell, das Kant vorgeschwebt hat, unzulänglich war,45 durchaus ein Schritt in die richtige Richtung. Die Abschaffung der Schwurgerichte alten Stils (durch die Emminger’sche Gegenreform) hat die Reform wieder rückgängig gemacht. War die Reform von 1877 ein Versuch, dem Gedanken der Gewaltenteilung Rechnung zu tragen, dann ist die Abschaffung der Schwurgerichte alles andere als ein Fortschritt, sondern schlicht ein Rückschritt. Betrachtet man die Gewaltenteilung als ein Kriterium des Rechtsstaats, dann ist die Abschaffung der Schwurgerichte gleichbedeutend mit einem Schritt zurück in den Naturzustand. Dem entspricht es, dass durch die Emminger’sche Gegenreform auch das Legalitätsprinzip eingeschränkt worden ist,46 eine Einschränkung, die heute „Opportunitätsprinzip“ heißt.47 Auch das ist ein Schritt zurück in den Naturzustand. „Das Strafgesetz ist ein kategorischer Imperativ!“, und vom Standpunkt des Rechtsstaats aus gesehen ist es gleichgültig, wie „zweckrational“ der Schritt zurück und wie „pragmatisch richtig“ die Gründe dafür gewesen sein mögen.

V. Ein Vorschlag zum Thema „Entkriminalisierung“ des Lebens War der erste Reformvorschlag Kants erfolgreich, wenn es auch zweihundert Jahre zu seiner Durchführung gebraucht hat, und war dem zweiten Vorschlag auf die Dauer kein Erfolg beschieden – mit allen Nachteilen für den Rechtsstaat, die diese Erfolglosigkeit mit sich gebracht hat –, so haben wir mit einer Durchführung des dritten hier zu behandelnden Vorschlags heute noch nicht einmal angefangen. Kant schlägt nämlich vor, bestimmte Delikte, die wir durchaus als zum Kernbereich des Strafrechts gehörig betrachten, aus diesem Kernbereich herauszunehmen und nicht mehr in einem Strafprozess, sondern allein in einem Zivilprozess zu ahnden. Den begrifflichen Hintergrund für den Reformvorschlag bildet die Unterscheidung zwischen „öffentlichen Delikten“ und „Privatdelikten“, die wir aus der Kant vorangehenden Naturrechtslehre kennen. Bei Achenwall ist ein öffentliches Delikt („delictum publicum“) ein Delikt, das sich gegen das Gemeinwesen (die „res publica“) und gegen den Herrscher („imperans“) richtet. Ein Privatdelikt („delictum privatum“) dagegen ist ein Delikt, das einen Privatmann ___________ 45

Halbherzig war vor allem der Verzicht auf das Einstimmigkeitserfordernis für die Entscheidungen der Geschworenenbank, was die Anwendung des „volenti non fit iniuria“ unmöglich gemacht hat. 46 Vgl. §§ 23, 24 des Gesetzes von 1924 (ob. Fn. 43). 47 Vgl. etwa Meyer-Goßner StPO, 51. Aufl. 2008, § 152 Rn. 7.

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schädigt und ihm dadurch Unrecht tut.48 Ein delictum publicum ist ein Verbrechen im engeren Sinne („crimen strictius“), ein delictum privatum ist dagegen lediglich ein Verbrechen im weiteren Sinne („crimen latius“).49 Wir kennen die Unterscheidung von Verbrechen im engeren und Verbrechen im weiteren Sinne heute noch. Kant knüpft an Achenwalls Begrifflichkeit an. Die einschlägige Stelle in der Rechtslehre sei hier vollständig wiedergegeben: „Diejenige Übertretung des öffentlichen Gesetzes, die den, welcher sie begeht, unfähig macht, Staatsbürger zu sein, heißt Verbrechen schlechthin (crimen), aber auch öffentliches Verbrechen (crimen publicum); daher das erstere (das Privatverbrechen) vor die Zivil-, das andere vor die Kriminalgerechtigkeit gezogen wird. – Veruntreuung, d.i. Unterschlagung der zum Verkehr anvertrauten Gelder oder Waren, Betrug im Kauf und Verkauf bei sehenden Augen des anderen sind Privatverbrechen. Dagegen sind: falsch Geld oder falsche Wechsel zu machen, Diebstahl und Raub u. dergl. öffentliche Verbrechen, weil das gemeine Wesen und nicht bloß eine einzelne Person dadurch gefährdet wird. – Sie könnten in die der niederträchtigen Gemütsart (indolis abiectae) und die der gewalttätigen (indolis violentae) eingeteilt werden.“50 Der Inhalt der Stelle ist klar. Der Reformvorschlag steckt in der Bemerkung, dass nur die öffentlichen Verbrechen vor die Strafjustiz gehören. Für die Privatverbrechen dagegen ist die Ziviljustiz zuständig. Es versteht sich: Im Rechtsstaat ist das so! Deshalb sagt Kant nicht, man solle die Zuständigkeiten künftig so regeln, wie er es vorschlägt, sondern er sagt, wie es ist, wenn wir von einem rechtlichen Zustand sprechen. Kant sagt auch ganz deutlich, welche Delikte nicht (mehr) von der Kriminaljustiz abgeurteilt werden sollen. Diese Delikte sind Veruntreuung und Betrug, wobei wir, jedenfalls für eine erste Durchsicht, durchaus die heute maßgeblichen Tatbestandsmerkmale voraussetzen können.51 Geldfälschung, die Fälschung von Wechseln (was wir heute als Urkundenfälschung einordnen), Diebstahl und Raub52 dagegen sind öffentliche Verbrechen, die von der Straf___________ 48 Vgl. Ius Naturae pars posterior, 5. Aufl. 1763, § 192. Das Buch ist zusammen mit Kants handschriftlichen Anmerkungen dazu in Bd. XIX der Akademie-Ausgabe abgedruckt. Die hier herangezogene Stelle auf S. 411 Z. 36–S. 412 Z. 2. 49 Ius Naturae a.a.O., §§ 191, 192 (AA XIX, S. 411 Z. 29 [„delictum“ = „crimen latius“], S. 412 Z. 1 [„publicum delictum“ = „crimen strictius“]). 50 AA VI Allg. Anmerkung E, S. 331 Z. 7–19 (Hervorhebungen im Original). – Die Bezugnahme – „das erstere (das Privatverbrechen)“ – mag auf den ersten Blick irritieren. Die Stelle ist, wie folgt, zu verstehen: Die sogleich anzuführende erste Gruppe von Verbrechen ist vor die Zivilgerechtigkeit zu ziehen. Die andere (die zweite) Gruppe gehört vor die Strafgerechtigkeit. 51 § 246 Abs. 2 und § 263 StGB. 52 §§ 146 Abs. 1, 267 Abs. 1, 242, 249 StGB.

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justiz zu beurteilen sind. Sieht man genauer hin, dann differenziert Kant innerhalb einer Gruppe von Delikten, die sämtlich die iustitia commutativa, den öffentlichen freien Markt betreffen. „Commutatio“ (worauf der Ausdruck „iustitia commutativa“ hinweist) ist der „Verkehr zwischen dem Besitzer [einer] Sache und [einem] Erwerbenden“53 oder auch die „Umsetzung des Mein und Dein“.54 Mit anderen Worten: Es sind Handelsverkehr und Umsatz, die den Markt ausmachen. Der Geldfälscher, der Wechselfälscher, der Dieb, der Räuber greifen in diesen Markt von außen ein. Derjenige dagegen, der die andere Vertragspartei betrügt oder ihm anvertraute Gelder oder Waren unterschlägt, nimmt am Marktgeschehen teil, dessen Möglichkeiten er allerdings missbraucht. Wir kennen die Unterscheidung heute von einer anderen Art von Verkehr, vom Straßenverkehr, wo wir zwischen verkehrsfremden schädigenden Eingriffen in den Straßenverkehr (§ 315b StGB) einerseits und den Straftaten der Verkehrsteilnehmer (§ 315c StGB) andererseits unterscheiden. Nur die schädigenden Eingriffe in den Markt von außen sind crimina im engeren Sinne und sollen von der Strafjustiz abgeurteilt werden. Wer (wie der Betrüger oder der Täter einer Veruntreuung) am Markt teilnimmt, dabei aber die Grenzen des Zulässigen überschreitet, soll zwar durchaus zur Verantwortung gezogen werden, vor allem muss er auch den Schaden ersetzen. Aber dies soll mit der Hilfe der Ziviljustiz geschehen. Zur Begründung für die Unterscheidung und ihre Konsequenzen führt Kant an, dass durch die öffentlichen Verbrechen „das gemeine Wesen“ gefährdet wird. Das „gemeine Wesen“ ist die res publica, der (Rechts-)Staat mit seinen Institutionen (in den Beispielen ist es der freie öffentliche Markt). Oder, wie es in einer von Kant nicht publizierten Notiz heißt: „Criminel[l] ist dasjenige, wodurch [die] öffentliche Sicherheit lädirt wird.“ Noch einmal anders gewendet: „Das crimen laedirt die bürgerliche Gesellschaft.“55 „Crimen“ und „criminell“ bezeichnen hier das „Verbrechen im engeren Sinne“, oder, mit Kant, das „Verbrechen schlechthin“. Die Funktion des (Rechts-)Staats ist die Sicherung unserer Rechte. Ein öffentliches Verbrechen beeinträchtigt diese Funktion, und genau das macht die Tat strafwürdig. Darüber hinaus macht eine Tat dieser Art den Täter „unfähig, Staatsbürger zu sein“, weil er durch sie den Staat angegriffen hat. Kants Versuch, zwischen den Delikten der „gewalttätigen“ und der „niederträchtigen Gemütsart“ zu unterscheiden, weist in dieselbe Richtung. Nicht nur der Raub, sondern auch der Diebstahl, die Geld- und die Wechsel___________ 53

AA VI § 39, S. 301 Z. 13–14. AA VI § 31, S. 289 Z. 18–19. 55 AA XIX R. 7856, S. 536 Z. 7 und Z. 13. In einer anderen Notiz stellt Kant auf „das Recht und die Sicherheit des Volks“ ab. Bei einem delictum publicum ist der Betroffene das Volk als ganzes. Ein delictum privatum dagegen ist, „eine Sache zwischen ihm [dem Opfer] und andern Privatleuten.“ R. 8033, S. 587 Z. 15–18 (Hervorhebung von mir). 54

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fälschung sind Delikte der „gewalttätigen Gemütsart“. Heutige Juristen, die mit der Auflösung des Gewaltbegriffs im Strafrecht leben, sollten über solche Zuweisungen nicht mäkeln.56 Mord und Totschlag werden von Kant in unserem Zusammenhang nicht erwähnt, gehören aber genauso hierher57 wie die „Nothzüchtigung“ (Vergewaltigung),58 die Kant in der bezeichneten Notiz nennt. Betrug und Veruntreuung dagegen sind, als Delikte der „niederträchtigen Gemütsart“, bloße Privatverbrechen. Betroffen ist allein das Opfer als einzelne Person. Das Opfer hat sich „sehenden Auges“ mit dem Täter eingelassen und ist dann von dem Täter betrogen worden. Das Opfer hat dem Täter Geld oder Waren anvertraut, die der Täter dann unterschlagen hat. Oder, wie es in der Nachschrift einer von Kant 1784 gehaltenen Vorlesung heißt: „Der Betrug ist delictum privatum, weil ich nicht nöthig habe, mich mit einem einzulassen.“59 Ich brauche dem anderen nicht zu trauen, ich habe es aber getan. Vor einigen Jahrzehnten ist die Möglichkeit erörtert worden, dem Betrugsopfer, das dem Täter leichtfertig vertraut hat, den strafrechtlichen Schutz zu entziehen.60 Kant ist viel radikaler. Er verneint die Notwendigkeit einer Bestrafung schon dann, wenn das Opfer (leichtfertig oder nicht) überhaupt vertraut hat. Obwohl dieser Gesichtspunkt (dass das Opfer vertraut hat) von Kant immer wieder hervorgehoben wird, liefert er doch nur eine Nebenbegründung. Entscheidend ist stattdessen, dass durch ein Privatverbrechen die Gesellschaft als solche nicht in Frage gestellt und also die allgemeine Sicherheit nicht beeinträchtigt wird. In diesem Kontext ist die folgende Bemerkung in der Vorlesung von 1784 zu sehen: „Stehlen ist also delictum publicum, entwenden aber, wo man den Genuß mehr als das Eigenthum sucht, veruntreuen, sind nicht Diebstähle und also keine delicta publica, weil hier die allgemeine Sicherheit nicht in Gefahr kommt.“61 Die Bemerkung nimmt, außer der Veruntreuung, über die wir bereits geredet haben, auch den sog. Mundraub aus dem Bereich des Diebstahls heraus und behandelt ihn als Privatverbrechen, und zwar genau mit der Begründung, dass ein Mundraub keinen Angriff auf das Gemeinwesen darstellt. Fassen wir zusammen: Strafwürdig ist, wer durch seine Tat den (Rechts-) Staat und seine Institutionen (die rechtsstaatliche Gesetzgebung, den freien ___________ 56 Wie die Verwendung des Konjunktivs („könnten“) zeigt, fasst Kant die Unterscheidung zwischen der „gewalttätigen“ und der „niedertächtigen Gemütsart“ selbst als den Versuch einer begrifflichen Unterscheidung auf. 57 Kants Äußerungen zur Todesstrafe und seine Behandlung des Brett-Falles (o. Fn. 15) setzen Mord und Totschlag als strafwürdige und daher als öffentliche Verbrechen voraus. 58 § 177 Abs. 2 StGB. 59 AA XXVII.2.2, S. 1390 Z. 23–24. 60 Amelung, GA 1977, 1 ff. 61 AA XXVII.2.2, S. 1390 Z. 24–27.

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Markt und die rechtsstaatliche Justiz) als solche in Frage stellt. Alle anderen Vergehen dagegen sind nicht strafwürdig. Das heißt natürlich nicht, dass das Opfer schutzlos bleibt. Die Funktion des Rechtsstaats ist es ja gerade, unsere Rechte zu sichern. Die Sicherung der Rechte des Opfers eines nicht strafwürdigen Delikts übernimmt die Ziviljustiz. Würden wir das heutige StGB unter diesem Gesichtspunkt durchsehen und alle Taten herausstreichen, die Kants Kriterium nicht erfüllen, dann würde das StGB nicht unerheblich dünner werden. Die Entwicklung geht freilich, wie die Streichung des § 370 Nr. 5 StGB (a.F.) zeigt,62 was den Mundraub von einer Übertretung zu einem Vergehen hochgestuft hat, eher in die entgegengesetzte Richtung.

___________ 62

§ 370 Nr. 5 StGB (a.F.) wurde durch Art. 19 Nr. 206 EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I S. 469) gestrichen.

„Gesetzesumgehung“ und andere Fälle teleologischer Lückenschließung im Strafrecht Zugleich ein Beitrag zur Ermittlung der sog. „Wortlautgrenze“ Von Hans Kudlich

I. Hinführung und Fragestellung In seiner 1966 erschienenen Dissertation hat der Jubilar mit der „Gesetzesumgehung“ ein Thema aufgegriffen und bearbeitet, das sich bis heute großer Aktualität – insbesondere im Wirtschaftsstrafrecht1 – erfreut. Heinz Stöckel hat schon damals klar herausgearbeitet: Wie so häufig auch sonst haben rechtsmethodische Fragen – hier zum Umgang mit dem Phänomen der „Gesetzesumgehung“ – eine verfassungsrechtliche Dimension, die im Strafrecht insbesondere das Analogieverbot des Art. 103 II GG betrifft.2 Dieser enge Bezug zwischen Methodik und Verfassungsrecht gilt aber nicht nur bei der Gesetzesumgehung im Sinne eines gleichsam „künstlich straflos“ Bleibens eines Täters, der „verstanden hat, den Tatbestand der betreffenden Norm zu vermeiden“,3 also eines bloßen Handelns „in fraudem legis“ im Sinne der bekannten Digestenstelle D.1.3.29,4 sondern immer dann, wenn ein Verhalten erfasst werden soll, das einem gesetzlichen Tatbestand an sich nicht unterfällt, gleichwohl aber – im Einzelfall auch vorschnell – als „unzweifelhaft strafwürdig“ erachtet wird.5 Wie zeitlos dabei Stöckels Überlegungen sind, soll im Folgenden an drei Beispielen gezeigt werden (vgl. unten III.), nachdem die Überlegungen in seiner Arbeit noch einmal in Erinnerung gerufen worden sind (sogleich II.). ___________ 1

Vgl. nur die entsprechenden Abschnitte im erst vor wenigen Jahren neu auf den Markt gekommenen Lehrbuch zum Wirtschaftsstrafrecht von Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, 2. Aufl. 2007, Rn. 137 ff., insb. 143 ff. 2 Vgl. Stöckel, Gesetzesumgehung, 1966, S. 99 ff. 3 Vgl. Stöckel (Fn. 2), S. 13. 4 „Contra legem facit, qui id facit, quod lex prohibet, in fraudem vero, qui salvis verbis legis sententiam eius circumvenit.“ 5 Vgl. etwa – im Zusammenhang mit dem im Folgenden noch näher aufgegriffenen Fallbeispiel des vorsatzlosen Entfernens vom Unfallort – Laschewski, NZV 2007, 444 (448).

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II. Methodik und Verfassungsrecht – Stöckels Überlegungen zur Auslegung 1. Die Überlegungen des Jubilars, auf die hier im Folgenden aufzubauen ist, sind nicht nur zentral für seine Monographie, sondern stehen auch räumlich gewissermaßen in ihrem Mittelpunkt:6 Nachdem sich Stöckel im ersten Hauptteil seiner Dissertation mit begrifflichen und rechtstheoretischen Grundlagen der Umgehung befasst und im zweiten Hauptteil die Entwicklung und den damaligen Stand der Umgehungsdogmatik skizziert, widmet er sich im dritten Hauptteil der „Dogmatik des Rechtsinstituts Gesetzesumgehung“ (bevor er sich im vierten Hauptteil mit dem Umgehungsgesetz beschäftigt). 2. Zentral innerhalb der Dogmatik der Gesetzesumgehung sind hierbei die Auslegungsgrenzen der umgangenen Normen.7 Ausgangspunkt ist dabei, dass es für die Auslegung von „Rechtsbestimmungen“ verschiedene „Anhaltspunkte“ gibt,8 man könnte in der Terminologie der neueren Methodenlehre auch sagen: Es gibt verschiedene Kontexte, in welche die „auszulegende“ Zeichenkette gestellt werden kann, um Argumente für die Entscheidung über den Bedeutungskonflikt zu finden.9 Zwei zentrale Anhaltspunkte bzw. Kontexte sind dabei nach Stöckel „Wortlaut“ und „Sinn“ der Vorschrift. Dabei sei das (Rang-)Verhältnis beider freilich problematisch,10 zumal sowohl der Sinn als auch – und diese Feststellung ist für eine strafrechtliche Dissertation aus den 60er Jahren durchaus beachtlich modern – die Sprache permanenten Änderungen unterworfen sind. Stöckel selbst spricht davon, auch der „Wortlaut der Vorschrift“ sei „nur äußerlich konstant“, während die „Bedeutung der verwendeten Begriffe (…) variabel“ sei und „sich im Rahmen der Entwicklung (…) oft ganz erheblich“ ändere.11 ___________ 6

Vgl. insb. S. 83–86 von 153 S. bzw. einschließlich der Verzeichnisse von 173 S. Vgl. S. 83 ff. 8 Dabei ist freilich nach dem Verständnis der modernen Methodenlehre die Beschränkung auf drei Anhaltspunkte zu eng gegriffen. Vielfach wird sogar von einer grundsätzlichen Unbegrenztheit der denkbaren Kontexte ausgegangen, und auch Stöckel selbst benennt im Folgenden weitere Aspekte, die er teilweise jedoch offenbar als Unterpunkte der von ihm genannten „Anhaltspunkte“ sieht. 9 Vgl. zur Idee der „Kontextualisierung“ Christensen/Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001, S. 361 ff.; zur Entscheidung von Bedeutungskonflikten als eigentlicher Vorgang bei der „Auslegung“ vgl. a.a.O., S. 128 ff., 174 ff. 10 In der neueren Methodenlehre ist weitgehend anerkannt, dass eine feste Rangfolge der Kanones nicht formuliert werden kann. Richtigerweise ist wohl zwischen der normstrukturellen Wertigkeit im Sinne der „Normtextnähe“ und der Intensität der Argumente im Sinne ihrer Plausibilität zu unterscheiden (vgl. näher Christensen/Kudlich [Fn. 9], S. 375 ff.; Kudlich, JR 2008, 257 [258 f.]), was gleichwohl nicht zu einer „festen Reihung“ führt, da häufig gerade dieselben Methoden in einer Kategorie besonders hoch, in der anderen dafür entsprechend tiefer einzustufen sind, vgl. nochmals Christensen/ Kudlich, a.a.O., S. 378. 11 Vgl. Stöckel (Fn. 2), S. 84. 7

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Damit ergäben sich aber zwei Grenzen der Auslegung: Der Sinn des Gesetzes und der Wortsinn, wobei aber nicht „alle philologischen Wortbedeutungen noch zulässige Auslegung beinhalten“ würden.12 Grenze zulässiger Auslegung sei damit „positiv der Sinn des betreffenden Gesetzes und negativ der mögliche Wortsinn“ – jenseits dessen stelle sich dann „die Frage nach der Zulässigkeit“ einer gleichsam auslegungsüberschreitenden „Rechtsfindung im Verhältnis zum strafrechtlichen Grundprinzip ‚nullum crimen sine lege‘ und zu allgemeinen Rechtsgrundsätzen über Ausfüllung von Lücken des positiven Rechts“.13 Diese Frage zu stellen, heiße dann freilich im Strafrecht, sie aufgrund des verfassungsrechtlich verankerten Analogieverbotes auch zu verneinen,14 denn: „Das Recht, sich auf das Analogieverbot zu berufen, kann allein deshalb kein noch so straffälliger Täter verwirken“.15 3. Diese letzten Überlegungen erinnern durchaus an ein neueres Statement des BVerfG, in dem es (wenngleich innerhalb eines Minderheitenvotums) heißt: „Auch innerhalb des möglichen Wortsinns darf die Auslegung nicht weitergehen, als es Zweck und Sinnzusammenhang der Norm zulassen“.16 Ob man dies tatsächlich ohne weiteres mit Kuhlen als „die Rechtsprechung“ des BVerfG bezeichnen kann,17 mag man zwar bezweifeln.18 Allerdings gibt es durchaus gewichtige Anklänge eines solchen Verständnisses in der (insbesondere neueren) Rechtsprechung des BVerfG, und es ist auch rechtsmethodisch durchaus überzeugend, eine „Wortlautgrenze“ als Grenze jeder möglichen Auslegung nicht als in der im Gesetzestext verwendeten Zeichenkette gleichsam sprachlich-inhärent innewohnend zu verstehen, sondern in einer solchen Grenze gerade das Ergebnis eines umfassenderen Auslegungsvorganges zu sehen, wie der anschließende dritte Teil zeigt.

III. Auslegung – Wortlautgrenze – Teleologie Im Folgenden soll anhand von zwei neueren und jeweils mehr oder weniger Aufsehen erregenden Entscheidungen nachgezeichnet werden, dass auch das BVerfG – sei es bewusst, sei es (zumindest teilweise auch) „nur“ intuitiv – die ___________ 12

Vgl. Stöckel (Fn. 2), S. 85. Vgl. Stöckel (Fn. 2), S. 86. 14 Vgl. Stöckel (Fn. 2), S. 101 f. 15 Vgl. Stöckel (Fn. 2), S. 103 (Hervorhebung dort). 16 Vgl. BVerfGE 92, 1 (20), vgl. aber auch bereits im Mehrheitsvotum S. 16: „Der Begriff der Gewalt, der im allgemeinen Sprachgebrauch mit unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird, muss hier im Zusammenhang des Normgefüges verstanden werden“. 17 Vgl. Kuhlen, in: Dannecker u.a. (Hrsg.), Otto-FS, 2007, S. 89 (97). 18 Kritisch etwa Küper, NStZ 2008, 597 (600). 13

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Wortlautgrenze nicht als eine der Auslegung vorgegebene sprachliche Grenze, sondern als Ergebnis eines Auslegungsvorganges versteht (vgl. dazu sogleich 1.). Im Rahmen einer kritischen Würdigung und Deutung dieser Rechtsprechung sollen hieraus einige allgemeine Ableitungen vorgenommen und rechtstheoretisch weiter fundiert werden (vgl. dazu im Anschluss 2.), bevor die entsprechenden Ergebnisse auf eine weitere, höchstrichterlich bislang noch nicht entschiedene Konstellation angewendet werden (vgl. dazu 3.).

1. Die Entscheidungen des BVerfG vom 12.09.2006 und vom 14.09.2007 Ziemlich genau im Jahresabstand haben die 1. und 2. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG zwei Entscheidungen getroffen, in denen die vielfach als (theoretisch und in der Wissenschaft zwar hoch gehandelte, aber) praktisch kaum einmal durchgesetzt gescholtene19 Garantie des Art. 103 II GG durch das Gericht hervorgehoben und wirksam zur Anwendung gebracht wurde.

a) Das Ende der Gleichsetzung „unvorsätzlich = entschuldigt“ in § 142 II Nr. 2 StGB – 2 BvR 2273/06 aa) In der ersten Entscheidung hatte sich das BVerfG mit einem schon seit Jahren kontrovers diskutierten Problem zu beschäftigen, das in der Normstruktur des § 142 StGB mit seinen immer wieder aufeinander aufbauenden Auffangtatbeständen wurzelt.20 Ausgangssituation ist hier bekanntlich der Fall, in welchem der Unfallbeteiligte den Unfallort verlässt, ohne Feststellungen zu ermöglichen (§ 142 I Nr. 1 StGB). Ist niemand anwesend, gegenüber dem diese Feststellungen getroffen werden können, so statuiert § 142 I Nr. 2 StGB eine Wartepflicht. Hat sich der Täter nach Ablauf dieser Wartefrist sub specie § 142 I Nr. 2 straflos (§ 142 II Nr. 1 StGB) oder aus anderen Gründen gerechtfertigt oder entschuldigt (§ 142 II Nr. 2 StGB) entfernt, so macht er sich strafbar, wenn er die in § 142 III StGB genannten Angaben nicht unverzüglich nachholt. Zumindest auf den ersten Blick nicht geregelt ist der Fall, in welchem sich der Täter nicht gerechtfertigt (man denke etwa an § 34 StGB, wenn ein Schwerverletzter ins Krankenhaus eingeliefert werden muss) oder entschuldigt vom Unfallort entfernt hat, sondern in denen er hinsichtlich des Merkmals des Unfalls bzw. seiner eigenen Unfallbeteiligung schlicht unvorsätzlich gehandelt ___________ 19 Vgl. Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978, S. 6 (dort speziell zur Garantie der lex certa). 20 Zu dieser Systematik des § 142 StGB vgl. nur BeckOK-StGB/Kudlich, § 142 Rn. 11 ff.

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hat, da er – gerade bei weniger schwerwiegenden Schäden denkbar bzw. prozessual für den Tatrichter nicht widerlegbar – schlicht nichts von dem Vorfall gemerkt hat. bb) Während die Rechtsprechung seit Jahrzehnten das vorsatzlose SichEntfernen dem entschuldigten gleichstellte,21 wurde in der Literatur seit jeher eine entsprechende Gleichsetzung trotz der drohenden Strafbarkeitslücken mit Blick auf Art. 103 II GG vielfach abgelehnt. Diesen Standpunkt teilte auch die 1. Kammer des Zweiten Senats und sah die Verfassungsbeschwerde gar in einem ihre Entscheidungskompetenz begründenden Sinne als „offensichtlich begründet“ an, da die Subsumtion eines vorsatzlosen Entfernens unter § 142 II Nr. 2 StGB gegen Art. 103 II, 2 I GG verstoße. Einer derartigen Auslegung steht nach Auffassung des Verfassungsgerichts „die Grenze des möglichen Wortsinns der Begriffe ‚berechtigt oder entschuldigt‘ entgegen“.22 cc) Für die hier interessierende Frage noch bedeutsamer als das Ergebnis des Gerichts ist freilich sein Vorgehen. Im Ausgangspunkt wendet sich das BVerfG zunächst gegen die Argumentation des BGH, dass die Begriffe „berechtigt oder entschuldigt“ über ihre formal-dogmatische Bedeutung im Sinne strafrechtlicher Kategorien hinaus in einem alltagssprachlichen Sinn auch weiter verstanden werden könnten. Schon die Umgangssprache unterscheide nämlich „zwischen unvorsätzlichen im Sinne nicht absichtlicher und berechtigten oder entschuldigten Verhaltensweisen, die ‚das Recht auf ihrer Seite‘ haben bzw. deren Konsequenzen aus höherrangigen Gründen hinzunehmen sind“.23 Eine Gleichsetzung verbiete sich schon deswegen, da beim unvorsätzlichen SichEntfernen die normative Wertung, unter welchen Voraussetzungen dieses zulässig ist, durch eine empirische Tatsache ersetzt werde. „Aufgrund ihres normativen Gehalts können die Begriffe ‚berechtigt oder entschuldigt‘ nicht in einem nicht-normativen Sinne ausgelegt werden“.24 Ist schon diese im Ausgangspunkt scheinbar gerade an den verwendeten Begriffen orientierte Argumentation gleichwohl keine „rein begriffliche“, sondern knüpft in höchst diffiziler Weise an die strafrechtsdogmatische Unterscheidung zwischen normativen und empirischen Begriffen an, so bleibt die Kammer dabei auch nicht stehen. Vielmehr betont sie, dass dieses Ergebnis auch „durch historische, systematische und teleologische Auslegungsgesichtspunkte gestützt“ werde25: So enthielten zunächst die Gesetzesmaterialien keine ___________ 21 Vgl. grundlegend BGHSt 28, 134; ähnlich OLG Köln NJW 1977, 2275; BayObLG NJW 1979, 427 (428); NJW 1982, 1059. 22 Vgl. BVerfG NJW 2007, 1666 (1667 – Rn. 18). Krit. Fahl JR 2009, 259 (261). 23 Vgl. BVerfG NJW 2007, 1666 (1667 – Rn. 20). 24 Vgl. BVerfG NJW 2007, 1666 (1667 – Rn. 20). 25 Vgl. BVerfG NJW 2007, 1666 (1667 – Rn. 21).

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Anhaltspunkte dafür, dass der Gesetzgeber möglichst alle Fälle eines (aus welchen Gründen auch immer) straflosen Sich-Entfernens zum Anknüpfungspunkt für die nachträgliche Mitteilungspflicht des § 142 II Nr. 2 StGB machen wollte. Systematisch sei ferner zu beachten, dass die durch eine Anwendung des § 142 II Nr. 2 StGB begründeten Pflichten des Unfallbeteiligten weiter reichen als diejenigen nach § 142 I StGB, was als Ausnahmekonstellation eng auszulegen und daher nicht auf Fälle eines unvorsätzlichen Entfernens übertragbar sei. Zuletzt gebiete auch eine teleologische Auslegung nichts anderes, da zwar ohne Zweifel eine weitergehende Auslegung auch einen umfangreicheren Rechtsgüterschutz gewähre, Lücken bei der Anwendung eines Verbotsgesetzes aber nicht mit dem Hinweis auf die kriminalpolitische Bedeutsamkeit des Verbots ohne weiteres umgangen werden dürften. Obwohl die Kammer mit den historischen, systematischen und teleologischen Auslegungsgesichtspunkten ihr durch die Interpretation der Gesetzesbegriffe gewonnenes Ergebnis nur „stützt“, macht sie umgekehrt keineswegs deutlich, dass es sich dabei etwa um bloße obiter dicta handeln würde. Vielmehr wird – nicht zuletzt aufgrund des sogar größeren Umfangs – der Eindruck erweckt, als ob das endgültige Verdikt des Verstoßes gegen Art. 103 II GG erst durch eine Einbeziehung auch der übrigen Kanones feststehe. Dabei sind über den konkreten Fall hinaus für das Strafrecht die Ausführungen zur teleologischen Auslegung besonders bedeutsam, welche nicht etwa als „punitives Superargument“ dahingehend verstanden werden darf, dass allein der Schluss „Weiter Anwendungsbereich führt zu weitem Rechtsgüterschutz und damit zur idealen Verwirklichung des Normzwecks“ eine ausufernde Auslegung begründen könnte.26 b) Das Ende der Gleichsetzung „Pkw = Waffe“ in § 113 II StGB – 2 BvR 2238/07 aa) In der zweiten Entscheidung rund ein Jahr später hatte sich die 2. Kammer des Zweiten Senats27 mit der (in Rechtsprechung und Literatur zwar ebenfalls bereits thematisierten, aber doch weniger heftig umstrittenen) Frage nach der Auslegung des Waffenbegriffs in § 113 II StGB zu befassen. Die Strafzumessungsvorschrift des § 113 II 2 Nr. 1 StGB enthält – anders als eine Reihe von anderen Vorschriften innerhalb des Strafgesetzbuches28 – als straf___________ 26

Vgl. dazu auch bereits Kudlich, JR 2009, 210 (211 f.). Hinsichtlich der Besetzung der Kammern ist hierbei erwähnenswert, dass sowohl die 1. Kammer in der Entscheidung 2 BvR 2273/06 als auch die 2. Kammer in der Entscheidung 2 BvR 2238/07 u.a. mit den Richtern di Fabio und Landau (in einem Fall ergänzt durch den Vizepräsidenten Hassemer, im anderen Fall durch den Verfassungsrichter Broß) besetzt waren. 28 Vgl. insbesondere § 244 I Nr. 1a und §§ 250 I Nr. 1a, II Nr. 1 StGB. 27

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schärfendes Merkmal allein den Begriff der Waffe, nicht aber damit gleichgesetzt denjenigen des „gefährlichen Werkzeugs“. Bedingt durch diese unterschiedliche gesetzliche Gestaltung und gestützt auf die Ergebnisse der Rechtsprechung wird in der strafrechtlichen Literatur mitunter von verschiedenen Waffenbegriffen ausgegangen, von denen einer (nämlich derjenige in § 113 II 2 Nr. 1 StGB) sonstige gefährliche Werkzeuge gleichsam mit umfasse.29 Im konkreten Fall ging es um eine Situation, in welcher der Täter den ihn kontrollierenden Polizisten, der sich in den Wagen gebeugt hatte, um den Zündschlüssel am Fahrzeug des Täters abzuziehen, durch plötzliches Rückwärtsfahren mehrere Meter mit geschleift hatte. bb) Die vom OLG Dresden gebilligte Verurteilung des Angeklagten u.a. nach § 113 II 2 Nr. 1 StGB verletzt nach Ansicht des BVerfG den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 103 II GG, soweit sie den von ihm gesteuerten „Pkw unter den Begriff der ‚Waffe‘ nach § 113 II 2 Nr. 1 StGB subsumiert“.30 Ein Personenkraftwagen sei nämlich „vom möglichen Wortsinn des Begriffs der ‚Waffe‘ in § 113 II 2 Nr. 1 StGB nicht mehr umfasst“.31 cc) Da es sich bei § 113 II 2 Nr. 1 StGB um keine Qualifikation, sondern um ein Regelbeispiel eines besonders schweren Falles handelt, ist die Entscheidung zwar dogmatisch insoweit interessant, als das Verfassungsgericht an die benannten Regelbeispiele sub specie Art. 103 II GG offenbar den gleichen Maßstab anlegt wie an Tatbestandsmerkmale – die praktische Bedeutung dieses Vorgehens dürfte jedoch gering sein, da in derartigen Fällen relativ zwanglos auch ein unbenannter angeblich besonders schwerer Fall angenommen werden kann.32 Nicht zuletzt deswegen ist vorliegend auch bei dieser Entscheidung das methodische Vorgehen der Kammer der eigentlich interessante Punkt:33 Ähnlich wie in der Entscheidung zu § 142 StGB bildet zwar eine sprachliche Betrachtung (im konkreten Fall unter Einbeziehung etymologische Wörterbücher und lexikalische Definitionen) den Ausgangspunkt der Überlegungen, die in die Feststellung einmünden, der „allgemeine Sprachgebrauch“ bezeichne „Gegenstände als ‚Waffen‘, wenn ihre primäre Zweckbestimmung darin liegt, im Wege des Angriffs oder der Verteidigung zur Bekämpfung anderer eingesetzt zu werden, oder wenn eine solche Verwendung zumindest typisch“ sei;34 sodann wird aber auch in der vorliegenden Entscheidung – und auch hier wieder umfangreicher, als es die allein an den Begriffen orientierte Interpretation ___________ 29

Vgl. Küper, Strafrecht BT – Definitionen mit Erläuterungen, 7. Aufl. 2008, S. 440. Vgl. BVerfG NJW 2008, 3627 (Rn. 10). 31 Vgl. BVerfG NJW 2008, 3627 (3628 – Rn. 15). 32 Zutreffend Jahn, JuS 2009, 78 (79); vgl. ferner auch Kudlich, JR 2009, 210. 33 Vgl. bereits Kudlich, JR 2009, 210. 34 Vgl. BVerfG NJW 2008, 3627 (3628 – Rn. 17), Hervorhebung hier. 30

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selbst ist – überprüft und im Ergebnis verneint, ob nicht aus anderen Gründen dem Begriff der Waffe ein „weiterer, über den umgangssprachlichen Gebrauch hinausgehender Sinn“ beigemessen werden müsste.35 Ausgangspunkt ist dabei eine systematische Abgleichung mit der Verwendung des Begriffes im Waffengesetz, das zwar für das StGB nicht verbindlich ist, aber doch eine gewisse Orientierung bilden solle. Dies sei bei der Verwendung des Waffenbegriffs in andere Vorschriften anerkannt, und auch die Gesetzesmaterialien würden das Problem zwar aufwerfen, letztlich aber nicht klar im Sinne eines erweiterten Verständnisses lösen. Zuletzt betont die Kammer auch hier wieder, dass nicht etwa unter teleologischen Gesichtspunkten darauf abgestellt werden könne, dass „die Gefährlichkeit der Tatausführung beim Einsatz von Waffen im ‚nicht technischen Sinn‘ und speziell von Kraftfahrzeugen derjenigen beim Einsatz von Waffen im engeren Sinn gleichstehe“, da es „gerade der Sinn des Analogieverbots“ sei, „einer teleologischen Argumentation zur Füllung empfundener Strafbarkeitslücken entgegenzuwirken“.36 Zusammengefasst findet sich hier also eine ganz ähnliche Struktur, nach welcher die Kammer bei ihrer Bestimmung der Wortlautgrenze zwar von den verwendeten Begrifflichkeiten und dem vermeintlichen allgemeinen Sprachgebrauch ausgeht, bei ihrer Prüfung dort jedoch nicht stehen bleibt. Beide Entscheidungen wenden sich ferner gegen eine Ausdehnung der Strafbarkeit allein aus teleologischen Überlegungen eines weitergehenden Schutzes des durch die Vorschriften geschützten Rechtsguts.

2. Kritische Würdigung der Entscheidungen a) Bezogen auf den Zeitpunkt der Manuskripterstellung37 hat es vorrangig zur zeitlich ersten Entscheidung zu § 142 StGB eine ganze Reihe von Stellungnahmen in der Literatur gegeben,38 während diejenigen zur Entscheidung zu § 113 StGB (naturgemäß) noch weniger zahlreich sind.39 Tendenziell erfährt dabei die Entscheidung zum unerlaubten Entfernen vom Unfallort in der Literatur – jedenfalls im Ergebnis – mehr oder weniger breite Zustimmung.40

___________ 35

Vgl. BVerfG NJW 2008, 3627 (3628 – Rn. 18). Vgl. BVerfG NJW 2008, 3627 (3629 – Rn. 27. 37 D.h. im Februar 2009. 38 Vgl. dazu die Nachw. in den folgenden Fn., insb. Fn. 40. 39 Vgl. aber Simon, NStZ 2009, 83 ff.; Kudlich, JR 2009, 210. 40 So etwa bei Simon, NJW 2007, 1668; Geppert, DAR 2007, 380; Mitsch, NZV 2008, 217; im Ergebnis auch Dehne-Niemann, Jura 2008, 135; tendenziell zustimmend auch Jahn, JuS 2007, 689 sowie Kudlich, JA 2007, 549. Zweifelnd wohl Küper, NStZ 36

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b) Unter den Anmerkungen findet sich eine ganze Reihe von Stellungnahmen (über diejenige des Verfassers hinaus41), die sich auch explizit mit der Methodik des BVerfG befassen. So widmen sich sowohl Simon als auch Küper der Frage nach dem Abstellen auf Alltags- oder gerade Fachsprachgebrauch im Rahmen der grammatischen Auslegung42. Dabei geht Simon mit guten Argumenten und letztlich zutreffendem Judiz davon aus, dass grundsätzlich die fachsprachliche Verwendung den entscheidenden Maßstab bilden muss, jedenfalls aber bei Tatbestandsmerkmalen mit einem mehr oder weniger starken normativen Gehalt.43 Dem ist insbesondere dahingehend beizupflichten, dass eine eventuell denkbare weitergehende Verwendungsmöglichkeit eines Begriffs in der Alltagssprache bzw. selbst im unspezifischen gesetzlichen Zusammenhang nicht dazu führen kann, dass die Grenzen einer ganz spezifischen Verwendungsweise im Einzelfall überschritten werden dürfen, wenn es gerade um die Auslegung bei der spezifischen Verwendung des Begriffs geht.44 Dagegen mahnt Küper an,45 den Beschluss gerade nicht in diese Richtung überzubetonen, da das Verfassungsgericht sich ungeachtet dessen ausdrücklich (und in___________ 2008, 597, und Fahl JR 2009, 259 (261), sowie aus kriminalpolitischen Gründen letztlich ablehnend Laschewski, NZV 2007, 444. 41 Angedeutet in der Entscheidung zu § 142 StGB bei Kudlich, JA 2007, 549 (551); im Mittelpunkt der Besprechung stehend dann in der Anm. zur Entscheidung zu § 113 StGB bei Kudlich, JR 2009, 210. 42 Vgl. Simon, NJW 2007, 1668 f.; Küper, NStZ 2008, 597 (599 f.). 43 Eine davon zu unterscheidende Diskussion betrifft die Frage, inwieweit bei der Auslegung eines Gesetzestextes stets auch eine vom Alltagssprachverständnis abweichende außerjuristische (z.B. naturwissenschaftliche) Fachsprache ausschlaggebend sein muss. Richtigerweise wird man dies jedenfalls in bestimmten Fällen nicht annehmen können, vgl. zu einer solchen Konstellation Kudlich/Christensen/Sokolowski, in: F. Müller (Hrsg.), Politik, [Neue] Medien und die Sprache des Rechts, 2007, S. 119 ff. 44 Ein „Negativbeispiel” in diese Richtung findet sich in der (im Übrigen durchaus instruktiven) Arbeit von Groß, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit faktischer Vertretungsorgane bei Kapitalgesellschaften, 2007, S. 120 ff., wo der Begriff des Geschäftsführers im Sinn des GmbHG trotz der Vorschrift des § 6 GmbHG in einem alltagssprachlich-weiten Sinne bzw. unter Berücksichtigung der Vorschriften zur „Geschäftsführung“ im BGB (vgl. etwa §§ 677 ff. BGB) verstanden wird und damit auch in GmbH-strafrechtlichen Regelungen der nur „faktische Geschäftsführer“ ohne weiteres als tauglicher Täter betrachtet wird. Hier wird also m.a.W. die „Wortlautgrenze“ als starre Grenzlinie postuliert, die in der Alltagssprache vorgegeben (und nicht in der juristischen Fachsprache gezogen) wird. Dies führt – wahrscheinlich unbeabsichtigt, aber eigentlich ganz notwendig – zu einer enormen Ausdehnung der Strafbarkeit und damit zu einer Zurückdrängung des nulla-poena-Grundsatzes, da die bloße Betrachtung des „Alltagssprachgebrauchs“ als gleichsam isolierte grammatische Auslegung realistischerweise ohnehin nur höchst selten tauglich ist, bestimmte Lesarten des Gesetzes mit hinreichender Sicherheit auszugrenzen; dazu, dass auch in der Rechtsprechung des BGH Alltagssprachgebrauch und grammatische Auslegung meist nur den Einstieg in die Auslegung bilden, vgl. Kudlich/Christensen, Die Methodik des BGH in Strafsachen, 2009, S. 42 ff. 45 Küper, NStZ 2008, 597 (600).

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soweit einer gängigen Tradition entsprechend) auf die „umgangssprachliche“ Bedeutung des streitgegenständlichen Begriffs („berechtigt oder entschuldigt“) beziehe, die Grenze des möglichen Wortsinns explizit „aus der Sicht des Normadressaten“ formuliere und die Unterscheidung zwischen dem mit einem normativen Gehalt ausgestatteten Begriffspaar „berechtigt/entschuldigt“ und dem „bloß empirischen“ Sachverhalt der mangelnden Unfallkenntnis gerade auch „jenseits der Unterscheidung von ‚Fach-‘ und ‚Alltagssprache‘“ ansiedle. Des Weiteren wird in den Beiträgen auch zur Frage Stellung genommen, ob das Verfassungsgericht zu Recht (wie hier bereits angedeutet) für die Bestimmung der Wortlautgrenze neben dem spontanen Sprachgebrauch (und damit nach verkürztem, aber verbreitetem Verständnis: neben der grammatischen Auslegung) auch sonstige Auslegungskriterien mit heranzieht. Dehne-Niemann scheint dabei davon auszugehen, dass ein solches Vorgehen quasi methodisch unzulässig sei.46 Die neben der Wortlautinterpretation erfolgte „zusätzliche Nennung systematischer, historischer und teleologischer Auslegungsgesichtspunkte hätte es überhaupt nicht mehr bedurft“. Die für den Prüfungsmaßstab des BVerfG allein maßgebliche Frage, ob Art. 103 II GG verletzt sei, entscheide sich nämlich ausschließlich in der Überschreitung einer Wortlautgrenze, die nach Ansicht von Dehne-Niemann offenbar nicht (auch) durch Rückgriff auf systematische, historische und teleologische Auslegungsargumente gezogen wird, sondern sich allein als Problem der grammatischen Auslegung darstellen soll. Weniger die Frage der verfassungsrechtlichen und methodischen „Berechtigung“ dieses Vorgehens, sondern überhaupt das Vorliegen eines entsprechenden Befundes stellt Küper in Abrede, wenn er andeutet,47 dass sich das Verfassungsgericht in der Entscheidung zwar relativ umfangreich auch mit gleichsam „allgemeinen“ Auslegungsfragen befasst, dass der Beschluss jedoch auf die Frage, „welche Bedeutung ‚allgemeinen‘ Auslegungskriterien für die verfassungsrechtliche Funktion des Analogieverbots zukommt, keine substantiierte, geschweige denn eine generalisierbare Antwort“ liefere. Insbesondere sei dem Beschluss nicht zu entnehmen, dass das gesamte Spektrum der Auslegungskriterien (oder auch nur ein Teil von ihnen) verfassungsrechtliche Relevanz habe. Die entsprechenden Ausführungen seien daher nur ein „einfachrechtlicher Annex“ der verfassungsrechtlichen Partien, „der über die Bedeutung allgemeiner Auslegungsregelung für das Analogieverbot des Art. 103 II GG nichts aussagt“.48 ___________ 46

Vgl. Dehne-Niemann, Jura 2008, 135 (137, 141). Vgl. Küper, NStZ 2008, 597 (600). 48 Vgl. Küper, NStZ 2008, 597 (600 f.). Vgl. auch Brüning, ZiS 2007, 317 (320), die Art. 103 II GG nur als „verfassungsrechtliches Einfallstor“ für eine im Kern nach den Maßstäben der Fachgerichtsbarkeit getroffene und begründete Entscheidung sieht. 47

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c) Demgegenüber scheint mir – wie auch bereits bei der Analyse der Entscheidungen deutlich geworden sein dürfte (vgl. oben III. 1.) – die Aussagekraft der Verfassungsgerichtsentscheidungen in dieser Hinsicht größer zu sein. Selbst wenn man Küper zugesteht (und dies auch auf die Entscheidung zu § 113 StGB überträgt), dass das BVerfG (zwar der Sache nach zur Prüfung am Maßstab des Art. 103 II GG den gesamten Strauß der klassischen Auslegungskanones bemüht, aber) keine explizite Aussage über seine methodische Konzeption in dieser Frage macht, so schließt dies doch nicht aus, dass den Richtern gleichsam intuitiv klar ist, dass die Bestimmung der Wortlautgrenze allein mit einer – eng verstandenen – grammatischen Auslegung nicht möglich ist. Ein solches „tacit knowledge“ in der Praxis zu „explizieren“, d.h. das dort vorhandene Können gleichsam in methodisches Wissen umzuwandeln, ist eine durchaus wichtige Aufgabe der Methodenlehre.49 M.E. kann man die Entscheidungen durchaus so verstehen,50 und letztlich wäre eine solche Sichtweise des BVerfG auch die einzig richtige. Denn welchen Ertrag sollte schon eine isolierte grammatische Auslegung jedenfalls in (für tatsächliche Auslegungsstreits allein interessanten) schwierigen Fällen leisten können bzw. woraus sollte sich daraus der „Wortsinn“ ergeben? Die Annahme, die Wortlautgrenze könne als gleichsam semantische Eigenschaft des Begriffs quasi „aufgefunden“ werden, setzt eine Vorstellung der Entscheidungssteuerungskraft natürlicher Sprache voraus, die schlechterdings unrealistisch ist.51 Ohne dass dies hier ausführlich nachgezeichnet werden könnte,52 ist doch festzuhalten, dass natürliche Sprache weder vollständig normativ noch objektiv ist, sondern in hohem Maße Wandlungen und Bedeutungsverschiebungen unterliegt, und dass Sprachregeln auch nicht in Wörterbüchern gleich einer Art „Sprachgesetzbüchern“ verbindlich niedergelegt sind, sondern nur Konventionen bzw. soziale Praktiken darstellen. Aufgabe des Rechtsanwenders ist es daher nicht, die (im Wort sozusagen gleich einem „Behälter“ enthaltene) Bedeutung mit den Mitteln der juristischen Methodik zu „erkennen“, sondern im Bedeutungsüberschuss der von den Parteien mitgebrachten Verwendungs___________ 49

Vgl. hierzu bereits Christensen/Kudlich, Theorie (Fn. 9), S. 268 ff. Dieses Verständnis wird auch durch das Sondervotum der Richter Voßkuhle, Osterloh und Di Fabio in der (nach Fertigstellung des Manuskripts veröffentlichten) Entscheidung BVerfG v. 15.01.2009 – 2 BvR 2044/07 = NJW 2009, 1469 gestützt, das im Folgenden mehrfach ergänzend zitiert wird. Dabei ist zu betonen, dass im Hauptvotum zur verfassungsrechtlichen Beurteilung einer konkreten Entscheidung des BGH, nicht aber zu den grundsätzlichen methodischen Konsequenzen aus den verfassungsrechtlichen Vorgaben eine abweichende Ansicht vertreten wird. 51 Vgl. auch BVerfG NJW 2009, 1469 (1477) Rn. 100 („Schwierigkeit [sc. des Gesetzgebers], textlich Eindeutigkeit herzustellen“). 52 Vgl. näher dazu nur jeweils m.w.Nachw. Christensen/Kudlich, ARSP 88 (2002), 230 ff.; dies., Theorie (Fn. 9), S. 127 ff. 50

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weisen einen Bedeutungskonflikt zu entscheiden. Die Normativität ist dabei kein Naturprodukt, das in der Sprache „abgebaut“ werden könnte, sondern natürliche Sprache ist ein Marktphänomen, bei dem man sich Legitimität nicht umsonst besorgen kann, sondern sie mit Argumenten bezahlen muss.53 Für die Wortlautgrenze bedeutet dies, dass sie nicht in der Sprache vorgefunden, sondern durch den Rechtsanwender gleichsam gezogen werden muss.54 Genau diesem Vorgehen entspricht dann auch die Praxis – nicht nur diejenige des BVerfG bei den hier untersuchten Entscheidungen, sondern ebenso diejenige des BGH, der auch diesseits der Grenze des Art. 103 II GG zur Auslegung von Rechtsnormen die grammatische Auslegung selten isoliert heranzieht, sondern gleichsam nur als Einstieg nutzt und gerade Wortlauterwägungen sehr häufig mit weiteren Argumenten kombiniert und präzisiert.55 Auf der Grundlage eines solchen (realitätsnahen56) Sprachverständnisses ist ganz klar, dass zur Bestimmung der Wortlautgrenze eben nicht nur die grammatische Auslegung, sondern auch die übrigen Kanones der Auslegung herangezogen werden müssen. Damit drängt sich dann freilich die Frage auf, wo der Unterschied zwischen einer (im Grundsatz allein der fachgerichtlichen Kontrolle unterliegenden) „falschen Auslegung“ und einer Überschreitung der Wortlautgrenze und damit zugleich einer (allein den verfassungsrechtlichen Prüfmaßstab bildenden) Verletzung des Art. 103 II GG liegt. Auch wenn dies auf den ersten Blick überraschend klingt, wird man wohl schlicht sagen müssen: Soweit für eine bestimmte Auslegung „nur“ die schlechteren Argumente streiten, ist Art. 103 II GG nicht tangiert; ist die Auslegung dagegen – aber eben gerade nicht nur gemessen am Maßstab der grammatischen Auslegung, ___________ 53

Vgl. Christensen/Kudlich, Theorie (Fn. 9), S. 176. Vgl. bereits Christensen/Kudlich, ARSP 92 (2007), 128 ff. 55 Vgl. hierzu nochmals Kudlich/Christensen, Die Methodik des BGH (Fn. 44), S. 42 ff. 56 Der hier skizzierten – in der Terminologie der Sprachphilosophie „holistischen“ – Sichtweise wird nicht selten entgegnet, sie gehe an der Realität vorbei, da bei einem konsequent holistischen Charakter der Sprache letztlich eine Verständigung untereinander nicht möglich sei. Dabei wird jedoch verkannt, dass die Verständigungen in der Praxis ungeachtet des holistischen Charakters von Sprache deswegen funktioniert, weil regelmäßig beide Gesprächspartner daran interessiert sind und – gleichsam nach dem „Prinzip der Nachsicht“ handelnd (vgl. dazu aus der Sprachphilosophie nur Stüber, Davidsons Theorie sprachlichen Verstehens, 1993, S. 144 ff.; Schädler-Om, Der soziale Charakter sprachlicher Bedeutung und propositionaler Einstellungen, 1997, S. 54 ff.; zur Übertragung in die juristische Methodenlehre Christensen/Kudlich, Theorie [Fn. 9], S. 146 ff.) – die Äußerungen des jeweils anderen gerade so aufnehmen, dass sie sich in das Gespräch einpassen und „Sinn machen“. Vor Gericht ist diese Situation jedoch gerade umgekehrt: Hier wird gerade über Bedeutungen gestritten, und von einer freundschaftlichen Nachsicht auf den anderen und einem rücksichtsvollen Eingehen gerade auf seine Verwendungsweise des streitigen Tatbestandsmerkmals kann keine Rede sein. 54

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sondern weil die sprachbezogenen Argumente der klassischen Kanones57 normgelösten Argumenten untergeordnet werden! – „unvertretbar“, so liegt darin zugleich ein Verstoß gegen Art. 103 II GG. Auf den ersten Blick mag die Abgrenzung zwischen „schlicht falscher“ und „unvertretbarer“ Auslegung schwierig sein – und sie bleibt es auch noch auf den zweiten Blick. Aber eine präzisere Abgrenzung lässt eben auch die „Wortlautgrenze“ in einem System natürlicher Sprache nicht zu, oder anders gewendet: In den Fällen, in denen man nach traditionellem Verständnis davon ausgeht, dass „die Wortlautgrenze überschritten“ sei, kann man mit der gleichen Berechtigung feststellen, dass die Auslegung im hier verstandenen Sinne schlechterdings unvertretbar ist – nur mit dem Unterschied, dass man dadurch die von Rechtsanwendern getroffene Entscheidung offen legt und sich nicht hinter einem normativen Abgrenzungspotential verbirgt, welches die auszulegende Zeichenkette schlicht nicht hat. Nebenbei bemerkt: Geht es mithin um die Frage der Vertretbarkeit oder Unvertretbarkeit einer Auslegung und damit um das Problem der Zurechenbarkeit einer Entscheidungsnorm zum Gesetzestext lege artis, so passt dies exakt zu der vom Verfassungsgericht verwendeten (und von Küper gegen eine Einbeziehung auf die übrigen Kanones herangezogene) Formulierung des BVerfG, nach der „Gegenstand der Auslegung gesetzlicher Bestimmungen immer nur der Gesetzestext“ sein könne.58 Denn eben darin liegt nach dem hier vertretenen Verständnis gerade die Gesetzesbindung, die sich dahingehend auswirkt, dass das gefundene Ergebnis unter Berücksichtung der Kanones der Auslegung eben dem Normtext zugerechnet werden kann (und sich nicht etwa als freie rechtspolitische Entscheidung des Richters59 darstellt). ___________ 57

„Sprachbezogen“ in diesem Sinn sind eben nicht nur Argumente aus der grammatischen Auslegung (als gleichsam spontane Gebrauchsbeispiele), sondern auch solche der Systematik, der Entstehungsgeschichte, von Vorläufervorschriften sowie der objektiven und subjektiven Teleologie, welche jeweils durch die Kontextualisierung des fraglichen Begriffs zu weiteren Verwendungsbeispielen führen; normgelöst und damit nicht sprachbezogen sind dagegen solche Argumente, die allein der (rechtspolitischen) Zielvorstellung des Normanwenders entspringen. 58 Vgl. BVerfG NJW 2008, 3627 (Rn. 12), std. Rspr. 59 Vgl. BVerfG NJW 2009, 1469 (1477) Rn. 98 („In keinem Fall darf richterliche Rechtsfindung das gesetzgeberische Ziel der Norm in einem wesentlichen Punkt verfehlen oder verfälschen oder an die Stelle der Regelungskonzeption des Gesetzgebers gar eine eigene treten lassen“) und Rn. 103 („Bei der Überprüfung der richterlichen Fortentwicklung des Obersatzes geht es […] um die kompetenzrechtliche Abgrenzung zwischen der ersten und der dritten Gewalt, mithin um eine originär verfassungsrechtliche Frage. Hier muss das Bundesverfassungsgericht entscheiden, ob das Fachgericht einen hinreichend klar erkennbaren Willen des Gesetzgebers hintangestellt und durch eine eigene, für vorzugswürdig erachtete Regelungskonzeption ersetzt hat und sich dadurch in verfassungswidriger Weise von seiner Gesetzesbindung löst.“).

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Nur abschließend sei insofern noch bemerkt: Mit diesen Gedanken soll nicht die große Bedeutung der grammatischen Auslegung gerade auch mit Blick auf die Wortlautgrenze bzw. die „Vertretbarkeit oder Unvertretbarkeit“ eines Auslegungsergebnisses geleugnet werden. Denn normstrukturell, d.h. gemessen an der „Normtextnähe“ ist die grammatische Auslegung selbstverständlich der wichtigste Kontext, in den eine Vorschrift zur Entscheidung etwaiger Bedeutungskonflikte gestellt werden kann. Nur liegt die Schwäche der grammatischen Auslegung üblicherweise in ihrer geringen „Überzeugungsintensität“60. Aber gerade diese Überzeugungskraft bzw. Plausibilität wird in den Fällen, in denen nach traditioneller Redeart „die Wortlautgrenze aus sprachlichen Gründen überschritten ist“, eben relativ groß sein. Eine vergleichsweise geringe Bedeutung kommt der grammatischen Auslegung jedoch umgekehrt zu, wenn es um den Nachweis geht, dass die Wortlautgrenze nicht überschritten ist – aufgrund der Weite und Vagheit natürlicher Sprache ist die Tatsache, dass eine bestimmte Verwendungsweise noch im Bereich des Verständlichen liegen könnte, nicht besonders stark.61 Dies ist der methodische Kern der Aussage des Verfassungsgerichts, dass eine verbotene Analogie nicht nur in einem engen rechtstechnischen Sinn zu verstehen sei, sondern dass Art. 103 II GG jede Rechtsanwendung ausschließe, „die über den Inhalt einer gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht“.62 Oder um es noch einmal in Worten des Jubilars zu sagen:63 „Wortsinn“ und „Sinn des Gesetzes“ sind als Grenzen der zulässigen Auslegung gleichberechtigt, streng genommen sogar eigentlich nur zwei Seiten der gleichen Medaille: Ein „Sinn“, der dem Gesetz in der konkreten Situation nicht mehr lege artis zugerechnet werden kann, geht auch über den „Wortsinn“ der fraglichen Vorschrift hinaus.

3. Die Probe aufs Exempel Die bisherigen Überlegungen – insbesondere bezogen auf das hier herausgearbeitete Auslegungsverständnis des BVerfG in seiner neueren Rechtsprechung sowie auf die in der Dissertation des Jubilars angelegten Thesen – sollen im Folgenden an einer (soweit ersichtlich und zum Stand der Fertigstellung des ___________ 60

Man könnte auch von geringer „Plausibilität“ sprechen, wenn man die Überzeugungskraft/Plausibilität von Auslegungsargumenten in einer zweiten, zu ihrer normstrukturellen Bedeutung gleichsam querliegenden Reihung einordnet. 61 Vgl. auch nochmals BVerfG NJW 2009, 1469 (1477) Rn. 100 („Die Eindeutigkeit der im Wege der Auslegung gewonnenen gesetzgeberischen Grundentscheidung wird nicht notwendig dadurch relativiert, dass der Wortlaut der einschlägigen Norm auch andere Deutungsmöglichkeiten eröffnet“). 62 Vgl. nur BVerfGE 71, 108 (115); 92, 1 (12). 63 Vgl. Stöckel, Gesetzesumgehung (Fn. 2), S. 84 f.

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Manuskripts) obergerichtlich noch nicht entschiedenen Frage64 exemplifiziert werden, die sich zwar einer relativ unbekannten Vorschrift65 widmet, an der aber der gesamte Strauß der Auslegungsmethoden fruchtbar gemacht werden kann und bei der Parallelen sowohl zur verfassungsgerichtlichen Auslegungstheorie als auch zur von Stöckel zentral untersuchten Gesetzesumgehung gezogen werden können. Einen besonderen Reiz erhält die Fragestellung zudem dadurch, dass sie Gegenstand eines der aufsehenerregendsten Wirtschaftsstrafverfahren der letzten Jahre war, das sich zudem vor dem Landgericht NürnbergFürth abspielte und damit in den früheren räumlichen Handlungsbereich des Jubilars fiel.66 a) Der Sachverhalt Gegenstand des genannten Verfahrens war der Strafprozess gegen ein ehemaliges Mitglied des Zentralvorstandes der Firma Siemens im Zusammenhang mit der Förderung der Arbeitnehmervereinigung AUB. Der Tatvorwurf stützte sich darauf, dass der Angeklagte einen Vertrag mit einem als selbständiger Unternehmensberater tätigen ehemaligen Siemensmitarbeiter abschloss bzw. verlängerte, dessen (wenngleich im Vertragstext selbst unausgesprochener) Zweck neben anderen Schulungs- und Beratungsleistungen vorrangig auch in einer Förderung der Arbeitnehmervereinigung AUB lag.67 Dabei ging es (entgegen einigen desorientierten Äußerungen in der Presse und insoweit auch nach dem übereinstimmenden Eindruck von Staatsanwaltschaft und Tatgericht68) nicht etwa darum, dass durch die Geldzahlungen unmittelbar Einfluss auf einzelne Betriebsangehörige mit Blick auf die Ausübung ihres Wahlrechts oder aber auf etwaige Funktionäre der AUB mit Blick auf die Ausübung ihres Stimmverhaltens in eventuellen Gremien genommen werden sollte, sondern ___________ 64 Ein einschlägiges instanzgerichtliches Urteil wurde gegenüber einem Angeklagten aus Gründen, die hier nicht näher interessieren, rechtskräftig. Über die Revision des zweiten Angeklagten war zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Manuskripts noch nicht entschieden. 65 So finden sich selbst im Standardwerk zum Arbeitsstrafrecht von Ignor/Rixen, keinerlei zusammenhängende Ausführungen zu der im Folgenden behandelten Vorschrift des § 119 BetrVG. 66 Der guten Ordnung halber sei hier offen gelegt, dass der Verfasser an dem genannten Verfahren als Verteidiger eines Angeklagten beteiligt war. Die nachfolgenden Ausführungen sind deshalb in besonderem Maße um wissenschaftliche Objektivität bemüht; eine ganze Reihe von Gründen, die jenseits der im vorliegenden Zusammenhang interessierenden gegen eine Straflosigkeit der beiden Angeklagten hinsichtlich der hier behandelten Tatbeständen sprechen, werden daher bewusst nicht erwähnt. 67 Vgl. LG Nürnberg-Fürth v. 24.11.2008 – 3 KLs 501 Js 1777/08 (n.v.), S. 31 ff. 68 Vgl. auch LG Nürnberg-Fürth v. 24.11.2008 – 3 KLs 501 Js 1777/08 (n.v.), S. 41 f., 132 ff., wo keinerlei Hinweise in diese Richtung auftauchen, obwohl das Gericht in ersichtlicher Begründungsnot ist, einen Verstoß gegen § 119 BetrGV zu bejahen.

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„nur“ darum, dass die AUB durch die (nach außen verdeckte) Siemensförderung in der Lage war, umfangreich zu werben, Schulungsangebote zu machen etc. und auf diese Art und Weise auch solche Mitarbeiter potentiell für eine Arbeit in der betrieblichen Mitbestimmung anzusprechen, die nicht in der IG-Metall organisiert waren. Grund für dieses Vorgehen war die Hoffnung, dass solche Mitarbeiter, die sich nicht allein aus dem Bereich der IG-Metall heraus für die Arbeit in der betrieblichen Mitbestimmung interessieren, tendenziell weniger an übergeordneten Verbandsinteressen als vielmehr an den konkreten Unternehmens- und Standortinteressen orientiert handeln würden.69 Die hier im Raume stehende Einflussnahme auf Wahl und Arbeit des Betriebsrats ist in § 119 BetrVG unter Strafe gestellt. Freilich wurde diese Vorschrift nicht selbst angeklagt, sondern war nur über das Abzugsverbot des §§ 8 I 1 KStG, 4 V Nr. 10 EStG für den im Verfahren erhobenen Vorwurf der Steuerhinterziehung zugunsten der Firma Siemens (durch Berücksichtigung der Zahlungen als Betriebsausgaben seitens der – über den Vorgang und seine Hintergründe informierten – Zentralen Finanzabteilung) von Bedeutung.70

b) Der Regelungsgehalt des § 119 I Nr. 1 BetrVG – ein spontaner Zugriff Der vorliegend von Staatsanwaltschaft und Landgericht71 angenommene § 119 I Nr. 1 BetrVG droht eine Geld- oder Freiheitsstrafe für denjenigen an, der „eine Wahl des Betriebsrats (…) durch Zufügung oder Androhung von Nachteilen oder durch Gewährung oder Versprechen von Vorteilen beeinflusst“. Betrachtet man nun den Wortlaut der Vorschrift im Sinn einer „isolierten grammatischen Auslegung“, so legt dieser zwar nicht explizit nahe, lässt aber doch zu, dass jede Gewährung eines Vorteiles an irgendeine beliebige Person, die auf irgendeine Weise kausal auf das Ergebnis von Betriebsratswahlen Einfluss zu nehmen geeignet ist, eine Strafbarkeit begründet. Jedenfalls wäre eine solche Lesart bei isolierter Betrachtung des Normtextes nicht „außerhalb des Bereichs des Verständlichen“. Gleichwohl wird ein Jurist bei einem ersten spontanen Zugriff der Vorschrift ein etwas spezifischeres Bild der Tathandlung vor Augen haben, nach dem § 119 I Nr. 1 BetrVG den Einfluss auf (aktiv wie passiv) Wahlberechtigte bei ___________ 69

Vgl. LG Nürnberg-Fürth v. 24.11.2008 – 3 KLs 501 Js 1777/08 (n.v.), S. 42: Interesse an Betriebsratskandidaten, die sich „an betrieblichen Belangen und nicht an übergeordneten ideologischen Interessen orientieren“ würden. 70 Vgl. LG Nürnberg-Fürth v. 24.11.2008 – 3 KLs 501 Js 1777/08 (n.v.), S. 135 f. 71 Vgl. LG Nürnberg-Fürth v. 24.11.2008 – 3 KLs 501 Js 1777/08 (n.v.), S. 133 f.

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ihrer Entscheidung über das Ob und Wie der Willensbildung72 bei der Ausübung ihres Wahlrechts erfasst. In den Worten der (soweit ersichtlich) einzigen Spezialmonographie zu dieser Vorschrift aus spezifisch strafrechtlicher Sicht könnte man auch formulieren: „Der Angriff auf die Wahl vollzieht sich über den Angriff auf die Wähler“.73 Anders gewendet: § 119 I Nr. 1 BetrVG regelt die Fälle der sog. Wählernötigung oder Wählerbestechung. Für dieses spontane Verständnis, das auch in der spärlichen strafrechtlichen Literatur zu der Vorschrift explizit vertreten oder zumindest unausgesprochen offenbar zugrunde gelegt wird,74 sprechen schon nach unbefangener Gesetzeslektüre zwei Gründe: Zum einen würde es sich bei Wählerbestechung und Wählernötigung um die Tathandlungen handeln, die auch bei allen anderen wichtigen Wahlen im Wahlstrafrecht des StGB unter Strafe gestellt sind (vgl. insbesondere §§ 108 und 108b StGB); zum anderen hätte auch die Betonung der Nachteilszufügung bzw. Vorteilsgewährung als im Gesetz besonders hervorgehobene Angriffswege75 praktisch keinerlei Bedeutung, wenn man stattdessen auch genügen lassen würde, das „irgendwer irgendwem irgendwelche Vorteile“ gewährt – denn es wird sich kaum eine Beeinflussung bzw. Beeinflussungstauglichkeit hinsichtlich einer Betriebsratswahl durch ein Verhalten vorstellen lassen, das nicht von irgendeiner Person als irgendwie vor- oder nachteilhaft empfunden wird. Die im Gesetz genannten Angriffswege würden damit ihre Trennschärfe verlieren, der Tatbestand würde völlig uferlos und damit aus verfassungsrechtlicher Sicht mit Blick auf die Bestimmtheit und die Verhältnismäßigkeit problematisch. Hätte man also auf der Grundlage dieses spontanen Verständnisses sowie der Ermittlungsergebnisse insoweit zu einem Freispruch kommen müssen, so könn___________ 72 So auch – fast paradoxerweise – der Ausgangspunkt des Landgerichts, vgl. LG Nürnberg-Fürth v. 24.11.2008 – 3 KLs 501 Js 1777/08 (n.v.), S. 133. 73 Vgl. Sax, Die Strafbestimmungen des Betriebsverfassungsrechts, 1975, S. 162; vgl. auch a.a.O.: die Wählerbeeinflussung sei eine „notwendige (…) Durchgangsstufe der (…) Wahlbeeinflussung“. 74 Vgl. Dannecker, in: Heinze u. a. (Hrsg.), Gitter-FS, 1995, S. 167 (180 f. – explizit; zustimmend insoweit Rieble, ZfA 2003, 283 [312]); Krumm-Mauermann, Rechtsgüterschutz durch die Straf- und Bußgeldbestimmungen des Betriebsverfassungsgesetzes, 1990, S. 63 ff. (der Sache nach durch Betonung der Parallelen zu §§ 108, 108b StGB und die Wahl der Beispiele); Pasewaldt, ZIS 2007 (www.zis-online.com), 75 (77 – in der Wahl seines Beispiels; die a.a.O. [78] dann aufgeworfene Diskussion um eine Sonderbeziehung zwischen Täter und Begünstigtem und die erforderliche Qualität der Unrechtsvereinbarung betrifft offenbar eine andere Frage); Sax Strafbestimmungen (Fn. 73), S. 161 f. 75 Zur Bedeutung der Angriffswege für die Konturierung von Straftatbeständen und als neben dem geschützten Rechtsgut auch zweites wichtiges Kriterium für die Legitimierung von Strafnormen vgl. grundlegend Staechelin, Strafgesetzgebung im Verfassungsstaat, 1998, S. 90 ff.

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te sich etwas anderes nur dann ergeben, wenn entgegen dem spontanen Zugriff auf die Vorschrift doch jede Bevorzugung von „Irgendjemandem“ ohne Beeinflussung des freien Wählerwillens für ausreichend erachtet wird. Dann nämlich könnte man subsumieren, dass durch die Zahlungen der Firma Siemens der mitangeklagte Unternehmensberater bzw. die AUB bzw. die Personen, die Schulungsangebote der AUB in Anspruch nehmen, Vorteile erreicht haben und dass diese verbesserte Infrastruktur sich mittelbar auf ein Wahlergebnis ausgewirkt haben könnte. Freilich sprechen gegen diese Sichtweise durchschlagende, um nicht zu sagen: praktisch alle Argumente, welche die juristische Methodik kennt.76

c) Der Jedermanns-Delikts-Charakter der Vorschrift als entscheidendes Argument Dass nicht jedes Verhalten, das irgendwie geeignet ist eine Wahl zu beeinflussen, sondern nur eine Einflussnahme auf die freie Willensbildung der (aktiven und passiven) Wahlberechtigten für eine Strafbarkeit genügen kann,77 erhellt am deutlichsten aus der Struktur der Vorschrift als Jedermanns-Delikt. § 119 I Nr. 1 BetrVG richtet sich nämlich nicht etwa nur an den Arbeitgeber, sondern hat jedermann zum Adressaten. Daraus folgt aber zugleich, dass nur solche Handlungen erfasst werden können bzw. sollen (und auch überhaupt nur strafwürdig sind), die für jeden unterschiedslos verboten und strafbar sein sollen. aa) Jedwede derartige infrastrukturelle Unterstützung von betriebsverfassungsrechtlichen Wahllisten durch jedermann unter Strafe stellen zu wollen, wäre aber schlechterdings absurd und dürfte auch von niemandem gewollt werden, wie man sich leicht anhand eines Beispiels deutlich machen kann. So sammelt etwa der „Bildungsfonds der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di)“ – ein ver.di-nahestehender, aber rechtlich selbständiger Verein – zu seiner Finanzierung u.a. Spenden78 und unterstützt mit seinen Erträgen u.a. Bil___________ 76

Ernsthaft in die folgenden Überlegungen einzubeziehende Gegenargumente vermisst man in der Entscheidung des Landgerichts. In der knappen Auseinandersetzung (LG Nürnberg-Fürth v. 24.11.2008 – 3 KLs 501 Js 1777/08 [n.v.], S. 133 f. – insgesamt nur gut eine Seite) mit diesem (vom Gericht selbst in der mündlichen Urteilsbegründung so bezeichneten) „juristischen Neuland“ wird allein eine generelle im Arbeitsrecht vertretene Neutralitätspflicht postuliert, die (an sich wenig problematische) Frage nach einer tauglichen Tathandlung vor dem eigentlichen Wahlverlauf (ebenso zutreffend wie wenig zielführend) bejaht und konstatiert, dass die Wahlberechtigten die AUBKandidaten im Einzelfall falsch eingeschätzt haben könnten (vgl. zu diesem Argument auch Text zu und in Fn. 85). 77 Vgl. hierzu auch nochmals Sax, Strafbestimmungen (Fn. 73), S. 133, 161. 78 Vgl. § 6 der Satzung des Bildungsfonds, zugänglich unter http://nrw.verdi.de/ bildungsfond_e._v./satzung (zuletzt abgerufen am 24.02.2009).

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dungsveranstaltungen zum Mitbestimmungsrecht, die von ver.di durchgeführt werden. Obwohl nicht auszuschließen ist (und von den Veranstaltern am aller wenigsten ausgeschlossen werden wird), dass ein derart geschulter Kandidat bei der anschließenden Betriebsratswahl reüssiert, wird niemand ernsthaft an die Strafbarkeit der Vereinsorgane (oder noch deutlicher: der privaten Spender, die in Kenntnis des Vereinszwecks Spenden an den Bildungsfonds leisten!) denken. bb) Auf den ersten Blick mag man geneigt sein, dieses argumentum ad absurdum mit dem Hinweis auf Art. 9 III GG auflösen zu wollen, da in diesem Fall nicht das Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Verhältnis betroffen sei, sondern die spendenden Personen gleichsam aus der Sphäre der Gewerkschaft selbst kämen. Indes wäre eine solche Argumentation vorschnell und im Ergebnis nicht überzeugend. Von der Frage der Aussagekraft des Art. 9 III GG und des aus dem Koalitionsrecht bekannten Freund-Feind-Schema für das gerade durch ein Zusammenwirken von Arbeitgeber und Arbeitnehmer geprägte Betriebsverfassungsrecht einmal abgesehen,79 wäre es jedenfalls strafrechtsdogmatisch eine ganz unübliche Konstruktion, im Verfassungsrecht einen Rechtfertigungsgrund für generell verbotenes Verhalten sehen zu wollen.80 Vielmehr bildet dieses üblicherweise ein Auslegungskriterium für die Reichweite eines Tatbestandes,81 oder anders gewendet: Das Verfassungsrecht muss das BetrVG nicht einschränken, sondern das BetrVG das Verfassungsrecht ausfüllen. Von daher ist § 119 I Nr. 1 BetrVG – wenn man denn schon verfassungsrechtlich argumentieren will – in einer Weise auszulegen, welche verfassungsrechtlich geschützte Betätigungen schon gar nicht erfasst. Dies ist aber ohne weiteres und näher am nicht nach verschiedenen Tätern differenzierenden Wortlaut dadurch erreichbar, dass man den Anwendungsbereich auf die o.g. Fälle der Wählernötigung und Wählerbestechung beschränkt, an deren Strafwürdigkeit auch etwa für Gewerkschaftsfunktionäre kein Zweifel bestehen dürfte. cc) Ein solches Verständnis des Jedermanns-Delikts entspricht auch deutlich dem Willen des Gesetzgebers. In den Materialien zum BetrVG 1952, in dem die frühere Vorschrift zum heutigen § 119 BetrVG geschaffen wurde,82 wird eine Diskussion geschildert, die gerade durch die in diesem Gesetz erfolgte ___________ 79 Vgl. § 2 I BetrVG: „Arbeitgeber und Betriebsrat arbeiten (…) vertrauensvoll (…) zum Wohl der Arbeitnehmer und des Betriebs zusammen“. 80 Vgl. – auch mit weiteren Nachweisen zur Diskussion – nur LK-Rönnau, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 138 („Sicher ist zunächst, dass die Einordnung eines Verhaltens als Grundrechtsausübung allein nicht zu seiner Rechtmäßigkeit führt.“). 81 Vgl. nochmals LK-Rönnau (Fn. 80), Vor § 32 Rn. 138; ausführlich zur Bedeutung der Grundrechte für die Tatbestandsauslegung Kudlich, JZ 2003, 127 ff.; Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, passim. 82 Vgl. § 78 BetrVG 1952; näher zu dessen Regelungsgehalt Schnorr von Carolsfeld, RdA 1962, 400 ff.

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Erweiterung von einer bloßen Arbeitgeberstrafbarkeit auf ein JedermannsDelikt geführt wurde. Dabei wird vom Gesetzgeber die JedermannsStrafbarkeit mit dem Argument begründet, dass die Vorschrift nunmehr Tathandlungen beschreibe, die strafwürdig seien, „von wem sie auch kommen mögen“.83 Der Gesetzgeber hatte also nur Handlungen vor Augen, die in dieser Form für jedermann und dabei also auch für „gewerkschaftsnahe“ Unterstützer strafbar wären. Denn dass gerade im Zusammenhang mit der Regelung des Betriebsverfassungsrechts vom Gesetzgeber an die Möglichkeit von Handlungen durch Gewerkschaftsmitglieder bzw. gewerkschaftsnahe Personen im Zusammenhang mit der Vorbereitung der Betriebsratswahlen nicht gedacht wurde, erscheint doch mehr als unwahrscheinlich. Dies nicht zuletzt auch mit Blick darauf, dass zum Zeitpunkt der damaligen Beratungen nicht nur selbstverständlich schon Art. 9 III GG Geltung beanspruchte, sondern dass die Koalitionsfreiheit auch bereits in der Art. 159 und 165 WRV geschützt war.

d) Ergänzende Argumente aus Entstehungsgeschichte und Systematik aa) Das somit schon aus der Struktur als Jedermanns-Delikt folgende Ergebnis, dass nur solche Verhaltensweisen pönalisiert sein sollen, die nicht nur bei einer Begehung durch den Arbeitgeber, sondern auch bei der Begehung durch arbeitnehmernahe Personen strafbar sind und dass damit eine Beschränkung auf die Fälle der Wählernötigung und Wählerbestechung vorgenommen werden muss, wird durch weitere Argumente aus der Gesetzgebungsgeschichte bestätigt. In der oben bereits erwähnten Begründung zum Entwurf des BetrVG 1952 heißt es (neben der bereits erwähnten Ausweitung auf ein JedermannsDelikt) lapidar,84 dass die Strafnorm im Übrigen „im wesentlichen (sc. den Strafvorschriften) des Betriebsräte-Gesetzes von 1920 angepasst“ worden sei. Die dortigen §§ 95 und 99 stellten aber unter Strafe, „Arbeitnehmer in der Ausübung des Wahlrechts zu beschränken oder sie deswegen zu benachteiligen“. Auch hier war also die Strafbarkeit offenbar schon auf solche Handlungen beschränkt, die einen Bezug zur Ausübung der Wahlfreiheit haben. bb) Schließlich ist noch einmal auf die schon oben zur Begründung des „spontanen Zugriffs auf den Norminhalt“ erwähnte Systematik hinzuweisen: Die §§ 108 ff. StGB stellen für Wahlen zu den Parlamenten (und im Übrigen auch zu einer Reihe anderer Organe) ausschließlich Wählernötigung oder Wählerbestechung unter Strafe. Eine Wählertäuschung im Übrigen, d.h. im Sinn eines Motivirrtums darüber, was bestimmte Kandidaten wollen, wem sie ___________ 83 84

Vgl. BT-Drucks. I/3585, S. 18. Vgl. BT-Drucks. I/3585, S. 18.

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sich zugehörig fühlen etc., wird dagegen gerade nicht erfasst.85 Dass aber die betriebliche Mitbestimmung stärkeren und deutlich weitergehenden strafrechtlichen Schutz genießen soll als die parlamentarische Demokratie, wäre schlechterdings nicht nachvollziehbar. e) Der „Geist der betrieblichen Mitbestimmung“ als teleologisches Superargument? Etwas anders – und hier schließt sich der Kreis zur Argumentation des BVerfG und auch zum Wirken des Jubilars – könnte sich allenfalls daraus ergeben, dass man in dem vorliegend vorgeworfenen Verhalten gleichsam eine noch viel stärkere Form der latenten Einflussnahme auf Betriebsratswahlen und Betriebsratsarbeit und mithin – wie in der Presse mitunter schlagwortartig verkürzt bezeichnet – einen „Verstoß gegen den Geist des BetrVG“ bzw. gegen „elementare Grundsätze des Bestimmungsrechts“ sieht. Dies könnte auf den ersten Blick als Argumente im Rahmen einer teleologischen Auslegung herangezogen werden oder aber einen Hinweis auf eine Gesetzesumgehung des § 119 I Nr. 1 BetrVG („keine Einflussnahme auf die Willensbildung der Wähler, sondern Schaffung einer Infrastruktur, in welcher die Wähler potentiell selbst einen entsprechenden Willen bilden“) enthalten. Aber schon ganz unabhängig von der Frage, ob man tatsächlich von einer Erschütterung der „Grundfesten“ der Mitbestimmung sprechen oder die Metapher eines „Trojanischen Pferdes“ bemühen kann, da das spätere Abstimmungsverhalten der Gewählten gerade nicht beeinflusst werden sollte, ist es nicht zuletzt vor dem Hintergrund der oben dargestellten Rechtsprechung des BVerfG keinesfalls Aufgabe der teleologischen Auslegung, als gleichsam „punitiv wirkendes Superargument“ eine unspezifische und konturlose Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Vorschrift zu postulieren, nur weil ein weiterer Anwendungsbereich potentiell auch mehr strafrechtlichen Schutz bieten kann. Hier hat das BVerfG überzeugend klar gestellt, dass Art. 103 II GG gerade das Ziel hat, einer „teleologischen Argumentation zur Füllung empfundener Strafbarkeitslücken entgegenzuwirken“,86 und zwar auch dann, „wenn (…) besonders gelagerte Einzelfälle aus dem Anwendungsbereich eines Strafgesetzes herausfallen, obwohl sie ähnlich strafwürdig erscheinen mögen wie das pönalisierte Verhalten. Es ist dann Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, ob er diese Strafbarkeitslücke bestehen lassen oder durch eine neue Regelung schließen will“87. ___________ 85 Vgl. nur Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 108a Rn. 1; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 108a Rn. 1; LK-Bauer/Gmel, 12. Aufl. 2007, § 108a Rn. 2; Schönke/ Schröder-Eser, 27. Aufl. 2006, § 108a Rn. 2. 86 Vgl. BVerfG NJW 2008, 3627 (3629 – Rn. 27). 87 Vgl. BVerfG NJW 2007, 1666 (Rn. 12).

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Wendet man dies auf unseren Sachverhalt an, scheint das Ergebnis klar zu sein: Das BetrVG gebietet ein Minimum an Zusammenarbeit; es verbietet bestimmte Formen der Einflussnahme, die im konkreten Fall nicht vorlagen. Darüber hinaus enthält es keine Aussagen, so dass eine teleologische Überdehnung der bestehenden Strafvorschriften lege artis nicht möglich ist. Das deckt sich auch vollständig mit den Überlegungen des Jubilars zur Gesetzesumgehung. Wenn man denn in dem fraglichen Verhalten (überhaupt) eine Umgehung des § 119 I Nr. 1 BetrVG sehen wollte, so wäre diese eine solche auf Tatbestandsebene, bei welcher das „Rechtsinstitut Gesetzesumgehung (…) am strafrechtlichen Analogieverbot“ scheitern muss. „Dessen wesentlicher Inhalt besteht darin, Strafbegründung (…) im Wege einer Ausweitung oder Erstreckung von Tatbestandsmerkmalen durch entsprechende Anwendung ausnahmslos für unzulässig zu erklären. (…) Die Anwendung des Instituts (sc.: Gesetzesumgehung) auf Tatbestandsebene ist also unzulässig. Auch die besondere Strafwürdigkeit und Gefährlichkeit der Umgehungsfälle (…) kann eine Ausnahme vom Analogieverbot nicht erzwingen“.88 Dass es sich aber bei der Subsumtion einer hier im Raume stehenden bloßen „infrastrukturellen Unterstützung“ unter § 119 I Nr. 1 BetrVG um eine solche Erweiterung über den Wortlaut hinaus handeln würde, wird auch gerade dort deutlich, wo diese für möglich gehalten wird.89 Die in der arbeitsrechtlichen Literatur als Referenzfundstelle für ein weites Verständnis der Verbote des § 119 I Nr. 1 BetrVG herangezogene Entscheidung des LAG Hamburg hat (in einem Fall zur Finanzierung von Wahlkampfwerbung) ausdrücklich betont, dass das Gericht dem Arbeitgeber spezielle Neutralitätspflichten „über die speziellen Verbote des § 20 BetrVG90 hinaus“ auferlegen will.91 Eine solche Anwendung des Gesetzes über seine „speziellen Verbote“ hinaus, mag vielleicht im Arbeitsrecht möglich sein – ganz sicher jedoch nicht im Strafrecht.92 Dort „muss alles Verhalten, das, mag es noch so rechtswidrig und schuldhaft sein, ___________ 88

Vgl. Stöckel, Gesetzesumgehung (Fn. 2), S. 106. Eine Erweiterung, auf welche sich im zugrunde liegenden Verfahren im Übrigen auch die Staatsanwaltschaft und das Gericht stützten, ohne dabei das im Wirtschaftsstrafrecht durchaus gängige Problem einer möglichen „Normspaltung“ (vgl. dazu Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht AT, 2 Aufl. 2007, Rn. 111 ff., 124 f.) zu diskutieren, das selbst dann einer Übertragung ins Strafrecht entgegenstehen könnte, falls man das Ergebnis arbeitsrechtlich noch durch Auslegung begründen zu können meint. 90 § 20 BetrVG enthält eine mit § 119 I Nr. 1 BetrVG nahezu wortgleich formulierte Verhaltensnorm; oder anders formuliert: § 119 I Nr. 1 BetrVG sichert die Verbote des § 20 BetrVG im Wesentlichen strafrechtlich ab. 91 Vgl. LAG Hamburg AiB 1998, 701 f. 92 Vgl. auch Rieble, ZfA 2003, 283 (295): eine etwaige arbeitsrechtlich begründete generelle Neutralitätspflicht sei jedenfalls nicht durch § 119 BetrVG strafrechtlich sanktioniert. 89

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nicht in die gesetzlich geprägten Typen einreihbar ist – das Atypische –, ein nicht strafbares Verhalten bleiben“.93 f) Ergebnis Damit dürfte feststehen, dass im vorliegenden Fall eine Subsumtion des Verhaltens unter § 119 I Nr. 1 BetrVG jedenfalls unrichtig ist.94 Wäre sie damit aber zugleich ein Verstoß gegen Art. 103 II GG? Nach einem verbreiteten traditionellen Verständnis wohl nicht, da – wie eingangs gezeigt – der weit gefasste Wortlaut der Vorschrift ein derartiges Verständnis zuzulassen scheint und zur Begründung des (wenngleich dann doch relativ klaren) Ergebnisses auch ein Rückgriff auf andere Auslegungsmethoden erforderlich ist. Auf den ersten Blick liegt der Einwand nahe, mit der Betrachtung solcher Fälle als Verstoß gegen Art. 103 II GG würde ein erheblicher Teil der fachgerichtlichen Auslegungshoheit gleichsam an das BVerfG gehen. Vorzugswürdig erschiene es mir hier jedoch gleichwohl nicht nur ein unrichtiges Ergebnis, sondern zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 II GG anzunehmen, weil die entsprechende Auslegung aufgrund der Vielzahl der klaren Argumente, die oben aufgeführt worden sind, wohl tatsächlich „unvertretbar“ ist. Dass eine isolierte Betrachtung des Wortlautes, der hier zumal völlig konturlos fast jedes Verhalten umfassen könnte, auch den genannten Fall beinhalten könnte, steht dem nicht entgegen, denn: „Auch innerhalb des möglichen Wortsinns darf die Auslegung nicht weitergehen, als es Zweck und Sinnzusammenhang der Norm zulassen“.95

___________ 93

Vgl. Stöckel, Gesetzesumgehung (Fn. 2), S. 106 f. unter Zitat von Beling, Die Lehre vom Tatbestand, 1930, S. 2. 94 Wie der BGH dies in seiner zum Zeitpunkt der Manuskripterstellung noch zu erwartenden Revisionsentscheidung sehen wird (vgl. nochmals Fn. 64), ist naturgemäß noch offen. Da der Vorwurf der Steuerhinterziehung zu Gunsten der Siemens AG auch noch aus weiteren, hier nicht interessierenden Gründen auf tönernen Füßen steht, erscheint noch nicht einmal sicher, ob der 1. Strafsenat sich mit dieser Frage befassen muss – sollte er es aber, gibt es zur festen Überzeugung des Verfassers aus den hier erörteten Gründen nur ein überzeugendes Ergebnis. 95 Vgl. BVerfGE 92, 1 (20), sowie dazu auch bereits Text und Nachweise zu Fn. 16 ff.; zu ergänzen bleibt, dass diese Sichtweise sich also offenbar gerade auch in neueren (nach dem genannten Beitrag Kuhlens erschienenen) Entscheidungen abzeichnet.

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IV. Fazit Unsere kleine Studie hat gezeigt, dass die Überlegungen in Heinz Stöckels Dissertation zeitlos bedeutsame Probleme betreffen und dabei die von ihm angestellten Gedanken zum Rechtsinstitut der „Gesetzesumgehung“ im Strafrecht wichtige Berührungspunkte zu den allgemeinen verfassungsrechtlichen und methodischen Grundlagen der strafrechtlichen Rechtsanwendung haben. Die von Stöckel betonten beiden Grenzen des (in seiner Terminologie) „Wortsinns“ und „Gesetzessinns“ können fruchtbar gemacht werden, wenn man einer Tendenz in der neueren Rechtsprechung des BVerfG folgend (und unter Berücksichtigung von in der Sprachwissenschaft nahezu unbestrittenen Grundannahmen über den normativen Gehalt natürlicher Sprache auch ganz folgerichtig) davon ausgeht, dass die „Wortlautgrenze“ nicht durch die Sprache vorgegeben ist, sondern erst durch die Sprachverarbeitung und damit durch die Auslegung (unter Berücksichtigung aller Auslegungskriterien) gezogen wird. Unser kleiner aktueller Beispielsfall aus dem früheren örtlichen Wirkungskreis des Jubilars hat dabei deutlich gemacht, dass die exakte Arbeit an der Bestimmung dieser Grenze auch dort Ertrag liefern kann, wenn man im Einzelfall über das Ergebnis „Unvertretbarkeit einer Auslegung und damit Verstoß gegen Art. 103 II GG“ keine Einigkeit erzielen kann – denn dann werden auf diese Weise jedenfalls die wesentlichen Kriterien zur Bewertung eines Auslegung als geoder misslungen gesammelt. Das beschriebene Vorgehen hat freilich nicht nur zur Folge, dass gegebenenfalls den Alltagssprachgebrauch überschreitende Verwendungsweisen sich noch innerhalb einer so verstandenen „Wortlautgrenze“ bewegen können, sondern dass insbesondere bei diffus und unspezifisch formulierten Normtexten eine Wortlautgrenze auch über das Kriterium „Verständlichkeit einer bestimmten Verwendungsweise“ hinaus durch andere Auslegungskriterien konturiert werden kann. Das in dieser Einsicht und damit auch in Stöckels Werk zur Gesetzesumgehung enthaltene „rechtsstaatliche Feingefühl“ steht einem exponierten Strafverfolger gut zu Gesicht, wie es der Jubilar in seiner Funktion als Generalstaatsanwalt war. Für sein Engagement in seiner zweiten – und noch fortwirkenden – Funktion als Honorarprofessor am Erlanger Fachbereich Rechtswissenschaft seien Heinz Stöckel die vorangegangenen Überlegungen dankbar zugewidmet.

Besonders hohe Grenzen für den Strafgesetzgeber Von Kristian Kühl

I. Zur Erläuterung des Themas Einer Erläuterung bedarf schon der Begriff der „Grenze“, denn er ist kein juristischer oder gar rechtswissenschaftlicher terminus technicus. Der Sache nach geht es im Folgenden um Grenzen, die der Gesetzgeber zu beachten hat, wenn er mit Strafen und Strafgesetzen in die Freiheit der Bürger eingreift. Strafen sind die einschneidendsten Sanktionen, die der Staat gegenüber seinen Bürgern bereithält und einsetzt. Schon die Strafe als solche braucht deshalb Begrenzungen. Das ist dem Strafgesetzgeber durch den Verfassungsgesetzgeber insoweit abgenommen worden, als letzterer in Art. 102 GG festgeschrieben hat: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“. Nach Begrenzungen wird aber auch bei den übrigbleibenden Strafen – der Freiheitsstrafe und der Geldstrafe – häufig gerufen. Besonders oft bei der lebenslangen Freiheitsstrafe, die immer mal wieder durch einen qualifizierten Ruf in Form einer Verfassungsbeschwerde auf den Prüfstand der Verfassung gestellt wird. Ein solcher Ruf mittels einer Verfassungsbeschwerde hat vor nicht allzu langer Zeit zur Eliminierung einer noch gar nicht so alten Strafe – der Vermögensstrafe nach § 43a StGB a.F. – geführt.1 Aber nicht nur die einschneidende Sanktion „Strafe“ bedarf der Begrenzung, sondern auch der Bereich des Strafbaren, der durch Strafgesetze festgelegt wird. Eine besonders wichtige Grenze wird auch diesbezüglich schon im Grundgesetz errichtet, wenn es in Art. 103 Abs. 2 GG heißt, dass „die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt“ sein muss. Auch darin kann wieder ein „Ruf“ gesehen werden: Der Gesetzgeber ist bei der Schaffung strafbewehrter Verbote und Gebote aufgerufen, die „Strafbarkeit“ im Sinne des Strafbarkeitsbereichs selbst („gesetzlich“) festzulegen und damit das strafbare Verhalten zu begrenzen. Der Richter soll erst innerhalb dieser Grenzen rechtsanwendend tätig werden. In mehr oder weniger enger Verbindung mit verfassungsrechtlichen Vorgaben stehen weitere Grenzen, die der Gesetzgeber beim Erlass von Strafgesetzen zu beachten hat. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier nur zwei grundsätzlich anerkannte Prinzipien genannt. Da ist zum einen das Subsidiaritäts___________ 1

Urteil des BVerfG BGBl I 2002, 1340 = BVerfGE 105, 135.

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Kristian Kühl

prinzip, das dem Strafgesetzgeber dann eine absolute Grenze setzt, wenn das zu „bekämpfende“ Verhalten mit milderen Mitteln ebenso wirksam wie mit Strafen „bekämpft“ werden kann. In Betracht kommt dafür vor allem das Ordnungswidrigkeitsrecht, das dem Strafrecht in vielen Bereichen wie etwa dem Presserecht, welches sowohl den Adressaten dieser Festschrift als auch den Autor dieses Festschriftbeitrags beschäftigt und auch schon punktuell zusammengebracht hat, vom Gesetzgeber zur Seite gestellt wird. Zum anderen soll die Fragmentarietät des Strafrechts hervorgehoben werden. Auch wenn man dieser den Rang eines Prinzips nicht zugesteht, so stößt doch der Ruf, das Strafrecht möge seiner „fragmentarischen Natur“ treu bleiben, auf breite Unterstützung. Das gilt zumindest „im Prinzip“. Wenn es aber um die „tägliche Arbeit“ geht – dass es diese für den Strafgesetzgeber überhaupt gibt, ist in einem fragmentarischen und subsidiären Strafrecht schon ein erstaunlicher Umstand, von dessen Realität sich aber jeder interessierte Bürger auf der Homepage des Bundesjustizministeriums überzeugen kann (dem Kommentator, also sowohl dem Empfänger dieser Festschrift als auch dem Verfasser dieses Festschriftbeitrags, verschafft es jedenfalls „tägliche Arbeit“) –, so steht das Schließen von angeblichen oder wirklichen Lücken im Vordergrund. Die Grenzen für den Bereich des Strafbaren ergeben sich aber nicht nur aus der Verfassung (z. B. aus Art. 103 Abs. 2 GG) und aus Prinzipien mit verfassungsrechtlichem Hintergrund (Fragmentarietät und Subsidiarität), sondern auch aus kriminalpolitischen Prinzipien. Als ein solches Prinzip galt lange und gilt für viele heute noch das sog. Rechtsgutskonzept. Danach sollten nur solche Strafvorschriften legitim sein, die ein Rechtsgut schützen (wollen). Nicht legitim hingegen sollen etwa Vorschriften sein, die reine Moralwidrigkeiten bei Strafe verbieten. So erfolgreich dieses Rechtsgutkonzept auch bei der Reform des Sexualstrafrechts war – aus Verbrechen gegen die Sittlichkeit wurden im Dreizehnten Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuches Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung –, so zweifelhaft ist seine Fortgeltung als Prinzip, d. h. als der Grundsatz, wonach hinter jeder Strafvorschrift zur Begründung ihrer Legitimität ein zu schützendes Rechtsgut stehen muss. Da die Zweifel jetzt auch von der höchsten richterlichen Instanz – dem Bundesverfassungsgericht – kommen,2 müssen sie beachtet werden. Zu den Regelungsgegenständen des Strafgesetzgebers gehört aber nicht nur der Bereich des Strafbaren. Außer für das materielle Strafrecht hat er auch dessen Umsetzung durch das formelle Strafrecht zu regeln. Auch für dieses Rechtsgebiet – das Strafprozessrecht – gilt es, Grenzen zu beachten. Eine solche Grenze ergibt sich etwa aus der Unschuldsvermutung, die sich ausdrücklich in Art. 6 Abs. 2 EMRK findet, aber auch dem Rechtsstaatsprinzip des Grundge___________ 2

BVerfG NJW 2008, 1137 ff.

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setzes zu entnehmen ist.3 Sie verlangt, das Strafverfahren so zu gestalten, dass auch ein Unschuldiger sich fair behandelt fühlt und sich keinen Vorverurteilungen ausgesetzt sieht. Deshalb muss der Gesetzgeber bei der Formulierung von Vorschriften der Strafrechtsordnung darauf achten, dass sie den Rechtsanwender nicht zu Vorverurteilungen „einladen“. Solche Vorverurteilungen und damit mögliche Verletzungen der Unschuldsvermutung können auch bei Anwendung des materiellen Strafrechts vorkommen; so etwa beim Widerruf der Strafaussetzung nach § 56 f StGB, wenn dieser auf die Begehung einer Straftat gestützt wird, ohne dass diese Straftat schon rechtskräftig festgestellt wurde.4 Soweit zur Erläuterung des Begriffs „Grenzen“ in der Überschrift dieses Festschriftbeitrags. Die nähere Kennzeichnung dieser „Grenzen“ als „hohe“ ist nach der Erläuterung des Begriffs „Grenzen“ nicht mehr schwierig. Die „Höhe“ dieser Grenzen ergibt sich bei den meisten der angesprochenen Grenzen schon aus ihrem Verfassungsrang. Die dadurch erreichte „Höhe“ könnte noch durch eine rechtsphilosophische Erwägung gesteigert oder zumindest gestützt werden. Im Strafrecht geht es wie in vielen Rechtsgebieten um die Setzung von Grenzen für die Freiheit des einen zum Schutz der Freiheit der anderen. Die Umsetzung dieses allgemeinen Rechtsgesetzes kantischer Prägung verlangt zum einen, dass der Schutz von Opfern durch Strafrecht nur angebracht ist, wenn deren äußere Freiheit bedroht oder angegriffen wird. So ist etwa der Umstand, dass andere in ihrer äußeren Freiheit noch nicht dadurch bedroht oder gar angegriffen sind, dass jemand eine bestimmte Gesinnung hat oder diese äußert. In dieser Hinsicht unterstützt das auf die äußere Freiheit von jedermann fixierte allgemeine Rechtsgesetz das oben schon erwähnte sog. Rechtsgutskonzept und im speziellen Beispielsfall der Gesinnungs-Äußerungsdelikte, wie z. B. das von § 130 Abs. 3 StGB als Volksverhetzung erfasste Auschwitzleugnen, die Meinungsäußerungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Nicht ohne Grund ist deshalb die Strafbarkeit des Auschwitzleugnens als Gesinnungsäußerung an weitere Voraussetzungen wie etwa die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens gebunden. Ob § 130 Abs. 3 StGB durch diese Einschränkung zu einer legitimen Strafvorschrift geworden ist, mag man bezweifeln, vor allem, wenn man sieht, welch geringe Anforderungen die Rechtssprechung an die Eignung zur Störung des öffentlichen Friedens stellt.5 Immerhin lässt diese Eignungsklausel erkennen, dass sich der Strafgesetzgeber bewusst ist, auf welch unsicherem Boden er sich bei der Inkriminierung von GesinnungsÄußerungs-Delikten bewegt. ___________ 3 BVerfGE 22, 254 (265); Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, Anh. 4, Rn. 12 zu Art. 6 MRK. 4 Zum Streitstand vgl. Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 56f Rn. 3. 5 Näher Kühl, Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, S. 484 ff.

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Zum anderen verlangt die Umsetzung des freiheitsbezogenen allgemeinen Rechtsgesetzes die Handlungsfreiheit des potentiellen Täters zu beachten. Mit diesem Wechsel der Perspektive sind freilich zunächst keine neuen Erkenntnisse verbunden, denn was aus Opferperspektive noch keine Bedrohung ihrer äußeren Freiheit und keinen Angriff darauf darstellt, ist aus „Täter“-Perspektive kein strafwürdiger Übergriff in die Freiheitssphäre eines anderen. Verbleibt der Täter deshalb in seiner Freiheitssphäre, so besteht – und da kommen wir doch zu einer „neuen Erkenntnis“ – kein Anlass, ihm bestimmte Handlungen zu verbieten. Insofern ist der Suizid nicht nur – wie der Bundesgerichtshof in Strafsachen meint6 – nicht strafbar, sondern schon nicht rechtswidrig.7 In wessen Recht soll denn durch einen Suizid eingegriffen werden? Die in der Überschrift dieses Festbeitrags angesprochenen „Grenzen“ werden dort aber nicht als „hohe“, sondern als „besonders hohe“ bezeichnet. Erläuterungsbedürftig ist deshalb das Besondere dieser Grenzen. Damit sind besonders strenge Anforderungen gemeint, die an Strafvorschriften im Vergleich zu Vorschriften aus anderen Rechtsgebieten gestellt werden. Ins Auge springend ist dabei wieder der bereits angesprochene Art. 103 Abs. 2 GG, der besondere Anforderungen an Strafvorschriften stellt. Mit gutem Grund – wenn auch gesetzestechnisch überflüssig – wird Art. 103 Abs. 2 GG in § 1 des Strafgesetzbuches wortgleich wiederholt. So gilt etwa das dort enthaltene Rückwirkungsverbot – die gesetzliche Bestimmung der Strafbarkeit muss erfolgt sein, „bevor die Tat begangen wurde“ – nur für Vorschriften, die Strafen näher regeln, und nicht für Vorschriften, die sich auf andere Sanktionen beziehen. Deshalb konnte die früher geltende absolute Befristung der Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre (§ 67d Abs. 3, 4 StGB a.F.) „rückwirkend“ gestrichen werden. Vorausgesetzt ist dabei, dass es sich bei der Sicherungsverwahrung trotz ihrer Strafähnlichkeit wirklich und nicht nur nach der Klassifizierung im Strafgesetzbuch um eine Maßregel der Sicherung und nicht um eine „verkappte“ Freiheitsstrafe handelt. Diese Voraussetzung festzustellen, bereitete nicht nur dem Bundesverfassungsgericht Schwierigkeiten,8 sie fordert vor allem ein klares Kriterium für das „Besondere“ von Strafen im Vergleich zu sonstigen Sanktionen wie etwa Maßregeln. Dass diese Maßregeln im Strafgesetzbuch stehen, macht sie noch nicht zu Strafvorschriften bzw. zu die „Strafbarkeit“ im Sinne von Art. 103 Abs. 2 GG bzw. § 1 StGB betreffenden Vorschriften. Dieselbe Schwierigkeit stellte sich bei der Vermögensstrafe nach § 43a StGB a. F. Wenn es sich wirklich um eine Strafe und nicht um eine konfiskato___________ 6

BGHSt 46, 279 (285) mit zu Recht krit. Anm. Sternberg-Lieben, JZ 2002, 154. Näher Kühl, in: Byrd/Hruschka/Joerden (Hrsg.), Recht und Sittlichkeit bei Kant, JRE Bd. 14 (2006), 243. 8 BVerfGE 109, 133 ff. = NJW 2004, 739 (744) mit krit. Bespr. Kinzig, NJW 2004, 911 (913); krit. auch Satzger, Jura 2006, 746 (752). 7

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rische Maßnahme gehandelt hätte, hätte sie an der „besonderen“ Anforderung des Art. 103 Abs. 2 GG bzw. § 1 StGB gemessen werden müssen, die man Bestimmtheitsgrundsatz – „die Strafbarkeit“ muss „gesetzlich bestimmt“ sein – nennt. Das hat das Bundesverfassungsgericht so gesehen,9 was dann zur Aufhebung der nicht bestimmt genug geregelten Vorschrift des § 43a StGB a. F. geführt hat. Bestimmtheitsanforderungen werden zwar auch an nicht-strafrechtliche Vorschriften gestellt, doch sind die Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG „besonders hohe“. Schließlich bedarf noch der in der Überschrift verwendete Begriff des „Strafgesetzgebers“ der Erläuterung, denn einen besonderen „Strafgesetzgeber“ sieht das Grundgesetz nicht vor. Gemeint ist der Gesetzgeber, der gerade mit Strafvorschriften aus dem materiellen oder formellen Strafrecht beschäftigt ist. Er ist an die bereits erläuterten „besonders hohen Grenzen“ gebunden.

II. Die Strafe als Grund für und Adressat von Grenzen Bevor auf einzelne Grenzen für den Strafgesetzgeber eingegangen werden kann (sogleich unter III.), muss der Grund für die besonders hohen Grenzen angegeben werden. Eine besondere Grenze für den Strafgesetzgeber kann sich nur aus der Besonderheit des Rechtsgebiets „Strafrecht“ im Vergleich zu anderen Rechtsgebieten ergeben. Solche Besonderheiten aber gibt es mehrere. So etwa der empirisch belegbare Umstand, dass das Strafrecht in den Medien eine besonders große Rolle spielt. Das geht von der Kriminalberichterstattung in der Tageszeitung über Kriminalserien im Fernsehen bis hin zu Reality-Gerichtsshows à la Barbara Salesch. Mit dieser Rolle sieht sich aber das wirkliche Strafrecht nur selten treffend erfasst. Zu sehr dominiert die Gewaltkriminalität, während es im „wirklichen Leben“ öfter um Betrügereien und Diebstähle kleinerer und mittlerer Art geht, was ein Blick in die Kriminalstatistiken jedermann offenbart. Doch die wirkliche Kriminalitätslage ist kein Unterhaltungsthema und die meisten Medien müssen ihre Konsumenten unterhalten, weil sie sonst nicht überleben könnten. Deshalb nutzen Appelle an die Medien, die Kriminalität und ihre Bewältigung durch Staatsanwälte und Strafrichter realistischer zu schildern, nichts. Dennoch gibt es auch Grenzen für die Kriminalberichterstattung, auf deren Einhaltung das Strafrecht bestehen muss. Dazu zählen vor allem die Unschuldsvermutung und das Resozialisierungsinteresse.10 Während die Unschuldsvermutung Vorverurteilungen durch die Medien, die schon durch eine identifizierende Berichterstattung über strafrechtliche (Ermittlungs-) Verfahren erfolgen können, verbietet, fordert das Resozialisierungsinteresse ___________ 9

BVerfG (Fn. 1). Näher Kühl, in: Britz u.a. (Hrsg.), Müller-Dietz-FS, 2001, S. 401 ff.

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etwa, die bevorstehende Entlassung eines Straftäters aus dem Strafvollzug nicht dadurch zu belasten, dass „sein Fall“ in den Medien wieder „aufgerollt“ wird. So belegbar das Medieninteresse am Strafrecht auch ist, es trifft nicht den „Kern des Strafrechts“. Diesem Kern nähert man sich am besten dadurch, dass man den ersten Wortteil des Wortes „Strafrecht“ näher betrachtet: die Strafe. Über sie ist schon oben (unter I.) gesagt worden, dass sie die einschneidendste Sanktion ist, die der Staat gegenüber seinen Bürgern bereithält und bei Verletzung von strafbewehrten Vorschriften auch einsetzt. Dass eine solch „scharfe Waffe“ überhaupt angedroht wird und zum Einsatz kommt, muss gut begründet werden. Diese Begründung und Rechtfertigung leisten die sog. Straftheorien. Dabei handelt es sich nicht um spekulative, realitätsferne Theorien, sondern um erkennbare Bestandteile des positiv geltenden Strafrechts. So ist etwa die repressive Schuldausgleichstheorie – pejorativ auch Vergeltungstheorie genannt – leicht in § 46 Abs. 1 Satz 1 StGB zu erkennen: „Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe“. Gemeint ist damit, dass die Strafe in Art und Höhe zu der auf die Tat bezogenen Schuld des Täters in einem gerechten Verhältnis nach dem Prinzip der Gleichheit stehen muss.11 Der Totschlag verdient deshalb mehr Strafe als der Diebstahl, was in den Strafrahmen der §§ 212 Abs. 1, 242 Abs. 1 StGB auch deutlich zum Ausdruck kommt. Die auch noch bei den repressiven Straftheorien einzuordnende Sühnetheorie erlebt nach langen Zeiten als theoretisches Konstrukt eine praktische Renaissance. Schon § 46 Abs. 2 Satz 2 StGB nennt als einen bei der Bemessung der Strafe zu berücksichtigenden Umstand „das Bemühen des Täters, einen Ausgleich mit dem Verletzten zu erreichen.“ Das wiederholt und bekräftigt § 46a StGB, der u.a. den „Täter-Opfer-Ausgleich“ mit Strafmilderung bis hin zum Absehen von Strafe honoriert. Bei der gesetzlichen Verankerung dominieren aus der Gruppe der präventiven Theorien die spezialpräventiven Theorien und innerhalb dieser Teilgruppe die Besserungs- oder Resozialisierungstheorie. Besonders deutlich kommt sie in § 2 Satz 1 StVollzG zum Ausdruck. Dort wird das „Vollzugsziel“ so umschrieben: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen.“ In abweichender, die Erziehung betonender Formulierung, aber auch eindeutig die Besserungs- oder Resozialisierungstheorie aufnehmend, umschrieb § 91 Abs. 1 JGG a.F. die Aufgabe des Jugendstrafvollzugs so: „Durch den Vollzug der Jugendstrafe soll der Verurteilte dazu erzogen werden, künftig einen recht___________ 11 Vgl. Kühl, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie für das Strafrecht, 2001, S. 32 und ders., Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, S. 527 sowie Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 46 Rn. 1.

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schaffenen und verantwortungsbewussten Lebenswandel zu führen.“ Inzwischen haben die Länder die Regelung des Jugendstrafvollzugs übernommen und Jugendstrafvollzugsgesetze erlassen, in denen die Aufgaben dieses Vollzugs umschrieben werden. In § 21 des baden-württembergischen Jugendstrafvollzugsgesetzes – JStVollzG – 2007 formuliert der Gesetzgeber diese Aufgabe als „Erziehungsauftrag“: „Im Vollzug der Jugendstrafe sollen die jungen Gefangenen dazu erzogen werden, in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen“. Etwas versteckter ist der Besserungs- oder Resozialisierungsgedanke auch im Strafgesetzbuch enthalten und etwa in § 47 StGB – kurze Freiheitsstrafe nur in Ausnahmefällen – und in § 56 StGB – Strafaussetzung zur Bewährung – zu erkennen. Diese Vorschriften dienen der Besserung/ Resozialisierung indirekt dadurch, dass die Verschlechterung/Entsozialisierung durch „Herausreißen“ des Straftäters aus seinem normalen Lebensumfeld möglichst vermieden werden soll, d.h. sie wollen die erkannten schädlichen Folgen des Vollzugs vermeiden. Das hat allerdings Grenzen, die u.a. aus der spezialpräventiven Theorie der Abschreckung stammen. Eine kurze Freiheitsstrafe wird trotz ihrer schädlichen Wirkung nach § 47 Abs. 1 StGB doch verhängt, wenn dies „zur Einwirkung auf den Täter … unerlässlich“ ist. Die Strafaussetzung zur Bewährung wird nicht gewährt, wenn nicht zu erwarten ist, dass der Verurteilte sich schon die Verurteilung „zur Warnung“ dienen lassen wird (§ 56 Abs. 1 Satz 1 StGB). In diesen Fällen erfüllt die Strafe eine „Denkzettel“-Funktion und ist als „Schuss vor den Bug“ gedacht. Auch die dritte und letzte spezialpräventive Theorie – die Sicherungstheorie – findet im positiv geltenden Recht Ausdruck. Am deutlichsten in § 2 Satz 2 StVollzG, wonach der Vollzug der Freiheitsstrafe „auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten“ dient. Deutlich und politisch korrekt umschreibt auch § 2 Satz 1 JStVollzG Baden-Württemberg diese von ihm sog. kriminalpräventive Aufgabe des Jugendstrafvollzugs: „Sie liegt im Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Straftaten junger Menschen.“ Auch wenn durch die „Einschließung“ die Allgemeinheit geschützt werden soll, handelt es sich doch um die Verpositivierung eines spezialpräventiven Zwecks, denn es wird auf den individuellen Täter eingewirkt. Einwirkungen auf die Gesellschaft bzw. die Allgemeinheit bezwecken die generalpräventiven Theorien. Während die negative Variante die Abschreckung potentieller Straftäter zum Ziel hat, will die positive Variante die „Rechtschaffenen“ in ihrer Rechtstreue bestärken, in moderner Sicht die durch die Straftat erschütterten Strafnormen stabilisieren. Beide Varianten erlangen gesetzliche Gestaltung durch die Formel von der „Verteidigung der Rechtsordnung“. Wenn diese es erfordert, werden auch erkanntermaßen schädliche, kurze Freiheitsstrafen verhängt (§ 47 Abs. 1 StGB) und die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten wird „nicht ausgesetzt“ (§ 56 Abs. 3 StGB).

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Insgesamt bieten die Straftheorien in ihrer Kombination eine gute Begründung und eine akzeptable Rechtfertigung der Strafe als Rechtsinstitut besonderer Prägung. Die repressiven Theorien leisten den erforderlichen Bezug zur zurückliegenden, schuldhaft begangenen Straftat. Ohne diesen Bezug verlören die in die Zukunft gerichteten präventiven Theorien jegliche Begrenzung. Das gilt vor allem für die Generalprävention, die zudem den Mangel aufweist, trotz ihres Anspruchs empirisch nicht begründet zu sein. Die häufig erhobene Forderung nach Verschärfung der Strafen ist empirisch weder – negativ – mit der Abschreckungswirkung noch – positiv – mit der Beeinflussung des Normbewusstseins zu begründen. Dennoch verspricht sich der Gesetzgeber bei der Schaffung eines neuen Straftatbestandes oder bei der Verschärfung der Strafandrohung in einem schon vorhandenen Straftatbestand solche Wirkungen. Es ginge allerdings zu weit, mangels nachweisbarer generalpräventiver Wirkungen von Strafvorschriften ganz auf diese zu verzichten. Ein Rechtssystem ohne Strafrecht wäre für die Freiheit des Einzelnen zu riskant, um es zu erproben. Mit den Straftheorien ist zwar eine Begründung für die einschneidende Sanktion der Strafe gelungen, es ist aber noch nicht der Grund für die besonders hohen Grenzen, die der Strafgesetzgeber zu beachten hat, gefunden worden. Dieser Grund liegt aber auch in der Strafe, genauer in ihrem Wesen. Im Gegensatz zu den die Begründung der Strafe leistenden Straftheorien ist dieses Wesen weniger bekannt. Als erfahrener Prüfer muss man feststellen, dass zwar die Frage nach der Begründung der Strafe von nahezu allen Kandidaten mehr oder weniger vollständig mit den Straftheorien beantwortet wird. Die Frage nach dem Wesen der Strafe aber löst anhaltendes Schweigen aus. Das ändert sich wenig, wenn man die Frage dahingehend präzisiert, dass man nach dem Unterschied von Strafen und sonstigen Sanktionen des Strafrechts wie z. B. der Maßregel der Sicherungsverwahrung nach § 66 StGB oder des (Erweiterten) Verfalls nach §§ 73, 73d StGB fragt. Dadurch hat man die Wesens-Frage zwar ihres scheinbar metaphysischen Charakters entkleidet und auf den Boden des positiv geltenden Rechts heruntergeholt, die Antworten aber bleiben immer noch häufig unzulänglich. So etwa, wenn die Vergeltung, also eine Straftheorie, genannt wird. Dem Wesen der Strafe kommt die Antwort näher, die hinsichtlich der Strafe hervorhebt, dass nur sie – im Gegensatz etwa zu Sicherungsverwahrung oder Verfall – die Schuld des Täters voraussetzt. Dieser sog. Schuldgrundsatz ist aber eher eine Voraussetzung bzw. Grenze der Sanktion „Strafe“, der auch noch eine hohe Grenze darstellt, weil er Verfassungsrang hat. Bedeutung für das Wesen der Strafe erlangt der Schuldgrundsatz aber nur insofern, als er es ermöglicht, eine Sanktion mit einem sozialethischen Unwerturteil zu verbinden. Fehlt es an der Schuld des Täters, so muss es bei einer rein rechtlichen Sanktion wie der Sicherungsverwahrung bleiben, die als Eingriffs-

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grenze die Rechtswidrigkeit der (Anlass-)Tat genügen lässt, ohne noch dazu die Schuld des Sanktionierten zu verlangen. Erst die individuelle Vorwerfbarkeit mit der vorausgesetzten – pejorativ: unterstellten – Möglichkeit des Andershandelnkönnens erlaubt es, der rechtlichen Sanktion ein ethisch-moralisches Element anzuhängen. Das Verhalten wird mit der Strafe nicht nur rechtlich beantwortet/sanktioniert, sondern zudem sozialethisch missbilligt. Erst dieser Missbilligungscharakter12 macht die Strafe zur einschneidendsten Sanktion des Staates. Und dieser Charakter macht auch das Kriterium aus, das die Strafe von anderen Sanktionen unterscheidet. Es ist auch das Kriterium, das das Bundesverfassungsgericht anwendet, wenn es den fraglichen, aber möglichen Strafcharakter von Sicherungsverwahrung, Verfall oder Vermögensstrafe herausfinden will.13 Es handelt sich bei diesem Wesenszug der Strafe also nicht um eine metaphysische Überhöhung durch theoretisierende Professoren, sondern um ein praktisch relevantes Unterscheidungskriterium. Die Missbilligung der Tat aber reicht als passende Antwort/Sanktion für eine schuldhaft begangene Straftat nicht aus, denn der Straftäter hat die Rechtsordnung ja nicht nur in Frage gestellt, sondern er hat das Opfer – zumindest bei klassischen Straftaten – verletzt. Deshalb muss der Missbilligung ein Übel hinzugefügt werden und das geschieht im Strafgesetzbuch durch den Entzug der Fortbewegungsfreiheit mittels Freiheitsstrafe und durch die Auferlegung einer Geldzahlungsverpflichtung mittels Geldstrafe. Diese Übel zeichnen aber die Strafen nicht besonders aus, denn sie sind etwa auch bei der freiheitsentziehenden Sicherungsverwahrung und bei der Geldbuße wegen Begehung einer Ordnungswidrigkeit zu finden. Diesen beiden Sanktionen fehlt aber die sozialethische Missbilligung, die nur mit der Strafe verbunden ist. Mit dem Schuldspruch wird dem Straftäter quasi „im Namen des Volkes“ gesagt, dass sein Verhalten nicht nur nicht hingenommen und als rechtswidrig bewertet wird, sondern dass es als schuldhaftes Fehlverhalten missbilligt wird. Diese Missbilligung als „sozialethische“ zu bezeichnen – das Bundesverfassungsgericht spricht noch häufiger von einem „sozialethischen Unwerturteil“14 –, bringt zum Ausdruck, dass die Strafe nicht nur eine rechtliche Sanktion ist. Dahinter steht die Vorstellung, dass rechtliche Sanktionen dadurch an Bedeutung gewinnen, dass sie mit einem Unwerturteil verbunden werden, das aus dem Bereich von Ethik/Moral stammt. Zum rechtlichen Unwerturteil kommt ein „sozialethisches“ hinzu. Ob dadurch die auch sonst empirisch nicht zu belegende Normstabilisierung gefördert wird, bleibt allerdings offen. Jeden___________ 12

Näher Kühl, in: Arnold u.a. (Hrsg.), Eser-FS, 2005, S. 149 ff. Mit Nachweisen aus der Rechtsprechung Kühl, ZStW 116 (2004), 870 (876). 14 BVerfGE 96, 245 (249); 120, 224 (240); ähnlich BVerfGE 105, 135 (153); 109, 133 (167) und BVerfG NJW 2005, 2140 (2141): „missbilligende hoheitliche Reaktion“. 13

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falls wird die begangene Straftat doppelt und damit nachdrücklicher als durch eine rein rechtliche Sanktion missbilligt. Diese doppelte Missbilligung klingt allerdings hohl, wenn sie sich auf Bagatelltaten wie etwa Ordnungswidrigkeiten bezieht. Es muss sich schon um Vergehen oder Verbrechen handeln, damit eine Strafe mit sozialethischer Missbilligung „passt“. Dies gilt erst recht, wenn diese sozialethische Missbilligung mit einem besonders harten Übel verbunden wird. Das härteste Übel, das Strafen nach Abschaffung der Todesstrafe enthalten können, ist der lebenslange Entzug der Fortbewegungsfreiheit mittels lebenslanger Freiheitsstrafe. Dies gilt auch dann, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass der Gesetzgeber durch § 57a StGB die Möglichkeit der Aussetzung des Strafrestes ab fünfzehnjähriger Verbüßung geschaffen hat und dass sich die Rechtsprechung contra legem die Möglichkeit verschafft hat, mittels der sog. Rechtsfolgenlösung eine Strafmilderung nach § 49 StGB beim (Heimtücke-)Mord zu gewähren.15 Die Anforderungen an den Mordtatbestand bleiben besonders hoch, weil die Verurteilung wegen Mordes nach § 211 StGB die lebenslange Freiheitsstrafe zur Folge hat. Das liegt darin begründet, dass Straftat und Strafe – wie bereits oben bei § 46 StGB angesprochen – in einem gerechten Verhältnis zueinander stehen müssen. Man könnte von einer „Gerechtigkeitsgrenze“ sprechen, die der Strafgesetzgeber zu beachten hat. Ob er sie eingehalten hat, prüft das Bundesverfassungsgericht, weil es sich um eine verfassungsrechtliche und damit hohe Grenze handelt. Das geschah grundlegend in der legendären Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Berechtigung der lebenslangen Freiheitsstrafe bei der Erfüllung einzelner Mordmerkmale aus dem Jahre 1977.16 Ins Visier des Bundesverfassungsgerichts waren damals die Heimtücke und die Verdeckungsabsicht geraten. In einer neuen Entscheidung vom 7.10.2008 – NJW 2009, 1061 – war das Mordmerkmal „zur Befriedigung des Geschlechtstriebs“ daraufhin zu untersuchen, ob sein Vorliegen die lebenslange Freiheitsstrafe rechtfertigt. Dieses Mordmerkmal hatte der BGH auf den sog. „Kannibalen“ angewandt, der sexuelle Befriedigung durch Betrachten des Videos, das er vom Tötungsvorgang gemacht hatte, erstrebte.17 Ob diese Anwendung dogmatisch zutreffend begründet ist, soll hier nicht interessieren.18 Hier geht es vielmehr um die „Gerechtigkeitsgrenze“, die den Strafgesetzgeber „zwingt“, die schärfste Strafe nur für schwerste Verbrechen anzudrohen. „Nach dem verfassungs___________ 15

BGHSt 30, 105 ff. BVerfGE, 45, 187 ff. 17 BGHSt 50, 80 ff. 18 Vgl. dazu die Besprechungen von Kubiciel, JA 2005, 763; Kudlich, JR 2005, 342; Otto, JZ 2005, 799; Schiemann, NJW 2005, 2350; Momsen/Jung, ZIS 2007, 162 und Geppert, JK 12/05, StGB § 211/46a. 16

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gerichtlichen Schuldgrundsatz, den das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip entnimmt, kann der Einzelne nur bei Vorliegen individueller Schuld strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.“ Was im vorliegenden Zusammenhang aber noch wichtiger ist, ist die Ableitung einer weiteren Forderung bzw. einer hohen Grenze für den Strafgesetzgeber aus dem Schuldgrundsatz, die das Bundesverfassungsgericht in der neuen Entscheidung vornimmt: „Tatbestand und Rechtsfolge“ müssen, „gemessen an der Idee der Gerechtigkeit sachgerecht aufeinander abgestimmt sein“. Für den Mordtatbestand bedeutet das, dass die Androhung und Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe nur dann schuldangemessen und „verhältnismäßig“ ist, wenn das fragliche Mordmerkmal eine besonders verwerfliche (Tötungs-)Tat erfasst. Dies bejaht das Gericht grundsätzlich: „Das Mordmerkmal der Tötung ‚zur Befriedigung des Geschlechtstriebs‘ ist dem Grundsatz nach durchaus zur Abgrenzung besonders verwerflicher Tötungshandlungen geeignet“. Zur Begründung wird auf die Zweck-Mittel-Relation abgehoben, die dann verwerflich sein soll, wenn der Täter das Leben des Opfers, also eines Menschen, der Befriedigung seiner Geschlechtslust unterordnet. Das Bundesverfassungsgericht übernimmt damit die Begründung, die auch schon der BGH im „Kannibalen-Fall“ gegeben hat19 und die auch in der Strafrechtswissenschaft vertreten wird.20 Die Frage, ob diese Begründung überzeugt, soll hier unbeantwortet bleiben. Wichtiger ist hier festzuhalten, dass der Schuldgrundsatz und die Gerechtigkeit Grenzen für die Verhängung von Strafen bilden. Die Strafe ist damit nicht nur der Grund für Grenzen des Strafgesetzgebers, sondern auch Adressat solcher Grenzen.

III. Zu weiteren einzelnen Grenzen Während bei der Strafe deren Begründung/Rechtfertigung und deren Wesen im Vordergrund stand – so „nebenbei“ kam allerdings auch eine besonders hohe Grenze für den Strafgesetzgeber zur Sprache, nämlich die sich aus dem Schuldgrundsatz und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip ergebende „Gerechtigkeitsgrenze“, die ein Abstimmen der angedrohten Strafe auf die zu bestrafende Tat verlangt –, kommen jetzt weitere Grenzen für den Strafgesetzgeber ins Visier. Dabei beschränkt sich der folgende Abschnitt auf diejenigen Grenzen, die schon bei der Erläuterung des Themas (unter I.) angesprochen wurden. Besonderes Augenmerk wird bei der Behandlung dieser Grenzen auf aktuelle Fragestellungen, die Probleme der Grenze oder Schwierigkeiten bei ihrer ___________ 19 20

BGHSt 50, 80 (86); früher schon BGHSt 19, 101 (105). Vgl. etwa Schroeder, JuS 1984, 275 (277).

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Anwendung offenbaren, gelegt. Das ist schon bei der ersten Grenze – dem Rechtsgutskonzept – der Fall.

1. Das Rechtsgutskonzept Das Rechtsgutskonzept verlangt – wie eingangs schon gesagt –, dass hinter jeder legitimen Strafvorschrift ein zu schützendes Rechtsgut stehen muss. Anerkannte und schützenswerte Rechtsgüter sind vor allem die Individualrechtsgüter wie Leben, körperliche Unversehrtheit, Fortbewegungsfreiheit, Eigentum und Vermögen. Dementsprechend handelt es sich bei den diese Rechtsgüter schützenden Strafvorschriften grundsätzlich um legitime Strafvorschriften: Totschlag, Körperverletzung, Freiheitsberaubung, Diebstahl und Betrug. Abstrahierend kann man diese Individualrechtsgüter auf die äußere Freiheit reduzieren und die sie schützenden Strafvorschriften als Vorschriften zum Schutz der äußeren Freiheit bezeichnen. Dahinter steht ein Verständnis der Rechtsordnung als Freiheitsordnung.21 Eine solche Ordnung hat zwar vor langer Zeit Immanuel Kant mit seinem, oben (unter I.) auch schon angesprochenen, sog. allgemeinem Rechtsgesetz entworfen: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinem Gesetz zusammen bestehen kann.“22 Doch ist dieses allgemeine Rechtsgesetz keineswegs veraltet oder überholt. Es lässt sich vielmehr deutlich in der Rechtsordnung erkennen, die das Grundgesetz, indem es die Individualgrundrechte – beschränkt durch die Rechte anderer – nach vorne zieht, vorgibt. Vom Rechtsgutskonzept legitimiert sind auch Universalrechtsgüter bzw. Rechtsgüter der Allgemeinheit, wenn sie – wie die Geldfälschung gemäß § 146 StGB23 – die Voraussetzungen für die Ausübung der äußeren Freiheit schaffen. Das wird man grundsätzlich auch vom Wettbewerb als Rechtsgut sagen können,24 auch wenn sich diesbezüglich die Alternative des Schutzes durch das Ordnungswidrigkeitenrecht aufdrängt.25 An Grenzen stößt das Rechtsgutskonzept beim Natur- und Tierschutz, doch wird man zumindest den Schutz der ___________ 21

So schon Kühl, Freiheitliche Rechtsphilosophie, 2008, S. 258 f. Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 1797, Akademie-Ausgabe AA VI 230. 23 Vgl. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht, 2002, S. 113, 294, der von Vertrauensrechtsgütern spricht; Frisch, GA 2007, 250 (258), spricht von Gemeinschaftsgütern. 24 LK-Tiedemann, Stand: Juni 2008, § 298 Rn. 6. 25 Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 298 Rn. 1. 22

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Umwelt, verstanden als Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen auch künftiger Generationen, noch mit ihm legitimieren können.26 Seine praktische Bewährungsprobe hat das theoretische Rechtsgutskonzept bestanden, als – wie bereits oben (unter I.) gesagt – die „Verbrechen gegen die Sittlichkeit“ in „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ umgetauft wurden. Dabei verschwanden reine Moralwidrigkeiten wie homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen – der alte § 175 StGB – aus dem Strafgesetzbuch. Wer aber meinte – und das werden die meisten gewesen sein –, damit sei diese „Schlacht geschlagen“, musste sich vor kurzem durch eine Verfassungsbeschwerde, mit der eine Verurteilung wegen Geschwisterinzests nach § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB als verfassungswidrig „angegriffen“ wurde, eines Besseren belehren lassen. Die Verfassungsbeschwerde wurde vom Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts am 26.2.2008 zurückgewiesen: „Die Strafvorschrift des § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB, die den Beischlaf zwischen Geschwistern mit Strafe bedroht, ist mit dem Grundgesetz vereinbar“.27 Der einzige Richter, der eine abweichende Meinung vertrat und auch äußerte, war der Vorsitzende des Senats. Nicht nur deshalb, sondern auch weil er als Strafrechtswissenschaftler an der Ausarbeitung des Rechtsgutskonzepts maßgeblich mitgewirkt hat,28 ist seine Sicht der angefochtenen Vorschrift bemerkenswert: „Schutz einer gesellschaftlichen Moralvorstellung“.29 Die Berechtigung dieser Sicht30 kann hier genauso wenig wie die Richtigkeit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts geprüft werden. Für die weitere Diskussion des Rechtsgutskonzepts soll aber zweierlei festgehalten werden. Zum einen, dass sich das Bundesverfassungsgericht bei der Entscheidung des Falles insofern an das Rechtsgutsprinzip gehalten hat, als es nach einem legitimierenden Rechtsgut, das hinter § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB steht, gesucht hat. Unter dem Etikett „Strafgrund“ wird „an erster Stelle“ der Schutz von Ehe und Familie, wie ihn auch die Verfassung mit Art. 6 GG vorgibt, genannt.31 Die damit gefundene Basis für eine legitime Strafvorschrift scheint zunächst solide, kommt aber ins Wanken, wenn vom Gericht eingeräumt werden muss, dass familien- und sozialschädliche Wirkungen des Geschwister___________ 26 Näher Kühl, in: Nida-Rümelin (Hrsg.), Ökologische Ethik und Rechtstheorie, 1995, S. 245 ff.; ähnlich Frisch, in: Leipold (Hrsg.), Umweltschutz und Recht in Deutschland und Japan, 2000, S. 361 (375); weitergehend und ökologischer Schünemann, in: Schmoller (Hrsg.), Triffter-FS, 1996, S. 437 (452). 27 BVerfG NJW 2008, 1137. 28 Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens, 1973; NK-Hassemer/ Neumann, Stand 2005, Rn. 108 ff. vor § 1. 29 Abgedruckt in: BVerfG NJW 2008, 1137 (1144). 30 Diese Sicht teilt etwa Hörnle NJW 2008, 2085 ff. 31 BVerfG NJW 2008, 1137 (1139).

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inzests „mit sozialwissenschaftlichen Methoden schwer von den Wirkungen anderer Einflüsse isolierbar und daher nicht ohne weiteres greifbar“ sind.32 Dass sich das Gericht dann mit der „Plausibilität der Annahme derartiger Wirkungen“ zufrieden gibt, provoziert förmlich Kritik. Doch kann man den Rückzug auf die „Plausibilität“ auch positiv sehen, nämlich als realistische Einschätzung der fehlenden Eindeutigkeit empirisch-sozialwissenschaftlicher Untersuchungen. Da das aber oft so ist, fragt es sich, ob man auf den Schutz von Ehe und Familie durch das Strafrecht deshalb verzichten soll, weil deren Schädigung nicht exakt bewiesen werden kann. Die Entscheidung liegt ohnehin beim Strafgesetzgeber, dem es auch nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts freisteht, die Inzeststrafbarkeit abzuschaffen oder einzuschränken, § 173 StGB zu streichen oder umzugestalten. Als Gericht, das „nur“ die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift zu prüfen hat, hat das Bundesverfassungsgericht jedenfalls gut daran getan, die Annahmen des Strafgesetzgebers über schädliche Wirkungen des Inzests auf Ehe und Familie nicht schon deshalb zu verwerfen, weil sie wissenschaftlich nicht über jeden Zweifel erhaben sind. – Nur noch nebenbei: auch die empirische Rechtsvergleichung, deren sich das Bundesverfassungsgericht bedient hat, kann dem nationalen Gesetzgeber die Entscheidung nicht abnehmen, denn die Regelungen reichen nach dem Gutachten des Freiburger Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Strafrecht von Strafbarkeit bis zur Straflosigkeit nebst Zwischenlösungen und Verschieben ins Familienrecht. Zum anderen ist es bemerkenswert, dass das Bundesverfassungsgericht dem Rechtsgutkonzept den Status eines allgemeingültigen Prinzips abspricht. Dabei fällt zunächst die einseitige Begrifflichkeit negativ auf, mit der das Gericht aufwartet: „naturalistische“ Rechtsgutstheorie und „überpositiver“ Rechtsgutsbegriff33 drängen schon begrifflich das Rechtsgutskonzept aus dem Bereich der staatlichen Gesetzgebung. Als einzige Richtschnur für den Strafgesetzgeber wird die Verfassung anerkannt. Die verfassungsrechtlichen Grenzen für den Strafgesetzgeber respektieren aber auch – wie der vorliegende Festschriftbeitrag zeigt – Befürworter des Rechtsgutskonzepts. Sie sehen das Rechtsgutskonzept im Grundgesetz, insbes. in den freiheitlichen Grundrechten verankert. Durch das Rechtsgutskonzept werden nur die Grundfreiheiten auf das Strafrecht, insbes. auf die Strafwürdigkeit bestimmter Verhaltensweisen, zugespitzt. Dieser Hilfestellung sollte sich der Strafgesetzgeber bei kriminalpolitischen Entscheidungen bedienen. Das Angebot wird ihm in Gesetzgebungsverfahren, die zu neuen Strafvorschriften wie §§ 201a, 238, 303 Abs. 2 StGB führen, bei Anhörungen vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages regelmäßig ___________ 32 33

BVerfG NJW 2008, 1137 (1139). BVerfG NJW 2008, 1137 (1138).

Besonders hohe Grenzen für den Strafgesetzgeber

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gemacht, wenn die Sachverständigen bei der Frage der Strafwürdigkeit nach dem durch die neue Vorschrift zu schützenden Rechtsgut suchen.

2. Der Bestimmtheitsgrundsatz Der Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG, der in § 1 StGB wortgleich wiederholt wird, verlangt, dass die „Strafbarkeit gesetzlich bestimmt“ ist.34 Schon aus dem Gesetz soll sich die „Strafbarkeit“ ergeben und nicht erst aus dessen Anwendung durch den Richter. Damit ist der Bestimmtheitsgrundsatz ein Strukturelement der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Judikative. Er richtet sich aber nicht nur an den Richter, dem vom Gesetzgeber ein leicht umsetzbares Gesetzesprogramm an die Hand gegeben werden soll. Er wendet sich auch an den Bürger, dem schon aus dem Gesetz die „Strafbarkeit“ ersichtlich sein soll. Obwohl die „Strafbarkeit“ i.S. der Art. 103 Abs. 2 GG, § 1 StGB auch die Strafe betrifft – wie bereits eingangs (unter I.) erwähnt, wurde die Vermögensstrafe des § 43a StGB a.F. wegen nicht ausreichender Bestimmtheit für verfassungswidrig erklärt –, geht es aus der Sicht des Bürgers als potentiellem Straftäter vor allem darum, vorhersehen zu können, mit welchem Verhalten er sich strafbar macht. Die Problematik dieses Bestimmtheitsgrundsatzes besteht im Kern darin, dass er in der Praxis nur annäherungsweise erfüllt werden kann. Das Bundesverfassungsgericht anerkennt auch dies realistischerweise. Bedenklich ist aber, wenn eine gefestigte Rechtsprechung die mangelnde Bestimmtheit durch den Gesetzgeber ersetzen können soll. Denn dass der Strafrichter die Funktion des Strafgesetzgebers übernimmt, will der Bestimmtheitsgrundsatz ja gerade verhindern. Ansonsten wird man sich mit dem Bemühen des Gesetzgebers um größtmögliche Bestimmtheit zufrieden geben müssen. Dem genügte etwa der Strafgesetzgeber vor kurzem bei der gesetzlichen Fixierung des vielschichtigen und deshalb schwer fassbaren Phänomens des Stalking in § 238 StGB. Bedenklich ist aber die sog. Öffnungsklausel des § 238 Abs. 1 Nr. 5 StGB, denn es klingt wie eine Aufforderung zur (verbotenen) Analogie, wenn dort „andere vergleichbare Handlungen“ unter Strafe gestellt werden, obwohl die Nr. 1–4 kaum eine Vergleichsbasis bieten.35

___________ 34 Näher Kühl, in: Schöch u.a. (Hrsg.), Böttcher-FS, 2007, S. 597 (605, 614) und in: Schneider, H. (Hrsg.), Seebode-FS, 2008, S. 61 ff. sowie in: Hassemer u.a. (Hrsg.), Volk-FS, 2009, S. 259 (269). 35 Zur Problematik vgl. Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 238 Rn. 5.

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3. Fragmentarietät und Subsidiarität des Strafrechts36 Mit diesen Grundsätzen wird der Strafgesetzgeber zur Zurückhaltung hinsichtlich des Erlasses von Strafvorschriften aufgefordert. Mit der „fragmentarischen Natur“ des Strafrechts ist gemeint, dass Lücken in der Erfassung strafbaren Verhaltens zum Strafrecht gehören und kein Fremdkörper sind. Das Aufspüren einer Lücke im strafrechtlichen Schutz eines anerkannten Rechtsguts ist noch kein ausreichender Grund für deren Schließung durch eine lückenfüllende neue Strafvorschrift. Dennoch werden Strafbarkeitslücken häufig vom Gesetzgeber zur Begründung der Schaffung neuer Strafvorschriften angeführt. Das war bei der Schaffung des neuen § 201a StGB, der die unbefugte Bildaufnahme unter Strafe stellt, ebenso der Fall wie bei der Ergänzung der Sachbeschädigung gemäß § 303 StGB durch einen neuen Abs. 2, der – grob gesagt – das Grafitti unter Strafe stellt. Für beide Neuregelungen lassen sich gute Gründe anführen,37 die es aber auch braucht, um die Lückenfüllung im Persönlichkeits- und Eigentumsschutz zu legitimieren. Mit dem Subsidiaritätsprinzip wird der Strafgesetzgeber ebenfalls zur Zurückhaltung hinsichtlich des Erlasses von Strafvorschriften aufgefordert. Jetzt aber mit der Begründung, dass die bedrohten oder verletzten Rechtsgüter nicht des Schutzes durch Strafrecht bedürfen, weil dieser Schutz ebenso gut durch Regelungen mit milderen Sanktionen anderer Rechtsgebiete oder durch Selbstschutz der Opfer gewährleistet werden könne. So wurde etwa gegen den neuen § 201a StGB – unbefugte Bildaufnahmen – eingewandt, dass der zivilrechtliche Persönlichkeitsschutz inzwischen bestens funktioniere und ausreichend Schutz etwa durch Schmerzensgeld gegen Verletzungen des Persönlichkeitsrechts biete. Unterschlagen wird allerdings bei diesem Hinweis, dass das Opfer als Kläger das Prozessrisiko trägt, was viele vom Erheben einer Klage abhalten wird.38 Auch der Hinweis auf Selbstschutzmöglichkeiten: im Garten nur bekleidet sonnenbaden, stößt schnell an die Grenzen des Zumutbaren. Das gilt auch für das Subsidiaritätsprinzip im Ganzen. Dennoch sollte das Strafrecht wegen seiner scharfen Sanktion ‚Strafe‘ „ultima ratio“39 bleiben.

___________ 36

Näher Kühl, in: Sieber u.a. (Hrsg.), Tiedemann-FS, 2008, S. 29 ff. Gute Gründe für § 201a bei Kühl, in: Hefendehl (Hrsg.), Schünemann-Sym, 2005, S. 211 ff., für § 303 Abs. 2 bei Kühl, in: Protokoll der 19. Sitzung des BT-Rechtsausschusses v. 21.5.2003, S. 14 u. 27 sowie ders., in: Heinrich, B. u.a. (Hrsg.), Weber-FS, 2004, S. 413 ff. 38 Vgl. schon Kühl, AfP 2004, 190 (193). 39 Vgl. zum philosophischen Hintergrund Frisch, GA 2007, 250 (259). 37

Besonders hohe Grenzen für den Strafgesetzgeber

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4. Die Unschuldsvermutung Die Unschuldsvermutung „tanzt“ als Einzelgrundrecht etwas „aus der Reihe“ der bisher behandelten Konzepte und Prinzipien. Dennoch bildet auch sie eine hohe verfassungsrechtliche Grenze für den Gesetzgeber auf dem Gebiet des formellen und materiellen Strafrechts. Sie wurde deshalb auch schon bei den Erläuterungen (unter I.) genannt, so dass auf sie schon aus Gründen der Vollständigkeit zurückgekommen werden soll. Dass sie auch unter II. angesprochen wurde, ersetzt dies nicht, denn dort ging es um ihre mittelbare Drittwirkung gegenüber den privaten Medien. Hier soll aber ihr Grenzcharakter für den Strafgesetzgeber aufgezeigt werden. Vorbildlich beachtet hat der Strafgesetzgeber die Unschuldsvermutung bei der Regelung der Opportunitätseinstellung wegen geringer Schuld nach § 153 StPO. Da die Schuld bei solchen Einstellungen noch nicht rechtskräftig festgestellt ist, die Unschuldsvermutung also noch nicht widerlegt ist, ist es zutreffend, von der geringen Schuld nur hypothetisch zu sprechen. Dem entspricht § 153 Abs. 1 Satz 1 StPO. Er erlaubt das Absehen von der weiteren Verfolgung u.a. dann, „wenn die Schuld des Täters als gering anzusehen wäre.“ Daran kann einen zwar noch immer stören, dass vom „Täter“ die Rede ist, aber hinsichtlich der möglichen Schuld wird korrekt formuliert. Dass die Strafgerichte dies dadurch konterkarieren, dass sie Schuldwahrscheinlichkeitsklauseln zur Begründung von solchen Einstellungen und den sie begleitenden Auslagenentscheidungen nach § 467 Abs. 4 StPO verwenden, soll hier nicht weiter kritisiert werden,40 denn hier geht es um „Einladungen“ des Strafgesetzgebers zur Verletzung der Unschuldsvermutung durch Gerichte. Eine solche „Einladung“ kann man in § 153 StPO aber nicht erkennen. Auch nicht in § 153a StPO, obwohl dort nicht wie in § 153 StPO nur hypothetisch von der Schuld die Rede ist. Es heißt in § 153a Abs. 1 Satz 1 StPO, dass von der Erhebung der öffentlichen Klage u.a. dann abgesehen werden kann, wenn die Erteilung von Auflagen und Weisungen geeignet ist, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung zu beseitigen, „und die Schwere der Schuld nicht entgegensteht“. Das ist unvorsichtig und nicht korrekt formuliert, denn es kann sich nur um die „mögliche Schuld“ handeln, die daraufhin zu beurteilen ist, ob sie im Falle ihres Vorliegens und ihrer rechtskräftigen Feststellung „schwer“ wäre. Eine „Einladung“ zur Verletzung kann aber in der Formulierung des § 153a Abs. 1 Satz 1 StPO noch nicht gesehen werden. Anders ist das bei § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO, wonach das Gericht davon absehen kann, die notwendigen Auslagen der Staatskasse aufzuerlegen, wenn der Angeschuldigte „wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt ___________ 40

Zur Kritik vgl. Kühl, Unschuldsvermutung, Freispruch und Einstellung, 1983, S. 94 ff., 120 ff.

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wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht“. Das kann man so verstehen, dass die weiteren Voraussetzungen einer Verurteilung wie etwa die Schuld des Angeklagten vorliegen. Daran fehlt es aber bei einer Verfahrenseinstellung, die das Strafverfahren gerade ohne Schuldspruch beendet. Besonders anschaulich ist dies, wenn das Strafverfahren wegen des inzwischen auch vom BGH anerkannten Verfahrenshindernisses Tod des Angeklagten eingestellt wird.41 In diesem Fall verbietet es sich offensichtlich, die Schuld des Toten aus Anlass einer Auslagenentscheidung zum Gegenstand des Verfahrens zu machen. Dass die Strafgerichte dennoch zur Verhinderung der Überbürdung der notwendigen Auslagen des verstorbenen Angeschuldigten auf die Staatskasse die mehr oder minder wahrscheinliche Schuld des Verstorbenen, der sich nicht mehr wehren kann, heranziehen, verstößt an sich schon gegen die Unschuldsvermutung.42 Im vorliegenden Zusammenhang ist es aber vor allem ein Beleg dafür, dass die Strafgerichte die „Einladung“ des Strafgesetzgebers angenommen haben. Hier muss entweder das Gesetz – § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO – geändert werden, oder die Strafgerichte müssen bei der Anwendung der Vorschrift auf Schulderwägungen verzichten und nur auf prozessuales Fehlverhalten des Angeschuldigten vor seinem Tod abstellen.43

___________ 41 Zur Erforderlichkeit einer Einstellung in diesem Fall BGHSt 45, 108 ff.; Kühl, in: Eser u.a. (Hrsg.), Meyer-Goßner-FS, 2001, S. 715 ff.; Heger, GA 2009, 45 ff. 42 Kühl und Heger (Fn. 41); zur Praxis der Gerichte vgl. Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, § 467 Rn. 16. 43 Kühl, (Fn. 41), S. 715 (731); weitere mögliche Begründungen bei Heger (Fn. 41), 45 (53, 63).

Gerechtfertigte Aufopferung Unbeteiligter? Anmerkungen zum Defensivnotstand bei terroristischen Angriffen Von Franz Streng

I. Einleitung Eine zunehmend auf Sicherheit konzentrierte öffentliche Meinung1 und letztlich die Ereignisse um den Terrorangriff auf die twin towers des New Yorker World Trade Center hatten den deutschen Gesetzgeber veranlasst, in § 14 III des Luftsicherheitsgesetzes vom 11.1.2005 die Möglichkeit zum Abschuss eines gekaperten Flugzeuges zu geben. Dies sollte für den Fall gelten, dass die Luftpiraten das Flugzeug gegen das Leben von Menschen einsetzen wollen, und der Abschuss das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr wäre. Auf die Anwesenheit von am Angriff nicht beteiligten Passagieren sollte es dabei nicht ankommen. Mit dieser Verrechnung von Menschenleben leistete sich der Gesetzgeber eine Art juristischen „Tabubruchs“.2 Wenig überraschend hat man daher die Verfassungsmäßigkeit der Regelung teils bezweifelt.3 In der Folge wurde die dem Bundesverfassungsgericht zur Überprüfung vorgelegte Regelung der §§ 13, 14 LuftSiG von diesem für nichtig erklärt.4 Ganz wesentlich stellte das Gericht darauf ab, dass die Passagiere als gänzlich Unbeteiligte an dem Angriff „als Mittel zur Rettung anderer ___________ 1 Etwa zur derzeit konkurrenzlos hohen Akzeptanz des Sicherungsstrafzwecks bei Jura-Studienanfängern vgl. Streng, Soziale Probleme 17 (2006), 210 (212 f.); ders., in: Behr u.a. (Hrsg.), Kriminalitäts-Geschichten, 2006, S. 211 (214 f.). 2 Pawlik, JZ 2004, 1045 f.; Merkel, JZ 2007, 373; von einer „systemsprengenden Kraft der Vorschrift“ spricht Jakobs, ZStW 117 (2005), 839 (848). 3 Für Detailkritik am Gesetz vgl. etwa Mitsch, JR 2005, 274 ff.; NK/StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 77; für Grundsatzkritik vgl. etwa Pawlik, JZ 2004, 1045 ff.; Hartleb, NJW 2005, 1397 ff.; Höfling/Augsberg, JZ 2005, 1080 ff.; NK/StGB-Paeffgen, 2. Aufl. 2005, Vor § 32 Rn. 155; Pieroth/Hartmann, Jura 2005, 729 ff.; Streng und Neumann, bei Heger ZStW 117 (2005), 865 (884 ff.). – Demgegenüber der Linie des Gesetzgebers zustimmend Merkel, ZStW 114 (2002), 437 (452 f.); MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 118 ff.; Sinn, NStZ 2004, 585 (591 ff.); NK/StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 77; Baldus, NVwZ 2006, 532 (534 f.); Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaats, 2. Aufl. 2008, S. 25 ff., 80 ff. 4 Vgl. BVerfGE 115, 118 ff. (= NJW 2006, 751 ff.) vom Februar 2006.

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benutzt“ und dadurch verdinglicht werden. Das Bundesverfassungsgericht sieht in § 14 III LuftSiG einen Verstoß gegen das Recht auf Leben aus Art. 2 II GG und gegen die Menschenwürde-Garantie des Art. 1 I GG.5 Als entscheidungserheblich angesehen wurde darüber hinaus, dass kaum jemals eine sichere Feststellung möglich sein wird, ein entführtes Flugzeug werde wirklich in ein Hochhaus gesteuert und vernichte dort viele Menschenleben unter gleichzeitiger Tötung aller Insassen des Flugzeuges.6 Auf die speziell mit der Reichweite von Art. 35 GG zusammenhängende Begründung der Verfassungswidrigkeit muss hier nicht eingegangen werden. Trotz des verfassungsgerichtlichen Verdikts ist die Diskussion um die hier angesprochenen Fragen nicht verstummt. Teils bekräftigt man die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder gelangt auf dem Wege der Anwendung von Notstandsregeln gleichermaßen zu einer Nicht-Rechtfertigung eines Abschusses.7 Andere Stimmen in der Literatur halten den Abschuss eines auf Angriffskurs befindlichen Flugzeugs mit all seinen Passagieren nach wie vor aufgrund Notstandsstandards für rechtfertigbar.8 Man mag die Bedeutung dieses Meinungsstreits zum Rettungsabschuss angesichts der res judicata relativieren. Gleichwohl bleibt die Auseinandersetzung mit derartigen Fragen schon wegen des Ziels bedeutsam, die Dogmatik der Notrechte weiterzuentwickeln. Wobei an dieser Stelle die Diskussion um – in concreto nicht einschlägige – Fragen des Staatsnotstandes nicht aufgenommen werden soll.9

___________ 5

Vgl. BVerfGE 115, 118 (151 ff.). Vgl. BVerfGE 115, 118 (154 ff., 158). 7 Vgl. etwa W. Hecker, KritJ 2006, 179 (184 ff.); LK-Rönnau, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 345; B. Hirsch, NJW 2007, 1188 f.; Merkel, JZ 2007, 373 ff.; Wolter, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 707 (715 f.); Jäger, JA 2008, 678 (682); Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 316 b; HK/GS-Duttge, 2008, § 34 StGB Rn. 20; Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 34 Rn. 11 f.; ferner Mitsch, GA 2006, 11 (23). 8 Vgl. Schünemann, in: Neumann/Hassemer/Schroth (Hrsg.), Verantwortetes Recht. Die Rechtsphilosophie Arthur Kaufmanns, 2005 (ARSP-Beiheft Nr. 100), S. 145 (152 f.); Köhler, in: Hoyer u.a. (Hrsg.), Schroeder-FS, 2006, S. 257 ff.; Spendel, RuP 2006, 131 (134); Hillgruber, JZ 2007, 209 (215 ff.); H. J. Hirsch, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 149 (160 ff.); Isensee, in: Pawlik u.a. (Hrsg.), Jakobs-FS, 2007, 205 (229 ff.); Rogall, NStZ 2008, 1 (3 f.); Ladiges, ZIS 2008, 129 (140); Zimmermann, Rettungstötungen – Untersuchungen zur strafrechtlichen Beurteilung von Tötungshandlungen im Lebensnotstand, 2009, S. 386 ff., 401; vgl. ferner Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 158 a. 9 Vgl. dazu Grzeszick, in: Isensee (Hrsg.), Der Terror, der Staat und das Recht, 2004, S. 55 (72 ff.); Jahn, Das Strafrecht des Staatsnotstands, 2004, S. 247 ff.; Höfling/ Augsberg, JZ 2005, 1080 (1086 ff.); ferner Jerouschek, in: Amelung u.a. (Hrsg.), Schreiber-FS, 2003, S. 185 (197 f.); Pawlik, JZ 2004, 1045 (1051 ff.). 6

Gerechtfertigte Aufopferung Unbeteiligter?

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II. Ansätze einer Rechtfertigung rettungsmotivierter Aufopferung Dritter 1. Einwilligung der Passagiere in die Tötung? Das Argument einer Einwilligung der Luftreisenden in den Abschuss ihrer Maschine für den Fall der Kaperung zu Zwecken eines Terrorangriffs vermag unter mehreren Aspekten nicht zu überzeugen. Zum einen scheitert eine rechtfertigende Einwilligung an der Einwilligungssperre des § 216 StGB; es kann in die eigene Tötung seitens Dritter nicht wirksam eingewilligt werden.10 Des Weiteren ließe sich eine derartige Einwilligung bei normalen Geschäfts- oder Ferienreisenden nur fingieren. Das Bundesverfassungsgericht spricht ganz zutreffend davon, dass eine derartige Annahme „nicht mehr als eine lebensfremde Fiktion“ sei.11

2. Viele gegen Wenige? Im Wege einer pragmatischen Argumentation wird für entsprechende Konfliktsituationen gelegentlich betont, es könne nicht als rechtswidrig eingestuft werden, zugunsten der Rettung des Lebens vieler Menschen einige wenige sterben zu lassen12 bzw. das „kleinere Übel zu wählen“13. Freilich gilt nach absolut herrschender Meinung, dass Leben nicht quantifizierend bewertet werden dürfen.14 Einen klassischen Beispielsfall für diese Fragestellung liefert der Weichensteller-Fall. ___________ 10

Vgl. auch Jerouschek, in: Amelung u.a. (Hrsg.), Schreiber-FS, 2003, S. 185 (187 f.); Pawlik, JZ 2004, 1045 (1050); differenzierend Fritze, Die Tötung Unschuldiger, 2004, S. 194 f.; Mitsch, in: Heinrich u.a. (Hrsg.), Weber-FS, 2004, S. 47 (58 ff.); Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 367. 11 BVerfGE 115, 118 (157); vgl. auch Hartleb, NJW 2005, 1397 (1399 f.); Höfling/Augsberg, JZ 2005, 1080 (1084 f.); H. J. Hirsch, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), KüperFS, 2007, S. 149 (159 f.); Isensee, in: Pawlik u.a. (Hrsg.), Jakobs-FS, 2007, S. 205 (224); ablehnend Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 391 ff. 12 Neuestens Otto, Jura 2005, 470 (478 f.); bei einseitiger Verteilung von Rettungschancen: Isensee, in: Pawlik u.a. (Hrsg.), Jakobs-FS, 2007, 205 (231); Ladiges, ZIS 2008, 129 (140); Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 375 ff., 391; als Hilfsargument im Rahmen einer Pattsituation bei Hörnle, in: Putzke u.a. (Hrsg.), Herzberg-FS, 2008, S. 555 (558, 568, 570); in Situationen kollidierender Hilfspflichten Merkel, JZ 2007, 373 (380 f.); in Fällen freiwilliger Selbstopferung Mitsch, in: Heinrich u.a. (Hrsg.), Weber-FS, 2004, S. 49 (63 ff., 66). 13 Spendel, RuP 2006, 131 (134). 14 Vgl. OGHSt 1, 321 (334); BGHSt 35, 347 (350); Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 3 a; SK/StGB-Günther, 7. Aufl. 2000, § 34 Rn. 43; Ebert, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2001, S. 83; Jerouschek, in: Amelung u.a. (Hrsg.), Schreiber-FS,

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Weichensteller-Fall: Ein Güterwagen rast ungebremst auf einen stehenden Personenzug zu. Bei einem Zusammenstoß würden im vollbesetzten Zug viele Menschen sterben. Ein Bahnbediensteter sieht die Gefahr und leitet kurzentschlossen den Güterwagen auf das einzige Nebengleis um, auf dem aber gerade Gleisbauarbeiten stattfinden. Der dort durch die Arbeitergruppe rasende Wagen tötet drei von ihnen, was der Weichensteller als möglich voraussah. Hier werden die gefährdeten Insassen des Zuges auf Kosten des Lebens Unbeteiligter gerettet. Mit seiner Handlung hat sich der Weichensteller also zum Herrn über Leben und Tod aufgeschwungen und das Leben der einen zur Rettung der anderen geopfert. Dass er mehr Leben gerettet als preisgegeben hat, spielt dabei nach ganz herrschender Meinung keine Rolle, da das Rechtsgut Leben nicht quantifizierbar ist. Der Weichensteller hat also rechtswidrig gehandelt.15 Eben dieser Wertung ist auch das Bundesverfassungsgericht im Luftsicherheitsgesetz-Urteil gefolgt. Bezüglich einer realen Konfliktskonstellation war die Ablehnung quantifizierenden Vorgehens bei der Aburteilung von sog. Euthanasiefällen betont worden: Im „Dritten Reich“ hatten Anstaltsärzte dem Verlangen nach Tötung von Geisteskranken in gewissem Umfang nachgegeben, um dadurch die Tötung von noch mehr Kranken durch nationalsozialistische Überzeugungstäter zu verhüten; das „kleinere Übel“ einer Opferung lediglich eines Teils der Todgeweihten zu wählen, führte im Rahmen der justiziellen Aufarbeitung nationalsozialistischen Unrechts nicht zu einer Rechtfertigung dieses Verhaltens.16 ___________ 2003, S. 185 (192); MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 116; MK/StGB-Schlehofer, 2003, Vor §§ 32 Rn. 216; Sinn, NStZ 2004, 585 (588); Höfling/Augsberg, JZ 2005, 1080 (1081 f., 1083 f.); Mitsch, JR 2005, 274 (277); NK/StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 74; LK-Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 65; Schönke/Schröder-Lenckner/ Perron, 27. Aufl. 2006, § 34 Rn. 23; Roxin, Strafrecht AT I, 2006, § 16 Rn. 34; H. J. Hirsch, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 149 (159); Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 34 Rn. 8; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 316 b; daran zweifelnd Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 34 Rn. 12; ganz ablehnend Delonge, Die Interessenabwägung nach § 34 StGB und ihr Verhältnis zu den übrigen strafrechtlichen Rechtfertigungsgründen, 1988, S. 125 ff. 15 Vgl. Welzel, ZStW 63 (1951), 47 (51 f.); Gallas, in: Engisch u.a. (Hrsg.), MezgerFS, 1954, S. 311 (330 f.); Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, S. 258; MK/StGBErb, 2003, § 34 Rn. 116; Otto, Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 8 Rn. 190 mit 195; Schünemann (Fn. 8), S. 153; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2004, § 9 Rn. 113; Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 6.B Rn. 160; NK/StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 74 f.; Zieschang, Strafrecht AT, 2005, S. 68 f.; Mitsch, GA 2006, 11 (12 f.); Hörnle, in: Putzke u.a. (Hrsg.), Herzberg-FS, 2008, S. 555 (568 ff.); Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 34 Rn. 10; ferner SK/StGB-Rudolphi, 6. Aufl. 1995, Vor § 19 Rn. 8. 16 Vgl. OGHSt 1, 321 (331 ff.); OGHSt 2, 117 (120 f.); BGH NJW 1953, 513 f.; zustimmend etwa Eb. Schmidt, SJZ 1949, Sp. 559 (565 f.); Welzel, ZStW 63 (1951), 47 (49 ff., 52); Gallas, in: Engisch u.a. (Hrsg.), Mezger-FS, 1954, S. 311 (326 f.); Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 28 ff.; Welzel, Das Deutsche Straf-

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Festzuhalten bleibt, dass es bei dieser Notstandsfrage im Sinne von § 34 StGB gerade nicht um eine Bilanz unter Aspekten gesellschaftlichen Nutzeffekts gehen darf; vielmehr steht die Berechtigung zu Eingriffen in das Lebensrecht des Einzelnen in Frage. Im Zusammenhang mit den sog. Euthanasie-Morden im „Dritten Reich“ hat Gallas prägnant formuliert, das Rechtsdenken müsse „in jedem Menschenleben einen unvergleichlichen Personenwert sehen, der nicht als bloßes Quantum einer Gewinn- oder Verlustrechnung behandelt werden darf“.17 Der Respekt vor dem Leben eines jeden Einzelnen transzendiert zugleich das Einzelinteresse, indem das Selbstverständnis und die Werteordnung der fraglichen Gesellschaft dokumentiert werden.18 Angesichts dessen taucht der Quantifizierungs-Ansatz am ehesten noch in Form eines Hilfsarguments auf. Wie bereits das historische „Euthanasie“-Beispiel verdeutlichen kann, mutet das Heranziehen eines quantifizierenden Elements immerhin in Verbindung mit einer nur geringen Restlebensdauer der zu opfernden Personen als Verteidigungsstrategie verführerisch an. Es lohnt aber, die beiden Aspekte der Quantität und der Restlebensdauer (unten 3.) auseinanderzuhalten, da davon auszugehen ist, dass problematische Argumente auch durch Kumulation oder Vermengung nicht stimmiger werden. Für ein Verteidigen der herrschenden Meinung spricht, dass dem quantifizierenden Ansatz eine überaus problematische Entgrenzungstendenz immanent ist. Es werden derart nämlich unter dem Banner des Verfolgens von Kollektivinteressen die Rechtsgüter des Einzelnen in höchst gefährlicher Weise relativiert. Ganz treffend weisen Höfling/Augsberg darauf hin, dass in der Konsequenz „ein Argumentationsnotstand (droht), wenn ein ähnliches Unglück nur durch Folterung eines (voraussichtlich) Schuldigen verhindert werden kann“.19 Dass diese Perspektive alles andere als irreal ist, haben die Entwicklungen nach dem terroristischen Angriff auf die twin towers in New York in erschreckender Weise verdeutlicht. Um derartige Anschläge künftig zu verhindern, wurde von den USA Folter zu Lasten Verdächtiger oder möglicherweise relevanter Informationsträger gerechtfertigt. Der angelsächsische Utilitaris___________ recht, 11. Aufl. 1969, § 23 III 1; Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1979, S. 30, 60 ff.; ders., JuS 1981, 785 (791); MK/ StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 117; Jäger, ZStW 115 (2003), 765 (784 ff.); Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 6.B Rn. 160; NK/StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 78; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 35, 40; Schönke/SchröderLenckner/Perron, 27. Aufl. 2006, § 34 Rn. 23; Frister, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2008, § 17 Rn. 14; für Rechtfertigung aber etwa Mangakis, ZStW 84 (1972), 447 (476 f.); Otto, Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 8 Rn. 195; vermittelnde Lösung bei H.-L. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, S. 333 ff. 17 Gallas, in: Engisch u.a. (Hrsg.), Mezger-FS, 1954, S. 311 (327). 18 Vgl. auch Peters, JR 1949, 496 f.; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 30 f.; ablehnend Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 394. 19 Höfling/Augsberg, JZ 2005, 1080 (1088).

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mus20 hat ein derartiges Vorgehen begünstigt. Es bedurfte einer Rückbesinnung auf die Menschenrechte des Einzelnen, um auch in den USA Tendenzen zum Umdenken zu fördern. Etwa sah sich der amerikanische Rechtsphilosoph Ronald Dworkin angesichts der Behandlung der Gefangenen in Guantánamo und Abu Ghraib dazu veranlasst, seine Mitbürger und die Regierung der USA darauf hinzuweisen, dass durch derartige Rechtlosstellung von Einzelnen eine ganze Gesellschaft ihre Würde und Selbstachtung kompromittiert.21 3. Geringe Restlebensdauer? Ein ins Auge springender Ansatz für eine Rechtfertigung des fraglichen Flugzeugabschusses liegt in der nur noch kurzen Restlebensdauer der Passagiere, die durch den von den Terroristen geplanten Terrorangriff zu Tode kommen werden. Man könnte den Verdinglichungseinwand mit dieser Begründung zu relativieren versuchen. Freilich hat das Bundesverfassungsgericht dem Argument einer vorhersehbar nur noch kurzen Lebensdauer die Unmöglichkeit entgegengehalten, in solchen Fällen eine wirklich sichere Prognose über den weiteren Gang der Dinge zu erstellen.22 Und es gilt dieses Argument ganz entsprechend für viele Konstellationen des eben diskutierten quantifizierenden Ansatzes. Zum fraglichen Fall: Vielleicht gewinnen die Passagiere ja noch Oberhand über die Entführer. Die Diskussion um den Rettungsabschuss klammert dieses – sehr gewichtige – Argument jedoch zumeist aus. Von solchen Unwägbarkeiten unberührt stützen (und beschränken zugleich) einige Autoren die Annahme eines rechtfertigenden Notstands bei geringer Restlebensdauer der zu Tötenden auf die Konstellation mit ungleichen Rettungschancen;23 herkömmlich werden derartige Fallgruppen der Gefahrengemeinschaft anhand eines Kletterunfalls oder eines Schiffsunglücks diskutiert. ___________ 20

Vgl. dazu etwa Bernsmann, „Entschuldigung“ durch Notstand, 1989, S. 318 f.; Lampe, Strafphilosophie, 1999, S. 5 f.; Hruschka, JZ 2001, 261 ff.; Hörnle, in: Putzke u.a. (Hrsg.), Herzberg-FS, 2008, S. 555 (558); Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 46 ff. 21 Vgl. Dworkin, Amerika zerstört seine Selbstachtung, in: Die Zeit, Nr. 28 vom 7. Juli 2005, S. 35. – Ob man hier auf eine „Staatswürde“ (Jäger, JA 2008, 678 [680 f.]) abheben kann oder soll, erscheint mir freilich zweifelhaft. 22 Vgl. BVerfGE 115, 118 (154 ff.); vgl. auch Küper, JuS 1981, 785 (793); Sinn, NStZ 2004, 585 (591); NK/StGB-Paeffgen, 2. Aufl. 2005, Vor § 32 Rn. 155; W. Hecker, KritJ 2006, 179 (189); Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 40; Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 34 Rn. 11; relativierend Jerouschek, in: Amelung u.a. (Hrsg.), Schreiber-FS, 2003, S. 185 (194); H. J. Hirsch, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 149 (162 f.); Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 393 ff. 23 Vgl. MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 118 ff.; Spendel, RuP 2006, 131 (134); H. J. Hirsch, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 149 (160 ff.); Ladiges, ZIS 2008, 129 (133 ff., 140); Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 375 ff., 391.

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Der Bergnot-Fall: Zwei in Seilschaft kletternde Bergsteiger verunglücken. Der eine kann nicht gerettet werden. Der zweite Bergsteiger hat eine Rettungschance nur dann, wenn er das Seil kappt und den anderen, der mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ohnehin nicht zu retten sein wird, in den Abgrund stürzen lässt. So geschieht es und der Kamerad am gekappten Seil stirbt infolge des Absturzes vorzeitig. Die herrschende Meinung bezüglich des zum Thema „Gefahrengemeinschaft“ gehörenden Schulfalles verneint eine Rechtfertigung und verweist lediglich auf Entschuldigung – dies, obwohl der Täter zugunsten eigener Rettung dem Bergkamerad lediglich eine kurze Zeitspanne seines Lebens genommen hat.24 Zur Begründung für diese rigide Haltung wird auf den Grundsatz des absoluten Lebensschutzes verwiesen, wonach „die Rechtsordnung jedes Menschenleben schon auf Grund seiner realen Existenz und ohne Rücksicht auf seine künftige Dauer in völlig gleicher Weise schützt“.25 Eine beachtliche Mindermeinung vertritt eine andere Linie: Der sich selbst rettende Bergsteiger verkürze lediglich das Leben des Todgeweihten. Angesichts der hoffnungslosen Lage des anderen rechtfertige das nicht schon das Urteil, er habe sich „Lebensrettungschancen des anderen angemaßt“. Auch sei er nicht verpflichtet, sein Leben zu opfern. Daher rette der Bergsteiger sein Leben nicht auf Kosten des anderen. Ohne eine derartige „Chancenanmaßung“ sei sein Verhalten nicht pflichtwidrig.26 Küper hat diesem von Otto für Fälle der Gefahrengemeinschaft vertretenen Ansatz aber ganz überzeugend entgegengehalten, dass eben doch eine Chan___________ 24 Vgl. Küper, JuS 1981, 785 (788 ff.); Jäger, ZStW 115 (2003), 765 (786 ff.); Koch, JA 2005, 745 (747); Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 35 ff.; Schönke/ Schröder-Lenckner/Perron, 27. Aufl. 2006, § 34 Rn. 24; LK-Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 65, 74; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 316 f.; vgl. auch Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 153 ff.; vermittelnd Günther, Strafrechtswidrigkeit (Fn. 16), S. 346 (Strafunrechtsausschluß). 25 Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 316 a; vgl. BVerfGE 115, 118 (152, 158); OGHSt 1, 321 (334); BGHSt 35, 347 (350); Küper, Grund- und Grenzfragen der rechtfertigenden Pflichtenkollision im Strafrecht, 1978, S. 47 f., 60; ders., JuS 1981, 785 (793); Ebert, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2001, S. 83; MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 114 ff.; MK/StGB-Schlehofer, Vor §§ 32 Rn. 216; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 33 ff.; LK-Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 74; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 114. 26 So Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 1965, S. 82 f.; ders., Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 8 Rn. 193; i.E. ebenso etwa Eb. Schmidt, SJZ 1949, Sp. 559 (565); Arthur Kaufmann, in: Schroeder u. a. (Hrsg.), Maurach-FS, 1972, S. 338 ff.; Schild, JA 1978, 634; Günther, Strafrechtswidrigkeit (Fn. 16), S. 346; Pawlik, Jura 2002, 26 (30 f.); MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 120; NK/StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 76 f.; ferner Hillgruber, JZ 2007, 209 (216 f.); Depenheuer, Selbstbehauptung (Fn. 3), S. 98 f.

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cenanmaßung des sich Rettenden vorliegt, da dieser die Lebensdauer seines unglücklichen Bergkameraden verkürzt, ihn also tötet.27 Eine Entschärfung dieses Aspekts versucht Sinn, wenn er den dem Tode Geweihten dazu verpflichten möchte, den Tod hinzunehmen, wobei „der Grund für eine Rechtfertigung also die Sinngebung des eigenen Todes zur Lebenserhaltung anderer“ wäre.28 Ein derartiger Ansatz29 scheitert freilich schon daran, dass er nicht mehr vermag, als das gesellschaftliche Wertungsproblem auf die betroffenen Individuen zu projizieren, d.h. zu personalisieren, ohne sie jedoch als individuell entscheidende Personen ernstzunehmen. Sinn lässt den von ihm theoretisch als begründbar angesehenen Ansatz letztlich an Praxisproblemen scheitern, nämlich an den Unsicherheiten über den Ablauf des jeweiligen Geschehens.30 Eher überzeugend kann man die Mindermeinung anhand der Grundsätze des Defensivnotstands (unten 4.) zu begründen versuchen, soweit die Gefahrenlage durch den zu Opfernden (im Bergnot-Fall durch den Sturz des Bergkameraden) herbeigeführt wurde.31 Auch spricht einiges dafür, immerhin eine Nähe zur (mutmaßlichen) Einwilligung anzunehmen, da allen Bergsteigern bei Eingehen der Gefahrgemeinschaft klar war, wie in einer derartigen Notsituation zu reagieren ist. Auch wenn keine regelrechte Einwilligung vorliegt,32 ist dieser Punkt doch in die gem. § 34 StGB anzustellende Interessenabwägung einzustellen.33 Im Ansatz parallel zum Bergnot-Fall liegt der U-Boot-Fall: Nach einer Havarie schließt der U-Boot-Kapitän die Schotten zu den durch Wassereinbruch bedrohten Teilen seines Boots. In der Folge sterben die dort eingeschlossenen Seeleute. Das Schiff und die anderen Besatzungsmitglieder werden auf diesem Wege aber gerettet. Obwohl die Tat zur Rettung der restlichen U-Boot-Mannschaft notwendig ist, wird die Tötung der eingeschlossenen Seeleute durch die Rettung der an___________ 27

Vgl. Küper, Grenzfragen (Fn. 25), S. 45 ff.; ders., JuS 1981, 785 (789 f.); vgl. auch Delonge, Interessenabwägung (Fn. 14), S. 125; Schünemann, Verantwortetes Recht (Fn. 8), S. 151 f.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 39; Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 352; krit. Bernsmann, „Entschuldigung“ durch Notstand, 1989, S. 325 ff. 28 Sinn, NStZ 2004, 585 (588 f.). 29 Vgl. auch Depenheuer, Selbstbehauptung (Fn. 3), S. 98 ff.; Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 387 ff. 30 Vgl. Sinn, NStZ 2004, 585 (591). 31 Vgl. auch Pawlik, Jura 2002, 30 f.; ders., JZ 2004, 1045 (1048); dagegen Zieschang, Strafrecht AT, 2005, S. 69. 32 Bereits angesichts der Einwilligungssperre des § 216 StGB kommt eine selbständig tragfähige Einwilligung nicht in Betracht; vgl. auch Pawlik, JZ 2004, 1045 (1050); LKZieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 74 mit Fn. 149. 33 Vgl. auch Mitsch, in: Heinrich u.a. (Hrsg.), Weber-FS, 2004, S. 49 (60 f., 66).

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deren gemäß herrschender Meinung nicht gerechtfertigt, sondern lediglich gem. § 35 StGB entschuldigt.34 Dies gilt unabhängig davon, wie das Zahlenverhältnis der geretteten zu den getöteten Seeleuten ist, ob also wenige für viele geopfert werden.35 Hingegen wird man aus Sicht der Mindermeinung zur Gefahrengemeinschafts-Konstellation mit ungleichen Rettungschancen wohl auch den U-BootFall als rechtfertigenden Notstand behandeln können, wenn ohne die vorherige Opferung der wenigen Seeleute kurze Zeit später alle Besatzungsmitglieder umgekommen wären.36 Damit bleibt zunächst ohne Relevanz, dass im Unterschied zum Bergnot-Fall von Seiten der eingeschlossenen Seeleute keine Gefahr für die restliche Besatzung ausgeht.37 Freilich sind die beiden Konstellationen insofern gleichgelagert, als die Todgeweihten nicht etwa mittels einer willkürlichen Entscheidung über Leben und Tod bestimmt werden, sondern eine Sachlage mit einseitiger Verteilung der Überlebenschancen vom Täter vorgefunden wird.38 In der dem U-Boot-Fall ähnlichen Konstellation des Flugzeugabschusses entscheidet Otto – obwohl Begründer der Chancenanmaßungs-Lehre – anders. Er weist darauf hin, dass die Passagiere durch den Abschuss einer neuen, andersartigen Gefahr ausgesetzt würden.39 Jedoch erscheint das angesichts des dem Flugzeug ohnehin drohenden Absturzes nur schwer begründbar – es sei denn, man hebt insoweit auf die durch den Abschuss verkürzte Restlebensdauer ab, die aber gerade Otto im Rahmen seiner Chancenanmaßungslehre für vernachlässigbar hält. Problematisch an jeder Entscheidung für eine „Aufopferung der unrettbar verlorenen Menschen“40 ist, dass sie letztlich die voraussichtliche Restlebens___________ 34 Für eine weitere Differenzierung vgl. Bernsmann, „Entschuldigung“ durch Notstand, 1989, S. 327 ff. 35 Vgl. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 3 a, c und V 1 b; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 35 ff.; Schönke/Schröder-Lenckner/ Perron, 27. Aufl. 2006, § 34 Rn. 24; LK-Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 74; vgl. auch BGH NJW 1953, 513; Lenckner, Der rechtfertigende Notstand, 1965, S. 101; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 154 f. 36 Vgl. etwa Otto, Pflichtenkollision und Rechtswidrigkeitsurteil, 1965, S. 85; ders., Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 8 Rn. 195; Ladiges, ZIS 2008, 129 (140). 37 Vgl. auch Günther, Strafrechtswidrigkeit (Fn. 16), S. 346; Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, S. 266 f.; LK-Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 74. – Zu den Voraussetzungen des Defensivnotstands vgl. unten in II 4. 38 Vgl. dazu Eb. Schmidt, SJZ 1949, Sp. 559 ff., 565 f.; MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 118 ff.; NK/StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 76 f.; ferner Spendel, RuP 2006, 131 (134); Joecks, Studienkommentar StGB, 7. Aufl. 2007, § 35 Rn. 44 f.; Ladiges, ZIS 2008, 129 (140). 39 Vgl. Otto, Jura 2005, 470 (478 f.). 40 Spendel, RuP 2006, 131 (134).

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dauer zum Abwägungskriterium für die Frage der Erfüllung der Voraussetzungen des § 34 StGB erhebt. Damit würde die Nicht-Bewertbarkeit menschlichen Lebens als bisher weitgehend unangefochtenes Leitprinzip41 aufgegeben. Auch der Täter, der „nur“ zu Lasten der von ihm als todgeweiht Vorgefundenen handelt, verstößt gegen dieses Prinzip. Für die herrschende Meinung, die jede Bewertbarkeit anhand einer mehr oder minder langen Restlebenszeit ablehnt, lässt sich schließlich ein wesentlicher pragmatischer Aspekt anführen: Eine Relativierung des absoluten Lebensschutzes könnte zu unerwünschten Folgewirkungen an anderer Stelle führen – man denke etwa an die Plünderung von Sterbenden zum Zwecke der Organtransplantation.42

4. Defensivnotstand? a) Grundlagen In der Literatur zieht man angesichts dieser Problemlage vor allem die Grundsätze des Defensivnotstands heran. Die herrschende Lehre geht davon aus, dass die Interessenabwägung im Rahmen des § 34 StGB durch den aus § 228 BGB zu entnehmenden Rechtsgedanken beeinflusst wird.43. Teils geht man darüber hinaus und will allein auf eine analoge Anwendung von § 228 BGB abstellen.44 Aufs Gleiche hinaus laufen Stellungnahmen, wonach der Rechtsgedanke des § 228 BGB in den § 34 StGB zu importieren sei, dabei aber ___________ 41

Vgl. oben Fn. 25. Vgl. Pawlik, JZ 2004, 1045 (1050); Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 39; zum Transplantationsfall ausführlich Hörnle, in: Putzke u.a. (Hrsg.), HerzbergFS, 2008, S. 555 (556 ff.) – Gegen „schiefe Ebene“- oder „Dammbruch“-Argumente aber Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 394 ff. 43 Vgl. etwa BGHSt 48, 255 (257); Seelmann, Das Verhältnis von § 34 StGB zu anderen Rechtfertigungsgründen, 1978, S. 21, 34 f.; Roxin, in: Vogler u.a. (Hrsg.), Jescheck-FS, 1985, S. 457 (464 ff.); Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 5; Otte, Der durch Menschen ausgelöste Defensivnotstand, 1998, S. 108 ff., 120; SK/StGB-Günther, 7. Aufl. 2000, § 34 Rn. 14; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn. 77; Krey, Strafrecht AT I, 2. Aufl. 2004, Rn. 577 ff.; Stratenwerth/Kuhlen, Strafrecht AT I, 5. Aufl. 2004, § 9 Rn. 111; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 76 ff.; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, 27. Aufl. 2006, § 34 Rn. 30; Hoyer, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 173 (177 f.); Lackner/Kühl, 26. Aufl. 2007, § 34 Rn. 9; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 313; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 134; Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 3 Rn. 70, 81. 44 Vgl. etwa O. Lampe, NJW 1968, 88 (91 ff.); Hruschka, JuS 1979, 385 (391 f.); ders., Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 78 ff., 176 ff.; Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, S. 245 ff.; Koriath, JA 1998, 250 (256); Pawlik, GA 2003, 12 (16 ff.); ders., JZ 2004, 1045 (1048); NK/StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 86 ff.; Frister, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2008, § 17 Rn. 21. 42

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die einigermaßen radikale Umkehr der Abwägung zu Lasten des Gefahrenträgers entsprechend § 228 BGB nachvollzogen wird:45 Vorauszusetzen sei lediglich, dass der abzuwehrende „Schaden nicht außer Verhältnis zu der Gefahr steht“. Nur bei dieser letzten Meinungs-Variante handelt es sich um einen bloß formalen Streit,46 ob § 34 StGB oder § 228 BGB analog gilt. Für eine zurückhaltende Berücksichtigung des § 228 BGB im Rahmen des § 34 StGB spricht, dass die zivilrechtliche Regelung angesichts ihrer einseitigen Wertung zugunsten des geretteten Interesses nur für Fälle des Eingriffs in fremde Sachen unmittelbar einzuleuchten vermag. Es stellt keinen Zufall dar, dass das StGB keine entsprechende Rechtfertigungsnorm enthält. Bezüglich eines Handelns im Defensivnotstand zu Lasten höchstpersönlicher Rechtsgüter einer Person sind subtilere Abwägungen vonnöten, als in § 228 BGB vorgegeben.47 Es ergibt sich von daher die Frage, wie stark man die Defensivlage in den Abwägungsvorgang „Leben gegen Leben“ hineinwirken lässt. Während für manchen Autor lediglich „eine behutsame Verschiebung der Maßstäbe“ des § 34 StGB in Betracht kommt, solange der Gefahrenträger nicht pflichtwidrig gehandelt hatte,48 wird dieser Vorbehalt von der überwiegenden Ansicht offenbar nicht geteilt. Danach kommt es grundsätzlich in Betracht, zur Rettung von Menschen andere Menschen zu töten.49 Diese Stellungnahmen sind freilich nicht einheitlich hinsichtlich der zugrundegelegten Prämissen. Der häufig als Beispiel herangezogene Perforations-Fall50 (Tötung des Kindes in der Geburt ___________ 45 Vgl. Küper, Grenzfragen (Fn. 25), S. 72 f.; SK/StGB-Günther, 7. Aufl. 2000, § 34 Rn. 14, 40; Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, 11. Aufl. 2003, § 17 Rn. 77; Krey, Strafrecht AT I, 2. Aufl. 2004, Rn. 579; LK-Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 72 ff.; Kindhäuser, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2008, § 17 Rn. 48; Jäger, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2007, Rn. 159; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 134; Ladiges, ZIS 2008, 129 (131); Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 174 f. 46 So Kindhäuser, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2008, § 17 Rn. 48. 47 Vgl. etwa Günther, Strafrechtswidrigkeit (Fn. 16), S. 339 f.; Roxin, in: Vogler u.a. (Hrsg.), Jescheck-FS, 1985, S. 457 (466 f.); Otte, (Fn. 43), S. 97 ff.; MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 147 ff.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 74 ff.; HK/GSDuttge, 2008, § 34 StGB Rn. 17. 48 So MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 151. 49 Vgl. Küper, Grenzfragen (Fn. 25), S. 74 ff.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 13. Abschnitt Rn. 46; SK/StGB-Günther, 7. Aufl. 2000, § 34 Rn. 43; Krey, Strafrecht AT 1, 2. Aufl. 2004, Rn. 582 c; Pawlik, JZ 2004, 1045 (1048); Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 6.B Rn. 137; NK/StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 90 f.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 78; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 34 Rn. 9; Frister, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2008, § 17 Rn. 29; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 141; begrenzt auf pflichtwidrige Gefahrverursachung MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 156. 50 Vgl. etwa Roxin, in: Vogler u.a. (Hrsg.), Jescheck-FS, 1985, S. 457 (475 ff.); Renzikowski, Notstand und Notwehr, 1994, S. 267 f.; SK/StGB-Günther, 7. Aufl. 2000, § 34

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zum Zwecke der Rettung der Mutter) betrifft unverkennbar eine Sonderkonstellation. – Die zunehmend umstrittene Grundsatzfrage, ob der Defensivnotstand sogar die vorsätzliche Tötung von Menschen rechtfertigen kann,51 mag zunächst offen bleiben; die Klärung der Reichweite des Defensivnotstands für Fälle des Flugzeugabschusses soll im Folgenden auf Grundlage der herrschenden Meinung zur Zulässigkeit auch letaler Rettungshandlungen erfolgen. Voraussetzung für eine Rechtfertigung wegen Defensivnotstands ist stets, dass die Rettungshandlung zu Lasten derjenigen geht, die für die Gefahrenlage zuständig sind,52 wobei ein schuldhaftes oder auch nur rechtswidriges Handeln für eine derartige „Zuständigkeit“ nicht vorausgesetzt wird. Auch eine Nothandlung zu Lasten höchstpersönlicher Rechtsgüter setzt kein gefahrbegründendes Handeln voraus; das bloße Dasein des Gefahrenträgers reicht aus.53

b) Zuständigkeit der Flugpassagiere für die Gefahrenlage? In unserem Flugzeug-Fall ergeben sich hinsichtlich der für Defensivnotstand grundsätzlich vorauszusetzenden Zuständigkeit der Passagiere für das Hinnehmen ihrer Tötung unverkennbar Zweifel. Gleichwohl argumentiert Spendel, dass sich die Passagiere – obschon „Opfer der Terroristen“ – „auf der Seite des Angriffs und Unrechts befinden“.54 Ganz ähnlich lassen H.-J. Hirsch und Schünemann es hier für Defensivnotstand ausreichen, dass die unrettbar Verlorenen „schicksalhaft untrennbar mit der Gefahrenquelle verbunden“55 bzw. „Teil der ‚Angriffskausalität‘“56 sind. Gropp spricht davon, dass „die Gefahr für die am Boden befindlichen Personen ... aus der Sphäre der mit dem Flugzeug herab___________ Rn. 43; MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 153; Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 6.B Rn. 137; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 79; Lackner/Kühl, StGB, 26. Aufl. 2007, § 34 Rn. 9; letztlich eine Rechtfertigung verneinend LK-Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 74. 51 Ablehnend BGHSt 48, 255 (257); Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, 27. Aufl. 2006, § 34 Rn. 30; LK-Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 17 b, 74; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 316. 52 Vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 13. Abschnitt Rn. 47; Köhler, in: Hoyer u.a. (Hrsg.), Schroeder-FS, 2006, S. 257 (268); Merkel, JZ 2007, 373 (384); krit. zur „Zuständigkeits“-Begrifflichkeit Schünemann, (Fn. 8), S. 152. 53 Vgl. zum Ganzen Hruschka, in: Jescheck u.a. (Hrsg.), Dreher-FS, 1977, S. 189 (203 f.); Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 5; MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 147; Köhler, in: Hoyer u.a. (Hrsg.), Schroeder-FS, 2006, S. 257 (266 f.); Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 73; LK-Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 73. 54 Vgl. Spendel, RuP 2006, 131 (134). 55 H. J. Hirsch, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 149 (164); vgl. auch Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 138 a. 56 Schünemann, (Fn. 8), S. 153.

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stürzenden Personen“ komme.57 Auch Köhler argumentiert in diese Richtung, wenn er auf der Grundlage von Überlegungen objektiver Zurechnung zu dem Befund gelangt, es falle „die mitwirkende objektiv zurechenbare Gefahrverantwortung des in den Angriff Einbezogenen ... jenem zur Last“.58 Rogall stimmt dem zu und spricht von einer „Zustandsverantwortlichkeit“ der entführten Passagiere.59 Es wird demnach das schlichte Faktum, als Entführungsopfer in einer bestimmten, zu Angriffszwecken missbrauchten Maschine zu sitzen, dazu herangezogen, eine Pflichtigkeit zur Hinnahme letaler Zwangsmaßnahmen zu postulieren. Dabei wird in diesen Stellungnahmen darauf verzichtet, eine Verschärfung der faktischen Gefahrenlage durch das in der Maschine Sitzen der Passagiere zu begründen. Zwar wäre eine solche Sachlage nach herrschender Lehre hinreichende Grundlage für die Annahme einer notstandsrelevanten Defensivlage, da kein Handeln des Gefahrenträgers und erst recht kein rechtswidriges oder schuldhaftes Handeln vorausgesetzt wird. Jedoch geben die Fakten eine Erhöhung der Gefahren für Dritte allein wegen des Mehrgewichts der in der Maschine sitzenden Passagiere nicht her.60 Eine Basis für die Begründung eines Defensivnotstands zu Lasten der Passagiere sieht Gropp immerhin in der Tatsache der Flugveranlassung durch die Fluggäste.61 Dies ist aber schon unter Kausalitätsaspekten bezüglich der einzelnen Passagiere zweifelhaft. Denn niemand kann behaupten, es hätte bei Fehlen des einen oder anderen Passagiers der Flug nicht stattgefunden. Erst recht lässt sich keine Gefahren-Zurechnung begründen, da den weit im Vorfeld von späteren Gefahrenlagen getätigten Flugbuchungen in der konkreten Gefahrenlage keinerlei Relevanz mehr zukommt. Ein Blick auf § 32 StGB mit seinem Erfordernis eines gegenwärtigen Angriffs verdeutlicht, dass für die Reklamation von Notrechten eine beliebige Vorverlagerung von Anknüpfungen auszuscheiden hat, auch wenn dieser Aspekt beim rechtfertigenden Notstand mit der Anerkennung der Dauergefahr ein wenig zurückgenommen ist. Zu denken ist schließlich an solche Passagiere, die sich nicht aus eigenem Entschluss im Flugzeug befinden, z.B. die mitfliegenden Kinder oder die auf dienstliche Anordnung Reisenden. Die von Gropp angebotene Zuständigkeitskonstruktion für die Annahme eines Defensivnotstands kann daher nicht überzeugen.

___________ 57

Gropp, GA 2006, 284 (287). Köhler, in: Hoyer u.a. (Hrsg.), Schroeder-FS, 2006, 257 (269). 59 Rogall, NStZ 2008, 1 (3). 60 Vgl. dazu den „Fall des dicken Mannes“ bei Merkel, JZ 2007, 373 (383 f.). 61 Vgl. Gropp, GA 2006, 284 (288); ablehnend Köhler, in: Hoyer u.a. (Hrsg.), Schroeder-FS, 2006, S. 257 (266 f.). 58

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Durch eine noch offenere Zurechnungsbegründung, die eine Zuständigkeit für Gefahren auch auf Zufallsgrundlage (casum sentit dominus) bejaht, entgeht Köhler derartigen Einwänden.62 Neben grundsätzlichen Zweifeln an einer so voraussetzungsarmen Zurechnung ergibt sich hier das m.E. durchschlagende Bedenken, dass damit die Letztbedrohten nicht weniger zur Gefahrenhinnahme verpflichtet wären als die entführten Passagiere. Für eine besondere Pflichtigkeit gerade der Passagiere zur Hinnahme des Todes und damit für eine Abschuss-Rechtfertigung gewinnt man aus diesem Ansatz also nichts. Von einer Sonderkonstellation her argumentiert Rogall, der den Fall der Notwehr gegen eine angreifende Schwangere zum Maßstab erhebt. Man müsse sich auch dann gegen den Angriff der Schwangeren wehren können, wenn dabei die Leibesfrucht geschädigt würde; hinsichtlich des nasciturus liege ein rechtfertigender Defensivnotstand vor. Diese Position sei auf den Flugzeugabschuss zu übertragen.63 Jedoch ist dem entgegenzuhalten, dass der Vergleich eines entführten Passagiers mit einem nasciturus ganz unverkennbar „hinkt“. Die enge Bezogenheit von Mutter und Leibesfrucht liefert den nasciturus in vielerlei Hinsicht dem schädigenden Handeln der Schwangeren ohne strafrechtlichen Schutz aus. Es wird unter bestimmten Rahmenbedingungen sogar die Option einer straffreien Abtreibung eröffnet und es wirkt sich das Sonderverhältnis speziell im Rahmen einer Notwehr gegen die werdende Mutter zu Lasten der Rechtsposition des von der Verteidigungshandlung mitbetroffenen Kindes aus.64 Die Frage rechtlicher Zulässigkeit einer Tötung von entführten Flugzeugpassagieren zugunsten Dritter ist daher unabhängig von der Sonderkonstellation Mutter/Leibesfrucht zu klären. Dass schließlich die Rechte der Entführten der Rechtfertigung eines Abschusses entgegenstehen können, macht sie nicht schon zum Teil des Angriffs. Dies aber behauptet Spendel, wenn er argumentiert, dass die Passagiere im Flugzeug sich bereits deshalb „auf der Seite des Angriffs und Unrechts befinden“, weil ihre Anwesenheit „die staatlichen Organe und deren Nothelfer in der Wahrnehmung ihrer Schutzpflicht gegenüber den Menschen im Hochhaus ‚verunsichert‘“.65 In höchst widersprüchlicher Weise wird hier eine bestehende Rechtsposition schlichtweg zum rettungsverhindernden Element erklärt, das schon deshalb den Rechtsverlust erklären soll. So gesehen, wären Rechte eben ___________ 62

Vgl. Köhler, in: Hoyer u.a. (Hrsg.), Schroeder-FS, 2006, S. 257 (264 ff.). Vgl. Rogall, NStZ 2008, 1 (4); dabei stützt sich Rogall auf einen Ansatz von Mitsch, (JR 2006, 450 [452 f.]), der freilich keinen Defensivnotstand unterstellt, sondern davon ausgeht, daß die Tötung einer Leibesfrucht aufgrund einer normalen Abwägung gemäß § 34 StGB gerechtfertigt sein kann. 64 Vgl. Mitsch, JR 2006, 450 (453); Jäger, JA 2008, 678 (682); anders Ladiges, JR 2007, 104 ff. 65 Spendel, RuP 2006, 131 (134). 63

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keine Rechte mehr, sondern nach Opportunität von Rettungserwägungen zugestandene oder aber entziehbare Positionen. Eine Ergänzung des Flugzeugabschuss-Falles mag verdeutlichen, welche Folgen eine Entleerung der Zuständigkeitskriterien, wie sie die eben angesprochenen Ansätze bewirken, nach sich ziehen könnte. Der Segelflieger-Fall: Eine Raketenbatterie erhält den Befehl zum Abschuss des entführten Flugzeugs. In der Schussrichtung fliegt jedoch im entscheidenden Augenblick ganz zufällig ein Segelflugzeug. Dadurch wird zwar der geplante Abschuss nicht vereitelt, doch würde der Segelflieger durch die nahe vorbeifliegende Rakete höchstwahrscheinlich mit letalen Folgen für die beiden Insassen zum Absturz gebracht. Hier sind die Insassen des Segelflugzeuges Teil des Problems insoweit, als ihre Anwesenheit den Abschuss der Maschine möglicherweise für die Retterpsyche erschwert. Dass sie eigentlich Unbeteiligte sind, unterscheidet sie in keiner Weise von den entführten Passagieren, die genauso wenig für die Problemlage verantwortlich sind wie die Segelflieger. Die Insassen des Segelflugzeugs prägen die Gefahrenlage genauso viel oder genauso wenig wie die Entführten. Wer hinsichtlich des Vorgehens gegen die Passagiere einen Defensivnotstand konstruieren will, wird ihn – irritierenderweise – also auch gegenüber den Segelfliegern konstruieren können. Hierbei wird das schlichte Leitprinzip „der Zweck heiligt die Mittel“ ganz deutlich. Immerhin das eingrenzende Kriterium von Hirsch, dass die Todgeweihten „in die Gefahrenquelle involviert sein müssen“,66 würde im Segelflieger-Fall einer Rechtfertigung wohl entgegenstehen. Freilich kann dieses rudimentäre DefensivnotstandsKriterium letztlich nicht überzeugen. Man fragt sich nämlich, weshalb die zufällig vorbeifliegenden Segelflieger geschützt sein sollen, nicht aber die genauso zufällig und genauso wenig gefahrenverschärfend im entführten Flugzeug Sitzenden.

c) Zwischenergebnis: Kein Defensivnotstand Auf Grundlage des oben Ausgeführten bleibt festzuhalten, dass die bloße Befangenheit eines Rechtsguts in einem Gefahrenzusammenhang den Rechtsgutsträger nicht verpflichtet, die durch Gefahrenabwehr eintretenden Schädigungen hinzunehmen; er ist m.a.W. nicht zuständig für die Gefahr. Wer den Gefahrenbefangenen allein deshalb rechtlos stellen will, weil dies für die Abwehr der Gefahr erforderlich erscheint, argumentiert rein utilitaristisch. Eine derart umstandslose Eliminierung elementarer Individualrechte bleibt ohne ___________ 66

H. J. Hirsch, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 149 (160 f.).

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rechtliche Begründung. Konkret ist daraus zu folgern: Zu Lasten der im entführten Flugzeug sitzenden Passagiere, von denen keinerlei Gefahr für andere Menschen ausgeht, besteht von vorneherein keine Defensivnotstandslage. Durchaus in diesem Sinne lehnen auch andere Autoren es ab, allein schon den Status als Insasse des entführten Flugzeugs ausreichen zu lassen, die Betreffenden im Sinne eines Defensivnotstands zum konstitutiven Teil der Gefahrenlage zu erklären.67 Merkel formuliert ebenso deutlich wie überzeugend: „Derart aus dem Bodenlosen geholte Zurechnungen dürften jedenfalls nicht Grundlage staatlicher Eingriffsbefugnisse sein, und solcher zum Töten schon gar nicht“.68 Ein Defensivnotstand liegt vor, wenn eine Person (oder eine Sache) dazu beiträgt, eine Gefahr bzw. einen drohenden Schaden zu begründen oder zu verstärken („Gefahrenträgerschaft“). Dies kann bereits durch die bloße körperliche Anwesenheit gegeben sein, etwa des Kindes im Falle der PerforationsKonstellation. Im Flugzeug-Fall aber wäre das allein dann gegeben, wenn das zusätzliche Gewicht der Passagiere den Aufschlag des Flugzeugs erheblich gefährlicher für andere Menschen machen würde – was ganz unrealistisch erscheint. Obschon im Fall des mit Passagieren besetzten entführten Flugzeugs ein Defensivnotstand nicht zu bejahen ist, soll angesichts der in der Lehre teils entgegenstehenden Ansichten noch auf die Rechtsfolgen bei Bejahung von Defensivnotstand eingegangen werden.

d) Rechtliche Folgen bei bejahtem Defensivnotstand Als Ausgangspunkt festhalten lässt sich, dass auch im Falle gegebenen Defensivnotstands eine Legitimierung der Verletzung höchstpersönlicher Rechtsgüter des Gefahrenträgers nur begrenzt auf den Rechtsgedanken des § 228 StGB analog gestützt werden kann. Dessen Wertungsvorgabe, welche die Interessen des an der gefahrtragenden Sache Berechtigten grundsätzlich zurücktreten lässt, ist in die Notstandsregelung des Strafrechts einzupassen. Gemäß § 34 StGB ist Rechtfertigungsvoraussetzung, dass „das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt“. Im Rahmen eben dieser Interessenabwägung ist der Rechtsgedanke des § 228 BGB als ein Abwägungselement relevant. Naheliegenderweise wird man hierbei eine nicht rechts___________ 67 Vgl. Pawlik, JZ 2004, 1045 (1049); Merkel, JZ 2007, 373 (382 ff.); Hörnle, in: Putzke u.a. (Hrsg.), Herzberg-FS, 2008, S. 555 (565 mit Fn. 57); Ladiges, ZIS 2008, 129 (132); Fischer, StGB, 56. Aufl. 2009, § 34 Rn. 11. 68 Merkel, JZ 2007, 373 (385).

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widrige und eine nicht schuldhafte Gefahrenträgerschaft von einer vorwerfbar herbeigeführten zu unterscheiden haben.69 Im Falle der Perforation sucht man nicht ohne Grund zusätzliche Wertungselemente, um zu einer Rechtfertigung zu Lasten des an der Notlage ganz unschuldigen Kindes zu gelangen. Etwa stellt man nachvollziehbarer Weise auf die Nähe zu einer Abtreibungslage ab.70 Im Falle des entführten Flugzeugs könnte man bei Bejahung einer Defensivlage daran denken, ausnahmsweise auf die – eigentlich schwachen Argumente – der nur noch kurzen Restlebenszeit der Entführten und/oder der größeren Zahl zu Rettender zusätzlich abzustellen. Überzeugend erscheint mir das angesichts der oben dargestellten Problematik dieser Wertungsaspekte aber nicht. Die Relevanz der Defensivlage für die Interessenabwägung im Rahmen von § 34 StGB nimmt in dem Maße zu, wie sie sich an eine Notwehrlage i.S.v. § 32 StGB annähert. Bei pflichtwidriger Schaffung einer Gefahrenlage kann die Tötung des Gefahrenträgers zum Zwecke der Rettung der durch ihn gefährdeten Leben gemäß § 34 StGB gerechtfertigt sein, ohne dass das Einwirken zusätzlicher Wertungselemente auf die Interessenabwägung zwingend erforderlich wäre. – Dass es an einer derartig qualifizierten Gefahrenträgerschaft in der Konstellation der entführten Passagiere fehlt, ist aber wohl auch unter den Vertretern der Defensivnotstands-These unstreitig. Ein instruktiver, vieldiskutierter Praxis-Fall mit einer besonders komplexen Abwägungsfrage betrifft die Vornahme einer lebensgefährdenden Handlung zur Abwehr einer sehr belastenden Dauergefahr für andere Rechtsgüter. Spanner-Fall:71 Über Jahre hinweg wurden der Angeklagte und seine Familie nachts von einem heimlichen Besucher belästigt, der zur Schlafenszeit immer wieder auf rätselhafte Weise ins Haus eindrang. Die so terrorisierte Familie, die ihr ganzes abendliches Ausgehverhalten etc. ändern musste, erhielt auch von der Polizei keine Hilfe. Schließlich stellte A den Eindringling und schoss dem Fliehenden nach, der „in die linke Gesäßhälfte und in die linke Flanke“ getroffen wurde. – Da bei Abgabe des Schusses kein gegenwärtiger Angriff i.S.v. § 32 StGB mehr vorlag, sprach der Bundesgerichtshof letztlich unter Heranziehung von § 35 StGB frei. ___________ 69

Vgl. etwa Otte, (Fn. 43), S. 101 f.; MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 154 ff.; Küper, Der „verschuldete“ rechtfertigende Notstand, 1983, S. 32; ferner Küper, Grenzfragen (Fn. 25), S. 74; Dencker, JuS 1979, 779 (781); Roxin, in: Vogler u.a. (Hrsg.), JescheckFS, 1985, S. 457 (470). 70 Vgl. Otte, (Fn. 43), S. 154 f.; MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 153; Jäger, ZStW 115 (2003), 765 (772 ff.); Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 79; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 139; einen Unterschied zum Flugzeugabschuß bei Abtreibung/Perforation verneinend jedoch Ladiges, ZIS 2008, 129 (136 ff.). 71 BGH NJW 1979, 2053 f.

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In der herrschenden Lehre geht man bezüglich des Spanner-Falles ganz überzeugend von einem Fall des rechtfertigenden Defensivnotstands aus,72 wobei die Bejahung einer Dauergefahr und im Rahmen der Interessenabwägung die Urheberschaft des Verletzten für diese Lage maßgeblich sind. Soweit nicht einfach eine Analogie zu § 228 BGB zugrundegelegt wurde, sondern richtigerweise eine Interessenabwägung i.S.v. § 34 StGB, hat man dafür auf zusätzliche Wertungsaspekte abgehoben.73 Dies erscheint schon deshalb naheliegend, weil die hier zu verteidigenden Rechtsgüter eindeutig weniger gewichtig waren als die durch die Notstandshandlung gefährdeten bzw. verletzten. Als Wertungsgesichtspunkte benannt wurden der für den Notstandstäter höchst belastende Charakter der Dauergefahr, das Bestehen eines Festnahmerechts i.S.v. § 127 I StPO sowie der enge zeitliche Zusammenhang zwischen Angriff und nachfolgender Notstandshandlung.74 Über eine objektiv pflichtwidrige Verursachung der Gefährdung hinaus fällt es ins Gewicht, wenn schuldhaftes Verhalten des Gefahrenträgers zu bejahen ist. Ganz in diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz den Abschuss eines (wahrscheinlich) angreifenden Flugzeugs dann für zulässig gehalten, wenn allen im Flugzeug Befindlichen diese Folge ihres „selbstbestimmten Verhaltens persönlich zugerechnet werden“ kann.75 Es erweist sich demnach selbst für den Fall der – hier hypothetisch vorgenommenen – Zugrundelegung eines Defensivnotstands, dass zweifelhaft bleiben muss, ob diese Kategorisierung allein schon eine Aufopferung der an ihrer Lage unschuldigen Passagiere rechtfertigen kann. Zu begründen wäre nämlich, weshalb ein derart wesentliches Überwiegen der Interessen der potentiellen Opfer über die Interessen der Flugzeuginsassen bejaht werden kann, dass tatsächlich die Voraussetzungen des rechtfertigenden Notstands erfüllt sind.

___________ 72

Vgl. Hruschka, NJW 1980, 21 ff.; Roxin, in: Vogler u.a. (Hrsg.), Jescheck-FS, 1985, S. 457 (481 f.); Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, 12. Abschn. Rn. 27; Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 33 IV 5; Pawlik, GA 2003, 12 (17 f.); Krey, Strafrecht AT 1, 2. Aufl. 2004, Rn. 577 f.; NK/StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 89; Kudlich, Strafrecht AT (PdW), 2. Aufl. 2006, Rn. 109 f.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 86; Schönke/Schröder-Lenckner/Perron, 27. Aufl. 2006, § 34 Rn. 30 f.; Jäger, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2007, Rn. 158 f.; Wessels/Beulke, Strafrecht AT, 38. Aufl. 2008, Rn. 313; Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 8 Rn. 136; Freund, Strafrecht AT, 2. Aufl. 2009, § 3 Rn. 53; abl. etwa Frister, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2008, § 17 Rn. 25. 73 Zu diesem Zusammenhang NK/StGB-Neumann, 2. Aufl. 2005, § 34 Rn. 89. 74 Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 86; Schönke/SchröderLenckner/Perron, 27. Aufl. 2006, § 34 Rn. 30 f. 75 Vgl. BVerfGE 115, 118 (160 f.).

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III. Staats- und menschenrechtliche Aspekte Das Bundesverfassungsgericht sieht in § 14 III LuftSiG einen Verstoß gegen die Menschenwürde-Garantie des Art. 1 I GG sowie das Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 II i.V.m. Art. 1 I GG.76 Dem hier zentralen Verdinglichungsargument hat man entgegengehalten, dass in den fraglichen Fällen die Tötung der Passagiere nicht Mittel – d.h. notwendiges Zwischenstadium – zur Rettung anderer ist, sondern Nebenfolge.77 So richtig diese Diagnose im Ansatz auch ist, so wenig führt sie aber weiter. Der Unterschied zwischen einerseits Mittel zur Rettung oder andererseits notwendiger Nebenfolge der Rettung vermag hinsichtlich der hier tangierten Grundrechte keinen Wertungsunterschied zu begründen.78 Es geht in jedem Falle um die vorsätzliche Aufopferung von Menschen zum Wohl anderer Menschen. So oder so werden die zu Tötenden zur quantité négligeable erklärt und insoweit verdinglicht. Das Bundesverfassungsgericht verneint daher ganz überzeugend die Legitimität derartigen Vorgehens, soweit es um die Tötung unschuldiger Menschen geht, die also nicht an dem Terrorangriff beteiligt sind. Die Objektformel dient als „Aufhänger“ für diese aus dem Grundgesetz entnommene Wertung, wobei man über ihre Heranziehung streiten mag.79 Jedenfalls ermöglicht die Objektformel eine Differenzierung des Menschenwürdeschutzes zwischen Opfern und Tätern an Bord der Maschine, da allein die Tötung der entführten Passagiere zum Zwecke der Rettung Dritter eine Verdinglichung von Menschen bedeuten würde, nicht aber die Tötung der Angreifer.80 Isensee hält dem mit dem Menschenwürdeschutz argumentierenden Bundesverfassungsgericht Realitätsferne vor und konstatiert, es seien „die tatunbeteiligten Passagiere zu Bestandteilen der Angriffswaffe umfunktioniert worden“ und empfiehlt eine „versachlichende“ Sicht, „in der auch Personen als Gefahrenquelle erscheinen“.81 Allerdings muss man Isensee verschleiernde Sprachspiele attestieren, wenn er den Passagier schlichtweg zum Teil der Waffe ___________ 76

Vgl. BVerfGE 115, 118 (151 ff.). Vgl. Merkel, JZ 2007, 373 (379 f.); Hörnle, in: Putzke u.a. (Hrsg.), Herzberg-FS, 2008, S. 555 (560). 78 Vgl. auch Merkel, JZ 2007, 373 (380). 79 Vgl. etwa Schenke, NJW 2006, 736 (738); H. J. Hirsch, in: Hettinger u.a. (Hrsg.), Küper-FS, 2007, S. 149 (169 ff.); ferner Joecks, Studienkommentar StGB, 7. Aufl. 2007, § 35 Rn. 46. 80 Vgl. auch Höfling/Augsberg, JZ 2005, 1080 (1081 ff.); Jäger, JA 2008, 678 (682 f.); eine Differenzierbarkeit unter dem Aspekt der Menschenwürdeverletzung verneinend aber Isensee, AöR 131 (2006), 173 (193); ders., in: Pawlik u.a. (Hrsg.), JakobsFS, 2007, S. 205 (225). – Zum Sonderproblem der „schwangeren Terroristin“ Mitsch, JR 2006, 450 ff.; Ladiges, JR 2007, 104 ff. 81 Isensee, AöR 131 (2006), 173 (193). 77

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erklärt – was wohl implizieren soll, dass damit die Angriffsgefahr gesteigert werde – und er dieses schiefe Bild mit dem in den Zusammenhang gestellten Begriff der Gefahrenquelle sogar noch auf den Punkt bringt. Auch kunstvolle Rhetorik ändert nichts daran, dass die Fluggäste die vom Flugzeug ausgehende Gefahr nicht prägen; sie sind bloße Opfer. Und durch den Abschuss des Flugzeugs zugunsten anderer Gefährdeter würden sie endgültig geopfert. Ehrlicher ist hier der Ansatz von Depenheuer, der den todgeweihten Passagieren ein „Bürgeropfer“ abverlangt und sie durch postmortale Ehrung per Denkmalserrichtung für ihren erzwungenen Opfergang zu entschädigen vorschlägt.82 Die dabei vorausgesetzte Rückkehr zu einem Staatsverständnis, in welchem zuallererst der Bürger für den Staat und nicht der Staat für den Bürger dazusein hat,83 kann freilich nur erschrecken. Bekräftigung findet die Linie des Bundesverfassungsgerichts in Überlegungen von Merkel, die auf die Pflichten des Staates gegenüber seinen Bürgern abheben. Es geht um die vorrangige Pflicht des Staates, Schädigungen seiner Bürger zu unterlassen. Hinter diese Unterlassungspflicht treten Schutzpflichten zugunsten anderer Bürger grundsätzlich zurück, solange das zu rettende Interesse nicht höherwertig ist.84 Küper hat dies für die hier behandelte Fragestellung durch die Erwägung relativiert, dass der Vorrang der Unterlassenspflicht vor der Handlungspflicht als Ausfluss von § 34 StGB wohl kein verfassungsrechtlich verpflichtender Maßstab sei und daher den Gesetzgeber (des Luftsicherheitsgesetzes) nicht binden könne.85 Allerdings lässt sich dem gerade für die fragliche Konstellation entgegenhalten, dass sicheres Ergebnis staatlichen Handelns allein die Tötung der Passagiere im Flugzeug sein wird, die Rettung anderer Bürger aber lediglich ein Handlungsmotiv mit unsicherer Realisierung darstellt. Dies verleiht der Unterlassenspflicht eindeutig Vorrang, wie auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts ausgeführt wurde.86

___________ 82

Depenheuer, Selbstbehauptung (Fn. 3), S. 87 ff., 100 ff. Das Grundverhältnis von Staat und Bürger sei „nicht durch Grundrechte, sondern durch Grundpflichten charakterisiert“; Depenheuer, Selbstbehauptung (Fn. 3), S. 90. 84 Vgl. Merkel, JZ 2007, 373 (381); ferner Küper, Grenzfragen (Fn. 25), S. 32 ff.; SK/StGB-Rudolphi, 6. Aufl. 1995, Vor § 19 Rn. 8; Schünemann (Fn. 8), S. 152; Gropp, Strafrecht AT, 3. Aufl. 2005, § 6.B Rn. 157; Höfling/Augsberg, JZ 2005, 1080 (1084); Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 16 Rn. 117; relativierend Hörnle, in: Putzke u.a. (Hrsg.), Herzberg-FS, 2008, S. 555 (562 f.); dagegen Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, 5. Aufl. 1996, § 33 V 1 b; Otto, Strafrecht AT, 7. Aufl. 2004, § 8 Rn. 206; Hillgruber, JZ 2007, 209 (217). 85 Vgl. Küper, in: Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe (Hrsg.), Jahresband 2005, 2006, S. 1 (25 f. mit Fn. 93). 86 Vgl. BVerfGE 115, 118 (154 ff., 158). 83

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Im Ergebnis entspricht dem verfassungsgerichtlich gewählten Argument schließlich ein grundrechtsdogmatischer Ansatz von Jahn, welcher dem Menschenwürdeschutz Vorrang gegenüber dem Lebensschutz einräumt.87 Die naheliegend erscheinenden Einwände, dass nämlich – im Grundsatz – ohne Leben auch keine Würde möglich sei und dass die Sicherheit seiner Bürger den primären Daseinszweck des Staates darstelle,88 muten demgegenüber all zu naturalistisch bzw. eindimensional an. Es wird dabei außer Acht gelassen, dass ein autoritäres Unterdrückungsregime in Form eines Polizeistaates seinen „Bürgern“ wahrscheinlich einen besseren Lebensschutz gewähren könnte als eine liberale Gesellschaft.89 Angesichts der Wahl zwischen einer Schwerpunktsetzung auf Sicherheit und einer auf Freiheit und Würde hat das Grundgesetz aber eben nicht den Sicherheitsstaat zum Programm werden lassen. Somit lässt sich festhalten, dass die jedenfalls im Kern unanfechtbare Judikatur des Bundesverfassungsgerichts die gewonnenen strafrechtlichen Befunde nachdrücklich stützt.

IV. Resümee Angesichts drohender Gefahren für seine Bürger hat der Gesetzgeber unzweifelhaft eine Schutzaufgabe. Auch die derzeitige sozialpsychologische Befindlichkeit der Bürger kreist nicht zuletzt um Sicherheit, was den Gesetzgeber ständig in Zugzwang zu bringen scheint. § 14 III des Luftsicherheitsgesetzes vom 11.1.2005 mit seiner Ermächtigung zum Abschuss gekaperter Flugzeuge war typisches Produkt dieser Situation. Dabei wurden etablierte Standards der Rechtsphilosophie und der Rechtfertigungsdogmatik im Ergebnis und offenbar schon bei den Gesetzesberatungen90 unberücksichtigt gelassen. Auch angesichts einschlägiger Regelungsbedürfnisse bleibt festzuhalten: Eine Rechtfertigung des Abschusses eines mit Passagieren besetzten Flugzeugs ___________ 87 Vgl. Jahn, Das Recht des Staatsnotstands, 2004, S. 549 ff. – Die Rangfrage stellt sich teils anders, wenn man die Menschenwürde nicht als Grundrecht einstuft, wie etwa Isensee, AöR 131 (2006), 173 (191). 88 Zu letzterem Isensee, AöR 131 (2006), 173 (192); berechtigt relativierend Gusy in: VVDStRL 63 (2004), 151 (168 ff.); Landau, in: Schöch u.a. (Hrsg.), Widmaier-FS, 2008, S. 839 (845, 848 ff.). 89 Vgl. auch LK-Zieschang, 12. Aufl. 2006, § 34 Rn. 17 b. – Methodisch abgesicherte kriminalstatistische Vergleiche zwischen der DDR und der damaligen Bundesrepublik weisen eindeutig in diese Richtung (vgl. die Nachweise bei Streng, in: de Wall u.a. (Hrsg.), Christoph Link-FS, 2003, S. 959 ff.); freilich wird bei derartigen Gegenüberstellungen die Staatskriminalität (z.B. Schüsse an der Grenze) unberücksichtigt gelassen. 90 Vgl. Pawlik, JZ 2004, 1045 (1046); Mitsch, JR 2005, 274 (275).

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Franz Streng

ist ausgeschlossen. Dies ergab eine Überprüfung anhand von Fragen der Einwilligung, der größeren Zahl zu Rettender als zu Tötender, einer geringen Restlebensdauer der zu Tötenden und der Voraussetzungen von Defensivnotstand. Besonderer Nachdruck ist auf den Befund zu legen, dass die bloße „Anwesenheit am falschen Ort“ einen nicht zum Gefahrenträger im Sinne der Voraussetzungen eines Defensivnotstandes macht und einen insoweit auch nicht zuständig für die Hinnahme der eigenen Tötung werden lässt. In Fällen einer zu bejahenden Defensivnotstandslage gilt für die Interessenabwägung die in § 34 StGB enthaltene Regelung. In diesem Rahmen legitimiert die aus § 228 BGB zu entnehmende Wertung nur begrenzte Wertungsverschiebungen; freilich fallen diese umso gewichtiger aus, je stärker die Verantwortlichkeit des Gefahrenträgers für die kritische Situation ausgeprägt ist. Die verfassungsrechtlichen Erörterungen im Luftsicherheits-Urteil des Bundesverfassungsgerichts bestätigen die anhand von Strafrechtstheorie und -dogmatik gewonnenen Befunde. Deutlich wird hierin wiederum die enge Verzahnung der allgemeinen Notrechte und der Spezialvorschriften für staatliche Gefahrenabwehr. Die sorgsam entwickelten und unter Beachtung der Grundrechte fein austarierten Notrechte sind Teil der „Einheit der Rechtsordnung“ und nicht etwa Bestandteil nur einer einzelnen Rechtsdisziplin. Angesichts ihrer Grundrechtsbindung laufen daher die allgemeinen Notrechte und die Gesetzgebungsspielräume für Rettungshandlungen zu Lasten Dritter parallel.91 Nach Nichtigerklärung von § 14 III LuftSiG kann sich ein Akteur, der ein zu einem Terrorangriff anfliegendes, mit Passagieren besetztes Flugzeug zum Absturz bringt, gegebenenfalls auf einen entschuldigenden übergesetzlichen Notstand oder Strafausschließungsgrund berufen.92 Auch eine gesetzliche Regelung wird mehr als Schuldausschluss nicht gewähren können – wobei hier Fragen eines Staatsnotstands ausgeklammert bleiben. Man mag daran bedenklich finden, dass ein Bereich individuellen oder staatlichen Handelns mit höchst gravierenden Folgen in gewisser Weise ungeregelt bleibt. Unter der Hand wird ___________ 91

Vgl. aber Isensee, in: Pawlik u.a. (Hrsg.), Jakobs-FS, 2007, S. 205 (231 f.). Die Diskussion hierum ist sehr intensiv bereits im Zusammenhang mit der Aburteilung der Ärzte geführt worden, die bei den nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morden mitwirkten, um im Sinne des „kleineren Übels“ Schlimmeres zu verhindern; vgl. etwa Peters, JR 1949, 496 ff.; Eb. Schmidt, SJZ 1949, Sp. 559 (568 ff.); Welzel, ZStW 63 (1951), 47 (54 ff.); Gallas, in: Engisch u.a. (Hrsg.), Mezger-FS, 1954, S. 311 (332 ff.); Henkel, in: Engisch u.a. (Hrsg.), Mezger-FS, 1954, S. 249 (300 f.) – Aus der neueren Literatur statt Vieler Bernsmann, „Entschuldigung“ durch Notstand, 1989, S. 376 ff.; MK/StGB-Schlehofer, 2003, Vor §§ 32 Rn. 213 ff.; MK/StGB-Erb, 2003, § 34 Rn. 117; Schünemann (Fn. 8), S. 153 f.; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 22 Rn. 154 ff.; LK-Rönnau, 12. Aufl. 2006, Vor § 32 Rn. 346 ff.; Hörnle, in: Putzke u.a. (Hrsg.), Herzberg-FS, 2008, S. 555 (570 ff.); Kühl, Strafrecht AT, 6. Aufl. 2008, § 12 Rn. 95 ff. – Gegenposition bei Zimmermann, Rettungstötungen, 2009, S. 410 ff. 92

Gerechtfertigte Aufopferung Unbeteiligter?

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damit auf eine Art Selbstaufopferung desjenigen gesetzt, der als Verantwortlicher der Gefahr ohne gesetzliche Rückendeckung entgegentritt. Freilich lässt sich dem ganz entschieden auch Positives abgewinnen.93 Man entgeht so nämlich der Gefahr, durch eine gesetzliche Regelung das Undenkbare einer Aufopferung Unschuldiger zum regelbaren Normalfall umzuwandeln und auf diesem Wege das Verhältnis Bürger – Staat in problematischer Form umzugestalten.

___________ 93

Vgl. auch Fritze, Die Tötung Unschuldiger, 2004, S. 189 ff.

II. Strafprozessrecht

Rücksichtnahme auf Opferinteressen bei der Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO Von Reinhard Böttcher

I. Der Fall der A. Die A., 20 Jahre alt, ist eine attraktive junge Frau. Wegen diffuser, möglicherweise psychisch bedingter Schmerzen ist sie in Behandlung des Arztes und Psychotherapeuten Dr. P. Im Zuge der Behandlung fragt der P die A unter dem Vorwand, dies sei Teil eines neuen Diagnoseansatzes, ob er sie, über der Wäsche, im Genitalbereich berühren dürfe. A ist das sehr peinlich, doch lässt sie es geschehen, weil sie auf die Erklärung des P vertraut. Im Nachhinein wird sie misstrauisch, informiert sich und beschließt nach einem inneren Hin und Her, den P anzuzeigen. Sie fühlt sich belogen und beschmutzt. Sich selbst macht sie Vorwürfe, dass sie P geglaubt hat. Entscheidendes Motiv für die Anzeige ist für sie, dass dem P das Handwerk gelegt werden müsse. A geht zur Polizei und macht ihre Aussage. Wie im Protokoll vermerkt ist, wird sie dabei über ihre Rechte nach § 406h Abs. 1 und 2 StPO belehrt, versteht die Belehrung aber nicht oder vergisst sie in der Aufregung alsbald. Jedenfalls hat sie in der Folge zu keinem Zeitpunkt daran gedacht, dass sie sich am Verfahren als Nebenklägerin beteiligen oder ein Schmerzensgeld geltend machen könnte. Ein Hinweis nach § 406h Abs. 3 StPO ist unterblieben. Die Staatsanwaltschaft erhebt gegen P, der nicht vorbestraft ist, Anklage wegen sexuellem Missbrauch unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses. P hat bei seiner Vernehmung bestritten, dass es zu einer Berührung der A im Genitalbereich oder sonst zu sexuellen Handlungen gekommen sei. Im Zwischenverfahren lässt er durch seinen Verteidiger vortragen, zwar sei er unschuldig, das werde sich in der Hauptverhandlung auch heraus stellen. Er führe die Anzeige der A auf deren Krankheit zurück. Da ihm das ganze Verfahren und insbesondere eine Hauptverhandlung aber überaus peinlich sei, sei er bereit, eine namhafte Geldbuße an eine gemeinnützige Einrichtung oder an die Staatskasse zu bezahlen, wenn das Verfahren alsbald eingestellt werde. Es kommt zu Gesprächen zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidiger, als deren Ergebnis das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des P das Verfahren gegen Zahlung einer

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Reinhard Böttcher

Geldbuße von 10.000.– € an die Staatskasse vorläufig einstellt. P bezahlt alsbald, worauf das Verfahren endgültig eingestellt wird. Als A einige Zeit später nach dem Sachstand fragt, weil sie nichts mehr gehört hat, und den Verfahrensausgang erfährt, gerät sie in einen Strudel unterschiedlicher Gefühle. Erleichterung, dass ihr eine nochmalige Aussage und der Auftritt in der Hauptverhandlung erspart bleibt, steht neben Enttäuschung, dass man ihr anscheinend nicht geglaubt hat und dass P ungestraft davon kommt, sich „freikaufen“ konnte. Dazu kommt Frustration, dass niemand sich für ihr Erleben des Vorfalls interessiert hat und um ihre Meinung zu dieser Art von Erledigung gekümmert hat.

II. Opferinteressen Die Gefühle, die A hat, sind gut nachvollziehbar, weil sie sich erklären aus den bei Opfern von Straftaten häufig anzutreffenden Interessen. Natürlich sind die Interessen von Opfern unterschiedlich.1 Opfer ist nicht gleich Opfer. Die Unterschiede ergeben sich aus Art, Umständen und Folgen der Straftat, aus den Lebensumständen des Opfers, aus seiner Persönlichkeit. Auch die Fähigkeit und die Bereitschaft, Opferbedürfnisse zu artikulieren, sind unterschiedlich. Wir begegnen Opfern, die mit großer Klarheit öffentlich über das erlittene Unrecht und dessen Folgen für sie sprechen, die auf dieser Grundlage Opferbedürfnisse formulieren, Bücher darüber schreiben können. Und wir erleben Opfer, die das erlittene Geschehen ganz in sich verschließen, am liebsten kein Wort darüber sprechen. Vor allem bei Opfererlebnissen, die das Schamgefühl berühren, kommt das vor. Trotz dieser Unterschiede sind, mit der gebotenen Vorsicht, einige verallgemeinernde Aussagen möglich.2 Bei Opfern von Gewaltdelikten ist nicht selten, dass sie als Folge der Tat Verunsicherung und Angst erleben. Schreckhaftigkeit, Schlafstörungen, somatische Beschwerden können sich zeigen. Panikattacken auftreten. Prägend ist das Gefühl erlebter Ohnmacht, des Ausgeliefertseins an den Täter. Bei Sexualdelikten ist häufig das Empfinden, erniedrigt und beschmutzt zu sein, auch melden sich Schuldgefühle, das Opfer fragt sich, ob es eine Mitverantwortung für das Geschehen trifft. Sowohl Teilnahmslosigkeit wie gesteigerte Aggressivität kann sich zeigen. Es kommt zu Vermeidungsstrategien. Sozialer Rückzug kann die Folge sein, in extremen Fällen Sucht- oder Suizidgefährdung. ___________ 1

Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1996, § 50 Rn. 14. Vgl. Kilchling, NStZ 2002, 57 (61); Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer – Gesetz und Gerechtigkeit, 2002, S. 131 ff. 2

Rücksichtnahme auf Opferinteressen bei der Einstellung nach § 153a StPO

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Mit Blick auf eine bevorstehende Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung melden sich zusätzliche Ängste: Die Angst vor dem unbekannten Geschehen vor Gericht, die Angst vor der Begegnung mit dem Täter, die Angst, unangemessen behandelt zu werden, die Angst vor öffentlicher Bloßstellung, die Sorge, dass man ihm, dem Opfer, nicht glaubt. Manche Opfer wollen mit der Ausnahmesituation, in die sie geraten sind, ganz allein fertig werden. Viele Opfer wünschen sich Beistand, um diese ungewohnte Situation ohne zusätzliche Verletzungen bewältigen zu können. Besondere Bedeutung hat die Unterstützung aus dem familiären und sozialen Umfeld, vor allem die Unterstützung durch die engsten Bezugspersonen („the one I love“). Richard Oetker schildert in seinen Vorträgen eindrucksvoll, wie ihm diese Unterstützung ermöglicht hat, sein schweres Opferschicksal ohne therapeutische Hilfe zu bewältigen. Andere Opfer suchen die Unterstützung durch kompetente, mit den Problemen von Kriminalitätsopfern vertraute Helfer und Betreuer. Hier sind Opferhilfsorganisationen wie der WEISSE RING gefordert. Bei schwerer wiegenden seelischen Verletzungen kann die Notwendigkeit therapeutischer Hilfe bestehen. Vergleichsweise häufig ist der Wunsch, nach kompetenter juristischer Beratung und Interessenvertretung. Solche Hilfe gilt es dann zu vermitteln und zu klären, wer die entstehenden Kosten trägt. Häufig besteht ein Bedürfnis nach Wiedergutmachung, materiell, aber auch in einem weiteren Sinn.3 Daraus folgt: Opfern von Straftaten muss geholfen werden, mit der Rolle des Opferzeugen zurecht zu kommen. Vorbereitung auf die Vernehmung und Begleitung zur Vernehmung, selbstverständlich ohne Einflussnahme auf den Inhalt der Aussage, können angezeigt sein. Es geht darum, Opfer davor zu bewahren, dass ihnen im Strafverfahren zusätzliches Leid zugefügt wird, eine sekundäre Viktimisierung erfolgt. Das droht in vielfältiger Weise. Dass sie vor Gericht rüde behandelt werden, als bloßes Mittel der Wahrheitsfindung4, kommt heute hoffentlich kaum mehr vor, ebenso wenig hoffentlich, dass ihre Intimsphäre einer sensationshungrigen Medienöffentlichkeit preisgegeben wird. Aber dass ihre Glaubwürdigkeit in Zweifel gezogen wird, dass die Verteidigung dem Opfer zumindest Mitverantwortung für das Geschehen zuschiebt, lässt sich auch bei gutem Willen der Justiz nicht völlig unterbinden. Hier bedarf das Opfer vielfach eines anwaltlichen Beistands, der die bestehenden Schutzrechte für das Opfer wahrnehmen kann.

___________ 3 Kilchling, NStZ 2002, 57 (61 ff.); vertiefend Hassemer/Reemtsma, Verbrechensopfer – Gesetz und Gerechtigkeit, 2002, S. 112 ff., 131, 159 ff.; zusammenfassend Schneider, GA 2001, 48. 4 Dazu Böttcher, in: Gössel u. a. (Hrsg.), Kleinknecht-FS, 1985, S. 25 ff.

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Reinhard Böttcher

Es gibt das Opfer, das die Vernehmung als Zeuge möglichst ungeschoren hinter sich bringen und die Sache dann vergessen will. Es gibt auch das Opfer, das Wert darauf legt, sein Erleben dem Gericht zu schildern und darauf hinzuwirken, dass das ihm angetane Leid als solches festgestellt wird, ohne Beschönigung und Verharmlosung, und dass der Täter dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Dazu bedarf es der Aktivbefugnisse, wie sie dem Nebenkläger zustehen, und anwaltlicher Unterstützung, um diese auszuüben. Wiedergutmachung des Schadens durch den Täter, des materiellen und des immateriellen, steht damit in engem Zusammenhang, ist für die meisten Opfer ein wichtiger Schritt auf dem Weg einer Verarbeitung des Opferschicksals. Der Wunsch nach einer harten Strafe für den Täter ist entgegen landläufiger Meinung vielfach nachrangig.5 Freilich soll die Tat auch nicht bagatellisiert werden. Vielen Opfern ist es wie unserer A wichtig, dass mit dem Täter etwas geschieht, das weiteren Taten vorbeugt, andere Menschen vor einem Opferwerden schützt. Diese Opferanliegen an den Strafprozess ergeben sich bei Befragungen wie der von Kilchling6. Sie ergeben sich auch aus der praktischen Erfahrung einer großen Opferhilfsorganisation wie dem WEISSEN RING7, die jährlich viele tausend Opfer betreut, zu 80% Opfer von Gewalt- und Sexualstraftaten. Prominente Verbrechensopfer, die über ihr Erleben sprechen, wie Richard Oetker und Jan Philipp Reemtsma bestätigen dies: Die Feststellung der Wahrheit, so wie das Opfer sie erlebt hat, ein gerechtes Urteil über die Tat, Anerkennung des dem Opfer zugefügten Leids und seines Anspruchs auf Wiedergutmachung, das sind materiell zentrale Anliegen von Opfern, vor allem solcher, die durch die Tat schwer geschädigt wurden. Dazu kommt das prozedurale Anliegen, dass dem Opfer der zur Durchsetzung dieser Anliegen erforderliche Beistand gewährt wird. Und selbstverständlich das Anliegen, vor zusätzlichen Verletzungen im Verfahren geschützt zu werden, was ebenfalls kompetenten Beistand erforderlich machen kann. Die Opferhilfeorganisationen in den anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben entsprechende Erfahrungen gemacht. In der Erklärung zu den Rechten der Opfer im Strafverfahren aus dem Jahre 1996, die die im damals so genannten European Forum for Victim Services (heute: Victim Support Europe) zusammengeschlossenen Opferhilfeverbände verabschiedet haben, wird als zentrales Anliegen die Vermeidung einer sekundären Viktimisierung genannt. Als wesentliche Opferrechte werden genannt das Recht auf ___________ 5

Kilchling, NStZ 2002, 57 (62) mit Nachweisen aus dem In- und Ausland. Kilchling, NStZ 2002, 57 (61). 7 Der Verfasser ist derzeit Bundesvorsitzender des WEISSEN RINGS. 6

Rücksichtnahme auf Opferinteressen bei der Einstellung nach § 153a StPO

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Respekt und Anerkennung, das Recht auf Information, das Recht zur Information, das Recht auf Schutz vor zusätzlicher Schädigung und das Recht auf Entschädigung. Es muss nicht zu anderen Ergebnissen führen, wenn man die Frage nach den Opferbedürfnissen nicht empirisch angeht sondern normativ, also fragt, „was potentielle Verletzte einer Straftat vernünftigerweise wollen und erwarten dürfen,“ wie S. Walther dies propagiert.8 Gewiss besteht dabei die Gefahr, an den realen Opferbedürfnissen vorbei zu argumentieren. Tatsächlich kommt S. Walther bei ihrer Ableitung berechtigter Opferinteressen aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen wie dem Schutz der Menschenwürde, der Gewähr des rechtlichen Gehörs und dem Fair-Trial-Prinzip in vielen Punkten zu den selben Ergebnissen wie die empiriegestützte europäische Opferschutzbewegung. Der EU-Rahmenbeschluss vom 15. 3. 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren9 lehnt sich, und das ist kein Zufall,10 in seinem Aufbau und Inhalt an die von den europäischen Opferhilfeorganisationen entwickelten Positionen an. Er stellt in den Erwägungsgründen die Vermeidung einer sekundären Viktimisierung als Ziel heraus. Die den Opfern von den Mitgliedstaaten einzuräumenden Rechte gliedert er in das Recht auf Achtung und Anerkennung (Art. 2), das Recht, gehört zu werden und Beweise beibringen zu können (Art. 3), das Recht auf Erhalt von Informationen (Art. 4), das Recht auf Beratung und rechtlichen Beistand (Art. 6), das Recht auf Schutz (Art. 8) und das Recht auf Entschädigung (Art. 9). Rahmenbeschlüsse binden die Mitgliedstaaten nach Art. 34 Abs. 2 S. 2 lit. b EUV hinsichtlich der zu erreichenden Ziele.11

III. Opferrechte – Reformprozess in Deutschland Es ist keine Frage, dass die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten im deutschen Strafprozessrecht während der vergangenen 25 Jahre schrittweise stärkere Berücksichtigung gefunden haben. Wahrscheinlich ist es übertrieben, wenn man sagt, es habe ein Paradigmenwechsel stattgefunden, von einer täterzentrierten zu einer opferzentrierten Betrachtungsweise.12 Aber dass eine Akzentverschiebung stattfand, das Opfer aus dem Abseits herausgeholt wurde, in das ___________ 8

S. Walther, JR 2008, 405 ff. Amtsblatt vom 22. 3. 2001, L 82/1. 10 Dazu Böttcher, in: Moos/Jesionek/Müller (Hrsg.), Miklau-FS, 2006, S. 67 (71). 11 Vgl. Satzger, in: Streinz (Hrsg.), EUV/EGV (2003), Art. 34 Rn. 9. 12 So schon früh und mit kritischer Akzentuierung Schünemann, NStZ 1986, 193 ff.; dazu LR-Rieß, 25. Aufl. 1998, Einl., Abschn. I Rn. 115. 9

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Reinhard Böttcher

es in einer langen historischen Entwicklung geraten war,13 die Opferperspektive an Bedeutung gewann,14 ist unübersehbar15. Vorangegangen war das soziale Entschädigungsrecht. 1976 wurde das Opferentschädigungsgesetz (OEG) erlassen, das Opfern von Gewaltdelikten bei gesundheitlichen Schäden im Gefolge der Tat einen Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des BVG gab. Ebenfalls im Jahre 1976 ist der WEISSE RING gegründet worden, als private Hilfsorganisation für Kriminalitätsopfer, der rasch einen großen Aufschwung nahm, ehrenamtliche Helfer und Spendengelder für die Opferhilfe organisieren konnte. 1984 war es dann auch im Strafprozess so weit. Gestützt auf das exzellente Gutachten von Rieß16 hat der Deutsche Juristentag eine Verbesserung der Rechtsstellung des Verletzten verlangt. An die Spitze seiner Beschlüsse stellte er plakative Forderungen: Der Verletzte müsse besser davor geschützt werden, dass er durch das Strafverfahren zusätzlich beeinträchtigt wird; er müsse besser in den Stand gesetzt werden, sich gegen Verantwortungszuweisungen und Diskriminierungen zu verteidigen: er müsse bessere Möglichkeiten zum Ausgleich des entstandenen materiellen und immateriellen Schadens erhalten.17 Der Gesetzgeber reagierte prompt. Das Opferschutzgesetz vom 18. 12. 198618 nahm wesentliche Forderungen des Juristentages auf, spätere Gesetze, insbesondere das Zeugenschutzgesetz von 199819, das Opferrechtsreformgesetz von 200420, das 2. Justizmodernisierungsgesetz von 200621 und zuletzt das 2. Opferrechtsreformgesetz vom 29.7.200922 nahmen weitere Verbesserungen bei der Rechtsstellung des Verletzten vor. Das Ausmaß der opferfreundlichen Rechtsänderungen kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden, eine knappe Skizze muss genügen. Der Schutz vor öffentlicher Bloßstellung wurde verbessert (§ 171b GVG), ebenso der Schutz vor einer belastenden Konfrontation mit dem Angeklagten, insbesondere mittels Einsatzes der Videotechnik (§§ 58a, 247a, 255a StPO). Es wurden Informationsrechte des Verletzen vorgesehen (§§ 406d ff. StPO) einschließlich des Rechts, durch einen Rechtsanwalt Einsicht in die Verfahrensakten zu nehmen (§ 406e StPO). Für besonders ___________ 13

Rieß, Gutachten C zum 55. DJT 1984, C 9: „in eine Randposition abgedrängt“. So schon Schüler-Springorum, Kriminalpolitik für Menschen, 1991, S. 219 (230). 15 Der Jubilar spricht (KMR-Stöckel, Stand Juni 2007, vor § 406d Rn. 3) von einer „deutlichen Strukturveränderung“. 16 Rieß, Gutachten C zum 55. DJT 1984. 17 Verhandlungen des 55. DJT 1984, Bd. II., L 184 (Beschlüsse I 1). 18 BGBl. I S. 2496; dazu Böttcher, JR 1987, 133 ff. 19 BGBl. I S. 820. 20 BGBl. I S. 1354. 21 BGBl. I S. 3414. 22 BGBl. I S. 2280. 14

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schutzwürdige, in höchst persönlichen Rechtsgütern betroffene Verletzte (§ 395 StPO) wurden Aktivbefugnisse vorgesehen (§ 397 StPO). Der anwaltliche Zeugenbeistand (§ 68b StPO) und der Opferanwalt (§§ 406f, 406g StPO) wurden geregelt, ebenso die Zuziehung einer Vertrauensperson durch den Verletzten (§ 406f Abs. 3 StPO). Für die Zuziehung eines anwaltlichen Beistands durch den Nebenkläger kann Prozesskostenhilfe bewilligt werden (§ 397a Abs. 2 StPO). Für einen engen Kreis von Nebenklageberechtigten gibt es den Opferanwalt auf Staatskosten (§ 397a Abs. 1 StPO). Das Adhäsionsverfahren wurde erleichtert (§§ 405, 406 StPO), zuletzt auch in den Bereich des Jugendstrafverfahrens hinein (§ 109 Abs. 2 JGG). Insgesamt ist das eine bemerkenswerte Akzentverschiebung zugunsten des Opfers, eine Akzentverschiebung, die in ihrer Tragweite wahrscheinlich nur mit dem Vordringen konsensualer Lösungen im deutschen Strafprozess verglichen werden kann.23 Die Wiederentdeckung des Opfers ist nicht auf Deutschland beschränkt. Auf den EU-Rahmenbeschluss vom 15. 3. 2001 über die Stellung des Opfers im Strafverfahren24 wurde schon hingewiesen. Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofes25 enthält opferschützende Regelungen, z. B. in Art. 68 § 3 (Recht auf Gehör). Mehr Opferschutz ist auch das Anliegen anderer internationaler Rechtsakte. Erwähnt seien die UN-Declaration of Basic Principles of Justice for Victims of Crime and Abuse of Power von 198526 und die beiden Empfehlungen des Europarats, die Recommendation on the Position of the Victim in the Framework of Criminal Law und Procedure von 198527 und die Recommendation on Assistance to Crime Victims von 200628. Auch wenn es sich bei diesen Rechtsakten um soft law handelt, sich aus ihnen anders als aus dem EU-Rahmenbeschluss keine Pflichten des nationalen Gesetzgebers ergeben, zeigen sie doch, dass die Entwicklung der Opferschutzgesetzgebung in Deutschland (und auch deren Weiterentwicklung) in einem europäischen, sogar in einem globalen Kontext steht, der sie zusätzlich legitimiert.29

___________ 23 Dazu Rieß, in: Moos u. a. (Hrsg.), Miklau-FS, 2006, S. 433 (443); Böttcher, in: Jung u. a. (Hrsg.), E. Müller-FS, 2008, S. 87 (88). 24 Amtsblatt vom 22. 3. 2001, L 82/1. 25 Gesetz vom 21. 6. 2002, BGBl. I S. 2144. 26 GA Res. 40/ 34 v. 29. 11. 1985. 27 Recommendation (1985) 11 v. 28. 6. 1985. 28 Recommendation (2006) 8 v. 14. 6. 2006. 29 Kritisch Eckstein, in: Hoyer u. a. (Hrsg.), F. C. Schroeder-FS, 2006, S. 795 ff.

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Reinhard Böttcher

IV. Opferinteressen und § 153a StPO Unsere A hätte, wäre es nicht zur Einstellung des Verfahrens nach § 153a Abs. 2 StPO gekommen, von dieser Reformentwicklung durchaus profitiert. Als Opfer einer Straftat nach § 174c StGB war sie zur Nebenklage berechtigt, § 395 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a StPO, hätte die Rechte aus § 406g StPO gehabt.30 Nach erfolgtem Anschluss war sie mit den Rechten des § 397 StPO ausgestattet. Auf ihr Recht, sich als Nebenklägerin anzuschließen, war sie nach § 406h Abs. 1 StPO hinzuweisen, ebenso auf ihre Rechte aus § 397a StPO. Dem Bestreiten des P hätte sie in der Hauptverhandlung mit anwaltlicher Unterstützung entgegentreten können, durch Fragen und Erklärungen, gegebenenfalls auch durch einen Beweisantrag. Im Rahmen des Strafverfahrens hätte sie einen Anspruch auf Schmerzensgeld wegen der Verletzung ihrer sexuellen Selbstbestimmung (§ 253 Abs. 2 BGB) geltend machen können, §§ 403, 406 StPO. Der Gefahr öffentlicher Bloßstellung hätte sie durch einen Antrag auf Ausschließung der Öffentlichkeit nach § 171b Abs. 2 GVG entgegenwirken können. Gegen ein freisprechendes Urteil hätte sie Rechtsmittel einlegen können, § 401 StPO. Wäre P verurteilt worden, hätte er nach § 472 Abs. 1 StPO grundsätzlich die der A entstandenen notwendigen Auslagen tragen müssen. Da das Verfahren nach § 153a Abs. 2 StPO eingestellt wurde, bleibt der A von all den Errungenschaften der Opferschutzgesetzgebung nur wenig. Nach § 406d Abs. 1 StPO, musste sie über den Ausgang des gerichtlichen Verfahrens unterrichtet werden. Den Ausgang selbst muss sie hinnehmen. Insbesondere steht ihr kein Rechtsmittel zu. Das folgt nicht nur daraus, dass sie sich dem Verfahren nicht angeschlossen hat, weil sie den Hinweis auf ihre Nebenklagebefugnis offenbar nicht verstanden hat, in der Vernehmungssituation nicht richtig hat aufnehmen können, ein Schicksal, das sie mit anderen Nebenklageberechtigten teilt. Auch wenn sie den Hinweis verstanden hätte und sich daraufhin dem Verfahren als Nebenklägerin angeschlossen hätte, wäre ihre Situation nicht viel besser. Zwar hätte das Gericht in diesem Fall vor der Einstellung des Verfahrens nach § 153a Abs. 2 StPO gemäß § 396 Abs. 3 StPO über ihre Berechtigung zum Anschluss entscheiden müssen und ihr als Nebenklägerin sodann zu der beabsichtigten Einstellung rechtliches Gehör gewähren müssen, § 33 Abs. 3 StPO.31 Hätte das Gericht danach aber das Verfahren gleichwohl eingestellt, so wäre die A auch in diesem Fall ohne die Möglichkeit eines Rechtsmittels gewesen, wie sich aus § 400 Abs. 2 S. 2 StPO bzw. § 153a Abs. 2 S. 4 und 5 StPO ergibt.32 ___________ 30

Dazu mit kritischer Anmerkung KMR-Stöckel, § 406g Rn. 2, 3. Vgl. LR-Beulke, 26. Aufl. 2008, § 153a Rn. 123; dazu BVerfG (Kammerbeschluss) wistra 2003, 419. 32 Vgl. LR-Beulke, § 153a Rn. 135; die Streitfrage, ob Staatsanwaltschaft und Nebenkläger ein Beschwerderecht haben, wenn es an den erforderlichen Zustimmungen 31

Rücksichtnahme auf Opferinteressen bei der Einstellung nach § 153a StPO

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Wäre die A, wie § 406h StPO dies neuerdings zwingend statuiert, bei ihrer polizeilichen Vernehmung auf die Möglichkeit hingewiesen worden, Unterstützung und Hilfe durch eine Opferhilfeeinrichtung, z. B. den WEISSEN RING, zu erhalten, hätte dies ihre Situation in rechtlicher Hinsicht natürlich nicht gebessert. Freilich hätte sie ihre Lage mit einer verständnisvollen und entsprechend geschulten Mitarbeiterin dieser Opferhilfeeinrichtung besprechen können, hätte mit Hilfe und auf Kosten des WEISSEN RINGS (Beratungsscheck) auch eine anwaltliche Beratung in Anspruch nehmen können, die ihr ihre Rechte als nebenklagebefugte Verletzte mit und ohne Anschluss deutlich gemacht hätte. Das wäre ein Vorteil gewesen. Die Lage selbst hätte sich nicht geändert. Eine gerichtliche Einstellungsentscheidung nach § 153a Abs. 2 StPO muss der Verletzte grundsätzlich hinnehmen, auch wenn er zum Kreis der besonders schutzwürdigen, zur Nebenklage berechtigten Verletzten gehört. Nicht anders sieht es mit staatsanwaltlichen Einstellungsentscheidungen nach § 153a Abs. 1 StPO aus. Hier besteht noch nicht einmal ein Anspruch, vor der Entscheidung gehört zu werden.33 Das Klageerzwingungsverfahren ist dem Verletzten nach § 172 Abs. 2 S. 3 StPO verwehrt; die allgemeine Aufsichtsbeschwerde bringt ihm nichts.34

V. Ist § 153a StPO also eine opferfeindliche Norm?35 Die Bestimmung, die durch Art. 21 Nr. 44 des EGStGB 197436 in die StPO eingefügt wurde, war jedenfalls nicht als opferschützende Norm konzipiert. Es ging dem Gesetzgeber um ein Doppeltes: Man wollte eine Ausweitung von Bestrafungen im Bagatellbereich vermeiden, die man deshalb befürchtete, weil der frühere § 153 Abs. 1 StPO damals entfiel37 und einige Übertretungen in Vergehen umgewandelt wurden. Und man wollte durch eine Vereinfachung des Verfahrens bei der kleineren Kriminalität Arbeitskapazitäten für die zügige Erledigung der Verfahren bei der mittleren und schweren Kriminalität freisetzen und zugleich eine Verfahrensbeschleunigung erreichen. Justizökonomie und Entkriminalisierung, darum ging es.38 Als die Vorschrift dann durch Art. 2 ___________ fehlt oder das rechtliche Gehör nicht gewährt wurde (dazu Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. 2008, § 153a Rn. 57), ist hier nicht zu erörtern, da von derartigen Mängeln im vorliegenden Zusammenhang nicht auszugehen ist. 33 Vgl. LR-Beulke, § 153a Rn. 107. 34 Vgl. Stöckel, JA 1998, 599 (603). 35 Vgl. BVerfG (Kammerbeschluss) StV 2002, 114: „§ 153a Abs. 1 S. 1 StPO bezweckt nicht den Schutz des durch eine Straftat Verletzten.“ 36 BGBl. I S. 469, 502. 37 Vgl. LR-Beulke, § 153, Entstehungsgeschichte. 38 LR-Rieß, § 153 Rn. 3, 4; AK-Schöch, 1992, § 153a Rn. 1.

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Nr. 3 des RpflEntlG 199339 erweitert wurde, indem das Erfordernis der „geringen Schuld“ durch das Erfordernis ersetzt wurde, dass „die Schwere der Schuld nicht entgegenstehen darf“, ging es ebenso wenig um Opferschutz. Wie sich schon aus dem gesetzlichen Kontext ergab, sollte im Interesse der Justizentlastung der Anwendungsbereich der Vorschrift ausgeweitet werden. Freilich nahm die Vorschrift mit der Wiedergutmachungsauflage (§ 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO) von Anfang an auch auf ein Opferinteresse, nämlich das Interesse an Schadenswiedergutmachung, Rücksicht. Als 1999 durch Art. 1 Nr. 1 des Gesetzes zur strafrechtlichen Verankerung des Täter-OpferAusgleichs etc.40 die TOA-Weisung (§ 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 5 StPO) in den Katalog der Auflagen und Weisungen aufgenommen wurde, war noch deutlicher, dass § 153a StPO auch Opferinteressen dienen will. Sehr zu Recht wird deshalb davon gesprochen, dass § 153a StPO neben seinen ursprünglichen Zwecken weitere Zwecke aufgenommen hat, darunter den, die Belange des Verletzten besser zur berücksichtigen.41 Anderen Opfern wird diese Offenheit für das Opferbedürfnis der Wiedergutmachung im einen oder anderen Fall42 von Nutzen sein. Der A hilft sie nichts. Nach Sachlage hätte der P einer Wiedergutmachungsauflage oder einem Täter-Opfer-Ausgleich kaum zugestimmt. Man kann deshalb Gericht und Staatsanwaltschaft sicher nicht vorwerfen, sie hätten bei Anwendung des § 153a StPO diese Möglichkeit versäumt. Es ist gut möglich, dass Gericht und Staatsanwaltschaft davon überzeugt waren, mit der Verfahrenseinstellung im recht verstandenen Interesse der A gehandelt zu haben. Die Beweislage war schwierig, es stand wohl Aussage gegen Aussage. Die Vernehmung in der Hauptverhandlung wäre für A möglicherweise sehr belastend geworden, zumal die Tat sie traf, als sie psychisch möglicherweise ohnehin nicht gesund war. Es ist nahe liegend, ja wahrscheinlich, dass dies von den Entscheidern der Justiz bei der Ausübung des ihnen in § 153a StPO eingeräumten Ermessens berücksichtigt worden ist. Tatsächlich ist dies ein weiterer Punkt, in dem § 153a StPO für die Berücksichtigung von Opferinteressen offen ist. Ebenso wie das Ermessen, das den Strafverfolgungsorganen etwa in § 153 StPO oder in § 154 StPO eingeräumt ist, gibt auch das Ermessen nach § 153a StPO die Möglichkeit, im Rahmen der gebotenen Abwägung auch die Opferinteressen mit zu berücksichtigen. Freilich, mehr als eine Möglichkeit ist es nicht. ___________ 39

BGBl. I S. 50. BGBl. I S. 2491. 41 LR-Beulke, § 153a Rn. 4 mit Nw. 42 Zur geringen praktischen Bedeutung der Wiedergutmachungsauflage LR-Beulke, § 153a Rn. 29. 40

Rücksichtnahme auf Opferinteressen bei der Einstellung nach § 153a StPO

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Das Opferinteresse, nicht in einer Hauptverhandlung zusätzlichen Kränkungen ausgesetzt zu werden, ist allerdings nur eines unter anderen, wie wir gesehen haben. Nachdem die A sich dazu durchgerungen hatte, Anzeige zu erstatten, spricht viel dafür, dass sie für sich die Abwägung vorgenommen hatte, dass ihr Interesse daran, dass das Unrecht des P festgestellt wird und ihm zum Schutz weiterer potentieller Opfer ein Denkzettel erteilt wird, höher ist. Sie wäre deshalb kaum einverstanden, wenn man ihr auseinandersetzen wollte, die Justiz habe in ihrem Interesse gehandelt. Erschwerend kommt aus ihrer Sicht hinzu, dass sie, in Übereinstimmung mit dem Gesetz, zu der Entscheidung nicht gehört wurde, also gar keine Gelegenheit hatte, ihre Prioritätensetzung zu artikulieren. A wird somit nicht davon ausgehen, dass in ihrem Fall geltendes Recht korrekt und mit opferfreundlicher Intention angewendet wurde, sondern einen Fehler bei der Justiz vermuten. Hat sie damit Recht? Zu den typischen Anwendungsfällen des § 153a StPO43 gehört ein Vergehen nach § 174c StGB sicher nicht. Deshalb soll kurz betrachtet werden: Stand, erstens, die Schuld des P der Verfahrenseinstellung nicht entgegen? Konnte, zweitens, das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung durch die verhängte Auflage beseitigt werden? Die Schuld muss in den Fällen des § 153a StPO nicht gering sein, das ergibt sich aus Wortlaut, Entstehungsgeschichte und dem Verhältnis zu § 153 StPO. Andererseits sind Fälle schwerer Schuld ausgeschlossen.44 Es darf sich höchstens um Fälle mittlerer Schuld handeln.45 Eine abstrakte Grenze lässt sich nicht bestimmen. Maßgebend sind die schuldbezogenen Umstände des Einzelfalls, die nach § 46 Abs. 2 StGB auch für die Strafzumessung von Bedeutung sind.46 Dabei ist eine deliktsspezifische Beurteilung geboten. Auch bei Vergehen, die mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafe bedroht sind wie § 174c StGB, ist eine Sachbehandlung nach § 153a StPO nicht ausgeschlossen.47 P hat im Sinne des § 174c StGB an der ihm zur Behandlung ihrer Krankheit anvertrauten A eine sexuelle Handlung, eine Handlung mit Sexualbezug vorgenommen. Diese war im Sinne des § 184f StGB von einiger Erheblichkeit.48 ___________ 43

Dazu Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. 2008, § 153a Rn. 8. LR-Beulke, § 153a Rn. 32 mit Nw. 45 Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. 2008, § 153a Rn. 7. 46 LR-Beulke, § 153 Rn. 24 mit Nw. 47 KMR-Plöd, Stand April 2007, § 153a Rn. 5. Ob dies auch für die Anwendung des § 153 StPO („geringe Schuld“) gilt, ist str.; vgl. LR-Beulke, § 153 Rn. 25 mit Nw. 48 MK-Renzikowski, StGB, Band 2/2 2005, § 174c Rn. 25 ff.; Fischer StGB, 55. Aufl. 2008, § 174c Rn. 10a; vgl. auch BGH NStZ 2001, 370. 44

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P handelte unter Missbrauch des Therapieverhältnisses. Schutzgut der Strafnorm ist die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers, aber auch das Vertrauen in die Integrität des Therapieverhältnisses.49 Mit Blick auf diese Schutzgüter ist die Schuld zu quantifizieren. Im Ergebnis wird man wohl sagen müssen, dass die Schuld des P den Bereich einer mittleren Schuld nicht nach oben überschreitet. Im Hinblick auf das Spektrum der in § 174c StGB erfassten Fälle ist die Tat des P nach der Schwere des Übergriffs und der Schwere der Folgen im mittleren Bereich anzusiedeln. Aus der Persönlichkeit und dem Vorleben des P ergeben sich keine Gesichtspunkte, die zu einer anderen Beurteilung zwängen. Dass er die Tat nicht gesteht und deshalb auch keine Wiedergutmachung leisten will, darf nicht schulderhöhend berücksichtigt werden.50 Das öffentliche Interesse an der Strafverfolgung muss durch die auferlegte Zahlung von 10.000,– € an die Staatskasse beseitigt werden. Das ist nicht etwa deshalb ausgeschlossen, weil es um eine Straftat gegen die sexuelle Selbstbestimmung geht oder weil in § 174c StGB mit der Integrität des Therapieverhältnisses ein wichtiges Gemeinschaftsgut mitgeschützt ist. Kein Vergehenstatbestand ist per se von einer Anwendung des § 153a StPO ausgeschlossen. Entscheidend ist vielmehr, ob im Einzelfall die präventiven Strafzwecke beeinträchtigt werden, wenn eine Einstellung gegen Auflagen und/oder Weisungen erfolgt.51 Dies wird man vorliegend bei Abwägung der Umstände, unter Berücksichtigung auch der stattlichen Höhe der Geldauflage, wohl eher verneinen müssen, jedenfalls nicht eindeutig bejahen können. Bleibt die Frage der Ermessensausübung.52 Es wurde schon gesagt und soll weiterhin unterstellt werden, dass Gericht und Staatsanwaltschaft sich bei der Entscheidung für die Verfahrenseinstellung auch von der Rücksichtnahme auf die A leiten ließen, der sie die Belastung durch die Hauptverhandlung ersparen wollten. Das ist kein Fehler. Wahrscheinlich haben sie auch an die unsichere Beweislage gedacht. Sofern sie gleichwohl von hinreichendem Tatverdacht ausgingen, den die Staatsanwaltschaft mit der Anklage bejaht hatte, beide also zugrunde legten, und dagegen spricht nichts, dass bei einem Scheitern der Einstellung die Eröffnung des Hauptverfahrens der nächste Schritt sein werde, ist ___________ 49

HK-GS/Laue, 2008, § 174c Rn. 1. LR-Beulke, § 153 Rn. 27 mit Nw. 51 Vgl. LR-Beulke, § 153 a Rn. 37 mit Nw. 52 Die Streitfrage, ob, wie der Wortlaut nahe legt, ein echtes Ermessen besteht (dazu LR-Beulke, § 153 Rn. 38 mit Nw.; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. 2008, § 152 Rn. 7 mit Nw.; Satzger, Gutachten C zum 65. DJT 2004, C. 72) kann in unserem Kontext unerörtert bleiben. 50

Rücksichtnahme auf Opferinteressen bei der Einstellung nach § 153a StPO

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auch ein solcher Gedanke nicht unzulässig.53 Es scheint also so zu sein, dass gegen den Einstellungsbeschluss rechtlich nichts einzuwenden ist. Auch wenn man es anders sähe, würde dies der A, und das ist der wesentliche Punkt, nichts helfen. Ein Beschwerderecht hat sie, wie gesagt, nicht, hätte sie selbst dann nicht, wenn sie sich dem Verfahren als Nebenklägerin angeschlossen hätte. § 153a StPO ist keine opferfeindliche Norm, das zu sagen wäre übertrieben. Aber es ist auch keine opferfreundliche Bestimmung. Sie öffnet sich inhaltlich den berechtigten Opferbelangen nur partiell (Wiedergutmachung, Ausgleich) und reduziert in verfahrensmäßiger Hinsicht das Opfer im Wesentlichen auf eine Zuschauerrolle.54

VI. Reformbedarf aus der Opferperspektive Es ist deshalb verständlich, dass immer wieder die Auffassung vertreten wurde, durch Änderungen bei § 153a StPO müsse erreicht werden, dass Opferbedürfnisse besser berücksichtigt werden können.55 1. Im Folgenden sollen zunächst wichtige Stationen der Diskussion in Erinnerung gerufen werden. a) Grundlegend war der Deutsche Juristentag 1984, der die Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren zum Thema hatte. Das ausgezeichnete Gutachten von Rieß56, wurde für die Opferschutzbewegung in Deutschland zur Pflichtlektüre. Es forderte, freilich ohne zwischen den verschiedenen Opportunitätseinstellungen zu differenzieren,57 ein Anhörungsrecht für den Verletzten vor gerichtlichen Einstellungen nach den §§ 153 ff. StPO, vor allem aber die Zulassung des Klageerzwingungsverfahren auch bei Einstellungen nach §§ 153 ff. StPO durch die Staatsanwaltschaft.58 In der Strafrechtlichen Abteilung des Juristentags konnte er sich mit seinen Forderungen allerdings nur teilweise durchsetzen. Ein Anhörungsrecht des Verletzten vor Ermessenseinstellungen fand, und zwar auch für Einstellungen im Ermittlungsverfahren, Unterstützung, freilich beschränkt auf zur Nebenklage berechtigte Verletzte.59 ___________ 53 Vgl. LR-Beulke, § 153a Rn. 40; Meyer-Goßner, StPO, 51. Aufl. 2008, § 153a Rn. 7; AK-Schöch, § 153a Rn. 11, 12. 54 Saliger, GA 2005, 155 (176): „auf seine Zeugenrolle“. 55 AK-Schöch, §153a Rn. 71 ff.; LR-Beulke, § 153a Rn. 4, 14. 56 Rieß, Gutachten C zum 55. DJT 1984, C 79 ff., C 125. 57 Vgl. zu § 154 StPO Böttcher, in: Hassemer u. a. (Hrsg.), Volk-FS, 2009, S. 61 ff. 58 Rieß, Gutachten C zum 55. DJT 1984, C 79: „erstaunliche Gleichgültigkeit“ des neueren Gesetzgebers gegenüber den Opferinteressen. 59 Verhandlungen des 55. DJT 1984, Sitzungsbericht L, L 188.

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Dafür hatte sich auch Odersky, einer der beiden Referenten, ausgesprochen.60 Mit dem Vorschlag, das Klageerzwingungsverfahren auch bei Ermessenseinstellungen zuzulassen, erlitt Rieß jedoch Schiffbruch, obwohl er dabei von Hammerstein, dem anderen Referenten, vorsichtig unterstützt wurde.61 Der Juristentag lehnte diese Forderung mit großer Mehrheit ab,62 trotz des eindrucksvollen Plädoyers von Schöch63 für diesen Vorschlag. Auch der hilfsweise gemachte Vorschlag, dem Verletzten ein eingeschränktes Klageerzwingungsrecht zuzugestehen, beschränkt auf die Nachprüfung der gesetzlichen Voraussetzungen der Ermessenseinstellung, verfiel der Ablehnung.64 Ja, mit Stimmengleichheit lehnte es der Juristentag ab, auch nur eine Prüfung zu fordern, wie den Verletzteninteressen bei Ermessenseinstellungen durch die Staatsanwaltschaft besser Rechnung getragen werden kann.65 Zeigte der Juristentag sich in diesem Punkt unzugänglich für Opferinteressen, nämlich für das Interesse an einem Kontrollrecht bei Opportunitätseinstellungen, so war er andererseits auch bei § 153a StPO durchaus offen für opferfreundliche Verbesserungen. Mit großer Mehrheit sprach er sich dafür aus, die Wiedergutmachungsauflage im Rahmen des § 153a StPO häufiger anzuordnen und gab mit immer noch deutlicher Mehrheit zu erwägen, dies gesetzlich durch ein Sollgebot durchzusetzen.66 Beide Referenten hatten in diesem Sinn votiert.67 b) Große Bedeutung für die weitere Diskussion hatten auch die beiden Alternativ-Entwürfe Wiedergutmachung (1991) und Reform des Ermittlungsverfahrens (2001). In dem Bestreben, dem Wiedergutmachungsgedanken im deutschen Strafrecht größere Bedeutung zu verschaffen, den Ausgleich der Tatfolgen durch den Täter als dritte Spur neben Strafen und Maßregeln in unser Strafrechtssystem zu integrieren, hat der Arbeitskreis deutscher, schweizerischer und österreichischer Strafrechtslehrer 1991 den Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung (AE-WGM) vorgelegt. Auch mit dem Ziel, Opferinteressen aufzugreifen, vor allem aber in dem Bestreben, angesichts verbreiteter Zweifel an den Strafzwecken der Tatvergeltung und der Resozialisierung „neue Wege zur Bewältigung des Tatgeschehens“ zu finden, eine „konstruktive Reaktion auf ___________ 60

Verhandlungen des 55. DJT 1984, Sitzungsbericht L, L 47. Verhandlungen des 55. DJT 1984, Sitzungsbericht L, L 26. 62 Verhandlungen des 55. DJT 1984, Sitzungsbericht L, L 190. 63 Verhandlungen des 55. DJT 1984, Sitzungsbericht L, L 122 ff.; zweifelnd damals Böttcher, aaO. L 128. 64 Verhandlungen des 55. DJT 1984, Sitzungsbericht L, L 191. 65 Verhandlungen des 55. DJT 1984, Sitzungsbericht L, L 191. 66 Verhandlungen des 55. DJT 1984, Sitzungsbericht L, L 192. 67 Verhandlungen des 55. DJT 1984, Sitzungsbericht L, L 27, L 48. 61

Rücksichtnahme auf Opferinteressen bei der Einstellung nach § 153a StPO

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Straftaten“,68 propagierte der Entwurf die Wiedergutmachung, verstanden als Ausgleich der Tatfolgen durch freiwillige Leistung des Täters (§ 1 Abs. 1 S. 1 des Entwurfs), als „autonomiebetonten und opferbezogenen Weg zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens“.69 Wiedergutmachung sollte im materiellen Recht und im Verfahrensrecht einen weitreichenden Vorrang und umfassende Berücksichtigung erhalten. Strafe sollte nach erfolgter Wiedergutmachung nur noch verhängt werden können, wenn dies zur Einwirkung auf den Täter oder auf die Allgemeinheit unerlässlich ist (§ 4 Abs. 1 des Entwurfs). Unerlässlich in diesem Sinne sollte die Strafe in der Regel nur sein, wenn der Täter ohne die Wiedergutmachung Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr verwirkt hätte (§ 4 Abs. 2 des Entwurfs). Im Ermittlungsverfahren wie im gerichtlichen Verfahren und auch im Strafvollzug sollte Wiedergutmachung angeregt und gefördert werden. Geldstrafen und Geldauflagen zugunsten der Staatskasse sollten in einen Opferfond fließen, aus dem die Ansprüche der Opfer gegen die Täter befriedigt werden (§ 25 des Entwurfs). Auch wenn schwer einzuschätzen ist, welche Bedeutung die vorgeschlagenen Regelungen in der Praxis erlangen würden, ist doch offensichtlich, dass das Interesse der Opfer an Wiedergutmachung in den Vordergrund gerückt wurde. Für die Fälle des § 153a StPO hätte es insoweit freilich eine Verschlechterung gegeben. Die Wiedergutmachungsauflage in § 153a Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StPO wollte der Entwurf beseitigen; nur freiwillige Leistungen verdienten als Wiedergutmachung Anerkennung.70 Auch der im Jahre 2001 vorgelegte Alternativ-Entwurf Reform des Ermittlungsverfahrens (AE-EV) will den Bedürfnissen des Verletzten besser gerecht werden als das geltende Recht. Die vom AE-WGM vorgeschlagene Streichung der Wiedergutmachungsauflage in § 153a StPO übernahm der AE-EV freilich; auch er will als berücksichtigungsfähige Wiedergutmachung nur freiwillige Leistungen anerkennen.71 Dafür schlug er vor, Einstellungen nach den §§ 153 ff. StPO, insbesondere auch nach § 153a Abs. 1 StPO, durch die Staatsanwaltschaft in das Klageerzwingungsverfahren einzubeziehen. Freilich soll die Überprüfung sich grundsätzlich darauf beschränken, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der Opportunitätseinstellung vorlagen.72 Dass diese verkannt wurden, wird kaum einmal vorkommen. Auf Antrag nebenklageberechtigter Verletzter soll das Oberlandesgericht aber bei Einstellungen nach § 153a und § 153b StPO zusätzlich prüfen können, ob auch bei angemessener Berücksich___________ 68 Arbeitskreis deutscher, schweizerischer und österreichischer Strafrechtslehrer, Alternativ-Entwurf Wiedergutmachung (AE-WGM), 2001, S. 10. 69 AE-WGM, S. 24. 70 AE-WGM, S. 73. 71 AE-EV, S. 83 ff., 86. 72 AE-EV, S. 138 – § 174a Abs. 1 i.d.F. des Entwurfs.

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tigung der Verletzteninteressen keine Umstände für die Weiterführung des Verfahrens sprechen.73 Das wäre ein Einstieg in eine umfassende Würdigung der unterschiedlichen Verletztenbelange im Rahmen des Klageerzwingungsverfahrens. Der Entwurf schlägt noch weitere Verbesserungen im Verletzteninteresse vor, so ein Anwesenheitsrecht des Opferbeistands bei polizeilichen Vernehmungen,74 ein Beteiligungsrecht des nebenklageberechtigten Verletzten am Schlussgespräch,75 das der Entwurf zur Wiedereinführung vorschlägt, und eine Ermächtigung, bei weniger schweren Straftaten zum Schutz des Opfer vor belastenden Auswirkungen des Strafverfahrens auf dessen Antrag von der Strafverfolgung abzusehen.76 In unserem Zusammenhang interessiert die vorgeschlagene Ausweitung des Klageerzwingungsverfahrens, die für die zur Nebenklage berechtigten Opfer einen erheblichen Fortschritt darstellen würde. c) Dagegen war aus der Sicht der Opferbelange der 65. Deutscher Juristentag 2004, der den Chancen und Risiken einer Reform des Ermittlungsverfahrens gewidmet war, eine Enttäuschung. Entgegen manchen Erwartungen hat er sich zu Verbesserungen bei der Rechtsstellung des Verletzten nicht geäußert. Satzger hatte dazu zwar in seinem ideenreichen Gutachten77 Vorschläge unterbreitet, auch wenn sein Schwerpunkt auf anderen Themen lag. Er schlug vor, im Rahmen des Klageerzwingungsverfahrens eine eingeschränkte Überprüfung von Opportunitätseinstellungen nach §§ 153, 153a StPO auf Antrag des Verletzten zu ermöglichen, eingeschränkt auf die Fälle, in denen die Einstellung nicht den nach Satzgers Vorstellung aufzustellenden Regelkriterien entspricht sondern einen Ausnahmefall darstellt.78 Die Schaffung eines Einstellungstatbestands zum Schutz von Opferinteressen lehnte er ab.79 Der Juristentag hat diese Themen in der Diskussion, an der der Jubilar sich engagiert beteiligte,80 und in seinen Beschlüssen aber nicht aufgegriffen.81 Zu sehr war er mit den Fragen beschäftigt, ob das Verhältnis des Ermittlungsverfahrens zum Hauptverfahren neu geordnet und das Verhältnis der Strafverfolgungsorgane zur Verteidigung anders justiert werden muss, insbesondere die Rechte der Verteidigung gestärkt werden müssen. Das ist schade und wurde auch damals schon bedauert.82 ___________ 73

AE-EV, S. 139 – § 174a Abs. 2 i.d.F. des Entwurfs. AE-EV, S. 140. 75 AE-EV, S. 136. 76 AE-EV, S. 88. 77 Satzger, Gutachten C zum 65. DJT 2004. 78 Satzger, Gutachten C zum 65. DJT 2004, C 77. 79 Satzger, Gutachten C zum 65. DJT 2004, C 79. 80 Verhandlungen des 65. DJT, 2004, Bd. II/2, O 128. 81 Verhandlungen des 65. DJT, 2004, Bd. II/2, O 197. 82 Verhandlungen des 65. DJT, 2004, Bd. II/2 O 150. 74

Rücksichtnahme auf Opferinteressen bei der Einstellung nach § 153a StPO

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2. Nun soll die eigene Position skizziert werden. Sie beruht auf den Erfahrungen und Überlegungen des WEISSEN RINGS, gibt aber die persönliche Auffassung des Verfassers wieder. Der radikalste Vorschlag wäre, § 153a StPO zu streichen, ein Vorschlag, der aus anderen Gründen als denen des Opferschutzes in Teilen der Wissenschaft durchaus auf Sympathie stoßen würde.83 Er ist irreal. § 153a StPO hat sich in der Rechtspraxis fest etabliert, ein bedeutender Teil der Verfahren wird nach dieser Vorschrift erledigt. Die Akzeptanz dieser Erledigungen ist, insgesamt gesehen, gut. Es ist nicht vorstellbar, dass der Gesetzgeber der stark belasteten Justizpraxis dieses Instrument zur vereinfachten Erledigung weniger schwer wiegender Verfahren wieder wegnimmt. Kaum weniger eingreifend wäre es, wenn gesetzlich bestimmt würde, dass eine Sachbehandlung nach § 153a StPO stets eine Zustimmung des Verletzten voraussetzt. Nicht nur dass dies die Zahl der Einstellungen erheblich verringern könnte. Auch der Verfahrensaufwand würde deutlich größer. Dass der Gesetzgeber sich für die Massensachen der Eigentums-, Vermögens- und Verkehrskriminalität zu einem solchen Schritt entschließt, ist kaum vorstellbar. Eine andere Frage ist, ob bei zur Nebenklage berechtigten Verletzten deren Zustimmung verlangt werden kann. Hier wäre der Kreis der betroffenen Verfahren überschaubar, die Erschwerung für die Praxis begrenzt. Den Interessen dieser besonders schutzbedürftigen Opfer würde umfassend Rechnung getragen. Da eine Zustimmung der nebenklageberechtigten Verletzten vor allem dann zu erwarten wäre, wenn dies ihren Wiedergutmachungsinteressen dient, würde von einer solchen Regelung auch ein Impuls ausgehen, jedenfalls bei Straftaten gegen höchstpersönliche Rechtsgüter mit einer Erledigung nach § 153a StPO häufiger Wiedergutmachung und TOA zu verknüpfen. Kommt es nicht zu einer Zustimmungslösung, so ist es dringend geboten, dem Verletzten wenigstens rechtliches Gehör vor einer Einstellung nach § 153a StPO zu sichern, und zwar bei staatsanwaltschaftlichen Einstellungen ebenso wie bei gerichtlichen. Eigentlich müsste eine solche Regelung für alle Verletzten gelten. Doch ist sie natürlich am dringendsten für die Verletzten, die zur Nebenklage berechtigt sind.84 Gewährleistung rechtlichen Gehörs genügt aber nicht. Notwendig ist ferner, die Einbeziehung der Opferbelange in die von Staatsanwaltschaft und Gericht vorzunehmende Abwägung ausdrücklich vorzuschreiben Das könnte in verschiedener Weise geschehen. Ein Weg wäre, in den Wortlaut des § 153a StPO ___________ 83 Dazu die Nachweise bei LR-Beulke, § 153a Rn. 11 ff.; KK-Schoreit, 6. Aufl. 2008, §153a Rn. 4. 84 Insoweit schon zu erwägen gegeben vom 55. DJT 1984 – Verhandlungen des 55. DJT 1984, Sitzungsbericht L, L188; siehe auch S. Walther, JR 2008, 405 (407).

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aufzunehmen, dass nicht nur die Schuld des Täters, sondern auch die berechtigten Opferinteressen der Einstellung nicht entgegenstehen dürfen. Eine solche Regelung sollte nicht auf die zur Nebenklage berechtigten Opfer beschränkt sein. Hätten die berechtigten Opferbelange in diesem Sinn Eingang in den Text des § 153a StPO gefunden, würde es auch Sinn machen, für die Verletzten das Klageerzwingungsverfahren gegen Einstellungen nach § 153a StPO zu öffnen, beschränkt auf die Überprüfung dieser gesetzlichen Voraussetzung, wie dies das Anliegen des AE-EV war.85 Diese Regelung ließe sich auf nebenklageberechtigte Verletzte beschränken wie auch ein Beschwerderecht gegen Einstellungen nach § 153a Abs. 2 StPO wohl auf den Nebenkläger beschränkt sein müsste. Wer der Meinung ist, dass dies alles nicht kommen wird, weil der Gesetzgeber davor zurückschreckt, die praktisch so bedeutsame Vorschrift des § 153a StPO anzutasten, braucht gleichwohl nicht jede Hoffnung auf eine stärkere Berücksichtigung der Opferbelange aufzugeben. Wenn die Justizverwaltungen sich entschlössen, in die RiStBV eine Regelung aufzunehmen, dass im Rahmen der Anwendung des § 153a StPO die Opferbelange angemessen zu berücksichtigen sind, würden damit zwar nur die Staatsanwaltschaften gebunden. Da Einstellungen nach § 153a Abs. 2 StPO ein Zusammenwirken von Gericht und Staatsanwaltschaft voraussetzen, würde aber auch auf gerichtliche Einstellungen nach § 153a Abs. 2 StPO Einfluss genommen. Jedenfalls ein solcher winzig kleiner Schritt sollte im Interesse der Opferbelange erreichbar sein, zumal es sich dabei nur um eine Konkretisierung der in Nr. 4 RiStBV schon enthaltenen allgemeinen Verpflichtung der Staatsanwaltschaft auf den Opferschutz handeln würde. Niemand hindert die Staatsanwaltschaften natürlich, gestützt auf Nr. 4 RiStBV, schon jetzt die Opferbelange in ihre Entscheidungen zu § 153a StPO einzubeziehen, wie dies ja auch vielfach geschieht. Im Gegenteil: Sie können sich dabei auf Gemeinschaftsrecht stützen. Wie der EUGH in der Sache Maria Pupino86 entschieden hat, sind die Zielvorgaben des Rahmenbeschlusses über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15. 3. 200187 bei der Auslegung unbestimmter Rechtsbegriffe des nationalen Rechts heranzuziehen. Sowohl Art. 2 Abs. 1 wie Art. 3 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses legen es nahe, bei der Bestimmung des öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung wie bei der Ermessensausübung die Belange des jeweiligen Opfers einzubeziehen. Wenn ___________ 85 Ähnlich Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl. 1998, § 39 Rn. 7: Beschränkt auf Ermessensfehlgebrauch. 86 EuGH JZ 2005, 838. 87 Amtsblatt vom 22. 3. 2001, L 82/1.

Rücksichtnahme auf Opferinteressen bei der Einstellung nach § 153a StPO

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Staatsanwälte das Ohr am Puls der Zeit haben, die wissenschaftliche Entwicklung verfolgen und über Mut und Tatkraft verfügen, können sie bei der Anwendung des § 153a StPO schon jetzt viel für die Berücksichtigung der Opferbelange tun. Der Jubilar, der seine Antrittsvorlesung an der Universität Erlangen-Nürnberg 1998 der Entwicklung des Opferschutzes gewidmet hat,88 ist mit gutem Beispiel vorangegangen.

___________ 88

Stöckel, JA 1998, 599 ff.

Grund und Grenzen der Unzulässigkeit einer regelmäßigen Einholung von Glaubwürdigkeitsgutachten im Strafverfahren Von Volker Erb

I. Einführung Die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen gilt traditionell als „Domäne des Tatrichters“. Allerdings ist schon seit langem anerkannt, dass die richterliche Aufklärungspflicht in bestimmten Konstellationen gebieten kann, einen einschlägig ausgewiesenen Sachverständigen hinzuzuziehen: Bei der Vernehmung von Kindern und Jugendlichen ist dies zwar nicht generell,1 wohl aber dann der Fall, wenn es sich um ein sehr kleines Kind handelt2 oder wenn Besonderheiten in der Person oder Auffälligkeiten im Aussageverhalten vorliegen,3 bei Erwachsenen ausnahmsweise, wenn psychische Beeinträchtigungen im Raum stehen.4 Dass man dem Richter insofern keine uneingeschränkte Befähigung mehr zuschreibt, Aussagen unter allen Umständen selbst sachgerecht zu würdigen, verwundert nicht, gibt es für die Beurteilung von Lügensymptomen unter den verschiedensten Begleitumständen doch eingehende fachwissenschaftliche (d.h. psychologische) Erkenntnisse,5 die ein Richter auch dann, wenn er sich in großem Umfang einschlägig weiterbildet (was bei der Mehrzahl der Strafrichter indessen höchstens ansatzweise der Fall sein dürfte), ___________ 1

Vgl. zuletzt BGH NStZ-RR 2006, 241. OLG Zweibrücken StV 1995, 293. 3 Vgl. etwa BGH StV 2002, 637 ff.; BGH StV 2004, 241. 4 So z.B. BGH NStZ 1982, 170; BGH NStZ-RR 2003, 51 f.; zu den Anforderungen an Glaubwürdigkeitsgutachten grundlegend BGHSt 45, 164; zum Ganzen Zwiehoff, Das Recht auf den Sachverständigen, 2000, S. 196 ff.; Otte, Rechtsgrundlagen der Glaubwürdigkeitsbegutachtung im Strafprozess, 2002, S. 190 ff.; Fischer, in: Widmaier-FS, 2008, S. 191 (207 ff.); Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 5. Aufl. 2006, Rn. 1860 ff.; LR-Becker, Bd. 6, 26. Aufl. 2009, § 244 Rn. 84; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, § 244 Rn. 74; Volbert/Steller, in: Venzlaff/Foerster, Psychiatrische Begutachtung, 5. Aufl. 2009, S. 818 ff.; jew. m.w.N. 5 Eingehende Übersicht bei Otte (Fn. 4), S. 45 ff. 2

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kaum jemals vollständig beherrschen dürfte.6 Selbst wenn dies ausnahmsweise doch einmal der Fall sein sollte, fehlen dem Richter die umfassenden Möglichkeiten zur Anwendung dieser Kenntnisse, weil er mit dem Zeugen aus rechtlichen und tatsächlichen Gründen kein Explorationsgespräch führen kann.7 Vor diesem Hintergrund erscheint es auf den ersten Blick eher umgekehrt erstaunlich, dass die Gerichte im Normalfall, in dem die Glaubhaftigkeit der Aussage eines psychisch unauffälligen Erwachsenen zur Debatte steht, nach wie vor eine uneingeschränkte eigene Beurteilungskompetenz in Anspruch nehmen dürfen. Dies gilt um so mehr, als die Symptome der Wahrheit oder Unwahrheit hier nicht leichter, sondern im Gegenteil wesentlich schwerer zu erkennen sind als bei Kindern, Jugendlichen und seelisch kranken Personen, ihre richtige Erfassung also eher besonders qualifizierte psychologische Fachkenntnisse voraussetzt8. Wir wollen im folgenden der Frage nachgehen, welche Umstände es dem Gericht hier gleichwohl erlauben, in der Regel auf die Hinzuziehung eines Sachverständigen zu verzichten (bzw. warum man eine solche mit dem BGH sogar als unzulässig betrachten kann), und wo richtigerweise die Grenzen dieser Betrachtung liegen.

II. Legitimationsprobleme des weitgehenden Verzichts auf die Einholung von Glaubwürdigkeitsgutachten 1. Die Legitimation für den Verzicht darauf, bei Unsicherheiten bzgl. der Glaubhaftigkeit einer Zeugenaussage (oder auch der Einlassung eines Beschuldigten9) durch Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens weitergehende Sachverhaltsaufklärung zu betreiben, kann nicht ernsthaft in der Annahme gesucht werden, der Strafrichter beherrsche die Glaubwürdigkeitsbeurteilung als „ureigene Aufgabe“ in ähnlich fundierter Weise wie ein einschlägig ausgebildeter Fachwissenschaftler: Entspräche letzteres überhaupt nur der Vorstellung des Gesetzgebers, dann müsste der Erwerb entsprechender Fertigkeiten zwingender Bestandteil der juristischen Ausbildung und Prüfung sein, mit der dem Absolventen die „Befähigung zum [Straf-]Richteramt“ zuerkannt wird, und könnte schwerlich freiwilligen Weiterbildungsmaßnahmen überlassen bleiben.10 Kämen bei der Würdigung von Zeugenaussagen in der ___________ 6 Zu möglichen Folgen der Selbstüberschätzung von Tatrichtern ein Fallbeispiel am Ende des Beitrags; für große Strafkammern optimistischer Nack, GA 2009, 201 (207 f.). 7 Vgl. bereits Zwiehoff (Fn. 4), S. 215. 8 Vgl. Hetzer/Pfeiffer, NJW 1964, 441 (442); Fischer, NStZ 1994, 1 (3); ders., in: Widmaier-FS, 2008, S. 191 (209 f.); Eisenberg (Fn. 4), Rn. 1521. 9 Wo die aussagepsychologische Begutachtung in der Praxis freilich so gut wie gar keine Rolle spielt, vgl. Fischer, NStZ 1994, 1 (3). 10 Zutr. Fischer, NStZ 1994, 1 (5).

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Praxis die wissenschaftlichen Standards der Aussagepsychologie tatsächlich zur Geltung, wäre im Übrigen anzunehmen, dass sich dies in den Urteilsbegründungen widerspiegelt. Diese sind jedoch in aller Regel durch Plausibilitätserwägungen geprägt, die sich auf die allgemeine Lebens- und die richterliche Berufserfahrung, aber kaum jemals auf wissenschaftlich fundierte Kriterien der Aussagepsychologie stützen, und die Entscheidung darüber, ob das Gericht einem Zeugen Glauben schenkt, dürfte häufig rein intuitiv getroffen werden.11 Dabei besteht in doppelter Hinsicht die Gefahr von Fehleinschätzungen, die sich bei Einhaltung fachwissenschaftlicher Standards vermeiden ließen: Zum einen können zwischen Alltagsverständnis und wissenschaftlicher Erkenntnis über die Bedeutung bestimmter Umstände als Wahrheits- oder Lügemerkmale erhebliche Diskrepanzen bestehen.12 Zum anderen sollen speziell Juristen dazu neigen, die eigene Fähigkeit zur Aufdeckung von Lügen zu überschätzen,13 was insbesondere in „Aussage-gegen-Aussage-Situationen“ (zu deren besonderer Problematik s.u. IV.3.) eine trügerische Sicherheit bzgl. der Wahrheit der Aussage eines Belastungszeugen vermitteln und auf diese Weise die im Ergebnis gebotene Anwendung des Grundsatzes „in dubio pro reo“ vereiteln kann. Vor diesem Hintergrund kann man sich nicht auf eine Position zurückziehen, wonach das Gericht bei der Glaubwürdigkeitsbeurteilung im Normalfall (d.h. außerhalb der anerkannten Ausnahmekonstellationen) deshalb keine sachverständige Beratung brauche, weil es insoweit i.S. von § 244 Abs. 1 Satz 1 StPO selbst über die erforderliche Sachkunde verfüge. Es bleibt vielmehr völlig offen, warum die Gerichte in weitem Rahmen befugt sein sollen, sich auf eigene Wertungen zu beschränken, obwohl die Sachkunde für Glaubwürdigkeitserwägungen, die wissenschaftlichen Maßstäben standhalten, bei ihnen schlimmstenfalls gar nicht, zumeist wohl nur in rudimentären Ansätzen und selten in wirklich fundierter Form vorhanden ist. 2. a) Fischer schlägt für die Handhabung des Sachverständigenbeweises zur Glaubhaftigkeit von Aussagen folgende Differenzierung vor: Ein Beweisgegenstand, zu dem sich der Richter bei unzureichender eigener Sachkunde von einem Sachverständigen instruieren lassen kann, sei lediglich die „Glaubwürdigkeit“, soweit diese „Eigenschaften einer Person beschreibt“.14 Solange insofern keine Besonderheiten zu verzeichnen sind und es lediglich darum geht, die Aussage anhand der gewöhnlichen „aussagepsychologischen Standards“ zu überprüfen, sei für die Einholung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens kein ___________ 11

Ebenso Fischer, NStZ 1994, 1 (5). Vgl. Köhnken, Glaubwürdigkeit – Untersuchungen zu einem psychologischen Konstrukt, 1990, S. 47 ff., 52 ff.; Eisenberg (Fn. 4), Rn. 1458 ff.; Toepel, Grundstrukturen des Sachverständigenbeweises im Strafprozeßrecht, 2002, S. 207 m.w.N. 13 Vgl. Köhnken (Fn. 12), S. 56 f.; Toepel (Fn. 12), S. 208. 14 Fischer, NStZ 1994, 1 (5). 12

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Raum. Entgegen verbreiteter Annahme könne der Verdacht bestimmter Deliktsarten (Sexualdelikte) oder das Vorliegen kindlicher Aussagen daran für sich genommen noch nichts ändern, ebensowenig eine „besonders schwierige Beweislage“ oder eine Konfrontation von „Aussage gegen Aussage“.15 Ein Gutachten werde vielmehr nur dann benötigt, wenn Umstände hinzukommen, unter denen „die Feststellung und Beurteilung der nach dem Stand der Aussagepsychologie in der Regel anzuwendenden Glaubhaftigkeitskriterien zweifelhaft ist“; hier sei z.B. an „ungewöhnliche individuelle Dispositionen, Persönlichkeitsstrukturen oder psychische Erkrankungen ..., also individuelle persönliche Voraussetzungen der Aussageperson, die vom regelmäßig zugänglichen ‚Normalen‘ abweichen“, zu denken.16 Der Gutachtenauftrag müsse sich dabei jedoch auf die Klärung dieser Umstände beschränken; es sei generell unzulässig, die Beurteilung der „speziellen Glaubwürdigkeit“ oder „Glaubhaftigkeit“17 einer bestimmten Aussage – also die Entscheidung, ob man diese in letzter Konsequenz für wahr oder unwahr halten soll, einem Sachverständigen zu überlassen. Insofern handele es sich nämlich um Beweiswürdigung,18 was u.a. daran erkennbar sei, dass man die Aussage dabei nicht isoliert, sondern nur unter Berücksichtigung der übrigen vorhandenen Beweismittel sachgerecht bewerten kann.19 Diese Aufgabe müsse der Tatrichter unbedingt selbst wahrnehmen.20 Wenn BGHSt 45, 164 (167) demgegenüber bei vielen Gerichten die Erwartung geweckt habe, der Sachverständige könne in wissenschaftlich fundierter Weise die Übereinstimmung einer Aussage mit der objektiven Realität bescheinigen, so gehe diese schon deshalb fehl, weil sich die Erkenntnismethoden der Psychologie hierfür prinzipiell nicht eignen, da sie nur auf die Analyse der subjektiven Erlebnisfundiertheit einer Aussage ausgerichtet sind.21 b) Dass die Frage, ob das Gericht einer Aussage im Ergebnis Glauben schenkt, in letzter Konsequenz ein von ihm selbst vorzunehmender Akt der Beweiswürdigung ist, trifft zu. Dies macht die Einholung eines einschlägigen Gutachtens aber nur dort per se entbehrlich, wo die Entscheidung, ob man eine Aussage für wahr hält, tatsächlich im Rahmen einer umfassenden Würdigung einer Mehrzahl von Beweisen und insofern gerade nicht (oder jedenfalls nicht in erster Linie) aufgrund von aussagepsychologischen Überlegungen getroffen ___________ 15

Fischer, in: Widmaier-FS, 2008, S. 191 (221 f.); zur Ablehnung der „schwierigen Beweislage“ als Anlaß für eine Glaubhaftigkeitsbegutachtung bereits ders., NStZ 1994, 1 (5). 16 Fischer, in: Widmaier-FS, 2008, S. 191 (222). 17 Zur uneinheitlich der im Schrifttum verwendeten Terminologie Fischer, in: Widmaier-FS, 2008, S. 191 (192 ff.). 18 Fischer, NStZ 1994, 1 (5). 19 Vgl. Fischer, NStZ 1994, 1 (3). 20 Fischer, NStZ 1994, 1 (5), ders., in: Widmaier-FS, 2008, S. 191 (201 f., 221). 21 Zutr. Fischer, in: Widmaier-FS, 2008, S. 191 (197 f., 201 f.).

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wird. Eine solche Situation liegt vor, wenn das Gericht die Angaben eines Zeugen durch Aussagen unabhängiger weiterer Zeugen oder durch Sachbeweis entweder für so klar bestätigt oder unter Berücksichtigung der weiteren Beweisergebnisse umgekehrt für so ungereimt hält, dass die Aussage unabhängig von einer näheren Auseinandersetzung mit der Motivationslage und der mentalen Verfassung des Zeugen glaubhaft bzw. unglaubhaft erscheint. Für die Plausibilitätserwägungen, auf denen derartige Schlussfolgerungen beruhen, ist ein ausgebildeter Strafjurist im Zweifel tatsächlich besser qualifiziert als ein Sachverständiger jeder denkbaren Fachrichtung, und speziell der Aussagepsychologe kann hierfür offenkundig nicht einmal im Ansatz eine Fachkompetenz in Anspruch nehmen. c) Die Fälle, in denen über die Erforderlichkeit oder Entbehrlichkeit eines Glaubwürdigkeitsgutachtens diskutiert wird, sind aber durchweg anders gelagert: Hier gibt es keine Vielzahl erhobener Beweise, deren Ergebnisse in einem solchen Maße übereinstimmen, dass die evtl. Unzuverlässigkeit eines einzelnen Beweismittels das Gesamtbild nicht in Frage stellt und deshalb vernachlässigt werden kann, oder bei denen umgekehrt so große Diskrepanzen bestehen, dass es von vornherein aussichtslos erscheint, einem Beweismittel bei näherer Betrachtung seiner individuellen Eigenschaften eine gesteigerte Glaubwürdigkeit beizumessen, um die non-liquet-Situation zu überwinden. Der Ruf nach dem aussagepsychologischen Sachverständigen wird vielmehr da laut, wo die Überzeugungsbildung des Gerichts mit der Zuverlässigkeit eines ganz bestimmten Zeugen steht oder fällt, und deshalb kein Weg daran vorbeiführt, die individuellen Eigenschaften und Verhältnisse dieses Beweismittels zu analysieren. Dabei spricht aber zunächst einmal überhaupt nichts dagegen, fachwissenschaftliche Kenntnisse, die ein verbessertes Verständnis von der Funktion des Beweismittels versprechen, im Wege des Sachverständigenbeweises in das Verfahren einzuführen. So käme ja auch beim Sachbeweis niemand auf die Idee, der Richter müsse die Glaubhaftigkeit der Information, die das jeweilige Beweisinstrument vermittelt (z.B. der von einem Geschwindigkeitsmessgerät angezeigte Wert), immer und in jeder Hinsicht allein beurteilen, und dürfe die Beschaffenheit des betreffenden Gegenstands sowie die physikalischen Bedingungen, unter denen der von ihm vermittelte Eindruck zustande kam, nicht durch Vertreter einschlägiger Fachwissenschaften erläutern lassen. Warum dies bei der Suche nach Kriterien, anhand derer man aus dem Verhalten der Person in Verbindung mit bestimmten Begleitumständen zumindest tendenziell auf die Wahrheit oder Unwahrheit einer Zeugenaussage schließen kann, prinzipiell anders sein sollte, obwohl ein aussagepsychologischer Gutachter diese Kriterien zuverlässiger erfassen und einordnen kann, als dies den Fertigkeiten des Tatrichters entspricht, ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Auch die Differenzierung zwischen „normalen“ und psychisch auffälligen Zeugen leuchtet vor diesem Hintergrund nicht ein. Im Beispiel des Geschwindigkeitsmessgeräts ist die Hinzuziehung eines

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Sachverständigen nämlich ebenfalls nicht auf den Fall eines technisch unausgereiften oder defekten Geräts beschränkt, sondern auch dort zulässig und geboten, wo die Möglichkeit im Raum steht, dass ein an sich technisch einwandfreies Gerät unter bestimmten Umständen gleichwohl fehlerhafte Messergebnisse liefert, und dass der Richter die entsprechenden physikalischen Zusammenhänge nicht kraft eigener Sachkunde lückenlos durchschauen kann! 3. Die Überlegung, wonach die Glaubwürdigkeitsbegutachtung als regelmäßiges Instrument der Wahrheitsfindung deshalb ausgeschlossen sei, weil die StPO die Informationsgewinnung im Rahmen des Zeugenbeweises aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes auf die Vernehmung durch den Richter nach den dafür vorgesehenen Regeln beschränke,22 vermag die gegenwärtige Handhabung schließlich ebenfalls nicht zu erklären: Es mag zwar sein, dass die Ausforschung der Persönlichkeit im Rahmen eines Explorationsgesprächs verfassungsrechtliche Bedenken aufwirft.23 In diesem Zusammenhang ist jedoch nicht nachvollziehbar, warum diese bei einem prima facie geistig gesunden Autofahrer, der einen anderen wegen eines angeblichen Verkehrsdelikts angezeigt hat, schwerer wiegen sollten als bei einem kindlichen oder psychisch kranken Opferzeugen eines Sexualdelikts, und schwerer als bei einem Beschuldigten, über den das Gericht ein Schuldfähigkeitsgutachten einholt, das mit der Ausforschung noch intimerer Persönlichkeitsaspekte verbunden ist als die Erstattung eines Glaubwürdigkeitsgutachtens. Dies gilt um so mehr, als ersterer sein Recht, die Mitwirkung an einer Exploration zu verweigern (das schon mangels einer gesetzlichen Regelung zu ihrer Erzwingung, aber auch aus verfassungsrechtlichen Gründen außer Frage stehen dürfte24), viel effektiver ausüben kann als jemand, der infolge seiner geistig-seelischen Verfassung die Tragweite der Maßnahme vielleicht gar nicht erfassen kann, und für den die tatsächlichen Folgen der Weigerung (evtl. Verlust der Glaubwürdigkeit und hierdurch bedingter Freispruch eines Täters, der ihnen schwerstes persönliches Leid zugefügt hat; bei dem auf seine Schuldfähigkeit untersuchten Beschuldigten u.U. die Versagung einer möglichen Strafmilderung nach § 21 StGB) weitaus gravierender sind. Im Übrigen setzt eine sachverständige Beratung, die dem Richter eine wissenschaftlich fundierte Erfassung der Kriterien dafür ermöglicht, ob er dem Zeugen Glauben schenken kann, ja nicht zwangsläufig eine Exploration des Zeugen voraus; auch eine sorgfältige Analyse von Inhalt und Form der Aussage als solcher könnte hier möglicherweise schon nützliche Dienste leisten.25 ___________ 22

In dieser Richtung wiederum Fischer, NStZ 1994, 1 (4). Dazu Dippel, Die Stellung des Sachverständigen im Strafprozeß, 1986, S. 165 ff.; Fischer, NStZ 1994, 1 (4). 24 Näher (auch zum Belehrungserfordernis) Otte (Fn. 4), S. 216 ff. 25 Wenngleich ein aussagepsychologisches Gutachten, das allein auf der Grundlage einer Beobachtung der Hauptverhandlung erstattet wird, nur eine stark einge23

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4. Sind es also nur „rechtspragmatische Gründe“, aus denen das Gericht bei einem geistig gesunden erwachsenen Zeugen auf die Hinzuziehung eines Sachverständigen mit Billigung des BGH grundsätzlich verzichten darf und muss, ist es mithin allein der Gesichtspunkt, dass die Strafgerichte im Hinblick auf die Allgegenwärtigkeit von Zweifeln am Wahrheitsgehalt entscheidungserheblicher Zeugenaussagen andernfalls permanent mit der Einholung und Auswertung umfangreicher Sachverständigengutachten beschäftigt wären und die Strafrechtspflege hierdurch zum Erliegen käme?26 Wenngleich eine inflationäre Ausweitung der Glaubwürdigkeitsbegutachtung in der Praxis tatsächlich nicht realisierbar sein dürfte, so ist eine allein auf diesen Befund gestützte Hinnahme des gegenwärtigen Zustands, verbunden mit dessen Verbrämung durch die Fiktion einer in Wirklichkeit nicht gegebenen (s.o. 1.) umfassenden Sachkunde des Tatrichters, gleichwohl unbefriedigend. Dies gilt umso mehr, als sich dann die Frage stellt, warum man von der Fiktion einer uneingeschränkten aussagepsychologischen Kompetenz der Gerichte bei Aussagen psychisch auffälliger Zeugen wiederum eine Ausnahme macht.27

III. Grenzen der Beweiseignung von Glaubwürdigkeitsgutachten Um die die Zurückhaltung der Rechtsprechung bei der Inanspruchnahme von Glaubwürdigkeitsgutachtern mitsamt den anerkannten Ausnahmekonstellationen erklären und – jedenfalls im Grundsatz – auch legitimieren zu können, bedarf es eines Blickes auf die Frage, wie groß der Beitrag tatsächlich ist, den Glaubwürdigkeitsgutachten zur Verbesserung der Wahrheitsfindung im Strafverfahren zu leisten vermögen. Anlass zur Skepsis gibt in diesem Zusammenhang der Befund, dass die in der aussagepsychologischen Diagnostik verwendeten Kriterien vielfach umstritten und empirisch-statistisch nur unzureichend abgesichert sind.28 Soweit man sie für grundsätzlich zutreffend hält, kann ihre Aussagekraft z.T. von weiteren Umständen abhängen, die im Einzelfall leicht übersehen werden – man denke etwa an die detailreiche Schilderung sexueller Vorgänge durch Zeugen, denen man die Erfindung der betreffenden Details ___________ schränkte Aussagekraft hat, vgl. Arntzen, Psychologie der Zeugenaussage, 4. Aufl. 2007, S. 133. 26 Vgl. Kühne, Strafprozessrecht, 7. Aufl. 2006, Rn. 860. 27 Wobei zu beachten ist, dass es in diesen Fällen nach BGH NStZ 1982, 170 keinesfalls genügt, wenn sich das Tatgericht die psychischen Auffälligkeiten als solche durch Sachverständige erläutern lässt, die abschließende Glaubwürdigkeitsbeurteilung also solche dann aber ohne sachverständige Beratung vornimmt. 28 Eingehend Köhnken (Fn. 12), S. 114 ff.; Eisenberg (Fn. 4), Rn. 1428 ff., 1435 ff.; Fischer, in: Widmaier-FS, 2008, S. 191 (215 f.); vgl. ferner Toepel (Fn. 12), S. 206 f.

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nach Alter und Reifegrad nicht zutraut, die ein Glaubhaftigkeitskriterium sein kann, diese Wirkung aber schlagartig einbüßt, wenn die Möglichkeit besteht, dass die Person durch den heimlichen Konsum einschlägiger Medien beeinflusst wurde.29 Schließlich erscheinen viele der Merkmale, die als Indizien für die Wahrheit einer Aussage gehandelt werden, deshalb ambivalent, weil Lügner sie instrumentalisieren können, um glaubwürdig zu erscheinen (wofür sie nicht unbedingt ihrerseits aussagepsychologische Fachkenntnisse benötigen, sondern sich bei ausgeprägter Lügebegabung auch instinktiv so verhalten können, wie andere Menschen dies typischerweise bei Bekundung der Wahrheit tun würden).30 So steht die Befürchtung im Raum, dass die wissenschaftliche Glaubwürdigkeitsanalyse in vielen Fällen nur „nur die guten Lügner von den schlechten trennt“.31 1. Vor diesem Hintergrund ist es speziell bei Personen, die keine psychischen Auffälligkeiten aufweisen, schlechthin unmöglich, Kriterien von Lüge und Wahrheit aufgrund von aussagepsychologischen Kriterien sicher zu unterscheiden. Gerade in Fällen, in denen die Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage nicht evident erscheint (also dort, wo man sich vom Einsatz wissenschaftlicher Untersuchungsmethoden Klarheit erhofft), kann vielmehr auch die Aussagepsychologie nur Indizien benennen, die tendenziell für oder gegen die Glaubhaftigkeit sprechen.32 Ein Ergebnis, wonach die Aussage definitiv wahr oder unwahr sein soll, basiert deshalb niemals als auf einem fachwissenschaftlich zwingenden Schluss des Sachverständigen, sondern spiegelt immer nur seine höchstpersönliche Einschätzung wider, die er in einer Gesamtschau aller ihm zur Verfügung stehenden Informationen erlangt hat, die ein anderer Fachvertreter an seiner Stelle aber möglicherweise nicht teilen würde. Mit einer solchen Gesamtschau hat der Sachverständige indessen etwas vorgenommen, was für ihn selbst eine Kompetenzüberschreitung darstellt und tatsächlich die „ureigene Aufgabe“ des Tatrichters darstellt, die dieser am Ende ohnehin eigenverantwortlich erfüllen muss, ohne an das Votum eines Dritten gebunden zu sein: eine Beweiswürdigung. Eine als wissenschaftliche Schlussfolgerung begründete Stellungnahme zur definitiven Glaubhaftigkeit oder Unglaubhaftigkeit einer Äußerung ist demgegenüber (wenn auch hier wiederum nur theoretisch) allenfalls bei Personen denkbar, deren Verhalten uns „unfrei“ erscheint, indem sie z.B. infolge einer psychischen Defektlage einem mit entsprechenden Untersuchungsmethoden feststellbaren Zwang unterliegen. Dies wäre übrigens neben dem „Außergewöhnlichen“ der hier maßgeblichen Kriterien eine denkbare Erklärung dafür, warum bei Zeugen mit psychischen Beeinträchtigungen ___________ 29

Vgl. Eisenberg (Fn. 4), Rn. 1431. Überzeugend Eisenberg (Fn. 4), Rn. 1452a. 31 Eisenberg (Fn. 4), Rn. 1888. 32 Ebenso Brause, NStZ 2007, 505 (506). 30

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seit langem die Tendenz zur Einholung von Glaubhaftigkeitsgutachten besteht – hier verspricht man sich wohl in gewisser Weise „handfeste“ wissenschaftliche Erkenntnisse. Wenn die Rechtsprechung demgegenüber bei der Würdigung von Aussagen vor einem normalpsychologischen Hintergrund auf eine aussagepsychologische Begutachtung fast durchweg verzichtet, läge dies umgekehrt nicht daran, dass der Tatrichter hier kraft eigener Sachkunde Vergleichbares leisten könnte. Entscheidend wäre vielmehr, dass (wie eingangs bereits bemerkt, s.o. I.) die Beurteilung der Glaubhaftigkeit von Aussagen eines geistig gesunden Erwachsenen im Gegenteil besonders schwer ist und insofern prinzipiell überhaupt nicht nach den Methoden empirischer Wissenschaften, sondern nur im Wege der freien richterlichen Beweiswürdigung erfolgen kann. Insoweit müsste man das Glaubhaftigkeitsgutachten als völlig ungeeignetes Beweismittel i.S. von § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO zurückweisen. 2. Dies erklärt freilich noch nicht, was (abgesehen von dem unter II.4. genannten „rechtspragmatischen“ Argument) den Tatrichter daran hindern sollte, auch bei einer psychisch unauffälligen erwachsenen Aussageperson Sachverständigenbeweis über die Frage zu erheben, welche Merkmale der Persönlichkeit und des Aussageverhaltens nach psychologischen Erkenntnissen aus welchen Gründen tendenziell für oder gegen die Wahrheit oder Unwahrheit der Aussage sprechen. In dieser Hinsicht verspricht die besondere Sachkunde des Glaubwürdigkeitsgutachters nämlich sehr wohl zusätzliche Erkenntnisse, die als Indizien, die dem Gericht andernfalls vielleicht verborgen blieben, in die Beweiswürdigung einfließen können,33 und ist zu deren Nachweis mithin nicht „völlig ungeeignet“ i.S. von § 244 Abs. 3 Satz 2 StPO.34 Was bleibt, ist aller___________ 33 In diesem Punkt dürften sich die von der Aussagepsychologie entwickelten Kriterien trotz der ihnen anhaftenden Unwägbarkeiten in maßgeblicher Hinsicht vom Lügendetektor unterscheiden, dessen Messwerten der BGH ausdrücklich auch in indizieller Hinsicht jeglichen Beweiswert abspricht, BGHSt 44, 308 (322 ff.), wenngleich die vom BGH geäußerten Validitätsbedenken z.T. (unzureichende empirische Verifizierbarkeit des Verfahrens und Manipulationsmöglichkeiten der untersuchten Person) den Einwänden ähneln, denen sich aussagepsychologische Konzepte zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung ausgesetzt sehen (s.o.); vgl. dazu auch Toepel (Fn. 12), S. 209. Der entscheidende Unterschied dürfte darin bestehen, daß das Gericht die Aspekte, die ein aussagepsychologischer Gutachter als Kriterien für und gegen die Glaubhaftigkeit einer Aussage ins Feld führt, einzeln nachvollziehen und sowohl ihre grundsätzliche als auch ihre nach den konkreten Umständen im Einzelfall gegebene Plausibilität einer eigenen Würdigung unterziehen kann. Demgegenüber kann das Gericht das Ergebnis eines Polygraphentests nur als Ganzes übernehmen oder verwerfen, womit es, wie der BGH zu Recht bemerkt (a.a.O., S. 322), „seiner Aufgabe, eine eigen- und letztverantwortliche Entscheidung zu treffen, nicht gerecht“ würde. 34 Zur Beweiseignung eines Sachverständigen auch dann, „wenn er zwar keine sicheren und eindeutigen Schlüsse ziehen kann, seine Folgerungen aber die unter Beweis gestellte Behauptung als mehr oder weniger wahrscheinlich erscheinen lassen und das Gutachten Einfluß auf die Überzeugungsbildung des Gerichts haben kann“, BGH StV 2008, 337 f.

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dings der Umstand, dass hier ein extrem hoher Verfahrensaufwand im Raum steht, der nur mit geringer Wahrscheinlichkeit zu weiteren entscheidungserheblichen Erkenntnissen führen wird. Die Berücksichtigung dieses Umstands ist dem Gesetz als Anlass für eine Beschränkung des Sachverständigenbeweises nun keineswegs fremd. Insofern besteht nämlich sowohl für den Fall der eigenen (§ 244 Abs. 4 Satz 1 StPO) als auch für den Fall einer bereits durch ein früheres Gutachten vermittelten (§ 244 Abs. 4 Satz 2, 1. Hs. StPO) Sachkunde des Gerichts eine Regelung, wonach nicht jede irgendwie geartete Möglichkeit eines zusätzlichen Erkenntnisgewinns gebietet, einen (weiteren) Sachverständigen hinzuzuziehen. Diese Vorschrift wäre bei der Ablehnung eines Beweisantrags auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens zwar nicht unmittelbar einschlägig, weil man i.d.R. wie gesagt (s.o. II.1.) kaum von einer echten aussagepsychologischen Sachkunde des Gerichts sprechen kann. Die Interessenlage entspricht aber durchaus derjenigen, die § 244 Abs. 4 Satz 1 und Satz 2, 1. Hs. StPO im Auge hat, wenn und soweit (dazu sogleich) eine sachverständige Analyse der Glaubhaftigkeitskriterien im allgemeinen nicht in der Lage ist, die Gewähr für die Richtigkeit des Ergebnisses im Vergleich zu einer Beurteilung, die ausschließlich nach den gängigen Maßstäben richterlicher Beweiswürdigung erfolgt, in nennenswertem Umfang zu erhöhen: In diesem Fall garantiert die zusätzliche Instruktion durch einen Sachverständigen ebensowenig eine regelmäßige Verbesserung der Wahrheitsfindung wie dort, wo das Gericht in einer Fachfrage über eigene Sachkunde verfügt (wobei hier wie dort keinesfalls ausgeschlossen ist, dass der Sachverständige dem Gericht im Einzelfall doch einmal neue entscheidungserhebliche Erkenntnisse vermitteln könnte, indem er Gesichtspunkte anspricht, die das Gericht ansonsten trotz seiner eigenen Sachkunde übersehen hätte bzw. die – im Falle der Glaubhaftigkeitsbetrachtung – in concreto tatsächlich in der Lage wären, die Plausibilität der Beweiswürdigung maßgeblich zu beeinflussen!). Soweit die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen im Ergebnis von zweifelhaftem Nutzen ist, bietet es sich deshalb an, § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO analog anzuwenden,35 so dass dem Gericht wie in dessen unmittelbarem Anwendungsbereich eine antizipierte Beweiswürdigung36 darüber erlaubt wäre, ob die Erhebung des Sachverständigenbeweises neue, dem Gericht bislang verschlossene Erkenntnisse erwarten lässt, welche die eigene Einschätzung der Beweisfrage ___________ 35

Das Analogieverbot steht einer solchen Betrachtungsweise nicht entgegen, wenn man den Anwendungsbereich von Art. 103 Abs. 2 GG mit der h.M. (vgl. etwa BVerfGE 25, 269 [286 f.]; BVerfG NJW 2005, 1338 [1339]; Roxin, Strafrecht AT I, 4. Aufl. 2006, § 5 Rn. 43) auf das materielle Strafrecht beschränkt. Es käme hier im übrigen selbst dann nicht zum Tragen, wenn man es mit Jäger, GA 2006, 615 (621) auch auf strafprozessuale Vorschriften anwendet, die die Beweismöglichkeiten des Beschuldigten beschränken, weil der hier entwickelte Ansatz dem Beschuldigten bei richtiger Umsetzung (!) nicht zum Nachteil gereichen sollte, wie wir gleich sehen werden (s.u. IV.). 36 Vgl. SK/StPO-Frister, Stand: Mai 2008, § 244 Rn. 205.

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erschüttern könnten. Umso weniger wäre das Gericht in diesem Fall – wiederum ebenso wie in Konstellationen, in denen es zur Beurteilung von Fachfragen über hinreichende eigene Sachkunde verfügt – gehalten, schon aufgrund seiner Aufklärungspflicht nach § 244 Abs. 2 StPO ein Glaubwürdigkeitsgutachten einzuholen. Damit ist für die Zurückhaltung beim Einsatz von Glaubwürdigkeitsgutachtern bei geistig gesunden erwachsenen Aussagepersonen eine Legitimation gewonnen, die über rein pragmatische Erwägungen hinausgeht. 3. Unter welchen Umständen kann ein Sachverständiger nun die Sicherheit der Wahrheitsfindung maßgeblich erhöhen, indem er vor einem normalpsychologischen Hintergrund Kriterien benennt und erläutert, die nach den Erkenntnissen seines Faches für oder gegen die Wahrheit einer Aussage sprechen? Hier sind vorab zunächst alle Konstellationen auszuscheiden, in denen die Richtigkeit einer Aussage durch weitere, von dieser unabhängige37 Beweise entweder bestätigt oder erschüttert wird: Angesichts der beschränkten, lediglich indiziellen Aussagekraft der einschlägigen Wahrheits- und Unwahrheitskriterien erscheint es schwer vorstellbar, dass die isolierte Diagnose einiger diesbezüglicher Umstände die Kraft haben könnte, ein solches Beweisergebnis insgesamt umzukehren. In den verbleibenden Fällen, in denen die Feststellung einer entscheidungserheblichen Tatsache allein von der einschlägigen Aussage (oder von mehreren parallelen, insofern aber möglicherweise einander „angepassten“ Aussagen) abhängt, ist wie folgt zu differenzieren: a) Hat das Gericht bei einer – unter Beachtung aller hierfür maßgeblichen Kriterien erfolgenden – eigenen Würdigung der Aussage noch Zweifel an deren Richtigkeit, so sollte sich daran i.d.R. auch dann nichts ändern, wenn ein aussagepsychologischer Sachverständiger ohne Abgabe einer (ihm wie gesagt nicht zustehenden) Gesamtbewertung (!) vielleicht noch ein paar Merkmale beisteuern kann, die zwar zusätzlich für die Richtigkeit der Aussage sprechen, aber eben prinzipiell nur eine begrenzte Validität aufweisen. Wenn hier viele Gerichte möglicherweise gleichwohl bereit sind, einer zunächst als dubios eingestuften Aussage Glauben zu schenken, besteht jedenfalls keine Gewähr, dass der Einfluss des Sachverständigen auf die richterliche Überzeugungsbildung der objektiven Bedeutung der einzelnen Glaubwürdigkeitskriterien entspricht, die im Gutachten ausgeführt sind. Hier steht vielmehr zu befürchten, dass das Gericht auf der Grundlage einer sachlich ungerechtfertigten Scheinsicherheit urteilt, indem es unterschwellig davon ausgeht, die wissenschaftliche Ausbreitung solcher Kriterien mindere die von ihm zu tragende Verantwortung bei der ___________ 37

Also nicht nur durch die Aussage eines weiteren Zeugen, bei dem eine ernstzunehmende Möglichkeit besteht, daß er sich mit der Person, von der die zur Debatte stehende Aussage stammt, abgesprochen hat, aufgrund einer parallelen Interessenlage in der gleichen Richtung falsch aussagt oder der gleichen suggestiven Einwirkung ausgesetzt war.

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Entscheidung, ob es dem Zeugen im Ergebnis Glauben schenkt (dies gilt natürlich erst recht, wenn der Sachverständige dem Gericht in Überschreitung seiner Kompetenzen das Ergebnis einer eigenen Beweiswürdigung darlegt, wonach er die Aussage für definitiv glaubhaft hält).38 Soweit das Glaubhaftigkeitsgutachten dem Gericht helfen soll, sich evtl. eine feste Überzeugung von der Richtigkeit einer Aussage zu bilden, zu der es im Wege einer eigenständigen umfassenden Beweiswürdigung ansonsten nicht gelangen würde, erscheint deshalb nicht nur sein Nutzen zweifelhaft, sondern es droht sogar umgekehrt eine Beeinträchtigung der Wahrheitsfindung.39 Für die Hinzuziehung aussagepsychologischer Gutachter zur Erhärtung von Aussagen, die dem Gericht nicht schon aufgrund einer eigenständigen Bewertung vollauf glaubhaft erscheinen, besteht nach alledem kein legitimer Anlass. b) Anders liegen die Dinge dort, wo das Gericht ohne Anhörung eines aussagepsychologischen Sachverständigen die sichere Überzeugung von der Richtigkeit einer verfahrensentscheidenden Aussage gewinnen würde, obwohl deren Richtigkeit nicht durch weitere, von ihr unabhängige Beweismittel überprüft werden kann: Hier besteht die naheliegende Möglichkeit, dass der Sachverständige das Gericht mit einem zusätzlichen aussagepsychologischen Kriterium konfrontiert, das aus den unter III.1. genannten Gründen die Aussage zwar kaum jemals definitiv falsifizieren, aber sehr wohl die – in Ermangelung sicherer Wahrheitskriterien ohnehin stets mit Fragezeichen zu versehende – richterliche Gewissheit, sie sei wahrheitsgemäß, nachhaltig erschüttern kann. In diesem Fall wird man deshalb schwerlich sagen können, die Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen sei i.d.R. ebenso ineffektiv wie in den von § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO geregelten Fällen, in denen das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt (was in Bezug auf die Erkenntnisse der Aussagepsychologie bei realistischer Betrachtung eben gerade nicht der Fall ist, s.o. II.1.). Unter diesen Umständen gibt es mithin weder eine Legitimation noch eine Rechtsgrundlage dafür, einen auf Erschütterung der Glaubhaftigkeit einer Aussage gerichteten Beweisantrag auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens abzulehnen, wenn das Gericht dem Zeugen ansonsten aufgrund des Eindrucks, den es von seiner Person und der inneren Konsistenz seiner Bekundungen gewonnen hat (also nicht aufgrund einer Bestätigung durch andere Beweise), Glauben schenken will.

___________ 38

Vgl. Fischer, in: Widmaier-FS, 2008, S. 191 (215 ff.). Zu der hieraus u.U. resultierenden unerträglichen Benachteiligung des Beschuldigten in „Aussage-gegen-Aussage“-Konstellationen Meyer-Mews, NJW 2000, 916. 39

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IV. Die praktischen Konsequenzen und ihre Bewertung Auf der Grundlage der vorangegangenen Überlegungen erweist sich die Zurückhaltung der Praxis bei der Einholung von Glaubwürdigkeitsgutachten in den meisten Konstellationen im Ergebnis als zutreffend – allerdings mit einer bedeutsamen Ausnahme (s.u. 3.). 1. Wenn ein Glaubwürdigkeitsgutachten richtigerweise nicht eingeholt werden darf, um eine Aussage zu erhärten, von deren Richtigkeit sich das Gericht andernfalls nicht überzeugen könnte [s.o. III.3.a)], gilt das zunächst für den Fall, in dem die Verurteilung des Angeklagten von der Aussage eines einzelnen, nach Einschätzung des Gerichts aber nicht über jeden Zweifel erhabenen Belastungszeugen abhängt. Dies erscheint im Ergebnis richtig und angemessen, weil unbedingt verhindert werden muss, dass das Gericht durch die Überschätzung der Validität eines aussagepsychologischen Gutachtens eine Scheinsicherheit erlangt, was die Glaubhaftigkeit einer belastenden Aussage betrifft, und deshalb der besonderen Verantwortung nicht mehr gerecht wird, der es in einer „Aussage-gegen-Aussage“-Situation unterliegt, damit es nicht zur Verurteilung Unschuldiger kommt.40 Insofern gereicht der Ausschluss des Sachverständigenbeweises dem Angeklagten in dieser Konstellation zum Vorteil, indem das Gericht ihn in dubio pro reo freisprechen muss, statt einen Weg zu gehen, auf dem es die bestehenden Zweifel evtl. in fragwürdiger Weise überwinden könnte. 2. Das Gericht ist freilich auch dort nicht gehalten, zur Ausräumung von Zweifeln an der Richtigkeit einer Aussage einen aussagepsychologischen Sachverständigen anzuhören, wo es um die Aussage eines Entlastungszeugen oder um eine eigene Einlassung des Beschuldigten geht, durch die er sich selbst entlasten will. Hier liegt der Verzicht auf die Einholung eines entsprechenden Gutachtens zwar nicht im positiven Interesse des Angeklagten, sollte ihn auf der anderen Seite im Ergebnis jedoch auch nicht zum Nachteil gereichen: Der Umstand, dass er sich von den Anklagevorwürfen nicht positiv entlasten kann, bildet keine Grundlage für eine Verurteilung; diese kann vielmehr nur darin bestehen, dass auf der anderen Seite hinreichend gravierendes belastendes Beweismaterial vorliegt. Hat dieses ein so erdrückendes Gewicht, dass das Gericht trotz der bestreitenden Einlassung des Angeklagten und des evtl. Vorliegens einer ihn entlastenden Zeugenaussage eine sichere Überzeugung von dessen Schuld gewinnen kann, dann dürften die notwendigerweise „weichen“ Kriterien aussagepsychologischen Gutachtens kaum jemals geeignet sein, die Glaubhaftigkeit seiner Einlassung (bzw. der Aussage des Entlastungszeugen) so sig___________ 40

Vgl. Meyer-Mews, NJW 2000, 916; ferner unten IV.3.

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nifikant zu erhöhen, dass die belastenden Beweise ihre durchschlagende Kraft verlieren. Wo hingegen die für den Angeklagten nachteiligen Indizien unter Berücksichtigung seiner eigenen oder von einem Entlastungszeugen gemachten Angaben noch Fragen offen lassen, muss ihn das Gericht ohnehin wiederum in dubio pro reo freisprechen, ohne dass eine irgendwie geartete Notwendigkeit bestünde, seine Einlassung oder die entlastende Aussage in weitergehendem Maße zu verifizieren.41 Hier bestünde aus Sicht des Angeklagten im Gegenteil nur die Gefahr, dass ein (im Ergebnis vielleicht zu Unrecht) negatives Gutachten den Freispruch gefährdet, wenn es vom Gericht in seiner Bedeutung als nunmehr belastendes Indiz möglicherweise überschätzt wird. Deshalb ist es letzten Endes zu Recht unüblich, Beschuldigte und Entlastungszeugen auf ihre Glaubwürdigkeit hin psychologisch begutachten zu lassen. 3. a) Nicht legitimierbar ist die ablehnende Praxis nach den oben angeführten Erwägungen hingegen im Falle des Belastungszeugen, dem das Gericht ohne Bestätigung seiner Angaben durch unabhängige weitere Beweismittel gegen die bestreitende Einlassung des Beschuldigten Glauben schenken will, d.h. bei einer nach Lage der Dinge zu erwartenden Verurteilung in einer sogenannten „Aussage-gegen-Aussage“-Situation. Hier wäre die regelmäßige Hinzuziehung eines aussagepsychologischen Sachverständigen zwecks optimaler Erfassung aller Gesichtspunkte, die die Gewissheit von der Richtigkeit der Aussage erschüttern könnten, und mit denen sich das Gericht dann zumindest in qualifizierter Form auseinandersetzen muss, wenn es den Angeklagten doch verurteilen will, ohnehin ein elementares rechtsstaatliches Gebot:42 Man bedenke, welche immensen Fehlverurteilungsrisiken in solchen Fällen selbst dann noch bestehen, wenn das Tatgericht in unvoreingenommener Weise den besonderen Anforderungen Rechnung trägt, die der BGH für die Beweiswürdigung in solchen Konstellationen aufgestellt hat,43 denn auch eine noch so „vorsichtige“ und auf (vermeintlich) guter Menschenkenntnis basierende Betrachtung einer Aussage, die nicht durch äußere Indizien bestätigt wird, kann bei realistischer Betrachtung niemanden wirklich zuverlässig davor schützen, einer aus einem unerkannten Motiv geschickt produzierten Lüge aufzusitzen. Wenn man dem Tatrichter hier gleichwohl grundsätzlich zubilligt, sich die für eine Verurteilung erforderliche persönliche Gewissheit von der Schuld des Angeklagten verschaffen zu können, schuldet der Rechtsstaat dem möglicherweise zu Unrecht Beschuldigten dann nicht wenigstens die optimale Ausschöpfung aller Mög___________ 41

Dies gilt natürlich erst recht, wo das Gericht dem Angeklagten und ggf. einem Entlastungszeugen nach umfassender Würdigung der Sachlage positiv Glauben schenkt; diese Situation ist also kein Anwendungsfall der unter III.3.b) ausgeführten Überlegungen. 42 Ähnlich bereits Zwiehoff (Fn. 4), S. 215. 43 Vgl. BGHSt 44, 256 (257); BGH NJW 2003, 2250, jew. m.w.N.; eingehend zum Ganzen Meier, NStZ 2005, 246.

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lichkeiten, die das Gericht im Einzelfall vielleicht davon abhalten können, in eine trügerische Sicherheit zu verfallen? Diese Frage stellt sich umso dringlicher, wenn man bedenkt, wie leicht es einem versierten Tatrichter fallen dürfte, der Aussage eines Belastungszeugen, dem er letzten Endes nicht in rationaler, sondern eher in emotional geleiteter Weise Glauben schenken will, im Urteil mit einer „revisionssicheren“ Begründung zu folgen, obwohl von einer „besonders vorsichtigen“ Beweiswürdigung in Wirklichkeit gar nicht die Rede sein kann. Auch insofern dürfte die Notwendigkeit, sich ggf. mit Bedenken eines Fachwissenschaftlers auseinandersetzen zu müssen, die Gefahr unerträglicher Fehlverurteilungen deutlich herabsetzen. b) So hätte z.B. in dem folgenden Fall, den der Verfasser aus einer früheren Tätigkeit als Staatsanwalt in unguter Erinnerung hat, möglicherweise die Verurteilung eines Unschuldigen verhindert werden können: aa) Ein bis dahin unbescholtener Bürger war angeklagt, einem Kleinkriminellen zwei Handgranaten geschenkt zu haben, mit denen dieser einige Zeit später im Nebenraum einer Gaststätte sich selbst und zwei weitere Personen in die Luft sprengte. Einziger Beweis gegen den Angeklagten, der diesen Vorwurf als völlig abwegig und aus der Luft gegriffen von sich wies (wie sollte er selbst überhaupt in den Besitz von Handgranaten kommen und warum sollte er diese einer ihm nicht näher bekannten Person schenken?), war die Aussage eines anderen Kleinkriminellen. Der Zeuge hatte den später Getöteten seinerzeit begleitet, als dieser den Angeklagten zwecks Anmietung eines Wohnwagenstellplatzes aufsuchte und dabei angeblich die Handgranaten erhielt, und berichtete dies einige Wochen, nachdem er aus der Zeitung vom Tod seines Bekannten durch die Handgranatenexplosion erfahren hatte, der Polizei, die ihn wegen einer anderen Sache vorgeladen hatte. Der Angeklagte wurde in erster Instanz vom Schöffengericht zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Dabei legte das Gericht in einer wahren Begründungsakrobatik dar, dass die Aussage trotz des zweifelhaften Leumunds des mehrfach vorbestraften Zeugen und trotz der Tatsache, dass dieser zum Hergang des Geschehens wechselnde Angaben machte (einmal wollte er die Übergabe der Handgranaten unmittelbar gesehen haben, einmal soll diese in seiner Abwesenheit erfolgt sein und der andere habe ihm die Sprengkörper erst vor der Rückfahrt im Auto gezeigt), uneingeschränkt glaubhaft sei. Im Mittelpunkt stand dabei die Überlegung, dass sich der Zeuge freiwillig der Polizei offenbart hatte und dabei kein Motiv ersichtlich sei, den Angeklagten wahrheitswidrig zu belasten. Als Tatmotiv des Angeklagten unterstellte das Gericht demgegenüber, dieser habe sich [als unbescholtener Bürger!] durch das Geschenk [von Kriegswaffen!] das Wohlwollen und die Dankbarkeit des (von dritter Seite massiv bedrohten) Kleinkriminellen erkaufen wollen, damit dieser ihm später bei Bedarf irgendwelche (nicht näher spezifizierte) Gefallen erweisen würde. In der Berufungshauptverhandlung, für die ich als Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft eingeteilt war (ausschließlich in dieser

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Rolle war ich mit dem Fall beschäftigt) beteuerte der Angeklagte weiter seine Unschuld, und der Zeuge änderte wieder einmal seine Aussage, indem er zu einer früheren Variante zurückkehrte. Dabei ließ der Vorsitzende durch die wohlwollende Nachsicht, mit der er dies kommentierte, jedoch unbeirrt erkennen, dass er gleichwohl geneigt war, ihm erneut Glauben zu schenken. Da ich die Großzügigkeit, mit der dies schon beim Amtsgericht geschehen war, während man dem Angeklagten auf der anderen Seite ein gekünsteltes Tatmotiv unterstellte, damit der Sachverhalt insgesamt „rund“ erschien, als absurd empfand, beantragte ich den Freispruch des Angeklagten, weil dieser durch die zweifelhafte Aussage des Zeugen nicht überführt sei. Die Kammer bestätigte gleichwohl die erstinstanzliche Verurteilung. In der mündlichen Urteilsbegründung betonte der Vorsitzende eingehend die Menschenkenntnis, die er sich infolge seiner langjährigen Berufserfahrung selbst zuschrieb, und die mir als damaligem Berufsanfänger bei der Staatsanwaltschaft eben noch abginge. bb) Ich vermute stark, dass bei einer seriösen aussagepsychologischen Begutachtung des Zeugen und seines Aussageverhaltens gute Chancen bestanden hätten, u.a. die folgende Alternativhypothese rechtzeitig ins Spiel zu bringen, um die Selbstgefälligkeit zu erschüttern, mit der sowohl der Vorsitzende des Schöffengerichts als auch der Vorsitzende der Berufungskammer meinten, den Fall trotz der dubiosen Umstände als „für sie klar“ abhandeln zu können. Ich bedaure zutiefst, dass mir diese Erklärungsmöglichkeit für das Aussageverhalten des Zeugen, die mir von allen denkbaren Varianten heute mit Abstand am plausibelsten erscheint und aufgrund derer ich den Angeklagten mittlerweile für höchstwahrscheinlich unschuldig halte, nicht schon in jener unsäglichen Hauptverhandlung, sondern erst sehr viel später eingefallen ist: Als der Zeuge gemeinsam mit seinem später getöteten Bekannten den Angeklagten besuchte, hatte er erfahren (das stand im Prozess außer Frage), dass dieser über eine Reihe von Waffen verfügte, die er allerdings als Sportschütze legal44 besaß. Da der letztgenannte Umstand und die damit verbundenen Differenzierungen in der Wahrnehmung eines Kleinkriminellen vielleicht nicht unbedingt im Vordergrund stehen, lag es für den Zeugen somit durchaus nicht fern, den Angeklagten als mögliche Quelle in Erwägung zu ziehen, als er vom Tod seines Bekannten durch die Explosion erfuhr und sich nicht erklären konnte, wie dieser, der normalerweise „keine großen Dinger drehte“, denn ausgerechnet an Handgranaten kommen sollte. Warum sollte er eine solche Vermutung nicht – zunächst in bester Absicht – der Polizei mitteilen, mit der er in anderer Sache zu tun hatte und von der er sich durch einen solchen Tip vielleicht ein gewisses ___________ 44

Abgesehen von zwei nach dem WaffG zwar nicht erlaubten, im Grunde genommen aber harmlosen Sammlerartikeln (einem Stockdegen und einem Stiftfeuerrevolver aus dem 19. Jahrhundert, für den es infolge seiner speziellen, vor über hundert Jahren aufgegebenen Technik der Patronenzündung heute so gut wie unmöglich ist, funktionierende Munition zu beschaffen), die bei der späteren Durchsuchung gefunden wurden.

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Wohlwollen erhoffen konnte? Für jemanden mit der Persönlichkeitsstruktur des Zeugen dürfte es dabei freilich kein großer Schritt gewesen sein, sich zu der bloßen Vermutung ein konkretes Geschehen zusammenzureimen und dazu noch einige Wahrnehmungen zu erfinden, die er angeblich selbst gemacht hat, sei es spontan, um sich wichtig zu machen, sei es auf mehr oder weniger eindringliche Nachfragen des Vernehmungsbeamten, dessen Erwartungen er nicht enttäuschen wollte. Hatte er sich aber erst einmal zu einer entsprechenden Falschaussage verstiegen, verwundert es nicht, dass er von dieser aus Angst vor den Konsequenzen nicht mehr „herunterkam“ und stattdessen – im Ergebnis mit Erfolg – versuchte, sie im weiteren Verfahren nur immer wieder so anzupassen, dass sie jeweils möglichst plausibel erschien. Unabhängig davon, ob diese Hypothese im Ergebnis zutrifft, wird man eines mit Sicherheit sagen können: Die Richtigkeitsgewähr für die Aussage, die Amts- und Landrichter aus dem angeblich fehlenden Motiv des Zeugen, den Angeklagten wahrheitswidrig zu belasten, herleiten wollten und auf die sie in zwei Instanzen die Verurteilung des Angeklagten stützten, ist mit den dargestellten Überlegungen wie eine Seifenblase geplatzt.

Wiederaufnahmefragen Von Ralf Eschelbach Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren sind seit jeher ebenso das Anliegen des Jubilars, wie Verfahrensökonomie und Effektivität des Strafverfahrens. Damit sind die zentralen Aspekte genannt, die auch im Brennpunkt jüngster Gesetzesinitiativen stehen. Der Jubilar wird diese Vorhaben mit fachlichem Interesse, aber mit gemischten Gefühlen verfolgen. Erstens soll die Effektivität der Strafrechtspflege dadurch aufrecht erhalten werden, dass die Praxis von Urteilsabsprachen reglementiert werden soll.1 Die Tendenz der Urteilsabsprachen zielt auf eine vertragsähnliche Konstruktion des Prozessergebnisses.2 Sie unterscheidet sich damit freilich auch von dem Wiederaufnahmerecht, das der Erforschung der materiellen Wahrheit dient.3 Ebenso folgerichtig wie systemverändernd ist der Vorschlag, die Wiederaufnahmemöglichkeit für den Fall einer konsensualen Verfahrensbeendigung abzuschaffen.4 Erwähnt wird das Wiederaufnahmerecht zweitens bei einem Gesetzesvorhaben, das eine Kronzeugenregelung betrifft.5 Dort wurde die Möglichkeit einer Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Kronzeugen für den Fall der nachträglichen Feststellung, dass er sich nicht an Absprachen hält6 oder durch falsche Angaben zu Lasten eines anderen einen eigenen Vorteil verschafft hatte, als Legitimationsmittel erwogen.7 Drittens soll die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten eines Freigesprochenen in Fällen des Mordes oder Völker___________ 1 Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren, BTDrucks. 16/4197; 16/11736. 2 Zu Ursachen und Wirkungen Gössel, in: Weßlau u. a. (Hrsg.), Fezer-FS, 2008, S. 495 ff. 3 Zur Divergenz der Ziele von Urteilsabsprachen und Wiederaufnahmerecht Eschelbach, HRRS 2008, 190 ff. 4 Nack, Stellungnahme zur öffentlichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages am 25.3.2009 S. 4, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/ anhoerungen/49_Deal/04_Stellungnahmen/Stellungnahme_Nack.pdf. 5 BR-Drucks. 16/6268. 6 BR-Drucks. 896/02. 7 Lange, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe vom 23.3.2009; http:// www.bundestag.de/ausschuesse/a06/anhoerungen/48_kronzeugenregelung/04_stellung nahmen/stellungnahme_lange.pdf.

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mordes ermöglicht werden, wenn eine neue Kriminaltechnik nachträglich einen scheinbar klaren Täterschaftsnachweis gestattet.8 Dabei wird die Rechtskraft des freisprechenden Urteils aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit als unerträglich empfunden. Diese fast gleichzeitig im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages mit Sachverständigen erörterten Vorhaben beruhen auf unterschiedlichen Perspektiven. Sie verdeutlichen damit die Frage nach der künftigen Ausrichtung des deutschen Strafverfahrensrechts. Die Betrachtung des Wiederaufnahmerechts wirkt dabei aufschlussreich. Mit seiner Skizzierung soll dem Jubilar ein Blumenstrauß an fachlichen Fragen – quer durch den prozessualen Blumengarten – präsentiert werden, auch wenn verbindliche Antworten nicht leicht fallen.

I. Randbedingung Jede Strafprozessreform ohne Kenntnis der Tatsachenlage wirkt bedenklich; denn die Verfahrenskultur hat sich in jüngster Zeit so rasch und nachhaltig verändert, dass bereits Erfahrungen, die nur älter als einzelne Jahre sind, überholt wirken.

1. Personale Probleme Wurde zu Beginn der 1970er Jahre das Auftreten eines neuen Typus des Strafverteidigers festgestellt, der höchst sachkundig und dazu bereit ist, die Interessen des Mandanten bis zu den äußersten Grenzen des Zulässigen zu vertreten, so ist spätestens heute auch ein neuer Typus des Justizjuristen in der Strafrechtspflege auszumachen. Den früher strikt verpönten „Handel mit der Gerechtigkeit“9 praktiziert er ohne Bedenken;10 gedealt wird in den Tatsacheninstanzen unter dem Schutz des Rechtsmittelverzichts als Geschäftsgrundlage ohne jede Rücksicht auf höchstrichterliche Einschränkungen, etwa zum Schuldspruch oder im Jugendstrafrecht oder im Maßregelrecht, längst über alles.11 Mittel zur Ausschaltung unliebsamer Verteidigungsaktivitäten12 oder zu weit ___________ 8 BT-Drucks. 16/7957 mit Sachverständigenanhörung im Rechtsausschuss am 18.3.2009. 9 BVerfG NStZ 1987, 419. 10 Vgl. die Beispiele bei Fischer, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/anhoe rungen/49_Deal/04_Stellungnahmen/Stellungnahme_Fischer.pdf und Hamm, in: Jung u. a. (Hrsg.), Egon Müller-FS, 2008, S. 235 (243 f.). 11 Widmaier, NJW 2005, 1985. 12 Zur Technik der „revisionssicheren“ Urteilsbegründung Geipel, Handbuch der Beweiswürdigung, 2008, S. 40 ff.

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gehend wirkender Sachaufklärungsgebote ergreift der moderne Justizjurist ohne zu zögern. Auch Leistungsverweigerung, etwa durch den „unwilligen Richter“, der die Rechtsschutzfunktion beim Richtervorbehalt ganz ablehnt oder als Ermittlungsrichter13 die ihm von der Staatsanwaltschaft oder der Steuerfahndung vorformulierten Beschlussentwürfe unbesehen unterzeichnet14 und damit den Richtervorbehalt zur Farce werden lässt, oder auch durch das Strafkammermitglied, das einen Eröffnungsbeschluss ohne vorherige Beratung im Umlaufverfahren „blind“ unterschreibt, zumal wenn es nach § 76 Abs. 2 GVG an der Hauptverhandlung nicht mehr mitwirkt, oder der Richter, der sich als Vorsitzender oder Berichterstatter ohne vorherige Aktenlektüre in eine Hauptverhandlung begibt,15 gehören zur neuen Rechtstatsachenlage. Nicht ohne Grund wird die richterliche Berufsethik neu diskutiert.16 Indes ist auch die Justizgewährleistung durch den Staat ernsthaft in Frage gestellt. Die deutsche Strafjustiz ist dauerhaft überlastet. Das ist anerkannt,17 obwohl genaue Daten fehlen. Weil es zum Selbstverständnis der Justizjuristen gehört, eigene Aufgaben nicht unerledigt zu lassen, auch wenn die Anforderungen zu hoch sind, wird mit einer Reduzierung des Aufwandes reagiert. Das Pensum wird bewältigt, allerdings unter drastischer Beschränkung nach dem Opportunitätsprinzip sowie Reduzierung der Aufklärungsdichte, welche die Quote von Fehlurteilen18 erhöht. Die überkommene Wertung, dass die Verurteilung als Unschuldiger das Schlimmste ist, was einem Menschen widerfahren kann,19 tritt dabei in den Hintergrund. Der gewissenhafte Strafrichter kann nicht mit dem Gedanken leben, dass er in einer nicht unbedeutenden Zahl von Fällen Unschuldige verurteilt. Deshalb wird der Gedanke an mögliche Fehlbewertungen meist verdrängt20 und auch zum Selbstschutz die Überzeugung von der Richtigkeit der Verdachtshypothese überhöht, zumal wenn verschiedene Verantwortungsträger bei Polizei, Staatsanwaltschaft und den Gerichten der verschiedenen Instanzen die Verdachtshypothese befürworten. Wegen der subjektiven Urteilssicherheit ___________ 13 Die Ursache liegt auf der Hand, wird aber andernorts nicht zur Kenntnis genommen: Das ermittlungsrichterliche Arbeitspensum verlangt Unmögliches, wenn rund 5.000 Gs-Sachen ein Jahresarbeitspensum bilden. 14 Hüls, ZIS 2009, 160 (164 ff.). 15 Vgl. Fischer, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/anhoerungen/49_Deal/04_ Stellungnahmen/Stellungnahme_Fischer.pdf, S. 5 f.; s.a. Eschelbach, in: Kempf u. a. (Hrsg.), Richter II-FS, 2006, S. 113 (116 ff.). 16 Titz, DRiZ 2009, 32 f. 17 BGHSt 50, 40 (54); zu den Ursachen Hamm (Fn. 10), S. 235 (237 ff.). Zu der für die verfahrene Lage symptomatischen Anklage gegen einen überlasteten Richter wegen Strafvereitelung im Amt Böllinger, KritJ 2005, 203 ff. 18 Geipel (Fn. 12), S. 22. 19 Goldenring, GA 32 (1884), 317 (319). 20 Zur „Lebenslüge“ Wasserburg, in: Brüssow/Krekeler/Mehle (Hrsg.), Strafverteidigung in der Praxis, 4. Aufl. § 16 Rn. 23.

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der Tatrichter und des Vertrauens der Kontrollinstanzen auf deren Verantwortlichkeit werden schließlich Rechtsbehelfe äußerst restriktiv21 beschieden. Das gilt zunächst für die Revisionsinstanz, die keine vollständige Tatsachenprüfung durchführen kann, bei der aber die Verfahrensrügen einen Umweg zur Öffnung einer neuen Tatsacheninstanz darstellen.22 Verfahrensrügen werden aber von den Revisionsgerichten zunehmend präkludiert, wenn sie nicht in der Vorinstanz aufgrund richterrechtlich geschaffener Befristungen geltend gemacht werden.23 Dabei beweist § 359 Nr. 5 StPO, dass ein Richterrecht über die informelle Präklusion24 contra legem aufgestellt wird; denn nach dem Wiederaufnahmerecht kann ein Beweismittel, wenn es zur Herbeiführung einer Freisprechung geeignet ist, sogar nachträglich unbefristet beigebracht werden. Die richterrechtlichen Präklusionsregeln für das Erstverfahren sind mit dem Wiederaufnahmerecht unvereinbar. Durch die zunehmend vom Gesetz abweichende Praxis entsteht eine Spirale des Abblockens von Verteidigungsvorbringen, die mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar ist. In Strafurteilen werden nämlich meist auch heute immer noch Begründungsmuster verwendet, die sich als wissenschaftlich bestenfalls wertlos erwiesen haben.25 Die zur Aufrechterhaltung der richterlichen Sachkunde zur Beweiswürdigung tatsächlich erforderliche Annäherung an die Maßstäbe,26 die für aussagepsychologische Sachverständige gelten müssten, wenn sich die Gerichte ihrer Hilfe bedienen würden, wird aber – mangels entsprechender Kapazität – nicht vollzogen. Die Kompetenz der Tatrichter zur Wahrnehmung der „ureigenen Aufgabe“ der Beweiswürdigung wird danach alleine normativ begründet,27 obwohl das Postulat tatsächlich kaum noch gerechtfertigt erscheint. Durch unzureichende Bildung von Hypothesen, die paradoxerweise zwar von aussagepsychologischen Sachverständigen ge___________ 21 Rund 90 % aller Revisionen werden nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen. Die Offensichtlichkeit der Unbegründetheit dürfte eher an der Perspektive der Revisionsgerichte als am objektiven Befund liegen, Fürstenau, StraFo 2004, 38 ff.; F. Meyer, StV 1984, 222 ff.; Schlothauer, StV 2004, 340, 341 ff., zumal Verfahrensrügen praktisch aussichtslos sind, Bauer, StV 2008, 104 (105), und auch Sachbeschwerden gegen die Beweiswürdigung fast nie Erfolg haben, Geipel, (Fn. 12) S. 22 ff. 22 Neue Tatsacheninstanzen nach erfolgreichen Verfahrensrügen gelangen oft zu anderen Feststellungen, ohne dass dies etwas mit dem Gegenstand der Verfahrensrüge zu tun hat; Vogelsang, Die Bedeutung erfolgreicher Verfahrensrügen für das nachfolgende Urteil, 2001, S. 97 ff. 23 Zu einer mit § 246 StPO kaum zu vereinbarenden Fristsetzung für Beweisanträge BGH StV 2009, 64 ff. mit Anm. Fezer, HRRS 2009, 17 f. und König, StV 2009, 171 ff. Zu einem Begründungserfordernis für den richterrechtlich geforderten befristeten Widerspruch gegen die Beweisverwertung BGHSt 52, 38 (42). 24 Basdorf, StV 1997, 488 ff. 25 Steller/Volbert, Psychologie im Strafverfahren, 1997, S. 12. 26 BGHSt 45, 164 (168 ff.); Köhnken, in: Deckers/Köhnken (Hrsg.), Die Erhebung von Zeugenaussagen im Strafprozess, 2007, S. 1 (3 f.). 27 Fischer, in: Schöch u. a. (Hrsg.), Widmaier-FS, 2008, S. 191 (202).

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fordert werden,28 aber nicht von den letztverantwortlichen Tatrichtern,29 bleibt die fatale Tendenz der Verdachtshypothese zur Selbstbestätigung30 ohne das verfassungs- und prozessrechtlich erforderliche Gegengewicht. Nach der Konzeption der bisherigen Strafprozessordnung soll doch die Einseitigkeit der Ermittlungen im Vorverfahren durch eine originäre neue Beweiserhebung der neutralen Gerichtsinstanz in der Hauptverhandlung kompensiert werden, was durch die aktenkonforme Gestaltung der Hauptverhandlung konterkariert wird. Indem die Tatrichter sich meist auch schon vor der Hauptverhandlung auf ein Beweisergebnis festlegen31 oder die Hauptverhandlung durch Urteilsergebnisabsprachen ganz aushöhlen, entfällt die Legitimation für den Urteilsspruch durch ein neutrales Verfahren. Die Rechtskontrollinstanzen nehmen dies mit Gleichmut hin. Aus Vorurteilen entstehen jedoch in nicht ganz unerheblicher Anzahl Fehlurteile, die nicht einmal als solche erkannt und nie mehr korrigiert werden. Schutz vor vermeidbaren Fehlern bieten nur erstens eine bessere Ausbildung der Justizjuristen32 in Beweislehre, einschließlich Aussagepsychologie33 sowie angewandter Kriminologie, zweitens ein geläutertes Verständnis ___________ 28

Nack, GA 2009, 201, 208. Das Wiederaufnahmerecht beweist mit § 359 Nr. 5 StPO die Angreifbarkeit dieser These, denn bei jeder Divergenz des Ergebnisses der ohne ausreichende Hypothesenbildung durchgeführten Beweiswürdigung von einer späteren aussagepsychologischen Begutachtung müsste das Gutachten ein zur Wiederaufnahme geeignetes neues Beweismittel sein. 30 Deckers, in: Deckers/Köhnken (Hrsg.), Die Erhebung von Zeugenaussagen im Strafprozess, 2007, S. 89 (90); Köhnken, in: Gisela Friedrichsen, Im Zweifel gegen die Angeklagten, 2008, S. 233; zur Erwünschtheit des Ergebnisses als Kriterium der Wahrscheinlichkeitsempfindung Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 6. Aufl., Rn. 922. 31 Nicht nur Strafverteidiger, sondern etwa auch forensisch-psychiatrische Sachverständige beklagen, dass das Urteil schon nach der richterlichen Aktenlektüre meist feststehe; Nedopil, NStZ 1999, 433 (434). 32 Der junge Justizjurist ist in diesen Bereichen so gut wie gar nicht ausgebildet; Karl Peters, in: Küper/Wasserburg (Hrsg.), Strafrechtspflege und Menschlichkeit, 1988, S. 286 (370). Einen gewissen Ersatz dafür lieferte das Kammerprinzip, innerhalb dessen die jungen Richter von den erfahrenen Kollegen lernten. Mit dem Niedergang des Kollegialprinzips ist auch dieser Notbehelf verloren gegangen. 33 Aus revisionsrichterlicher Perspektive entsteht der Eindruck, dass „die meisten Großen Strafkammern inzwischen das Instrumentarium der Aussageprüfung sachkundig beherrschen;“ Nack, GA 2009, 201 (208). Da aber Revisionsrichter den Urteilstext bewerten und dieser fast niemals den Befund vollständig wiedergibt, wirkt sich eine Täuschung aus. „In der Praxis der Strafkammern ist ungemein eingebürgert der Brauch, im Urteil nur das eingehend zu erörtern, was zur Rechtfertigung der Verurteilung dient. Dass ein Urteil ein vollkommen abgeschlossenes objektives Verhandlungsbild bietet, in dem auch nicht eines der in der Verhandlung zur Sprache gebrachten Momente fehlt, gehört zu den größten Seltenheiten“; Alsberg, Justizirrtum und Wiederaufnahme, 1913, S. 37. Das gilt heute zur Abwehr der „erweiterten Revision“ noch vermehrt; vgl. Wilhelm, ZStW 117 (2006), 142 (143). Zudem gelangen in den wenigsten gerichtlichen Strafverfahren – rund einem halben Prozent – Urteile zum Bundesgerichtshof, so dass die meisten Strafgerichte nicht von dort aus bewertet werden können. Schließlich doku29

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der Entscheidungsträger, das aber wohl nur bei eigenen Erfahrungen aus dem Blickwinkel „der anderen Seite“ herzustellen wäre, drittens eine bessere Systematisierung der tatrichterlichen Beweiswürdigung einschließlich einer ausreichenden Hypothesenbildung und viertens das Prinzip der Kontrolle, bei dem aber wirkliche Effektivität des Rechtsschutzes fehlt, solange das Verhandlungsgeschehen nicht aufgezeichnet wird und rekonstruiert werden kann. Die Praxis der Urteilsabsprachen bewirkt das Gegenteil eines Fehlerschutzes.

2. Anhörungsrüge und Wiederaufnahmeantrag Ist eine Sache rechtskräftig erledigt, dann wird deren erneute Vorlage aufgrund eines Sonderrechtsbehelfs mit dem Ziel der Rechtskraftdurchbrechung als störend empfunden, zumal der Glaube an die Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung unerschütterlich ist. Daher ist die Erfindung eines Verfassungsgebots der Anhörungsrüge34 nach jeder letztinstanzlichen Entscheidung zur Selbstentlastung35 des Bundesverfassungsgerichts ein reines Ärgernis. Anhörungsrügen haben kaum jemals durchschlagenden Erfolg, denn der iudex a quo ist entgegen der verfassungsrichterlichen Beteuerung36 nach allen Erkenntnissen kaum jemals dazu bereit, seine Entscheidung kurzfristig zu ändern37 und dabei einen eigenen Verfassungsverstoß einzuräumen. Dennoch ist der systemfremde Rechtsbehelf38 für alle Prozessordnungen – außer für das Verfassungsprozessrecht – eingeführt worden. Er dient auch dem Abblocken späterer Verfassungsbeschwerden.39 Soweit Revisionsgerichte Rechtsmittel entgegen ___________ mentieren nicht „Strafkammern“, sondern allenfalls Berichterstatter die Beherrschung der Aussageprüfung; die Zurechnung ihres Wissens und ihrer Schreibleistung auf die Strafkammer beruht auf einer Fiktion; näher dazu Eschelbach, in: Schöch u. a. (Hrsg.), Widmaier-FS, 2008, S. 127 (128 ff.). 34 BVerfGE 107, 395 (401 ff.). 35 Die Selbststeuerung der Arbeitslast durch eine darauf gerichtete Auslegung des Prozessrechts ist verfassungswidrig; BVerfGE 54, 277 (295). 36 BVerfGE 107, 395 (412). 37 Voßkuhle, NJW 2003, 2193 (2197). 38 Widmaier, in: Schöch u. a. (Hrsg.), Böttcher-FS, 2007, S. 223 ff. 39 Zur Unzulässigkeit der Verfassungsbeschwerde im Ganzen, wenn im fachgerichtlichen Verfahren eine Anhörungsrüge nicht erhoben wurde, BVerfG Beschl. vom 9.6.2008 – 2 BvR 947/08. In den Fällen des § 356a StPO muss der Beschwerdeführer die vorgezogene Verfassungsbeschwerde in einer Woche einlegen und substantiiert begründen, wofür ihm nach § 93 Abs. 1 BVerfGG bisher ein Monat zur Verfügung gestanden hatte. Das ist vor allem bei einem Anwaltswechsel und der Notwendigkeit einer Aktenbeiziehung nicht zu leisten. Die Anhörungsrügenentscheidung selbst ist nicht angreifbar, BVerfG StraFo 2007, 370. Nach zeitweiliger Annahme einer Rechtswegspaltung – BVerfG Beschl. vom 5.7.2006 – 2 BvR 1362/06. – mit der Folge zweier Fristen

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§ 34 StPO ohne Begründung verwerfen können, selbst wenn damit auf eine Replik zum staatsanwaltschaftlichen Verwerfungsantrag oder eine nachgeschobene Begründung der Sachrüge letztlich niemand einen Grund für die anschließende Verwerfung formuliert,40 ist die Anhörungsrüge zudem eine Farce, weil schon eine Möglichkeit zur Überprüfung der Gehörsgewährung contra legem (§ 34 StPO) nicht gegeben wird.41 Den Fachgerichten hat er einen Mehraufwand eingebracht, der nahezu vollständig ohne Erfolg für Beschwerdeführer bleibt.42 Für das Wiederaufnahmerecht bringt die Anhörungsrüge als konkurrierender43 Sonderrechtsbehelf immerhin die Erkenntnis, dass ein bei der Anhörungsrüge unbestrittener Beruhensmaßstab auch für die Geeignetheitsprüfung im Aditionsverfahren ausreichen muss.44 Jedoch kommt der Anhörungsrüge im Gegensatz zum Wiederaufnahmeverfahren keine prozessrechtsdogmatische Bedeutung zu. Die verfahrenspsychologische Lage bei der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten im Strafverfahren ist im Übrigen ähnlich wie im Anhörungsrügenverfahren. Was auch ein Mittel zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes sein sollte,45 wird als überflüssige Arbeitsbelastung empfunden, der kaum jemals ein Erfolg zugebilligt wird.46 Der Eintritt der Rechtskraft ist der „Sabbat aller Prinzipien“.47 Die Wiederaufnahme wird fast immer mit Hinweis auf neue Tatsachen und Beweismittel beantragt, wozu nicht der iudex a quo persönlich, sondern meist ein anderes Gericht gleicher Ordnung (§ 140a Abs. 1 GVG), stets jedenfalls ein anderer Spruchkörper (§ 140a Abs. 3 GVG) und immer andere Richter (§ 23 Abs. 2 StPO) als im Erstverfahren zur Entscheidung berufen sind. Damit soll einer strukturellen Schwäche des Rechtsbehelfs entgegengewirkt werden, was aber praktisch an der solidarischen Haltung der Justizjuristen scheitert. Die Auswechslung der Person des iudex a quo48 im Wiederaufnahmeverfahren war demnach im ___________ gemäß § 93 Abs. 1 BVerfGG wird nun meist eine Verfahrenseinheit postuliert, BVerfG Beschl. vom 29.3.2007 – 2 BvR 120/07. 40 BVerfG StraFo 2007, 370; BGH NStZ 2009, 52; Beschl. vom 8.4.2009 – 2 StR 576/08. 41 Eschelbach, GA 2004, 228 (243). 42 Zur Wirkungslosigkeit im Zivilprozess Sangmeister, NJW 2007, 2363 (2369). 43 Die Anhörungsrüge folgt derzeit nur nach der Wahlberufung gemäß § 55 Abs. 2 JGG auf eine tatrichterliche Entscheidung. Dort wäre die Frage in akzentuierter Form zu diskutieren, ob ein versteckter Erörterungsmangel des Urteils als Gehörsverletzung aufgegriffen werden muss. § 267 Abs. 4 StPO gilt dort nicht. 44 Eschelbach, HRRS 2008, 190 (207 f.). 45 Wasserburg/Eschelbach, GA 2003, 335 ff. 46 Wasserburg (Fn. 29), § 16 Rn. 13 ff. 47 Strate, in: Bockemühl (Hrsg.), Handbuch des Fachanwalts Strafrecht, 4. Aufl., 4. Teil Rn. 10. 48 Zu den Gründen für und wider Stückle, Die Wiederaufnahme im Strafverfahren unter besonderer Berücksichtigung der Stellung des iudex a quo, 1929, S. 103 ff.

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Ergebnis ein gesetzgeberischer Fehlgriff, weil der Wiederaufnahmerichter nicht anders denkt und handelt als der Erstrichter, ersterer mangels genauer Aufzeichnung des Verhandlungsgeschehens aber nicht authentisch beurteilen kann, ob das Wiederaufnahmevorbringen tatsächlich neu und zur Erreichung eines anderen Urteils aus der Sicht des Erstgerichts geeignet wäre. Für den bloßen Anschein größerer Neutralität der Wiederaufnahmerichter wurde vom Gesetzgeber also ein schwerer Verfahrensnachteil hingenommen. Tatsächlich potenzieren sich die Perseveranz-, Inertia- und Schulterschlusseffekte des Erstverfahrens im Wiederaufnahmeverfahren nochmals nahezu bis ins Unermessliche. Auch deshalb scheitern die meisten Wiederaufnahmeanträge, selbst in Evidenzfällen einer Fehlverurteilung,49 bereits auf der Zulässigkeitsebene (§ 368 Abs. 1 StPO), indem die beigebrachten Tatsachen oder Beweismittel als nicht neu oder als ungeeignet bezeichnet werden. Dazu werden von den Wiederaufnahmegerichten oft weit reichende Überlegungen zur Beweislage angestellt, welche die Grenzen der allenfalls in eingeschränktem Umfang zulässigen Beweisantizipation50 bei der Geeignetheitsprüfung nach § 368 Abs. 1 StPO vor dem Probationsverfahren nahezu regelmäßig überschreiten und nach den Maßstäben der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung zur Beweiswürdigung oft als falsch erscheinen. Meist werden die neuen Tatsachen und Beweise isoliert eliminiert und nicht gemeinsam sowie zusammen mit den alten Beweisen in eine neue Gesamtschau einbezogen.51 Gleichwohl haben diese Entscheidungen regelmäßig Bestand, da die Beschwerderichter denselben Perseveranz-, Schulterschluss- und Inertiaeffekten erliegen, wie die erste Instanz des Beschlussverfahrens, und weil eine Rechtskontrollinstanz, die auch für einheitliche Beurteilungsmaßstäbe sorgen könnte, hiernach fehlt. Der Bundesgerichtshof ist in den Instanzenzug nicht einbezogen, so dass dessen Beweismaßstäbe52 bei der wiederaufnahmegerichtlichen Beweisantizipation oftmals folgenlos übergangen werden. Die Zahl der rechtskräftigen Fehlurteile wird durch das Wiederaufnahmerecht bei solcher Handhabung kaum effektiv reduziert.

___________ 49

Sabine Rückert, Unrecht im Namen des Volkes, 2007, S. 191 ff. BVerfG NJW 1995, 2024 (2025), das aber zu Unrecht die Umgrenzungsmerkmale der Tat zum Maßstab für die Grenzen der Beweisantizipation gewählt hat, während auch tatferne Umstände zentrale Entlastungsindizien, etwa als Falschaussagemotiv eines psychisch kranken Zeugen, darstellen können. 51 Wasserburg/Eschelbach, GA 2003, 335 (347 f.). 52 BGH NJW 1999, 1562 (1564). 50

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II. Berufungsersatzfunktion der Wiederaufnahme des Verfahrens Das Dilemma der Praxis bei der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten Verurteilter soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: Zwei Ehegatten waren angeklagt, unerlaubt Handel mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge getrieben zu haben. Eine Wohnungsdurchsuchung hatte den Verdacht belegt. Im Keller des Hauses fanden sich Teile einer Cannabisplantage; außerdem wurde Bargeld gefunden. Der Ehemann räumte ein, von der Plantage gewusst zu haben,. Er behauptete aber, ein Niederländer habe sie betrieben und er habe den Kellerraum an diesen vermietet.53 Die Ehefrau schwieg bei allen Vernehmungen. Sie wandte sich nur an die Polizei mit dem Antrag auf Herausgabe des beschlagnahmten Geldes, von dem sie behauptete, dass sie es als Bardame verdient habe. Ferner fand sich eine handschriftliche Notiz über Cannabisanbau, die von ihr angefertigt worden, aber nicht zu datieren war. Mehr war über die Beteiligung der Frau nicht zu ermitteln. Beide Ehegatten wurden aber von der Strafkammer wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in vier Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt.54 Beweisgrundlagen waren im Wesentlichen die sichergestellten Gegenstände, das Fehlen von Hinweisen auf anderweitige Geldquellen, die fehlende Ermittelbarkeit des Niederländers und die Aussagen einer Mieterin im Hause, aus denen sich nach Ansicht des Gerichts ergab, dass der Unbekannte nicht regelmäßig im Hause gewesen war, wohl aber die Mitangeklagte. Die Zahl der Ernten in der Cannabisplantage wurde hochgerechnet und mit einem Sicherheitsabschlag versehen, Erntemengen und Stoffqualität sowie Verkaufserlöse wurden geschätzt. Tatbeiträge wurden beiden Angeklagten in gleichem Umfang zugerechnet, obwohl keine Einzelhandlung beim Erwerb des Zubehörs, bei der Pflanzenaufzucht und Aberntung sowie beim Verkauf konkretisiert werden konnte. Der Umstand, dass es sich bei der Mitangeklagten um die Ehefrau des Angeklagten handelte, reichte der Strafkammer für die Annahme eines untergeordneten Tatbeitrags nicht aus, weil „von Gleichberechtigung zwischen Eheleuten auszugehen“ sei. Die Revision der Angeklagten gegen dieses Urteil wurde nach § 349 Abs. 2 StPO verworfen,55 eine Anhörungsrüge blieb ohne Erfolg56 und die Verfassungsbeschwerde wurde nicht zur Entscheidung angenommen.57 Erst danach erhielt ein neuer Verteidiger Akteneinsicht und ___________ 53

Die nach dem Wiederaufnahmevorbringen vorliegende Vermietung des Kellers kann Beihilfe oder Mittäterschaft sein, BGH NStZ 2006, 578 f., was aber einer tatrichterlichen Wertung unterliegt. 54 LG Düsseldorf Urt. vom 10.8.2007 – 11 KLs 64/06. 55 BGH Beschl. vom 8.1.2008 – 3 StR 507/07. 56 BGH Beschl. vom 13.2.2008 – 3 StR 507/07. 57 BVerfG Beschl. vom 6.5.2008 – 2 BvR 711/08.

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stellte die Aktenwidrigkeit des Urteils fest. Ein in der Hauptverhandlung vernommener Zeuge hatte erläutert, dass die Ehefrau in einer näher benannten Zeitspanne innerhalb des Tatzeitraums als Bardame tätig gewesen war und Geld verdient hatte, was im Urteil nicht erwähnt und erörtert worden war. Die Mieterin im Hause hatte bei ihrer polizeilichen Vernehmung bekundet, dass sie eigentlich gar nichts gesehen habe. Sie war bei der Durchsuchung am Tage „mit Ohrenstöpseln“ schlafend angetroffen worden. Tatsächlich war die Zeugin, was sie freilich verschwiegen hatte, auch im Nachtgewerbe tätig gewesen und hatte daher tagsüber immer fest geschlafen. Schließlich waren die Ehegatten entgegen der Urteilsbemerkung zur Gleichberechtigung in der Ehe im Tatzeitraum noch nicht verheiratet gewesen. Wie solche verdeckten Darstellungsfehler im Urteilstext entstanden sein mochten, ist nicht verifizierbar. Die Überlegungen von Juristen, welche allgemeine Äußerungs-, Wahrnehmungs-58 oder Erinnerungsfehler vermuten, greifen aus psychologischer Sicht zu kurz. Auch Richter unterliegen dem Phänomen der „falschen Erinnerung“.59 Jeder Beobachter richtet schon bei der Wahrnehmung von Eindrücken sein Augenmerk auf die Aspekte, die ihm wichtig erscheinen und blendet solche aus, die nur für andere Betrachter Bedeutung haben könnten. Die gespeicherte Information wird durch ergänzende Daten aus früheren Erinnerungen – beim Berufsrichter also vor allem Aktenwissen – überlagert, abgewandelt und so später mit verändertem Aussaggehalt abgerufen. Erinnerungen sind demnach generell keine objektiven Abbilder einer wahrgenommenen Information, sondern stets subjektive Vorstellungsbilder. Auch die Erinnerung an das selbst erlebte Verhandlungsgeschehen ist daher schon nach kurzer Zeit keine authentische Reproduktion. Trotzdem existiert keine offizielle Aufzeichnung der Inhalte von Äußerungen in der Hauptverhandlung, weil alleine für Zwecke der revisionsgerichtlichen Verfahrenskontrolle nur ein Formalienprotokoll geführt wird. Die zeitweilige Führung von Inhaltsprotokollen, weil diese auch für ein Wiederaufnahmeverfahren von Bedeutung sein können, blieb ein rechtshistorisches Intermezzo.60 Seither wird durch die Nichtaufzeichnung der Aussageinhalte in der Hauptverhandlung aus der psychologischen Perspektive gleichsam eine Beweisvereitelung betrieben. Beim Abruf der durch Aktenkenntnis und den Erwartungshorizont nachhaltig beeinflussten individuellen Erinnerungen der Richter61 entsteht ein Bild, das schon mit der Sicht aller anderen Verhandlungsteilnehmer im Detail nicht übereinstimmt und im schlimmsten Fall das Gegen___________ 58

Zur selektiven Wahrnehmung Geipel (Fn. 12), S. 145 ff. Kühnel/Markowitsch, Falsche Erinnerungen. Die Sünden des Gedächtnisses, 2009, S. 73 ff. 60 Leitner, in: Michalke u. a. (Hrsg.), Hamm-FS, 2008, S. 405 (415). 61 Dabei sind nach den Experimenten von Schünemann, StV 2000, 159 ff. drei Gruppen zu unterscheiden, die aktenkundigen Berufsrichter, die nicht aktenkundigen Beisitzer und die Laienrichter. 59

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teil dessen ausdrückt, was Andere wahrgenommen haben. So kommt es auch zur „Wahrheitsverdrehung“62 oder „Verfälschung des Sachverhalts“.63 Die Annahme der Richtigkeit von Feststellungen beruht auf der subjektiven Überzeugung und dem Nichtwissen um die Beeinflussbarkeit. Perseveranz-, Inertiaund Schulterschlusseffekte,64 die längst zu „geheimen in-dubio-contra-reumRegeln“ geführt haben,65 kommen hinzu. Der Rechtssatz „in dubio pro reo“ hilft dem Angeklagten nicht. Zivilrichter gelangen häufiger zu einem „non liquet“ zum Nachteil des Klägers als Strafrichter zu einer Entscheidung im Zweifel für den Angeklagten und gegen die öffentliche Klage.66 Angeklagten wird generell nicht geglaubt und alle Aspekte, welche die eigene, durch Anklageschrift und Eröffnungsbeschluss überhöhte Verdachtshypothese bestätigen, werden überbewertet. „Privilegierte Zeugen“, wie Ermittlungsbeamte67 oder „Geschädigte“,68 werden hinsichtlich der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben generell überschätzt. Auch sonst werden alle Umstände, welche die Verdachtshypothese bestätigen, meist bereitwillig akzeptiert und alle Aspekte, die dem entgegenstehen, selektiert sowie ignoriert oder mit beliebigen Argumenten dementiert. So entsteht oftmals eine gegenüber dem objektiven Befund oder der Beurteilung eines an die Methode der hypothesengeleiteten Realkennzeichenanalyse gebundenen aussagepsychologischen Sachverständigen deutlich abweichende Darstellung,69 welche die Strafjustizjuristen aus ihrem Rollenverständnis heraus verteidigen, während Strafverteidiger sie bekämpfen müssen. „Die Justiz kratzt und beißt“ erst recht in einem nach Eintritt der Rechtskraft vom Verurteilten betriebenen Wiederaufnahmeverfahren,70 selbst wenn das Vorliegen eines Fehlurteils bei neutraler Bewertung evident erscheint. Erklärbar ist das nur mit den genannten verfahrenspsychologischen Hintergründen. Die Vorstellung der Strafprozessgesetzgebung, ein Kollegium von Berufs- und Laienrichtern könne in der Hauptverhandlung einheitlich Wahrnehmungen aus dem Inbegriff einer längeren Hauptverhandlung mit facettenreichen Informationen machen und diese ohne authentische Inhaltsaufzeichnung der Hauptverhandlung auch nur annähernd zuverlässig bei der Urteilsberatung abrufen sowie aus eigener Sachkunde in einem der Aussagepsychologie gleichwertigen Maße sachgerecht bewerten, ist eine Illusion. Entstehen unrichtige Urteilsfeststellun___________ 62

Rückert (Fn. 49), S. 152. BGHSt 43, 212 (216). 64 Schünemann, StV 2000, 159 ff. 65 Meyer-Mews, NJW 2000, 916 ff.; s.a. Geipel, StV 2008, 271 ff. 66 Geipel (Fn. 12), S. 32. 67 Geipel (Fn. 12), S. 994 ff. 68 Geipel, StV 2008, 271 ff. 69 Beispiel bei Eschelbach (Fn. 33), S. 128 (141 ff.). 70 Sabine Rückert (Fn. 49), S. 191 ff. 63

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gen, so können diese in allen Fällen, in denen keine Berufung zulässig ist, zugunsten des Verurteilten allenfalls noch mit der Wiederaufnahme des Verfahrens korrigiert werden.71 Im Beispielsfall beantragten die Verurteilten zunächst die Wiederaufnahme des Verfassungsbeschwerdeverfahrens entsprechend § 61 BVerfGG,72 weil sich aus ihrer Sicht die Erfahrung73 belegen ließ, dass der Urteilstext mit dem Akteninhalt und dem Verhandlungsgeschehen nichts gemein hat. Das Bundesverfassungsgericht ließ aber durch einen Beamten mitteilen, es sehe keinen Anlass zur Bescheidung der Eingabe. Kammerbeschlüsse sind unanfechtbar (§ 93d Abs. 1 Satz 2 BVerfGG). Sie gelten auch im Allgemeinen als nicht abänderbar,74 obwohl sie keine materielle Rechtskraft entfalten. Eine Ausnahme kommt bei einer Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG in Betracht.75 Die Befriedungsfunktion der Entscheidung der Kammer und die Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde76 könnten aber auch dann verfehlt sein, wenn ein Strafurteil durch die Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde aufrechterhalten wird, obwohl grobes prozessuales Unrecht vorliegt. Das könnte angenommen werden, wenn den an die tatrichterlichen Feststellungen gebundenen Rechtskontrollinstanzen wichtige Informationen im Urteilstext vorenthalten wurden. Diese Überlegung führte in casu aber nicht einmal zu einer Bescheidung des Wiederaufnahmeantrages. Das Bundesverfassungsgericht hatte früher die Frage, ob eine Wiederaufnahme des Verfassungsbeschwerdeverfahrens möglich ist, offen gelassen.77 Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich, dass nun von einer Bescheidung abgesehen wurde. Der Rechtsgedanke78 des Wiederaufnahmerechts hätte es nahe gelegt, die Bedeutung von Fehlinformationen der Tatsacheninstanz gegenüber der Rechtskontrolle zu erörtern. Freilich blieb den Beschwerdeführern noch der Weg zu den Fachgerichten nach § 359 Nr. 5 StPO.79 ___________ 71

Otto, NJW 1978, 1 (11). Sachs, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an seine Entscheidungen, 1977, S. 142 ff. 73 Wilhelm, ZStW 117 (2005), 143. 74 BVerfG NJW 2008, 1582. 75 Dollinger, in: Umbach/Clemens/Dollinger (Hrsg.), BVerfGG, 2. Aufl., § 15a Rn. 29. 76 Gusy, in: Badura u. a. (Hrsg.), 50 Jahre Bundesverfassungsgericht-FS, 2001, S. 641 (644 ff.). 77 BVerfG Beschl. vom 30.5.1983 – 2 BvR 409/83 – in juris. 78 Zur Bewertung des Rechtsgedankens der Wiederaufnahme in malam partem BGHSt 52, 119 (121) mit Anm. Ziemba, HRRS 2008, 364 ff. 79 Soweit falsche oder fehlende Tatsachenangaben im Urteil die an die Feststellungen gebundenen Rechtskontrollinstanzen in die Irre geführt haben mochten, aber nicht als Novum betrachtet werden, behielte § 61 BVerfGG unbeschadet des Wiederaufnahmeverfahrens nach § 359 Nr. 5 StPO eigenständige Bedeutung. 72

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Ein Wiederaufnahmeantrag wurde auf neue Erkenntnisse über die Abwesenheit der Mitangeklagten aus dem Haus in einem Teil des Tatzeitraums, über die Unmöglichkeit einer Aussagekraft der Zeugenaussage der Mieterin, ferner über die im Urteilstext nicht erörterte Aussage des weiteren Zeugen zu Einkünften der Mitangeklagten im Tatzeitraum, über anderweitige Beschäftigungen der Ehegatten am Ende des angeblichen Tatzeitraums und über die tatsächliche Anwesenheit des Niederländers als Cannabisplantagenbetreibers gestützt. Der Antrag wurde aber als unzulässig verworfen,80 wobei das Wiederaufnahmegericht die neuen Tatsachen und Beweise einzeln als nicht neu oder ungeeignet bewertete.81 Unter anderem wurde auch der mitverurteilten Ehefrau, nachdem nur der Ehemann Angaben gemacht hatte, ein widersprüchliches Aussageverhalten mit der Folge einer „erweiterten Darlegungslast“ vorgeworfen, obwohl sie im Erstverfahren bei Vernehmungen stets die Aussage verweigert hatte. Auf das Verschweigen82 der Angaben eines Zeugen zum anderweitigen Geldverdienst im Urteilstext ging das Wiederaufnahmegericht nicht ein. Die sofortige Beschwerde gegen diesen Beschluss wurde verworfen,83 wobei das Beschwerdegericht die Beweisantizipation des erstinstanzlichen Gerichts als solche billigte, eine eigene Gesamtwürdigung aller Tatsachen und Beweise behauptete, ohne diese seinerseits zu erläutern, und bemerkte, es teile nicht die Ansicht der Beschwerdeführer, dass das Wiederaufnahmeverfahren als funktionaler Berufungsersatz zu bewerten sei. Hier kann es nicht darum gehen, die Entscheidungen fallbezogen zu kommentieren; dazu fehlen Detailinformationen. Es fällt aber auf, dass verdeckte Erörterungsmängel84 im Urteil des Erstgerichts von den Wiederaufnahmegerichten nicht beanstandet werden. Das wirkt bedenklich, weil die Technik zur Verbesserung der „Revisionssicherheit“ von Strafurteilen seit langem gebräuchlich ist,85 aber eine klare Verletzung des Anspruchs der Verfahrens___________ 80

LG Duisburg Beschl. vom 25.9.2008 – 31 KLs 152 Js 718/08. Zur Notwendigkeit einer Gesamtwürdigung Wasserburg/Eschelbach, GA 2003, 335 (348). 82 Das Urteil des Erstgerichts hatte das sichergestellte Geld dem Cannabishandel zugeordnet, weil andere Geldquellen nicht vorhanden gewesen seien. Gewürdigt wurde eine von Zeugen bestätigte Darlehensbehauptung des Ehemanns. Nicht erörtert wurden dagegen die von einem Entlastungszeugen erläuterten Einkünfte der späteren Ehefrau. Der Wiederaufnahmeantrag nahm an, dass kein gezieltes Verschweigen dieses Erörterungspunktes angenommen werden könne, weil sonst nach BGHSt 43, 212 (216) eine Rechtsbeugung zu befürchten wäre. Lag aber kein gezieltes Verschweigen des Erörterungspunktes vor, dann war die vergessene Information eher „neu“. Mit dieser Argumentation setzte sich das Wiederaufnahmegericht nicht auseinander. 83 OLG Düsseldorf Beschl. vom 6.2.2009 – III – 2 Ws 356, 357/08. 84 Wilhelm, ZStW 117 (2005), 143 ff. 85 Alsberg (Fn. 33), S. 37; Geipel (Fn. 12), S. 40; Wahl, in: NJW-Sonderheft für G. Schäfer, 2002, S. 73 (74). 81

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beteiligten auf rechtliches Gehör darstellt,86 gegen die es einen effektiven Rechtsschutz geben muss,87 der heute nur durch das Wiederaufnahmeverfahren gewährt werden kann. Revisionsrichter88 gehen in Strafsachen von der Vermutung der Vollständigkeit der Urteilsgründe aus. Diese Vermutung mag normativ richtig sein, sie ist jedoch tatsächlich fast immer unzutreffend. Zudem bleibt sie infolge des „Verbots der Rekonstruktion der Hauptverhandlung“89 und der Annahme der Unzulässigkeit einer Rüge der Aktenwidrigkeit des Urteils90 im Revisionsverfahren unwiderlegbar, was mit der Rechtsschutzgewährleistung nach Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar sein sollte. Effektiver Rechtsschutz wird in der Revisionsinstanz jedenfalls nicht gewährleistet.91 Das strafprozessuale Rechtsmittelsystem war von Anfang an untauglich.92 Auch die als Notbehelf richterrechtlich „erweiterte Revision“ kann eine Berufungsersatzfunktion nicht erfüllen; dazu ist das Wiederaufnahmerecht rechtlich zumindest eher geeignet und vom Gesetzgeber auch gedacht. Wenn es im Strafverfahren überhaupt einen Kontrollbedarf gibt, dann wird er jedenfalls durch die revisionsgerichtliche Kontrolle nicht gedeckt. Das Dogma, es gebe keinen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Rechtsschutz gegen den Richter,93 ist im Strafverfahren nicht zutreffend, weil der Strafrichter auch in seiner Funktion als erkennender Richter nicht nur eine neutrale Instanz mit gleichsam schiedsrichterlichen Aufgaben inter partes ist,94 sondern mit dem Schuld- und Straf- oder Maßregelausspruch originäre Eingriffshandlungen vornimmt, die zudem Dauerwirkung entfalten.

___________ 86 Schäfer, in: Hanack u. a. (Hrsg.), Rieß-FS, 2002, S. 477 (479); Wahl (Fn. 85), S. 73 (74); zu den Hintergründen BeckOK/Eschelbach, StPO § 261 Rn. 66. 87 Meyer-Mews, NJW 2004, 716 ff. 88 Schäfer, StV 1995, 147 (156); Wahl (Fn. 85), S. 72 (75). 89 BGHSt 43, 212 (216). 90 BGH NStZ 2000, 156; 2006, 55 f.; NStZ-RR 1998, 17; 2001, 262; Nack, in: Hanack u. a. (Hrsg), Rieß-FS, 2002, S. 361 (368). 91 Geipel (Fn. 12), S. 23 ff. 92 Fezer, in: Ebert u. a. (Hrsg.), Hanack-FS, 1999, S. 331 (332). 93 Allgemein krit. Voßkuhle, NJW 2003, 2193 (2196). 94 BVerfGE 107, 395 (406) unterscheidet zwischen spruchrichterlicher und sonstiger Gerichtstätigkeit, um die Anwendungsbereiche der Art. 19 Abs. 4 und 20 Abs. 3 GG abzugrenzen; krit. Voßkuhle, NJW 2003, 2193 (2196). Zwar wird davon ausgegangen, dass der Ermittlungsrichter bei der Eingriffsgestattung funktional exekutivisch handele; BVerfGE 96, 27 (39 ff.); 104, 220 (231 ff.). Bei spruchrichterlichen Entscheidungen soll das aber nicht der Fall sein, so dass „nur“ der allgemeine Justizgewährungsanspruch Platz greifen soll; vgl. BVerfGE 112, 185 (207). Diese Auslegung ist angreifbar, weil zu berücksichtigen ist, dass der erkennende Richter in Strafsachen auch Eingriffshandlungen vornimmt; Haas, Strafbegriff, Staatsverständnis und Prozessstruktur, 2008, S. 421.

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Die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens als Rechtsschutzmittel ist daher dem Grunde nach unverzichtbar.95 Die sachliche Legitimation der andauernden Wirkung des Schuld- und Straf- oder Maßregelausspruchs entfällt nämlich, wenn sich nachträglich konkrete Hinweise auf das Vorliegen eines Fehlurteils ergeben. Das ist der Regelungsgrund des § 359 Nr. 5 StPO. Auch die Abschaffung des Wiederaufnahmerechts im Verfahren über die Urteilsabsprachen wäre deshalb nicht akzeptabel. Der Konsens erbringt keine Legitimation der Aufrechterhaltung des Schuldausspruchs und der Straf- oder Maßregelvollstreckung bei Vorliegen neuer Tatsachen oder Beweise für die Unschuld des Verurteilten. Selbst ein Geständnis96 bietet nämlich keine Gewähr für die sachliche Richtigkeit der Verurteilung. Die Zahl falscher Geständnisse ist höher als es meist angenommen wird.97 Bei den Drohungen und Verlockungen der Absprachenpraxis nähert sie sich sogar der 50%-Marke,98 so dass abgesprochene Urteile trotz des Geständnisses fast mit gleicher Wahrscheinlichkeit richtig oder falsch sein können. Der Schluss von einem Geständnis auf die Glaubwürdigkeit des Angeklagten ist zudem ein Trugschluss,99 der sich in Fällen der „Absprachen zu Lasten Dritter“ oder der Kronzeugenbehandlung von Mitbeschuldigten fatal auswirken kann, weil er irreversibel falsche Ergebnisse produziert. Ob dieses Resultat mit dem Gedanken der Effektivität der Strafrechtspflege gerechtfertigt werden kann, muss ernsthaft in Frage gestellt werden. Die Folgen von Fehlurteilen pflanzen sich in der Strafvollstreckung fort, wenn der Unschuldige als Tatverleugner besonders rigide behandelt wird und die angebliche Bindung auch von Sachverständigen bei der Prognosebegutachtung an Feststellungen rechtskräftiger Urteile selbst bei Vorliegen neuer Erkenntnisse dazu, dass die Feststellungen falsch sein könnten, neue Nachteile bewirken. Hat die Wiederaufnahme propter nova im Ansatz bei den Strafkammersachen eine Berufungsersatzfunktion, dann erscheint es vor diesem Hintergrund geboten, sie ähnlich zu handhaben, wie die zivilprozessuale Berufung neuer Prägung, bei der Zweifel an der Vollständigkeit und Richtigkeit der Feststellungen der ersten Tatsacheninstanz neue Feststellungen durch das Kontroll___________ 95 BVerfGE 22, 322 (329) hat ihr Fehlen für Bagatellunrecht hingenommen, das den Ordnungswidrigkeiten nahe kommt. Das erscheint hinnehmbar, nicht aber die Abschaffung der Wiederaufnahmemöglichkeit ungeachtet der Schwere des Vorwurfes. 96 Zum Geständnis als Beweisgrundlage Hauer, Geständnis und Absprache, 2007, S. 174 ff. 97 Zu den Ursachen BeckOK/Eschelbach, StPO § 261 Rn. 12 ff. 98 Die Quote falscher Geständnisse liegt in normalen Situationen bereits mindestens etwa bei 7 %; sie steigt schon im Experiment beim Angebot eines „Deals“ auf 43%; Volbert/Böhm, in: Volbert/Steller (Hrsg.), Handbuch der Rechtspsychologie, 2008, 253 (259). 99 Wimmer, ZStW 50 (1930), 537 (543).

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gericht gebieten (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).100 Trotz aller Beschränkungen des Novenrechts in der zivilprozessualen Berufungsinstanz (§§ 282, 296, 531 ZPO) fällt dadurch die Quote der substantiellen Urteilsabänderungen – durchaus meist aus Beweisgründen – beträchtlich höher aus als im Strafverfahren mit seinen Rechtsmitteln. Es gibt aber keinen legitimen Grund zu der Annahme, dass der Rechtsschutzstandard in Strafsachen hinter dem zivilprozessualen Standard so deutlich zurückbleiben soll. Die Frage, ob die Wiederaufnahme eine Berufungsersatzfunktion erfüllen soll, ist schließlich unter Beachtung des gesetzgeberischen Willens zu beantworten. Dieser ist gerade dahin erklärt worden,101 dass das Wiederaufnahmerecht – neben der später ersatzlos abgeschafften gerichtlichen Voruntersuchung und der inzwischen drastisch relativierten stärkeren Besetzung der erstinstanzlichen Strafkammern – funktional die Bedeutung eines Ersatzes für die im Rechtszug wegen der schweren Kriminalität fehlende Berufung haben soll. Eine Interpretation der Wiederaufnahmegerichte, die dem widerspricht, verkennt den Bedeutungsgehalt des Freiheitsrechts des Verurteilten.102

III. Legitimationsfunktion der Wiederaufnahme des Verfahrens zum Nachteil unredlicher Kronzeugen Es kommen ambivalente Wirkungen von Rechtskraft und Wiederaufnahme in Frage, wo es um die Drittwirkung von Angaben von Mitbeschuldigten geht.103 Die Idee der Ausweitung der Wiederaufnahme des Verfahrens propter nova ist insoweit zumindest kurzfristig zum Gegenstand gesetzgeberischer Überlegungen geworden, die freilich so bisher nicht umgesetzt wurden. Das ___________ 100

Gehrlein, in: Jung u. a. (Hrsg.), Egon Müller-FS, 2008, S. 169 (176 ff.). C. Hahn, Die gesammten Materialen zu den Reichs-Justizgesetzen, Bd. 3 Abt. 1, S. 262 f., 515; Alsberg (Fn. 33), S. 47; LR/Gössel, StPO Vor § 359 Rn. 29 und § 359 Rn. 160 f.; von Hentig, Wiederaufnahmerecht, 1930, S. 96; J. Meyer, Wiederaufnahmereform, 1977, S. 44 f.; Rosenfeld, Gutachten für den 36. DJT, 1931, S. 1141 (1145); Schünemann, ZStW 84 (1972), 870 (879). 102 Das Freiheitsrecht beeinflusst die Auslegung und Anwendung der Gesetze; BVerfG StV 2000, 252 (253). Deshalb genügt ein sich lediglich auf den Wortlaut berufendes Verständnis von Normen der Bedeutung des Freiheitsgrundrechts nicht. Es ist erforderlich, die zugrunde liegende Wertung aus der gesetzgeberischen Vorgeschichte bei der Auslegung zugrunde zu legen; BVerfG StV 2000, 252 (253). Was insoweit für das materielle Recht anerkannt ist, muss nach Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG auch für das Strafverfahrensrecht gelten. 103 BGHSt 48, 161 (168); 52, 78 (82) hat besondere Anforderungen an die Beweiswürdigung bei drittbelastenden Geständnissen aufgestellt. Das Gericht hat aber nicht erklärt, warum das Geständnis eines informellen Kronzeugen entgegen dem Regelungsgedanken der §§ 69 Abs. 3, 136a Abs. 1 Satz 3 StPO zum Nachteil eines Dritten verwertet werden darf. 101

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Land Niedersachsen hatte im Jahre 2002 den Entwurf eines Gesetzes zur Regelung der Aufklärungshilfe eingebracht.104 Er ist inzwischen durch den in § 46b StGB eingeflossenen Regierungsentwurf für eine allgemeine Regelung der Aufklärungs- und Präventionshilfe105 überholt, der keine vergleichbaren Wiederaufnahmeregeln mehr enthält.106 Der niedersächsische Entwurf bleibt daher wegen seiner Maßnahmen zur Missbrauchsbekämpfung von Interesse. Im Fall nachträglicher Abweichungen von der angekündigten Aufklärungshilfe sollte danach die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Aufklärungsgehilfen mit dem Ziel der Strafschärfung ermöglicht werden. Die Einfügung eines neuen Wiederaufnahmegrundes im Fall unredlicher Aufklärungsgehilfen muss an Art. 103 Abs. 3 GG gemessen werden.107 Sie könnte aber de lege ferenda einen Beitrag zur Legitimation der Kronzeugenregelung durch Verfahren liefern, wenn sie dazu ausreichend wäre.108 Ihre Nichtrealisierung könnte umgekehrt unter dem Blickwinkel des § 136a Abs. 1 Satz 3 StPO für die Praxis des informellen Kronzeugeneinsatzes durch konsensual operierende Strafgerichte Bedeutung erlangen. Ein Beispielsfall soll das veranschaulichen: Einem Beschuldigten und dem Mitbeschuldigten wurde vorgeworfen, sie hätten abwechselnd minderwertige Immobilien gekauft, jeweils eine Bankfinanzierung für angeblich höherwertige Objekte erwirkt und dann einen Teil der Kaufpreise durch so genannte Kickback-Zahlungen der Erwerber zurückerlangt, so dass die finanzierenden Banken geschädigt worden seien. Das Modell war von dem einschlägig vorbestraften Mitbeschuldigten ersonnen worden, der den weiteren Beschuldigten in die Geschäfte hineingezogen hatte. Umstritten war, ob dieser Mitbeschuldigte mit anfänglicher Kenntnis aller Umstände gehandelt hatte. Nachdem er sich im Vorverfahren, in dem auch Untersuchungshaft vollzogen wurde,109 zunächst dahin eingelassen hatte, er habe die Machenschaften des anderen Beschuldigten bis zu seiner Verhaftung nicht durchschaut, wurde er von seinem Verteidiger lautstark beschimpft und zur Kooperation gedrängt. Vor diesem Hintergrund ___________ 104

BR-Drucks. 896/02. BR-Drucks. 353/07; BT-Drucks. 16/6268. 106 Krit. Lange, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuches – Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe vom 23.3.2009, http://www.bundestag.de/ausschuesse/a06/anhoerungen/48_kronzeugenrege lung/04_stellungnahmen/stellungnahme_lange.pdf. 107 KMR/Eschelbach, StPO § 362 Rn. 26 ff. 108 Die Praxis neigt dazu, einem Zeugen zu glauben, einem Beschuldigten aber nicht, weshalb es oft zu einem Wettlauf um die erste Anzeige kommt; Geipel (Fn. 12), S. 326 ff. Erst recht wird einem Kronzeugen gerne geglaubt, weil er den Erwartungshorizont der Strafjustizorgane erfüllt. 109 Zur Problematik der Untersuchungshaft als Faktor der Aussagebeeinflussung Eidam, HRRS 2008, 241 ff. 105

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legte er ein Geständnis ab, das er nach einem Verteidigerwechsel später widerrief. Zwischenzeitlich zeigte sich der Mitbeschuldigte kooperativ, worauf unter Verfahrensbeschränkungen nach §§ 154, 154a StPO110 die Ermittlungen abgekürzt wurden.111 Beide Angeklagten wurden schließlich zu gleich hohen Freiheitsstrafen verurteilt.112 Die Hauptverhandlung war ohne Zeugenladungen anberaumt worden. Verteidiger und Staatsanwalt wurden kurzfristig vom Gericht zu einem Gespräch113 vor Aufruf der Sache einbestellt. Davon war der Angeklagte nicht unterrichtet worden. Von seinen beiden Verteidigern war nur einer – der eher passiv wirkende – bei dem informellen Vorgespräch anwesend, weil der andere – eher kämpferische – sich verspätete und das Gericht trotz dessen telefonischer Bitte sein Erscheinen nicht abwarten wollte. Die Richter114 erklärten dann, dass die Freiheitsstrafe für beide Angeklagten im Fall eines Geständnisses jeweils drei Jahre und neun Monate nicht übersteigen werde. Damit war die Verteidigung des kooperationsbereiten Mitangeklagten sofort einverstanden, während die Verteidigung des weiteren Angeklagten sich auf das für sie neue Ansinnen erst einrichten musste. Die Lage des Mitangeklagten schien aussichtslos, nachdem das Gericht sich zur Schuldfrage festgelegt hatte und dem kooperativen Mitangeklagten, der auch ihn belastete, schon vor Aufruf der Sache zu glauben bereit zeigte.115 Deshalb legte der Angeklagte nach einer Überlegungspause, in welcher der Staatsanwalt im Auftrag des ungeduldigen Gerichts nachdrücklich auf die drohenden Folgen einer Kooperationsverweigerung hingewiesen hatte, ein „schlankes“ Geständnis ab, das zusammen mit dem gleichartigen Geständnis des Mitangeklagten zur Urteilsgrundlage wurde. Es wurde Rechtsmittelverzicht erklärt.116 Bei der Strafzumessung erklärte das Gericht, es sei angemessen, beide Angeklagten gleich zu bestrafen. Zwar sei nur der eine Mitangeklagte einschlägig vorbestraft und habe die Taten in der Bewährungszeit begangen; aber sein frühes Geständnis sei besonders ___________ 110

Krit. zur Praxis Gössel, in: Schöch u. a. (Hrsg.), FS Böttcher, 2007, S. 79 (89). Eine Vernehmung der angeblich getäuschten Mitarbeiter der Banken unterblieb im gesamten Verfahren. Essentialia des Betrugstatbestandes, wie der Irrtum der Getäuschten, sind nicht geständnisfähig; Schünemann, Wetterzeichen vom Untergang der deutschen Rechtskultur, 2005, S. 16 f. Fn. 40. 112 LG Nürnberg-Fürth Urt. vom 24.9.2001 – 12 KLs 506 Js 592/01. 113 Solche Vorgespräche nehmen heute das Prozessergebnis vorweg; Duttge, in: Schöch u. a. (Hrsg.), Böttcher-FS, 2007, S. 53 (68). 114 Rechtlich unklar bleibt die Rolle der Schöffen in Vorgesprächen außerhalb der Hauptverhandlung; Siolek, in: Hanack u. a. (Hrsg.), Rieß-FS, 2002, S. 563 (577 f.). 115 Ein Gericht, das in solcher Lage auch aufgrund von Eigeninteressen an der Verfahrensabkürzung handelt, ist der Sache nach Partei einer Vereinbarung zu Lasten Dritter; Herzog, StV 1999, 455 (457); Schünemann, Gutachten B für den 58. Deutschen Juristentag, 1990, B118 f. 116 Der Rechtsmittelverzicht schließt die Wiederaufnahme des Verfahrens nicht aus; KG NStZ 2006, 468 ff. mit Anm. König, StraFo 2006, 170 f. 111

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strafmildernd zu berücksichtigen.117 Der andere Verurteilte beantragte später die Wiederaufnahme des Verfahrens. Er stützte sich dazu auf einen Widerruf seines Geständnisses, die Annahme der Unverwertbarkeit des Geständnisses des Kronzeugen, wobei er den für ihn überraschenden Ablauf von Vorgespräch und Hauptverhandlung des Erstgerichts unter Beweis stellte. Zum Tatgeschehen wurden neue Indiztatsachen angeboten. Das Wiederaufnahmegericht verwarf den Antrag jedoch als unzulässig118 und bemerkte, der Verurteilte sei nur den üblichen Belastungen unterworfen gewesen.119 Die Behauptung eines gesetzwidrigen Absprachenverfahrens sei kein Wiederaufnahmegrund.120 Der Geständniswiderruf sei zwar eine neue Beweistatsache, jedoch habe der Verurteilte nicht überzeugend dargelegt, weshalb er im Vorverfahren ein Geständnis abgelegt und es später widerrufen habe. Gegen diesen Beschluss legte der Verurteilte sofortige Beschwerde ein. Er bemängelte, dass ein Verwertungsverbot hinsichtlich der Aussage des Kronzeugen nicht beachtet worden sei und der Wegfall der gesamten Beweisgrundlagen des Urteils, die alleine aus den schlanken Geständnissen der beiden Mitangeklagten in der Hauptverhandlung bestanden hätten, zur Erneuerung der Hauptverhandlung führen müsse, ohne dass diese Beweisgrundlage vom Wiederaufnahmegericht durch den Akteninhalt ersetzt werden dürfe. Das Rechtsmittel wurde aber mit der Begründung verworfen,121 der Geständniswiderruf sei ungeeignet zur Herbeiführung einer Freisprechung. Dies sei vom Wiederaufnahmegericht anhand des Akteninhalts zu überprüfen;122 andernfalls stünde das Urteil unter dem Vorbehalt des Geständniswiderrufs.123 Zudem müsse der Wiederaufnahmeantrag die Beweiskraft des früheren Geständnisses erschüttern. Der Vortrag des Beschwerdeführers sei ___________ 117 Der Geständniszeitpunkt besitzt keine Strafzumessungsrelevanz, wenn das Geständnis als Indiz für Einsicht und Reue gewertet wird. Zur Strafmilderung Eschelbach, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Hrsg.), StGB, 2009, § 46 Rn. 126 ff. Der Praxis geht es nur um Arbeitsentlastung. 118 LG Regensburg Beschl. vom 4.4.2007 – 6 KLs 153 Js 6171/2007. 119 Diese Bemerkung geht an dem Einwand vorbei, das Gericht, welches sich auf eine Absprache zu Lasten Dritter einlässt, genüge nicht mehr den Anforderungen an Neutralität gemäß Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK; vgl. Duttge (Fn. 113), S. 53 (64). 120 Zur Eigenschaft von Prozesstatsachen, die ein Beweisverbot ergeben, als Tatsachen im Sinne von § 359 Nr. 5 StPO Eschelbach, in: KMR StPO § 359 Rn. 141. 121 OLG Nürnberg Beschl. vom 4.10.2007 – 2 Ws 343/07. 122 Eine Beweisantizipation anhand der Akten zur Ersetzung der Urteilsgrundlagen ist mit der Struktur des Strafverfahrens unvereinbar, vgl. BVerfG Beschl. vom 16.5.2007 – 2 BvR 93/07; OLG Rostock NStZ 2007, 357 (358). 123 Aber: „Lässt sich das Gericht auf der Basis der Ermittlungsakten vorzeitig auf eine ergebnisbezogene Absprache ein, so handelt es hinsichtlich der nötigen Sachaufklärung bewusst riskant“; Duttge (Fn. 113), S. 53 (75). Es ist daher ein Mangel des Absprachenverfahrens, wenn Urteile aufgrund „schlanker Geständnisse“ ergehen. Sie sind zu Recht wiederaufnahmeanfällig; Marxen/Tiemann, Die Wiederaufnahme in Strafsachen, 2. Aufl., Rn. 243; Wasserburg (Fn. 20), § 16 Rn. 36.

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nicht plausibel. Eine Anhörungsrüge124 gegen diesen Beschluss sowie eine Verfassungsbeschwerde125 hatten keinen Erfolg. Über die Menschenrechtsbeschwerde126 ist noch nicht entschieden. Sie kann immerhin darauf verweisen, dass die Neutralitätsgarantie des Art. 6 Abs. 1 MRK verletzt ist, wenn ein Strafgericht schon vor Beginn der Verhandlung seine Überzeugung von der Schuld des Angeklagten erklärt127 und ihm nur die Gelegenheit gibt, mildernde Umstände vorzutragen anstatt ihm eine volle Verteidigung gegen den Tatvorwurf zu ermöglichen.128 Die optimale Form der Wiedergutmachung eines derartigen Fehlers wäre die Wiederaufnahme des früheren Prozesses.129 Das Beispiel zeigt erneut, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten nach § 359 Nr. 5 StPO restriktiv gehandhabt wird und zwar besonders bei dem unerschütterlichen Vertrauen auf die Richtigkeit taktisch motivierter schlanker Geständnisse, die aber aussagepsychologisch ohne Aussagekraft sind. Stattdessen müsste das Wiederaufnahmerecht eine Rechtsschutzfunktion übernehmen,130 die durch die Praxis nicht effektiv erfüllt wird. Ferner unterstreicht das Beispiel den Befund, dass eine Wiederaufnahmemöglichkeit zuungunsten eines informellen Kronzeugen de lege lata fehlt. Sie könnte theoretisch eine Legitimation dafür liefern, dass einem Mitbeschuldigten oder Zeugen Vergünstigungen auch dafür gewährt werden, dass er einen anderen Beschuldigten belastet. Ob diese Form der verfahrenstechnischen Sicherung der Richtigkeit der Kronzeugenangaben durch die Drohwirkung einer Verfahrenswiederaufnahme mit dem Ziel der Strafschärfung gegen den Kronzeugen, wenn sich dessen drittbelastende Angaben als falsch erweisen, aber ausreichend wäre, muss als zweifelhaft erscheinen. Die Wiederaufnahme propter nova zuungunsten des Kronzeugen müsste von der Staatsanwaltschaft beantragt werden, die sich auf die Absprache zulasten des Dritten eingelassen hatte. Es erscheint aus verfahrenspsychologischen Gründen praktisch ausgeschlossen, dass vor diesem Hintergrund jemals ein staatsanwaltschaftlicher Wiederaufnahmeantrag zuungunsten eines Kronzeugen gestellt würde. Zudem müssten – je nach ___________ 124

OLG Nürnberg Beschl. vom 29.11.2007 – 2 Ws 343/07. BVerfG Beschl. vom 4.3.2008 – 2 BvR 74/08. 126 EGMR Beschwerde-Nr. 44134/08. 127 Zu den üblichen Perseveranzeffekten nach einer Eröffnung des Hauptverfahrens Schünemann, StV 2000, 159 ff. Diese Effekte werden im Absprachenverfahren potenziert, so dass von einer Ergebnisoffenheit des Gerichts zum Schuldspruch nicht mehr auszugehen ist; Schünemann, in: Hanack u. a. (Hrsg.), Rieß-FS, 2002, S. 525 (535). Erst recht sind Perseveranz-, Inertia- und Schulterschlusseffekte in Wiederaufnahmeverfahren wirksam. 128 EGMR Entsch. vom 27.1.2004 Nr. 73797/01 – Kyprianou vs. Zypern. 129 EGMR Entsch. vom 28.2.2006 Nr. 51277/99 – Krasniki vs. Tschechien. 130 Wasserburg/Eschelbach, GA 2003, 335 (339 ff.). 125

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Gestaltung des Wiederaufnahmegrundes –131 neue Tatsachen oder Beweise gefunden werden, die ergeben, dass der Kronzeuge sich zu Unrecht Vorteile verschafft hatte. Das wäre ein unwahrscheinlicher Zufall. Die Verteidigung des anderen Beschuldigten hat bei der Vernehmung des Mitbeschuldigten schließlich nicht einmal ein Anwesenheitsrecht132 und auch sonst gibt es keine zuverlässigen Vorkehrungen dafür, dass die „Aussageentstehung“ beim informellen Kronzeugen später genau rekonstruiert werden kann. Dem benachteiligten Mitangeklagten wäre damit allein zudem noch nicht geholfen. Zu seinen Gunsten müsste danach ein gesondertes Wiederaufnahmeverfahren betrieben werden. Es wäre trotz der Noven zuungunsten des Kronzeugen kaum aussichtsreich, sofern sich der Angeklagte vor dem Hintergrund des Erstgeständnisses des informellen Kronzeugen dem auf ihn ausgeübten Verfahrensdruck gebeugt und seinerseits ein Geständnis abgelegt hätte, selbst wenn es sich dabei um ein „schlankes Geständnis“ gehandelt hatte.133 Seine Unschuld wäre dann kaum mit ausreichender Wahrscheinlichkeit darzulegen. Eine Strafmilderung wegen einer bloß unrichtigen Verschiebung der Gewichte bei der Darstellung der Tatbeiträge durch den Kronzeugen würde nach § 363 StPO keinen Wiederaufnahmegrund ergeben. Insgesamt erscheint die Option der Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten eines Kronzeugen nicht als praktisch geeignetes Mittel, um die Begünstigung von Kronzeugen und nachteilige Folgen für einen Dritten, den der Kronzeuge gegebenenfalls zu Unrecht belastet, zu legitimieren und zu korrigieren.

IV. Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen propter nova Eine Erweiterung der Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten eines Freigesprochenen wird de lege ferenda für Fälle von Mord oder Völkermord erwogen, wenn auf der Grundlage neuer, wissenschaftlich anerkannter technischer Untersuchungsmethoden neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen zur Überführung des Freigesprochenen geeignet sind.134 ___________ 131

Der niedersächsische Entwurf wollte an das Ausbleiben einer zugesagten Kooperation nach vorheriger Gewährung einer Vergünstigung für den Kronzeugen anknüpfen. In der Absprachenpraxis werden informelle Kronzeugen und belastete Dritte aber nicht selten, wie im Beispielsfall, gleichzeitig abgeurteilt. Dann greift der Wiederaufnahmegrund schon nicht mehr ein. 132 Senge, in: Jung u. a. (Hrsg.), Egon Müller-FS, 2008, S. 693. 133 Im Beispielsfall waren nur die „schlanken Geständnisse“ der Mitangeklagten in die Hauptverhandlung eingeführt worden, nicht die Einlassungen aus dem Vorverfahren. 134 BT-Drucks. 16/7957.

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Anlass für die Gesetzesinitiative ist der Düsseldorfer Videothekenmordfall, bei dem zehn Jahre nach dem Freispruch eines Angeklagten durch Verfeinerung der Analysetechnik eine Spur mit Genmaterial auf dem als Tatwerkzeug beim Ersticken des Opfers mittels einer Plastiktüte verwendeten Klebeband dem Freigesprochenen zugeordnet werden konnte. Die Tragik des Falles ist unbestreitbar. Der öffentlichen Empörung konnte die Rechtspolitik nicht widerstehen. So verständlich die Reaktion erscheint, so unglücklich ist die Schaffung einer Gesetzesnovelle aus Anlass eines singulären Falles, der mit der Novelle nicht einmal zu erfassen wäre. Die Genanalyse ist keine neue technische Untersuchungsmethode; der verspätete Untersuchungserfolg beruhte nur auf einer Verfeinerung der Analysetechnik. Im Anlassfall erscheint nach dem Verdacht „in rem“ die Erfüllung des Mordtatbestands evident. Es hatte ein Raubüberfall stattgefunden, bei dem ein Opfer gefesselt und mit einer Plastiktüte, die mit Klebeband über dem Kopf befestigt worden war, erstickt wurde. Tötungsabsicht, Habgier und – wahldeutig – Verdeckungs- oder Ermöglichungsabsicht liegen auf der Hand, während die Abgrenzung von Mord135 und Totschlag in anderen Fällen oft fragwürdiger erscheint. Wie dann zu verfahren sein soll, sagt der Entwurf nicht mit hinreichender Deutlichkeit. Die Frage wäre im Videothekenmordfall aber wohl nur, wer der Täter war. Sie kann mit einer Zuordnung einer Spur am Tatmittel zu einer bestimmten Person allein nicht zwingend beantwortet werden. Die Spur war am unteren Ende des verwendeten Stücks Klebebandes gefunden worden und könnte danach an der Rolle angetragen worden sein, bevor das Band als Tatmittel eingesetzt wurde. Das „befangene Gesetz“136 würde gegen solche Überlegungen eine Suggestivwirkung entfalten. Vor allem würde es auch die Ergebnisoffenheit des Gerichts durchgreifend in Frage stellen, weil schon die Zulassung der Wiederaufnahme davon abhängen soll, dass die neuen Tatsachen oder Beweismittel die Täterschaft beim Mord oder Völkermord zweifelsfrei belegen. Ein Gericht, das dies vor der Hauptverhandlung durch einen Beschluss bejaht, der die Rechtskraft einer Freisprechung durchbricht, kann dem Angeklagten aus dessen Sicht in der Hauptverhandlung nicht mehr unvoreingenommen gegenüber stehen. Die Neutralitätsgarantie137 aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 MRK wird durch eine solche Regelung nicht eingelöst und die Unschuldsvermutung ignoriert.138 Unabhängig davon folgt ein Verfahrenshindernis aus Art. 103 Abs. 3 GG, wenn das geplante Gesetz mit diesem Prozessgrundrecht unvereinbar ist. Der Entwurf zeigt, dass über die Verfassungsnorm Unklarheit herrscht, die bei der wieder___________ 135

Von der Frage der Verfassungsmäßigkeit des Mordtatbestands wird dabei noch abgesehen; vgl. dazu Mitsch, JZ 2008, 336 ff. 136 So zu § 46a StGB, nach dem lange vor Ende der Hauptverhandlung festzustehen scheint, wer „Täter“ und wer „Opfer“ ist, Salditt, StV 2002, 273 (274). 137 Vollkommer, Der ablehnbare Richter, 2001, S. 32 ff. 138 Scherzberg/Thiée, ZRP 2008, 81 (83).

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aufnahmeähnlichen Gestattung der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung ohne Vorbehalt im Urteil des Erstgerichts nach § 66b StGB nur damit umgangen wurde, dass die Norm für nicht anwendbar erklärt wurde.139 Die Verfassungsbestimmung ist misslungen,140 weil sie nach ihrem Wortlaut nur eine doppelte Verurteilung ausschließt. Anerkannt ist, dass auch ein Freispruch Strafklageverbrauch auslöst und der Freigesprochene den Schutz des Art. 103 Abs. 3 GG genießt.141 Ferner ist heute unbestritten, dass aus der Bestimmung nicht nur ein Hindernis für ein zweites Urteil folgt, sondern schon ein Verfolgungshindernis.142 Würde das Verfahrenshindernis strikt beachtet, dann dürften kaum noch nachträglich neue technische Untersuchungsmethoden zur Anwendung kommen. Andererseits kann dann, wenn Mordverdacht besteht und ein Angeklagter rechtskräftig freigesprochen wurde, zwar ein Prozesshandlungshindernis zur gezielten Verfolgung eines Verdachts „in personam“ bestehen, aber zugleich ein Verdacht „in rem“143 weiter verfolgt werden, der sich gegen einen oder mehrere unbekannte Täter oder Teilnehmer richtet. Das Verfolgungshindernis stellt demnach nur ein Verbot personenbezogener Eingriffsakte gegen den rechtskräftig Freigesprochenen auf, es steht aber der Überprüfung von Indizien nicht entgegen, die bei Gelegenheit der Überprüfung des Verdachts „in rem“ auch neue Hinweise auf die Tatbeteiligung des Freigesprochenen ergeben können. Gegen diesen dürfen nur keine Maßnahmen mit der Zielrichtung auf eine Verurteilung ergriffen werden, soweit er den Schutz des Art. 103 Abs. 3 GG genießt. § 362 StPO sieht aus prozessualen Gründen eine Rechtskraftdurchbrechung zuungunsten des Angeklagten vor, aber – von § 362 Nr. 4 StPO abgesehen – keine Wiederaufnahme propter nova.144 Das Geständnis ist nicht wegen eines besonderen Beweiswerts, der ihm nicht zukommt,145 sondern wegen der gesetzgeberischen Sorge um die Verhöhnung der Justiz durch den rechtskräftig Freigesprochenen, der sich nachträglich der Tat berühmt, in den Katalog der Wiederaufnahmegründe des § 362 StPO aufgenommen worden. Der geplante § 362 Nr. 5 beruht demnach auf einem anderen Konzept und er ist entgegen der Ansicht der Entwurfsverfasser146 keine reine ___________ 139

BVerfG NJW 2009, 980 (982). Ziemba, Die Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten des Freigesprochenen oder Verurteilten (§§ 362 ff. StPO), S. 75. 141 BGHSt 5, 323 (330). 142 BGHSt 5, 323 (329). 143 Zu diesen Verdachtstypen Eschelbach, in: Vordermayer/von Heintschel-Heinegg (Hrsg.), Handbuch für den Staatsanwalt, 3. Aufl., 4. Teil 1. Kap. Rn. 2, 6 ff. 144 Gegen eine solche ungünstige Wiederaufnahme Grünwald, ZStW-Beiheft 1974, 95 (103). 145 Jürgen Meyer, Wiederaufnahmereform, 1977, S. 79. 146 BT-Drucks. 16/7957 S. 6. 140

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„Grenzkorrektur“.147 Er strebt nach materieller Gerechtigkeit und verweist auf die Unerträglichkeit der Rechtskraft des Freispruchs im Fall von Mord oder Völkermord bei nachträglichem Vorliegen vermeintlich sicherer Beweise. Ob damit eine zutreffende Grundrechtsschranke gewählt wird, ist nicht geklärt. Selten wird angenommen, dass Art. 103 Abs. 3 GG gar keine Wiederaufnahme des Verfahrens zuungunsten eines Angeklagten zulasse.148 Dafür spricht neben dem Wortlaut der Verfassungsnorm und der besonderen rechtsstaatlichen Bedeutung des Grundsatzes „ne bis in idem“ als Gewährleistung von Rechtssicherheit der Person149 auch das – statistisch – geringe Bedürfnis für eine Wiederaufnahme des Verfahrens in malam partem. Die Mehrzahl aller Äußerungen hält § 362 StPO für verfassungskonform150 und de lege ferenda nicht unbedingt für abschließend. Unklar bleibt nur, wie dies zu begründen sein soll und wo danach die Grenzen für Erweiterungen liegen. Eine Übernahme des vorverfassungsrechtlichen Bestandes der Wiederaufnahmeregeln als immanente Schranke des Prozessgrundrechts ist zwar in der Rechtsprechung angedeutet worden.151 Diese Überlegung hat sich aber als zu starr erwiesen. Sie ist auch verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt.152 Die Annahme, dass das einfache Bundesrecht eine Grundrechtsschranke bilde, bei welcher der Gesetzesvorbehalt auf einen bestimmten Normenbestand eingefroren wäre, trägt dem Rang des beschränkten Prozessgrundrechts nicht genügend Rechnung. Weder im Wortlaut der Verfassungsnorm noch in den Materialien findet sie einen hinreichenden Anklang.153 Einen festen Normenbestand des Wiederaufnahmerechts gab es bei Inkrafttreten des Grundgesetzes auch nicht; denn zu jener Zeit galt noch das Recht der Besatzungsmächte und zeitlich davor das NS-Recht, bei dem die Rechtskraftdurchbrechung für und gegen den Angeklagten vom „gesunden Volksempfinden“ abhängig gewesen war.154 Jenes Recht, das Willkürentscheidungen ermöglicht hatte, sollte nicht restauriert werden. § 362 RStPO wurde erst nach Inkrafttreten der Verfassung mit dem RVereinhG wieder eingeführt. Der Anknüpfungspunkt des vorverfassungsrechtlichen Normenbestandes erweist sich demnach auch als unbestimmt. Er würde schließlich ohne eine Änderung des Grundgesetzes keine Ausdehnung ___________ 147

Marxen/Tiemann, ZIS 2008, 188 (189 ff.). Dünnebier, in: Wasserburg u. a. (Hrsg.), Karl Peters-FG, 1984, S. 333 (345 ff.); Julio Maier, in: Dornseifer u. a. (Hrsg.), Armin Kaufmann-GS, 1989, S. 789 (793 f.). 149 BGHSt 3, 13 (15). 150 AK/Loos, StPO, 1996, § 362 Rn. 1; Weiler, in: Dölling/Duttge/Rössner (Hrsg.), HK-GS, StPO, 2008, § 362 Rn. 2; Ziemba (Fn. 140), S. 78; weitere Nachweise bei Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 545 (568 f.). 151 BVerfGE 3, 248 (252); BGHSt 3, 13 (16); 5, 323 (328). 152 Marxen/Tiemann, ZIS 2008, 188 (192). 153 Neumann, in: Müller-Dietz u. a. (Hrsg.), Heike Jung-FS, 2007, S. 655 (657 ff.). 154 Kniebühler, Transnationales „ne bis in idem“, 2005, S. 18 ff. 148

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der Wiederaufnahme des Verfahrens zu Ungunsten des Angeklagten ermöglichen. Das wirkt unerwünscht. Es muss also eine andere immanente Grundrechtsschranke geben, damit § 362 StPO mit Art. 103 Abs. 3 GG vereinbar ist und eine Erweiterung in Grenzen155 ermöglicht wird. Dazu wird meist auf die Schranke der Unerträglichkeit der Rechtskraft aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit verwiesen.156 Diese Grenze des Erträglichen sehen die Verfasser des Gesetzentwurfes für einen § 362 Nr. 5 StPO dann als überschritten an, wenn mit Hilfe der neuen zuverlässigen technischen Untersuchungsmethode der sichere Täterschaftsnachweis gegenüber dem Freigesprochenen in Fällen von Mord oder Völkermord ermöglicht wird. Dass Mord und Völkermord schwerstes Unrecht darstellen, ist unbezweifelbar. Doch kann es bei einer aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten Schranke des Prozessgrundrechts auf ein „ne bis in idem“, das ein Verfahrenshindernis begründet, nicht auf das Prozessergebnis ankommen. Die Betonung der materiellen Gerechtigkeit führt in die Irre, denn der Freispruch eine Angeklagten bei Vorliegen von Zweifeln an der Täterschaft „in dubio pro reo“ ist ungeachtet der Schwere des Vorwurfes nicht ungerecht. Sicherheit über die Frage der Täterschaft und der Schuld, von welcher der Entwurf ausgeht,157 kann nach der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK nicht vor dem Urteil bestehen. Auf den Grad der Wahrscheinlichkeit der Richtigkeit der vorangegangenen Verdachtshypothese, der nach § 370 StPO-Entwurf in der Novelle auf den Grad des dringenden Tatverdachts angehoben werden soll und nach dem Vorstellungsbild der Entwurfsverfasser wegen der hohen Zuordnungswahrscheinlichkeit der Genanalyse noch darüber hinausgeht, kann es danach nicht ankommen. Auch die Schwere des Vorwurfes,158 ist deshalb kein relevantes Kriterium. Wenn Art. 103 Abs. 3 GG, wie jedes Prozessgrundrecht, aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet sein soll, wenn es aber zugleich auch seine Wurzel im Gebot der Achtung der Menschenwürde hat und wenn schließlich aus dem Rechtsstaatsgrundsatz in Verbindung mit den Grundrechten, insbesondere dem Freiheitsrecht, auch ein Anspruch auf Fairness im Verfahren abzuleiten ist, dann kann die immanente Grundrechtsschranke nur in Wiederaufnahmegründen liegen, welche die Rechtssicherheit der Person vor erneuter Verfolgung wegen solcher Verfahrenslagen aufheben, bei denen ein Vertrauen des Freigesprochenen in den Bestand des freisprechenden Urteils nicht gerechtfertigt erscheint.159 § 362 ___________ 155

Ziemba (Fn. 140), S. 154 ff. Jarass/Pieroth, GG, 9. Aufl., Art. 103 Rn. 46; Nolte, in: von Mangoldt/Klein, GG, 4. Aufl., Art. 103 Abs. 3 Rn. 221; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, 2. Aufl., Art. 103 III Rn. 35. 157 BT-Drucks. 16/7957 S. 6 f. 158 Jürgen Meyer, Wiederaufnahmereform, 1977, S. 83 ff. 159 Grünewald, ZStW 120 (2008), S. 545 (574 ff.). 156

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Ralf Eschelbach

StPO in seiner bisherigen Fassung knüpft daran an und in dieser Linie wäre er zu erweitern. Der Zufall, dass nachträglich neue Untersuchungstechniken entwickelt und wissenschaftlich anerkannt werden, die bessere Erkenntnismöglichkeiten gestatten, ist kein solcher Fall. Anders läge es etwa bei der Nötigung eines Belastungszeugen zur Falschaussage durch den Beschuldigten mit der Folge, dass dieser freigesprochen wird und § 362 Nr. 2 StPO nicht eingreift, da der im Nötigungsnotstand handelnde Zeuge sich selbst nicht strafbar gemacht hat.160 Auf diesen Fall hat der Gesetzgeber nicht reagiert, weil er die prozessuale Unerträglichkeit nicht verspürt hat. Auf einen Mordfall soll er reagieren. Das ist zu überdenken. Im Ganzen bedürfen die Prozessgrundrechte aus Art. 19 Abs. 4,161 103 Abs. 3 GG noch genauerer Untersuchung.

___________ 160

KG JZ 1997, 629 f. mit Anm. Marxen; Loos, in: Amelung u. a. (Hrsg.), SchreiberFS, 2005, S. 277 ff. 161 Haas (Fn. 94), S. 408.

Das Verbot der Rügeverkümmerung in der obergerichtlichen Rechtsprechung Von Rainer Gemählich Nach einer über 125-jährigen – nahezu ununterbrochenen – Rechtsprechungstradition der deutschen Revisionsgerichte durfte einer von einem Revisionsführer in einer Strafsache ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge nicht durch eine nachträgliche Protokollberichtigung die Tatsachengrundlage entzogen werden. Dies galt auch dann, wenn sich im Nachhinein zweifelsfrei ergeben hatte, dass ein Verfahrensfehler objektiv überhaupt nicht vorgelegen hatte, sondern nur fehlerhaft protokolliert war. Bereits seit dem Jahre 1880 haben das Reichsgericht1 und ihm folgend der Bundesgerichtshof2 unter ganz überwiegender Zustimmung des Schrifttums3 die Auffassung vertreten, dass einem Beschwerdeführer, der von der Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls ausgehen müsse, der Erfolg einer auf das Protokoll gestützten Rüge nicht vereitelt werden dürfe (Verbot der Rügeverkümmerung), weswegen spätere Erklärungen, die dem für die erhobene Rüge entscheidenden Punkt die tatsächliche Grundlage entziehen würden, vom Rechtsmittelgericht nicht zu berücksichtigen seien. Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat diese Rechtsprechung mit Beschluss vom 23.4.20074 aufgegeben und entschieden, dass durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls auch zum Nachteil des Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden darf. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Änderung der Rechtsprechung mit Beschluss vom 15.1.20094a gebilligt und festgestellt, dass die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Frage der Rügeverkümmerung die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung wahrt. ___________ 1 RGSt 2, 76; 13, 351; 19, 367; 21, 200; 43, 1; 63, 408; 68, 244; anders allerdings RGSt 70, 241. 2 BGHSt 2, 125; 10, 145; 12, 270; BGH StV 1985, 135. 3 Löwe, StPO, 3. Aufl. 1882, § 271 Anm. 5; LR-Gollwitzer, StPO, 25. Aufl. 2001, § 271 Rn. 55; Meyer-Goßner, StPO, 50. Aufl. 2007, § 271 Rn. 26; KK-Engelhardt, StPO, 4. Aufl. 1999, § 271 Rn. 26; KMR-Müller, StPO, Stand: Juli 2006, § 271 Rn. 30; jeweils mit weiteren Nachweisen. 4 BGH(GS)St 51, 298. 4a BVerfG NJW 2009, 1469.

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I. Die bisherige Rechtsprechung des Reichsgerichts und des Bundesgerichtshofs 1. Bereits in der frühen Rechtsprechung des Reichsgerichts5 findet sich aufbauend auf der Judikatur der preußischen Obergerichte6 der Rechtssatz, dass eine nachträgliche Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Verfahrensrüge nicht den Boden entziehen dürfe. In einem Strafverfahren hatte das Landgericht seine Entscheidung auf eine Urkunde gestützt, deren Verlesung im ursprünglichen Hauptverhandlungsprotokoll nicht beurkundet war. Die Urkundspersonen – Vorsitzender und Urkundsbeamter der Geschäftsstelle – hatten das Protokoll nach Eingang der Revisionsbegründung mit einem Zusatz ergänzt, nach dem die Urkunde verlesen worden sei.7 Der 1. Strafsenat des Reichsgerichts leitete in einem Urteil vom 31.5.18808 die Unzulässigkeit der Ergänzung des Hauptverhandlungsprotokolls nach Anbringung eines Rechtsmittels in Beziehung auf die darin gerügten Mängel unmittelbar aus § 274 StPO her. Er vertrat die Auffassung, dass nur dasjenige Protokoll, welches zur Zeit der Anfechtung vorhanden sei und auf welches sich die Anfechtung stütze, hinsichtlich der gerügten Mängel als die jeden Gegenbeweis – mit Ausnahme des Falles der Fälschung – ausschließende Beweisurkunde angesehen werden könne. Ein erst nachher, infolge der Anfechtung verfasstes Ergänzungsprotokoll stelle sich als vom Gesetz für unstatthaft erklärtes Gegenbeweismittel dar.9 2. Fast 30 Jahre später befassten sich die vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts in einem Beschluss vom 13.10.1909 eingehend mit der Frage, ob die Berichtigung des Hauptverhandlungsprotokolls vom Revisionsgericht zu berücksichtigen sei, wenn sie nach erhobener Prozessrüge zu deren Ungunsten vorgenommen worden ist.10 Die vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts stellten in dieser Entscheidung fest, dass die Vorschriften der Strafprozessordnung zur Errichtung und Abfassung des Hauptverhandlungsprotokolls über die zu entscheidende Frage keinen ausdrücklichen Aufschluss geben. Aus der durch § 274 StPO verliehenen Eigenschaft des Protokolls als eines ausschließlichen, unwiderleglichen Beweismittels ergebe sich, dass durch das Hauptverhandlungsprotokoll – von den in der Praxis kaum vorkommenden Fällen nachweisbarer Fälschung abgesehen – gewissermaßen ein Sachverhalt geschaffen werde, der kraft gesetzlicher Vorschrift ohne Rücksicht auf den wirklichen Sachverhalt als Tatsache zu behandeln sei.11 Die vereinigten Strafsenate sahen ___________ 5

RGSt 2, 76. Dazu RGSt 43, 1 (5). 7 RGSt 2, 76 (77). 8 RGSt 2, 76. 9 RGSt 2, 76 (78). 10 RGSt 43, 1. 11 RGSt 43, 1 (6). 6

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dabei auch die Möglichkeit des Missbrauchs einer prozessrechtlichen Befugnis zu tatsächlich wahrheitswidrigen Zwecken und das darin liegende Spannungsverhältnis zur Verwirklichung des materiellen Rechts.12 Aus der Struktur des Revisionsrechts, das Beweiserhebungen über die Richtigkeit prozessrechtlicher Tatsachen bewusst nicht zulasse und insoweit Beweiserhebungen in der Revisionsinstanz von Gesetzes wegen abschneide, zogen sie den Schluss, dass aus dem vom Gesetz zu verlangenden Streben nach Wahrheit kein Grund für die unbeschränkte Zulässigkeit von Protokollnachträgen entnommen werden könne.13 Letztlich stützten die vereinigten Strafsenate des Reichsgerichts ihre Auffassung auch auf den Grundsatz der prozessualen Fairness, wenn dem Beschwerdeführer ein prozessuales Recht auf unveränderte Beibehaltung der Grundlage seiner Rüge für die Revisionsinstanz eingeräumt wurde. Der Beschwerdeführer müsse sich über die Anbringung oder Nichtanbringung einer Prozessrüge und die hierfür maßgebenden Tatsachen innerhalb der ihm gesetzten Frist Klarheit verschaffen. Es könne nicht dem Willen des Gesetzes entsprechen, dass es den Urkundspersonen unbeschränkt – auch nach Ablauf jeder Frist – gestattet sein sollte, einen im Protokoll beurkundeten Sachverhalt, nachdem sich der Beschwerdeführer für seine Zwecke bereits darauf berufen hatte, noch mit der Beweiskraft des § 274 StPO zu ändern.14 3. Diese ständige Rechtsprechung war lediglich kurzzeitig zwischen 1936 und 1951 unterbrochen. Der Große Senat für Strafsachen des Reichsgerichts gab mit Beschluss vom 11.7.1936 die bisherige Rechtsprechung des Reichsgerichts auf und entschied, dass das Revisionsgericht eine Berichtigung der Sitzungsniederschrift auch dann zu berücksichtigen habe, wenn sie nach Erhebung einer Verfahrensrüge zu deren Ungunsten vorgenommen war.15 Der Große Senat für Strafsachen sah dabei durchaus noch, dass bei der Berichtigung einer Niederschrift, insbesondere wenn seit der Hauptverhandlung geraume Zeit vergangen ist, die Erinnerung der Urkundspersonen an den Hergang der Verhandlung bereits stark verblasst sein könne.16 Ohne sich mit den dogmatischen Grundlagen der bisherigen Rechtsprechung des Reichsgerichts auseinander zu setzen, verwies der Große Strafsenat darauf, dass heute – 1936 (!) – der Gedanke in den Vordergrund gerückt sei, dass es Aufgabe des Strafverfahrens sei, „mit möglichster Beschleunigung der Wahrheit und Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen und dass sich daraus für die Rechtsprechung die Pflicht ergebe, dem Fortgang des Verfahrens keine Hindernisse zu bereiten, die sich ___________ 12

RGSt 43, 1 (7). RGSt 43, 1 (8). 14 RGSt 43, 1 (9). 15 RGSt 70, 241. 16 RGSt 70, 241 (242). 13

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nicht unmittelbar aus dem Gesetz ergeben“.17 Der Große Senat für Strafsachen des Bundesgerichtshofs hat in seinem Beschluss vom 23.4.2007 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Entscheidung im Hinblick auf im Zusammenhang mit nationalsozialistischem Gedankengut stehende Formulierungen keine Beachtung finden darf.18 4. Der Bundesgerichtshof kehrte mit einem Urteil des 3. Strafsenats vom 19.12.195119 wieder zu der ursprünglichen Rechtsprechung des Reichgerichts zurück. Anlass der Entscheidung war die Behauptung eines Revisionsführers, dass das Landgericht eine als Zeugin vernommene Angehörige des Angeklagten vereidigt hatte, ohne sie – ausweislich des Protokolls – über ihr Eidesverweigerungsrecht belehrt zu haben. Auch in diesem Fall hatten die Urkundspersonen das Protokoll nach Eingang der Revisionsbegründung dahin berichtigt, dass die Zeugin über ihr Eidesverweigerungsrecht belehrt worden sei.20 Der Bundesgerichtshof stützte die Rückkehr zur früheren reichsgerichtlichen Rechtsprechung auf die Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO. Nach dieser Vorschrift liefere das Protokoll als ausschließliches Beweismittel den vollen und unwiderleglichen Beweis für die Beachtung der für die Hauptverhandlung vorgeschriebenen Förmlichkeiten. Sein Inhalt sei bis zum Nachweis der Fälschung, der so gut wie nie in Betracht komme, als wahr zugrunde zu legen. Selbst der Inhalt des Urteils sei nicht geeignet, das Protokoll zu widerlegen oder zu ergänzen, soweit es den Beweis zu liefern bestimmt sei.21 Wenn der Beschwerdeführer die im Protokoll wiedergegebenen Tatsachen als Anfechtungsgrundlage in Anspruch genommen habe, könne ihm die dadurch erlangte Rechtsstellung durch eine nachträgliche Protokollberichtigung nicht mehr entzogen werden. Die außergewöhnliche Beweiskraft der Sitzungsniederschrift habe zur Folge, dass kein Prozessbeteiligter sich auf einen tatsächlich unterlaufenen Verfahrensfehler berufen könne, wenn er sich nicht aus dem Protokoll ergebe. Der Beschwerdeführer habe so gut wie keine Möglichkeit, eine Berichtigung der Niederschrift zu erzwingen. Umgekehrt müsse dann auch dem Beschwerdeführer das Recht eingeräumt werden, einen aus dem Protokoll ersichtlichen – in Wirklichkeit nicht vorliegenden – Mangel zur Begründung seines Rechtsmittels zu verwerten, und er müsse auch gegen eine nachträgliche Beseitigung des Mangels durch Protokollberichtigung gesichert sein.22 Darüber hinaus sah der Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung die Gefahr, dass die Möglichkeit der jederzeitigen Änderbarkeit des Protokolls dazu führen könne, ___________ 17

RGSt 70, 241 (243). BGH(GS)St 51, 298 (304). 19 BGHSt 2, 125. 20 BGHSt 2, 125. 21 BGHSt 2, 125 (126). 22 BGHSt 2, 125 (127). 18

Das Verbot der Rügeverkümmerung in der obergerichtlichen Rechtsprechung 229

dass auf seine Herstellung weniger Sorgfalt verwendet werde. Der Gedanke, dass das Revisionsgericht dann unter Umständen seiner Entscheidung einen unzutreffenden Sachverhalt zugrunde zu legen habe, könne nicht durchgreifen. Der Bundesgerichtshof legte § 274 StPO in dieser Entscheidung dahin aus, dass es sich dabei um eine aus Zweckmäßigkeitserwägungen getroffene Verfahrensregelung handele, bei der es nicht darauf ankomme, ausschließlich den Gedanken zu berücksichtigen, dass der Protokollinhalt den tatsächlichen Geschehnissen in der Hauptverhandlung entspreche. Vielmehr solle durch die Niederschrift ein Sachverhalt geschaffen werden, der für die Beteiligten und das Revisionsgericht eine geeignete Grundlage biete.23 Als weiteren wesentlichen Gesichtspunkt, der gegen die Zulassung einer nachträglichen Protokollberichtigung spricht, sah der Bundesgerichtshof in dieser Entscheidung das infolge Zeitablaufs eintretende Nachlassen des Gedächtnisses der Urkundspersonen, die damit verbundene Unsicherheit der Erkenntnis, was sich in der Hauptverhandlung wirklich ereignet habe, und die naheliegende Gefahr, dass aufgrund eines Irrtums eine Berichtigung vorgenommen werde, gegen die der Beschwerdeführer im Ergebnis wehrlos sei.24 5. Diese Rechtsprechung hielt der Bundesgerichtshof trotz eines gelegentlichen Unbehagens über viele Jahre aufrecht25. Im Jahr 2005 sprachen sich der 1. und der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs – in obiter dicta – für die Aufgabe des Verbots der Rügeverkümmerung aus.26 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs wies in einem Urteil vom 11.8.200627 unter Berufung auf ein allgemeines, ungeschriebenes Missbrauchsverbot im Strafprozess eine bewusst unwahre Verfahrensrüge als rechtsmissbräuchlich zurück. Nach einem erstinstanzlichen Staatsschutzverfahren vor dem Oberlandesgericht war in der Revisionsbegründung beanstandet worden, ein Angeklagter sei am 126. Sitzungstag ab 11.14 Uhr nicht verteidigt gewesen, weil das Protokoll dieses Tages vermerkt habe: „11.14 Rechtsanwältin St. verlässt Sitzungssaal“. Nachdem die Gerichtspersonen und der Vertreter der Bundesanwaltschaft dienstliche Erklärungen abgegeben hatten, nach denen die Verteidigerin den Sitzungssaal nicht nur nicht verlassen, sondern sich aktiv durch Fragen an der in der Sitzung durchgeführten Zeugenvernehmung beteiligt hatte, wurde das Protokoll durch die Urkundspersonen dahin berichtigt, dass die Eintragung „11.14 Rechtsanwältin St. verlässt Sitzungssaal“ gestrichen wurde.28 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs vertrat in dieser Entscheidung die Auffassung, im Straf___________ 23

BGHSt 2, 125 (128). BGHSt 2, 125 (129). 25 Tepperwien, in: Eser u. a. (Hrsg.), Meyer-Goßner-FS, 2001, S. 595. 26 BGH NStZ 2006, 181; NStZ 2005, 281. 27 BGHSt 51, 88. 28 BGHSt 51, 88 (90). 24

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prozess gelte – ebenso wie in anderen Prozessordnungen – ein allgemeines Missbrauchsverbot.29 Ein Missbrauch prozessualer Rechte sei dann anzunehmen, wenn ein Verfahrensbeteiligter die ihm durch die Strafprozessordung eingeräumten Möglichkeiten zur Wahrung seiner verfahrensrechtlichen Belange benutze, um gezielt verfahrensfremde oder verfahrenswidrige Zwecke zu verfolgen. Einen solchen Rechtsmissbrauch begehe auch ein Beschwerdeführer, der in einer Verfahrensrüge einen Verfahrensverstoß behaupte, obwohl er sicher wisse, dass sich dieser nicht ereignet habe.30 Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs war der Meinung, dass die Entscheidungen RGSt 43, 1 und BGHSt 2, 125 seiner Auffassung nicht entgegenstünden, weil sie sich ausdrücklich nur mit der Frage befassten, ob einer Verfahrensrüge durch eine Protokollberichtigung der Boden entzogen werden könne, nicht aber mit der Zulässigkeit einer bewusst „unwahren Protokollrüge“.31 6. Mit Vorlagebeschluss vom 23.8.200632 legte der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs dem Großen Senat für Strafsachen gemäß § 132 Abs. 2 und 4 GVG die Rechtsfrage zur Entscheidung vor, ob die Beweiskraft (§ 274 StPO) des berichtigten Protokolls für das Revisionsgericht auch dann beachtlich sei, wenn aufgrund einer Protokollberichtigung hinsichtlich einer vom Angeklagten zulässig erhobenen Verfahrensrüge zu Ungunsten des Angeklagten die maßgebliche Tatsachengrundlage entfalle. Die Revision hatte in diesem Verfahren unter Berufung auf das Hauptverhandlungsprotokoll die Nichtverlesung des Anklagesatzes als Verstoß gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO gerügt. Auf der Grundlage dienstlicher Erklärungen der Gerichtspersonen und des Vertreters der Staatsanwaltschaft war die Sitzungsniederschrift nachträglich durch den Einschub „Der Vertreter der StA verlas den Anklagesatz“ ergänzt worden. Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs wollte unter Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung entscheiden, dass die formelle Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO uneingeschränkt auch dann gelte, wenn eine Protokollberichtigung einer bereits erhobenen Rüge zum Nachteil des Angeklagten die Tatsachengrundlage entziehe.33 Die Vorlage an den Großen Strafsenat des Bundesgerichtshofs war erforderlich, weil zwar der 2. und der 3. Strafsenat der vom 1. Strafsenat vertretenen Rechtsansicht unter Aufgabe ihrer bisherigen Rechtsprechung zustimmten34, der 4. und der 5. Strafsenat aber an der bisherigen Rechtsprechung festhalten wollten.35 ___________ 29

BGHSt 51, 88 (92). BGHSt 51, 88 (93). 31 BGHSt 51, 88 (96). 32 BGH NJW 2006, 3582. 33 BGH NStZ-RR 2006, 112. 34 BGH NStZ-RR 2006, 275; BGH vom 22.2.2006 – 3 ARs 1/06. 35 BGH NStZ-RR 2006, 273; BGH vom 9.5.2006 – 5 ARs 13/06. 30

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II. Der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen des Bundesgerichtshofs vom 23.4.2007 1. Der Große Senat für Strafsachen hat mit Beschluss vom 23.4.2007 unter ausdrücklicher Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung entschieden, dass durch eine zulässige Berichtigung des Protokolls auch zum Nachteil eines Beschwerdeführers einer bereits ordnungsgemäß erhobenen Verfahrensrüge die Tatsachengrundlage entzogen werden kann.36 Für das dabei zu beachtende Verfahren hat der Große Senat für Strafsachen folgende Regeln aufgestellt: a) Die Urkundspersonen haben in einem solchen Fall vor einer beabsichtigten Protokollberichtigung zunächst den Beschwerdeführer anzuhören. b) Widerspricht er der beabsichtigten Berichtigung substantiiert, sind erforderlichenfalls weitere Verfahrensbeteiligte zu befragen. c) Halten die Urkundspersonen trotz des Widerspruchs an der Protokollberichtigung fest, ist ihre Entscheidung hierüber mit Gründen zu versehen. d) Die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung unterliegt im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht. Im Zweifel gilt insoweit das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung.37 Der bisherige Grundsatz, wonach einer zulässig erhobenen Verfahrensrüge durch eine Protokollberichtigung nicht die Tatsachengrundlage zum Nachteil des Beschwerdeführers entzogen werden durfte, hat nach Ansicht des Großen Senats für Strafsachen auf Rechtsprechung beruht und konnte deshalb auch durch Rechtsprechung geändert werden.38 Die Annahme, durch Eingang der Revisionsbegründung werde ein besonderes prozessuales Recht auf Beibehaltung der Tatsachengrundlage für eine Rüge begründet, finde im Gesetz keine Stütze. Der Revisionsführer habe keinen Anspruch darauf, aus tatsächlich nicht gegebenen Umständen Verfahrensvorteile abzuleiten. Ein etwaiges Vertrauen des Beschwerdeführers dahingehend, dass ein – inhaltlich unrichtiges – Protokoll für die Revisionsinstanz allein beachtlich bleibe, sei nicht schützenswert und könne auch nicht auf das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf effektiven Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) gestützt werden.39 Verfahrensrechte könnten nur durch den tatsächlichen Verfahrensverlauf verletzt werden. Da auch die Revisionsgerichte der Wahrheit verpflichtet seien, müsse grundsätzlich der wahre Sachverhalt, wie er sich zugetragen habe, maßgeblich sein, wenn prozessual erhebliche Tatsachen aus der tatrichterlichen Hauptverhandlung der ___________ 36

BGH(GS)St 51, 298. BGH(GS)St 51, 298. 38 BGH(GS)St 51, 298 (308). 39 BGH(GS)St 51, 298 (309). 37

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Klärung bedürften. Die Beweisregel des § 274 StPO schaffe keinen von der objektiven Wahrheit abweichenden Wahrheitsbegriff.40 Zur Begründung der Rechtsprechungsänderung hat sich der Große Senat für Strafsachen darüber hinaus auf das Beschleunigungsgebot und den Gesichtspunkt des Opferschutzes berufen. Nach der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sei die durch ein Revisionsverfahren bedingte Verfahrensdauer bei der Berechnung der Überlänge eines Verfahrens immer dann zu berücksichtigen, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient habe.41 Schließlich gebiete es auch der Opferschutz, ein Urteil nicht allein wegen eines fiktiven – unwahren – Sachverhalts aufzuheben. Liege tatsächlich kein Verfahrensfehler vor und sei das Urteil auch sachlich-rechtlich nicht zu beanstanden, sei es nicht gerechtfertigt, Opferzeugen einer weiteren konfrontativen Vernehmung zu unterziehen.42 Weiter hat der Große Senat für Strafsachen Anlass für eine Änderung der bisherigen Rechtsprechung in einer veränderten Einstellung der Strafverteidiger zu der Praxis gesehen, Verfahrensrügen auf unwahres Vorbringen zu stützen. Die grundlegende Entscheidung des Bundesgerichtshofs zum Verbot der Rügeverkümmerung43 sei zu einer Zeit ergangen, in der die vom Verteidiger bewusst wahrheitswidrig erhobene Verfahrensrüge nach verbreiteter Ansicht als standeswidrige Verfehlung gegolten habe. Heute werde es hingegen schon als „anwaltlicher Kunstfehler“ bezeichnet, sich eines Fehlers im Protokoll jedenfalls nicht in der Weise zu bedienen, dass ein anderer Verteidiger die Revision begründet. In seiner Entscheidung zur Unzulässigkeit der Protokollrüge44 sei der Bundesgerichtshof davon ausgegangen, dass das Erfordernis der bestimmten Behauptung eines Verfahrensfehlers dazu führe, dass der Verteidiger auch die Verantwortung für die Geltendmachung eines Verfahrensmangels übernehme. Der Große Senat für Strafsachen hat die mit der Rechtsprechung zur Unzulässigkeit der Protokollrüge verknüpfte Hoffnung, auf diese Weise – insbesondere durch Appell an das Gewissen des die Revision begründenden Verteidigers – bewusst unwahre Revisionsrügen zu verhindern, durch die veränderte Einstellung auf Seiten der Strafverteidiger enttäuscht gesehen.45 Letztlich hat der Große Senat für Strafsachen auch die Notwendigkeit der Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung unter dem Gesichtspunkt verneint, dass auf diese Weise die Tatgerichte zum Einhalten der Vorschriften über die ___________ 40

BGH(GS)St 51, 298 (310). BVerfG NJW 2003, 2897; 2006, 672. 42 BGH(GS)St 51, 298 (311). 43 BGHSt 2, 125. 44 BGHSt 7, 162. 45 BGH(GS)St 51, 298 (313). 41

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Protokollführung anzuhalten wären. Ein Protokoll, das offensichtlich unsorgfältig geführt werde, verliere von vorneherein jede Beweiswirkung und die Revisionsgerichte klärten im Freibeweisverfahren, ob ein Verfahrensfehler vorliege.46 Die Berichtigung setze bei den Urkundspersonen sichere Erinnerung voraus. Fehle es hieran, könne das Protokoll nicht mehr berichtigt werden. Häufig könne eine Urkundsperson auch auf andere Unterlagen als Erinnerungsstütze zurückgreifen.47 Eine zusätzliche Gewähr für die Richtigkeit der nachträglichen Änderung der Sitzungsniederschrift und die Wahrung des verfassungsrechtlich verbürgten Anspruchs des Angeklagten auf ein faires Verfahren hat der Große Senat für Strafsachen in den in der Entscheidung aufgestellten Verfahrensgrundsätzen für eine Protokollberichtigung gesehen.48 2. Aufgrund der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 23.4.200749 verwarf der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs mit Beschluss vom 23.8.200750 die Revision des Beschwerdeführers gemäß § 349 Abs. 2 StPO als unbegründet. Die Rüge eines Verstoßes gegen § 243 Abs. 3 Satz 1 StPO erweise sich auf der Grundlage des Beschlusses des Großen Strafsenats vom 23.4.2007 als unbegründet. Ausweislich des berichtigten Protokolls sei die Verlesung des Anklagesatzes bewiesen (§ 274 StPO). Die Protokollberichtigung sei entsprechend den Vorgaben des Großen Senats für Strafsachen zustande gekommen. Die mit der Durchführung des Vorlageverfahrens verbundene Verfahrensverlängerung um rund 1 ½ Jahre sei nicht rechtsstaatswidrig. Die Rüge der Verletzung formellen Rechts sei bewusst auf eine tatsächlich unwahre Grundlage gestützt worden. Auch nach der Berichtigung habe der Beschwerdeführer die auf eine Verletzung des § 243 Abs. 3 Satz 2 StPO gestützte Verfahrensrüge aufrechterhalten. Diese Vorgehensweise möge anders ehedem als legitim angesehen werden. Die damit verbundene Verzögerung des Verfahrens habe der Beschwerdeführer selbst zu verantworten. 3. Eine vom Beschwerdeführer gegen den Revisionsverwerfungsbeschluss des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 23.8.2007 erhobene Verfassungsbeschwerde hat der 2. Senat des Bundesverfassungsgerichts mit Beschluss vom 15.1.200950a zurückgewiesen. Der angegriffene Revisionsverwerfungsbeschluss wahrt nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts die verfassungsrechtlichen Grenzen der richterlichen Rechtsfindung und verletzt den Beschwerdeführer daher nicht in seinem Recht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 GG. ___________ 46

BGH(GS)St 51, 298 (314). BGH(GS)St 51, 298 (315). 48 BGH(GS)St 51, 298 (316). 49 BGHSt 51, 298. 50 BGH NStZ 2007, 719. 50a BVerfG NJW 2009, 1469. 47

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III. Reaktionen auf die Rechtsprechungsänderung im Schrifttum Der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 23.4.2007 ist ebenso wie bereits das Urteil des 3. Strafsenats vom 11.8.200651 und der Vorlagebeschluss des 1. Strafsenats vom 23.8.200652 im Schrifttum ganz überwiegend ablehnend aufgenommen worden.53 Die Kritik des Schrifttums setzt insbesondere daran an, dass der Große Senat für Strafsachen sich nicht ausreichend mit den inhaltlichen Argumenten der bisherigen Rechtsprechung auseinandergesetzt, die auf § 274 StPO beruhende absolute Beweiskraft des Hauptverhandlungsprotokolls entwertet und damit die Förmlichkeit und Bestimmtheit des Verfahrensrechts relativiert habe.54 Der Große Senat für Strafsachen habe sich in unzulässiger Weise als Gesetzgeber betätigt.55 Die Entscheidung berücksichtige nicht, dass eine verlässliche und zweifelsfreie Rekonstruktion einzelner Prozessvorgänge aus einer möglicherweise viele Monate zurückliegenden Hauptverhandlung kaum möglich sei.56 Das Freibeweisverfahren sei ungeeignet, im Nachhinein den tatsächlichen Verlauf der Hauptverhandlung, insbesondere durch die Erholung dienstlicher Erklärungen der beteiligten Richter und Staatsanwälte, festzustellen, weil die Gefahr nicht auszuschließen sei, dass in solchen Fällen unbewusst oder bewusst Erinnerungsdefizite mit Erfahrungswissen aufgefüllt würden.57 Mit der Möglichkeit der unbefristeten Protokollberichtigung werde der Schutz des Beschwerdeführers vernachlässigt und das ohnehin schon zum Nachteil des Revisionsführers bestehende Ungleichgewicht noch zusätzlich verstärkt.58 Die neue Rechtsprechung toleriere und prämiere Amtspflichtverletzungen durch die Urkundspersonen.59 Die vom Großen Strafsenat vor___________ 51

BGHSt 51, 88. BGH NJW 2006, 3582. 53 Beulke, in: Schöch u. a. (Hrsg.), Böttcher-FS, 2007, S. 17; Fezer, StV 2006, 287; Fezer, in: Dannecker u.a. (Hrsg.), Otto-FS, 2007, S. 901: Gaede, HRRS 2006, 409; Hamm, NJW 2007, 3166; Holländer, JR 2007, 6; Krawczyk, HRRS 2006, 344; Jahn/Widmaier, JR 2006, 166; Kudlich, BLJ 2007, 125; JA 2007, 154; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, § 271 Rn. 26; Mikolajczyk, ZIS 2006, 541; Schumann, JZ 2007, 927; Wagner, GA 2008, 442; Widmaier, NJW 2006, 3587; zustimmend: KKEngelhardt, StPO, 6. Aufl. 2008, Rn. 18; KMR-Gemählich, StPO, Stand: Dezember 2008, § 271 Rn. 27; Fahl, JR 2007, 34; JR 2007, 345; Lampe, NStZ 2006, 366. 54 Fezer, in: Otto-FS (Fn. 53), S. 901(911); Kudlich, BLJ 2007, 125 (129); Schuhmann, JZ 2007, 927 (935); Wagner, GA 2008, 442 (444). 55 Gaede, HRRS 2006, 409 (411); Holländer, JR 2007, 6 (8); Jahn/Widmaier, JR 2006, 166 (169); Wagner, GA 2008, 443 (453). 56 Krawczyk, HRRS 2006, 344 ( 353); Jahn/Widmaier, JR 2006, 166. 57 Beulke, in: Böttcher-FS (Fn. 53) S. 22; Gaede, HRRS 2006, 409 (412); Jahn/Widmaier, JR 2006, 166 (167); Wagner, GA 2008, 443 (450). 58 Fezer, StV 2006, 287; Gaede, HRRS 2006, 409 (412). 59 Wagner, GA 2008, 442 (462). 52

Das Verbot der Rügeverkümmerung in der obergerichtlichen Rechtsprechung 235

genommene Auslegung des § 274 StPO verfehle das von Verfassungs wegen (Art. 19 Abs. 4 GG) auch in der Revisionsinstanz geforderte Anliegen eines wirksamen und effektiven Rechtsschutzes.60 Die in der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen für die Rechtsprechungsänderung genannten Aspekte des Beschleunigungsgrundsatzes und des Opferschutzes fänden ihre Grenzen im positiven Rechtsmittelrecht.61 Das in der Entscheidung als Begründung weiter eingeführte Argument der angeblich gesunkenen Anwaltsmoral sei ohne jede rechtstatsächliche Fundierung in den Raum gestellt.62

IV. Bewertung der Einwände gegen die neue Rechtsprechung zur Rügeverkümmerung 1. Zunächst sollte – insbesondere nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 15.1.2009 – in der Diskussion außer Streit gestellt werden, dass sich unmittelbar aus dem Gesetz – insbesondere auch aus § 274 StPO – für die Frage der Zulässigkeit der Protokollberichtigung nach bereits erhobener Verfahrensrüge nichts ergibt, und die Klärung dieser Frage deshalb durch die Rechtsprechung möglich ist.63 Die Motive erwähnen den Fall der nachträglichen Protokollberichtigung – den Fall also, in dem die Urkundspersonen die Vorgänge in der Hauptverhandlung wahrgenommen haben und sich hieran auch erinnern – nicht. Sie sprechen lediglich von „Vorgängen, welche der Aufmerksamkeit der Gerichtsmitglieder in der Hauptverhandlung entgangen sind“ bzw. „in der Hauptverhandlung vorfallen konnten, ohne von einem der Mitwirkenden oder Beteiligten bemerkt zu werden“ und gehen davon aus, dass solche Vorgänge in der Regel auch nachträglich nicht mit Zuverlässigkeit festgestellt werden können.64 Die Bestimmung zielt somit nicht auf den Schutz des Angeklagten vor Eingriffen in einen durch das ursprüngliche Protokoll geschaffenen prozessualen Besitzstand. Vielmehr stand dem Gesetzgeber eine Fallgestaltung vor Augen, in der die gesetzlich vorgesehene Beweiskraft des Protokolls gerade zu Lasten des Angeklagten geht, nämlich der Fall eines tatsächlich vorgekommenen, von den Urkundspersonen aber nicht bemerkten und daher nicht protokollierten Verfahrensfehlers. Beim Verbot der Rügeverkümmerung handelte es sich auch nicht um Gewohnheitsrecht, das aus diesem Grund einer Änderung durch die Rechtsprechung entzogen wäre. Gewohnheitsrecht entsteht durch ___________ 60

Jahn/Widmaier, JR 2006, 166 (169). Schumann, JZ 2007, 927 (933). 62 Hamm, NJW 2007, 3166 (3169). 63 BVerfG vom 15.1.2009 – 2 BvR 2044/07; RGSt 43, 1 (4); BGHSt 2, 125; Lampe, NStZ 2006, 366 (367); Fahl, JR 2007, 345 (346). 64 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Strafprozessordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben vom 1. Februar 1877, 1. Aufl. 1880, S. 258. 61

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eine längere tatsächliche Übung, die eine dauernde und ständige, gleichmäßige und allgemeine ist und von den Beteiligten als verbindliche Rechtsnorm anerkannt wird.65 Für die Entstehung von Gewohnheitsrecht bedarf es dabei der Bildung einer Rechtsüberzeugung in den beteiligten Kreisen – hier also der betroffenen Angeklagten und nicht etwa nur der Strafverteidiger. Unter Rechtsüberzeugung ist dabei nicht nur die Erwartung zu verstehen, das die Gerichte nach dieser Maxime verfahren werden, sondern darüber hinaus die Überzeugung, dass sie dies tun werden, weil es sich um eine sie bindende Norm handelt.66 Diese Voraussetzungen lagen ersichtlich nicht vor. Beim Verbot der Rügeverkümmerung handelte es sich um eine eher technische strafprozessuale Regelung, die außerhalb der revisionsrechtlichen Praxis selbst in juristischen Fachkreisen nur Wenigen geläufig war. In Kreisen der betroffenen Angeklagten dürfte das Verbot der Rügeverkümmerung – von seltenen Ausnahmen abgesehen – sogar völlig unbekannt gewesen sein. 2. Zu Recht wendet sich der Große Senat für Strafsachen auch gegen die Auffassung67, die Beibehaltung der bisherigen Rechtsprechung sei erforderlich, um die Tatgerichte zum Einhalten der Vorschriften über die Protokollführung anzuhalten.68 Nachträgliche Protokollberichtigungen hat die Rechtsprechung schon bisher – und zwar ohne zeitliche Beschränkung und mit Zustimmung des Schrifttums – für zulässig gehalten, ohne dass dadurch die Beweiskraft des Protokolls (§ 274 StPO) in Zweifel gezogen worden wäre.69 Dass also ab einem bestimmten Ereignis – Einreichung der Revisionsbegründung bei Gericht – schon allein deshalb eine auch für das Revisionsverfahren verbindliche Berichtigung nicht mehr möglich sein soll, steht zu dieser Rechtsprechung in einem auffälligen Widerspruch, wenn man von den Fällen absieht, in denen das Erinnerungsvermögen der für die Beurkundung zuständigen Gerichtspersonen ihrer Amtspflicht zur Berichtigung eines nachträglich als falsch erkannten Protokolls eine zeitliche Grenze setzt.70 Vielmehr genießt das berichtigte Protokoll die volle Beweiskraft des § 274 StPO.71 Der Ansatz der bisherigen Rechtspre___________ 65

BVerfGE 22, 114 (121); 28, 21 (28). Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 433. 67 Jahn/Widmaier, JR 2006, 166; Meyer-Goßner, DRiZ 1997, 471 (474); Park, StraFO 2004, 335 (342); StV 2005, 257 (259). 68 BGH(GS)St 51, 298 (314); zustimmend Fahl, JR 2007, 345 (348). 69 RGSt 19, 367 (370); BGHSt 2, 125; 10, 145; OLG Karlsruhe GA 1971, 216; KKEngelhardt, StPO, 6. Aufl. 2008, § 271 Rn. 18; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, § 271 Rn. 23; Fahl, JR 2007, 34 (35). 70 LR-Gollwitzer, StPO, 25. Aufl. 2001, § 271 Rn. 44. 71 RGSt 3, 47; 19, 367; 21, 200; KK-Engelhardt, StPO, 6. Aufl. 2008, § 271 Rn. 20; KMR-Gemählich, StPO, Stand: Dezember 2008, § 271 Rn. 25; LR-Gollwitzer, StPO, 25. Aufl. 2001, § 271 Rn. 54; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, § 271 Rn. 25; Fezer, StV 2006, 290 (292). 66

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chung72, dass durch das – ursprüngliche – Hauptverhandlungsprotokoll gewissermaßen ein Sachverhalt geschaffen werde, der kraft gesetzlicher Vorschrift – § 274 StPO – als Tatsache zu behandeln sei, ohne Rücksicht darauf, wie der richtige Sachverhalt liege, muss sich unter Berücksichtigung der Rechtsprechung zur Protokollberichtigung in sonstigen Fällen fehlende dogmatische Stringenz vorwerfen lassen. Es ist kaum überzeugend begründbar, warum die grundsätzliche Frage der Änderbarkeit des Protokolls von dem Zufall abhängen soll, ob in einer Strafsache bereits eine wirksame Verfahrensrüge angebracht wurde oder nicht. Vielmehr ist dem Großen Senat für Strafsachen darin zuzustimmen, dass dann, wenn prozessual erhebliche Fragen aus der tatrichterlichen Hauptverhandlung der Klärung bedürfen, grundsätzlich der wahre Sachverhalt, so wie er sich zugetragen hat, maßgeblich sein muss.73 Der grundsätzliche Übergang der Beweiskraft auf die berichtigte Protokollfassung steht nicht in Widerspruch zu Wortlaut und Sinn und Zweck der Vorschrift des § 274 StPO. Man wird den Großen Senat für Strafsachen auch nicht dahin missverstehen dürfen, dass in der Entscheidung eine generelle Relativierung des Beweiswertes des Protokolls im Interesse der materiellen Wahrheit gefordert wird.74 Insbesondere kann der Entscheidung nicht entnommen werden, dass die Möglichkeit der Berichtigung des Protokolls auf eine dem Revisionsrecht fremde Rekonstruktion der Hauptverhandlung hinausliefe.75 Die weitgehenden Folgen des § 274 StPO setzen vielmehr sogar voraus, dass alle Möglichkeiten genutzt werden, die materielle Richtigkeit des Hauptverhandlungsprotokolls zu gewährleisten. 3. Diskussionswürdig ist die Frage, ob der Revisionsführer entsprechend der bisherigen Rechtsprechung und Lehre durch seine im Vertrauen auf die Richtigkeit des Protokolls erhobene Verfahrensrüge eine schützenswerte Rechtsposition erlangt hat, die ihm aus Fairnessgründen durch eine nachträgliche Protokolländerung nicht mehr genommen werden darf.76 Mit dem Großen Senat für Strafsachen ist dem entgegen zu setzen, dass auch die Revisionsgerichte der Wahrheit verpflichtet sind und deshalb ein etwaiges Vertrauen des Beschwerdeführers dahingehend, dass ein – inhaltlich unrichtiges – Protokoll für die Revisionsinstanz allein beachtlich bleibt, nicht schützenswert ist.77 Die Beweisregel des § 274 StPO schafft keinen von der – objektiven – Wahrheit abweichenden Wahrheitsbegriff.78 Die zentrale und wohl auch richtige Botschaft der ___________ 72

RGSt 43, 1 (6). BGHSt 36, 354 (358); BGH(GS)St 51, 298 (309). 74 Lampe, NStZ 2006, 366 (367); a.A. Wagner, GA 2008, 442 (457). 75 Vgl. RGSt 43, 1 (8); Lampe, NStZ 2006, 366 (367). 76 Vgl. Fn. 1–3. 77 BGH(GS)St 51, 298 (309). 78 BGH(GS)St 51, 298 (310). 73

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Entscheidung des Großen Strafsenats lautet „Verfahrensrechte können nur durch den tatsächlichen Verfahrensverlauf verletzt worden sein“79. Der Gedanke, dass mit Eingang einer auf das Protokoll gestützten Verfahrensrüge ein – vorher nicht vorhandenes – subjektives Recht auf Aufrechterhaltung des falschen Scheins eines Verfahrensfehlers entsteht, lässt sich aus dem Wesen der Revision als einem formalisierten Rechtsbeschwerdeverfahren nicht herleiten.80. Die Vorstellung der bisherigen herrschenden Meinung, dass selbst aus einer unwahren Tatsachenbehauptung in der Verfahrensrüge eine aus Treu und Glauben abgeleitete Rechtsposition entstehen kann, ist der Rechtsordnung sonst eher fremd.81 Sowohl im Zivilprozess als auch im Verwaltungsstreitverfahren sowie im finanz- und sozialgerichtlichen Verfahren ist die Möglichkeit einer Protokollberichtigung anerkannt, auch wenn dadurch einer bereits erhobenen Verfahrensrüge die Grundlage entzogen wird.82 4. Das Schutzbedürfnis des Angeklagten, der seinerseits kaum die Möglichkeit hat, eine Berichtigung des Protokolls gegen die Urkundspersonen zu erzwingen, und der wegen der Beweiskraft des Protokolls seine Verfahrensrügen auf dessen Grundlage aufbauen muss, war ein weiteres gewichtiges Argument für die bisherige Rechtsprechung.83 Aus den Motiven ergibt sich aber gerade nicht, dass es sich bei § 274 StPO allein oder vorrangig um eine Schutzvorschrift zugunsten des Angeklagten oder Revisionsführers handelt, die Nachteile aus den strengen revisionsrechtlichen Form- und Fristerfordernissen ausgleichen soll. Aus den Motiven ergibt sich im Gegenteil, dass die Vorschrift des § 274 StPO vor allem dem Schutz des Verfahrens vor Missbrauch seitens des Angeklagten dient. Dem Angeklagten sollte die Möglichkeit genommen werden, „die Rechtsbeständigkeit des gegen ihn stattgehabten Verfahrens durch leere Ausflüchte für geraume Zeit infrage zu stellen.“84 Der Große Senat für Strafsachen will darüber hinaus die Interessen des Angeklagten durch die in der Entscheidung aufgestellten Verfahrensregeln bei einer beabsichtigten Protokolländerung berücksichtigen.85 Durch die Befragung weiterer Verfahrensbeteiligter und die Begründungspflicht der Protokollberichtigung im Falle des Widerspruchs des Beschwerdeführers wird jedenfalls die erforderliche Transparenz hergestellt, die den ungünstigen Eindruck vermeidet, es gehe dem Tat___________ 79

BGH(GS)St 51, 298 (309). Lampe, NStZ 2006, 366 (367). 81 Fahl, JR 2007, 345 (347); Lampe, NStZ 2006, 366 (367). 82 Vgl. § 164 Abs. 1 ZPO; § 173 VwGO; § 155 FGO; § 202 SGG; BGHZ 26, 340; BVerwG MDR 1981, 166. 83 BGHSt 2, 125 (127); LR-Gollwitzer, StPO, 25. Aufl. 2001, § 271 Rn. 55 m. w. Nachw. 84 Hahn, Die gesammelten Materialien zur Strafprozessordnung und dem Einführungsgesetz zu derselben vom 1. Februar 1877, 1. Aufl. 1880, S. 258. 85 BGH(GS)St 51, 298. 80

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gericht mit der Protokolländerung primär nur um die Verteidigung seines Urteils.86 5. Die bisherige Rechtsprechung hat auch das durch Zeitablauf erfahrungsgemäß nachlassende Erinnerungsvermögen der Urkundspersonen als Argument gegen die Zulassung rügevernichtender Protokolländerungen angeführt.87 Das Schrifttum hat diese Auffassung unter Hinweis auf das aus der Aussagepsychologie bekannte Phänomen unterstützt, nach dem mit der Gefahr gerechnet werden muss, dass Erinnerungslücken durch Rekurs auf standardisierte und regelentsprechende Geschehensabläufe konstruktiv geschlossen werden.88 Man wird dem Großen Senat für Strafsachen darin zustimmen müssen, dass in dem mit Zeitablauf grundsätzlich nachlassenden Erinnerungsvermögen der Urkundspersonen allein noch kein durchgreifendes Argument gegen die Berücksichtigung einer Protokollberichtigung durch das Revisionsgericht gesehen werden kann. Der Hinweis auf des nachlassende Erinnerungsvermögen stammt aus einer Zeit, in der es die Vorschrift über die Urteilsabsetzungsfristen (§ 275 Abs. 1 StPO), die zu einer zeitlichen Straffung des Verfahrens nach der Hauptverhandlung geführt hat, noch nicht gab. Häufig können die Urkundspersonen auch auf andere Unterlagen als Erinnerungsstütze zurückgreifen, wie in dem der Vorlage zugrundeliegenden Fall die Urkundsbeamtin auf die unmittelbar während der Hauptverhandlung getätigten Aufzeichnungen. Das Argument, dass dem berichtigten Protokoll schon deshalb ein tatsächlich geringerer Beweiswert zukomme, weil sich die Urkundspersonen zuvor übereinstimmend geirrt haben müssten89, greift unter Berücksichtigung der in der gerichtlichen Praxis vorkommenden Fälle nicht durch. Ein übereinstimmender Irrtum im Sinne einer gemeinsamen Fehlvorstellung der Urkundspersonen liegt nach aller forensischen Erfahrung ohnehin nicht vor. Dies würde voraussetzen, dass die Urkundspersonen über die Einzelheiten des Prozessgeschehens und dessen fehlende Beurkundung – im Vorlegungsfall: Nichtverlesung der Anklageschrift – gleich reflektiert hätten. Tatsächlich liegt in diesen Fällen lediglich eine punktuelle beiderseitige Unaufmerksamkeit bei der Errichtung des Protokolls vor. Der Große Senat für Strafsachen will etwaigen Bedenken bezüglich möglicher Erinnerungsdefizite damit Rechnung tragen, dass die Beachtlichkeit der Protokollberichtigung im Rahmen der erhobenen Verfahrensrüge der Überprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt und dass im Zweifel das Protokoll in der nicht berichtigten Fassung gilt.90 Ob damit die gegen die Rechtsprechungsände___________ 86

Vgl. die Beispiele bei Jahn/Widmaier, JR 2006, 166 (167). BGHSt 2, 125 (128); Tepperwien, in: Meyer-Goßner-FS (Fn. 25), S. 595 (606). 88 Jahn/Widmaier, JR 2006, 166 (167). 89 Tepperwien, in: Meyer-Goßner-FS (Fn. 25), S. 595 (605). 90 BGH(GS)St 51, 298. 87

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rung im Schrifttum auf breiter Front erhobenen Einwände91 ausgeräumt werden können, bleibt abzuwarten. Bei den aktuellen Fällen, die Gegenstand der Änderung der bisherigen Rechtsprechung waren, war das Erinnerungsvermögen der Gerichtspersonen ersichtlich kein Problem.92 Vielmehr müssen die ungewöhnlich gewundenen Äußerungen der Verteidigung in den Verfahren, die Gegenstand der aktuellen Entscheidungen waren, unter dem Blickwinkel, dass es sich um Stellungnahmen von Organen der Rechtspflege handelt, beim unbefangenen Leser eher Befremden auslösen. So hat etwa eine Verteidigerin auf die ausdrückliche Frage, ob es ihr nicht zu denken gebe, dass in den dienstlichen Erklärungen der beteiligten Richter und Staatsanwälte der Rügebehauptung dezidiert entgegen getreten werde, lediglich geantwortet „Im Rahmen meiner Rechtsansicht nein“.93 Zur Frage, ob der Anklagesatz verlesen wurde, hat sich ein in der Hauptverhandlung anwesender Verteidiger wie folgt geäußert: „An den entsprechenden Verfahrensabschnitt kann ich mich nicht konkret erinnern; die Verlesung der Anklageschrift stellt einen Routinevorgang dar. Allerdings vermute ich, dass ich mich hieran erinnern könnte, wenn die Anklageschrift nicht verlesen worden wäre, weil dies einen ungewöhnlichen Verfahrensablauf darstellen würde. Auch diese Überlegung führt nicht zu einer konkreten Erinnerung. Aufgrund dieses Rückschlusses erscheint es mir durchaus möglich, dass die Erinnerung der Urkundspersonen zutreffend ist.“94 6. Zutreffend stellt der Große Senat für Strafsachen heraus, dass das Beschleunigungsgebot ein gewichtiges Argument für eine Abkehr vom Gebot der Rügeverkümmerung darstellt.95 Eine funktionstüchtige Strafrechtspflege erfordert nicht nur die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs überhaupt, sondern auch eine Durchsetzung innerhalb so kurzer Zeit, dass die Rechtsgemeinschaft die Strafe noch als Reaktion auf geschehenes Unrecht wahrnehmen kann. Unnötige Verfahrensverzögerungen stellen nicht nur die Zwecke der Kriminalstrafe in Frage; sie beeinträchtigen auch das verfassungsrechtlich abgesicherte öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafprozess, da die Beweisgrundlage durch Zeitablauf verfälscht werden kann.96 Darüber hinaus hat das Bundesverfassungsgericht in jüngerer Zeit unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte97 mehrfach betont, dass die durch eine Revisionsentscheidung bedingte zusätzliche Verfahrensdauer bei der Berechnung der Überlänge eines ___________ 91

Vgl. Fn. 53. BGHSt 51, 88; BGH(GS)St 51, 298. 93 BGHSt 51, 88 (91). 94 BGH(GS)St 51, 298 (300). 95 BGH(GS)St 51, 298 (310). 96 BVerfGE 57, 250 (280). 97 EGMR NJW 2002, 2856 (2857). 92

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Verfahrens zwar nicht stets, aber immer dann zu berücksichtigen sei, wenn das Revisionsverfahren der Korrektur eines offensichtlich der Justiz anzulastenden Verfahrensfehlers gedient hat.98 Bei erfolgreichen Verfahrensrügen wäre nach dieser Auffassung wohl regelmäßig eine kompensationspflichtige rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung gegeben, weil Verfahrensfehler nur das Gericht begehen kann.99 Gerade die nach der bisherigen Rechtsprechung zur Urteilsaufhebung führende Fiktion eines Verfahrensfehlers, die allein darauf beruht, dass die Urkundspersonen durch eine unrichtige Sitzungsniederschrift den Anschein eines in Wahrheit nicht vorgefallenen Verfahrensfehlers erweckt haben, fällt in den Verantwortungsbereich der Justiz.100 Vor diesem Hintergrund ist das Gewicht des für das Verbot der Rügeverkümmerung früher vorgebrachte Arguments, der Beschwerdeführer könne nicht mehr erreichen, als dass der Sachverhalt nochmals unter gewissenhafter Beachtung aller sachlichen und verfahrensrechtlichen Vorschriften erörtert und gerecht entschieden werde101, stark relativiert.102 Das in der neueren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu Recht betonte Beschleunigungsgebot bei der Behandlung von Strafsachen spricht deshalb dafür, dass es den Gerichten möglich sein muss, erkannte Protokollierungsfehler zeitnah und ohne Wiederholung der Hauptverhandlung zu korrigieren. 7. Auch der Gesichtspunkt des Opferschutzes ist ein gut beachtliches Argument dafür, ein Urteil nicht allein wegen eines nur fiktiven Verfahrensfehlers aufzuheben. Liegt tatsächlich kein Verfahrensfehler vor und ist das Urteil auch sachlich-rechtlich nicht zu beanstanden, so ist es nicht gerechtfertigt, Opferzeugen nach der „Feuerprobe“103 in der ersten Hauptverhandlung nochmals einer konfrontativen Vernehmung mit der Gefahr einer (weiteren) sekundären Viktimisierung zu unterziehen.104 In diesem Sinne verpflichtet auch der Rahmenbeschluss der Europäischen Union über die Stellung des Opfers im Strafverfahren vom 15.3.2001105 in Art. 3 Abs. 2 die Mitgliedsstaaten, die gebotenen Maßnahmen zu ergreifen, damit ihre Behörden Opfer nur in dem für das Strafverfahren erforderlichen Umfang befragen.106 ___________ 98

BVerfG NJW 2003, 2897 (2898); 2006, 672 (673). BGH NJW 2006, 1529 (1533). 100 BGH(GS)St 51, 298 (311), Tepperwien, in: Meyer-Goßner-FS (Fn. 25), S. 595 (610). 101 OGHSt 1, 277 (282). 102 BGH(GS)St 51, 298 (311). 103 Sowada, NStZ 2005, 1 (7). 104 BGH(GS)St 51, 298, 311. 105 ABlEG Nr. L 82 vom 22.3.2001. 106 BGH NJW 2005, 1519 (1520). 99

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8. Ein weiteres, von Teilen des Schrifttums heftig angegriffenes107 Argument des Großen Senats für Strafsachen zur Begründung der neuen Rechtsprechung soll die veränderte Einstellung der Strafverteidiger zu der Praxis sein, auf unwahres Vorbringen Verfahrensrügen zu stützen. Es trifft zwar zu, dass zur Zeit der grundlegenden Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Rügeverkümmerung108 die vom Verteidiger bewusst wahrheitswidrig erhobene Verfahrensrüge nach verbreiteter Ansicht als standeswidrig galt.109 Diese Auffassung war aber bereits damals nicht unumstritten.110 Ein Teil des Schrifttums ging schon immer davon aus, dass sich für das Revisionsverfahren aufgrund seines hohen Formalisierungsgrades ein eigener Realitätsbegriff ergeben habe, der es dem Strafverteidiger erlaube, im Rahmen der Verfahrensrüge die Verletzung prozessualer Vorschriften zu rügen, selbst wenn er wisse, dass tatsächlich ein Verstoß nicht vorlag, sondern nur eine unrichtige Protokollierung gegeben war.111 Andererseits entsprach es auch bisher schon der ständigen Rechtsprechung und herrschenden Lehre zur Auslegung der §§ 244 Abs. 2, 245 Abs. 2 StPO, dass der Verteidiger mit der bestimmten Behauptung der einen Verfahrensfehler begründenden Tatsache auch die volle Verantwortung für den Inhalt der Revisionsbegründung übernimmt.112 Letztlich kann es dahinstehen, ob die Veränderung der Anwaltsmoral ein tragendes Argument für die Rechtsprechungsänderung darstellt. Unstreitig ist und war der Strafverteidiger jedenfalls schon immer dann zur Wahrheit verpflichtet, wenn er im Rahmen des Freibeweisverfahrens vom Gericht zur Abgabe einer anwaltlichen Erklärung über prozessuale Vorgänge aufgefordert wurde.113 Der Bundesgerichtshof hat eine Anhörung der Verteidigung vor einer beabsichtigten rügevernichtenden Protokolländerung nun ausdrücklich vorgeschrieben.114 Mit der Begründungspflicht für die Berichtigungsentscheidung und deren Überprüfbarkeit durch das Revisionsgericht115 sind in das Protokollberichtigungsverfahren Sicherungen eingebaut, die die Frage des anwaltlichen Ethos in diesem Zusammenhang als nachrangig erscheinen lassen. ___________ 107

Hamm, NJW 2007, 3166 (3170); Wagner, GA 2008, 442 (461). BGHSt 2, 125. 109 Dahs, AnwBl. 1950/51, 90; Dallinger, NJW 1951, 256 (257); Jeschek, GA 1956, 97 (119). 110 Gage/Sarstedt, Die Revision in Strafsachen, 2. Aufl. 1953, S. 50 f.; Cüppers, NJW 1951, 259; NJW 1951, 931; Schneidewin, MDR 1951, 194. 111 Dahs, StraFO 2000, 185; Widmaier, Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2006, Rn. 34, 35. 112 BGHSt 7, 162; 19, 276; 25, 274; BGH NJW 1962, 500; LR-Hanack, StPO 25. Aufl. 2001, § 344 Rn. 85; Meyer-Goßner, StPO, 52. Aufl. 2009, § 344 Rn. 22, § 345 Rn. 16. 113 Widmaier, Anwaltshandbuch Strafverteidigung, 2006, Rn. 35. 114 BGH(GS)St 51, 298 (316). 115 BGH(GS)St 51, 298 (317). 108

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V. Fazit Der Beschluss des Großen Senats für Strafsachen vom 23.4.2007 ist trotz der dagegen im Schrifttum erhobenen Bedenken aus der Sicht der Justizpraxis uneingeschränkt zu begrüßen. Es widerspricht dem aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Grundsatz der Rechtssicherheit116, wenn prozessordnungsgemäß zustande gekommene Urteile wegen nur fiktiver Verfahrensfehler aufgehoben werden. Die neue Rechtsprechung dient darüber hinaus einem ökonomisch sinnvollen Umgang mit Justizressourcen. Angesichts der bekannten Sparzwänge der öffentlichen Haushalte und der in weiten Bereichen bestehenden Überlastung der Justiz117 ist es nicht vermittelbar, dass zeit- und kostenaufwändige Hauptverhandlungen, die objektiv fehlerfrei durchgeführt wurden, nur wegen des durch ein punktuelles Versehen der Urkundspersonen bewirkten Anscheins eines Verfahrensfehlers wiederholt werden sollen. Durch die vom Bundesgerichtshof aufgestellten Regeln für die Protokollberichtigung118 werden die berechtigten Belange der Beschwerdeführer ausreichend berücksichtigt.

___________ 116

BVerfG MDR 1975, 468. Vgl. Justizministerium Baden-Württemberg (Hrsg.), PEBB§Y I und II Erarbeitung eines Systems der Personalbedarfsberechnung für den richterlichen, staats-(amts-) anwaltlichen und Rechtspflegerdienst in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, Köln 2002/ 2003. 118 BGH(GS)St 51, 298. 117

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Rainer Gemählich

Über die praktische Bedeutung des beschleunigten Verfahrens im Verhältnis zu den vereinfachten Verfahrensformen der Strafprozessordnung Von Karl Heinz Gössel Heinz Stöckel hat sich als erfahrener Praktiker von jeher der wissenschaftlichen Durchdringung des Strafverfahrensrechts gewidmet. Gerade in dieser Beziehung weiß ich mich mit ihm seit der Zeit verbunden, zu der wir uns vor etwa 45 Jahren im Bayerischen Staatsministerium der Justiz kennen und schätzen lernten. Mit den nachfolgenden Überlegungen zu einer ebenso praktisch bedeutsamen wie wissenschaftlich umstrittenen Problematik hoffe ich, das Interesse des verdienten Jubilars zu finden.

A. Die Problematik Die vor über 120 Jahren entworfene und schließlich am 1. 10. 1879 in Kraft getretene Strafprozessordnung darf aus damaliger Sicht gewiss als ein „Werk aus einem Guss“ auf der Höhe seiner Zeit bewertet werden. Zu dieser Zeit allerdings waren der psychiatrische Sachverständige ebenso unbekannt wie die kriminalistische Nutzung der Daktyloskopie1, der genetische Fingerabdruck und auch die modernen Fortbewegungsmittel der Kraftfahrzeuge und Flugzeuge. Die rasante Entwicklung der Natur- wie der Geisteswissenschaften und insbesondere die vertiefte Erkenntnis der Menschenrechte und der Notwendigkeit ihrer Wahrung, ferner die Entwicklung zu einer Grenzen überwindenden globalen Gesellschaft und zu globaler Kommunikation haben unsere heutige Strafprozessordnung trotz aller Änderungen – fast 170 Änderungsgesetze – nunmehr zu einem Flickwerk mit nur noch eingeschränkter praktischer Brauchbarkeit2 werden lassen. So weist etwa das Verfahren erster Instanz erhebliche Schwachstellen auf. Moderne Ermittlungsmethoden, von denen eine effektive Bekämp___________ 1

Nach Geerds, Kriminalistik, 1980, III. Teil § 13 III geschah dies erst 1892 durch die Publikation „Finger Prints“ von Herschel/Faulds. 2 Vgl. dazu auch Paeffgen, StV 1999, 625.

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fung moderner Kriminalitätsformen erhofft wird, lassen sich mit dem derzeitigen Regelwerk über die Sachverhaltsermittlung nur schwer vereinbaren wie ebenso mit der von der EMRK und unserer Verfassung mit Recht und zwingend gebotenen Wahrung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der Menschenrechte. Anstatt eine der Höhe unserer Zeit entsprechende Gesamtreform des Strafverfahrens in einer Art und Weise in Angriff zu nehmen, die den in nur sieben Jahren (von ca. 1870 bis 1876)3 erfolgreichen Bemühungen um die Schaffung eines einheitlichen deutschen Strafverfahrensrechts in Qualität wie Dauer entsprechen, beschränkt sich der Gesetzgeber darauf, durch vereinfachte Verfahrensformen der von Jahr zu Jahr steigenden Masse der Strafverfahren gerecht werden zu wollen, und dies unter Gefährdung elementarer Verfahrensrechte der Beschuldigten4, so aber insbesondere auch durch die soeben erfolgte gesetzliche Einführung einer neuen Prozessform des Abredeverfahrens, einem letztlich regellosen Verfahren, in dem insbesondere das Prinzip einer gerechten Entscheidung aufgrund eines wahrheitsgemäß ermittelten Sachverhalts auf dem Altar der Kostenersparnis geopfert5 wird. Weil für dieses schon länger faktisch geübte Abredeverfahren vorerst noch keine Daten zur Verfügung stehen, sollen im Folgenden die bisher gesetzlich geregelten vereinfachenden Verfahrensformen auf ihre praktische Bedeutsamkeit untersucht werden, insbesondere das beschleunigte Verfahren, das vor allem wegen gesetzgeberischer wie praktisch-organisatorischer Bemühungen6 um eine vermehrte Anwendung besondere Aufmerksamkeit verdienen dürfte.

B. Zur praktischen Bedeutung des beschleunigten Verfahrens I. Gesetzgeberischer Zweck und Wesen Nach dem Willen des Gesetzgebers dient das beschleunigte Verfahren dem Ziel, unter weitgehender Ausnutzung der Möglichkeiten des § 417 eine Entlastung der Justiz durch eine Aburteilung zu erreichen, „die der Tat möglichst auf 7 dem Fuße folgt“; damit sollen bei dieser Verfahrensart „general- und spezialpräventive Effekte einer reaktionsschnellen Strafrechtspflege … im Vordergrund stehen“. Über die gesetzgeberische Absicht hinaus wird damit auch einem zumeist wohl doch gegebenen „Interesse des Beschuldigten“ an einer ___________ 3

Vgl. dazu LR-Kühne, Einl. F Rn. 5 ff. Vgl. dazu z.B. LR-Gössel, Vor § 417 Rn. 53 ff. 5 Eingehend dazu Gössel, in: Weßlau u. a. (Hrsg.), Fezer-FS, 2008, S. 495. 6 Vgl. dazu LR-Gössel, Vor § 417 Rn. 12-16b. 7 Amtl. Begr. zum VerbrBekG, BT-Drs. 12/6853, S. 34. 4

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größtmöglichen „Beschleunigung des Strafverfahrens“ entsprochen werden können, indem die mit einem schwebenden Strafverfahren verbundenen offenbaren erheblichen Belastungen vermindert8 werden. In der Reihe der vereinfachten Verfahrensformen steht das beschleunigte Verfahren dem Normalverfahren schon deshalb am nächsten, weil auch hier eine mündliche Hauptverhandlung durchgeführt wird, zu der es bei der Einstellung nach § 153a StPO nicht kommt und auf die im schriftlichen Strafbefehlsverfahren verzichtet wird. Es weist indessen bestimmte prozessverkürzende und -beschleunigende Elemente zur Durchführung derjenigen Verfahren auf, die „auf Grund des einfachen Sachverhalts oder der klaren Beweislage zur sofortigen Verhandlung geeignet“ sind (§ 417).

II. Die verfahrensbeschleunigenden Elemente a) Vor der Neufassung der Regeln über das beschleunigte Verfahren durch das VerbrbekG wurden die verfahrensverkürzenden und -vereinfachenden Merkmale9 im Wegfall des Zwischenverfahrens10 und im fakultativen Verzicht auf die Einreichung einer Anklageschrift erblickt (unten 1) und in der sofortigen oder in „kürzester Frist“ erfolgenden Anberaumung der Hauptverhandlung (unten 2) erblickt – Elemente, die diese Verfahrensart auch nach der erwähnten Neufassung noch kennzeichnen, indessen früher wie auch nunmehr eine äußerst bescheidene verfahrensbeschleunigende Wirkung zeitigen dürften. 1. Der Wegfall des Zwischenverfahrens dürfte allenfalls unter dem formellen Aspekt des Wegfalls des Eröffnungsbeschlusses und der mit einer Zeitersparnis von regelmäßig nicht mehr als zwei Wochen11 verbundenen Nichtanwendung der §§ 201 bis 203 (kaum12) bedeutsam sein, ohne Bedeutung aber hinsichtlich der in jedem Zwischenverfahren notwendig anzustellenden inhaltlichen Prüfung z.B. daraufhin, ob sich die Sache zur Aburteilung im beschleunigten Verfahren eignet (§ 419 Abs. 1), ferner hinsichtlich der von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensvoraussetzungen (wie die sachliche Zuständigkeit) ___________ 8

AK-Loos, Vor § 417 Rn. 3. Die von Thamann, in: Machura/Ulbrich, Röhl-FS, 2003, S. 306 versuchte Charakterisierung der beschleunigten Verfahren als das Ermittlungsverfahren überspringend übersieht schon, dass die Anklage als förmlicher Abschluss des Ermittlungsverfahrens nach wie vor notwendig ist. 10 Vgl z.B. KK-Graf, Vor § 417 Rn. 1. 11 Die von KMR-Metzger, Vor § 417 Rn. 15 angenommene Ersparnis von einem Monat dürfte sich indessen nur selten erzielen lassen. 12 So auch Kohler, Beschleunigte Verfahren im deutschen und französischen Recht, 2001, S. 127. 9

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und ebenso des hinreichenden Tatverdachts: anders müsste man es für zulässig halten, den Beschuldigten auch dann schon den erheblichen Belastungen einer gerichtlichen Hauptverhandlung zu unterwerfen, wenn kein hinreichender Tatverdacht vorliegt und es bloß als möglich erscheint, dass der Beschuldigte (möglicherweise neben anderen) als Täter einer Straftat in Betracht kommt13 – damit aber würde er in unverhältnismäßiger Weise zum bloßen Objekt des Strafverfahrens herabgewürdigt, worin ein Verstoß nicht nur gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip läge, sondern zudem auch gegen Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG, dies zudem aber auch deshalb, weil dem Beschuldigten der gegen ihn erhobene Vorwurf bis zur mündlichen Erhebung der Anklage verborgen bliebe und damit dessen Verteidigungsmöglichkeiten auch unter dem Gesichtspunkt der Gewährung ausreichenden rechtlichen Gehörs entscheidend eingeschränkt14 sein können. Im Übrigen dürfte diese Prüfung auch zeitlich durchaus derjenigen nach §§ 203, 204 StPO im formellen Zwischenverfahren entsprechen. Auch der Verzicht auf den Eröffnungsbeschluss wird deshalb keine beschleunigende Wirkung entfalten können, weil er zumeist (jedenfalls vom Amtsgericht) formularmäßig erlassen wird. Selbst der fakultative Verzicht auf die Einreichung einer Anklageschrift verspricht grundsätzlich keinen Zeitgewinn, weil auch bei mündlicher Erhebung der Anklage § 200 StPO zu beachten ist und im Hinblick auf § 418 Abs. 3 Satz 2 StPO nicht einmal der Schreibvorgang entfällt15 – und dies nicht einmal dann, wird die Anklageschrift durch Ausfüllen eines standardisierten Anklageformulars16 erstellt. 2. Auch die verfahrensbeschleunigende Wirkung sofortiger oder kurzfristiger Anberaumung der Hauptverhandlung dürfte meist entfallen, weil die richterlichen Terminpläne17 nur selten einen Spielraum für die kurzfristige Ansetzung eines beschleunigten Verfahrens lassen werden18 – ganz abgesehen von den organisatorischen Schwierigkeiten z.B. hinsichtlich Sitzungstag und -saal19. Die hin und wieder festzustellende Anberaumung der Hauptverhandlung im be___________ 13

Vgl. dazu schon SK-Paeffgen, § 417 Rn. 16; s. ferner die insoweit berechtigten Einwendungen von Scheffler, NJ 1999, 113 (116); gegen diesen Faupel, NJ 1999, 182 f. 14 Vgl. dazu Ernst, Das beschleunigte Verfahren im Strafprozeß und seine Handhabung in Bochum, 2001, S. 70 ff. 15 Treffend Meyer-Goßner, in: Graul u. a. (Hrsg.), Meurer-GS, 2002, S. 432 f. 16 Vgl. Meurer, in: Gössel u. a. (Hrsg.), Zipf-GS, 1999, S. 485 (491). 17 Dass die Staatsanwaltschaft den Terminkalender führt, „bei dem die Polizeibeamten ... jeweils die freien Termine abrufen können“, wie dies beim AG Potsdam eingeführt worden ist – vgl. dazu Bielefeld, DRiZ 1998, 429 (432) – ist mit § 213 unvereinbar. 18 Herzler, NJ 2000, 399 (400); Ranft, Jura 2003, 383. 19 Dury, DRiZ 2001, 207 (208 f.); Ranft, Jura 2003, 383; vgl. ferner Meurer, in: Gössel u. a. (Hrsg.), Zipf-GS, 1999, S. 485 (491) und Sprenger, NStZ 1997, 574 (576).

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schleunigten Verfahren in etwa drei oder gar vier Monaten zeigt diese Schwierigkeiten überdeutlich auf. Darüber hinaus bestehen aber auch rechtsstaatliche Bedenken, weil nicht ausgeschlossen werden kann, dass dabei entgegen Art. 14 Abs. 3 lit. b IPBPR, Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK das Recht auf eine ausreichende Verteidigung beeinträchtigt20 wird. b) Trotz der soeben erwähnten rechtsstaatlichen Bedenken und obwohl die verfahrensbeschleunigende Wirkung der genannten Elemente bestenfalls als sehr gering beurteilt werden kann, sah sich der Gesetzgeber des VerbrBekG dazu veranlasst, die Regeln dieser Verfahrensart zum Zwecke der vermehrten Anwendung zu ändern. So erlaubt § 418 Abs. 1 StPO im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage die Anberaumung der Hauptverhandlung nicht mehr nur sofort oder „mit kürzester Frist“ (§ 212a Abs. 1 a.F.), sondern nunmehr – neben der sofortigen Anberaumung – eine solche in bloß kurzer Frist: 1. Eine fragwürdige Entscheidung: soll doch in krassem Gegensatz zum Sprachgebrauch nach dem Willen des Gesetzgebers für den in § 418 Abs. 1 Satz 1 StPO zur Durchführung der Hauptverhandlung vorgesehenen Zeitraum („sofort oder in kurzer Frist“) gemäß Satz 2 eine Frist von sechs Wochen ab Eingang des Antrags nach § 417 StPO gelten, die jedoch, des Sollcharakters dieser Vorschrift wegen, überschritten werden kann, wenn auch vermutlich wohl nicht über acht Wochen hinaus – eine Vorschrift, die eher zur Verlängerung des Verfahrens führen dürfte als zu dessen Beschleunigung. 2. Zugleich wurde mit der zur Sicherung der alsbaldigen Durchführung der Hauptverhandlung eingeführten „Hauptverhandlungshaft“ (§ 127b StPO) ein rechtsstaatlich bedenkliches Instrument21 zur Flankierung des neuen beschleunigten Verfahrens geschaffen. Im Übrigen verfolgt der Gesetzgeber mit den durch § 420 eingeführten Regeln den Zweck einer Straffung und Verkürzung der Hauptverhandlung.22 Zur vermehrten Anwendung des beschleunigten Verfahrens soll endlich die durch § 417 StPO der Staatsanwaltschaft nunmehr auferlegte Verpflichtung führen, bei Vorliegen der Voraussetzungen den Antrag auf Entscheidung im beschleunigten Verfahren zu stellen (so nunmehr § 417 StPO entgegen der Kann-Bestimmung des § 212 StPO a.F.).

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Vgl. z.B. Meurer, in: Gössel u. a. (Hrsg), Zipf-GS, 1999, S. 485 (492). Vgl. z.B. LR-Hilger, § 127b Rn. 7 und Roxin, Strafverfahrensrecht, 25. Aufl., § 59 Rn. 1a. 22 BT-Drs. 12/6853, S. 36. 21

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C. Statistische Daten Schon angesichts dieser soeben aufgezeigten Mängel bestehen gegen die Anwendung dieser Verfahrensart erhebliche Bedenken. Schon deshalb dürfte Anlass bestehen, die praktische Bedeutsamkeit des beschleunigten Verfahrens auch im Zusammenhang mit anderen vereinfachten Verfahrensformen im Spiegel statistischer Daten zu betrachten. Weil über die Erledigungen im Abredeverfahren bisher keine Daten erhoben wurden, soll vor allem die praktische Bedeutsamkeit von beschleunigtem und Strafbefehlsverfahren neben der Berücksichtigung der wichtigsten Einstellungsarten (insbesondere nach §§ 153a, 170 Abs. 2 StPO) nur vor dem Amtsgericht deshalb betrachtet werden, weil die Anklagen zu den Großen Strafkammern, wie sich aus der Tabelle 1 ergibt23, weniger als 0,25% aller Erledigungen durch die Staatsanwaltschaft und damit insgesamt etwa 2% aller von der Staatsanwaltschaft erhobenen Anklagen ausmachen. Entsprechendes gilt für die gerichtliche Erledigung der von der Staatsanwaltschaft erhobenen Anklagen. Dabei ergibt sich für die gesamte Bundesrepublik Deutschland von 199424 bis 2006 folgendes Bild:25

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Anklagen zu den Strafsenaten der Oberlandesgerichte können ihrer geringen Zahl wegen (